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German Pages 159 Year 2015
Historische Forschungen Band 107
Alfred von Reumont (1808–1887) – Ein Diplomat als kultureller Mittler Herausgegeben von Frank Pohle
Duncker & Humblot · Berlin
Alfred von Reumont (1808–1887) – Ein Diplomat als kultureller Mittler
Historische Forschungen Band 107
Alfred von Reumont. Gedenkbüste von Adalbero Cencetti für die Accademia di San Luca, 1887 (Abb.: Accademia di San Luca, Rom).
Alfred von Reumont (1808–1887) – Ein Diplomat als kultureller Mittler
Herausgegeben von Frank Pohle
Duncker & Humblot · Berlin
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Inhaltsverzeichnis Frank Pohle Alfred von Reumont (1808 – 1887) – ein Diplomat als kultureller Mittler. Vorwort und Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Herkenhoff Der Nachlass Alfred von Reumonts in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Frank Pohle Die Teilnachlässe Alfred von Reumonts in Aachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rudolf Lill Alfred (von) Reumont und die Geschichte Italiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christiane Liermann Katholische Kirche und Nation – Alfred von Reumont als Beobachter seiner Zeit
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Christine Roll Wie der Historiker zum Gestrigen gemacht wurde – Alfred von Reumonts „Italienische Diplomaten und diplomatischen Verhältnisse“ neu gelesen . . . . . .
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Frank Pohle Noch einmal Gregorovius und Reumont oder: Alfred von Reumont als Reiseschriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Klaus Graf Alfred Reumont als Sagensammler und Sagenautor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 David Engels Alfred von Reumont als Philologe und Althistoriker – Überlegungen zu „Des Claudius Rutilius Namatianus Heimkehr“ (1872) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Alfred von Reumont (1808 – 1887) – ein Diplomat als kultureller Mittler Vorwort und Einführung Von Frank Pohle Anlässlich des 200. Geburtstags Alfred von Reumonts im Jahr 2008 richtete das Lehr- und Forschungsgebiet Geschichte der Frühen Neuzeit der RWTH Aachen in Zusammenarbeit mit dem Aachener Geschichtsverein e.V. und dem Geschichtsverein für das Bistum Aachen e.V. eine Fachtagung aus.1 Sie widmete sich der Erforschung von Leben und Werk eines Mannes, dessen Wirken für das deutsch-italienische Geistesleben des 19. Jahrhunderts wie im Gelehrtenkreis um Friedrich Wilhelm IV. bislang erst wenig Beachtung gefunden hat. Aachener von Geburt, Diplomat in preußischen Diensten und schon in Jugendjahren publizistisch tätig, entfaltete Alfred von Reumont eine schier unermüdliche wissenschaftlich-schriftstellerische Tätigkeit, die in Bezug auf ihren Umfang, ihre Vielseitigkeit und den ihr zu Grunde liegenden Fleiß noch heute zutiefst zu beeindrucken vermag. Reumonts Zeitgenossen nahmen seine vielfältigen Verdienste auf den unterschiedlichen Gebieten des Geisteslebens sehr wohl wahr. P. D. Fischer, Rezensent eines Werkes Reumonts, formulierte 1863: „Mehr als irgend einer seiner Kollegen im diplomatischen Fache und mehr als irgend ein anderer Schriftsteller hat er durch historische, literarische, kunstgeschichtliche Werke jeder Art, durch unermüdliche journalistische Tätigkeit, durch persönliche Einwirkung und Förderung für die Ausbeutung der geistigen Schätze Italiens getan.“2
Reumont sei „das Mittelglied in der Literatur zweier Völker, von denen er jede nicht nur auf das Gründlichste kennt und deren Fortschritte er mit der Sorgfalt eines Kenners verfolgt, sondern deren jeder er selbst mitschaffend und mitfortschreibend angehört“.3 1 Vgl. Frank Pohle: Tagungsbericht. Ein Diplomat als kultureller Mittler. Alfred von Reumont (1808 – 1887). In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 110 (2008), S. 321 – 327 [auch: AHF-Information 15 (2009), URL: http://www.ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/ Berichte/pdf/2009/015 – 09.pdf]. 2 P. D. Fischer: Deutsche Arbeiten über die Geschichte Italiens [Rezension von Reumonts Bibliografia dei lavori pubblicati in Germania sulla storia d’Italia (Berlin 1863)]. In: Magazin für die Literatur des Auslandes, 17. 6. 1863, S. 282 f., hier S. 282. 3 Ebd., S. 282 f.
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Frank Pohle
Bedeutende Historiker seiner Zeit schätzten Reumont und sein Werk sehr, darunter Leopold von Ranke, Friedrich von Raumer, Wilhelm von Giesebrecht, Louis Gachard und Ludwig von Pastor. Preußens König Friedrich Wilhelm IV. erhob Reumont 1846 in den erblichen Adelsstand; gut 30 verschiedene Orden und Ehrenzeichen aus vieler Herren Länder schmückten seine Brust, die Städte Rom, Florenz und Aachen ernannten ihn zu ihrem Ehrenbürger, und viele bedeutende Akademien der Wissenschaften und der Künste machten ihn zu ihrem Mitglied oder Ehrenmitglied, darunter in Italien die Florentiner Akademie der Wissenschaften, die Societas Columbariae, die Accademia della Crusca, die Accademia degli Arcadi, die Accademia di San Luca und die Archäologische Akademie in Rom, die Preußische, Bayerische und Belgische Akademie der Wissenschaften und die Gesellschaft für Nützliche Forschungen in Erfurt.4 Bei seinem Tode 1887 widmete man ihm Nachrufe; 1894 benannte man eine Straße, später eine Schule nach ihm; 1910 – im Gefolge der Feiern seines 100. Geburtstags – errichteten ihm die Stadt Aachen, der Aachener Geschichts- und der Museumsverein ein Denkmal im Stadtgarten, das zwar schon 1914 an die Ludwigsallee verlegt wurde, dort aber noch heute, etwas versteckt, als Torso erhalten ist.5 Damit hatte man einen Ort, an dem zu runden Jubiläen ein Kranz niedergelegt und eine Festrede gehalten werden konnte – immerhin.6 Was aber ist abgesehen von diesem Gedenkstein von Reumont geblieben? Der Historiker Jens Petersen kam 1987 in einem Vortrag anlässlich des 100. Todestages Reumonts zu dem ernüchternden Schluß: „Person und Werk […] sind heute in Deutschland weitgehend vergessen. Auch in Italien erinnert sich fast niemand mehr an den doppelten Ehrenbürger von Rom und Florenz. […] Reumonts Schriften
4 Die (unvollständige) Auflistung stützt sich auf Herbert Lepper: Alfred von Reumont. Eine biographische Skizze. In: Öffentliche Bibliothek der Stadt Aachen (Hrsg.): DanteSammlung. Aachen 1987, S. 5 – 20 [wieder in: Stadtbibliothek Aachen (Hrsg.): Alfred von Reumont (1808 – 1887). Gelehrter, Diplomat, Ehrenbürger Aachens. Aachen 2008, S. 22 – 38], auf eine Liste der Orden und sonstigen Auszeichnungen Alfred von Reumonts, die sein Nachfahre Burghard von Reumont (Aachen) erstellte, sowie auf das Material zu Verleihungen und Würdigungen in den Aachener Teilnachlässen Alfred von Reumonts. In Aachen, wo es derart illustre Vereinigungen nicht gab, suchte Reumont auch keinen Ersatz, sondern scheint sich auf seine Korrespondenz zurückgezogen zu haben. Frank Pohle: Alfred von Reumont (1808 – 1887). Lebensskizze und Katalog. In: Stadtbibliothek Aachen (Hrsg.): Alfred von Reumont (1808 – 1887). Gelehrter, Diplomat, Ehrenbürger Aachens. Aachen 2008, S. 5 – 21, hier S. 14 führt Reumont als Mitglied des Clubs Aachener Casino und damit des maßgeblichen Geselligkeitsvereins des gehobenen Bürgertums seiner Vaterstadt an, doch nennen Eduard Arens/Wilhelm L. Janssen: Geschichte des Club Aachener Casino. 2. Aufl., im Auftrag des Vorstands nach Vorarbeiten von Carl von Pelser-Berensberg und August Schumacher neu herausgegeben von Elisabeth Janssen und Felix Kuetgens. Aachen 1964 im Mitgliederverzeichnis nur seinen Neffen (Nr. 731) und Großneffen (Nr. 1132) gleichen Namens. 5 Vgl. Herbert Lepper: Das Denkmal Alfred von Reumonts. In: Aachener Kunstblätter 49 (1980/81), S. 231 – 239. 6 Zum 50. Todestag 1937 legte Prof. Will Hermanns im Auftrag des Aachener Oberbürgermeisters am Reumont-Denkmal einen Kranz nieder; zum 100. Todestag wie auch zum 150. und 200. Geburtstag unterblieb diese Geste.
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liest heute niemand mehr, nicht einmal die Historiker.“7 Und als Historiker muss man sagen, er hat so Unrecht nicht. In der Wissenschaft lässt sich die aktive Rezeption seiner Schriften bis in die 1920er Jahre nachweisen, danach geht sie – mit wenigen Ausnahmen – rasch zurück. Nachdrucke und Neuausgaben auf dem aktuellen Buchmarkt gibt es nur von wenigen, im Œuvre Reumonts zudem nicht zentralen Werken wie seinem Aachener Liederkranz und seiner Übersetzung der Geschichte von Florenz des Niccolò Machiavelli.8 Ein solches Schicksal ist nun freilich nicht nur Reumont widerfahren – wer liest heute noch Ranke oder Mommsen? –, aber dass es auch um sein Andenken als „großer Sohn“ und Ehrenbürger der Stadt Aachen nicht gut bestellt ist, lässt doch aufmerken. Er scheint in Aachen nie zu einer wirklich populären Figur geworden zu sein. Reumont ist für die Aachener eine ferne Figur – Exzellenz zwar, hoch geehrt, in enger Beziehung zum preußischen Königshaus und als Gründungsvorsitzender von 1879 bis 1885 Galeonsfigur des Aachener Geschichtsvereins, aber letztlich doch ein etwas verschrobener Zeitgenosse, der zwar in der Fremde an Arno, Tiber und Spree Karriere gemacht hatte, an Pau und Wurm in seinem Wirken aber unverstanden blieb.9 Seine Bibliothek, die heute zum größeren Teil in die Stadtbibliothek, zum kleineren in die Bibliothek des Suermondt-Ludwig-Museums aufgenommen ist, schlummert einen Dornröschenschlaf; ein konsequenter Ausbau zu einer großen Spezialsammlung deutsch-italienischer Beziehungen unterblieb mangels Bedarf, und es ist kein Wagnis zu behaupten, dass die Bücherschätze Reumonts von heutigen Benutzern kaum noch einmal aus den Magazinen gehoben werden. Initiativen zur Erforschung von Reumonts Leben und Werk sind aus Aachen heraus kaum entwickelt worden, begegnen auch anderenorts nur selten und wenn, dann nur im Rahmen größerer Fragestellungen.10 Eine Initiative des jüngst verstorbenen Stadtarchivars 7 Jens Petersen: Alfred von Reumont und Italien. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 94/95 (1987/88), S. 79 – 107, hier S. 105 f. 8 Vgl. Alfred von Reumont: Aachener Liederkranz und Sagenwelt. Hildesheim 1984 [zuerst Aachen/Leipzig 1829] und Niccolò Machiavelli: Geschichte von Florenz (Istorie fiorentine, dt.). Mit einem Nachwort von Kurt Kluxen, übers. von Alfred von Reumont. Zürich 1986 (= Manesse Bibliothek der Weltgeschichte) [zuerst Leipzig 1846, hier sprachlich überarbeitet]. Ausgenommen seien hier Unternehmungen der letzten Jahre, die Ausdrucke von Digitalisaten der Originalausgaben zwischen Buchdeckel bringen; die ersten beiden Bände der Römischen Briefe, die Jugend Catharina de’ Medicis und die Gräfin von Albany etwa haben so wieder eine gewisse Präsenz erhalten. 9 Vgl. hier auch die etwas spitzen Bemerkungen Ferdinand Gregoriovius’ zu Reumonts Aachener Situation, u. a.: „O, ich begreife vollkommen die […] Todtenklage Reumonts um die verlornen Freuden Italiens, zumal es in Aachen keinen Hof, und keine Prinzeßinnen gibt.“ Herman von Petersdorff (Hrsg.): Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile. Berlin 1894, S. 113 (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 16. November 1879). 10 Unter den wissenschaftlichen Publikationen der letzten 30 Jahre mit starkem ReumontBezug wären zu nennen: Ilaria Porciani: L’„Archivio Storico Italiano“. Organizzazione della ricerca ed egemonia moderata nel Risorgimento. Florenz 1979 (= Biblioteca di storia Toscana moderna e contemporanea 20), Wolfgang Altgeld: Das politische Italienbild der Deutschen
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Dr. Herbert Lepper, im Aachener Stadtarchiv den Nachlass Alfred von Reumonts in Kopie zusammenzutragen und gezielt zu erforschen, brachte zumindest in den Jahren um 1990 mehrere beachtliche Aufsätze des Initiators hervor,11 doch musste er die Arbeit an einer großen wissenschaftlichen Biographie Reumonts leider weitgehend einstellen. Eine abschließende Auswertung hat der Nachlass von Reumonts bislang nicht erfahren. Der umfangreiche Bonner Nachlass ist noch längst nicht hinreichend erforscht.12 Dies gilt auch für die kleineren Teilnachlässe im Stadtarchiv Aachen und in der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Aachen und – besonders schmerzlich – für seine amtliche Korrespondenz, insbesondere für die ausführlichen diplomatischen Berichte aus Florenz und Rom im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin.13 Ja es liegt nicht einmal eine auch nur annähernd vollständige Bibliographie dieses außerordentlich fruchtbaren Autors vor.14 Gewiss, die großen Werke lassen sich problemlos zusammenstellen, aber was ist mit den zahllosen kleineren Aufsätzen und Beiträgen in der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, dem Historischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, dem Deutschen Dante Jahrbuch oder der Allgemeinen Berliner Zeitung? Allein für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasste Alfred von Reumont in fünf Jahrzehnten über 1.500 Artikel. Und was hat Reumont eigentlich an kleineren Beiträgen in italienischen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht?15 zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848. Tübingen 1984 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts zu Rom 59), Mauro Moretti: Alfred von Reumont e Karl Hillebrand. Primi appunti per una indagine su personaggi e temi di una mediazione culturale. In: Arnold Esch (Hrsg.): Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento. Tübingen 2000 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 94), S. 161 – 186 und Anna Maria Voci (Hrsg.): Corrispondenze di Pasquale Villari con storici tedeschi. Rom 2006. Vgl. ferner die in Anm. 11 genannten Titel von Herbert Lepper. 11 Vgl. Lepper 1987 (wie Anm. 4), ders.: Alfred von Reumont und Franz Xaver Kraus. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 69 (1989), S. 181 – 254 sowie ders.: Staat und Kirche im Denken Alfred von Reumonts. In: Herbert Hammans/Hermann-Josef Reudenbach/Heino Sonnemans (Hrsg.): Geist und Kirche. Studien zur Theologie im Umfeld der beiden Vatikanischen Konzilien. Gedenkschrift für Heribert Schauf. Paderborn u. a. 1991, S. 381 – 438. Lepper arbeitete zudem an einer Teiledition des Briefwechsels Reumonts mit seiner Familie, die ebenfalls nicht zum Abschluss gebracht werden konnte. 12 Vgl. den Beitrag von Michael Herkenhoff: Der Nachlass Alfred von Reumonts in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, in diesem Band. 13 Vgl. den Beitrag von Frank Pohle: Die Teilnachlässe Alfred von Reumonts in Aachen, in diesem Band. 14 Hermann Hüffer: Alfred von Reumont. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 77 (1904), S. 5 – 241, hier S. 240 f. hängte zwar dem Nachruf eine Bibliographie an, erfasste aber nur die größeren Arbeiten Reumonts; Dante-Sammlung 1987 (wie Anm. 4), S. 21 – 23 listet die Schriften Alfred von Reumonts im Bestand der Stadtbibliothek Aachen auf (unvollständig), Herbert Lepper hatte mit der Arbeit an einer Bibliographie begonnen. 15 Die Beiträge, die Reumont zwischen 1833 und 1871 für die Augsburger Allgemeine Zeitung verfasste, hat Herbert Lepper auf der Grundlage der Geschäftsbücher des Cotta-Verlags im Deutschen Literaturarchiv Marbach in chronologischer Folge zusammengestellt. Vgl.
Alfred von Reumont (1808 – 1887) – Einführung
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Wie soll man die geistige Biographie eines Mannes schreiben, dessen geistige Erzeugnisse nicht einmal im Überblick erfasst sind? Wir wissen ein wenig über die Stationen von Reumonts Leben – immerhin.16 Geboren am 15. August 1808 im damals französischen Aachen, deutete zunächst wenig darauf hin, dass aus Alfred Reumont ein hoch dekorierter, geadelter Diplomat und geachteter Gelehrter werden würde. Sein Vater Gerhard (1765 – 1828) zeichnete ihm eine andere Karriere vor: Arzt sollte er werden, wie er, und wie im Übrigen sein jüngerer Bruder Alexander (1822 – 1889), dem als Badearzt in Aachen ebenfalls einige Bedeutung zukommt. Auch der Vater hatte es als Arzt weit gebracht: Fachlich auf der Höhe der Zeit, durch Studienaufenthalte in Paris und Edinburgh fortgebildet und von Gewicht bei der Durchsetzung der neuen Pockenschutzimpfung auf dem europäischen Kontinent, darüber hinaus Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften, war Gerhard Reumont im Aachener Kurbetrieb als Brunnenarzt, Bäderinspektor, später als preußischer Medizinalrat tätig. Er behandelte Europas Hautevolee bis hinauf zur französischen Kaiserin, wenn sie in Aachen Entspannung und Gesundung suchte. Mit vielen Patienten aus gehobenen Schichten verkehrten die Reumonts auch privat und konnten den Kindern ein geistig und literarisch anregendes familiäres Umfeld mit intensiven Beziehungen nach England und Frankreich bieten. „Schon als Kind“, berichtet Reumont später in seinen Jugenderinnerungen, „vernahm ich viel von fremden Ländern und bekannten Leuten, ein Vorteil für das spätere Leben, der nicht hoch genug angeschlagen werden kann“.17 Aachen bot als Badestadt viele Möglichkeiten, sich über Politik, Wissenschaft und Kunst der Zeit zumindest zu informieren, für das Erlernen von lebenden Fremdsprachen ließen sich leicht Hauslehrer finden, so dass Alfred Reumont das schlechte Niveau des örtlichen Gymnasiums zwar beklagen konnte – aber allzusehr geschadet hat es ihm nicht.18 Lepper 1987 (wie Anm 4), S. 20; die Unterlagen sind im Besitz des Stadtarchivs Aachen. Eine systematische Auswertung der Register und Inhaltsverzeichnisse der einschlägigen deutschsprachigen wie italienischen Zeitschriften unterblieb bislang, wenn Lepper auch hier Anfangsarbeiten leisten konnte. 16 Zur Biographie Reumonts vgl. kurz Herbert Lepper: Art. „Reumont, Alfred v.“. In: NDB 21 (2003), S. 454 f. sowie bes. Hubert Jedin: Alfred von Reumont (1808 – 1887). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 112 und Lepper 1987 (wie Anm. 4). Unter den älteren Arbeiten wertvoll sind u. a. Constantin Höfler: Gedenkblatt auf das Grab Alfreds von Reumont. In: Historisches Jahrbuch 9 (1888), S. 49 – 75, Hugo Loersch: Zur Erinnerung an Alfred von Reumont. Vortrag gehalten in der Generalversammlung des Aachener Geschichtsvereins am 10. November 1887. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 10 (1888), S. 1 – 21, Hüffer 1904 (wie Anm. 14) und Leo Just: Alfred von Reumont. Eine Gedenkrede. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 135 (1939), S. 133 – 148. Der nachstehende Lebensabriss geht wesentlich auf eine bereits an entlegenerer Stelle publizierte Vorfassung zurück: Pohle 2008 (wie Anm. 5), S. 5 – 10. 17 Zit. nach Jedin 1973 (wie Anm. 16), S. 162. 18 Zum Aachener Geistesleben zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. einführend Thomas R. Kraus: Auf dem Weg in die Moderne. Aachen in französischer Zeit. 1792/93, 1794 – 1814. Handbuch-Katalog zur Ausstellung im „Krönungssaal“ des Aachener Rathauses vom 14. Januar bis zum 5. März 1995. Aachen 1994 (= Beihefte der Zeitschrift des Aachener Ge-
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Nach der Reifeprüfung studierte Alfred Reumont Medizin, zunächst in Bonn, dann in Heidelberg, doch fühlte er sich in dem ihm aufgedrängten Fach unwohl. Seine Interessen galten eher den klassischen und modernen Sprachen, der Geographie und Länderkunde, der Literatur und Geschichte. Aus der vorgezeichneten Bahn ausbrechen konnte er nach dem überraschenden Tod des Vaters 1828, der die Familie ohne großes Vermögen zurückließ. Alfred brach das Studium ab und ging – die wohl folgenreichste Entscheidung seines Lebens – im Dezember 1829 als Hauslehrer einer englischen Familie nach Florenz. Dort stürzte er sich in das Studium der italienischen Sprache und Kultur,19 begann, Bücher zu veröffentlichen, und promovierte 1833 zum Doktor der Philosophie. So fortgebildet, stand einem weiteren Aufstieg zum Privatsekretär des preußischen Gesandten am toskanischen Hof nichts entgegen. Er bewährte sich, wurde weiterempfohlen und fand auf diesem Weg einen Einstieg in den diplomatischen Dienst. Bald legte er weitere Werke vor, darunter die Römischen Briefe von einem Florentiner (1840) und die Zeitschrift Italia (1838 – 1840).20 Seine Lebensaufgabe, Brücken zwischen dem deutschen und dem italienischen Geistesleben zu schlagen, hatte Reumont nun erkannt und widmete sich ihr mit Energie.21 In politischer Hinsicht fand er in Italien die staatliche Ordnung des Wiener Kongresses vor, eine bunte Landschaft größerer und kleinerer Staaten, denen die nationale Einheit aus Gründen des Gleichgewichts der europäischen Mächte versagt geblieben war. Revolutionäre Ansätze, die auf eine Änderung der Staatenordnung zielten, scheiterten, liberale Kräfte sannen auf einen italienischen Staatenbund, eventuell unter dem Vorsitz des Papstes, doch standen auch einem solchen gemäßigten Entwurf dynastisch-machtpolitische Interessen entgegen.22 Reumont verkehrte in solchen liberalen Kreisen23 und war neuen Kontakten und Freundschaften gegenüber aufgeschlossen; Ferdinand Gregorovius beobachtete an schichtsvereins 4) und Frank Pohle: Dautzenbergs Bücher. Leben und Wirken des Peter Joseph Franz Dautzenberg (1769 – 1828) im Spiegel seiner Bibliothek. Aachen 1999 (= Schriften zur Literatur und Kunst 4) mit der älteren Literatur; zur Aachener Bildungslandschaft um 1820 vgl. v. a. Alfons Fritz: Geschichte des Kaiser-Karls-Gymnasiums in Aachen, II.3. Das preußische Gymnasium. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 42 (1920), S. 90 – 232 und kurz ders.: Die Geschichte der höheren Bildungsanstalten in Aachen. In: Albert Huyskens (Hrsg.): Aachener Heimatgeschichte. Aachen 1924, S. 234 – 241. 19 Auf dem hinteren Einband seines Notizbuchs verzeichnete Reumont am 18. Juni 1830: „Unterricht im Italienischen angfgn.“ (Stadtbibliothek Aachen, Nachlass Alfred von Reumont, Karton II, „Notanda. Florenz, März 1830“). 20 Vgl. [Alfred von Reumont:] Römische Briefe von einem Florentiner. 1837 – 1838. 2 Bde., Leipzig 1840 [1844 um zwei weitere Bände erweitert] und ders. (Hrsg.): Italia. Berlin 1838 – 1840. 21 Vgl. Jedin 1973 (wie Anm. 16), S. 100. 22 Vgl. zur Einführung kurz Rudolf Lill: Geschichte Italiens in der Neuzeit. 4. durchges. Aufl., Darmstadt 1994. 23 Zum politischen und sozialen Umfeld Reumonts in Florenz vgl. u. a. Francesco Cataluccio: Lo storico e diplomatico A. von Reumont nel Risorgimento italiano. In: Archivio
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ihm eine „fast beispiellose Fähigkeit, sich an Menschen und Dinge anzuleben“.24 Seine Konfession war ihm dabei hilfreich: Dem überzeugten Katholiken Reumont erschlossen sich vielfältige Zugänge in die italienische Gesellschaft; 1849/50 bewährte er sich am päpstlichen Hof während der Revolution,25 und es erfüllte sich für ihn ein langgehegter Wunsch: Seit 1851 war er als preußischer Geschäftsträger in Florenz für die diplomatischen Beziehungen mit Toscana, Parma und Modena zuständig.26 Man wollte Reumont mit dieser Stelle, wie der preußische Ministerpräsident Otto von Manteuffel hervorhob, in den Stand setzen, sich „neben seinen Dienstangelegenheiten ferner seinen begonnenen litterarischen Arbeiten zu widmen und seine zerrüttete Gesundheit wiederherzustellen“.27 Reumont fand daher auch mit Rückendeckung des Auswärtigen Amtes die Zeit, journalistisch zu arbeiten und sich in historische und kunsthistorische Studien zu vertiefen. Reumonts Missionen in Italien wechselten häufig mit Dienstpflichten ab, die ihn längere Zeit nach Preußen zurückführten. 1835 hatte Reumont zunächst einen Posten beim Auswärtigen Amt in Berlin angetreten. Sein Minister förderte ihn, führte ihn in die Berliner Gesellschaft ein und ermöglichte ihm 1836 auch eine Begegnung mit dem preußischen Kronprinzen, dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. Die erste Audienz wurde der Anfang einer engen, über Jahrzehnte gepflegten persönlichen Beziehung mit dem Monarchen und dessen Frau Elisabeth von Bayern. Nach längerem Aufenthalt an der Gesandtschaft in Florenz wirkte Reumont 1843 – 1846 wiederum am Auswärtigen Amt in Berlin und war häufiger Gast bei storico italiano 117 (1956), S. 319 – 378, Peter Herde: Guelfen und Neuguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento. Wiesbaden 1986 (= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Frankfurt am Main 22/2) und Thomas Kroll: Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento. Tübingen 1999 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts zu Rom 90) [auch ital.: La rivolta del patriziato. Il liberalismo della nobiltà nella Toscana nel Risorgimento. Florenz 2005 (= Biblioteca storica toscana 1, 47)] sowie den Beitrag von Rudolf Lill: Alfred (von) Reumont und die Geschichte Italiens, in diesem Band. 24 Petersdorff 1894 (wie Anm. 10), S. 189 (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 29. April 1887). Schon 1885 urteilte Gregorovius anlässlich des Erscheinens von dessen Erinnerungsbuch an Friedrich Wilhelm IV., Alfred von Reumont sei „von Natur mit einem auffallenden Annäherungsvermögen an Menschen und Dinge ausgerüstet gewesen“. Allerdings habe er „sich mit vielem und vielen berührt, gleichwohl aber nicht vermocht seine Erfahrungen von der Welt zu einem Zeitbilde zu gestalten“. Ebd., S. 157 (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 22. Februar 1885). 25 Vgl. hierzu den Beitrag von Christiane Liermann: „Regeneration“ statt „Revolutionsschwindel“, in diesem Band. 26 Vgl. Lepper 1987 (wie Anm. 4), S. 14. Die Ernennungsurkunde im Stadtarchiv Aachen, Depositum Alfred von Reumont, Kasten 1, „Personalakte“ ist hinsichtlich des Datums eindeutig; Jedin 1973 (wie Anm. 16), S. 103 und Pohle 2008 (wie Anm. 5), S. 6 nennen irrtümlich 1850 als Jahr der Ernennung Reumonts, der als preußischer Geschäftsträger in Florenz allerdings trotz eigenen Geschäftsbereichs noch bis 1856 dem Gesandten in Rom unterstellt war. 27 Zit. nach Lepper 1987 (wie Anm. 4), S. 14.
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Hofe – im Kreise jener Künstler und Gelehrten, die Friedrich Wilhelm IV. um sich zu versammeln wusste. Reumont galt dem König als Fachmann für Kunst, Kultur und Politik Italiens, als geistreicher Gesellschafter und gesuchter Reisebegleiter. Als Cicerone begleitete er den König 1847 nach Venedig und an den Gardasee, wurde aber nach dem Ausbruch der Revolution 1848 als Legationssekretär an die königliche Gesandtschaft in Rom versetzt. Seinen Urlaub verbrachte Reumont meist bei Hofe in Sanssouci oder mit dem Königspaar am Rhein, wo sie auf Burg Stolzenfels der Rheinromantik nachhingen. Seit 1857 war Reumonts Freund und Gönner Friedrich Wilhelm IV. nach einem Schlaganfall regierungsunfähig. Es stand für Reumont aber außer Frage, dass er dem König zur Seite stand und ihm Gesellschaft leistete, wann immer es jenen danach verlangte. 1858/59 bereiste Reumont mit dem Königspaar Italien bis hinunter nach Rom und Neapel, während in Berlin der Bruder des Königs, Wilhelm, die Regierungsgeschäfte übernahm.28 In Florenz wurde Reumont 1859/60 Zeuge des Endes der italienischen Kleinstaaten im „Risorgimento“, der Einigung Italiens unter dem Haus Savoyen. Mit dem Ende des Großherzogtums Toscana war Reumonts Gesandtenposten in Florenz allerdings hinfällig geworden. Er strebte eine Verwendung als Gesandter am Heiligen Stuhl an, doch sein Gesuch wurde abgelehnt. Zum 1. Januar 1861 wurde Reumont in den Wartestand versetzt, eine Art Ruhestand auf Abruf, der jedoch niemals erfolgte. Reumont galt als enger Vertrauter Friedrich Wilhelms IV., was ihm zwar einerseits auch einen persönlichen Zugang zu dessen Bruder eröffnete, andererseits aber auch dazu führte, dass er politisch ins Abseits geriet – insbesondere nach dem Tod Friedrich Wilhelms 1861. Reumont war ein exponierter Vertreter einer „alten“ Zeit, an die Prinzregent Wilhelm, später König bzw. Kaiser Wilhelm I., und die „Realpolitiker“ in seiner Umgebung nicht mehr anzuknüpfen wünschten. Ab 1863 gestaltete Bismarck den Politikwechsel auf eine Weise, die Reumonts Widerspruch wecken musste: Groß geworden in der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress, war sein politisches Denken lebenslang geprägt vom Grundsatz geschichtlich begründeter Legitimität von Staaten, Dynastien und Institutionen, die zwar das Recht und die Möglichkeit besaßen, sich weiterzuentwickeln, deren machtpolitische Totalabschaffung aber Unrecht genannt werden musste. An dieser Position hielt Reumont fest, auch wenn sie ihn selbst alten Bekannten in Italien entfremdete; das Vorgehen Sardinien-Piemonts in Italien verurteilte er scharf, die Annexion deutscher Staaten durch Preußen im Zuge des Krieges von 1866 dürfte seinen Prinzipien nicht minder zuwider gewesen sein, auch wenn er die Reichsgründung 1870/71 begeistert begrüßte.29
28 Ein schönes Zeugnis jener Jahre ist Alfred von Reumont: Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden und kranken Tagen. Leipzig 1885 mit zweiter Auflage noch im gleichen Jahr. 29 Vgl. zu diesem Aspekt insbes. Lepper 1987 (wie Anm. 4), S. 16 f.
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1868 hatte Reumont seine Hoffnung auf Wiederverwendung im diplomatischen Dienst endgültig aufgegeben. Er erwarb ein Haus in Bonn, am Hofgarten,30 um in der Nähe der gut ausgestatteten Universitätsbibliothek seinen Studien nachzugehen. Bedeutende Werke Reumonts wie die Geschichte der Stadt Rom entstanden dort, in der gelehrten Idylle am Rhein, wenn sich auch die Hoffnung auf eine Honorarprofessur an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität nicht erfüllte. Zugleich änderte sich die Welt um Reumont herum: Der Kirchenstaat wurde 1870 italienisch, das geliebte Rom Hauptstadt des neuen Nationalstaates. Rom war für Reumont aber mehr als nur Hauptstadt, war eine Stadt der ganzen Christenheit, eine universale Stadt und Symbol der Einheit der christlichen Völker. Gegen die gewaltsame Besetzung der Stadt erhob Reumont Einspruch mit der Broschüre Pro Romano Pontifice (1871), gegen den Umbau Roms zur modernen Großstadt polemisierte er mehrfach in Zeitungsartikeln.31 Die großen Verwerfungen, die das Unfehlbarkeitsdogma Papst Pius’ IX. ebenfalls 1870 im deutschen Katholizismus nach sich zog, glitten an Reumont aber weitgehend ab. Auch dem „Kulturkampf“ in Preußen folgte Reumont eher als Außenstehender. Zwar stand er den Maßnahmen des Staates mit Ablehnung gegenüber und intervenierte über private Kanäle in Einzelfragen – etwa bezüglich eines Bleiberechts der Schwestern vom Armen Kinde Jesus in Aachen32 –, doch stürzte er sich lieber in die Arbeit an seinem Lorenzo de’ Medici (1874) und an der Geschichte Toscana’s seit dem Ende des florentinischen Freistaates (1877).33 Im April 1877 verzog Reumont nach Burtscheid bei Aachen, in die Lothringer Straße 50. Er setzte sich an einige letzte größere Arbeiten, meist biographische Bücher und Essays. Mit seiner Gesundheit seit eh und je hadernd – Reumont war Asthmatiker und blieb auch aus gesundheitlichen Gründen Junggeselle –, traten nun Anzeichen einer Erblindung hinzu. 1883 musste ihm das rechte Auge entfernt werden, 1886 erlitt er einen Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung. Ein Freund nach dem anderen starb ihm voran, und Reumont schrieb Nachruf auf Nachruf.34 Als Mitbegrün30 Lepper datiert ebd., S. 17 den Hauserwerb auf 1867, Jedin 1973 (wie Anm. 16), S. 106 auf 1868; Leo Just: Alfred von Reumont. Eine Gedenkrede. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 135 (1939), S. 133 – 148, hier S. 145 führt aus, Reumont habe das Haus Am Hofgarten 1 sogar bauen lassen – allerdings erst 1876. 31 Vgl. Alfred von Reumont: Pro Romano Pontifice. Rückblick und Abwehr. Bonn 1871. Die gerade 30 Seiten umfassende Schrift erregte, ganz gegen die vorherrschende Meinung der liberalen Zeitgenossen in weiten Teilen Deutschlands und Italiens verfasst, große Aufmerksamkeit und evozierte auch Protest; vgl. die anonym erschienene Antwort: Pro populo italico. Replik auf Herrn Alfred von Reumont’s Plaidoyer „Pro Romano Pontifice“. Im Anhange der Text des italienischen Garantiegesetzes. Berlin 1871. 32 Vgl. dazu kurz den Beitrag von Frank Pohle: Die Teilnachlässe Alfred von Reumonts in Aachen, in diesem Band. 33 Vgl. Alfred von Reumont: Lorenzo de’ Medici il Magnifico. 2 Bde., Leipzig 1874 (2., vielfach veränd. Aufl. 1883) und ders.: Geschichte Toscana’s seit dem Ende des florentinischen Freistaates. 2 Bde., Gotha 1876/77 (= Geschichte der europäischen Staaten 19). 34 Solche Nachrufe, Lebens- und Charakterbilder bestimmen das späte Œuvres Reumonts in erheblichem Ausmaß, sowohl im Gelegenheitsschrifttum und in den Beiträgen für die Allgemeine Zeitung, als auch in seinen Sammelbänden. Vgl. mit leichtem Spott Petersdorff 1894
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der und erster Vorsitzender des Aachener Geschichtsvereins von 1879 – 1885 suchte er ein letztes, übersichtliches Betätigungsfeld. Gregorovius, Freund und Rivale zugleich, zeigte sich betroffen, als er von Reumonts Tod am 27. April 1887 hörte: „Sein Tod bewegt mich. Alles in Allem genommen war er ein höchst eigenartiges Ingenium, […] ein Condottiere der Feder, der eigentlich in die seltsame Classe alleswissender Abbés des vorigen [d. h. des 18.] Jahrhunderts gehörte. In Italien ist er Repräsentant einer ganzen Epoche deutscher Beziehungen gewesen, ein Makler beider Länder für Literatur und Kunst, und da hat er nicht kleine Verdienste aufzuweisen“.35
Alfred von Reumont ein Unzeitgemäßer also zumindest bei seinem Tode, sein umfangreiches Werk Zeugnis eines Mannes, dessen geistige Welt im frühen 19. Jahrhundert fundiert war, aber einfühlsam, aufgeschlossen. Jens Petersen formulierte in seinem Vortrag zum 100. Todestag Reumonts 1987: „Sein eigentlicher Lebensraum war die Welt der königlichen Hoheiten und des Hofes. In seinem Wissenschaftsinteresse kam er noch ganz von dem älteren ganzheitlichen, kosmopolitisch angelegten Italien-Interesse der Goethe-Zeit her. Literatur, Kunst, Geschichte bildete für ihn noch eine lebendig erfahrene und immer wieder produktiv verarbeitete Einheit. Als gläubiger Katholik hat er nicht die von Bismarck initiierte und im Bündnis von 1866 kulminierende Hinwendung des preußischen Konservatismus zur italienischen Nationalstaatsbewegung und zum liberalen Einheitsstaat mitgemacht.“36
Vielleicht ist es gerade diese Widerständigkeit Alfred von Reumonts gegen den nationalen Zeitgeist, die ihn uns heute wieder wertvoll machen kann. Die Neubewertung der deutschen Geschichte zwischen dem Wiener Kongress von 1814/15 und der Revolution von 1848/49 ist immerhin im Gange und weist ebenfalls in diese Richtung.37 Reumont dachte in den Kategorien von Glaube und Recht, dachte nicht machtpolitisch. Auch hier fand Jens Petersen 1987 passende Worte: „Gerade in unserem postnationalen Zeitalter, wo sich auf dem Weg nach Europa immer wieder neue Hindernisse auftürmen, könnte uns die noch ganz im vornationalen und kulturell geprägten Kosmopolitismus der Goethezeit wurzelnde Existenz Reumonts noch manches zu sagen haben.“38
(wie Anm. 10), S. 139: „Von Reumont höre ich nur dann etwas, wenn er einen italienischen Sarg in der Beilage der Allgemeinen Zeitung beisetzt“ (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 24. Dezember 1882). 35 Petersdorff 1894 (wie Anm. 10), S. 189 (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 29. April 1887). Reumont fand sein Grab auf dem Aachener Ostfriedhof, wo es noch heute zu besuchen ist; vgl. Ingeborg Schild/Elisabeth Janssen: Der Aachener Ostfriedhof. Aachen 1991 (= Aachener Beiträge für Baugeschichte und Heimatkunst 7), S. 487 – 489. 36 Petersen 1987/88 (wie Anm. 8), S. 106. 37 Vgl. etwa einführend Jürgen Müller: Der Deutsche Bund 1815 – 1866. München 2006 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 78) mit Diskussion der Literatur und der neueren Fragestellungen. 38 Petersen 1987/88 (wie Anm. 8), S. 107.
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Und sollte es selbst nicht dies sein, das eine noch ungeschriebene, umfassende Biographie Alfred von Reumonts legitimieren würde, so wäre es doch seine Mittlerfunktion zwischen Deutschland und Italien, die sich in seinem Werk allenthalben ausdrückt. Von einer solchen umfassenden, wissenschaftlichen Biographie aber sind wir weit entfernt. Dieser Tagungsband wird sie nicht ersetzen, aber vielleicht mit anregen können, deuten die Beiträge die Bedeutung Reumonts in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts und die große Vielfalt seines Werkes zumindest an. Zwei einleitende Beiträge stellen das umfangreiche Quellenmaterial aus Reumonts Nachlässen in Bonn und Aachen vor, mit dem noch ausgiebig zu arbeiten wäre. Rudolf Lill und Christiane Liermann widmen sich vornehmlich Reumonts Leben und Wirken in Italien, zeigen sein soziales, politisches und wissenschaftliches Umfeld auf und legen Aspekte seines religiösen Denkens dar. Christine Roll beleuchtet Reumonts Schrift Italienische Diplomaten und diplomatische Verhältnisse (1853) und nimmt sie zum Anlass einer historiographiegeschichtlichen Einordnung, ja, Wiederentdeckung. Insbesondere des Frühwerks Reumonts nehmen sich zwei weitere Beiträge an, die Bezüge zu Reumonts Promotionsverfahren aufweisen. Zur Promotion zum Doktor der Philosophie in Erlangen hatte Reumont drei Arbeiten unterschiedlicher Thematik und Methode eingereicht, darunter den Band Aachener Liederkranz und Sagenwelt (Aachen 1829) und das Manuskript der Reiseschilderungen und Umrisse aus südlichen Gegenden (Stuttgart/Tübingen 1835), in denen er seine Beobachtungen auf einer Reise nach Konstantinopel und Griechenland verarbeitete. Diese frühen Schriften und ihren größeren Zusammenhang im Werk Alfred von Reumonts behandeln nun die Beiträge von Klaus Graf über Reumont als Sagensammler und Sagendichter und meiner Person über Reumont als Reiseschriftsteller. Einen weiteren Akzent setzt David Engels mit seinem Beitrag über Reumont als Übersetzer des Gedichts De redditu suo des Claudius Rutilius Namatianus. Das thematische Spektrum dieses Bandes hätte sich durchaus erweitern lassen: Reumonts Beziehungen zu Friedrich Wilhelm IV. und dessen Umfeld, seine Betätigung im italienischen Wissenschaftsbetrieb, Inhalte und Ausrichtung seines Berufsschrifttums oder seine Glaubenswelt zwischen Rom und Berlin, liberalem Katholizismus, Erstem Vatikanischen Konzil und Kulturkampf wären wohl auch in größerem Kontext lohnende Themen. Dazu aber hätte es Bearbeiter benötigt, die Zeit und Muße gehabt hätten, sich auf weitgehend unbearbeitete Felder zu begeben. Dass der vorliegende Band zustande gekommen ist, ist daher in erster Linie den Autoren zu verdanken, die sich ebendiese Zeit und Muße genommen haben. Zu danken ist schließlich auch den Förderern: Die RWTH Aachen, der Verein der Freunde und Förderer der RWTH Aachen, der Aachener Geschichtsverein e.V. und die Sparkasse Aachen haben aus ihren Mitteln die Durchführung der Tagung, der Landschaftsverband Rheinland, die Lohmann-Hellenthal-Stiftung und die Familie von Reumont die Publikation des Tagungsbandes möglich gemacht. Der Verlag Duncker & Humblot hat letzterem eine ansprechende Form gegeben, wofür ihm ebenfalls
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Dank gebührt. Und schließlich gilt ein besonderer Dank jenen, die ganz tatkräftig am Gelingen der Tagung wie des Tagungsbandes beteiligt waren: Carola Babinecz und den Studentischen Hilfskräften Theresia Theuke, Pia Hildesheim und Matthias Myrczek. Seit der Tagung 2008 und dem Redaktionsschluss des vorliegenden Bandes sind einige wenige Studien zu Alfred von Reumont und seinem Werk erschienen, die das hier Gesagte zu ergänzen vermögen. Die Autoren konnten sie nicht mehr in ihre Überlegungen einbeziehen, doch seien sie hier zumindest erwähnt.39
39 Vgl. Achim Aurnhammer: Art. „Reumont, Alfred von“. In: Killy-Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. neu bearb. Aufl., Bd. 9. Berlin/New York 2010, S. 570 – 572, Hermann-Josef Reudenbach: Der König aus dem Norden in Florenz. Ein Streiflicht auf Alfred v. Reumont (1808 – 1887) und seine Geschichtsschreibung. In: Dominik Burkard/Nicole Priesching (Hrsg.): Katholiken im langen 19. Jahrhundert. Akteure – Kulturen – Mentalitäten. Festschrift für Otto Weiß. Regensburg 2014, S. 211 – 245, Felix Schumacher: „Mi permetto di domandarle se crede che se ne abbia noi a parlare“. Alfred von Reumont ed il suo ruolo nell’Archivio Storico Italiano, in particolare sotto la direzione di Agenore Gelli. In: Rassegna storica del Risorgimento 99, suppl. al fasc. III/2012, S. 73 – 92, ders.: Der preußische Diplomat und Publizist Alfred von Reumont (1808 – 1887) und sein Engagement für Papst und Kirchenstaat. In: Römische Quartalschrift 108 (2013), S. 40 – 75 und ders.: Alfred von Reumont (1808 – 1887) und die Entstehung des italienischen Nationalstaates. In: Gabriele B. Clemens/Jens Späth (Hrsg.): 150 Jahre Risorgimento – geeintes Italien? Trier 2015 (= Geschichte & Kultur. Saarbrücker Reihe 5), S. 73 – 106. Schumacher ist seit 2013 Doktorand im Saarbrücker DFG-Projekt „Alfred von Reumont (1808 – 1887) – Ein katholischer Diplomat in Diensten Preußens und der deutsch-italienischen Historiographie“, von dem sicherlich Forschungsimpulse zu erwarten sind.
Der Nachlass Alfred von Reumonts in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn Von Michael Herkenhoff Alfred von Reumont hinterließ bei seinem Tod am 27. April 1887 einen umfangreichen Nachlass, der sein nahezu 60-jähriges Wirken in Diplomatie und Wissenschaft dokumentiert. Den Verbleib seiner Papiere hatte er in seinem Testament sorgfältig geregelt. Danach sollten die Briefe König Friedrich Wilhelms IV. dem Königlichen Hausarchiv in Charlottenburg überwiesen werden. Die Briefe der Königin Elisabeth, der Frau Friedrich Wilhelms IV., der Kaiserin Augusta sowie einige Briefe von Kaiser Wilhelm I. sollten im Besitz der Familie verbleiben, die seit der Jugend geführten Tagebücher ungelesen vernichtet werden. Seine literarischen und wissenschaftlichen Manuskripte und Materialien hinterließ er einem engen Freund, dem Bonner Rechtsprofessor Hermann Hüffer. Den Kern seines Nachlasses, die „gelehrten“ Korrespondenzen, vermachte er jedoch der Bonner Universitätsbibliothek.1 Eine besondere Bestimmung des Testaments untersagte die Auflösung des Nachlasses bis zum 27. April 1888. Ein knappes Jahr später erhielt die Bonner Universitätsbibliothek drei versiegelte Pakete und elf Mappen mit den ihr hinterlassenen Korrespondenzen. Der Inhalt der Pakete war dem Begleitschreiben des Testamentsvollstreckers zu entnehmen: 1. „Ein versiegeltes Packet mit der Aufschrift: ,Schreiben von Mitgliedern des Königlich Preussischen Hauses und anderen regierenden Häusern an Alfred von Reumont‘. 2. Ein versiegeltes Packet mit der Aufschrift: ,aus dem Nachlass von Alfred von Reumont; Korrespondenz gelehrter Gesellschaften‘. 3. Eilf Mappen in Glanz Karton, verschnürt und versiegelt, die gelehrte Korrespondenz enthalten, auf der Rückseite in folgender Weise bezeichnet: AB.-C.-DEF.G.-H.-IKLM.-NOP.-QR.-ST.-V.-WZ. 1
Hermann Hüffer: Alfred von Reumont. Zur Erinnerung an das fünfzigjährige Bestehen des Historischen Vereins für den Niederrhein 1854 – 1904. Köln 1904, S. 10 f. Übersichten zur Quellenlage und zum Nachlass bei Leo Just: Alfred von Reumont. Eine Gedenkrede. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 131 (1937), S. 133 – 148, hier S. 148, Hubert Jedin: Alfred von Reumont (1808 – 1887). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 112, hier S. 111 f., und Herbert Lepper: Alfred von Reumont und Franz Xaver Kraus. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 69 (1989), S. 181 – 254, hier S. 250 – 253.
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4. Ein größeres versiegeltes Packet, welches im Innern folgende Aufschrift trägt: ,Literarische Briefe bis Anfang 1885; zu ordnen und in die Cartons einzuschalten‘. Mai 1885“.2 Reumont hatte in seinem Testament allerdings festgelegt, dass die Bibliothek „erst nach wenigstens fünf Jahren nach meinem Tod Kenntnis vom Inhalt“ nehmen durfte.3 Damit konnten die Briefe erst nach dem 27. April 1892 geöffnet, eingesehen und den Benutzern zur Verfügung gestellt werden. Bei der Einreihung in den Bestand orientierte sich die Bonner Bibliothek an der bereits von Alfred von Reumont getroffenen Ordnung und gliederte die Briefe in drei Gruppen: - die Briefe königlicher Personen und Herrschaften (S 1056), - die Briefe gelehrter Gesellschaften (S 1057), - die sogenannte „gelehrte Korrespondenz“, also Briefe von Wissenschaftlern und Forschern (S 1058-S 1068).4 Insgesamt handelt es sich um gut 2.900 Briefe von ca. 700 Schreibern, deren Abfassungszeit sich über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren erstreckt. Unter den Schreibern finden sich einige der klangvollsten Namen des 19. Jahrhunderts: kaiserliche und königliche Persönlichkeiten – die Kaiserin Augusta, Kaiser Friedrich III., König Johann von Sachsen – sowie einige der bedeutendsten Forscher und Wissenschaftler der Zeit wie Ferdinand Gregorovius, Alexander von Humboldt oder Leopold von Ranke. Die Korrespondenzen enthalten jedoch – und dies ist nicht untypisch für einen Gelehrtennachlass – allein Schreiben, die an Alfred von Reumont gerichtet waren, keineswegs aber Briefe von ihm selbst, nicht einmal Entwürfe oder Konzepte. Die Gegenbriefe Reumonts finden sich – sofern erhalten – in den Nachlässen seiner Korrespondenzpartner. Doch warum hat Reumont seinen Briefnachlass der Bonner Universitätsbibliothek vermacht und nicht etwa der Aachener Stadtbibliothek, die immerhin seine umfangreiche Bibliothek, darunter auch seine wertvolle Dante-Sammlung, erhielt? Das Schreiben des Testamentsvollstreckers nennt für die Übereignung des Briefnachlasses keine Gründe. Aufschluss gibt allein der historische Kontext. Die 1818 gegründete Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität war die wichtigste wissenschaftliche Einrichtung der Rheinprovinz, die im gleichen Jahr entstandene Bonner Univer-
2 Akten der Universitäts- und Landesbibliothek (UB) Bonn Vb, Fasz. 21, Nr. 146. Schreiben des Testamentsvollstreckers an Carl Schaarschmidt, den Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek Bonn, vom 21. 3. 1889. 3 Ebd. 4 Das Inhaltsverzeichnis ist als PDF-Datei auf der Website der ULB Bonn hinterlegt [URL: http://www.ulb.uni-bonn.de/die-ulb/publikationen/findbuecher-inhaltslisten/reumont/view].
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sitätsbibliothek die bedeutendste Bibliothek im rheinischen Bereich.5 Alfred von Reumont war bekanntlich 1868 nach Bonn gezogen und hatte ein Haus am Hofgarten, in unmittelbarer Nähe von Universität und Universitätsbibliothek erworben. Der Übersiedlung nach Bonn lag die Hoffnung zugrunde, Anknüpfung an das geistige und kulturelle Leben in der Universitätsstadt und wissenschaftlichen Metropole der Rheinprovinz zu gewinnen.6 Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nur zum Teil. Einerseits zählten die Jahre von 1868 bis 1878 zur produktivsten Schaffenszeit Reumonts. Er konnte in diesen Jahren seine Geschichte der Stadt Rom mit dem vierten Band abschließen. Auch zwei seiner wichtigsten Werke, Lorenzo de’ Medici und die Geschichte Toscana’s seit dem Ende des florentinischen Freistaates wurden in Bonn verfasst. Nähere Kontakte zur Bonner Universität ergaben sich jedoch kaum. Die anfangs angestrebte Übertragung einer Honorarprofessur kam nicht zustande. Der Streit um das auf dem ersten Vatikanischen Konzil verkündete Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes und der sich unmittelbar anschließende Kulturkampf in Preußen führten an der Bonner Universität zu erbitterten Auseinandersetzungen, die auch die persönlichen Beziehungen zwischen den Professoren und Gelehrten tangierten. Hermann Hüffer schildert in seinen Lebenserinnerungen eindrücklich eine eisige Begegnung zwischen dem katholisch gebliebenen Reumont und dem zur altkatholischen Kirche konvertierten Germanisten Karl Simrock.7 1878 siedelte Reumont schließlich nach Aachen über. Die wenigen erhaltenen Zeugnisse lassen für die Bonner Jahre Reumonts ein gutes Verhältnis zur Universitätsbibliothek erkennen. Im Februar 1868 übersandte er dem Oberbibliothekar Prof. Bernays mehrere seiner in italienischer Sprache abgefassten Schriften und drückte die Hoffnung aus, „daß dieselben, namentlich als Producte eines Rheinländers welcher der Bonner Universität ein dankbares Andenken bewahrte, nicht unwillkommen sein werden“.8 Im Dezember 1875 übersandte er der Bibliothek zwei musikhistorische Arbeiten und einige ältere in italienischer Sprache von ihm verfasste Werke.9 1878 schließlich überwies Reumont – nun bereits aus Burtscheid – der Bibliothek erneut einige seiner Bücher und drückte in dem Begleitschreiben seine Wertschätzung für die Bonner Universitätsbibliothek aus:
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Grundlegend: Wilhelm Erman: Geschichte der Bonner Universiätsbibliothek (1818 – 1901). Halle 1919 (= Sammlung bibliothekswissenschaftlicher Arbeiten 37/38). 6 Vgl. Hüffer 1904 (wie Anm. 1), S. 7 f., Hüffer 1914 (wie Anm. 12), S. 213 ff. u. ö. sowie Herbert Lepper: Staat und Kirche im Denken Alfred von Reumonts. In: Herbert Hammans/ Hermann-Josef Reudenbach/Heino Sonnemans (Hrsg.): Geist und Kirche. Studien zur Theologie im Umfeld der beiden Vatikanischen Konzilien. Gedenkschrift für Heribert Schauf. Paderborn u. a. 1991, S. 381 – 438, hier S. 433 ff. 7 Hüffer 1914 (wie Anm. 12), S. 280. Vgl. auch Lepper 1989 (wie Anm. 1), S. 208 – 212. 8 Akten der UB Bonn Vb, Fasz. 18, S. 215. Schreiben Alfred von Reumonts an Jacob Bernays vom 20. 02. 1868. UB Bonn Akzessionsjournal 1868 G 22 – 30. 9 Akten der UB Bonn Vb, Fasz. 19, S. 315 f. Schreiben Alfred von Reumonts an Joseph Staender. UB Bonn Akzessionsjournal 1875 G 709 – 717.
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Michael Herkenhoff „Beim Neu-ordnen meiner Bibliothek sind mir verschiedene größere wie kleinere Bände in die Hand gekommen, welche, meist italienische Sprachwissenschaft betreffend mit welcher ich mich gegenwärtig nicht beschäftigen kann und wol auch nicht wieder beschäftigen werde, für die Königliche Universitäts-Bibliothek vielleicht nicht ganz ohne Interesse sind und zur Completierung dienen können, so daß ich mir erlaube, dieselben Ihrer schönen Anstalt zu überreichen, die mir so oft nützlich gewesen ist und welcher ich gerne meine Erkenntlichkeit auf bessrer Weise ausdrücken möchte als mir in diesem Falle möglich ist“.10
Die von Reumont dedizierten Bücher sind leider fast alle bei der Zerstörung der Universitätsbibliothek im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden. Lediglich ein Buch aus dem ehemaligen Besitz von Alfred von Reumont konnte in unserem Haus ermittelt werden: eine 1849 gedruckte Ausgabe des Neuen Testaments mit eingeklebtem Exlibris im Spiegel des Vorderdeckels sowie einer zweiseitigen handschriftlichen Erläuterung von der Hand Reumonts zum Druck dieser Ausgabe auf dem fliegenden Vorsatz.11 Beim Briefnachlass selbst sind dagegen keine Kriegsverluste zu verzeichnen. Seine Notizen und Manuskripte hatte Alfred von Reumont seinem engen Freund Hermann Hüffer (1830 – 1905) vermacht.12 Der Münsteraner hatte in Bonn zunächst ein philologisches Studium aufgenommen, wechselte dann aber zu den Rechtswissenschaften über. Seit 1873 war er ordentlicher Professor an der Universität Bonn. Obgleich Jurist, betrieb er doch vornehmlich historische und philologische Studien. Von 1881 bis 1904 war er Vorsitzender des Historischen Vereins für den Niederrhein. Hermann Hüffer und Alfred von Reumont hatten sich bereits 1852 in Florenz kennengelernt. Zu einer engeren Freundschaft kam es aber erst nach der Übersiedlung Reumonts nach Bonn 1868.13 Den Aachener und den Münsteraner verband die Liebe zur Geschichte und zur Literatur, vor allem aber zu Italien. Die Freundschaft hielt bis zum Tode Reumonts 1887 an. Hermann Hüffer starb im März 1905. Seinen Nachlass vermachte er gleichfalls der Bonner Universitätsbibliothek. Dieser enthielt nicht nur Materialien und Manuskripte Hermann Hüffers, sondern auch drei Fremdnachlässe, darunter auch alles, „was Reumont mir an Schriften hinterließ“.14 Die Bibliothek gliederte den Nachlass von Hüffer in sechs Abteilungen: Die ersten drei umfassen den eigentlichen Nachlass von Hermann Hüffer, die folgenden drei die Fremdnachlässe – die Abt. IVeinen Teilnachlass Annette von Droste-Hülshoffs (1797 – 1848), die Abt. V die bereits genann10 Akten der UB Bonn Vb, Fasz. 19, S. 417 f. Schreiben Alfred von Reumonts an Jacob Bernays vom 09. 06. 1878. UB Bonn Akzessionsjournal 1878/79 G 810 – 811. 11 Il Nuovo Testamento del Nostro Signore e Salvatore Gesù Cristo / tradotto dal Greco per Giovanni Diodati. Rom 1849. ULB Bonn Ga 302/20. 12 Grundlegend: Hermann Hüffer: Lebenserinnerungen. Hrsg. von Ernst Sieper. Berlin 1914. Zu Reumont ebd. 13 Vgl. Hüffer 1904 (wie Anm. 1), S. 6 ff. und Hüffer 1914 (wie Anm. 12), S. 213 f. 14 Akten der UB Bonn Vb, Fasz. 26, S. 37 ff. Schreiben des Amtsgerichts Bonn an den Bibliotheksdirektor Joseph Staender vom 15. 4. 1905.
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ten Unterlagen Alfred von Reumonts, die Abt. VI den Nachlass des berühmten Kölner Kunstsammlers Sulpiz Boisserée (1783 – 1854). Der Bonner Hüffer-Nachlass ist vor allem wegen der Abt. IV, des Droste-Teils, berühmt. Hermann Hüffer hatte eine umfangreiche Biographie Annette von Droste-Hülshoffs verfasst und dazu von den beiden Nichten der Dichterin den literarischen Nachlass, darunter die Manuskripte fast sämtlicher Werke, erhalten.15 Ein Großteil dieser Manuskripte ging zwar an die Familie Lassberg zurück, doch verblieb im Bestand der Universitätsbibliothek das Originalkonzept der Novelle Die Judenbuche,16 eines der wertvollsten Manuskripte, das unsere Bibliothek besitzt. Der Reumont-Teil des Hüffer-Nachlasses enthält vor allem Manuskripte, kaum Korrespondenz. Besonders zu nennen ist das Manuskript der Selbstbiographie Alfred von Reumonts, die er 1870 in Bonn verfasst hatte.17 Sie enthält seine Jugenderinnerungen und endet mit seinem 21. Lebensjahr, konkret mit seiner Abreise aus Aachen nach Italien am 17. November 1829. Diese Erinnerungen sind von Hermann Hüffer 1904 in seinem Werk über Alfred von Reumont veröffentlicht worden.18 Leider sind große Teile des Hüffer-Nachlasses im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden. Die Verluste betreffen vor allem die Abteilungen I-III, also die Papiere von Hermann Hüffer selbst, sowie die Abteilung VI, den Nachlass von Sulpiz Boisserée. Bei der Droste-Abteilung fehlen heute die Materialien Hüffers zu Droste, die wertvollen Originale sind jedoch erhalten. Die Reumont-Abteilung blieb nahezu unversehrt. Es fehlen nur zwei Signaturen, darunter leider auch 25 Briefe Alfred von Reumonts an Hermann Hüffer. Die 107 Gegenbriefe von Hermann Hüffer an Alfred von Reumont sind bereits 1889 mit dem eigentlichen Reumont-Nachlass in die Bibliothek gekommen.19 Der Nachlass Alfred von Reumonts in der Bonner Universitätsbibliothek ist schließlich – wahrscheinlich während des Zweiten Weltkriegs oder unmittelbar danach – noch einmal angereichert worden. Umstände und Zeitpunkt dieser Akzession lassen sich nicht rekonstruieren. Dabei ist der neu erworbene Bestand umfangreich und wertvoll. Es handelt sich zum einen um 202 Briefe Alfred von Reumonts an den berühmten Danteforscher Karl Witte. Die Bonner Bibliothek besaß seit 1889 bereits die 176 Gegenbriefe Wittes an Alfred von Reumont, so dass der Briefwechsel dieser beiden bedeutenden Gelehrten heute vollständig in der ULB Bonn verwahrt wird. Zum anderen zählt die Bibliothek über 750 Briefe Alfred von Reumonts an Mitglieder seiner Familie, vor allem an seine Mutter, an seine Schwester Elvira und an seinen Bruder Alexander, zu ihrem Bestand. Der wissenschaftliche Wert dieser Briefe für die Reumont-Forschung ist signifikant. Es handelt sich ausschließlich um Briefe aus seiner Feder. Diese sind folglich viel aussagekräftiger über sein Denken und Han15
Hüffer 1914 (wie Anm. 12), S. 328. ULB Bonn S 1504. 17 ULB Bonn S 1514. 18 Hüffer 1904 (wie Anm. 1), S. 17 – 119. 19 ULB Bonn S 1062.
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deln als die an ihn adressierten Schreiben, die mit dem eigentlichen Reumont-Nachlass 1889 in die Bibliothek gelangten. Rechnet man die verschiedenen Nachlasstranchen zusammen, wird der Umfang des Bonner Reumont-Nachlasses deutlich. Er enthält ca. 3.800 Briefe, dazu wichtige Notizen und Manuskripte. Trotz des Umfangs kann die Erschließung dieses Nachlasses als gut bezeichnet werden. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erstellte die Bibliothek einen Autographen- und Porträtkatalog, der auch die Korrespondenzen in den Nachlässen berücksichtigte. Damit waren schon zum damaligen Zeitpunkt die Briefschreiber aus dem Reumont-Nachlass einzeln aufgelistet und somit recherchierbar.20 Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Unzulänglichkeit des alten handgeschriebenen, schwer leserlichen Autographenkatalogs herausstellte und sich zugleich die Notwendigkeit ergab, die zahlreichen neu erworbenen Nachlässe zu erschließen, wurde seit Mitte der 1960er Jahre mit teilweiser Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein neuer, maschinenschriftlicher Zettelkatalog der Autographen und der Korrespondenzen in den Nachlässen erstellt. Zuerst konvertierte man die Aufnahmen aus dem handschriftlichen Katalog, dann verzettelte man die Briefe aus den nach 1945 erworbenen Nachlässen, darunter auch die bereits erwähnten ca. 950 Briefe Alfred von Reumonts an Karl Witte und an Angehörige seiner Familie. Die im Rahmen dieser umfangreichen und langjährigen Erschließungsmaßnahme erstellten Titelaufnahmen wurden anschließend an die Zentralkartei der Autographen (ZKA) in der Berliner Staatsbibliothek gemeldet. Die ZKA ist 1966 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als zentrales Nachweisinstrument für Autographen, d. h. vor allem Briefe, in Deutschland gegründet worden. Die Bonner Briefbestände waren damit in ihrer großen Masse seit Mitte der 1970er Jahre auch überregional nachweisbar. Im Zeitalter der EDVund des Internets hat auch die Zentralkartei der Autographen eine tiefgehende Wandlung erfahren. Die mehr als 1.000.000 Nachweise des alten Zettelkataloges sind seit einigen Jahren Bestandteil des Kalliope-Verbundkataloges für Nachlässe und Autographen,21 der von der Staatsbibliothek zu Berlin unterhalten wird und sich inzwischen als zentrales Nachweisportal für Autographen und Nachlässe in Deutschland etabliert hat. Die in Kalliope erfassten Briefe sind mit normierten Personen- und Körperschaftsdaten verknüpft, die aus der Gemeinsamen Normdatei (GND) gespeist sind. Auch die Briefe von und an Alfred von Reumont sind jetzt über das Kalliope-Portal recherchierbar. Die Briefe an ihn finden sich fast ausschließlich in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, und zwar in der ersten, 1889 erhaltenen Nachlasstranche. Die Briefe von seiner Hand sind hingegen sowohl bei uns als auch in Beständen zahlreicher anderer Bibliotheken, d. h. in den Papieren anderer Nachlasser enthalten. Bei den Katalogisaten in Kalliope handelt es sich sowohl 20
Paul Otto: Autographen- und Porträtsammlung der Universitätsbibliothek Bonn. In: Bonner Mitteilungen 12 (1933), S. 34 – 45. Zum Reumont-Nachlass ebd., S. 36/42. 21 Kalliope-Verbundkatalog für Nachlässe und Autographen [URL: http://www.kalliopeportal.de/].
Der Nachlass in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn
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um Aufnahmen einzelner Briefe als auch um die Aufnahmen ganzer Konvolute. Die Briefe Alfred von Reumonts an seine Familie bzw. an Karl Witte liegen beispielsweise nur als Konvolutaufnahmen vor. Die Universitäts- und Landesbibliothek Bonn besitzt seit 1992 mit HANS auch einen eigenen elektronischen Katalog für Handschriften, Autographen, Nachlässe und Sammlungen.22 Damit erfasst werden alle Neuzugänge sowie un- und teilerschlossene frühere Nachlässe. Auch die bisher nur in Kalliope erfassten Altdaten sind inzwischen in den Bonner HANS-Katalog eingespielt worden, so dass auch der Reumont-Nachlass inzwischen komplett elektronisch erfasst und recherchierbar ist. Abschließend einige Worte zur Benutzung des Reumont-Nachlasses. Dieser zählt nicht zu den benutzungsstärksten Beständen der Bonner Handschriftenabteilung, wie aus einer Auswertung des elektronisch geführten Postausgangsbuchs der Handschriftenabteilung für die Jahre 2002 – 2008 hervorgeht. Danach lassen sich für den Zeitraum von 1992 bis 2008 21 verschiedene Anfragen auswärtiger Benutzer zum Reumont-Nachlass in den Benutzungsakten nachweisen. Verglichen mit den benutzungsstärksten Nachlässen – etwa von Johanna und Gottfried Kinkel (186 Einträge), des berühmten Romanisten Ernst Robert Curtius (143 Einträge), des Philosophen und Psychologen Erich Rothacker (138 Einträge) oder des Historikers Karl Lamprecht (83 Einträge) – ist dies eine vergleichsweise kleine Zahl. Berücksichtigt man darüber hinaus auch den Inhalt der jeweiligen Anfragen, relativiert sich diese Zahl noch weiter. Ganz überwiegend, in 18 Fällen, gilt das Interesse der Forscher dem Briefschreiber, nicht aber dem Adressaten Alfred von Reumont. Diese Anfragen aus Deutschland und der Schweiz beziehen sich im Endeffekt immer auf die erste Nachlasstranche, also auf die „gelehrten Korrespondenzen“, die die Bonner Universitätsbibliothek 1889 erhalten hat. Nur bei drei Benutzeranfragen lässt sich ein genuines Interesse an der Person und dem Wirken Alfred von Reumonts konstatieren. Diese drei Briefe kommen jeweils aus Italien. Ob diese kleine Beobachtung das momentane Forschungsinteresse an Alfred von Reumont in Italien und Deutschland jeweils adäquat widerspiegelt, vermag ich nicht zu beurteilen. Seitdem die Bonner Universitätsbibliothek vor gut 120 Jahren den ersten Teil des Reumont-Nachlasses erhielt, sind immer wieder wichtige Teile des Nachlasses veröffentlicht bzw. wichtige Studien anhand des Nachlasses verfasst worden. Hermann Hüffer hat nicht nur die Jugenderinnerungen Alfred von Reumonts herausgegeben, sondern darüber hinaus auch noch die Briefe Leopold von Rankes und Hermann von Thiles an Reumont veröffentlicht.23 Hermann Witte, der Enkel des Danteforschers Karl Witte, hat 1941/42 in zwei Artikeln im Deutschen Dante-
22 ULB Bonn: Handschriften, Autographen, Nachlässe und Sonderbestände (HANS) [URL: http://sam.ulb.uni-bonn.de/populo/hans]. 23 Hüffer 1904 (wie Anm. 1), S. 174 – 190, 191 – 209.
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Jahrbuch Briefe seines Großvaters an Alfred von Reumont publiziert.24 1943 hat Marianne Hartmanns den Nachlass für ihre Bonner Dissertation über Alfred von Reumont und die Einigung Italiens berücksichtigt.25 Herbert Lepper ist meines Wissens der erste und bisher einzige Forscher gewesen, der systematisch die Briefe Alfred von Reumonts an Karl Witte und an seine Angehörigen ausgewertet hat: zunächst 1989 in einem längeren Aufsatz über die Beziehung zwischen Alfred von Reumont und dem Freiburger Kirchenhistoriker und christlichen Archäologen Franz Xaver Kraus (1840 – 1901),26 dann zwei Jahre später in einem Beitrag über Staat und Kirche im Denken Alfred von Reumonts.27 Schließlich hat Anna Maria Voci im Jahr 2006 die Korrespondenz von Pasquale Villari (1826 – 1917) mit deutschen Historikern veröffentlicht und dabei auch den Briefwechsel Villaris mit Alfred von Reumont publiziert.28 Trotz dieser beträchtlichen Vorarbeiten bleibt noch viel zu tun. Eine Biographie Alfred von Reumonts bleibt nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Sein Nachlass in der Bonner Universitätsbibliothek stellt dafür umfangreiches Material bereit.
24 Hermann Witte: Aus Briefen Karl Wittes an A. v. Reumont (1836 – 1882). In: Deutsches Dante-Jahrbuch 23 (1941), S. 145 – 181 und 24 (1942), S. 20 – 102. 25 Marianne Hartmanns: Alfred von Reumont und die Einigung Italiens. Diss. phil. Bonn 1943. 26 Lepper 1989 (wie Anm. 1). 27 Lepper 1991 (wie Anm. 6). 28 Anna Maria Voci (Hrsg.): Corrispondenze di Pasquale Villari con storici tedeschi. Rom 2006.
Die Teilnachlässe Alfred von Reumonts in Aachen Von Frank Pohle Der umfangreiche Gelehrtennachlass Alfred von Reumonts in der Universitätsund Landesbibliothek Bonn wird durch kleinere Archiv- und Bibliotheksbestände in Aachen ergänzt, die allerdings weder so gut erschlossen sind wie der Bonner Bestand, noch vergleichbar intensiv genutzt werden. Zu nennen sind neben einem „Nachlass Alfred von Reumont“ im Aachener Stadtarchiv und einem größeren Teilnachlass in der Stadtbibliothek Aachen vor allem auch die wissenschaftliche Bibliothek von Reumonts, die zu den bedeutenden historischen Buchbeständen der Stadtbibliothek zählt. Beide Archivbestände sowie diese Bibliothek seien im Folgenden – als Seitenstück zum Beitrag von Michael Herkenhoff in diesem Band – kurz vorgestellt, um zu einer intensiveren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Alfred von Reumont und seinem Werk einzuladen.1 I. Der (Teil-)Nachlass im Stadtarchiv Aachen Das Stadtarchiv Aachen beherbergt zwei Archivkartons – eine Neuordnung und Umbettung in Mappen ist geplant2 – mit Urkunden und Aktenstücken bezüglich Alfred von Reumont.3 Es handelt sich um vereinzelte Unterlagen, die Reumont für die Übergabe an die Bonner Bibliothek nicht vorbereitet bzw. nicht vorgesehen hatte und die zunächst in Familienbesitz blieben. Die Dokumente gelangten wohl ab 1910 in unterschiedlichen Tranchen an das Stadtarchiv und wurden bei Gelegenheit durch Zukäufe anderer Provenienz ergänzt – 1930 etwa durch den antiquarischen Ankauf
1 Ich danke dem Leiter der Stadtbibliothek Aachen, Herrn Manfred Sawallich, und Frau Angelika Pauels vom Stadtarchiv Aachen für die freundliche Durchsicht und Korrektur der nachstehenden Ausführungen. 2 Freundliche Auskunft Angelika Pauels, Stadtarchiv Aachen. 3 Vgl. Stadtarchiv Aachen (nachfolgend StAA), Nachlass Alfred von Reumont. Material zu anderen Familienangehörigen, etwa den Ärzten Gerhard und Alexander Reumont, die für die Geschichte Aachens als Bäderstadt eine bedeutende Rolle spielten, ist nicht enthalten; ein Blatt mit Bezug nur auf den gleichnamigen Neffen Alfred von Reumonts scheint irrtümlich in den Bestand geraten zu sein. Eine erste Andeutung des Inhalts dieser Bestände wie auch der Archivalien in der Stadtbibliothek Aachen (siehe unten) gab Leo Just: Alfred von Reumont. Eine Gedenkrede. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 135 (1939), S. 133 – 148, hier S. 148.
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der Doktorurkunde Reumonts.4 Der Bestand ist ungeordnet und unverzeichnet; es handelt sich überwiegend um lose, wenn auch nummerierte Aktenstücke sowie um zwei Mappen, die in die Nummerierung einbezogen sind. Letztere beinhalten zum einen eine Abschrift des Testaments Reumonts mit Anlagen, u. a. Verfügungen über den Grabstein auf dem Ostfriedhof, über die Stiftung eines „metallischen Kunstwerks“ mit Reumonts Wappen an die Alfonskirche in Aachen sowie über die Verpflichtung zur Vernichtung der Privatkorrespondenz und der Tagebücher – eine Verpflichtung, der der Testamentsvollstrecker, Reumonts Neffe Alfred, leider nachgekommen ist. Die zweite Mappe ist als „Personalakte“ Alfred von Reumonts bezeichnet und enthält von ihm selbst zusammengestellte Urkunden und Briefe aus den Jahren 1836 – 1860, u. a. die Ernennungsurkunden zum Geheimen expedierenden Sekretär 1836 und zum Geschäftsträger in Florenz 1851, zur Verleihung der Würde eines königlich-preußischen Kammerherrn 1855 und zu seiner Abberufung 1860 sowie Material bezüglich der Auseinandersetzungen über die Höhe des Ruhegehalts. Unter den grob geordneten Aktenstücken lassen sich mehrere Themenschwerpunkte ausmachen: Ordensverleihungen an Reumont mit Urkunden aus den Jahren 1845 – 1883, Glückwünsche zum goldenen Doktorjubiläum 1883 (u. a. von Ludwig Pastor, Oberpräsident von Bardeleben und Freiherrn von Härtling für die Görres-Gesellschaft), Korrespondenz des Neffen Alfred von Reumont bezüglich des Nachlasses und der dem preußischen Staat auszuhändigenden Papiere,5 Danksagungen Königin Elisabeths von Preußen, Kaiser Wilhelms I. und Kaiserin Augustas für übersandte Schriften sowie weitere Schreiben bezüglich der Berentung Reumonts 1861. Zu den herausragenden Einzeldokumenten zählen ein Reisepass Reumonts von 1857 und die Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn von 1868. Das Gros dieser Aktenstücke befand sich 1937 noch in Familienbesitz,6 kann also erst danach an das Stadtarchiv abgegeben worden sein. Ein zweiter Karton enthält zum einen ein Album Alfred von Reumonts im Folioformat, in das er akribisch und im Bemühen um alphabetische Ordnung eine Fülle von Visitenkarten einklebte. Es handelt sich um ein einzigartiges Zeugnis seiner weit gespannten Bekanntschaften, das Landrat Alfred von Reumont 1929 dem Stadtarchiv schenkte. Zum anderen liegen dem Album gegenwärtig (Herbst 2010) noch einige provenienzfremde Stücke bei, nämlich der Briefverkehr von Archivdirektor Herbert Lepper aus den Jahren 1979/80 über Bemühungen, Dokumente zur Lebensgeschichte Alfred von Reumonts zu sammeln und eine Edition der Familienbriefe vorzubereiten. Den Briefen ist zu entnehmen, dass Lepper mit einer Bibliographie der italienischen Werke Reumonts begonnen hat und zumindest größere Teile des Bonner Nachlasses in Fotokopie nach Aachen holen konnte. Diese Unterlagen 4
Vgl. StAA, Nachlass Alfred von Reumont, Nr. 84. Reumont hatte verfügt, dass u. a. sein Schriftwechsel mit Friedrich Wilhelm IV. an das Königshaus zurückgegeben werden sollte. Die Briefe sind während des Zweiten Weltkriegs im Hohenzollernschen Hausarchiv verbrannt. Vgl. Hubert Jedin: Alfred von Reumont (1808 – 1887). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 112, hier S. 112. 6 Vgl. Just 1939 (wie Anm. 3), S. 148. 5
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sind derzeit noch nicht dem Archiv zugeführt, da Leppers fruchtbare Forschungen zu Alfred von Reumont nicht abgeschlossen sind. Einige Archivstücke – fast ausschließlich Briefe von und an Reumont – haben zudem ihren Weg in die Autographensammlung des Stadtarchivs gefunden.7 Sie gelangten zu unterschiedlichen Zeiten als Schenkungen oder antiquarische Erwerbungen in den Bestand,8 wobei ein kleines Konvolut aus dem Jahre 1877, das Reumonts Einsatz für ein Fortbestehen des Aachener Klosters der Schwestern vom Armen Kinde Jesus vor dem Hintergrund der Ordensausweisungen des Kulturkampfs bezeugt, von besonderem Interesse ist.9 Unter den Archivalien des Stadtarchivs über Reumont verdient ein Manuskript im Nachlass Eduard Arens besondere Aufmerksamkeit. Es trägt den Titel: „Alfred von Reumonts Beziehungen zu seiner Vaterstadt“ und behandelt vor allem die in Reumonts Jugenderinnerungen ebenfalls erzählte Zeit vor seiner Abreise nach Italien. Die fünf Teile dieses Manuskripts sind überschrieben mit: „1. Teil: Reumonts Entwicklung“, „2. Teil: Aachener Personen“, „3. Teil: J. B. Rousseau“, „4. Alfred Rethel“ und „5. Teil: Briefe“.10
7 Vgl. StAA, Autographen II, Nrn. 54 – 60 (siehe Anm. 9), Nr. 83 (zwei Briefe Reumonts an einen unbekannten Prof. Dr. in Berlin), Nr. 85 (neun Briefe Reumonts an verschiedene Empfänger; 1828 – 1866), Nr. 116 (Reumont an Eduard Steinle; 1843), Nr. 134 (Hugo Loersch an Reumont; 1876), Nr. 207 (Reumont an Carl Winkler in Dresden; 1831), Nr. 216 (neun Briefe Reumonts, davon zwei an Carl Winkler, sieben an unbekannte Empfänger; 1827 – 1837), Nr. 226 (Reumont an eine Freundin in Berlin; 1873), Nr. 285 (sechs Briefe Reumonts an unbekannte Empfänger; undatiert, 1828/29, 1838). Vgl. ferner StAA, HS 1116 (Verschiedenes von Familie Reumont, 19. Jahrhundert). 8 Der größte Teil der Briefe gelangte 1910 durch eine Schenkung von Reumonts Neffen Alfred, Sohn Alexander Reumonts und Landrat in Erkelenz, an das Archiv. StAA, Autographen II, Nr. 116 wurde 1928, die Nrn. 207, 216 und 226 in den Jahren 1942/43 registriert, Nr. 285 sogar erst 1986 erworben. 9 Vgl. StAA, Autographen II, Nrn. 54 – 60. Das Konvolut umfasst Briefe und Briefkonzepte Alfred von Reumonts, Andreas Feys, Kaiser Wilhelms I., des Kronprinzen Friedrich und des preußischen Kultusministers Falk. Zur Geschichte des Kulturkampfs in Aachen vgl. bes. Herbert Lepper: Die politischen Strömungen im Regierungsbezirk Aachen zur Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes 1867 – 1887. Diss. phil. Bonn 1967 und Ernst Heinen: Aufbruch, Erneuerung, Politik. Rheinischer Katholizismus im 19. Jahrhundert. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 64 (2000), S. 266 – 289, zu den Schwestern vom Armen Kinde Jesus und ihrer Gründerin Clara Fey vgl. Dieter Wynands: Clara Fey (1815 – 1894). In: Rheinische Lebensbilder 9 (1982), S. 179 – 198, dort bes. S. 194 zu den hier einschlägigen Zusammenhängen, und Clara Agneta Notermans: Innerlijke en uiterlijke groei van de Congregatie der Zusters van het Arme Kind Jezus tot aan de definitieve goedkeuring van de regel 1837 – 1888. O.O. (masch.) 1964. 10 Vgl. StAA, Nachlass Eduard Arens, NLS 1, Nrn. 1 – 5 (o. J.). Reumonts Jugenderinnerungen veröffentlichte Hermann Hüffer: Alfred von Reumont. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 77 (1904), S. 5 – 241.
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II. Der Teilnachlass in der Stadtbibliothek Aachen Umfangreicher und anderer Art ist der Teilnachlass Alfred von Reumonts in der Stadtbibliothek Aachen. Er gelangte zum Teil bereits 1888 mit der Bibliothek Reumonts, zum Teil 1897 als Schenkung des Erkelenzer Landrats Dr. Alfred von Reumont in den Besitz der Stadtbibliothek Aachen. Die Sortierung und vorläufige Erschließung des Teilnachlasses – er ist in einem Anhang zum Verzeichnis der neuzeitlichen Handschriften der Bibliothek erfasst11 – nahm Manfred Sawallich 2004 vor. Das Material ist gegenwärtig in vier Kartons geordnet und umfasst darüber hinaus im Bestand der neuzeitlichen Handschriften der Stadtbibliothek ein unveröffentlicht gebliebenes, forschungsgeschichtlich interessantes Manuskript Reumonts über Dante.12 Die vier Kartons bergen sehr unterschiedliches Material, wie es sich im Bonner Nachlass nicht findet. Zunächst sind eine Reihe von Werkmanuskripten und Exzerptenheften Reumonts zu nennen, die insbesondere zu seinen Vorarbeiten zur Monographie über Lorenzo de’ Medici in Bezug stehen und Einblicke in seine Arbeitsweise gestatten,13 sowie ein um 1847 entstandener, handschriftlicher Sammelband mit Notizen und kleineren Aufsätzen zur italienischen Geschichte, in dem Texte über Venedig als ein deutlich erkennbarer thematischer Kern eine herausragende Stellung einnehmen. Vermutlich dienten die Niederschriften als Vorbereitung einer Reise Friedrich Wilhelms IV. nach Venedig, bei der Reumont den König als Cicerone und Gesellschafter begleiten durfte. Darüber hinaus liegt eine Reihe von Briefen von und an Reumont vor, die den weit umfangreicheren Bonner Briefbestand zu ergänzen vermag. Es handelt sich allerdings überwiegend um einzelne Schreiben, die selten größere Korrespondenzzusammenhänge ausbilden. So finden sich hier ein Empfehlungsschreiben des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. für Reumont (1851), Briefe von Baudin, Flügge, Traugott Märcker, Müller, Pauls, Schöning und Sybel sowie ca. 50 Briefe diverser italienischer Korrespondenten an Alfred von Reumont, ferner mehrere Briefe des Malers Julius Schlegel, den Reumont protegierte, Empfehlungsschreiben Friedrich Wilhelms IV. für den Kirchenmusiker Naumann und des Fürsten von Solms-Lich für den Maler Richard Hofmann sowie Bitten des Berliner Hofbibliothekars Pertz, in Italien bestimmte Bücher zu erwerben (und nach Möglichkeit die Preise zu drücken). Andere Briefe hängen mit Reumonts
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Vgl. Die Handschriften der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Aachen. Katalog der neuzeitlichen Handschriften unter Berücksichtigung der Beschreibungen von Arno MentzelReuters und Eva Schrepf zusammengestellt von Manfred Sawallich und durch Kurzbeschreibungen aller Handschriften vervollständigt. Aachen (masch.) 1994 – 2006, S. 206 (Nachlass Reumont [Nachlass 1]). Eine Aufnahme der Dokumente in den Kalliope-Verbundkatalog für Nachlässe und Autographen erfolgte noch nicht. 12 Vgl. Stadtbibliothek Aachen (nachfolgend StBA), Ms. 225 (Alfred von Reumont: Dante Alighieri; 574 einseitig beschriebene Doppelbögen ohne Einband, verfasst in Aachen zwischen dem 26. Juni 1878 und dem 21. Januar 1879). 13 Vgl. Alfred von Reumont: Lorenzo de’ Medici il Magnifico. 2 Bde., Leipzig 1874.
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Bemühungen zusammen, eine eigene Zeitschrift Italia zu etablieren, oder beziehen sich auf Buchgeschenke an Bekannte und mögliche Gönner.14 Von großer Bedeutung sind 19 Briefe der Königinwitwe Elisabeth von Preußen aus den Jahren 1860 – 1867 an Alfred von Reumont sowie rund 150 Briefe Reumonts an seine Schwester Elvire aus den Jahren 1853 – 1873, Bestände, die den Briefen Reumonts an seine Mutter und an seinen Bruder Alexander in der Bonner Universitätsbibliothek an Bedeutung an die Seite zu stellen wären. Sie werden gesondert vom vorgenannten Briefkonvolut in einem weiteren, „Briefe, Notizbücher, Skizzenbücher“ betitelten Karton aufbewahrt. Darin ebenfalls enthalten sind zwei beachtenswerte Skizzenbücher Alfred von Reumonts, in denen er Eindrücke aus seiner Studienzeit am Rhein (1827 – 1830) sowie von seiner Reise von Florenz nach Istanbul (1832/33) in Bleistiftskizzen festhielt. Wenn sie auch keinen künstlerischen Wert besitzen, so verraten die Zeichnungen doch eine geübtere Hand. Ein Notizbuch mit Sprachübungen, Anekdoten und Zitaten stammt noch aus Reumonts Gymnasialzeit (1821 ff.), fünf weitere Notizbücher sind seiner Zeit in Italien zuzurechnen, wobei das erste 1830 in Florenz einsetzt und das letzte, eine Zitatensammlung, erst nach 1862 abgeschlossen wurde. Zwei Rom und insbesondere die römische Kunstlandschaft betreffende Notizbücher der Jahre 1837 – 1839 lassen sich unschwer als Vorarbeiten zu den Römischen Briefen erkennen, die übrigen sind in ihren Zusammenhängen noch nicht gewürdigt. Der Inhalt eines dritten Kartons „Zeitungsausschnitte, Werkbesprechungen, Aufsätze von und über Reumont“ ist mit dieser Überschrift bereits hinreichend charakterisiert. Beeindruckend ist die hier versammelte große Zahl an Rezensionen zu Werken Alfred von Reumonts, die einen Einblick in die frühe Rezeptionsgeschichte seiner Schriften ermöglichen. Sämtliche Monographien und Aufsatzsammlungen Reumonts sind meist in mehreren Besprechungen der zeitgenössischen Zeitschriftenund Zeitungspresse präsent, in besonders großer Zahl natürlich zur Geschichte der Stadt Rom. Ein letzter Karton „Fotos, Illustrationen“ enthält neben einigen nachträglich und auch ohne Bezug zu Reumont eingelegten Stücken ein Fotoalbum, in dem Reumont genormte Fotokarten in einer Art Freundschaftsalbum sammelte, sowie eine umfangreiche Sammlung von Postkarten. Letztere umfasst in erster Linie Abbildungen kunst- und baugeschichtlich bedeutsamer Kunstwerke, die Reumont zu Studienzwecken dienten, doch scheinen auch eigene Reiseimpressionen darunter zu sein. 14 Der erste Karton enthält außerdem Vermischtes, etwa eine Pergamenturkunde mit Siegeln rheinischer Provenienz ohne erkennbaren Bezug zum Werk Alfred von Reumonts, Umzeichnungen von Goldmünzen der Toscana und ein Reisepass von 1833, den der preußische Sondergesandte an der Hohen Pforte, Friedrich von Martens, für seinen Sekretär Reumont ausgestellt hat. Die Reise führte von Konstantinopel über Griechenland und die Ionischen Inseln nach Italien; Reisevermerke bzw. Bestätigungen des Ausweises von allen großen Reiseetappen Reumonts zwischen Istanbul und Florenz bezeugen den Reiseverlauf, wie er sich auch in den Reiseeindrücken in Alfred von Reumont: Reiseschilderungen und Umrisse aus südlichen Gegenden. Stuttgart/Tübingen 1835 widerspiegelt.
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III. Die Bibliothek Alfred von Reumonts in der Stadtbibliothek Aachen Neben den genannten Archivalien beherbergt die Stadtbibliothek auch Reumonts Aachener Handbibliothek sowie seine umfangreiche, bis 1990 als Sammelschwerpunkt fortgeführte Dante-Sammlung.15 Die Bücher aus dem Legat Alfred von Reumont sind gesondert aufgestellt und mit dem Kürzel „vR“ signiert, die Dante-Sammlung trägt Signaturen mit der Buchstabengruppe „D.S.“ und Numerus currens, wobei jene Bücher, die erst nach dem Tode Reumonts durch die Bibliothek angeschafft wurden, in die Sammlung eingereiht sind. Die Titel sind in den Findmitteln der Stadtbibliothek erfasst und zumindest über einen Zettelkatalog vollständig abrufbar, wenn auch noch nicht in Gänze in die Online-Findmittel eingepflegt. Ein Überblick über den Bestand „vR“ lässt sich nur am Standort selbst gewinnen, da es keinen Spezialkatalog dieser Signaturengruppe gibt; der Bestand „D.S.“ hingegen ist zumindest auf dem Stand von 1987 gesondert erfasst.16 Die Bibliothek Alfred von Reumonts (Bestand „vR“) umfasst rund 1.330 Titel in 6.000 teils prachtvoll gebundenen Bänden, die überwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammen und zu etwa zwei Dritteln in italienischer Sprache verfasst sind.17 „Darüber hinaus umfaßt sie eine Sammlung von Sonderdrucken, Gelegenheitsschriften, Privatdrucken, Zeitschriften- und Zeitungsaufsätzen, die in 90 Sammelbänden […] zusammengefaßt sind (unter anderem 14 Bde. Miszellen zur italienischen Geschichte, 6 Bde. Miszellen 15
Zum Legat Alfred von Reumonts in der Stadtbibliothek Aachen vgl. Wilhelm Bayer: Alfred von Reumont u. seine Bibliothek. Manuskript, StAA, HS 1046 sowie kurz Manfred Sawallich: Öffentliche Bibliothek Aachen. In: Bernhard Fabian (Hrsg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa. Digitalisiert von Günter Kükenshöner. Hildesheim 2003, bes. Absch. 1.9 und 2.11 [URL: http://134.76.163.162/fabian? Home, hier http://134.76.163.162/fabian?Oeffentliche_Bibliothek_(Aachen), zuletzt eingesehen am 5. August 2010]. Zur Dantesammlung als besonderem Bestandteil des Legats vgl. Emil Fromm: Die Dante-Sammlung der Alfred von Reumont’schen Bibliothek. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 19 (1897), S. 95 – 141, Heinz Martin Werhahn (Bearb.): Stadtbibliothek Aachen. Ausstellung der Dante-Sammlung. Dezember 1965-Februar 1966. Katalog. Aachen 1965 sowie Öffentliche Bibliothek der Stadt Aachen (Hrsg.): Dante-Sammlung. Aachen 1987. Im Katalog der neuzeitlichen Handschriften der Stadtbibliothek Aachen sind zudem auch einige Manuskripte von der Hand des Arztes Alexander Reumont aufgelistet, deren Provenienz mit „Nachlass Alfred von Reumont“ angegeben ist. Nachlassgeber war allerdings der gleichnamige Neffe des Diplomaten. 16 Ein Bücherverzeichnis noch von Reumonts Hand existiert nicht; der älteste Katalog, der das Legat erfasst, wurde noch vor 1893/94 durch die Stadtbibliothek Aachen angelegt, ist aber nur für die Alphabetabschnitte D, F und H-L erhalten (StBA, Ms. bibl. 22). Der vorliegende Katalog der Dante-Sammlung kennzeichnet die aus dem Legat Alfred von Reumonts stammenden Titel – rund 90 Monographien und 140 Miszellen – mit einem „R“; außerdem lässt sich auf den älteren Katalog Fromms zurückgreifen; vgl. Die Dante-Sammlung der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Aachen. In: Dante-Sammlung 1987 (wie Anm. 15), S. 31 – 92, Fromm 1897 (wie Anm. 15) und dazu Sawallich 2003 (wie Anm. 15). 17 Vgl. Bayer o. J. (wie Anm. 15), unpaginiert und Sawallich 2003 (wie Anm. 15), Absch. 2.11.
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zur toskanischen Geschichte, 9 Bde. mit biographischen Miszellen, 12 Bde. Miszellen zur italienischen Literaturgeschichte […]). Der Bestand (ohne Miszellen) ist nach Numerus currens aufgestellt mit wenigen Ausnahmen: 80 Titel zur Geographie (davon 40 zur Geographie Italiens) sind ebenso systematisch aufgestellt wie die 220 Titel zur Theologie (davon 100 zur Geschichte des Vatikans). Der Sammelschwerpunkt liegt bei der italienischen Geschichte und Kulturgeschichte sowie der italienischen Literatur“.18
Neben den recht geschlossenen Beständen zu Dante lag mit Reumonts Bibliothek eine schöne Spezialsammlung zur Geschichte und Kultur Italiens vor, die allerdings von der Stadt Aachen nicht weitergeführt wurde. Sie ist wertvoll nicht so sehr aufgrund von Lesespuren Reumonts – er ging offensichtlich ausgesprochen pfleglich mit seiner Bibliothek um, vermied Anstreichungen und Kommentare und scheint vor allem exzerpiert zu haben19 –, sondern aufgrund der zahlreichen Widmungen bekannter Autoren bzw. aufgrund der Vermerke Reumonts, dass ihm ein Buch durch den Autor überreicht worden war. Zu nennen sind Widmungen und Schenkungen von Adolfo Bartoli, Armand Baschet, Francesco Bonaini, Giuseppe Campori, Gino Capponi, Louis Gachard, Tommaso Gar, Giovanni Gozzadini, Jacob Gråberg af Hemsö, Cesare Guasti, Constantin Höfler, Karl von Hügel, Carlo Milanese, Felix Papencordt, Ludovico Pasini, Federico Sclopis, Karl Simrock, Heinrich von Sybel, Marco Tabarrini, Augustin Theiner, Charles White und anderen mehr.20 Die Reiseführer zu einzelnen Städten Italiens sind fast durchweg Geschenke ihrer Verfasser an Alfred von Reumont. Die testamentarischen Verfügungen Reumonts nahmen allerdings Teile der Bibliothek aus dem Legat aus: Die Familie sollte einige allgemeine Nachschlagewerke sowie einen vollständigen Satz sämtlicher von Reumont veröffentlichter Schriften in 18
Sawallich 2003 (wie Anm. 15), Absch. 2.11. Eine Ausnahme stellt ein Exemplar des Aachener Liederkranzes von 1829 dar, das handschriftliche Anmerkungen Reumonts enthält; der Band gehörte allerdings nicht zum Legat (vgl. StBA, Sign. 6Aach). 20 Gino Capponi etwa, der Reumont über vier Jahrzehnte eng verbunden war, sandte noch wenige Tage vor seinem Tod die Neuauflage seiner Storia della Reppublica di Firenze an diesen; als das Werk am 19. Februar 1876 den Empfänger in Bonn erreichte, war Capponi bereits verstorben, was Reumont, tief bewegt, in einer italienischen Notiz unter die Widmung des Freundes schrieb. Die vielfältige Verbundenheit Reumonts mit der gelehrten Welt lässt sich auch an anderen Schriften ablesen. Über Gino Capponi verfasste Reumont eine umfangreiche Monographie (Gino Capponi. Ein Zeit- und Lebensbild. 1792 – 1876. Gotha 1880), Teile des gemeinsamen Briefwechsels sind ediert bei Alessandro Carraresi (Hrsg.): Lettere di Gino Capponi e di altri a lui. 6 Bde., Florenz 1882 – 1890 und Enrico Burich (Hrsg.): Lettere inedite del Capponi ad Alfredo Reumont. In aggiunta una lettera del Tommaseo. Fiume [1940]; Marco Tabarrini hielt die Festrede auf den 50. Jahrestag der Wahl Reumonts in die Società Colombaria zu Florenz (Alfredo di Reumont. Discorso, letto alla Società Colombaria il 18 febbraio 1883 nel cinquantesimo anno dalle elezione di lui a socio. Florenz 1883), über das Verhältnis des Piemontesen Gar zu Reumont liegt eine kleine Abhandlung vor (Piero Barbera: Tommaso Gar e Alfredo Reumont. Trient 1910), Teile von Reumonts Briefwechsel mit Augustin Theiner sind bereits ediert (Hubert Jedin: Briefe Alfreds von Reumont an Augustin Theiner 1851 – 1869. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 81 [1971], S. 161 – 171) usw. 19
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ihrem Besitz behalten – ein Umstand, der dazu führte, dass die Stadtbibliothek Aachen auch wichtige Werke Alfred von Reumonts nicht oder nur aus anderen Legaten und Ankäufen besitzt. Die bei der Familie verbliebenen Bücher gingen im Zweiten Weltkrieg verloren, als Reumonts Haus in der Lothringerstraße ausgebombt wurde. Ein weiterer, kleiner Teil der Büchersammlung Reumonts, nämlich einige im engeren Sinne kunstgeschichtliche Titel, gelangte zudem an die Bibliothek des Suermondt-Ludwig-Museums.21 Da die Bände dort keine separate Aufstellung erhalten haben, sondern in den Bestand eingearbeitet sind, ist eine Aussage über Inhalt und Anzahl der Bände bislang nicht möglich. Wenn auch die Aachener Bestände in Stadtarchiv und Stadtbibliothek keineswegs so kommod zu benutzen sind wie der vorbildlich aufgearbeitete Nachlass Alfred von Reumonts in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, so stellen sie doch eine wichtige, im Umfang überschaubare Ergänzung dar. Auf den Menschen Alfred von Reumont wirft das Aachener Material durch seine Vielfalt und Verschiedenartigkeit aufschlussreiche Schlaglichter, dem Wissenschaftler kommt man durch Einblicke in seine Arbeitsweise, die insbesondere die Notizbücher gewähren, näher. Aus dem Material beider Institutionen traf die Stadtbibliothek Aachen zum Jahreswechsel 2008/ 2009 eine kleine Auswahl, um anlässlich des 200. Geburtstags Reumonts die Person wie die Bestände einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und zu Nutzung und Lektüre einzuladen. Die allenthalben eingeforderte intensivere Auseinandersetzung mit Leben und Werk Alfred von Reumonts konnte und wollte der kleine Ausstellungskatalog allerdings nicht leisten22 – sie sei jenen vorbehalten, die die Neugier auf die Hinterlassenschaft des gelehrten Diplomaten ergriffen haben mag. Dass neben den Bonner und den Aachener Schätzen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin als dritter großer Archivbestand auch das amtliche Schriftgut Reumonts zu sichten wäre, sei zumindest erwähnt.23
21 Vgl. Ingrid Peschke: Bibliothek des Suermondt-Ludwig Museums. In: Fabian 2003 (wie Anm. 15), bes. Absch. 1.2 [URL: http://134.76.163.162/fabian?Home, hier http://134.76.163. 162/cgi-bin/wiki.pl?Suermondt-Ludwig_Museum, zuletzt eingesehen am 17. August 2010]. Da der gesamte historische Buchbestand der Museumsbibliothek nur 1.100 Bände umfasst, dürfte nur von einer geringen Anzahl an Büchern Reumont’scher Provenienz auszugehen sein, zumal zumindest Teile des Bestands Anfang der 1950er Jahre an die Stadtbibliothek überwiesen wurden; vgl. dazu Bayer o. J. (wie Anm. 15), unpaginiert. 2012 begegneten im antiquarischen Buchhandel zudem eine Reihe französischsprachiger Titel mit dem Ex Libris Alfred von Reumonts, deren Provenienz jedoch nicht geklärt werden konnte. 22 Vgl. Stadtbibliothek Aachen (Hrsg.): Alfred von Reumont (1808 – 1887). Gelehrter, Diplomat, Ehrenbürger Aachens. Aachen 2008 [Katalog der gleichnamigen Ausstellung in der Stadtbibliothek Aachen, 25. 11. 2008 – 03. 01. 2009]. 23 Kommentare zur Quellenlage in Archiven gerade außerhalb Aachens bieten – wenn auch mit heute z. T. überholten Signaturen – Jedin 1973 (wie Anm. 5), S. 111 f., Herbert Lepper: Alfred von Reumont. Eine biographische Skizze. In: Dante-Sammlung 1987 (wie Anm. 15), S. 5 – 20, hier S. 19 f. und ders.: Alfred von Reumont und Franz Xaver Kraus. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 69 (1989), S. 181 – 254, hier S. 250 – 253.
Alfred (von) Reumont und die Geschichte Italiens Von Rudolf Lill* I. Der Aachener Reumont hat zwischen 1829 und 1865 mehr als 30 Jahre in den beiden Kultur-Hauptstädten Italiens gelebt und gewirkt: in Florenz (1829 – 1832, 1833 – 1835, 1847/48, 1851 – 1860) und in Rom (1836 – 1843, 1848 – 1850, 1860/61). Seit 1836 war er an den dortigen Gesandtschaften Preußens tätig, an denen die Dienstgeschäfte sich in Maßen hielten. 1854 hatten seine kulturell wie politisch höchst aktiven Florentiner Freunde um den Marchese Gino Capponi mit Reumont den 25. Jahrestag seiner ersten Ankunft am Arno gefeiert, zu Recht gebrauchte er gelegentlich das Pseudonym „Ein Florentiner“. Geschichte und Kultur Italiens gehörten seit der Goethe-Zeit ein Jahrhundert lang zu den großen Themen der kulturellen Diskurse in Deutschland. Das historische Interesse Goethes und Winckelmanns, auch Humboldts und Niebuhrs, war auf die Antike konzentriert gewesen; Reumont und dessen Konkurrent Ferdinand Gregorovius (1821 – 1891, seit 1852 oft und lange in Rom) haben es auf die Geschichte des vielgestaltigen Landes seit dem Mittelalter gelenkt, dabei Reumont auch, Nazarenern und Romantikern folgend, auf die für ganz Europa exemplarisch gewesene Kunstgeschichte. Er hat zwischen 1835 (Andrea del Sarto; Reiseschilderungen und Umrisse aus südlichen Gegenden) und 1886 (Charakterbilder aus der neueren Geschichte Italiens) 20 Bücher über italienische Themen verfasst, davon sieben oder acht in zwei oder mehreren Bänden. Drei oder vier davon waren in Italienisch geschrieben, vier wurden ins Italienische, einige auch ins Englische und Französische übersetzt. Mindestens vier dieser Bücher kompilierten kleinere, oft biographische Schriften, von denen nicht wenige auf Zeitungsartikeln beruhten. Denn Reumont hat in der Allgemeinen Zeitung (Augsburg), dem führenden Blatt der großdeutschen und gemäßigt liberalen Richtung der deutschen Nationalpublizistik, ca. 1.500 Artikel veröffentlicht. Sie waren zumeist den aktuellen Entwicklungen in Italien gewidmet, d. h. dem zwischen 1830 und 1848 erstarkenden, vom Gegensatz zwischen dem republikanischen Unitarismus Mazzinis und dem Föderalismus Giobertis geprägten Risorgimento, verbanden aber damit stets historische Einordnung und Herleitung. Reumonts Sympathie galt der „neoguelfischen“, liberal-katholischen Richtung, welche * Auf Wunsch des Autors blieb die Vortragsform des Beitrags erhalten. Die Annotierung erfolgte durch die Redaktion in jenen Fällen, in denen Literaturangaben den Fluss des Haupttexts gehemmt hätten.
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bis zur Epochenwende von 1848/50 gerade auch in der Toskana und unter Reumonts dortigen Freunden bedeutende Vertreter hatte. Auch sie wollten Italiens Umgestaltung und politische Erneuerung, jedoch auf dem Wege der Evolution und der Föderation. Den seit 1848 erstarkenden piemontesischen Unitarismus um die nationalliberale Partei Cavours lehnte Reumont ab. Er war und blieb (wie damals nicht wenige Rheinländer!) Freund Österreichs und dessen föderal intendierter Führungsstellung in Italien wie in Deutschland, kritisierte aber nicht selten die konkrete Politik Wiens in Italien als zu statisch und darum als kontraproduktiv. Er schrieb als Kenner und Befürworter des historischen Pluralismus Italiens, auch mit unzeitgemäß werdendem Respekt vor der historischen Bedeutung des Papsttums. Überhaupt verstand er den Katholizismus Italiens, der die Kultur der Halbinsel entscheidend mitgeprägt hatte, sehr gut. Im politischen wie kulturellen Pluralismus sah er die Parallelen zwischen Italien und Deutschland, deren Einbeziehung in die nationale Neuordnung er wünschte. Seine dienstliche Stellung in Preußen seit 1835 bedeutete für Reumont keinen Widerspruch dazu, verdankte er sie doch dem „Romantiker“ Friedrich Wilhelm IV., der als einziger preußischer Monarch ähnlich dachte, damit freilich 1848/ 49 politisch ebenso gescheitert ist wie in Italien die Neoguelfen. Der Kronprinz war 1828 und 1834 in Italien gewesen und seitdem für die dort so reich vertretene Kunst des frühen Christentums begeistert. Niebuhr hatte seine Kenntnis der klassischen Antike vertieft, Reumont wurde ihm Interpret der nachantiken Kunstgeschichte (ausgenommen den Barock, den man noch ignorierte). 1835 konnte er ihm, vom hochkonservativen Außenminister Ancillon eingeführt, sein Buch über Andrea del Sarto und seine Reiseschilderungen überreichen und damit ein Interesse wecken, aus dem Freundschaft wurde. Reumont hat seitdem dem Kronprinzen resp. König auf dessen Wunsch oft über seine Studien berichtet und ihm auf dessen späteren Reisen durch Italien als „Cicerone“ gedient. Für Friedrich Wilhelm ging es dabei keineswegs nur um ästhetische Interessen, sondern um ein zentrales Anliegen. Denn er wollte seinen Staat rechristianisieren und den rationalistisch verdünnten Protestantismus verkirchlichen: anhand frühchristlicher und frühmittelalterlicher Formen und Vorbilder. Diese befanden sich in höchster Qualität in Ravenna, Rom und Venedig; und Reumont hat sie ihm vermittelt. In seinem Spätwerk Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden und kranken Tagen (1885) hat er ihm dafür ein dankbares, dabei aber historisch korrektes Denkmal gesetzt. Ein Denkmal, welches bis heute vor aller Augen steht, ist die Friedenskirche in Potsdam, in der Friedrich Wilhelm IV. und seine Gattin Elisabeth von Bayern (welche ebenfalls Reumont sehr geschätzt hat) bestattet sind: eine ravennatische Basilika als Kontrapunkt zum Schloss des Aufklärers Friedrich II.! Das Viel-Schreiben hatte jedoch auch bei Reumont die Folge, dass in seinem gesamten Werk vieles kompilatorisch war, auch repetitiv. Aber er hat über Italien umfassender und immerhin weniger parteiisch informiert als seine nationalliberalen Konkurrenten, gerade auch Ferdinand Gregorovius. Auch ist er ein einzigartig breit wirkender Vermittler zwischen den Historiographien Deutschlands und Italiens geworden.
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Monographisch gewürdigt wurde Reumont im 20. Jahrhundert u. a. von Hermann Hüffer (1904), Ferdinand Siebert (1937) und Leo Just (1939), von Hubert Jedin (1973) und Jens Petersen (1987); eine gute Kurzbiographie legte Herbert Lepper 2003 vor.1 Kurze Hinweise finden sich bei allen bedeutenden Italien-Historikern, z. B. bei Peter Herde, der in seinem Buch Guelfen und Neoguelfen (1986) das kulturelle Umfeld Reumonts nachgezeichnet hat.2 Und aus der Società Toscana per la Storia del Risorgimento (die letztlich ein Werk seiner Florentiner Freunde war) weiß ich, dass er auch dort nicht ganz vergessen ist. Vorweg ist hier noch zu bemerken, dass Italien in den Jahrzehnten des Risorgimento von den Bildungsschichten in ganz Europa aufmerksam beobachtet und engagiert kommentiert wurde; in Deutschland auch wegen der erwähnten Parallelen. Hier wurde aber auch, wie so oft, besonders kontrovers geurteilt: wegen der auf Italien projizierten Differenzen zwischen Großdeutschen, gemäßigten Liberalen und Katholiken einerseits und Kleindeutschen, Laizisten und Protestanten andererseits. Auch die Unterschiedlichkeit in den Werken von Reumont und Gregorovius und in deren späteren Würdigungen hat ihren Grund in diesen Differenzen. Italien war seit dem 16. Jahrhundert ein eher unpolitisches Land geworden; die großen dortigen Neuerungen seit dem 18. Jahrhundert waren von Nicht-Italienern initiiert worden; zunächst von Habsburgern und Bourbonen, dann von Napoleon. Aber durch das Risorgimento wurde Italien eine Art Laboratorium der Politik aus eigenen Eliten; und neben das kulturelle trat nun ein politisches Interesse an Italien, welches besonders in den Umbruchsjahren 1830/31, 1846/47, 1848/49 und 1859/60 artikuliert worden ist.3
1 Vgl. Hermann Hüffer: Alfred von Reumont. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 77 (1904), S. 5 – 241, Ferdinand Siebert: Alfred von Reumont und Italien. Ein Beitrag zur Geschichte der geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien. Leipzig 1937, Leo Just: Alfred von Reumont. Eine Gedenkrede. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 135 (1939), S. 133 – 148, Hubert Jedin: Alfred von Reumont (1808 – 1887). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 112, Jens Petersen: Alfred von Reumont und Italien. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 94/95 (1987/88), S. 79 – 107 und Herbert Lepper: Art. „Reumont, Alfred v.“. In: NDB 21 (2003), S. 454 f. Vgl. auch Herbert Lepper: Alfred von Reumont. Eine biographische Skizze. In: Öffentliche Bibliothek der Stadt Aachen (Hrsg.): Dante-Sammlung. Aachen 1987, S. 5 – 20. 2 Vgl. Peter Herde: Guelfen und Neoguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter bis zum Risorgimento. Wiesbaden 1986 (= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main 22/ 2); siehe auch Carlo Antonini in: Enciclopedia Italiana 29 (1949), S. 173. 3 Vgl. Wolfgang Altgelt: Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848. Tübingen 1984 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 59) sowie Theodor Schieder: Das Italienbild der deutschen Einheitsbewegung. In: ders.: Begegnungen mit der Geschichte. Göttingen 1962, S. 210 – 235 und Arnold Esch/Jens Petersen (Hrsg.): Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento. Tübingen 2000 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 94).
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Reumont war in Florenz zunächst Hauslehrer, seit 1832/33 privater Sekretär der preußischen Gesandten von Martens (den er 1832 für einige Monate nach Griechenland und an die Hohe Pforte begleitete) und Graf Schaffgotsch. Sie wiesen ihm den Weg ins Berliner Außenministerium, zunächst zu dessen damaligem Chef, dem schon erwähnten Minister Ancillon, einem früheren Lehrer und nunmehrigen Freund des Kronprinzen. Direkte politische Interessen in Italien hatten damals von den deutschen Staaten nur Österreich, welches darum z. B. in Rom eine von einem hochrangigen Diplomaten geleitete Botschaft unterhielt, und in geringerem Umfang Bayern. Preußen begnügte sich mit Diplomaten zweiter Klasse oder mit Außenseitern, welche wissenschaftliche und kulturelle Kompetenz besaßen, die sie besonders in Rom vertiefen und in ihre spätere heimische Tätigkeit einbringen konnten. Gesandte in Rom waren von 1801 bis 1809 Wilhelm von Humboldt und nach der von Napoleon erzwungenen Unterbrechung von 1816 bis 1823 der Rom-Historiker Georg Barthold Niebuhr gewesen. Erst diesem war ein Legationssekretär bewilligt worden; und er konnte sich dazu den evangelischen Theologen und Historiker Christian Carl Josias (von) Bunsen auswählen, welcher von 1823 bis 1838 sein Nachfolger war. Auch Bunsen war aufgrund seiner kirchenhistorischen Studien in die Nähe des preußischen Kronprinzen gekommen, aber gegenüber der römischen Kurie agierte er ungeschickt-polemisch; für Bemühungen um einen Ausgleich erhielt er darum 1836 als Legationssekretär Reumont. Einen ersten diplomatischen Bruch zwischen Berlin und Rom („Kölner Wirren“, 1837) konnte der junge Adlatus nicht verhindern, wohl aber Bunsens interimistische Nachfolger von Buch und Graf Brühl bei der von Friedrich Wilhelm IV. dringend gewünschten kirchenpolitischen Wiederverständigung unterstützen.4 Daneben war er auch in Rom journalistisch tätig. Was Reumont dem Kronprinzen aus Italiens Religions- und Kunstgeschichte berichtete, wusste in Berlin sonst niemand, auch nicht der gleichzeitig von diesem geförderte Leopold Ranke (geb. 1795), der seit 1830 die politische Geschichte Italiens erforscht und sich in Florenz 1833 mit Reumont angefreundet hatte. Von 1843 bis 1846 gehörte Reumont zur Berliner „Tafelrunde“ des Königs, der ihn 1846 adelte. Anschließend begleitete er seinen Gönner auf einer längeren Reise nach Venedig, Padua, Vicenza und Verona. Auch in Berlin hatte er zahlreiche Zeitungsartikel veröffentlicht, meist wieder zur italienischen Geschichte. Seit 1847 war Reumont wieder auf Posten in Florenz und Rom, wo er die Revolution und den Zusammenbruch der Hoffnungen auf den Neoguelfismus und auf Pius IX. erlebte, der ihn tief bewegt hat. Trotzdem hat er die nun beginnende autoritäre und konfessionalistische Verhärtung des Papstes nicht gebilligt. 4 Zur Geschichte der preußischen Gesandtschaft in Rom vgl. auch Golo Maurer: Preußen am Tarpejischen Felsen. Chronik eines absehbaren Sturzes. Die Geschichte des Deutschen Kapitols 1817 – 1918. Regensburg 2005, zur diplomatischen Laufbahn der Genannten vgl. Dietmar Grypa: Der Diplomatische Dienst des Königreichs Preußen (1815 – 1866). Institutioneller Aufbau und soziale Zusammensetzung. Berlin 2008 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 37).
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Seit 1851 war Reumont ständiger Chargé d’affaires in Florenz und blieb es bis zur Schließung der dortigen Gesandtschaft infolge des Anschlusses der Toskana an das Königreich Sardinien resp. Italien (1859/60), welchen Reumont zutiefst bedauert hat. Seine Zuneigung zur besonderen und besonders reichen Geschichte der Toskana und sein daraus erwachsenes föderalistisches Konzept von Italien wirkten dabei zusammen. Ende 1858/Anfang 1859 hatte Reumont den infolge eines Schlaganfalls regierungsunfähig gewordenen Friedrich Wilhelm IV. noch einmal nach Rom und sogar zum Papst begleiten können; 1861 ist der König gestorben. Der Untergang des mehr als 600 Jahre alten florentinisch-toskanischen Staates und der Tod seines königlichen Mäzens brachten für Reumont das Ende seiner Karriere und ebenso das Ende seiner politischen Hoffnungen. Er wurde, erst 52-jährig, in den „einstweiligen“ Ruhestand versetzt. Sein Antrag, Gesandter in Rom zu werden, wurde 1859 und wieder 1862 abgelehnt, weil die nun in Berlin regierenden „Realpolitiker“ für einen Sympathisanten der soeben zum Einsturz gebrachten Vielstaatlichkeit Italiens wie ihn keine Verwendung hatten, und „bei der vollen Anerkennung Ihrer [Reumonts] Qualifikation“5 keinen Katholiken nach Rom entsenden wollten. Nur als Gast ist er noch öfter in Rom gewesen, besonders zur Arbeit an der Geschichte der Urbs. Bis 1865 blieb er aber in Italien, zumeist in Florenz, auch dort mit der Vorbereitung weiterer Werke beschäftigt, so seiner Geschichte der Toskana.
II. Von seinem aufgeklärten Heidelberger Lehrer Friedrich Christian Schlosser, welcher die Geschichte anhand der Literatur früherer Zeiten vermittelte, war Reumont auf Dante hingewiesen worden. Ranke vermittelte ihm 1833 in Florenz seine moderne quellenkritische Methode (vgl. sein erstes Meisterwerk: Die römischen Päpste, 3 Bände, 1834 – 1836), welche Reumont sich jedoch nie ganz zu eigen gemacht hat. Zwar erwarb er sich historischen Sinn und enzyklopädisches Wissen, aber seine Quellen hat er nicht immer angegeben; er hat sie auch oft nicht kritisch diskutiert. Die preußische, dann deutschnationale Einseitigkeit eines Gregorovius lag ihm fern, aber dieser war, obwohl auch Außenseiter, ihm an historischer Genauigkeit überlegen. Gregorovius konzentrierte sich auf das römische Mittelalter und auf die eigene Gegenwart; Reumont dagegen suchte die ganze italienische Kontinuität zu erfassen und zu vermitteln. In der Toskana erlebte Reumont eine spezifische, intentional moderne Kontinuität seit dem Trecento: geprägt von der Sprachschöpfung Dantes und von Petrarcas Humanismus, von gleichzeitig begründeter rationaler Staatlichkeit, von der in ganz Europa zum Vorbild gewordenen Renaissance des Quattrocento und deren Übergang zum Manierismus, den am Hof des ersten mediceischen Großherzogs Cosimo Michelangelos Schüler Giorgio Vasari mitgestaltet hatte, sodann vom habsburgischen Reformismus des 18. Jahrhunderts, den in unserer Generation Adam Wandruszka 5
Zit. nach Hüffer 1904 (wie Anm. 1), S. 179 und Jedin 1973 (wie Anm. 1), S. 205 f.
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in der Biographie des Großherzogs Peter Leopold meisterhaft nachgezeichnet hat.6 In Rom begegnete Reumont einer noch größeren, aber mehr statischen Kontinuität, welche er wegen der damit verbundenen Entwicklung der päpstlichen Macht auch kritisch betrachtet hat. Auch im 19. Jahrhundert sind von Florenz, wie eingangs erwähnt, humanistisch begründete und evolutionär intendierte Impulse für ein politisches, kulturelles und auch religiöses „Risorgimento“ ausgegangen, an die in den vergangenen Jahrzehnten der liberale Publizist und Politiker Giovanni Spadolini oft erinnert hat.7 Entsprechend der spezifisch toskanischen Kontinuität wirkten nämlich dort eine trotz der reaktionären Einwirkungen Wiens bis 1848 moderat gebliebene habsburgische Dynastie und ein sehr gebildetes Patriziat, welches u. a. in den von Pietro Leopoldo reformierten florentinischen Akademien tätig war. In eine von ihnen, die mit Naturwissenschaften und Literatur beschäftigte „Colombaria“, wurde der junge Rheinländer schon 1833 aufgenommen. Zu den Dauerthemen in diesen Kreisen gehörte die Dante-Forschung, an der sich in Reumonts Zeit zwei Deutsche auf hohem Niveau beteiligten: der junge Jurist und Philologe Karl Witte, den Reumont bald näher kennenlernte, und der sächsische Kronprinz Johann, öfter Gast der verschwägerten toskanischen Dynastie, welcher als „Philalethes“ von 1839 bis 1849 die erste deutsche Ausgabe der Commedia herausbrachte. Als König von Sachsen hat er zusammen mit Witte 1865 die Deutsche Dante Gesellschaft gegründet; Witte hat 1862 eine kritische Ausgabe der Commedia veröffentlicht. Reumont hat eine Sammlung von Büchern, Aufsätzen und Artikeln über Dante angelegt, welche er mit seiner gesamten Bibliothek der Stadt Aachen hinterlassen hat. Das in ganz Italien von Reformern gelesene Organ dieser Florentiner war die 1821 vom Genfer Immigranten Gian Pietro Vieusseux (1799 – 1863) gegründete Antologia, welche Politik und Kultur, Religion und Pädagogik, dazu Naturwissenschaften diskutierte und dabei das moderne Europa rezipierte. Vieusseuxs wichtigster Mitarbeiter war der Marchese Gino Capponi (1792 – 1876), Historiker, Pädagoge und Politiker, welcher Reumont in seine Nähe zog. Ähnlich wie Capponi, d. h. evolutionär und reformistisch, dachten und schrieben der Marchese Cosimo Ridolfi (1794 – 1865), der aus Genua stammende Theologe und Pädagoge Raffaele Lanbruschini (1788 – 1832), ein Neffe des gleichnamigen Kardinalstaatssekretärs, welcher sich dessen reaktionärer Politik entzogen hatte und zu den toskanischen Liberal-Katholiken gegangen war, sowie der Baron Bettino 6 Vgl. Adam Wandruszka: Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser. 2 Bde., Wien/München 1963/65. 7 So in Giovanni Spadolini: Firenze capitale. Gli anni di Ricasoli. Florenz 1979, S. 7 und Spadolini 1981 (wie Anm. 11). Vgl. zur Einführung auch Rudolf Lill: Geschichte Italiens in der Neuzeit. Stuttgart 41988, S. 105 f./117 – 136/150 f. und ders.: Zur politischen und sozialen Geschichte des Trecento. In: Paul Geyer/Kerstin Thorwarth (Hrsg.): Petrarca und die Herausbildung des modernen Subjekts. Göttingen 2008, S. 31 – 42.
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Ricasoli (1809 – 1880), Landwirt und Agrarwissenschaftler, Pädagoge und religiöser Reformer. Wie Capponi und Ridolfi gehörte er zu einer der Familien, die in Florenz schon in der Renaissance-Zeit mitbestimmt hatten. Ricasoli ist nach einer Reflexionspause nach 1848 zum nationalen Unitarismus übergegangen, hat 1859/60 den Übergang der Toskana ins Königreich Piemont gelenkt und ist Cavours erster Nachfolger als italienischer Ministerpräsident geworden. Da die Furcht vor weiterer Revolution den Großherzog nach 1849 enger an die Seite Wiens führte, war wenig Raum für Autonomie geblieben; und da die Florentiner Reformer sowohl toskanische wie italienische Patrioten waren, entschieden sich nicht wenige von ihnen wie Ricasoli. Reumont hat das bedauert und kritisiert.8 Durch die Breite ihres Programms und die Bevorzugung von insgesamt modernisierend wirkenden Romantikern in dessen literarischem Teil hatte die Antologia eine neue Bewusstwerdung der auf das toskanische Trecento zurückgehenden italienischen Kulturnation eingeleitet, welche die am Status quo des Wiener Kongresses festhaltenden Regierungen verhindern wollten. Die stärkste von ihnen, die Österreichs, bedrängte daher den toskanischen Großherzog, seit 1824 Leopold II. (einen Neffen des Kaisers in Wien), und erreichte 1833, also kurz nach der das konservative Europa erschreckenden Juli-Revolution, das Verbot der Antologia. Trotzdem ist die Regierung Leopolds II. bis 1848/49 nicht eigentlich reaktionär geworden, und deshalb konnte der Kreis um Vieusseux und Capponi weiter wirken, u. a. neue Zeitschriften gründen. Die wichtigste davon ist das Archivio Storico Italiano (ASI, seit 1842) geworden, die erste wissenschaftliche Zeitschrift für die Geschichte ganz Italiens, welche bis heute besteht. Reumont war zwar nicht, wie einige deutsche Autoren meinen, direkter Mitgründer (er war 1842 nicht in Florenz), wurde aber sogleich ein äußerst aktiver Mitarbeiter. Durch seine Rezensionen im ASI, meist zu Studien über Kaiser- und Papstgeschichte in Italien (zentrale Themen der damals erblühenden deutschen Mediävistik), hat er den italienischen Historikern die damals gerade von ihnen als vorbildlich empfundene deutsche Geschichtswissenschaft im Sinne Rankes vermittelt. Diese Tätigkeit hat Reumont ca. 40 Jahre lang ausgeübt und 1863 zusammengefasst in seiner Bibliografia di lavori pubblicati in Germania sulla storia d’Italia, welche er dann bis 1878 weitergeführt hat. Schon in den 1830er Jahren hat er diese Vermittlung auch in die andere Richtung aufgenommen und in zahlreichen Artikeln zur erwähnten Erweiterung des kulturellen Italienbildes zur politischen Geschichte hin beigetragen. 1841 erschienen seine Tavole cronologiche e sincrone della storia florentina, zu denen er 1875 noch ein Supplement geliefert hat.
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Vgl. das mehr sozial- als kulturgeschichtlich ausgerichtete Buch von Thomas Kroll: Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento. Tübingen 1999 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 90), in dem der „Konservative von Reumont“ nur viermal erwähnt, aber immerhin als „intimer Kenner der toskanischen Innenpolitik“ gewürdigt wird, und weiterhin Spadolini 1979 (wie Anm. 7).
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Schon 1838 schrieb Reumont eine Artikelserie über das römische Schulwesen. In seinen ersten Sammelwerken wählte er die Briefform und berichtete ausführlich und gründlich über die den meisten Deutschen damals wie heute schwer verständlichen Zustände und Veränderungen in Italien, teils aufgrund von Aussagen italienischer Publizisten. Ähnlich schrieben damals der Historiker Friedrich von Raumer und der Jurist Karl J. A. Mittermaier.9 Deren Werken zur Seite zu stellen sind Reumonts Römische Briefe von einem Florentiner 1837/38 (2 Teile, Leipzig 1840) und seine Neuen römischen Briefe (2 Teile, ebd. 1844). Reumont schrieb darin durchaus kritisch über Verfassung und Verwaltung des Kirchenstaates, auch über die ganz restriktiv gebliebene Lage der dortigen Juden. Aber er versagte sich der Pauschalkritik, wie sie manche protestantische Autoren übten, und nahm sogar den 1846 gestorbenen, reaktionären Gregor XVI. partiell in Schutz. Aber evolutionäre Kräfte und Aktivitäten wurden von Reumont (wie auch von Mittermaier) ausführlich beschrieben und positiv beurteilt; so die seit 1839 (damals in Pisa, d. h. in der Toskana) stattfindenden Kongresse von Wissenschaftlern aus allen italienischen Staaten, und ebenso eine gleichzeitig aufkommende Welle neuer italienischer Literatur, welche sich an der Geschichte des Landes seit dem Mittelalter, d. h. an den zuerst in den „Freien Kommunen“ konkretisierten eigenen italienischen Beiträgen dazu, orientierte.10 Ebenso begrüßte Reumont, seit 1847 wieder ständig in Italien, die im Jahr zuvor begonnene Reformpolitik Pius’ IX., welche auch in der Toskana und im eigentlich noch reaktionären Piemont positiv rezipiert wurde; desgleichen die damit zusammenhängenden Pläne einer Wirtschaftsunion italienischer Staaten nach dem Vorbild des Deutschen Zollvereins. Im Frühjahr 1848 erhielt die Toskana (wie der Kirchenstaat und Piemont) eine Verfassung, Capponi wurde Senator. Eine föderative Union italienischer Staaten unter päpstlichem Vorsitz schien in greifbare Nähe zu rücken. Doch warnte Reumont bald vor dem gerade in Rom aufkommenden Überschwang (zu Recht, wie sich 1848 herausstellte); und vor allem polemisierte er nun erst recht gegen Mazzini, der solchen „Überschwang“ für seinen Radikalismus in Dienst nahm. Eine Grenze seiner Sympathie für die italienische Nationalbewegung ergab sich zudem für Reumont nach wie vor aus seinem Großdeutschtum, welches für Österreich auch weiterhin eine starke Stellung im Süden postulierte, und aus seinem Föderalismus, der, wie eingangs gesagt, 1848/49 gescheitert ist. Capponi war im Sommer 1848 sogar in Florenz Ministerpräsident geworden, aber im Oktober wurde die konstitutionelle Regierung von Mazzinianern gestürzt. 1849 haben österreichische Truppen die großherzogliche Regierung wiederhergestellt. Das Jahrzehnt danach erbrachte sowohl Resignation wie neue Ausrichtungen. Die früheren Föderalisten zogen sich zeitweise aus der Politik zurück, welche nun auch in 9 Vgl. Friedrich von Raumer: Italien. Beiträge zur Kenntnis dieses Landes. 2 Teile, Leipzig 1840 und Karl J. A. Mittermaier: Italienische Zustände. Heidelberg 1844; zu beiden siehe auch Schieder 1962 (wie Anm. 3). 10 Vgl. Alfred Reumont: Die neuere poetische Literatur der Italiener. In: Neue Römische Briefe, Teil II. Leipzig 1844, Nrn. 16 – 18, S. 31 – 137.
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Florenz aus Furcht vor weiteren revolutionären Ausbrüchen attentistisch, teils reaktionär wurde. Dass die unitarische Idee der Nation erstarkte, dass Cavours Piemont an deren Spitze trat und nicht das Florenz der lunga durata, sondern das modernere Turin zu einer gesamtitalienischen Metropole aufstieg, hat Reumont in seinen weiteren Berichten beschrieben, aber bedauert. Petersen hat ihm vorgehalten, dass er keine „produktive Auseinandersetzung“ mit den neuen Kräften gesucht habe; ein nach Links gewendeter Historiker deutsch-nationaler Provenienz versteht nicht leicht, dass ein Konservativer wie Reumont bei seinen Überzeugungen blieb. Zwar gab dieser zu, dass Österreich auf dem kulturellen Gebiet zu wenig getan hatte, um den Italienern gerecht zu werden und sie für das von Wien gelenkte System zu gewinnen, aber er wurde eben kein Freund der damals in Italien wie in Deutschland propagierten „Realpolitik“. Den Seitenwechsel Ricasolis11 hat Reumont scharf kritisiert und seine Kritik mehr als zwei Jahrzehnte später in einem biographischen Essay zusammenfassend wiederholt (Charakterbilder…, 1886). Zwar bescheinigte er darin Ricasoli Charakter und Entscheidungsstärke, beschuldigte ihn aber des Despotismus, des Verrats an den wahren Interessen der Toskana und am allgemeinen Gleichgewicht, dazu der Zerrüttung der finanziellen Stabilität seines Landes. Tatsächlich war Florenz seit der Umwälzung von 1859 in eine schwere finanzielle Krise geraten. Den politischen Umsturz Italiens in den Jahren 1859/61 hatte Reumont insgesamt in der Allgemeinen Zeitung ablehnend, ja verächtlich beurteilt, Cavour und Viktor Emanuel den revolutionären Bruch der Verträge vorgeworfen. Ähnlich urteilte er im Februar 1860 in einem Bericht nach Berlin, wo man ihm am Hof und in der konservativen Partei zustimmte. Aber Prinzregent Wilhelm (Friedrich Wilhelms IV. jüngerer Bruder, 1861 König) wollte auch Rücksicht auf die dem Königreich Italien applaudierenden Liberalen nehmen. Und Bismarck, der ein Jahr später die Regierung übernahm, hat das neue Königreich, dessen Gründung er nicht als revolutionären, sondern eher als konservativen, weil der Revolution Mazzinis und Garibaldis zuvorkommenden Akt betrachtete, sukzessive in seine Planungen einbezogen. 1865 etwa erfolgte die diplomatische Anerkennung des Königreichs Italien durch Preußen, welche Österreich und Bayern noch verweigerten; 1866 schloss Preußen mit Italien ein anti-österreichisches Kriegsbündnis,12 was Reumont zutiefst bedauert hat. Die relativ ruhigen 1850er Jahre hatte Reumont aber auch dazu benutzt, um erste größere Werke zu vollenden, dabei auch zahlreiche Quellen einarbeitend:
11 Vgl. Giovanni Spadolini (Hrsg.): Ricasoli e il suo tempo. Atti del Convegno Internazionale di Studi Ricasoliani, Firenze 26 – 28 settembre 1980. Florenz 1981 (= Biblioteca storica toscana II, 5), darin: Rudolf Lill: Ricasoli, la Toscana del Risorgimento e la Germania, S. 217 – 230. 12 Vgl. dazu Rudolf Lill: Die Vorgeschichte der preussisch-italienischen Allianz (1866). In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 42/43 (1962/63), S. 505 – 570 und ders.: Beobachtungen zur preussisch-italienischen Allianz (1866). Ebd. 44 (1964), S. 467 – 572.
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Rudolf Lill
- Ganganelli, Papst Clemens XIV. Seine Briefe und seine Zeit, 2 Bände, 1851, englisch 1854 (also über den Papst, der auf Druck der bourbonischen Höfe 1773 den Jesuitenorden aufgehoben hatte und der seitdem höchst umstritten war und ist). - Die Jugend Katharinas von Medici, 1854; ital. und engl. Übers., (sowohl Biographie wie Reumonts erster monographischer Beitrag zur politischen Geschichte der Medici und zu deren Aufstieg in die internationale Politik im 16. Jahrhundert). Historisch von geringerer Relevanz waren: Die Grafen von Maddaloni, 2 Bände, 1851 (über einen Zweig des neapolitanischen Fürstenhauses Carafa) und Die Gräfin von Albany, 1860, ital. 1865 (Louise Maximiliane von Stolberg-Gedern, geb. 1752 in Mons, durch Ehe mit einem Stuart Gräfin von Albany, nach der Scheidung lebte sie seit 1777 meist in Florenz, wo sie später einen großen Salon führte; lange mit dem romantischen Dichter Vittorio Alfieri liiert, dessen „große Liebe“ sie war. Sie starb 1824 in Florenz). Auch nach der Rückkehr – vielleicht besser gesagt: nach dem Umzug – ins Rheinland (1863) hat Reumont noch monographisch zu aktuellen Ereignissen in Italien Stellung genommen, am dezidiertsten in seiner Schrift Pro Romano Pontifice. Rückkehr und Abwehr (Bonn 1871). Obwohl er das Unfehlbarkeitsdogma kritisiert hatte, verteidigte er darin das historische Recht des Papsttums auf Rom und den Kirchenstaat; er zitierte einen früheren Mitstreiter Cavours, den Grafen Cesare Balbo, welcher 1849 gemeint hatte, dass es Italiens historische Bestimmung sei, „das Zentrum der Christenheit zu sein“, und bezeichnete die am 20. September 1870 erfolgte Eroberung Roms als Akt einer 1859 von dem soeben von den Deutschen besiegten Napoleon III. angestoßenen Revolution.13 Im Wesentlichen hat Reumont sich aber nach 1863 auf die Niederschrift seiner größeren Werke zur Geschichte und Zeitgeschichte Italiens konzentriert. Er benutzte dafür die in Florenz und Rom angelegten Materialsammlungen, die er auf fast jährlichen Reisen noch erweiterte; besonders immer wieder in Florenz, als Gast im Palazzo Capponi. 1867 – 1870 erschien in Berlin die Geschichte der Stadt Rom (3 Bände, davon 2 und 3 in je 2 Bänden), welche zuletzt von Jedin, Petersen und Arnold Esch erörtert worden ist.14 Es lag nahe, dass dabei und anderswo mit Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Vom V. bis zum XVI. Jahrhundert (8 Bände, Leipzig 1859 – 1872) verglichen wird. Mit der Arbeit daran hatte Gregorovius 1852 begonnen, und
13 Vgl. Franz J. Bauer: Rom im 19. und 20. Jahrhundert. Konstruktion eines Mythos. Regensburg 2009. 14 Vgl. die Kritiken bei Jedin 1973 (wie Anm. 1), S. 126 ff., Petersen 1987 (wie Anm. 1), S. 100 – 103 und Arnold Esch: Gregorovius als Geschichtsschreiber der Stadt Rom. Sein Spätmittelalter in heutiger Sicht. In: ders./Jens Petersen (Hrsg.): Ferdinand Gregorovius und Italien. Tübingen 1993 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 78), S. 131 – 184, hier S. 150/178 ff.
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die Urteile fallen oft zu Ungunsten Reumonts aus.15 Arnold Esch erkennt zwar (wie ähnlich auch Petersen) Reumonts „glänzende Kenntnis der Literatur und auch der Geschichte“ an, befindet aber, dass seine Darstellung „eine große, gefällige Nacherzählung in breitem Fluß ohne hinreichende Pointierung der historischen Gelenkstellen und ohne wirkliche eigene Forschung“ sei, doch „unbestreitbar gedankenreiche und anschauliche Partien“ habe. „Der Ton ist unaufdringlich-apologetisch“,16 d. h., wie die Broschüre von 1871, im Sinne des päpstlichen Geschichtsbildes. Jedin urteilte wohl insgesamt gerechter. Zwar gibt er zu, dass Reumonts Geschichte Roms in vielen Einzelheiten überholt ist, betont aber, dass sie „eine erstaunliche Leistung [bleibt], die zu Unrecht hinter Gregorovius’ Buch zurückgetreten ist“.17 Was Esch als apologetisch bezeichnen wird, hatte Jedin gerühmt. Für Reumont sei Rom die Verbindung der alten Welt mit der neuen, Symbol der christlichen Einheit Europas und Heimat aller. Jedin erinnert auch daran, dass Reumont 1863 von König Maximilian IV. von Bayern, dem großen Förderer liberaler (!) Wissenschaftskultur, den Auftrag erhalten hatte, „eine Geschichte der Stadt Rom in übersichtlicher Darstellung für einen größeren Leserkreis auszuarbeiten“.18 Und diese Aufgabe, die ganz seiner Neigung zur kulturellen Vermittlung entsprach, hat Reumont sehr gut gelöst, und das konnte er nur aufgrund der außergewöhnlichen Breite seiner historischen Bildung, welche Gregorovius so nicht besaß. Für die im 19. Jahrhundert recht zahlreichen Deutschen, welche sich nicht nur für die Kunst der Toskana, sondern auch für deren historische Hintergründe interessierten, wurden ebenso wichtig sein zweibändiges Werk über Lorenzo il Magnifico (1874, 21883, engl. 1876), welches immerhin in der neuesten guten Biographie des „Prächtigen“ mehrmals erwähnt wird,19 sowie vor allem seine Geschichte Toscanas seit dem Ende des florentinischen Freistaates, d. h. vom 16. Jahrhundert bis 1860 (1876/77). Der erste Teil (654 S.) handelt von den Medici, welche als „einziges italienisches Geschlecht seine Stellung und wahre Größe nicht Waffen und Gewalt verdankt, aus dem Volk hervorgegangen. Die Medici haben einen Staat geschaffen, dessen politischer Einfluss weit über seine materielle Macht hinausgegangen ist“.20 Dass die Medici seit dem späten Quattrocento für den Niedergang der republikanischen Freiheiten verantwortlich waren, verschweigt Reumont nicht, aber sein eigentliches Thema ist die moderne Neuformung des seit der Eroberung von Siena 1555 (also nun doch durch Waffengewalt) die ganze Toskana umfassenden Staates unter den seit Cosi15 Vgl. Ferdinand Gregorovius: Römische Tagebücher 1852 – 1889. Illustriert mit 64 Originalzeichnungen von Ferdinand Gregorovius, hrsgg. und komm. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel. München 1991. 16 Esch 1993 (wie Anm. 14), S. 180. 17 Jedin 1973 (wie Anm. 1), S. 106 f. 18 Alfred von Reumont: Geschichte der Stadt Rom. Bd. 1, Berlin 1867, S. VII. 19 Vgl. Ingeborg Walter: Der Prächtige. Lorenzo de Medici und seine Zeit. München 2003. 20 Alfred von Reumont: Geschichte Toscana’s seit dem Ende des florentinischen Freistaates. 2 Bde., Gotha 1876/77 (= Geschichte der europäischen Staaten 37), hier Bd. 1, S. V.
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mo I. zu Herzögen resp. Großherzögen aufgestiegenen Medici, ihre Politik und Bildungspolitik, schließlich die Dekadenz. Der zweite Teil (681 S.) behandelt das seit 1737 regierende Haus Habsburg-Lothringen. Dass dessen vorbildlich gewordener Reformismus ein österreichisch-lothringisch-italienisches Gemeinschaftswerk gewesen war, hat Reumont besonders imponiert. Von den 20 Kapiteln sind fünf dem schon erwähnten Gestalter der modernen Toskana, Großherzog Leopold I. (1767 – 1790, dann römisch-deutscher Kaiser, gestorben 1792) gewidmet, den Reumont auf eine Stufe mit Lorenzo il Magnifico stellt.21 Wie die Geschichte Roms war auch die der Toskana nicht für Fachhistoriker geschrieben, aber wissenschaftlich gut fundiert. Sie schließt sich anscheinend recht eng an die italienische Forschung an, worüber zwei ausführliche bibliographische Notizen informieren. Den zweiten Teil widmete Reumont der Stadt Florenz, deren Ehrenbürger er inzwischen geworden war, auch dankte er darin dem soeben gestorbenen Marchese Capponi für viele Anregungen. Aus eigener Forschung und eigenem Erleben schrieb er dann die schon erwähnte Biographie Capponis: Ein Zeit- und Lebensbild 1792 – 1876 (Gotha 1880, 21881), ausgeweitet zu einer Zeitgeschichte der Toskana im Rahmen der italienischen Geschichte, der Fakten und der Ideen; von den Umbrüchen der napoleonischen Zeit bis zu denen der Nationalstaatsgründung. Auch den Zwiespalt zwischen Region und Nation, in den Capponi und dessen Freunde nach 1849 und vollends 1859/60 geraten waren, wusste Reumont nun gut zu erklären, blieb freilich bei seiner Überzeugung, dass Cavours Einheitsstaat von einer Minderheit der Mehrheit aufgezwungen worden sei, mit Konspiration und Gewalt. So abwegig, wie Unitaristen von links und rechts meinen, war dieses Urteil nicht; anlässlich des 150-jährigen Bestehens des italienischen Einheitsstaates 2011 wurde es vor allem von der die Föderalisierung fordernden Lega Nord, inzwischen immerhin Regierungspartei, wiederholt und löst ernsthafte Debatten aus, und die seit den 1970er Jahren eingeleitete Regionalisierung wird inzwischen von den meisten Parteien bejaht und benutzt. Und diese Überzeugung prägt auch Reumonts letztes größeres Werk, die Charakterbilder aus der neueren Geschichte Italiens (Leipzig 1886). Ein weiteres Mal vermittelt er darin vielfache Einblicke in Politik und Kultur Italiens, von der Biographie eines bourbonischen Herzogs von Lucca und Parma über den kritischen Vergleich zwischen den beiden piemontesischen Antipoden d’Azeglio und Cavour zur schon erwähnten Auseinandersetzung mit Ricasoli. Es folgen Ein Philosoph als Staatsmann: Terenzo Mamiani della Rovere, der päpstlicher, später piemontesischer resp. italienischer Minister war, dann Professor der Philosophie in Turin und in Rom; der römische Adelige Michelangelo Caetani, der, ähnlich wie Mamiani, Ricasoli und Ridolfi, Befürworter des liberalen Nationalstaates wurde; sodann bedeutende Wissenschaftler und Künstler seiner Zeit. Den Abschluss bildet Karl Hillebrand (1829 – 1884), ein weiterer, allerdings von Links gekommener „Florentiner“ aus dem damaligen Deutschland. Nach aktiver Beteiligung an der 1848er Revolution hatte er 21
Vgl. Wandruszka 1963/ 65 (wie Anm. 6).
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nach Frankreich ins Exil gehen müssen; seit 1871 hatte er in Florenz gelebt und publizistisch gewirkt, u. a. in seiner Zeitschrift Italia (ein Versuch, das deutsche Publikum kontinuierlich über Italien zu unterrichten) und in Zeiten, Völker, Menschen (7 Bände, seit 1873). III. Alfred von Reumont hat die politische und die kulturelle Zeitgeschichte Italiens engagiert miterlebt und die frühere Geschichte Italiens und der Toskana, „welche dem italienischen Mittelalter die Fackel vorangetragen“22 habe, gründlich studiert. Seine Quellen entnahm er nicht nur Archiven und Bibliotheken, sondern der Landschaft und den Monumenten, dazu vielen Gesprächen mit Trägern und Zeugen der Traditionen, denen er nachging. Die Ergebnisse seiner Studien hat er dem deutschen und dazu einem internationalen Publikum unermüdlich mitgeteilt, dabei seinen gemäßigt konservativen und liberal-katholischen Standpunkt nie verschwiegen. Gregorovius hatte sich nach dem Abschluss seiner Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter anderen Themen zugewandt, Reumont hat auch in Bonn und Aachen seine Forschungen zu Italien bis in sein letztes Lebensjahr weitergeführt, der Aachener, der er sehr bewusst war, blieb zugleich „ein Florentiner“.
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Reumont 1876/77 (wie Anm. 20), Bd. 1, S. V.
Katholische Kirche und Nation – Alfred von Reumont als Beobachter seiner Zeit Von Christiane Liermann I. Deutsches Interesse an Italien Den Hintergrund für Alfred von Reumonts Italien-Interesse und Italien-Gelehrsamkeit bildete die vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit in Deutschland für die Geschehnisse in der Staatenwelt der italienischen Halbinsel. Diese Aufmerksamkeit nahm in den 1840er Jahren weiter zu, erfasste stärker als zuvor und programmatisch soziale und politische Themen und erhielt durch die Revolution von 1848 einen weiteren Politisierungsschub.1 Wenn der in Florenz ansässige Schriftsteller Karl Hillebrand in seinem Nachruf auf Alessandro Manzoni ganz selbstverständlich und ohne weitere Erläuterung dessen „neokatholische“ und „patriotische“ Gesinnungsgefährten Antonio Rosmini, Vincenzo Gioberti, Gino Capponi und Cesare Balbo erwähnen konnte,2 so mag dies symptomatisch die damalige Vertrautheit des deutschen Publikums mit der italienischen literarischen und politischen Welt veranschaulichen.3 „Wer die Zeitungen und Zeitschriften des 19. Jahrhunderts durchblättert, gerät ins Staunen über die Vielfalt und auch die Qualität der deutschen Italienberichterstattung. Die kulturelle 1
Vgl. Wolfgang Altgelt: Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848. Tübingen 1984 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 59). Dass das deutsche Italienbild seit der Aufklärung stärker politisch orientiert war, als es die Bildungstradition der Grand Tour und die durch Goethe geprägte Italienreisekultur nahe legen, hat auch Dipper in verschiedenen Publikationen betont; vgl. etwa Christof Dipper: Das politische Italienbild der Spätaufklärung. In: Klaus Heitmann/ Teodoro Scamardi (Hrsg.): Deutsches Italienbild und italienisches Deutschlandbild im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993 (= Reihe der Villa Vigoni 9), S. 7 – 25. Vgl. auch Rudolf Lill: Von deutschen Annäherungen an Italien im 18. und 19. Jahrhundert. In: Günter Oesterle/ Bernd Roeck/Christine Tauber (Hrsg.): Italien in Aneignung und Widerspruch. Tübingen 1996 (= Reihe der Villa Vigoni 10), S. 1 – 7. 2 Vgl. Karl Hillebrand: Zeiten, Völker, Menschen. Bd. 2, Berlin 1875, S. 62. Zu Hillebrand vgl. Anna Maria Voci: Prima di Meinecke. Karl Hillebrand e le origini dello storicismo. In: dies.: Il Reich di Bismarck. Storia e storiografia. Rom 2009 (= Politica e storia 62), S. 175 – 203. 3 Vgl. dazu auch die Beiträge in Angelo Ara/Rudolf Lill (Hrsg.): Immagini a confronto. Italia e Germania dal 1830 all’unificazione nazionale. Bologna 1991 (= Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico in Trento, Contributi 4) [dt. Berlin 1991] sowie die Beiträge in Arnold Esch/Jens Petersen (Hrsg.): Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento. Tübingen 2000 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 94).
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Christiane Liermann und politische Gegenwart dieses Landes war damals in der deutschen Kultur in einer Weise präsent, von der wir uns heute kaum mehr eine Vorstellung machen können“.4
Das Bewusstsein von einer vergleichbaren, ja als „parallel“ deutbaren Entwicklung der beiden „verspäteten Nationen“ Italien und Deutschland5 begann sich damals herauszubilden und sicherte den Publikationen über Italien in Deutschland eine beträchtliche Resonanz (deren Erforschung noch längst nicht abgeschlossen ist).6 Neben und teilweise über diese Folie schob sich eine zweite, die den Blick „oltralpe“ nach Süden lenkte: die konfessionelle Herausforderung, die Sensibilisierung und zunehmende Politisierung von Fragen, die Katholische Kirche und Katholizismus betrafen. Die diesbezügliche Entwicklung in Italien genoss in Deutschland besondere Aufmerksamkeit – bis 1848, grob gesagt, im Sinne einer der Romantik verpflichteten, allgemeinen religiös-geistigen Erneuerungs- und Aufbruchsstimmung, danach überwiegend polarisierend im kulturkämpferischen Staat-Kirche-Antagonismus.7 4 Jens Petersen: Alfred von Reumont und Italien. In: ders.: Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze herausgegeben von seinen Freunden. Köln 1999 (= Italien in der Moderne 6), S. 9 – 34, hier S. 14 [zuerst in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 94/95 (1987/88), S. 79 – 107]. Petersens Zusammenschau der Schriften Reumonts ist grundlegend für den vorliegenden Beitrag; seine Wertungen im Einzelnen sind es nicht. 5 Der Ausdruck im Singular bekanntlich bei Helmuth Plessner, der auf das Nietzsche-Wort von den „Zuspätgekommenen“ zurückgreift und eine Parallelentwicklung Deutschland-Italien andeutet, aber nicht ausarbeitet. Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes (1959). Frankfurt am Main 1974 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 66), S. 11 ff. Kritisiert wird die „Parallelentwicklungsthese“, wie bekannt, durch Christof Dipper: Italien und Deutschland seit 1800. Zwei Gesellschaften auf dem Weg in die Moderne. In: ders./Lutz Klinkhammer (Hrsg.): Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder. Berlin 2000 (= Historische Forschungen 68), S. 485 – 504 und dens.: Ferne Nachbarn. Aspekte der Moderne in Deutschland und Italien. In: ders. (Hrsg.): Deutschland und Italien 1860 – 1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich. München 2005 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 52), S. 1 – 28; Rehabilitierungen der These von den parallelen deutsch-italienischen Entwicklungen z. B. bei Wolfgang Altgelt: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Quellen zu den deutsch-italienischen Beziehungen 1861 – 1963. Darmstadt 2004 (= Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert 11), S. 1 – 15 sowie bei Petra Terhoeven: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 2010, S. 7 – 22. 6 Vgl. Altgelt 1984 (wie Anm. 1) sowie die Aufsätze, die das 19. Jahrhundert betreffen, in Petersen 1999 (wie Anm. 4). 7 Zur Gesamtentwicklung vgl. Karl-Egon Lönne: Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1986 (= Edition Suhrkamp 1264) und Rudolf Lill/ Francesco Traniello (Hrsg.): Il „Kulturkampf“ in Italia e nei paesi di lingua tedesca. Atti della 32. settimana di studio, 17 – 21 settembre 1990. Bologna 1992 (= Annali dell’Istituto storico italo-germanico 31); vgl. auch Francesco Traniello: Religione cattolica e Stato nazionale. Dal Risorgimento al secondo dopoguerra. Bologna 2007 (= Saggi 670), bes. S. 7 – 58 (Introduzione) und S. 59 – 112 (Religione, nazione e sovranità nel Risorgimento) und Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. Göttingen 2010 (= Bürgertum NF 7).
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Symptomatisch für die erste Phase sind zwei Artikel in den einflussreichen Historisch-Politischen Blättern für das katholische Deutschland, die sich direkt mit einem Autor beschäftigen, der eine problematische kirchliche „Karriere“ erlebte: mit dem Priester und hochangesehenen Philosophen Antonio Rosmini, der 1848 in Ungnade fiel, dessen Werke zensiert und verurteilt wurden und der erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil rehabilitiert wurde, bis hin zu seiner Seligsprechung im Jahr 2007. Der eine Artikel stammt aus dem Jahr 1839 und ist eine knappe Überblicksskizze über die kirchlichen und religiösen Verhältnisse in verschiedenen Regionen Europas. Unter dem Stichwort „Turin“ heißt es dort: „Auch hier spürt man gewisse Keime, die für die Zukunft zuversichtlich stimmen. Es wäre schön, wenn in unserem Deutschland, das so empfänglich für geistige Anregung ist, die Werke des Antonio Rosmini besser bekannt wären, eines christlichen Denkers, dessen Schriften den Höhepunkt der aktuellen Literatur in Italien zu diesem Thema darstellen.“8
In dem gut informierten Beitrag werden die Regeln der Kongregation dargestellt, die Antonio Rosmini gegründet hatte; auch das vorbildliche Leben des Gründers selbst wird lobend vorgestellt. Ein Jahr später folgte in demselben Journal unter dem Titel Die Philosophie in Italien eine ebenso ausführliche wie enthusiastische Besprechung von Rosminis philosophischem Hauptwerk Neue Abhandlung über den Ursprung der Ideen.9 Der Nuovo Saggio wird dort als ein herausragendes Opus moderner christlicher Philosophie gewürdigt und eine Übersetzung ins Deutsche dringend empfohlen. Auf diese Erneuerung aus katholischem Geist kam Karl Hillebrand drei Jahrzehnte später noch einmal zu sprechen, als er in seinem Nachruf auf den Dichter und Gelehrten Niccolò Tommaseo im Rückblick auf die Frühphase des Risorgimento schrieb, es habe damals in Turin die Gruppe um Vincenzo Gioberti und Cesare Balbo gegeben, zudem an den lombardischen Seen die Zirkel, die in Alessandro Manzoni ihre unbestrittene Autorität besaßen; in Florenz wirkte der Kreis um Gino Capponi und Gian Pietro Vieusseux. Sie waren die „Apostel eines neuen Evangeliums vom neuen Italien“, das zugleich katholisch und liberal war, und das nicht nur Kirche und Staat erneuern, sondern das Vaterland von Dante und Petrarca zu seinem einstigen Primat zurückführen wollte.10 Zu den opinion leaders des italienischen Risorgimento wurde dabei immer wieder Cesare Balbo gezählt, der im Vergleich zu Vincenzo Gioberti als der politisch Rei-
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Briefliche Mittheilungen. Turin. In: Historisch-Politische Blätter für das katholische Deutschland 3 (1839), S. 127 f., hier S. 128. 9 Die Philosophie in Italien. In: Historisch-Politische Blätter für das katholische Deutschland 6 (1840), S. 243 – 256 und S. 298 – 306. 10 Hillebrand 1875 (wie Anm. 2), S. 84.
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fere, weniger Rhetorisch-Phantastische galt und tatsächlich in Deutschland außergewöhnliche Anerkennung genoss.11 II. Reumonts italienische Themen Zu den deutschen Balbo-Verehrern gehörte Alfred von Reumont, ein Mittler zwischen den Kulturen in unruhiger Zeit. Da verschiedene Beiträge im vorliegenden Band Reumonts beruflichen Weg und die Stationen seiner 1829 beginnenden italienischen Laufbahn ausführlich darstellen,12 sollen hier deren Etappen nur noch einmal ganz kurz rekapituliert werden. Alfred von Reumont wirkte als Privatsekretär des preußischen Gesandten beim Großherzog der Toskana. Es war diese Funktion, die ihm den Kontakt zu den gelehrten politischen Köpfen im Umfeld der reformorientierten Zeitschrift Antologia bescherte, an erster Stelle zu dem aus altem Adel stammenden Gino Capponi, der zu seinem wichtigsten italienischen Gesprächspartner wurde. 1836 lernte Reumont den preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. kennen, den er als Cicerone nach Italien begleitete, mithin als Reiseorganisator und Führer durch die Sehenswürdigkeiten.13 Als Mitarbeiter des preußischen Vertreters beim Heiligen Stuhl mit dem Titel eines „geheimen expedierenden Sekretärs“ wurde er 1836 in Rom ansässig. Er nutzte diese Jahre zur intensiven publizistischen Tätigkeit, um die bildungsinteressierte Leserschaft in Deutschland und speziell den preußischen König über die Geschichte, die Kunst sowie die soziale und politische Situation auf der Halbinsel unterhaltsam zu unterrichten. Dadurch wurde er zu einem der wichtigsten Vermittler seiner Zeit zwischen deutscher und italienischer Kultur und Landeskunde, nicht zuletzt in Abgrenzung von seinem jüngeren, protestantischen Konkurrenten Ferdinand Gregorovius, gegen dessen erfolgreiche Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter er eine eigene dreibändige Geschichte der Stadt Rom verfasste.14 Für unseren Zusammenhang sind aber auch die großen biographischen Essays interessant, die er zeitgenössischen 11 Vgl. Altgelt 1984 (wie Anm. 1), S. 241 f. und passim; zu Balbos weltanschaulich-politischer Ausrichtung und seinem liberal-katholischen Umfeld vgl. Gabriele De Rosa/Francesco Traniello (Hrsg.): Cesare Balbo alle origini del cattolicesimo liberale. Rom/Bari 1996 (= Biblioteca di cultura moderna 1099). 12 Vgl. insbes. Vorwort und Einführung von Frank Pohle sowie den Beitrag von Rudolf Lill in diesem Band. 13 Zur umstrittenen Figur des „Cicerone“ im Rahmen der Bildungsreisen nach Italien vgl. die Beiträge in Joseph Imorde/Erik Wegerhoff (Hrsg.): Dreckige Laken. Die Kehrseite der „Grand Tour“. Berlin 2012 (= Wagenbachs Taschenbücherei 680) und Christine Tauber: Jacob Burckhardts ,Cicerone‘. Eine Aufgabe zum Genießen. Tübingen 2000 (= Reihe der Villa Vigoni 13). 14 Zur Konkurrenz dieser beiden Rom-Darstellungen vgl. Alberto Forni: La questione di Roma medievale. Una polemica tra Gregorovius e Reumont. Rom 1985 (= Studi storici 150/ 151) und ders.: L’idea del medioevo di Roma in Gregorovius e Reumont. In: Reinhard Elze/ Pierangelo Schiera (Hrsg.): Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell’Ottocento. Il Medioevo. Atti della settimana di studio, 16 – 20 settembre 1985. Bologna 1988 (= Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico, Contributi 1), S. 283 – 297.
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Vertretern aus den Kreisen des „liberalen Katholizismus“15 widmete: Gino Capponi (über den auch Ignaz Döllinger einen Aufsatz geschrieben hat),16 Cesare Balbo, Massimo d’Azeglio und anderen.17 Reumont bewies in der Fülle seiner Artikel eine exzellente Kennerschaft der italienischen Angelegenheiten, und auch die Korrespondenz mit den italienischen Freunden zeigt, wie vertraut er mit Geschichte und Gegenwart seiner Wahlheimat war. Seine uneingeschränkte Begeisterung galt den aus reformerischem Geist neu belebten historischen Studien (1836 gehört er zu den ersten Mitarbeitern, wenn nicht zu den Gründern der Zeitschrift Archivio Storico Italiano18), und zunächst hegte er eine vorsichtige Sympathie für die Aufbruchsstimmungen des frühen Risorgimento. Oder vielleicht sollte man zurückhaltender sagen: Er hielt sie für unausweichlich, wobei er allerdings jeglichen revolutionären Eifer verurteilte. In einem 1844 veröffentlichen Beitrag, der in der Sammlung Neue römische Briefe eines Florentiners erschien, plädierte er ganz im Sinne der italienischen Aufklärung und des frühen Liberalismus dafür,19 zivilbürgerliche und staatliche Reformen voranzubringen, das öffentliche Leben zu fördern und sich dem „Nationalgefühl“ dabei nicht zu widersetzen. Denn darin erkannte er eine gewissermaßen naturwüchsige Dynamik, die sich so oder so nicht unterdrücken lasse.20 III. Das Ideal des „rechten Maßes“ Seinen deutschen Lesern illustrierte Reumont das Panorama der weltanschaulichpolitischen Strömungen in Italien, wobei ihm die „Gemäßigten“ (ital. „moderati“) als 15 Aus der umfangreichen Literatur zum Phänomen des „liberalen Katholizismus“ in Europa seien auf die einschlägigen Arbeiten von Francesco Traniello verwiesen; vgl. auch Rudolf Lill: Katholizismus und Nation bis zur Reichsgründung. In: Albrecht Langner (Hrsg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800. Paderborn 1985 (= Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B), S. 51 – 63 und Christoph Webers Einleitung zu Franz Xaver Kraus: Liberaler Katholizismus. Biographische und kirchenhistorische Essays. Komm. u. hrsgg. von Christoph Weber. Tübingen 1983. 16 Vgl. Alfred von Reumont: Gino Capponi. Ein Zeit- und Lebensbild. 1792 – 1876. Gotha 1880 und Ignaz von Döllinger: Gedächtnisrede auf Gino Capponi. In: ders.: Akademische Vorträge, Bd. 2. Nördlingen 1889, S. 241 – 253. 17 Vgl. etwa Alfred von Reumont: Cesare Balbo. In: ders.: Zeitgenossen. Biographien und Karakteristiken. 2 Bde., Berlin 1862, hier Bd. 1 und ders.: Azeglio und Cavour. In: ders.: Charakterbilder aus der neueren Geschichte Italiens. Leipzig 1886, S. 45 – 75. 18 Vgl. Ilaria Porciani: L’„Archivio Storico Italiano“. Organizzazione della ricerca ed egemonia moderata nel Risorgimento. Florenz 1979 (= Biblioteca di storia toscana moderna e contemporanea 20), S. 142 ff. 19 Vgl. zum Fortschrittsdenken der italienischen Frühliberalen der Aufklärung Carlo Capra: I progressi della ragione. Vita di Pietro Verri. Bologna 2002; vgl. auch Wolfgang Rother: La maggiore felicità possibile. Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien. Basel 2005 (= Schwabe Philosophica 6). 20 Vgl. Alfred von Reumont: Neue römische Briefe von einem Florentiner. 2 Bde., Leipzig 1844, hier Bd. 1, S. XIX.
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die „vernünftigen“ Leute erschienen. „Vernünftige“ Bestrebungen in Italien bedeuteten in seinen Augen, sich keinen wie auch immer gearteten „Gesamtstaat“ zum Ziel zu setzen, gleich ob als Monarchie oder Republik, sondern föderative Zusammenschlüsse voranzubringen, etwa eine Zollunion. Wie seine italienischen Gewährsmänner aus dem liberal-katholischen Umfeld glaubte er, Italien solle und könne sich als Alternative zum Modell Frankreich erweisen und bewähren, das er durch revolutionsbedingte Instabilität gefährdet sah. Frankreichs politische Kultur missfiel ihm wegen ihrer Neigung zu dem, was er in Übereinstimmung beispielsweise mit Gioberti und Rosmini als Extremismus verurteilte: als unruhiges Schwanken zwischen Vernunftidolatrie und religiösem Integralismus.21 Dagegen boten einige italienische Staaten seiner Ansicht nach Beispiele für gelungene Reformen oder zumindest für lobenswerte Anstrengungen, insbesondere auf den Gebieten Handwerk und Handel, Justizwesen, Straßenbau und Landwirtschaft. Er notierte die Zeichen des gesellschaftlichen Wandels und setzte sich dabei bewusst und kritisch vom Blickwinkel der klassischen Italienreise ab, der ihm unempfänglich für das zeitgenössische Italien zu sein schien (so im „Brief“ über Stendhal in Italien22). Seine am Ideal des „rechten Maßes“ orientierte Zukunftserwartung sah sich bestätigt durch die Tatsache, dass sich auf den verschiedenen Ebenen von Staat und Kultur gleichzeitige Fortschritte feststellen ließen. Denn den infrastrukturellen Verbesserungen entsprachen innovative künstlerische Leistungen, allen voran Alessandro Manzonis Werk.23 Was Reumont nach Deutschland vermittelte, war mithin das Bild einer im Aufbruch begriffenen Gesellschaft, die er dezidiert als zeitgenössische wahrnahm und der unpolitischen Vorstellung von Italien als antiker Ruinenstätte und passivem Schauplatz nordeuropäischer Bildungserlebnisse gegenüberstellte.24 War der gelehrte Diplomat also einerseits bereit, Italien Fortschrittspotential zu attestieren, nahm er andererseits – im Unterschied zu den Vertretern jener liberal-katholisch-patriotischen Denkungsart, der er sich verbunden fühlte – die Tiefe und Tragweite der reformerischen Dynamiken skeptisch zur Kenntnis. Dies galt insbesondere für das große Thema der Religion und für die Frage nach deren sozialethischer Funktion. Reumont teilte zweifellos die Grundannahme von der Bedeutung des Christentums für die gedeihliche Gestaltung der Gesellschaft. Die Überzeugung von der überragenden Rolle von Religion als der Garantin eines Normgefüges, das dem Gemeinwesen Stabilität und die Harmonie zwischen Fürsten und Volk sicherte, gehörte gewissermaßen zu seiner weltanschaulichen Fundamentalausstattung. Seine historischen Studien schienen ihm zudem, ganz im Sinne der „guelfischen“Anschau21 Vgl. ebd., Nr. 1, S. 11; dazu die Kritik an den französischen Verfassungsexperimenten in Antonio Rosmini: La Costituzione secondo la giustizia sociale, mit dem Anhang „Sull’unità d’Italia“. In: ders.: Scritti politici, hrsgg. von Umberto Muratore. 2. erw. Aufl., Stresa 2010, S. 37 – 265. 22 Vgl. Reumont 1844 (wie Anm. 20), Bd. 1, Nr. 13, S. 440 – 443. 23 Vgl. ebd., Bd. 2, Nr. 16, S. 45 – 50. 24 Vgl. zum Fortleben dieser Italienerfahrung Joseph Imorde/Jan Pieper (Hrsg.): Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne. Tübingen 2008 (= Reihe der Villa Vigoni 20).
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ung,25 die Leistung speziell der katholischen Kirche bei der Herausbildung der europäischen Zivilisation zu beweisen.26 Fremd stand er gleichwohl den Entwürfen gegenüber, die aus der Anerkennung der Zivilisierungsleistung in der Vergangenheit eine Reform der Kirche in ihrem Geist und ihren grundlegenden Strukturen für die Gegenwart ableiteten. Gleiches galt für die politischen Verhältnisse. Dass das neue historische Bewusstsein politische Sprengkraft in sich barg oder in sich bergen konnte, hat Reumont wohl erkannt, aber weder gebilligt, noch für unvermeidlich gehalten.27 Entsprechend seiner Vorstellung, es sei ein Umgang mit Geschichte möglich, der aus dem Bewusstsein großer Traditionen die Antriebskräfte für eine „moderate“, graduelle Weiterentwicklung der Gegenwart schöpfen könne, hielt er an einer Nation-Idee fest, die die „Nation“ nicht als revolutionären Souverän verstand, sondern als kulturelle Einheit, die sich auch in staatlicher Vielfalt realisieren konnte, ähnlich wie Giobertis bedeutender Gegenspieler, der Jesuit Luigi Taparelli d’Azeglio, in seinem großen Naturrechtstraktat den „Nation“-Begriff als identitätsstiftenden Kulturleitwert zugelassen hatte, ohne ihm das Potential einer neuartigen Souveränitätsbegründung oder eines staatlichen Umbaus zuzubilligen.28 Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe, einmal der Gratwanderung zwischen Reform und Revolution im politischen Verständnis und Sprachgebrauch von Autoren wie Alfred von Reumont nachzugehen. Wann galt etwas noch als reformerisch, wann schon als revolutionär? Es scheint, als seien die Unterscheidungskriterien weniger in den politischen Inhalten, in deren Durchsetzbarkeit oder Legitimitätsdiskursen zu suchen als in der Haltung, im Ethos der handelnden Personen. Reumont jedenfalls schrieb moralische Geschichte(n), in denen die Guten vernünftig, maßvoll, verhandlungswillig, undogmatisch, aufrichtig waren (Beispiel Cesare Balbo) und die Bösen wirr, maßlos, doktrinär und/oder machiavellistisch (Beispiel Camillo Cavour). Eine solche Geschichtsschreibung verweigerte sich einer linearen Geschichtsdeutung, in deren Rahmen gerechtfertigt war, was zum wie auch immer definierten „Fortschritt“ beitrug. Sie verweigerte sich jedoch ebenso einer apokalyptischen Verfallsgeschichte und blickte unverdrossen auf das handelnde Individuum, das allerdings, sofern es 25 Zum „Guelfismus“ und „Neoguelfismus“ als moderner katholisch-patriotischer Ideologie und ihren mittelalterlichen Wurzeln vgl. Peter Herde: Guelfen und Neoguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter bis zum Risorgimento. Wiesbaden 1986 (= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Frankfurt am Main 22/2). 26 Vgl. Reumont 1844 (wie Anm. 20), Bd. 1, Nr. 3, S. 73 – 91 über „Congregation und Collegium der Propaganda“; vgl. auch ders.: Beiträge zur Italienischen Geschichte. 6 Bde., Berlin 1853 – 1857, hier Bd. 2, S. 285 – 327 über Cesare Balbos Storia d’Italia und Reumont 1862 (wie Anm. 17), Bd. 1, ders.: Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden und kranken Tagen. Leipzig 1885, S. 134 ff. 27 Vgl. beispielsweise den Tenor seines Beitrags zu Giovanni Berchet in Reumont 1853 – 1857 (wie Anm. 26), Bd. 6, S. 405 – 420. 28 Zu der exemplarischen Auseinandersetzung zwischen Gioberti und Taparelli d’Azeglio vgl. Traniello 2007 (wie Anm. 7), S. 59 – 112 (Religione, nazione e sovranità nel Risorgimento).
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nicht einem der beiden ideologischen Extreme zugeordnet wurde – Reaktion versus Revolution –, seltsam orientierungslos zwischen Reformwillen und Revolutionsfurcht lavierte. IV. Kritik der Revolution Nach welchen Leitlinien in bestimmten Entscheidungssituationen möglicherweise auch Handlungsalternativen bestanden hätten, ließ sich in Reumonts historischem Erzählmodus kaum zeigen. Eindrucksvoll ablesbar ist dies an seiner Haltung in der Frage nach der Zukunft der Kirche und des Kirchenstaats. Der Einsicht, dass es Reformbedarf auch und gerade im Kirchenstaat gebe, hat er sich gewiss nicht per se verschlossen. Aber Reform und Verständigung zwischen Staat und Kirche sollten und konnten sich seines Erachtens in konservativ-legitimistischen Bahnen bewegen, wie die von ihm mit Sympathie begleitete Beilegung des Kirchenstreits im preußischen Köln gezeigt hatte.29 Dass solche Formen des intergouvernementalen Ausgleichs 1848 nicht zustande kamen, erfüllte ihn mit Entsetzen. Nun traten über der Abscheu vor einer als hysterisch und von Demagogen gesteuert empfundenen revolutionären Dynamik das Bewusstsein für die tatsächliche Erneuerungsbedürftigkeit der Kirche und der frühere Beifall für den italienischen Reformwillen zurück. Die Revolution war für Reumont ein Skandalon, das rückblickend auch die reformorientierten, patriotischen Initiativen in Misskredit brachte. Davon zeugt ein unmittelbar unter dem Eindruck der Revolution entstandener Traktat mit dem Titel Gaeta. Erinnerungen aus dem Jahre 1849.30 Reumont konnte aus erster Hand berichten: Anfang Oktober 1847 war er nach Florenz zurückgekehrt und hatte im Februar 1848 miterlebt, wie die Verfassung der Toskana verkündet wurde. Im Oktober 1848 ging er zunächst nach Florenz, dann, im Januar 1849, als Sekretär der Preußischen Gesandtschaft nach Rom. Er war Zeitzeuge der Ausrufung der römischen Republik, verließ aber einige Wochen später auf ausdrückliches Geheiß des preußischen Königs die Stadt, um sich zum päpstlichen Hof ins Exil nach Gaeta zu begeben. „Es ist ein Fehler“, schrieb Friedrich Wilhelm IV. ihm in einem persönlichen Brief, „daß ein Mitglied einer preußischen Mission unter Verhältnissen wie die gegenwärtigen [sic!] in der entheiligten Stadt verweile. Sie haben sich also angesichts dieses, falls es noch nicht geschehen, nach Gaeta zu begeben, wo ein Auftrag delikater Natur Ihrer harrt. Ich erwarte aus Gaeta recht interessante Briefe von Ihnen. Ich habe jedesmal eine große Freude, wenn ein Brief von Ihnen ankommt. Möge es Ihnen, bester Reumont, recht wohl gehen in dem herrlichen Lande, welches aber jetzt noch wirrer dasteht, oder fällt, als Deutschland – und das ist sehr viel gesagt. Gott besser’s! Vale. Humboldt hat immer ganz besondere ästhetische Freude an Ihren Briefen, die ich ihm regelmäßig mitteile.
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Vgl. Reumont 1885 (wie Anm. 26), S. 115 ff. (Römische Mission des Grafen von Brühl). Alfred von Reumont: Gaeta. Erinnerungen aus dem Jahre 1849. Berlin 1849, wieder in: Reumont 1853 – 1857 (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 101 – 214. 30
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Berlin hat gestern wie ein Rabenstein gewählt, nämlich lauter ausgeprägte Galgenvögel, das Land umher aber gut, zum Theil vortrefflich.“31
Tatsächlich befasste sich Reumont in dem Bericht ausführlich erzählend mit Geschichte, Geographie und Architektur der Festungsstadt Gaeta. Lebhaft beschrieb er den Alltag des päpstlichen Hofes im dortigen Exil mit den zahlreichen internationalen Gesandtschaften. In groben Zügen und mit beißender Kritik rekonstruierte der Autor die römische Revolution. Als „verhängnißvoll“ erschien ihm die „konstitutionelle Experimentierung“ des Jahres 1848, als „undankbar“ und „verblendet“ das römische Volk, dem gegenüber er die herzliche Solidarität „des gesamten Europas und eines ansehnlichen Theiles der neuen Welt“ mit dem Papst herausstrich.32 Verantwortlich für die „Katastrophe“ waren seiner Ansicht nach nicht nur die Revolutionäre der Giovine Italia, sondern auch der überwiegende Teil der „Reformpartei“, der er schwere „Fehler“ vorwarf, deren Evidenz den Verdacht der bösen Absicht nahe legte. Bei den Reformern hatte, so Reumont, das „beschränkte“ Kriterium der nationalen Interessen überwogen, und man hatte sowohl den universalen Charakter des Papsttums, als auch dessen europäische politische Dimension bewusst ausgeblendet. Allerdings erinnerte er in dem Bericht auch an eine andere Gruppierung, die ihm aus den „klügsten Köpfen der Nation“ zu bestehen schien: Ihnen gestand er zu, die Schwere des Konflikts zwischen den nationalstaatlichen Einigungsbestrebungen und dem kirchlichen Anspruch auf weltliche Herrschaft erkannt zu haben. Leidvoll hätten diese (namentlich nicht genannten) Personen die Schwierigkeiten durchlebt, die aus der Situation des Papsttums für die politische Regeneration Italiens erwuchsen, aber zugleich seien sie bemüht gewesen, deren nationalistische Pervertierung zu verhindern.33 Es ist wahrscheinlich, dass der Autor hier, ohne ihn beim Namen zu nennen, auf Antonio Rosmini anspielte, der ebenfalls Pius IX. ins Exil gefolgt war und dort Zeuge der unter dem Eindruck des Revolutionsschreckens vollzogenen antikonstitutionellen Wende des Papstes wurde. Tatsächlich erwähnt Reumonts Erinnerungsschrift Gaeta weder den Philosophen-Theologen Rosmini, noch die Debatten um diesen und dessen reformprogrammatisches, wenig später kirchlicherseits verurteiltes Werk. Lediglich die Bemerkung, im päpstlichen Exil habe ein „Kampf der Meinungen in Betreff der Geltung der italienischen Constitutionen“34 des Jahres 1848 stattgefunden, deutet auf Reumonts Kenntnis der Auseinandersetzung hin, die in Antonio Rosmini ihren herausragenden Protagonisten besaß, hatte dieser doch eine Reihe bedeutender konstitutioneller Programmschriften vorgelegt, darunter den Traktat Die Verfassung gemäß der sozialen Gerechtigkeit, die nun auf den Index gesetzt wurden.35 31
Reumont 1885 (wie Anm. 26), S. 334. Reumont 1853 – 1857 (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 171 f. 33 Ebd., S. 173. 34 Ebd., S. 177. 35 Zu Entstehung und Verurteilung des Werks vgl. Umberto Muratore: Introduzione. In: Rosmini 2010 (wie Anm. 21), S. 5 ff. 32
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Reumonts Erinnerungsbuch über die päpstliche Exilzeit ging auf dieses Thema aber nicht näher ein, wofür des Autors Wunsch ausschlaggebend gewesen sein mag, die Geschlossenheit der Kirchenführung nicht in Frage zu stellen. Tatsächlich konzentrierte sich der Text vollständig auf eine antithetische Darstellung: hier die heroisch leidende und in der Erniedrigung triumphierende Majestät der Kirche und des Papstes, umgegeben von den herbeieilenden Emissären aus der ganzen Welt; dort die isolierte römische Revolution, die an ihrer Illegitimität und Gottlosigkeit zugrundegehen musste. Das rückblickende Fazit, fünf Jahre später verfasst, fiel dann skeptisch und illusionslos aus. Die Kirche hatte es versäumt, so sah es Reumont nun, das Erlebnis der kathartischen Erschütterung durch die Revolution im providentiellen Sinne einer „moralischen und religiösen Regeneration“36 zu nutzen, während sich die Staaten auf eine schlichte und riskante Restauration des Vergangenen eingelassen hatten, die in politicis keinen Bestand haben konnte. Allein Pius IX. stand für ihn in seinem unerschütterlichen Gottvertrauen vorbildhaft dar. Der skeptisch-pessimistischen Einschätzung der italienischen Politik blieb Reumont in den Folgejahren treu. Seine autobiographisch eingefärbten Aufzeichnungen mit dem Titel Aus König Friedrich Wilhelms IV. gesunden und kranken Tagen bieten noch einmal eine ausführliche Bilanz der Jahre 1848/49 und belegen seine tiefe Abneigung gegen den „Revolutionsschwindel“37 der Demokraten und sein Unverständnis für das Handeln der Reformer, deren Scheitern sie ins Unrecht setzte. Der biographische Zuschnitt seiner am sittlichen Handeln des Einzelnen orientierten Darstellung, deren Urteilsgerüst eine tendenziell konservativ-legitimistische Grundeinstellung bildete, ließ ihn die Revolution letztlich als Summe menschlicher Schwächen und Verfehlungen interpretieren. Unfähigkeit und Bosheit hatten die löblichen Reformansätze zunichte gemacht, bilanzierte er, ohne jedoch eine Rekonstruktion der Geschehnisse anhand politischer Kriterien vorzunehmen, wie es beispielsweise der als piemontesischer Ministerpräsident gescheiterte Vincenzo Gioberti mit seiner großen Abrechnungsschrift Von der zivilbürgerlichen Erneuerung Italiens versucht hatte.38 Zwischen Revolution und Restauration mahnte Reumont den moderaten „dritten Weg“ immer wieder an, blieb aber vage in der Erörterung von dessen Beschaffenheit und politischer Umsetzbarkeit. Interessant sind gleichwohl Übereinstimmungen und Abweichungen im Vergleich zu anderen prominenten Versuchen, die Ereignisse der Jahre 1848/49 rückblickend zu deuten. Sowohl beispielsweise Vincenzo Gioberti mit dem besagten Del Rinnovamento civile d’Italia (1851), als auch der liberale Luigi Carlo Farini mit seiner Storia dello Stato romano dal 1815 al 185039 identifizierten als Hauptgrund des Scheiterns der Bundeslösung 1848/49 ebenso wie Reumont nicht (wie spätere Risorgimento-Meistererzählungen) das Fak36
Reumont 1853 – 1857 (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 187. Reumont 1885 (wie Anm. 26), S. 338. 38 Vgl. Vincenzo Gioberti: Del Rinnovamento civile d’Italia. 2 Bde., Paris/Turin 1851, hier Bd. 2, S. 679. 39 Vgl. Luigi Carlo Farini: Lo Stato Romano dall’anno 1815 all’anno 1850. 4 Bde., Turin 1851 – 1853. 37
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tum des päpstlichen Territorialbesitzes – schließlich war der Kirchenstaat ja mittlerweile ebenfalls Verfassungsstaat geworden und die weitere Laisierung des politischen Apparats schien möglich –, sondern die Ungeschicklichkeit, ja territorialstaatlich-egoistische Beschränktheit der piemontesischen Politik. V. Plädoyer für die Bundeslösung Ein konkreteres politisches Tableau zeichnete dann noch einmal ein interessanter Artikel, den Reumont 1861 für die Historische Zeitschrift verfasste und der im Juli 1862 in Le Correspondant unter dem Titel Les projets de Confédération italienne de 1847 à 1849 auf französisch erschien.40 Die Herausgeber kommentierten den Text mit den Worten, Reumonts Ausführungen seien umso willkommener, als sie den Ansichten der Zeitschrift selbst entsprächen: Die Einigung Italiens in Form eines Einheitsstaates bliebe „malgré les apparences“ eine Utopie, zukunftsweisend sei vielmehr die föderale Lösung – eine Feststellung, die angesichts der vollzogenen Staatsgründung 1861 als Mahnung zur dezentralen Ausgestaltung des jungen Königreichs gelesen werden musste. Der Artikel bezweckte mehrererlei: Er sollte erklärtermaßen das Monopol der Liberalen auf das Thema „Nation“ durchbrechen; er sollte sodann die Apologie der Konföderationsidee anhand einer Skizze ihrer Genese und eine detaillierte Beschreibung der tatsächlichen Liga-Projekte während der Revolutionsjahre bieten; und er sollte schließlich noch einmal die Konföderationslösung als vernünftige Kompromisslösung rechtfertigen. Bereits früher hatte Reumont in Anlehnung an den von ihm oft zitierten Vincenzo Gioberti, Autor der großen Programmschrift Del Primato morale e civile degli italiani (1843), betont, die Konföderation sei diejenige politische Organisationsform, die der geographischen Situation, der Heterogenität der Bevölkerung, der Geschichte, den Traditionen sowie den lokalen Ansprüchen des Landes am meisten entspräche.41 Immer schon, so heißt es auch in dem genannten Artikel, war die Konföderation die Form, nach der die Italiener strebten, wenn sie frei wählen konnten, wenn kein Despotismus auf ihnen lastete.42 Dies sowie ihre dauerhafte, in der Geschichte Italiens stets nachweisbare Präsenz verbürgten die Legitimität der Konföderationsidee. Was hatte sie scheitern lassen? In Reumonts guelfisch geprägter Deutung erwiesen sich Fremdbestimmung, Fremdherrschaft und Einfluss von außen als unheilvoll. Zunächst wurde durch die Französische Revolution ein angebahnter „sicherer,
40 Vgl. Alfred von Reumont: Coppi’s Annali d’Italia für das Jahr 1848. Italienische Conföderation. Fremde Truppen. In: Historische Zeitschrift 5 (1861), S. 99 – 110 und ders.: Les projets de Confédération italienne de 1847 à 1849. In: Le Correspondant 56 (1862), S. 473 – 490. 41 Vgl. z. B. Reumont 1844 (wie Anm. 20), Bd. 1, S. XIX-XXIII. 42 Vgl. Reumont 1862 (wie Anm. 40), S. 475.
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regulärer und nationaler Fortschritt“ unterbrochen.43 Dann düpierte der Wiener Kongress Italiens „Nationalität“, seine „legitime[n] Ansprüche“ und „edlen Aspirationen“. „Legitimität“ – Proteus-Formel aller Politik gleich welcher Couleur – konnten also, wie gesagt, nach Reumont die nationalen Bestrebungen der Italiener durchaus für sich geltend machen. Und sie machten sie tatsächlich geltend, indem die „vom Licht der Philosophie und der Geschichte erleuchteten Geister“, allen voran Vincenzo Gioberti und Cesare Balbo, in der katholischen Kirche und im Papsttum die vitale Kraftquelle für die Erneuerung Italiens (wieder)entdeckten. Ein doppeltes nationales Bündnis schien nun möglich: der italienischen Fürsten untereinander und der Fürsten mit der „echten Aristokratie der Nation“. Erneut war es jedoch der von außen kommende Einfluss in Gestalt der französischen Februarrevolution, der den Lauf der Dinge bestimmte. Die Reformbewegung schlug in Revolution um – wie dies stets geschieht, so Reumonts politische Maxime, wenn „legitime Ansprüche nicht befriedigt werden“.44 Nun erwies es sich als fatal, dass in der Friedenszeit zuvor die „politischen Institutionen“ nicht weiterentwickelt worden waren, die die Einübung ins politische Geschäft seitens der neuen politischen Akteure gestattet hätten. (Dasselbe Versäumnis warf Reumont im Übrigen der preußischen Politik vor 1848 vor.) Als Zeichen politischer Unerfahrenheit und Unreife deutet er den Mangel an Realitätssinn und an Mäßigung der nun das politische Geschehen bestimmenden Männer. Das Defizit an realpolitischer Praxis repräsentierten für Reumont Antonio Rosmini und dessen römische „Mission“ von 1849, deren Zweck darin bestanden hatte, ein antiösterreichisches Bündnis zwischen Piemont-Sardinien und dem Kirchenstaat auf diplomatischem Wege zustande zu bringen. Reumont nannte Rosmini zwar einen vorbildlich tugendhaften, gelehrten Menschen und tiefsinnigen Wissenschaftler, sprach ihm aber das Talent für das „öffentliche Leben“ ab. So schien es ihm in der Rückschau gut ein Jahrzehnt später nur folgerichtig, dass die römische Regierung das Liga-Projekt der piemontesischen Regierung45 als zu weitgehend zurückgewiesen hatte.46 Trotz der negativen Bilanz der Jahre 1848/49 blieb er der guelfischen Konföderationsidee als Schlüsselkonzept der staatlichen Reorganisation der italienischen Halbinsel treu. Indem er das Scheitern des Staatenbundprojekts mit dem Unvermögen von dessen Vorkämpfern erklärte, glaubte er, die Substanz des Bundesideals retten zu können. Auf den Spuren seines Gewährsmannes Vincenzo Gioberti vertrat er, wenngleich nicht ohne Skepsis, den Bundesgedanken als eine Art universale Kompromissformel für sämtliche alten und neuen Rechtsansprüche „der Fürsten, der Klassen, der Korporationen, der Individuen, des Besitzes, der Traditionen, der Nati43
Ebd. Ebd., S. 477. 45 Vgl. Antonio Rosmini: Della missione a Roma di Antonio Rosmini-Serbati negli anni 1848 – 49, commentario, hrsgg. von Luciano Malusa. Stresa 1998, S. 308. 46 Vgl. Reumont 1862 (wie Anm. 40), S. 482; so auch z. B. in Alfred von Reumont: Pro Romano Pontifice. Rückblick und Abwehr. Bonn 1871, S. 21. 44
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on, der Kirche“.47 Ein solches Plädoyer hatte 1861/62, nachdem sich der italienische Nationalstaat maßgeblich dank Cavours diplomatischem Geschick konstituiert hatte, etwas von rückwärtsgewandter Utopie. Allerdings gilt es auch festzuhalten, dass sich Reumont in seiner Rückschau zentraler Versatzstücke eines contrafaktischen Narrativs bediente, dem fortan ein nachhaltiger Erfolg beschieden war: Dass die tatsächlich durchgesetzte, zentralstaatliche Form der nationalen Einigung einen fatalen Bruch mit Grundmustern der italienischen Geschichte und politischen Kultur bedeutete und dass die versäumte Dezentralisierung nach der Einigung im weiteren Verlauf der national-italienischen Biographie zur Quelle dramatischer Fehlentwicklungen wurde, bildete seither eine durchgängige, wirkungsmächtige Gegenerzählung, die bis in die Vorbereitung der Gedenkfeiern aus Anlass des 150. Jubiläums der Staatsgründung (1861 – 2011) fortgeschrieben wurde. VI. Kritik an der Entwicklung der katholischen Kirche Das Ende des Großherzogtums Toskana, wo Reumont seit 1851 Preußischer Geschäftsträger gewesen war, bedeutete auch das Ende seiner diplomatischen Laufbahn. Seine Hoffnung, den römischen Gesandtenposten übernehmen zu können, zerschlugen sich.48 Fortan widmete er sich seinen historischen Studien, darunter der erwähnten mehrbändigen Geschichte der Stadt Rom. Kritisch und besorgt verfolgte er weiterhin die Entwicklung von Staat und Kirche, wobei er das I. Vatikanische Konzil für ebenso fatal hielt wie die Vollendung des italienischen Königreiches und den Kulturkampf in Deutschland. Zwei sehr unterschiedliche Publikationen aus der späten Zeit werfen noch einmal ein bezeichnendes Licht auf seine Vorstellungswelt, die ihn in keiner der großen antagonistischen Zeitströmungen heimisch werden ließ.49 Da ist zum einen die im Dezember 1870 verfasste Kampfschrift Pro Romano Pontifice, eine vehemente Verurteilung dessen, was er als einseitige, gewalttätige Eroberungspolitik Piemonts zu Lasten der legitimen Landesherrschaft des Papstes interpretierte. Reumont beklagte den „piemontesischen Angriff“ auf den Kirchenstaat und rechtfertigte den territorialen Besitz und die weltliche Herrschaft des Pontifex als notwendig für die spirituelle Unabhängigkeit der Kirche. Zugleich spitzte er das Legitimitätsargument antithetisch zu: Entweder besaß es Geltung und zwar universal, also auch für eine althergebrachte Souveränität wie die des Papstes, oder es galt nicht, dann aber waltete das Faustrecht des Stärkeren, dann regierten „Gewaltthat und Revolution“.50 Ein vermeintlich höheres Recht des „Nationalitätsprincips“ wollte er nicht zulassen; konsequent durchdacht, musste es sich selbst ad absurdum führen. Wieder war Cesare Balbo der Gewährsmann, auf den sich Reumont berief, um zudem an die besondere Verpflichtung und Mission Italiens für die katholische 47
Reumont 1862 (wie Anm. 40), S. 490. Vgl. Hubert Jedin: Alfred von Reumont (1808 – 1887). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 112, hier S. 105 f. 49 Vgl. ebd., S. 109. 50 Reumont 1871 (wie Anm. 46), S. 13. 48
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Christenheit und an die geistigen und politischen Gefahren zu erinnern, die Italien durch den Verlust seiner religiösen Mitte drohten. Ähnliche argumentative Waffen waren auch von anderen Verteidigern der Unversehrtheit des Patrimonium Petri hinlänglich benutzt worden.51 In diesen Kontext stellte Reumont nun seine ebenso entschiedene Absage an das, was er, ähnlich wie zahlreiche andere, insbesondere deutsche Katholiken, als intellektuelles und politisches Rückzugsgefecht der Kirche betrachtete.52 Das Erste Vatikanische Konzil beurteilte er als „Unglück“ für die gesamte katholische Welt, für den Klerus, den Episkopat, letztlich für das Papsttum selbst, wie es Jens Petersen formuliert hat.53 Denn den Prozess der Zentralisierung und der Ideologisierung und Dogmatisierung, der dabei im Staat wie in der Kirche erkennbar wurde, hielt Reumont für unnatürlich und gefährlich. Die Entwicklungstendenz der staatlichen und kirchlichen Institutionen hin zum neoabsolutistischen Hegemonieanspruch erschien ihm als Rückschritt hinter ältere „moderate“ Ausgleichs- und Verständigungspolitiken und als Restriktion bereits erworbener Freiräume des individuellen Gewissens und der wissenschaftlichen Entfaltung.54 Nicht zuletzt die Sorge, eine politisch entmachtete Kirche in der Defensive werde den Binnenzwang zur Linientreue forcieren, hat Reumont in Pro Romano Pontifice kämpferisch für die Erhaltung des kirchlichen Territorialbesitzes im Sinne eines historisch (nicht theologisch-dogmatisch) notwendigen Instruments eintreten lassen. Die als destruktiv eingeschätzten Konsequenzen des Konzils für das geistig-moralische Leben der gesamten Christenheit stärkten umgekehrt in ihm, ähnlich wie bei dem Schöpfer der Formel von der „freien Kirche im freien Staat“, Charles de Montalembert, liberale Überzeugungen und verliehen seinem Ruf nach einer freiheitssichernden Machtbasis für die Kirche nur noch größere Dringlichkeit. „Wie der besitzlosen Kirche ihre Freiheit zu sichern sei?“55 – auf diese Urfrage des Staat-Kirche-Verhältnisses konnten jedenfalls Garantiezusagen von Staates Gnaden (eines Staates zumal, dem der Geburtsfehler der Usurpation anhaftete) in seine Augen keine Antwort sein. Aber trotz aller argumentativen Vehemenz zugunsten der Restitution des Kirchenstaates hat Reumont auch darin keine Ideallösung gesehen. Zu sehr war ihm gerade als Historiker des päpstlichen Rom vertraut, dass der spirituellen Freiheit auch vom Dominium temporale Beeinträchtigung und Abhängigkeit erwachsen konnten. Und zu sehr war er sich als Zeitzeuge bewusst, dass die Verhältnisse nicht mehr umkehrbar waren.56 51 Vgl. Federico Chabod: Storia della politica estera italiana dal 1870 al 1896. 4. Aufl., Bari 1997, S. 179 ff. 52 Zu Reumonts Übereinstimmung mit Ignaz von Döllinger vgl. Petersen 1999 (wie Anm. 4), S. 32, Anm. 68. Vgl. auch Rudolf Lill: Die Macht der Päpste. Kevelaer 2006, S. 86 ff. und S. 95 ff. 53 Petersen 1999 (wie Anm. 4), S. 32. 54 Vgl. Reumont 1871 (wie Anm. 46), S. 22. 55 Ebd., S. 24. 56 Vgl. z. B. Reumonts Brief an Gino Capponi vom 8. 12. 1870 in: Alessandro Carraresi (Hrsg.): Lettere di Gino Capponi e di altri a lui. Bd. 6, Florenz 1890, S. 373.
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VII. Religiöse Vorbilder und liberales Lob der Individualität Auf die große Frage „Wie der besitzlosen Kirche ihre Freiheit zu sichern sei?“ hat er dann eine ganz anders geartete, indirekte Antwort gegeben. Bei der zweiten Publikation der späten Jahre, auf die in unserem Zusammenhang hinzuweisen ist, handelt es sich um eine Sammlung von Briefen, die Reumont ins Deutsche übersetzt hat. Sie trägt den Titel Briefe heiliger und gottesfürchtiger Italiener und erschien 1875. Ihr Thema war nicht die Kirche in ihrer machtgestützten, hierarchischen Struktur oder als politischer Akteur, sondern die Kirche, wie sie sich in der Vielfalt individueller Glaubenszeugnisse Einzelner manifestierte. Aus seiner eigenen erlebten Zeit führte Reumont zwei Beispiele an, Alessandro Manzoni und Antonio Rosmini als Zeugen für das „Fortleben des unbesiegbaren christlichen Geistes“.57 Angesichts der Prominenz beider Figuren liegt es nahe, die Wahl gerade dieser Repräsentanten christlicher Frömmigkeit als programmatische Stellungnahme und Ausdruck eigener Überzeugungen zu deuten,58 zugunsten einer umstrittenen, nicht zeitgemäßen, unangepassten, aber darum nicht weniger wirkmächtigen, „religiösen“ Katholizität.59 Reumont stellte die Freunde Manzoni und Rosmini in die Tradition der großen kirchentreuen Kirchenkritik, indem er sie als tiefreligiöse Zeitgenossen zeichnete, die auf je eigene Weise an der in die Defensive geratenen Kirche litten und zugleich willens waren, die dramatischen Zeitläufte als Chance für die Rück- und Neubesinnung auf die ureigenste kirchliche Mission der Glaubensverkündigung zu deuten. Dieser Zugang zum vergangenen Geschehen in der kirchlichen wie in der politischen Sphäre mittels der individuellen Erfahrungsperspektive unterscheidet Reumonts Werk von den großen zeitgenössischen, am Maßstab evolutionärer Dynamik orientierten Geschichtserzählungen von Entwicklung und Fortschritt des Sozialen. Möglichen kollektiven Antriebskräften des Historischen, möglichen Gesetzmäßigkeiten des Geschichts- und Gesellschaftsprozesses hat er sich nicht konsequent zu57 Alfred von Reumont: Briefe heiliger und gottesfürchtiger Italiener. Freiburg im Breisgau 1875, S. XVII. 58 Vgl. Jedin 1973 (wie Anm. 48), S. 109. 59 Zur Geschichte des Topos vom „religiösen“ Katholizismus vgl. Weber 1983 (wie Anm. 15), S. 413. Ab 1879 ersetzte Franz Xaver Kraus den Ausdruck „liberaler Katholizismus“ durch den Begriff „religiöser Katholizismus“. In diesem Sinne hat ja auch, trotz der für ihn typischen Skepsis allem Katholischen gegenüber, Ferdinand Gregorovius Antonio Rosmini und dessen Kongregation beurteilt, die er durch seinen Freund, den Rosminianer Paolo Perez kennen gelernt hatte. Vgl. Ferdinand Gregorovius: Römische Tagebücher 1852 – 1889. Illustriert mit 64 Originalzeichnungen von Ferdinand Gregorovius, hrsgg. und komm. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel. München 1991, S. 33, 64, 66, 227, 259 u. ö. sowie den kurzen Lebensabriss Perez’ von Ferdinand Gregorovius: Die Villa Ronzano. In: ders.: Kleine Schriften zur Geschichte und Cultur. Bd. 3, Leipzig 1892, S. 97 – 120. Vgl. zur zeitgenössischen Rosmini-Rezeption in Deutschland auch Markus Krienke: Rosmini und die deutsche Philosophie. Stand der Forschung und Perspektiven. In: ders. (Hrsg.): Rosmini und die deutsche Philosophie – Rosmini e la filosofia tedesca. Berlin 2007 (= Philosophische Schriften 71), S. 15 – 76.
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gewandt. Gerade die Art und Weise, wie er sich mit Religion und Kirche in der Geschichte und in seiner Gegenwart auseinander setzte, beweist seine engagierte Parteinahme in den Konflikten, für deren „moderate“ Beilegung er sich stets einsetzte, aber sie macht auch deutlich, dass er die Krisen nicht systematisch als Phänomene einer übergreifenden Geschichte der Gesellschaft in der Moderne wahrnehmen und einordnen konnte oder wollte. Eher zwischen den Zeilen hat er zum Ausdruck gebracht, dass auch Religion und Kirche historische Größen und damit zeitbedingt, wandelbar und reformbedürftig sind, wie es Antonio Rosmini in seiner kühnen (1848 indizierten) Abhandlung von den Fünf Wunden der Kirche angemahnt hatte. Im intellektuellen Umfeld des italienischen liberalen Katholizismus fand Reumont die guelfischen Deutungsmuster, mit deren Hilfe er die Geschichte von Kirche und Gesellschaft in Italien darstellen konnte: die Erzählung von der Relevanz der Kirche für die europäische und speziell für die national-italienische Kultur, von der Konvergenz und Interdependenz zwischen national-kulturellem und religiösem Leben; sodann die Lehre von der Notwendigkeit gradueller Fortschritte anstelle revolutionärer Brüche und Sprünge; und schließlich das Ideal des Bundes als des Urprinzips politischer wie religiöser Verständigung. Reumonts unmodern anmutende Treue zur Individualität machte ihn immun gegen deterministische Meistererzählungen und spiegelte zugleich in seinen Augen wohl besser, als lineare Entwicklungsmodelle es vermocht hätten, die plurale Wirklichkeit der italienischen Geschichte(n).
Wie der Historiker zum Gestrigen gemacht wurde – Alfred von Reumonts „Italienische Diplomaten und diplomatischen Verhältnisse“ neu gelesen Von Christine Roll I. Einleitung Reumonts Diplomatenschrift aus dem Jahre 18531 ist heute beinahe nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse – aber genau deshalb ist sie besonders interessant: Von der klassischen Diplomatiegeschichte wegen ihrer kenntnisreichen Darstellung der Organisation der Gesandtenposten zunächst noch durchaus geschätzt, galt sie bald als nicht mehr zeitgemäß; in den Kanon der kulturwissenschaftlich geprägten „neuen Diplomatiegeschichte“ hat sie keinen Eingang mehr gefunden und ist in den letzten Jahrzehnten vollkommen dem Vergessen anheim gefallen. Das aber, so die These dieses Aufsatzes, hat gar nichts mit ihrer Qualität zu tun, sondern ist Ergebnis der Historiographiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die eine Darstellung wie diese und einen Historiker wie Reumont schon kurz nach seinem Tod nicht mehr zu schätzen wusste, von seinen historischen Schriften insgesamt bald keine Notiz mehr nahm und ihn schließlich zu einem Gestrigen erklärte. Gewiss erscheint uns heute die Art und Weise, wie Reumont um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Agieren der Gesandten und die Organisation des Gesandtschaftswesens in Florenz, Venedig und Rom vom späten 13. bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts schildert, ein wenig veraltet. Stil, Detailfreude und lange Quellenzitate bremsen den Lesefluss und verlangen Leserinnen wie Lesern viel Geduld ab – man muss sich schon einlassen auf Reumont. Allerdings gilt das für die meisten Historiker des 19. Jahrhunderts: Ihre Schriften sind uns fremd geworden, denn ihre Sprache und ihr Denken, ihre Themen, Fragen und Urteile erschließen sich der Lektüre nicht mehr ohne weiteres, sondern bedürfen der Einordnung in die Historiographie ihrer Zeit. Für das Verständnis Reumonts jedoch ist von dieser Seite keine Interpretationshilfe zu erwarten: Er kommt in den Historiographiegeschichten nicht vor. Denn anders als Ferdinand Gregorovius und Theodor Mommsen – die ebenso wie Reumont mit der römischen Ehrenbürgerwürde als Anerkennung für ihre Römischen Geschichten ausgezeichnet wurden –, anders vor allem als Arnold 1 Alfred von Reumont: Italienische Diplomaten und diplomatische Verhältnisse. Vom XIII. zum XVI. Jahrhundert. In: ders.: Beiträge zur Italienischen Geschichte. Erster Band, Berlin 1853, S. 1 – 270.
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Heeren, Leopold von Ranke, Heinrich von Sybel und Johann Gustav Droysen, ja anders selbst als katholische Historiker wie etwa Johannes Janssen, die immer in der Diskussion waren, die als Autoritäten galten, ja teilweise bis heute gelten, und die in den Historiographiegeschichten ihren Platz haben, ist Alfred von Reumont aus dem historiographiegeschichtlichen Bewusstsein herausgefallen. Ganz offensichtlich hat das Verdikt Hubert Jedins, dem gemäß sich Reumonts Geschichte Roms „an wissenschaftlichem Dauerwert“ nicht mit denen Gregorovius’ und Mommsens habe messen können,2 für die historischen Schriften Reumonts überhaupt Geltung erlangt und dazu geführt, dass sie nun niemand mehr liest, „nicht einmal die Historiker“ – so Jens Petersen in einem Aufsatz zu Reumonts 100. Todestag 1987, der maßgebenden Würdigung Reumonts.3 Petersen geht sogar noch weiter: Er sehe unter Reumonts Werken keines, „das heute noch einen Neudruck lohnte“.4 Allerdings beruht die Geringschätzung, mit der die deutsche Geschichtswissenschaft den Historiker Reumont nun schon jahrzehntelang abhandelt, keineswegs auf einer kritischen Auseinandersetzung mit seinen Schriften. Im Gegenteil, die Einordnungsversuche bestehen in der Regel bloß aus einem einzigen Satz und sind folglich sehr allgemein. Abgesehen lediglich von der hier gleich näher zu untersuchenden Diplomatenschrift, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts immerhin im Kreise der Diplomatiehistoriker eine Weile diskutiert worden ist, wird von Reumonts Werken bestenfalls die Geschichte der Stadt Rom etwas ausführlicher besprochen; in aller Regel erfährt aber auch sie nur, zumeist im knappen Vergleich mit der von Gregorovius, eine kursorische Abqualifizierung als zu lang, „völlig überholt“5 und „konzeptionell konservativ“.6 Über Inhalt und Aufbau einzelner historischer Werke Reumonts – und das gilt nun wieder für die Diplomatenschrift einschließlich –, über deren Aufnahme durch die Zeitgenossen, über seine historiographischen Standpunkte und sein Selbstverständnis als Historiker im Rahmen seines weiten Tätigkeitsfeldes äußert sich die Forschung nicht. Damit bleibt aber auch unklar, was denn eigentlich an seinem historischen Œuvre zu kritisieren ist und welche Maßstäbe dieser Kritik zugrunde liegen.7 Die negativen Urteile über Reumonts historische Schriften dürf2 Hubert Jedin: Alfred von Reumont. In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 113, hier S. 95. 3 Jens Petersen: Alfred von Reumont und Italien. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 94/95 (1987/88), S. 79 – 107, hier S. 105 (wieder in: ders.: Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze. Köln 1999 [= Italien in der Moderne 6], S. 9 – 34). 4 Ebd., S. 106. 5 Gabriele B. Clemens: „[…] essere a noi come anello di communicazione con la Germania“. Alfred von Reumont als Vermittler zwischen deutscher und italienischer Historiographie. In: Axel Rügler (Hrsg.): Italien in Preußen, Preußen in Italien. Ein Kolloquium der Winckelmann-Gesellschaft des Forschungszentrums Europäische Aufklärung vom 25.–27. Oktober 2002. Stendal 2006, S. 213 – 226, hier S. 222. 6 Herbert Lepper: Art. „Reumont, Alfred von“. In: NDB 21 (2003), S. 454 f. 7 Als einziger, soweit ich sehe, nennt Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 105 f. etwas ausführlicher eine Reihe von Defiziten, die er in den Schriften Reumonts ausmacht: Ihnen „fehlt die große Leidenschaft, der mitreißende Schwung, die poetische Imagination der Gregoro-
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ten vielmehr ohne jede Prüfung weitergetragen worden sein; und noch schlimmer: die Kritik an Reumonts historischen Werken scheint ganz überwiegend auf polemischen Äußerungen von Zeitgenossen zu beruhen, namentlich auf solchen von Gregorovius, die zitiert und unkommentiert stehen gelassen werden.8 Bis heute hat sich die Geschichtswissenschaft jedenfalls nicht um Kategorien bemüht, mit denen sie den Historiker Reumont verstehen könnte – und ist doch zugleich mit dessen umfänglichem Œuvre zur Geschichte Italiens konfrontiert, das sie nicht ignorieren kann. Um dieser Spannung zwischen dem reichen historiographischem Œuvre Reumonts und der eigenen analytischen Hilflosigkeit auszuweichen, hat sich unser Fach zweier Kunstgriffe bedient. Zum einen ist Alfred von Reumont auf den Kulturvermittler reduziert worden. Als der „große Brückenbauer zwischen Italien und Deutschland“9 erfährt er eine hohe Wertschätzung. In den Verdiensten um den kulturellen Austausch zwischen Italien und Deutschland sehen die Studien zu Reumont – biographische Skizzen und Aufsätze in Jubiläumsschriften zumeist – denn auch seine historische Bedeutung, von Hermann Hüffer über Hubert Jedin und Jens Petersen bis zu Gabriele B. Clemens.10 Ein richtiger Historiker war Reumont ja ohnedies irgendwie nicht, wie in einer Mischung aus Bewunderung, Apologie und Herablassung festgestellt wird: „Unausgesetzt hat er neben seinen Berufsgeschäften wissenschaftlich gearbeitet“,11 widmete „sich nicht alleine seiner beruflichen Laufbahn“;12 vius’schen Texte, der Goldglanz und die künstlerische Intuition der Burckhardten [sic] Prosa oder die Verdichtung und Präzision der Hehnschen Passagen. Reumont fehlt die große individuelle Subjektivität, die als zeitgeschichtliches Dokument selbst in die Geschichte eingehen kann“. Wie diese wunderliche Kritik in die Reumont-Rezeption einzuordnen ist, wird im dritten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes erörtert. 8 Das gilt sogar für Petersen, der Gregorovius ausführlicher zu Worte kommen lässt als Reumont selbst. Zwar kennzeichnet Petersen die Äußerungen Gregorovius’ als „ironische und bisweilen beißende Urteile“, schließt aber den Abschnitt über beider Römische Geschichten mit folgendem Zitat aus Gregorovius: „Einige Journale vergleichen meine Geschichte der Stadt Rom mit der von Reumont […]. Diese Vergleiche sind lächerlich. Die Arbeit von Reumont ist eine Kompilation, wozu er für das ganze Mittelalter ein Jahr gebraucht hat; meine Arbeit ist ein Originalwerk, entstanden aus Quellenforschungen von fast sechzehn langen Jahren; sie ist das Resultat eines Lebens und das Produkt innerer Leidenschaft. Die Glocke, die ich gegossen habe, wird noch von manchem Küster geläutet werden.“ Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 103; vgl. auch ebd., S. 105 f.; danach Clemens 2006 (wie Anm. 5), S. 222. 9 Lepper 2003 (wie Anm. 6), S. 455. 10 Vgl. Hermann Hüffer: Art. „Reumont, Alfred von“. In: ADB 28 (1889), S. 284 – 295, ders.: Alfred von Reumont. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 77 (1904), S. 1 – 289, Jedin 1973 (wie Anm. 2), S. 95 u. ö., Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 107 („Als Repräsentant deutscher Wissenschaft jenseits der Alpen und als Vermittler italienischer Kultur und Geschichte nach Deutschland hat er sein Bestes gegeben“), Gabriele B. Clemens: Sanctus amor patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 202 – 205 und Clemens 2006 (wie Anm. 5), S. 222 f. 11 Hugo Loersch: Zur Erinnerung an Alfred von Reumont. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 10 (1888), S. 1 – 21, hier S. 7.
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deshalb war er ja auch „kein zünftiger Historiker“,13 „kein Wissenschaftler im eigentlichen Sinn“, sei dabei aber „für das Italienbild bildungsbürgerlicher und adliger Kreise“ viel bedeutsamer gewesen als Gregorovius.14 Nach Jedin hat sich Reumont sogar selbst in erster Linie als Kulturvermittler begriffen, ja darin geradezu seine Bestimmung gesehen: „Reumont hatte seine Aufgabe erkannt, Brücken zwischen deutschem und italienischem Geistesleben zu schlagen“.15 Nun ist es natürlich durchaus zutreffend, Reumont auch als kulturellen Mittler zu sehen; zu allen Zeiten gehörte ja der Austausch von materiellen wie immateriellen Kulturgütern zu den Aufgaben eines Diplomaten. Und wie die Analyse der Diplomatenschrift zeigen wird, maß auch Reumont selbst just diesem Aspekt der Diplomatie eine hohe Bedeutung zu. Doch die Betonung der Verdienste Reumonts als „Brückenbauer“ dient allzu oft als Rechtfertigung dafür, sein historisches Œuvre nicht wirklich zur Kenntnis nehmen und ernsthaft diskutieren zu müssen. Der andere, zweifellos gravierendere Kunstgriff unseres Fachs besteht darin, Alfred von Reumont als einen Gestrigen anzusehen; einige der geschwind vergebenen Attribute dieser Art wurden ja gerade zitiert. Darüber hinaus werden jedoch auch Darstellungsweise und politische Einstellung, ja sogar Person und Lebenswelt Reumonts als aus der Zeit gefallen beurteilt: Reumont sei, so formuliert Petersen, dabei wesentliche historiographische Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ausblendend,16 „in seinem Wissenschaftsverständnis noch ganz von dem älteren, ganzheitlichen, kosmopolitisch angelegten Italien-Interesse der Goethe-Zeit her“ gekommen; „Literatur, Kunst, Geschichte bildeten für ihn noch eine lebendig erfahrene und immer wieder produktiv verarbeitete Einheit“. Reumont habe, so Petersen in diesem Zusammenhang, „in einer Welt von Gestern“ gelebt, „die schon ab 1860 zunehmend ins Abseits geriet“ – und sei „in seiner Opposition gegen die herrschende Zeittendenz […] zu einem Gestrigen“ geworden.17 Mit dieser Formel bringt Petersen freilich nur jene
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Clemens 2006 (wie Anm. 5), S. 216. Jedin 1973 (wie Anm. 2), S. 108. 14 „Für die italienisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen im Bereich der Historiographie und vor allem für das Italienbild bildungsbürgerlicher und adliger Kreise spielte jedoch eine andere Person [als Gregorovius], kein Wissenschaftler im eigentlichen Sinn, eine wesentlich größere Rolle: Alfred von Reumont“. Clemens 2006 (wie Anm. 5), S. 214. 15 Jedin 1973 (wie Anm. 2), S. 100; einen Beleg dafür liefert er freilich nicht. 16 Insbesondere entgeht ihm – wie vielen anderen auch – die wichtige Rolle, die Goethe für die narrative Struktur historiographischer Texte des 19. Jahrhunderts und die zeitgenössische Diskussion über diese Fragen gespielt hat. Ein früher Hinweis darauf findet sich in der 1936 gehaltenen Gedächtnisrede Friedrich Meineckes auf Ranke; vgl. dazu Daniel Fulda: Goethezeitliche Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ,Geschichte‘. Zur Genese einer symbolischen Form. In: ders./Silvia Serena Tschopp (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompedium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/ New York 2002, S. 299 – 320, hier S. 305 f. mit Anm. 30. 17 Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 106; diese Folgerung Petersens ist insofern erstaunlich, als sie seine vielen zutreffenden Beobachtungen über die Bedingungen, die für Reumonts 13
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Botschaft unverbrämt zum Ausdruck, die sonst eher gewunden und verklausuliert übermittelt wird: Es ist völlig angemessen, dass die historischen Werke Reumonts niemand mehr liest, „nicht einmal die Historiker“,18 denn der Autor und sein Werk waren schon in ihrer Zeit nicht interessant und können auch heute keinerlei Bedeutung beanspruchen. Reumont, so lässt sich die derzeitige Forschungsmeinung auf den Punkt bringen, war ein Gestriger schon in seiner Zeit. So einfach liegen die Dinge allerdings nicht. Zum einen ist sein Werk nämlich durchaus lesenswert; jedenfalls für die Diplomatenschrift gilt das. Und zum anderen wurde Reumont zu einem Gestrigen gemacht. Im Zuge der Professionalisierung unseres Fachs geriet die Vielgestaltigkeit der historiographischen Welt um 1850, in der sehr verschiedene Formen und Arten von Geschichtsschreibung, eben auch Reumonts Schriften, noch ihren Platz hatten, in Vergessenheit. Der Historiker Alfred von Reumont ist mithin – und das hat die Forschung bislang ganz und gar übersehen – ein Opfer der Durchsetzungsstrategien innerhalb der sich in seiner Hauptrezeptionszeit institutionalisierenden, professionalisierenden und Schulen bildenden deutschen Geschichtswissenschaft geworden und fand in die Tradition einer der Selbstvergewisserung dienenden „zünftigen“ Geschichte der deutschen Universitätshistoriographie keine Aufnahme.19 Diese eigenartige Rezeptionsgeschichte Reumonts wird dann sichtbar, wenn man sich Ergebnisse und methodische Überlegungen der neueren Wissenschaftsgeschichte zunutze macht. Ursprünglich enge Disziplin- und Fortschrittsgeschichte erzählend, versteht sich die Wissenschaftsgeschichte neuerdings als Geschichte der Herausbildung von Wissenskulturen und interessiert sich deshalb auch und ganz besonders für die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen Wissenschaft stattfindet.20 Der Untersuchung von Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozessen wie auch der Analyse der sozialen Netzwerke der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommt deshalb ein hoher Stellenwert zu. Geleitet wird dieser wissenschaftsgeschichtliche Zugang von der Annahme, dass Wissenschaft ein kommunikativer Prozess und der wissenschaftliche Dialog ein sozialer Vorgang sei, dass demnach „wissenschaftliche Ergebnisse oft auch Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse sind“.21 Sich ihrerseits wissenschaftssoziologischer Ansätze bedieExistenz als Diplomat, Publizist und Historiker entscheidend waren – und eine zutreffende Einordnung Reumonts durchaus erlauben –, ad absurdum führt. 18 Ebd., S. 105 f. 19 Zur Selbstvergewisserung der Fachkollegen als wichtiger Funktion der Historiographie vorzüglich Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860. Berlin/New York 1996 (= European Cultures. Studies in Literature and the Arts 7), S. 11. 20 Für dieses weitere Verständnis von Wissenschaftsgeschichte siehe den entsprechenden Abschnitt „Selbstverständnis“ des Aachener Kompetenzzentrums Wissenschaftsgeschichte in http://www.akwg.rwth-aachen.de/index.php?id=144&L=1 %27 (Zugriff am 6. 1. 2013). 21 Harald Müller/Florian Eßer: Wissenskulturen – Bedingungen wissenschaftlicher Innovation. Eine Einführung. In: dies. (Hrsg.): Wissenskulturen – Bedingungen wissenschaftlicher
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nend, bietet die neuere Wissenschaftsgeschichte analytische Instrumente an, mit deren Hilfe man besser zu verstehen vermag, wie und warum sich bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse, Methoden und Theorien durchsetzen – und andere eben nicht. Auch für die Historiographiegeschichte gilt es folglich anzuerkennen, dass die Werke einzelner Historikerinnen und Historiker nicht schon aufgrund ihrer präsumtiv höheren wissenschaftlichen Qualität Anerkennung finden; vielmehr bedarf es zudem der Bereitschaft anerkannter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, diesen Werken eine hohe wissenschaftliche Qualität und ihren Autorinnen und Autoren eine entsprechende Reputation zuzuschreiben.22 Eine moderne HistoriographiegeInnovation. Kassel 2012 (= Studien des Aachener Kompetenzzentrums Wissenschaftsgeschichte 13), S. 13 – 18, hier S. 14. 22 Für die deutsche Geschichtswissenschaft ist in diesem Zusammenhang auf die Dissertation von Wolfgang Weber hinzuweisen. In dieser Arbeit hat er zu zeigen gesucht, dass sich der Historismus als Forschungsparadigma insbesondere deshalb durchgesetzt und so lange gehalten habe, weil seine Begründer und deren frühe Anhänger wichtige Positionen im Wissenschaftsbetrieb zu besetzen vermocht und diese an ihre Schüler weitergegeben hätten; vgl. Wolfgang Weber: Priester der Clio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zu Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800 – 1970. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1987; vgl. auch den die dortigen Ergebnisse summierenden Aufsatz von Weber: Die deutschen Ordinarien für Geschichte und ihre Wissenschaft. Ein historisch-wissenschaftssoziologischer Beitrag zur Erforschung des Historismus. In: Wilhelm Heinz Schröder (Hrsg.): Lebenslauf und Gesellschaft. Zum Einsatz von kollektiven Biographien in der historischen Sozialforschung. Stuttgart 1985, S. 114 – 146. Diese Studie hat im Fach nicht nur Beifall gefunden, ja ist teilweise überkritisch aufgenommen worden. In einer moderaten, auch die Verdienste der Arbeit würdigenden Kritik hat Ernst Schulin unter anderem geltend gemacht, dass die Analyse der „Verflechtung der Historiker“ nicht hinreiche, um die postulierte Protektion jeweils auch wirklich nachzuweisen, und er bedauert, dass Weber die späteren Gegensätze und Kontroversen unter den „Gründervätern“ verharmlose; vgl. Schulins Besprechung der Dissertation Webers in der Historischen Zeitschrift 242 (1986), S. 111 – 113, hier S. 112. Mir scheinen, teilweise in Anlehnung an Schulins Kritik, vorrangig zwei methodische Aspekte problematisch: Zum einen bedenkt Weber nicht hinreichend – vor allem: nicht hinreichend grundsätzlich – die Grenzen der Reichweite seines Erklärungsansatzes, will er doch die präsumtive Stabilität der historiographischen Vorstellungen und Prinzipien durch die Aufdeckung generationenübergreifender Netzwerke erklären; damit aber analysiert er nur die Instrumente, belegt aber noch nicht ihre Wirkung. Zum anderen scheint er mir mit einer unzutreffenden Vorstellung vom Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Lehrer und Schüler an seine Studie herangegangen zu sein. Denn welcher Schüler, welche Schülerin findet seine oder ihre wissenschaftliche Erfüllung in der bloßen Weitergabe, gar: Reproduktion des Gelernten, Gesehenen und Erfahrenen? Ist nicht davon auszugehen, dass jeder junge Wissenschaftler und jede junge Wissenschaftlerin bei aller Wertschätzung für den Lehrer, ja vielleicht gerade wegen dieser Wertschätzung, eine eigene wissenschaftliche Leistung erbringen, eine eigene „Duftmarke“ setzen will? Natürlich bleiben – bei einem Verhältnis des Respekts – Anerkennung und Loyalität erhalten; und gewiss spielen neben den vertikalen auch horizontale Loyalitäten, etwa gegenüber Mit-Doktoranden eine Rolle, aber die Beharrungskraft einer einheitlichen wissenschaftlichen Konzeption, die der Historismus nach Weber (gewesen) sei, lässt sich wohl kaum alleine durch die soziale Vernetzung der Ordinarien für Geschichte erklären. Die Veränderungen in der Geschichtsschreibung finden durch das Modell Webers erst recht keine Erklärung. Diese Kritik soll nicht das große Verdienst der Arbeit Webers schmälern, der auf die Bedeutung der sozialen Verflechtung für die Zuerkennung
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schichte, die mehr sein will als eine enggeführte ideen- und geistesgeschichtliche Höhenkammerzählung, wird mithin die Professionalisierungsprozesse im Fach, ferner die Einbindung ihrer Protagonisten in die entsprechenden Netzwerke und Schulzusammenhänge, wird auch einen bestimmten Habitus sowie weitere Prüfsteine der „Zugehörigkeit“ zur Zunft der Historiker und deren Schulen wie etwa die Wahl des „richtigen“ Themas, der „richtigen“ Diktion und ggf. sogar die „richtige“ politische Einstellung angemessen zu berücksichtigen haben. Hier nun, bei Reumont, geht es um eine bislang kaum erkannte Konsequenz der Professionalisierung und damit auch der Schul- und Netzwerkbildung in unserem Fach: Es geht um einen Historiker, dem im Gegenzug zur Ausbildung historiographischer Schulen die wissenschaftliche Anerkennung entzogen wurde. Am Beispiel Reumonts kann beobachtet werden, wie ein Historiker allmählich aus der Geschichtswissenschaft hinausgeschrieben, die Lektüre seiner Schriften für verzichtbar und er selbst zum Gestrigen erklärt wurde. Die historischen Schriften Reumonts sind nach alledem tatsächlich „veraltet“, aber doch in einem ganz anderen Sinne: Sie haben ihren Kontext, ihren historischen Ort, verloren und sind dabei unbemerkt von Traditionsschriften (Historiographie) zu Überrestquellen geworden. Deshalb müssen sie nun auch entsprechend behandelt, nämlich neu gelesen, interpretiert und eingeordnet – kontextualisiert – werden.23 Das wiederum ist, soviel sei hier vorweggenommen, ein lohnendes Vorhaben; jedenfalls für die Diplomatenschrift gilt das. Liest man sie heute neu, erlebt man Erstaunliches: Sie ist längst nicht so verstaubt, wie nach den Verdikten der Forschung befürchtet werden musste. Als ein Stück früher Diplomatiegeschichtsschreibung, die auf die Bedeutung des zwischenstaatlichen Verkehrs als Kommunikation und Wissensvermittlung aufmerksam macht, ist sie sogar erstaunlich modern. Und als eine eigenständige Stellungnahme eines deutschen Katholiken zur politischen Ordnung Italiens am Vorabend der italienischen Einigungskriege kann sie zudem hohes zeitgeschichtliches Interesse beanspruchen. Sie ist vielleicht die am meisten unterschätzte Schrift Reumonts und verdiente eine umfassende Einordnung sowohl in ihre Entstehungszeit und das gesamte Reumontsche Œuvre als auch in die Geschichte der Geschichtsschreibung, weiterhin eine Einordnung in die Geschichte der kulturellen Aneignung Italiens und der Renaissance im Deutschland des 19. Jahrhunderts. wissenschaftlicher Reputation in der Geschichtswissenschaft aufmerksam gemacht und damit die deutsche Historiographiegeschichte entscheidend befruchtet hat. 23 Die Erklärung für das Phänomen, dass die historiographischen Schriften des 19. Jahrhunderts, die nicht kontinuierlich in der Historiographiegeschichte präsent geblieben sind, eben durch ihr Vergessenwerden allmählich zu „Überresten“ wurden, verdanke ich meinem Aachener Kollegen Armin Heinen. Gerne statte ich ihm an dieser Stelle meinen herzlichen Dank dafür ab, dass er sich immer wieder Zeit nahm, um mit mir diese – für eine Frühneuzeitlerin auf den ersten Blick ungewohnten – Befunde zu diskutieren; er machte mich auf das Buch von Daniel Fulda aufmerksam und erinnerte mich an die Einschlägigkeit der Arbeiten von Wolfgang Weber, wie er überhaupt durch sein immerwährendes Interesse an meinen Fragen zum Gelingen dieser Studie erheblich beitrug.
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Diesem Anspruch kann die vorliegende Studie allerdings nur teilweise nachkommen. Zum einen beschränkt sie sich auf eine Analyse der Diplomatenschrift – bezieht also weder andere Werke Reumonts ein noch die unmittelbare Resonanz von Zeitgenossen. Zum anderen konzentriert sie sich auf Reumonts Einstellung gegenüber dem Risorgimento in den 1850er Jahren – berücksichtigt also nur am Rande seine früheren und späteren Positionen dazu oder seine Stellungnahmen zu anderen politischen Fragen der Zeit. Zum dritten beobachtet sie unter historiographiegeschichtlicher Perspektive nur diejenigen Entwicklungen und Äußerungen, die Reumont allmählich aus der Geschichtswissenschaft ausschlossen und zum bloßen Kulturvermittler degradierten – sie bietet eine historiographiegeschichtliche Einordnung Reumonts also nur unter diesem Aspekt. Schon durch die Verknüpfung dieser drei Zugänge freilich vermag die vorliegende Studie einen Ansatz zur Diskussion zu stellen, mit dem die historischen Arbeiten Reumonts in Zukunft analysiert und verstanden werden können. Aus diesen einleitenden Befunden und Überlegungen ergibt sich das Programm des Aufsatzes, nämlich die Diskussion der Diplomatenschrift Reumonts unter den folgenden drei Gesichtspunkten: Das erste Kapitel stellt die Reumontschen Italienischen Diplomaten und diplomatischen Verhältnisse in den Kontext der Diplomatiegeschichtsschreibung und untersucht die Rezeption und die Qualitäten der Schrift. Im zweiten Kapitel wird die Diplomatenschrift im historischen Kontext ihrer Zeit diskutiert; dabei geht es um die politische Botschaft, mit der sich Reumont mitten in den Debatten der 1850er Jahre über Risorgimento und italienischen Nationalstaat politisch positionierte – auch mit dieser Schrift. Weil dem vorliegenden Beitrag aber, wie dargelegt, nicht einfach an der Ehrenrettung eines zu Unrecht vergessenen Historikers gelegen ist, sondern ebenso daran, die Bedingungen darzustellen, unter denen Reumont „vergessen“ wurde, nimmt das dritte Kapitel den Zusammenhang zwischen Werk und Netzwerk Reumonts in den Blick und stellt die Konstruktion des Historikers Reumont zum Gestrigen in den Kontext der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft. Der vorliegende Aufsatz versteht sich mithin auch als ein Beitrag zur Historiographiegeschichte und deren Methoden. II. Der lange Schatten Leopold von Rankes – Reumonts Diplomatenschrift im Kontext und Urteil der Diplomatiegeschichtsschreibung Was Gregorovius für die Geschichte der Stadt Rom Reumonts, ist Ranke für die Diplomatenschrift: Im Schatten des Berliner Professors und dessen mächtigen Œuvres fanden und finden die Reumontschen Italienischen Diplomaten und diplomatischen Verhältnisse kaum einen Funken Anerkennung – jedenfalls in Deutschland ist das so. Anders hingegen in den USA: Kein geringerer als Garrett Mattingly, der Nestor der Historiographie der Renaissancediplomatie, sah 1955 die Diplomatenschrift Reumonts in einer Schlüsselstellung, als Wegbereiter nämlich einer auf die Institutionen des Gesandtschaftswesens gerichteten Geschichte der Renaissancediploma-
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tie.24 Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Vor allem aber: Worin bestehen überhaupt Qualitäten der Schrift Reumonts, ihre darstellerischen und thematischen Besonderheiten, worin ggf. Defizite? Und vor allem: welcher Maßstab soll hier angelegt werden? Die Interpretation der Diplomatenschrift aus heutiger Sicht und, vorangestellt, das Urteil der Diplomatiegeschichtsschreibung über sie sind also Gegenstand dieses Kapitels. 1. „Heerstraßen“, „Seitenpfade“ und ein „Freundesgruß“ an Ranke – die Widmung und die Anlage der Diplomatenschrift Reumonts Daran, dass seine Italienischen Diplomaten und diplomatischen Verhältnisse vom Zeitpunkt ihres Erscheinens an bald im ständig länger werdenden Schatten Leopold von Rankes standen, hat Reumont durch seine oft zitierte Widmung selbst einen nicht unerheblichen Anteil. Seine Diplomatenschrift ist 1853 zusammen mit vier weiteren Aufsätzen zur Geschichte Italiens im ersten Band seiner Beiträge zur Italienischen Geschichte erschienen und zählt mit 270 Seiten wohl zu den umfangreicheren aus Reumonts Feder. Vier Jahre später publizierte er sie auch auf Italienisch, als Monographie und mit einem eigenen Vorwort sowie einem umfänglichen Quellenanhang versehen, sonst aber wohl unverändert.25 Die deutsche Fassung ist mit den anderen in den Beiträgen erschienenen Aufsätzen Leopold von Ranke zugeeignet: Reumont erinnert in der Widmung, einem in persönlicher Anrede gehaltenen „Freundesgruß“ aus Florenz am Palmsonntag 1853, an das erste Treffen beider im Frühling 1830 in Florenz, als er, eben 22-jährig, drei Monate lang die Gelegenheit zum täglichen Austausch mit dem schon anerkannten Gelehrten erhielt; Reumont hatte damals, erst kürzlich aus Aachen gekommen, seine erste Stelle bei dem preußischen Gesandten Friedrich von Martens inne, Ranke recherchierte im Archiv der Medici für seine Römischen Päpste.26 Seit dieser ersten 24 Garrett Mattingly: Renaissance Diplomacy. 2. Aufl., Baltimore 1964 (zuerst London 1955). 25 Alfredo Reumont: Della diplomazia italiana dal secolo XIII al XVI. Florenz 1857. In der „Prefazione“ betont Reumont gleich eingangs, dass es sich bei seinem Werk um eine Probe handle und nicht um eine umfassende italienische Diplomatiegeschichte, aber er wolle doch die Bedingungen, Formen und Entwicklungen der internationalen Beziehungen Italiens erläutern, „chiarire le condizioni, le forme, e lo sviluppo delle relazioni internazionali presso gli Italiani“ (S. V). Unter Hinweis auf verschiedene Autoritäten des Völker- und Internationalen Rechts betont er die wegweisenden Leistungen der Italiener in der Zeit der Renaissance und dankt den Verlegern Barbèra und Bianchi wie auch der Unterstützung Albéris – den die Frühneuzeitforschung als den großen Bearbeiter der venezianischen Depeschen kennt – bei der Publikation dieses Werks. Einen Hinweis darauf indessen, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Deutschen handelt – oder doch darauf, dass die Schrift auch auf Deutsch vorliegt –, scheint Reumont unterlassen zu haben. 26 Vgl. dazu Clemens 2006 (wie Anm. 5), S. 215 und Jedin 1973 (wie Anm. 2), S. 99. Alle Stationen der diplomatischen Karriere Reumonts jetzt verlässlich bei Dietmar Grypa: Der Diplomatische Dienst des Königreichs Preußen (1815 – 1866). Institutioneller Aufbau und
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Begegnung, so ist die Dedikation zu interpretieren, hat sich Reumont bei seinen eigenen Arbeiten stets an Ranke zu orientieren gesucht: „Ihre Schriften wirkten auf mich in einer Weise die ich nicht vergessen werde“ (S. VII).27 Dabei genügt Reumont natürlich allen Anforderungen einer Eloge, wenn er mit der gebotenen Devotion die Dignitätsverhältnisse klarstellt: „Sie haben Heerstraßen geebnet, ich bin auf Seitenpfaden gewandert“ (S. VIII). Er betont damit aber zugleich den geringeren Erklärungsanspruch seiner in dem Buch versammelten Schriften; und er tut dies auch, wenn er sie als „Sammlung geschichtlicher Versuche“ und „Früchte begrenzter Forschung“ bezeichnet, die „meist ins Fach der Detailzeichnungen“ gehörten (ebd.). Keineswegs ohne Selbstbewusstsein indessen setzt er doch die Wertschätzung Rankes für seine Arbeiten voraus, die vielleicht „der Beachtung nicht unwerth befunden werden“, und man vermeint sich in die frühneuzeitliche Res Publica Literaria versetzt, wenn Reumont hofft, die Wertschätzung werde „auch bei abweichenden politischen oder religiösen Meinungen“ bestehen bleiben. Zum Abschluss äußert Reumont aber nochmals Selbstbewusstsein, wenn er schließt mit dem „Freundesgruß aus einem Lande wo Ihr Name mit Verehrung genannt wird“ (S. IX), denn er ist es, Alfred von Reumont, der all diese Verehrer Rankes kennt und unter den führenden Historikern Italiens gut vernetzt ist. Ein wenig von dem Glanze Rankes strahlt damit auch auf ihn, Reumont, während Reumont ebenfalls zum Ruhme Rankes beizutragen vermag und sich dadurch seinerseits ins rechte Licht setzt. Der Aufsatz selbst beginnt mit einer Einleitung („Einleitendes“, S. 1/4 – 11), in der Reumont die historische Bedeutung des Gesandtenwesens skizziert und seine wichtigsten Prämissen, Einsichten und Standpunkte zu dem Thema vorstellt. Dann folgen vier größere Kapitel, die überschrieben sind „Florentiner“, „Venezianer“, „Rom“ und „Einrichtung der Missionen und Geschäftsgang“. An die Darstellung schließen sich zwei „Beilagen“ an: zum einen eine „Bibliographische Notiz“, bei der es sich um eine kommentierte Bibliographie der gedruckten und archivalischen Quellen zur Geschichte der Renaissancediplomatie handelt, zum anderen um ein „Memorial“, nämlich eine Instruktion von Machiavellis Hand für einen Florentiner Gesandten aus dem Jahre 1506. Den Abschluss bilden die 44 Anmerkungen zum Text, ganz überwiegend Nachweise der Quellenzitate. Wie schon der Untertitel sagt, reicht die Darstellung nicht bis in die Gegenwart Reumonts, sondern hat ihren Schwerpunkt in der Zeit vom 13. bis ins 16. Jahrhundert; die fehlenden zwei Jahrhunderte werden in den einzelnen Abschnitten lediglich in Ausblicken skizziert. Das Interesse Reumonts konzentriert sich auf die italienische Kultur der Renaissance, die durch den Zug Karls VIII. über die Alpen 1494 einen ersten Stoß erhielt und nach dem Sacco di Roma 1527, der Plünderung der Stadt Rom durch meuternde Truppen Georgs von Frundsberg, nicht mehr zu altem soziale Zusammensetzung. Berlin 2008 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 37). 27 Reumont trennt Relativsätze zumeist nicht durch Kommata ab; diese Eigenart wird in den Zitaten beibehalten. Die Zitatnachweise aus den Italienischen Diplomaten und diplomatischen Verhältnissen werden hier wie im Folgenden direkt im Haupttext geführt.
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Glanz zurückfand.28 Mit dem Jahr 1527 enden die Erzählstränge Reumonts in dieser Schrift – danach ist nur noch Ausblick: Mit dem Sacco endet für Reumont das Thema Italienische Diplomaten und diplomatische Verhältnisse. Auf die neunseitige Einleitung folgt zunächst die Darstellung des Gesandtschaftswesens dreier aufgrund ihrer wichtigen Rolle in der Kultur- und politischen Geschichte Italiens ausgewählter Staaten, nämlich der Republiken Florenz und Venedig sowie Roms. Dass Reumont aber vor allem die Gesandten als Personen interessieren, zeigen schon die Kapitelüberschriften: Diese lauten „Florentiner“ (S. 12 – 66) und „Venezianer“ (S. 67 – 116), also nicht: Florenz und Venedig. Für „Rom“ (S. 117 – 138) gilt hingegen anderes: Während Reumont in florentinischen und venezianischen Diensten jeweils die Söhne der Stadt sieht, rekrutiere Rom sein Personal überall, entsprechend der universalen Stellung des Papsttums. Bilden diese drei Kapitel vom Umfang her ungefähr die erste Hälfte des Aufsatzes, so macht das vierte Kapitel „Einrichtung der Missionen und Geschäftsgang“ (S. 139 – 244, mit Unterkapiteln) die zweite Hälfte aus. Bei dem Begriff „Einrichtung“ ist freilich nicht an die staatliche Seite der Diplomatie zu denken, was auch vom Englischen, eben von Mattinglys „diplomatic institutions“ her, naheliegen mag, sondern Reumont thematisiert das, was man heute systematische Aspekte des Gesandtschaftswesens nennen würde; in der italienischen Fassung ist denn auch zutreffender von der „Ordnung der Gesandtschaften“, von „ordine delle missioni“, die Rede. In diesem Kapitel breitet Reumont sein reiches, aus den Quellen geschöpftes Wissen aus: über die Instruktionen und Kreditive, über die Reisen der Gesandten, deren Kontakt mit dem Heimathof durch Depeschen und Kuriere, über die Kunst des Berichtens, das Geschenkwesen, das Zeremoniell, die finanziellen Verhältnisse und, ihm gewiss auch durch eigene Tätigkeit in den Blick gekommen, die Gesandtschaftssekretäre. Auf dieses vierte Kapitel bezog sich Garrett Mattingly, als er 1955 die wegweisende Bedeutung der Diplomatenschrift Reumonts für die Erforschung der Einrichtungen im Gesandtschaftswesen hervorhob. 2. „The trail was broken […] by Reumont’s essay“ – Mattinglys Lob für Reumonts Diplomatenschrift Auf Mattinglys Renaissance Diplomacy griff man in der Geschichtswissenschaft lange zurück, mindestens bis in die 1980er Jahre, wollte man sich über die Entstehung des ständigen Gesandtschaftswesens informieren. Mattingly gehört zu denjenigen Autoritäten, die den für die klassische Diplomatiegeschichte so wichtigen Zusammenhang zwischen der Institutionalisierung der diplomatischen Beziehungen in der italienischen Staatenwelt des 15. und frühen 16. Jahrhunderts und der Einrichtung staatlicher Verwaltungsbehörden explizit herausarbeiteten, so dass seither die Etablierung ständiger Gesandter als Teil der modernen Staatsbildung begriffen wer-
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Vgl. Reumont 1853 (wie Anm. 1), S. 127/131.
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den konnte.29 Daneben schärfte Mattingly den Blick für die strukturellen Merkmale der Renaissancediplomatie, weit über die Einsicht in den enormen Quellenwert der diplomatischen Relationen der Venezianer hinaus. Forschungsgeschichtlich sah er sich durchaus in der Tradition Reumonts: „The trail was broken for the history of diplomatic institutions in the Renaissance by Alfred von Reumont’s essay“.30 Seit dem Ende der 1980er Jahre gelten die Forschungsergebnisse Mattinglys als gesichertes Wissen, zusammen mit der Einsicht in weitere Prozesse des Wandels, vor allem in die Bedeutung der Schriftlichkeit und der Intensivierung der Kommunikation überhaupt.31 Und als Wegbereiter für eine Geschichte der diplomatischen Einrichtungen sieht Mattingly nicht, wie doch in der deutschen Historiographie üblich, Leopold von Ranke, sondern die Diplomatenschrift des in Deutschland vergessenen Historikers Alfred von Reumont. 3. „[…] eine viel benützte Fundgrube“ – Reumonts Diplomatenschrift im Urteil der deutschen Diplomatiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts Auf das vierte Kapitel der Reumontschen Diplomatenschrift beriefen sich auch Willy Andreas und Fritz Ernst, die etwa ein Jahrzehnt früher als Mattingly wichtige Studien zur Entstehung des ständigen Gesandtschaftswesens und zur Diplomatie an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert vorlegten.32 Anders aber als dem Amerikaner Mattingly gilt den beiden deutschen Historikern Leopold von Ranke als der entscheidende Wegbereiter der Diplomatiegeschichte der Renaissance. Gewiss sind Andreas und Ernst mit der Schrift Reumonts bis ins Detail wohlvertraut – für Willy Andreas gilt das in besonderem Maße –, und sie billigen ihr durchaus Verdienste zu, aber „angebahnt“ wurde die „wissenschaftliche Beschäftigung […] mit der italienischen Renaissancezeit“ in ihren Augen von Ranke.33 Zwar äußern sich weder Andreas noch 29 Vgl. dazu Martin Lunitz: Die ständigen Gesandten Karls V. in Frankreich. Zum Strukturwandel des Gesandtschaftswesens im 16. Jahrhundert. In: Horst Rabe (Hrsg.): Karl V. – Politik und politisches System. Berichte und Studien aus der Arbeit an der Politischen Korrespondenz des Kaisers. Konstanz 1996, S. 117 – 135, hier S. 117 f., sowie die Dissertation von Martin Lunitz: Diplomatie und Diplomaten im 16. Jahrhundert. Studien zu den ständigen Gesandten Kaiser Karls V. in Frankreich. Konstanz 1988. 30 Mattingly 1964 (wie Anm. 24), S. 257. 31 Vgl. Horst Rabe: Deutsche Geschichte 1500 – 1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung. München 1991, S. 25 f. 32 Willy Andreas: Staatskunst und Diplomatie der Venezianer im Spiegel ihrer Gesandtenberichte. Leipzig 1948, S. 18 f. u. ö. Der erste Teil, „Italien und die Anfänge der neuzeitlichen Diplomatie“, S. 13 – 69, ist zuerst erschienen in der Historischen Zeitschrift 167 (1943), S. 259 – 284/476 – 496; Fritz Ernst: Über Gesandtschaftswesen und Diplomatie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Archiv für Kulturgeschichte 33 (1951), S. 64 – 95, hier S. 67. 33 „Daß Italien die Heimat der neuzeitlichen Diplomatie ist, daß es in der Ausbildung ihrer Einrichtung, namentlich der Kunst der Berichterstattung den anderen Staaten vorangeschritten ist, steht seit einem Jahrhundert fest und dürfte Gemeingut der Historiker aller Länder geworden sein. Die von Ranke angebahnte wissenschaftliche Beschäftigung und zunehmende
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Ernst explizit despektierlich über Reumont, das Verhältnis zwischen Ranke und Reumont sehen sie jedoch ganz im Sinne der Reumontschen Metapher von den „Heerstraßen“ und den „Seitenpfaden“; Andreas zitiert die Stelle sogar – und kann auf diese Weise seine Höherschätzung Rankes überdies Reumont selbst in den Mund legen.34 Hier lastet der Schatten Rankes schon schwer auf Reumonts Schrift: Für den Aachener bleibt Platz nur in der Anmerkung, oder er erfährt jene eigenartig herablassende, aber freundliche Verniedlichung, mit der man ihn „in seiner liebenswürdigen und anregenden Weise auf ,Seitenpfaden‘“ wandern sehen35 und seine Diplomatenschrift als eine „auch heute noch […] viel benützte Fundgrube“36 einordnen soll. Ähnliche Einschätzungen dürften sich auch bei den anderen Klassikern der politischen und Diplomatiegeschichte finden. Karl Brandi etwa empfiehlt in seiner Biographie über Karl V., Reumonts Schrift „immer noch“ zu Rate zu ziehen, und ordnet sie ganz ähnlich ein wie Fritz Ernst, nämlich als „die schlichten, auf gründlicher Kenntnis der Personen beruhenden Studien“.37 Mit der Entdeckung interessanter Details bei der Lektüre rechneten wichtige Historiker also auch hundert Jahre nach Erscheinen der Diplomatenschrift durchaus noch, Einsichten von allgemeiner und größerer Tragweite hingegen erwarteten sie nicht. Worin sie aber sachliche Fehler, Irrtümer oder ein anderes, möglicherweise grundsätzliches Ungenügen der Reumontschen Schrift sahen, erläutert keiner der Historiker. Vielmehr schreiben sie Ranke die höhere und für die Erforschung der Renaissancediplomatie entscheidende wissenschaftliche Bedeutung zu, ohne auch nur ein einziges Argument aus seinen Publikationen anzuführen. Dieser Befund und das ganz andere Urteil des Amerikaners Mattingly erlauben den Schluss, dass hier eine für die These der vorliegenden Studie entscheidende Schnittstelle von Werk und Netzwerk Reumonts markiert ist; diese Schnittstelle soll im dritten Abschnitt genauer in den Blick genommen werden. Hier muss als Zwischenergebnis genügen, dass einerseits Reumonts Diplomatenschrift um 1950 unter den Spezialisten noch gut bekannt war und auf sie nicht nur pflichtschuldig, sondern in der Überzeugung von ihrer Relevanz hingewiesen wurde, dass aber andererseits auch diese Spezialisten nicht mitteilten, worin sie Verdienste und Defizite der Schrift sahen. In den 1970er und 1980er Jahren wurden Reumonts Italienische Diplomaten und diplomatische Verhältnisse dann gar nicht mehr wissenschaftlich rezipiert, offenbar Vertrautheit der europäischen Forscherwelt mit der italienischen Renaissancezeit öffnete auch für diese Seite des öffentlichen Lebens den Blick“, so Andreas 1948 (wie Anm. 32), S. 18 f., und er führt dann in einer Anmerkung aus: „In erster Linie ist hier zu nennen die bekannte Abhandlung von Reumont“, die er dann sowohl als deutsche wie italienische Version zitiert. 34 Andreas 1948 (wie Anm. 32), S. 78. 35 Ebd. 36 Reumont „ging weiter zurück als Ranke, hat aber auch keine Geschichte der Institutionen zu schreiben versucht. Trotzdem stellt seine Arbeit auch heute noch eine viel benützte Fundgrube dar.“ Ernst 1951 (wie Anm. 32), S. 67. 37 Karl Brandi: Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, Bd. 2. Quellen und Erörterungen. München 1941, S. 135.
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auch in den USA nicht; der Titel wurde zwar immer noch als Autorität im Literaturverzeichnis genannt38 – auch das ist ja eine Form der Wertschätzung, zumal viele der Informationen und Einsichten, die Reumont vermittelt, längst communis opinio der Forschung geworden waren –, eine Auseinandersetzung mit dem Text selbst aber, mit dem Zugang Reumonts zur Geschichte der Diplomatie und der Diplomaten wie überhaupt mit seiner Art, Geschichte zu schreiben, fand schon damals nicht mehr statt. Inzwischen wird nicht einmal mehr der Titel genannt; die Schrift ist vergessen. 4. Und heute? Reumonts Diplomatenschrift als Kulturgeschichte der Diplomatie – zu Reumonts Art und Weise, Diplomatiegeschichte zu schreiben Ist Reumonts Diplomatenschrift aber nicht zu Recht vergessen? Warum sollte man sie heute noch lesen? Weil sie, wie nun gezeigt werden soll, auf eine verschüttete Tradition von Diplomatiegeschichtsschreibung hinweist, die von eigenem wissenschaftlichen Interesse ist, gerade für die „neue Diplomatiegeschichte“. Allerdings löst die erste Lektüre wenig Begeisterung aus: Die Schrift enthält sehr viele und sehr lange Zitate aus Gesandtenberichten, darüber hinaus ausführliche Paraphrasen. Zudem schweift Reumont gerne detailreich ab und springt häufig; er argumentiert oftmals nicht zu Ende, liefert Erklärungen nicht selten erst später nach und reißt oftmals einen Gedanken an, ohne dass man immer gleich erführe, zu welchem Zweck nun dieser venezianische Gesandte erwähnt, jene Episode über Cellini erzählt oder noch eine Information über Pescara und Dante eingestreut wird. So fürchtet man eine Zeitlang, gleichwohl unverdrossen die Lektüre fortsetzend, eine bloß antiquarische, rein positivistische Darstellung vor sich zu haben, deren Autor nicht nur auf eine Botschaft, sondern überhaupt auf jede eigene Deutung verzichtet. Bald aber, wenn man sich einlässt, versteht man, wie und wieso diese Schrift um 1850 funktionierte. Man sieht ihre Besonderheiten, die dem zeitgenössischen Publikum reizvoll erschienen sein dürften, und erkennt zugleich, warum die deutsche Geschichtswissenschaft bei der Einordnung der Schrift bis heute so eigenartig ratlos wirkt. Bei der Interpretation kommt man denn auch allein mit Kategorien wie „modern“, „noch Goethezeit“ oder „noch nicht Historismus“ – mit dem Versuch also einer bloß chronologischen Einordnung in eine vermutete lineare Entwicklung – nicht weiter. Vielmehr geht ja die vorliegende Studie von einer mehrstimmigen Historiographie noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus, die von neueren Forschungen, insbesondere der „Geschichte als Literatur-Forschung“ bestätigt wird.39 Um der Arbeit Reu38
So bei Klaus Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden. Bonn 1976 und Lunitz 1988 (wie Anm. 29). 39 Dieser Begriff bei Fulda 2002 (wie Anm. 16), S. 300; zur Sache natürlich auch Fulda 1996 (wie Anm. 19). Zu nennen sind auch die Arbeiten von Franziska Metzger, etwa ihre
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monts in dieser mehrsträngigen Entwicklung ein Profil zu geben, hat man zunächst den Anspruch ernst zu nehmen, den Reumont selbst in seiner Schrift formuliert, um dann zu analysieren, wie er diesen Anspruch umsetzt. Dabei können im Folgenden allerdings nur die beiden wichtigsten Besonderheiten genauer vorgestellt werden: zum einen die Bedeutung der Gesandtenberichte für die narrative Struktur der Diplomatenschrift, zum anderen deren thematische Schwerpunkte. In einem dritten Abschnitt wird dann erörtert, für welches Publikum die Schrift vermutlich gedacht war. Reumont schreibt keine Geschichte der italienischen Renaissancediplomatie, sondern er erzählt Geschichten von italienischen Renaissancediplomaten. Dabei entsteht ein Neben- und Ineinander der beiden Hauptformen geschichtlicher Narration, das zudem eng verknüpft ist mit Reumonts Verständnis von den Gesandtenberichten als historischen Erzählungen. Diese Beobachtungen, die auf eine erstaunliche Darstellungskunst Reumonts schließen lassen, sind unerwartet und etwas ganz anderes, als nach den Forschungsverdikten zu vermuten war. Von grundsätzlicher Bedeutung ist, dass die Einleitung ganz anderen Regeln folgt, ja von ganz anderer Art ist als die einzelnen Kapitel: Die Einleitung liefert eine Erläuterung der Konzeption der Diplomatenschrift. Mit ihren gewichtenden und ordnenden – strukturierenden – Bemerkungen ist die Einleitung „Geschichte“. Die einzelnen Kapitel dagegen sind „Geschichten“. Innerhalb der Kapitel wiederum fällt der Unterschied auf zwischen den einführenden, einordnenden Bemerkungen – sie sind eher „Geschichte“ – und den jeweils folgenden ausführlichen Erzählungen, den „Geschichten“. Zunächst zur Einleitung. Hier ordnet Reumont sein Thema und seine Schrift historisch ein, und zwar sowohl in die Geschichte der Diplomatie als auch in die Geschichte der Diplomatiegeschichtsschreibung. Die ersten beiden Sätze seien hier zitiert, um deutlich zu machen, dass am Niveau der historischen Reflexion Reumonts und an seiner Fähigkeit, mit „Geschichte“ im Sinne des Koselleckschen Kollektivsingulars40 und der „vorausentworfenen Kohärenz“ Daniel Fuldas41 umzugehen, keine Zweifel erlaubt sind: „Der Westfälische Friede wird gewöhnlich als die Periode betrachtet, in welcher die Geschichte der Diplomatie, der Wissenschaft wie der Praxis nach, eine größere Bedeutung für die politische Geschichte im Allgemeinen erlangt hat. Von Manchen wird wol noch die Zeit Heinrichs IV von Frankreich eingeschlossen : in selteneren Fällen geht man auf Carl V zurück. Was darüber hinaus liegt, hat nicht mehr als antiquarisches Interesse“ (S. 3).
Einführung: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert. Bern/ Stuttgart/Wien 2011. 40 Nach wie vor lesenswert und inspirierend der Art. „Geschichte, Historie“. In: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (1975), S. 593 – 717, bes. die Einleitung von Reinhart Koselleck (S. 593 – 595) und die Abschnitte IV. „Historisches Denken in der frühen Neuzeit“ von Horst Günther (S. 625 – 647) und V.1.a) „Die Entstehung des Kollektivsingulars“ (S. 647 – 653). 41 Fulda 1996 (wie Anm. 19), S. 278 u. ö.
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Schon diese wenigen Sätze machen deutlich, dass Reumont souverän über die erforderlichen historischen Kenntnisse, über ein Verständnis von den entsprechenden Begriffen und über ein gerüttelt Maß an Forschungskritik verfügt, um Diplomatie„Geschichte“ schreiben zu können. Er teilt jenes historische Denken, „daß alle Vergangenheit prozeßhaft mit der Gegenwart verbunden und in eine Zukunft führen sieht“.42 An die zitierten einleitenden Sätze schließen sich Ausführungen zur Völkerrechtsgeschichte an; dann unternimmt Reumont einen kleinen Ausflug in die Antike – in die Jahrhunderte, „die wir das Alterthum nennen“ (S. 4) –, betont weiterhin, dass „die Sitte, Unterhändler und Bevollmächtigte zu senden“, zu allen Zeiten bestanden habe, aber „stabile Gesandtschaften“ erst mit der Zeit aufgekommen seien, „als die gegenseitigen Berührungen durch Verträge geregelter wurden und die außerordentlichen Missionen einander so rasch folgten, daß die Belassung ordentlicher Vertreter durch das praktische Bedürfnis an die Hand gegeben ward. Erst mit dem 16. Jahrhundert“, so fährt Reumont zutreffend fort, „sind die stehenden Gesandtschaften eingeführt worden“ (S. 5 f.). Über einige Ausführungen zu den Besonderheiten der venezianischen Gesandtenposten und zur Rekrutierung des diplomatischen Personals gelangt Reumont dann zu seinem Thema im engeren Sinne, und zwar mit einem Satz, der weitere Belege dafür liefert, dass seine Historiographie vielen der aus dem Geschichtsbegriff abgeleiteten „Modernitätskriterien“, wie sie Fulda formuliert hat,43 entspricht: „Wie in der Bildungsgeschichte des Mittelalters Italien den ersten Platz einnimmt, so bietet auch in dem die internationalen Beziehungen umfassenden Kreise geistiger und geschäftlicher Thätigkeit kein Land vielleicht zu so fruchtbarer Betrachtung Stoff“ (S. 7 f.). Diese Bedeutung Italiens beruhe auf der „vielgestaltigen […] großartigen Regsamkeit“, die im späteren Mittelalter in Italien zu beobachten sei. Strukturierung, Erklärung und Deutung der Geschichtserzählung44 – alles das ist als Konzept vorhanden bei Reumont. Darüber hinaus wirft die geradezu selbstverständliche Verwendung des Begriffs „internationale Beziehungen“, der doch erst mit dem Ersten Weltkrieg eine größere Verbreitung fand, ein Licht von erstaunlicher Modernität auf Reumonts Schrift. Liest man dann weiter, über Venezianer, Florentiner und Rom, über „Einrichtungen der Missionen und Geschäftsgang“, dann liest man Zitate und Paraphrasen; man erfährt allerlei interessante Details, erhält aber kaum noch Erklärungen und Einordnungen. Man stellt die Diskrepanz zu dem kategorial klaren Zugriff der Einleitung fest – und will wieder verzweifeln: Bemerkenswert ist doch, dass Reumont zutreffend – und das war in den 1850er Jahren eben wirklich innovativ – die Gesichtspunk42
Fulda 2002 (wie Anm. 16), S. 300. Fulda leitet diese „Modernitätskriterien“ aus dem Geschichtsbegriff ab, wie er sich am Beginn der „Sattelzeit“ entwickelte; diese Modernitätskriterien sind: Kohärenz, Konstruktivität, Autonomisierung, Methode in ihrer konsequenten Anwendung, Wissenschaftlichkeit und, mit gewissen Einschränkungen, Reflexivität; vgl. dazu Fulda 1996 (wie Anm. 19), S. 274 – 278. 44 Dazu die Erklärung bei Fulda 2002 (wie Anm. 16), S. 307. 43
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te, die für eine Darstellung des Gesandtschaftswesens einschlägig sind, benennt und in die Überschriften schreibt; doch dann ordnet er sein Material darauf nicht konsequent und interpretierend hin, sondern breitet es aus – man ist geneigt zu sagen: er breitet es hemmungslos aus. Jedes seiner Kapitel und Unterkapitel leitet er mit einer Einordnung und mit klugen Erläuterungen ein; dann aber referiert oder paraphrasiert er Quellen, erzählt zahlreiche Details und bringt lange Quellenzitate, statt die Ergebnisse seiner Quellenlektüre zu interpretieren, einzuordnen und als Argument einzusetzen, wie man es heute für die Aufgabe des Historikers und der Historikerin hält und es die Studentinnen und Studenten lehrt. Nur mühsam entsinnt man sich der Mahnung Daniel Fuldas, nicht „später erreichte Standards zu selbstverständlich als Urteilsmaßstab“ zu nehmen.45 Zudem ärgert man sich, dass Reumont nur selten die Auswahl der zitierten oder paraphrasierten Quellen begründet, und wenn er es tut, dann verweist er nicht etwa auf deren typische Merkmale oder Besonderheiten, sondern betont ihre Ausführlichkeit und Anschaulichkeit. Um etwa die Entwicklung der Instruktionen als Quellengattung darzustellen, druckt Reumont ihrer mehrere hintereinander ab, sie nur durch knappste Kommentare miteinander verbindend.46 Auch der „Schluß“ (S. 234 – 244) ist ganz überwiegend keine wirkliche Summe der Einsichten, sondern ein Angebot zu weiteren Detailforschungen. Also doch „Fundgrube“? Wieder empfiehlt es sich, Reumonts eigenen Anspruch als Maßstab ernst zu nehmen und in die Einleitung zu schauen: Wie Reumont dort betont, wollte er keine Diplomatiegeschichte Italiens schreiben, denn er sah die Voraussetzung dafür, die Existenz einer „politischen Geschichte Italiens“, nicht als gegeben an.47 Was er jedoch meinte leisten zu können – „der Zweck der vorliegenden Blätter ist aber ein anderer und beschränkter“ (S. 12) –, war das Vorhaben, dem Publikum „die Formen des Gesandtschaftswesens in den beiden letzten zum Mittelalter gehörenden Jahrhunderten wie im Übergange zu der sogenannten neuen Zeit […] [zu] erläutern“ (S. 11 f.), also das Funktionieren des Gesandtschaftswesens zu erklären und dessen Institutionen vorzustellen. 45
Fulda 1996 (wie Anm. 19), S. 345. Vgl. Reumont 1853 (wie Anm. 1), S. 143 – 161. Einführend schildert er das Thema, nennt dann wichtige Gesandte, trifft eine wichtige Feststellung, etwa: „Die Form ist immer noch äußerst einfach“ (ebd., S. 145), und dann druckt er Instruktionen aus den Jahren 1413, 1486, 1496, 1503 (für Machiavelli) vollständig ab. Die Fundorte der Quellen weist er in den Anmerkungen sorgsam nach. 47 „Eine wahre und eigentliche Geschichte der italienischen Diplomatie würde zugleich eine politische Geschichte Italiens sein. Diese Geschichte ist noch zu schreiben. Denn die bisherigen umfassenden Werke, mögen sie von Italienern oder Ausländern herrühren, haben bei allen zum Theil glänzenden Vorzügen und Verdiensten den unläugbaren Nachtheil, entweder über dem zu großen und doch hinlänglich belebten Detail keine rechte Gesammtanschauung zu gewähren, oder aber einen einseitigen und modernen politischen Standpunkt zu nehmen, daß ein Bild mit falschen Zügen und falscher Färbung entsteht.“ Reumont 1853 (wie Anm. 1), S. 10. Der interessanten Frage, auf wen sich Reumont mit dem „modernen politischen Standpunkt“ bezieht, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachgegangen werden. Möglicherweise zeichnen sich hier bereits die Konfliktlinien der Sybel-Ficker-Kontroverse ab. 46
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Bei der Umsetzung dieses Vorhabens in historische Darstellung stehen die Gesandten und ihre Berichte im Mittelpunkt, und hier ist jetzt der Ort für die „Geschichten“: Die Gesandten, über die Reumont Geschichten erzählt und deren Berichte er vorstellt, erfreuten sich schon in ihrer Zeit weniger wegen etwaigen diplomatischen Erfolgs einiger Berühmtheit, sondern waren bedeutend als Schriftsteller, Historiker, Dichter und Künstler. Vermutlich überkam Reumont sogar ein heiliger Schauer, wenn er von den verehrten Dichtern Boccaccio, Dante und Petrarca als Gesandten und von Aufträgen für Machiavelli berichten konnte. Die Erwähnung einer Gesandtschaft ist ihm oft sogar bloß der Anlass, um über den Gesandten als Dichter oder Maler und dessen literarisches, künstlerisches oder historisches Werk zu erzählen, vor allem aber, um die literarische Qualität der Relationen zu preisen.48 Diese Relationen aber – und hier ist es wichtig, sich die konkrete historiographiegeschichtliche Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen – wurden um 1850 gerade erst umfassend für die historische Forschung entdeckt. Und an dieser Entdeckung war Reumont beteiligt. Seine große Mitteilungsfreude äußert sich zum einen im Anhang, in dem er eine umfassende kommentierende Bibliographie der Archivund Druckorte der Nuntiaturberichte, Dispacci und Relazioni liefert, von denen viele erst in den zurückliegenden zehn, fünfzehn Jahren erschienen oder gar aufgespürt worden waren. Zum anderen beruhen sämtliche Kapitel der Diplomatenschrift auf der profunden Kenntnis dieser Gesandtenberichte. Viele von ihnen hatte Reumont selbst in den Archiven zu Tage gefördert und brachte sie jetzt erstmals, von ihm selbst ins Deutsche übersetzt, an die Öffentlichkeit. Nicht weiter verwundern sollte daher, wie sehr er sich voller Entdeckerfreude von den Funden faszinieren ließ und von der hohen sprachlichen Kunst der Berichte begeistert war – gerade er, der anders als viele der deutschen Professoren-Kollegen, denen er Zugang zu den Archiven verschaffte und die des Italienischen gerade so weit mächtig waren, dass sie die Texte eben verstehen konnten, perfekt italienisch sprach und schrieb, mithin die sprachlichen und erzählerischen Kunstwerke wirklich als ästhetischen Genuss empfinden konnte. Die Gesandtenberichte waren für die historische Arbeit Reumonts daher nicht einfach historische Quellen; sie waren aus seiner Sicht selbst historische Erzählungen. Konsequenterweise erzählt Reumont die Geschichten von den italienischen Renaissancediplomaten denn auch kaum selbst, sondern er lässt die Gesandten sprechen. Darin mangelndes Durcharbeiten, „Fundgrube“ oder – im Lichte des Historismus – Unfähigkeit zur Synthese sehen zu wollen, wäre verfehlt; die in der Einleitung erkennbaren Fertigkeiten Reumonts erlauben es vielmehr, im Zitieren aus den Gesandtenberichten ein narratives Verfahren zu erkennen. Was nämlich macht Reumont, wenn er lange Zitate und Paraphrasen aus den Gesandtenberichten in seine Darstellung aufnimmt? Er integriert historische Erzählungen in seinen Text – die Berichte werden Teil seiner Narration. Um dieses Verfahren besser zu verstehen, ist ein 48 Insofern irrt Andreas 1948 (wie Anm. 32), S. 78 wenn er meint: „So sehr auch Reumont die Berichte bewunderte und ihnen als Meisterwerke der Berichterstattung einen bedeutenden Rang im Aufstieg der Berufsdiplomaten zuwies, eine Würdigung um ihrer selbst willen lag ihm wie Leopold von Ranke fern“.
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Blick in die italienische Fassung nützlich: Ihr fügt Reumont einen umfänglichen Quellenanhang an, der über die in der Darstellung verarbeiteten Berichte weit hinausgeht – für das italienische Publikum. Für sein deutsches Publikum integriert er die Berichte und damit auch ihre Verfasser, die Gesandten, vollständig in seinen Text. Warum macht er das? Zwei Gründe lassen sich für dieses Verfahren nennen: Zum einen und von größter Wichtigkeit scheint Reumont die stilistische und inhaltliche Vielfalt der Berichte gewesen zu sein, ihr Facettenreichtum, den er nicht abschneiden, sondern vermitteln wollte. Jede eigene erzählerische Deutung ist ja Konzentration auf das perspektivisch geforderte Wesentliche unter Verkürzung der Vielfalt, und genau das wollte Reumont offenbar nicht – ein Leitmotiv der gesamten Diplomatenschrift. Zum anderen holt Reumont auf diese Weise die Renaissancediplomaten in die Gegenwart seines Textes und bietet so seinem deutschen Publikum die Möglichkeit, an der Lektüre der Berichte teilzuhaben und die Eindrücke nachzuempfinden. Einen solchen Umgang mit den Quellen wird man zu würdigen wissen, wenn man sich vor Augen führt, dass unter den Historikern um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch keineswegs Klarheit darüber bestand, welche Schritte denn auf die Erschließung und historische Kritik der Quellen zu folgen hätten; Droysen entwickelte seine Methodenlehre ja gerade erst in diesen Jahren. Daneben scheint für Reumont beim Zitieren der Gesandten noch ein weiterer Gedanke eine Rolle gespielt zu haben. Besonders wichtig ist dabei Machiavelli, nicht als Verfasser des Principe natürlich, sondern als Historiker und Gesandter; von ihm ist oft die Rede in der Diplomatenschrift.49 Auch das, so kann vermutet werden, ist nicht zufällig, sondern ein Signal: Machiavelli war unter den Humanisten seiner Zeit vielleicht derjenige, der am überzeugtesten von „vorbildlichen Zeiten“ erzählte und mit dem Begriff der Nachahmung der Exempla aus den antiken Geschichtswerken argumentierte. Machiavelli vertrat die Auffassung – anders als etwa Guicciardini –, dass man „Erfahrungen an der Geschichte einer vorbildlichen Zeit machen und auf die Gegenwart übertragen“ könne.50 Solche Auffassungen scheint Reumont im Hinblick auf die Vorbildlichkeit der Renaissance für seine Zeit geteilt zu haben: In der Diplomatenschrift sind deutliche Spuren der Vorstellung von der Geschichte als Lehrmeisterin zu finden; davon wird im folgenden Kapitel ausführlich die Rede sein. Auch wenn es artifiziell anmutet, es spricht manches dafür, dass Reumont den Florentiner Historiker als Zeugen aufruft; damit gehört zu den Anleihen, die Reumont bei den Geschichtsschreibern der von ihm behandelten Zeit macht, auch die lange gültige
49 Nicht zufällig handelt es sich bei der einzigen in der deutschen Fassung als Anhang publizierten Quelle um eine Denkschrift von Machiavellis Hand; der neue nach Mailand und Frankreich abgehende Gesandte erfährt hier von Machiavelli wichtige Details des Zeremoniells an den beiden Höfen. 50 Günther 1975 (wie Anm. 40), S. 630.
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und von Machiavelli explizit vertretene Auffassung von der Geschichte als Magistra Vitae.51 Die Besonderheiten der historiographischen Narration in der Diplomatenschrift werden ergänzt durch Besonderheiten der behandelten Themen. Große Aufmerksamkeit widmet Reumont den Topographien von Stadt und Land, die er aus eigener Anschauung so gut kannte, außerdem der Ausstattung und dem Ablauf der Gesandtschaften – alles Themen, die in den Berichten der Italiener einen so breiten Raum einnehmen. Im Unterschied zu fast allen Historikern des 19. Jahrhunderts war Reumont zudem um eine adäquate Darstellung des Zeremoniells der Vormoderne bemüht. Einen eigenen Abschnitt und 21 Seiten widmet er diesem Thema,52 mit dem sein Aufsatz nun gar nicht für die klassische, wohl aber für die neuere Diplomatiegeschichte interessant ist. Wie stellt Reumont das Zeremoniell dar? Die Machart des Abschnitts unterscheidet sich nicht von der der anderen: Einleitend weist Reumont auf die Veränderungen hin, denen das Zeremoniell in seinem Betrachtungszeitraum unterlegen habe; es folgen Erläuterungen der komplexen Lehnrechts-, Herrschafts- und Hoheitsverhältnisse im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Italien, auf denen die Rang- und Präzedenzstreitigkeiten beruhten. Reumont betont dabei, dass die Bedeutung des Zeremoniells durch die zahlreichen Standeserhöhungen vor allem des 16. Jahrhunderts gewachsen sei – „als noch republikanische Einfachheit herrschte, war auch vom Ceremoniel wenig die Rede“ (S. 178). Die Schilderung einiger in diesem Zusammenhang wichtiger Gesten und Zeichen schließt sich an: Wie weit der Gesandte allein in den Palazzo ging und wo er abgeholt wurde; wer den Hut zuerst zog und sich wie tief verbeugte; wer das Privileg Goldener Quasten an den Pferdeköpfen genoss usw. – vier Seiten lehrreicher und vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes53 zumeist zutreffender Ausführungen. Dann folgen, wie in allen Kapiteln, Paraphrasen und Zitate aus Relationen venezianischer, florentinischer und päpstlicher Gesandter. Besonders detailliert schildert Reumont die venezianische Gesandtschaft unter Marco Dandolo zu Papst Hadrian VI. nach Rom im März 1523 – ausgewählt hat er, wieder einmal, „die ausführlichste und lebendigste Schilderung“ (S. 184). Und in der Tat erfährt man anschaulich auf fünf Seiten zahlreiche Details der Reise, des Umkleidens der Gesandten zum Einzug in Rom, des Maultier- und Pferde51 Vgl. dazu Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos am Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Stuttgart 1989, S. 38 – 66 (zuerst 1967). 52 Vgl. Reumont 1853 (wie Anm. 1), S. 177 – 198. 53 Vgl. dazu: Barbara Stollberg-Rilinger: Honores regii. Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit. In: Johannes Kunisch (Hrsg.): Dreihundert Jahre preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation. Berlin 2002, S. 1 – 26, Christine Roll: Europäische Gesandtschaften am Zarenhof – Zeremoniell und Politik. In: Christoph Emmendörffer/Christof Trepesch (Hrsg.): Zarensilber. Augsburger Silber aus dem Kreml. München 2008, S. 30 – 55 und Jan Hennings: Russia and Courtly Europe. Ritual and Diplomatic Culture, 1648 – 1725. Cambridge [im Druck] (= New Studies in European History).
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schmucks, der Reihenfolge beim Einzug, der Begrüßung durch den päpstlichen Sekretär, der Ausdrücke der päpstlichen Wertschätzung für die Republik Venedig, natürlich der Audienz beim Papst und des Festes – „wir übergehen, wie Matteo Dandolo […] auf die Jagd ging, wo der Platzregen ihnen den Imbiß verdarb und den Wein in den Gläsern kühlte; wie sie sich an den römischen Gerichten labten unter anderem an eingemachten Orangen in feinen gezuckerten Scheibchen, weniger an den sehr mittelmäßigen Tiberfischen“ (S. 188). Die Lektüre vermittelt, nicht ohne Humor, ein lebendiges Bild von der Qualität der Gesandtenberichte, vom Ablauf der Gesandtschaft, von den Personen und von der Topographie Roms. Abgeschlossen wird der Abschnitt über das Zeremoniell durch Ausführungen Reumonts über die unstrittigen wie die strittigen Rangverhältnisse in Italien und die Folgen der zahlreichen Rangerhöhungen, so dass die älteren und zuvor seltenen und würdigen Titel eines Marchese und eines Grafen ihren Status verloren hätten: „Die Verschwendung von Titeln brachte es dahin, daß manche derselben ihre Bedeutung völlig verloren. In Genua und Florenz giebt es Hunderte von Marchesen“ (S. 196). Rang und Präzedenz, das Lüften der Hüte, der Einzug in den Palazzo, der Empfang durch den päpstlichen Sekretär, der Schmuck der Pferde, die Kleidung der Gesandten, die Feste, die Speisen – wer schreibt darüber zwischen 1850 und 1960, wenn er Diplomatiegeschichte schreibt? Und vor allem: wer schreibt darüber, ohne das aufwendige Zeremoniell früherer Jahrhunderte als sachfremdes, das „eigentliche politische Geschäft“ störendes Beiwerk misszuverstehen? Reumont geht sicherlich von einem weiten Zeremoniellbegriff aus; im Grunde trennt er das Zeremoniell nicht scharf vom gesamten äußeren Ablauf einer Gesandtschaft. Und dass er zwischen Anlässen für Gesandtschaften, die „politischer Natur“ waren, und solchen, die „bloße Ceremoniellfragen“ klären sollten (S. 6), unterscheidet, zeigt, dass er selbstverständlich nicht mehr zu den frühneuzeitlichen Diplomatietheoretikern gehörte, die über Rang und Zeremoniell als geltendes Recht schrieben. Ebenso wenig teilt er natürlich den mit dem sogenannten cultural turn aus der Anthropologie in die Geschichtswissenschaft gekommenen Zeremoniellbegriff, der es erlaubt, aus der Perspektive der modernen Historiographie die politische Rationalität zu erkennen, die dem vormodernen Zeremoniell innewohnte und das in der Zeit vor der völkerrechtlich fixierten Parität aller Gesandten deren Ehre, Rang und Status den Mitwirkenden wie dem Publikum sichtbar machte. Doch stand Reumont dem Gesandtenzeremoniell eben nicht mit Unverständnis und Herablassung gegenüber wie die meisten seiner geschichtsschreibenden Zeitgenossen, sondern er hielt die Gesten und Zeichen, die Einzüge und Audienzen, die Feste und die Ausstattungen, die für den Alltag eines Gesandten und für den Erfolg einer Mission in Spätmittelalter und Früher Neuzeit von außerordentlicher Bedeutung waren, der Beschreibung für wert, ja: für unverzichtbare Bestandteile der „diplomatischen Verhältnisse“. In diesen Zusammenhang der Überzeugung Reumonts, dass der äußere Ablauf einer Gesandtschaft für die Geschichte wie die Praxis der Diplomatie substantiell
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sei, gehören noch zwei andere Auffassungen. Zum einen betont Reumont ganz ausdrücklich, dass im Gesandtschaftswesen um 1500 noch nicht die späteren Züge einer Profession zu erkennen seien: „Es fehlte viel daran, daß die diplomatische Carriere als solche wirklich sich gebildet hätte“. Vielmehr seien Personen aus ganz unterschiedlichen Berufen und Tätigkeiten „zu solchen Sendungen gebraucht“ worden, wie sich „die Scheidelinie zwischen den verschiedenen [Berufs-]Ständen und Beschäftigungen im Ganzen nicht scharf ziehn [sic] lässt“ (S. 7).54 Angesichts dessen, dass die Frühneuzeitforschung in den letzten Jahren erst mühsam wieder verstehen musste, wie lange es gedauert hat, bis sich in den fürstlichen Verwaltungen typische Gesandtenkarrieren und mit ihnen professionelle Mentalitäten und ein entsprechender Habitus ausgebildet hatten – Hillard von Thiessen hat für die Frühe Neuzeit zuletzt den Begriff „Diplomatie vom type ancien“ geprägt55 –, wird man die Feststellung Reumonts aus dem Jahre 1853 mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Zum anderen findet bei Reumont der Institutionalisierungs- und Verstaatlichungsprozess um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert nur wenig Aufmerksamkeit und ruft schon gar keine Ehrfurcht hervor. Zwar weist Reumont einleitend auf das Entstehen ständiger Gesandtschaftsposten hin, empfindet aber kein Defizit darüber, dass man Genaueres auch bei besserer Kenntnis der Quellen nicht wird in Erfahrung bringen können.56 Bei seinen Schilderungen im Detail spielt die Verstetigung der Gesandtenposten sogar gar keine Rolle. Noch viel weniger interessieren Reumont die Staaten als Akteure in der Geschichte, nicht Jacob Burckhardts Staat als Kunstwerk und auch nicht die „Staatsindividuen“ des älteren Ranke, ebenso wenig die großen Herrscher oder Minister, sondern die Dichter, Historiker und Künstler, über die zu schreiben ihre Gesandtentätigkeit ihm ein willkommener Anlass ist. Von den politischen Zielen, dem Auftrag und dem Erfolg oder Misserfolg einer Gesandtschaft spricht Reumont ebenfalls kaum. Den vorrangigen Zweck der Diplomatie sah er vielmehr im Erwerb landeskundlicher Kenntnisse und im Wissensaus-
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Es habe damals als Regel bestanden, „was sich heute seltener und meist nur als Anomalie findet […]. Hohe und niedere Geistliche, Cardinäle, Bischöfe und Bettelmönche; Magistratspersonen und einflußreiche Bürger; Professoren der Rechtswissenschaft und bisweilen der Theologie, wurden zu solchen Sendungen gebraucht“. Reumont 1853 (wie Anm. 1), S. 7. 55 Vgl. Hillard von Thiessen: Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Diplomaten. In: ders./Christian Windler (Hrsg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel. Köln/Weimar/ Wien 2010 (= Externa 1), S. 471 – 503. 56 Den Absatz, den er in der Einleitung dem Ständigwerden der venezianischen Gesandtenposten widmet und in dem er die Länder aufzählt, in denen Venedig im frühen 16. Jahrhundert bereits ständige Gesandte etablierte, schließt er mit dem Satz ab: „Mit den anderen Staaten nahm man’s nicht so genau, und wäre selbst Alles aufgehellt in der Geschichte der diplomatischen Verhältnisse, so würde man doch an den meisten Stellen auf strengen historischen Zusammenhang verzichten müssen“. Reumont 1853 (wie Anm. 1), S. 6.
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tausch, in der „Kenntniß fremder Formen und Zustände“ (S. 8).57 Bestenfalls in wenigen Nebensätzen kommen folglich die politischen Konstellationen als konkreter Anlass für eine Gesandtschaft zur Sprache, „die allgemeinen Verhältnisse“ oder „die Lage der Dinge“, wie Ranke es etwa in seiner Reformationsgeschichte formulierte, um das politische Ziel einer Gesandtschaft oder eine Entscheidung in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Dass spätere Historikergenerationen mit ihrer Konzentration auf die – oftmals eng begriffene – politische Geschichte den Themen der Diplomatischen Verhältnisse Reumonts, vor allem: der Vernachlässigung der sie interessierenden Themen durch Reumont, mit einem diffusen Unverständnis begegneten, kann kaum verwundern. Für wen aber schrieb Reumont eigentlich seine Diplomaten und diplomatischen Verhältnisse? Soll man sich als Adressaten der Reumontschen Beiträge zur Italienischen Geschichte überhaupt beamtete Universitätshistoriker wie Ranke, Droysen, Ficker oder Sybel vorstellen? Ohne für diese Frage eigene Studien angestellt zu haben, lässt sich doch vermuten, dass nicht die Herren Professores, sondern das deutsche Bildungsbürgertum angesprochen werden sollte; nicht die Leser mit perfekten Latein- und guten Italienischkenntnissen, mit Zugang zu Universitätsbibliotheken und der Muße, die Sammlungen von Sanuto und Albéri selbst durchzuarbeiten, sondern das – durchaus gebildete – Publikum etwa der Augsburger Allgemeinen Zeitung, für das Reumont ja auch journalistisch aus Italien berichtete, das ein-, höchstens zweimal im Leben nach Italien reisen konnte, für die Renaissance in Italien schwärmte, aber zum Lesen entsprechender historischer Darstellungen nur selten die Muße fand.58 Bei den Namen der Künstler, Dichter, Historiker und Wissenschaftler, die Reumont ausbreitet, dürfte seine Leser – und vermehrt auch Leserinnen – der gleiche heilige Schauer wie ihn selbst überkommen haben; sie waren in Venedig, Florenz und Rom gewesen und erkannten in seinen Schilderungen das Gesehene wieder. Reumonts Diplomatenschrift bot somit bildungsbürgerliche Selbstvergewisserung. Diese ist zudem, wie ausgeführt, nach geschichtswissenschaftlichen Maßstäben, die sich eben in dieser Zeit herausbildeten, von hoher Qualität. Mit den „Geschichten“ und Erzählungen der Renaissancediplomaten machte Reumont dem bildungsbürgerlichen Publikum diese Quellen sogar erstmals verfügbar und ließ sie an der Lektüre teilhaben; seine Diplomatenschrift lieferte dem Publikum neben der Selbst57
Zwei bemerkenswerte Formulierungen aus der Einleitung seien hier zitiert: „War der Zweck entweder erreicht oder verfehlt, die Sache folglich auf die oder die andere Weise abgemacht, so kehrte die Gesandtschaft nach Hause“. Ebd., S. 6. „Waren die Geschäfte an sich oft unbedeutend, so wurde dabei doch immer Einsicht in das Geschäftswesen gewonnen, das Talent für Unterhandlung geübt, Kenntniß fremder Formen und Zustände erworben die der Heimath wieder zu gute kommen konnte; die Beobachtungsgabe wurde geschärft und unter einem möglichst großen Kreise der Bürger die Kunde des Auslandes verbreitet“. Ebd., S. 8 f. 58 Über das deutsche Bildungsbürgertum als Publikum Reumonts vgl. die respektvollen Ausführungen bei Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 85, sowie zur Augsburger Allgemeinen Zeitung, die „das humanistisch-klassische Italieninteresse des deutschen Bildungsbürgertums“ repräsentiert habe, ebd., S. 89.
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vergewisserung mithin auch wirklich neue Einsichten und bot ihnen die Möglichkeit, an den gelehrten Diskursen der Zeit teilzunehmen. 5. Ergebnisse: Geschichtsschreibung aus Gesandtenberichten – eine Kulturgeschichte der italienischen Renaissancediplomatie Zusammenfassend ist zunächst festzuhalten, dass Reumont die wichtigsten Bedingungen für die Entstehung der neuzeitlichen Diplomatie und ihres Instrumentariums sehr deutlich erkannte, nämlich den Bedeutungsverlust der Universalgewalten für die politische Ordnung Italiens und dessen daraus resultierende politische Kleinräumigkeit und staatliche Vielfalt. Diese Sicht der Dinge, die inzwischen längst communis opinio geworden ist, wurde in den 1850er Jahren aber noch nicht allgemein geteilt; insofern schritt Reumont der Zunft wohl sogar voran. Indessen ging es Reumont gar nicht so sehr um das Auffinden von neuzeitlichen Formen in der Diplomatie, denen gleichzeitig Rankes Aufmerksamkeit galt und nur wenig später Jacob Burckhardt nachspürte; gleichermaßen wichtig waren ihm die Kontinuitäten zum Mittelalter. Dennoch war er offenbar der erste, wie Mattingly in den 1950er Jahren betonte, der auf breiter Quellenbasis, aufgrund systematischer, sich aus der diplomatischen Praxis ergebender Gesichtspunkte und eigener Erfahrung die Organisation und das Instrumentarium der Diplomatie an der Wende zur Neuzeit darstellte – und damit den Weg frei machte für die Erforschung der Renaissancediplomatie. Mattingly schätzte die Schrift, während die deutschen klassischen Diplomatiehistoriker sie bald zur „Fundgrube“ degradierten – allerdings ohne Gründe anzugeben. Aufgrund der vorliegenden Analyse wird man einige Gründe benennen können; zugespitzt formuliert ergibt sich: zu viele Zitate, zu wenig auktoriale Erzählung und vor allem: die falschen Themen. Aus heutiger Sicht sind es aber gerade die Themen, durch die Reumonts Schrift interessant und ungemein modern erscheint: Zum einen fanden ja die italienischen Gesandten der Renaissance das Interesse Reumonts kaum bei der Umsetzung ihrer konkreten politischen Aufträge; seine höchste Bewunderung erfuhren sie vielmehr durch ihre Berichte, durch die Kunst ihrer Darstellung von Land und Leuten. Willy Andreas stützt sich zwar ebenso auf die Berichte, wendet sich ihnen aber aus einer ganz anderen Perspektive zu, sieht sie nämlich als Spiegel für „Staatskunst und Diplomatie“,59 während die Berichte aus der Sicht Reumonts Erzählungen sind, die ihren Zweck in sich selbst haben, im Erwerb landeskundlichen und kulturellen Wissens. Diese Kultur des Berichtens ist das Hauptthema der Diplomatenschrift. Die zweite inhaltliche Besonderheit der Reumontschen Diplomatenschrift besteht darin, dass sie dem äußeren Ablauf und dem Zeremoniell einen hohen Stellenwert 59 Ganz anders – und wohl doch irrig – formuliert er: „Staatsräson, Machtstreben, politischer Egoismus waren für die Söhne Venedigs, wie die folgende Untersuchung erweisen wird, Antriebe und Maßstäbe des Weltgeschehens“. Andreas 1948 (wie Anm. 32), S. 77.
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zumisst, die dritte in der Warnung davor, das Gesandtschaftswesen zu früh als professionell zu begreifen, und die vierte schließlich in der geringen Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen Diplomatie und neuzeitlicher Staatsbildung. Diese Besonderheiten sind bemerkenswert deshalb, weil aus ihnen folgt: Diplomatie und diplomatische Verhältnisse waren für Reumont nicht als Veranstaltung der werdenden Staaten Gegenstand seiner Darstellung, sondern als kulturelle Errungenschaft der italienischen Renaissance. Reumont hat folglich keine Geschichte der italienischen Renaissancediplomatie vorlegen wollen – die Willy Andreas, Fritz Ernst und Karl Brandi von ihm ein Jahrhundert später hätten lesen wollen –, sondern quellenkritische, biographische und zugleich an ein breites bürgerliches Publikum gerichtete Studien zur Kulturgeschichte der italienischen Renaissancediplomatie. Darstellerisch bot Reumont mit der Verschränkung von „Geschichte“ und „Geschichten“, der Verbindung von geschichtswissenschaftlicher Reflexion mit den Erzählungen der Gesandten und vor allem mit dem Konzept von Geschichtsschreibung aus Gesandtenberichten als literarischen Texten eine Möglichkeit an, wie auf die Herausforderung, „Geschichte zu schreiben“, um 1850 reagiert werden konnte. Sowohl mit diesem darstellerischen Angebot als auch mit einer Kulturgeschichte der Diplomatie war seine Diplomatenschrift jedoch bald passé; von den Universitätshistorikern wurde sie zur „Fundgrube“ entwertet. Die Zukunft gehörte dem „europäischen Staatensystem“ als dem wichtigsten Thema der Geschichtsschreibung schon Leopold von Rankes; die fernere Zukunft gehörte sogar dem nationalen Machtstaat, mit dem Reumont nichts verband. Reumonts Anspruch, insbesondere sein Erklärungsanspruch war viel bescheidener – einerseits, denn er wollte nicht die politische Geschichte Europas an der Wende zur Neuzeit erklären, sondern dem Publikum „lediglich“ den Reichtum der kulturellen Leistungen der Italiener während der Renaissance vor Augen stellen; genau das ist gemeint mit den „Heerstraßen“ und den „Seitenpfaden“. Andererseits verband Reumont mit seiner Schrift auch noch einen ganz anderen, weniger bescheidenen, nämlich einen politischen Anspruch: Der kulturelle Reichtum Italiens hing nach seiner Einschätzung von der staatlichen Vielfalt Italiens ab. Diese sah er in Gefahr – und auch deshalb, wie im folgenden Kapitel zu zeigen ist, schrieb er über Italienische Diplomaten und diplomatische Verhältnisse. III. Die unpopuläre Einstellung gegenüber dem Risorgimento – Reumonts Diplomatenschrift als politische Botschaft Dass Alfred von Reumont der italienischen Einigungsbewegung ablehnend gegenüberstand und den italienischen laizistischen Nationalstaat für einen politischen Irrweg hielt, ist hinlänglich bekannt.60 Neu ist dagegen, dass auch seine Diplomaten60 Zur Einordnung Reumonts in die unterschiedlichen Positionen gegenüber der Revolution von 1848 in Italien und dem Risorgimento: Jens Petersen: Risorgimento und italienischer
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schrift als ein Plädoyer für die Eigenstaatlichkeit Roms und die Einzelstaatlichkeit der anderen italienischen Staaten zu lesen ist. Der Interpretation dieses Befundes gilt der folgende Abschnitt. Entsprechende explizite Äußerungen finden sich im Text allerdings nur wenige, im Grunde sind es bloß zwei: Zum einen spricht Reumont in der Widmung – die zudem ja nicht bloß der Diplomatenschrift, sondern dem ganzen Buch vorangestellt ist – von den „traurigen Rückwirkungen, welche die Ereignisse von 1848 – 1849 auf alle ernsthafte Tätigkeit gehabt haben“ (S. VIII); zum anderen kommentiert er, nun wieder in der Diplomatenschrift selbst, die Zeit der Avignonesischen Päpste folgendermaßen: „Denn es ist eine alte Erfahrung, daß die Römer bei all ihren antipäpstlichen Velleitäten doch niemals lange ohne die Päpste leben konnten. Und es erging ihnen auch in der Abwesenheit der Päpste schlimm genug: dies bezeugt die Geschichte der Zeit während der HohenstaufenKämpfe, während des Babylonischen Exils, während des großen Schismas, während der Regierungszeit Eugens IV., von den Ereignissen neuerer und neuester Zeit, von drei Päpsten nicht zu reden, die den Namen Pius tragen“ (S. 124).
Die Bezüge dieser Zeilen zu den Ereignissen der späten 1840er Jahre, wie Reumont sie sah, sind evident. Zur besseren Einordnung der folgenden Ausführungen seien dennoch zunächst einige kurze Erläuterungen gegeben. Reumont hatte die Revolution von 1848 nicht in Florenz, sondern in Rom erlebt. Kurz zuvor war er zum dortigen Legationssekretär ernannt worden61 und hatte als solcher von dem preußischen Gesandten an der Kurie, Graf Usedom, den Auftrag Einheitsstaat im Urteil Deutschlands nach 1860. In: Historische Zeitschrift 234 (1982), S. 63 – 99; ferner Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 91 – 95 und ders.: Das deutsche Italienbild in der Zeit der nationalen Einigung. In: ders.: Italienbilder – Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze. Köln 1999 (= Italien in der Moderne 6), S. 60 – 89 (zuerst in: Angelo Ara/Rudolf Lill [Hrsg.]: Immagini a confronto Italia e Germania. Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder. Bologna/Berlin 1991, S. 169 – 204); ferner Gabriele B. Clemens: Zwischen Ignoranz und nationaler Suprematie. Das deutsche Italienbild während der 1848er Revolution am Beispiel Piemonts. In: Angela Giebmeyer/Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.): „Das Wichtigste ist der Mensch“. Festschrift für Klaus Gerteis zum 60. Geburtstag. Mainz 2000 (= Trierer Historische Forschungen 41), S. 253 – 268. Zur Geschichte Italiens im 19. Jahrhundert, bes. zum Risorgimento: Franz J. Bauer: Nation und Moderne im geeinten Italien (1861 – 1915). In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 16 – 31, Rudolf Lill: Geschichte Italiens in der Neuzeit. 4. Aufl., Stuttgart 1988, S. 91 – 180, Christof Dipper: Revolution und Risorgimento. Italien 1848/49 aus deutscher Perspektive. In: Dieter Langewiesche (Hrsg.): Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen. Beiträge des Symposions in der Paulskirche vom 21.–23. Juni 1998. München 2000 (= Historische Zeitschrift, Beiheft 29), S. 73 – 89, Volker Reinhardt: Geschichte Italiens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart. München 2003, S. 172 – 217 und Lutz Raphael: Von der liberalen Kulturnation zur nationalistischen Kulturgemeinschaft. Deutsche und italienische Erfahrungen mit der Nationalkultur zwischen 1800 und 1960. In: Christof Dipper (Hrsg.): Deutschland und Italien 1860 – 1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich. München 2006 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 52), S. 243 – 275. 61 Als solcher fungierte er von 1839 bis 1844 und dann wieder von 1848 bis 1854; vgl. Grypa 2008 (wie Anm. 26), S. 429.
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erhalten, die Revolutionsereignisse in Rom zu beobachten; Usedom selbst war dem ins Exil geflohenen Papst Pius IX. nach Gaeta gefolgt. Reumont wurde auf diese Weise zum Augenzeugen der Ausrufung der römischen Republik auf dem Capitol im Februar 1849. Im März erhielt er dann aber ebenfalls den Befehl, Rom zu verlassen, und folgte dem Papst nach Gaeta. Da jedoch dort für die Diplomaten nicht viel zu tun war, nutzte Reumont die Gelegenheit, Sizilien und Neapel zu besuchen.62 Als im Sommer die Republik kapituliert hatte, kehrte er, wiederum in Vertretung Usedoms, im Gefolge des Papstes nach Rom zurück. Seit Herbst 1850 weilte er dann, nach ausgedehntem Urlaub, in Florenz, wo er, unterbrochen von Aufenthalten im Umfeld des preußischen Königs, die letzten Jahre seiner diplomatischen Tätigkeit als Preußischer Geschäftsträger verlebte.63 Die historische Situation, in der Reumont im Sommer 1853 seine Diplomatenschrift abschloss, war also die „nach 1848“ und „vor 1859/60“: Sie dürfte vergleichsweise offen, aber auch unruhig und von Kontroversen unter den Intellektuellen geprägt gewesen sein.64 Die äußeren Verhältnisse waren gekennzeichnet von der österreichischen Restitution in Norditalien im Frühjahr 1849, von der Niederlage auch der römischen Revolutionäre im Herbst des Jahres, von einer durch die Revolution wie deren Niederschlagung veränderten politischen Stimmung in Italien wie in Deutschland, aber ebenso von den ersten Reformen im sich modernisierenden Piemont. Der von Camillo Cavour und Napoleon III. vom Zaun gebrochene Krieg gegen Österreich 1858/59 und Garibaldis „Zug der Tausend“ 1860 dürften sich in der Entstehungszeit der Diplomatenschrift indessen noch nicht abgezeichnet haben, waren wohl nicht einmal zu erahnen. Reumont ist durch die Anschauung der revolutionären Ereignisse 1848/49 in Rom nun erst recht nicht zum Anhänger der Einigungsbewegung geworden. Schon vor Beginn der Aufstände hatte er sogar einen seiner Freunde, den liberalen Politiker und Historiker Gian Pietro Vieusseux, mit dem er wissenschaftlich eng kooperierte,65 durch eine Replik recht erbost: Vieusseux hatte Reumont gebeten, Usedom eine 62
Vgl. Jedin 1973 (wie Anm. 2), S. 103. Vgl. ebd., S. 103 f. Als diplomatischer Repräsentant Preußens fand Reumont im neuen Italien nach 1860 bekanntlich keine Verwendung mehr. 64 „In der Zeit der postrevolutionären Tristesse lecken die geschlagenen Aufständischen ihre Wunden; eine ihrer bevorzugten Tätigkeiten ist die Abfassung historischer Rückblicke, in denen sie ihren Konkurrenten die Schuld am Fiasko zuschreiben“, so Reinhardt 2003 (wie Anm. 60), S. 209. Vgl. auch die Schilderung bei Petersen 1999 (wie Anm. 60), S. 60 – 65, und die Hinweise bei Jens Petersen: Politik und Kultur Italiens im Spiegel der deutschen Presse. In: ders./Arnold Esch (Hrsg.): Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento. Tübingen 2000 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 94), S. 1 – 17, hier S. 14 – 17. 65 Reumont hatte in den Jahren zuvor als Mitarbeiter an der von Vieusseux gegründeten Zeitschrift Archivio Storico Italiano viele Artikel über die deutsche Italienhistoriographie geschrieben; vgl. Clemens 2006 (wie Anm. 5), S. 218 und bes. Ilaria Porciani: L’„Archivio Storico Italiano“. Organizzazione della ricerca ed egemonia moderata nel Risorgimento. Florenz 1979. 63
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Schrift über den Freiheitskampf Venedigs zu übermitteln; Reumont war der Bitte zwar nachgekommen, zeigte aber für das konkrete Anliegen seines Freundes wie überhaupt für die nationale Bewegung keinerlei Verständnis. Vielmehr stellte er Vieusseux die rhetorische Frage, wie dieser meinen könne, „solche Sachen“, die von jedem Vertrag und jeder politischen Grundlage absähen – also die revolutionäre Bewegung in Venedig –, könnten in der Diplomatie Eindruck machen.66 Vieusseux kommentierte diese Haltung Reumonts mit dem bekannten Satz, „nostro amico“ Reumont liebe Italien zwar in hohem Maße, aber eher wie sein Eigentum, „come roba sua“; Reumont gehöre zu jener Schule von Historikern, die noch an die Rechtsansprüche der Ottonen und Barbarossas glaubten und die roncaglischen Gesetze des letzteren wieder in Kraft setzen wollten.67 Die Folgen dieses Zwists für Reumonts Stellung unter den italienischen Freunden und Kollegen sind unterschiedlich beurteilt worden.68 Reumont jedenfalls blieb überzeugt von der Rechtmäßigkeit und deshalb auch der Richtigkeit der alten Ordnung. In seinen Berichten der Jahre 1859/60 formulierte er scharfe Anklagen gegen die Politik Piemonts, eine „politique sans foi ni loi“, die alle Prinzipien des Völkerrechts verletze.69 Und ebenso wie er ein Anhänger der Habsburgermonarchie und ihrer übernationalen Prinzipien blieb, so galten für ihn auch nach 1848 die Grundüberzeugungen des „Neoguelfentums“ fort. Mochten manche seiner Freunde und Wissenschaftlerkollegen von Pius IX. enttäuscht sein, der sich eben nicht an die Spitze der nationalen Bewegung gestellt hatte – Reumont blieb bei seiner Überzeugung, dass aus den politischen Leistungen des mittelalterlichen Papsttums für Italien, ja ganz allgemein aus dem zivilisatorischen Wirken der mittelalterlichen Kirche die Notwendigkeit eines unabhängigen Kirchenstaats folge.70 Diese besondere Rolle, die er Rom nicht nur für die Geschichte Italiens, sondern überhaupt für den historischen Prozess, insofern eben auch für die Zukunft, beimisst, formuliert Reumont an herausgehobener Stelle seiner Diplomatenschrift, nämlich am Ende der Einleitung: „Seiner ganzen Natur nach steht es nie abgeschlossen da, sondern immer umfassend, assimilierend wie dominierend“ (S. 11). 66
Zu dieser häufig zitierten Replik Reumonts vgl. Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 94; detaillierter und mit den Quellenzitaten Clemens 2000 (wie Anm. 60), S. 263. 67 „Non bisogna perdere di vista che quel nostro amico ama molto l’Italia, ma come roba sua. Egli è di quella scuola storica che crede ai pretesi diritti degli Ottoni e di Barbarossa, e che vorrebbe far valere le decisione di Roncaglia“. Zit. nach Clemens 2000 (wie Anm. 60), S. 263; vgl. auch Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 94. 68 Während Jedin 1973 (wie Anm. 2), S. 103, meint, die erhitzten Gemüter hätten sich bald wieder beruhigt, spricht Petersen von „unaustilgbaren Spuren“, die die Spannungen hinterlassen hätten: „Die halkyonischen Tage prästabilierter Gelehrtenharmonie“ seien vorbei gewesen; Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 94. Vgl. auch die Hinweise von Petersen 2000 (wie Anm. 64), S. 12. 69 Vgl. Petersen 1982 (wie Anm. 60), S. 74. 70 Diese Einordnung Reumonts nach Lill 1988 (wie Anm. 60), S. 118; vgl. ebd., S. 118 ff. auch zum Neoguelfentum und überhaupt zu den politischen Strömungen in Italien um die Jahrhundertmitte.
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Gerade in der Diplomatenschrift jedoch äußert Reumont seine politische Botschaft im Grunde gar nicht mit expliziten Formulierungen. Vielmehr ist die Schrift selbst und als ganze ein einziges Plädoyer für die Bewahrung der staatlichen Vielfalt und politischen Kleinräumigkeit Italiens: Mit den Schilderungen der Personen, Reisen, Einzüge und Begegnungen, mit den Beispielen für das vielfältige diplomatische und kulturelle Leben, mit den Ausführungen über die Errungenschaften der diplomatischen Praxis, vor allem aber mit der in allen diesen Schilderungen zu Tage tretenden Bewunderung für die italienische Renaissancediplomatie als kulturelle Leistung aus den Bedingungen politischer Kleinräumigkeit ist Reumonts Diplomatenschrift eine drängende Warnung vor dem nationalen Einheitsstaat. Nicht der laizistische Nationalstaat, durchgesetzt womöglich auf revolutionärem Wege und mit militärischer Gewalt, sondern eine kulturell bestimmte nationale Einheit unter Bewahrung der derzeitigen staatlichen Ordnung schien ihm die angemessene politische und nationale Verfasstheit Italiens zu sein. Wenn er in diesem Zusammenhang von „Nation“ spricht, meint er nicht den italienischen Nationalstaat, den weite Teile der italienischen Intelligenz als Garanten der politischen Freiheit anstrebten, ganz ähnlich wie die deutschen Liberalen seit dem Wiener Kongress für Deutschland, sondern er hing einer Vorstellung an, für die sich der Begriff „Kulturnation“ eingebürgert hat. Der Literatur der Renaissance, insbesondere den Werken der von Reumont so verehrten florentinischen Dichter Dante, Boccaccio und Petrarca, kam für diese Vorstellung eine geradezu politische Bedeutung zu: Ähnlich wie die Weimarer Klassik in Deutschland konstituierte die Literatur der Renaissance-Zeit in Italien ein literarisches, ein kulturell bestimmtes Zusammengehörigkeitsgefühl.71 Dieses „andere Risorgimento, das der Dichter und Denker“,72 mochte für Einige zunächst ersetzen, was an realer politischer Macht zu fehlen schien;73 es gehörte aber jedenfalls zu den Voraussetzungen für den italienischen Nationalstaat. Ganz im Sinne der „Kulturnation“ formulierte Reumont 1844, in den Neuen römischen Briefen, die rhetorische Frage: „Glaubt man aber, daß Italien, daß der Nation gedient sein würde, wenn Land und Volk unter ein Szepter kämen?“74 Liest man weiter, scheint es allerdings, als ob Reu71
Vgl. zu den Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen den deutschen und italienischen Diskussionen der Zeit Raphael 2006 (wie Anm. 60), bes. S. 248 – 254, hier vor allem S. 248 f., sowie Bauer 1995 (wie Anm. 60), bes. S. 16 – 20. 72 So die plastische Formulierung von Reinhardt 2003 (wie Anm. 60), S. 191. 73 Diese Auffassung bei Raphael 2006 (wie Anm. 60), S. 48 f. 74 „Politische Einheit ist gewiß etwas Wünschenswertes. Zerstückelung eines Landes in kleine Staaten hat ohne Zweifel ihre Nachteile. Glaubt man aber, daß Italien, daß der Nation gedient sein würde, wenn Land und Volk unter ein Szepter kämen? Ich glaube es nicht. Was Jahrhunderte gestaltet, bewahrt seine Rechte […], siegreich, der Formlosigkeit politischer Träume gegenüber. Man räume die Scheidelinien und Hindernisse weg, welche gegenwärtig noch hemmend zwischen Italiener und Italiener bestehen – man lasse die alte Eifersucht fallen, die so viel geschadet […], man vervollkommne die bürgerlichen Institutionen, fördere das öffentliche Leben und suche nicht, voll Ängstlichkeit und Zittern, das Nationalgefühl zu unterdrücken […] Man wirke hin zu möglicher Vereinbarung geistiger und materieller Interessen: und man wird den Wünschen und Forderungen der Verständigen begegnen […] und zugleich größere moralische Macht erzielen […]. Wo man Italien gewähren ließ, ist sein
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mont sich eine auch staatliche Einheit Italiens vorstellen konnte; realisiert sehen wollte er sie jedoch nur auf evolutionärem Wege und ohne Eile. Für die nähere Zukunft galt für ihn freilich – und so lautet denn auch die politische Botschaft seiner Diplomatenschrift: Der kulturelle Reichtum und die staatliche Vielfalt Italiens bedingen einander, deshalb wird auch der kulturelle Reichtum Italiens verloren gehen, wenn dessen staatliche Vielfalt beseitigt wird. Zu dieser Überzeugung war der Historiker Reumont gelangt. Er hatte sie gewonnen durch seine langjährige Beschäftigung mit den Dichtern, Künstlern, Historikern und Diplomaten der Renaissance, und sie schien ihm richtig auch für seine Gegenwart. Nicht nur mit dieser historischen Begründung als solcher, sondern auch mit ihrer Propagierung in einer geschichtswissenschaftlichen Schrift über die italienische Renaissancediplomatie wird man Reumont im Kreise derjenigen Deutschen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Risorgimento Stellung nahmen,75 ja sogar unter all jenen, die sich des „historischen Arguments“ bedienten,76 als eine außergewöhnliche, wahrscheinlich sogar einzigartige Erscheinung zu würdigen haben. Mit dieser Einstellung zu Italien nämlich teilte Reumont zum einen nicht die seit der 1848er Revolution in Deutschland weit verbreitete und langfristig wirksame, teilweise bis heute fortdauernde Überheblichkeit vieler Deutscher gegenüber den Italienern; in der Einleitung zu seiner Diplomatenschrift weist er vielmehr auf den hohen kulturellen Wert des älteren diplomatischen Dienstes hin: „[…] die Beobachtungsgabe wurde geschärft und unter einem möglichst großen Kreise die Kenntnis des Auslandes verbreitet, die heute dem Italiener, im Durchschnitt genommen, in so kläglichem Maße abgeht“ (S. 9). Dabei bemüht der Relativsatz nicht, wie auf den ersten Blick vielleicht angenommen werden mag, das um die Jahrhundertmitte in der deutschen Öffentlichkeit offenbar verbreitete „Dekadenzmotiv“ in der Wahrnehmung der Italiener,77 sondern er ist gerade umgekehrt zu deuten: Die Italiener haben in historischer Perspektive die überlegenen Voraussetzungen, aber sie sind dabei, sie zu verspielen.
Streben immer nach Particularisierung, ja nach Provinzialisierung gewesen“. Zit. nach Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 91 f. 75 Vgl. dazu die in Anm. 60 genannte Literatur, insbesondere Petersen 1982 (wie Anm. 60), passim, auch Petersen 1987/88 (wie Anm. 3), S. 94 f., ferner Clemens 2000 (wie Anm. 60), passim. 76 Vgl. Petersen 1999 (wie Anm. 60), S. 68 – 70, bes. S. 69, wo Petersen wiederum auch die Haltung Reumonts erörtert, aber ebenfalls nur aufgrund der in Anm. 71 zitierten Ausführung, und – irrigerweise, wie mir scheint – meint, auch Reumont halte den Italiener „zu einer modernen Großstaatsbildung“ für unfähig. Vielmehr scheinen zahlreiche Äußerungen Reumonts darauf hinzudeuten, dass er überhaupt für moderne Großstaatsbildung wenig Sympathie empfand. 77 Vgl. zum „Dekadenzmotiv“ unter den deutschen Abgeordneten des Paulskirchenparlaments und zur „Mobilisierung nationaler Stereotypen, die nicht viel mehr als ein umfangreiches ,Kriminalporträt‘ enthielten“, Petersen 1999 (wie Anm. 60), S. 88; vgl. auch Dipper 2000 (wie Anm. 60), bes. S. 74.
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Reumont äußert sich zum anderen nicht politikverdrossen und „modernitätsmüde“ wie Jacob Burckhardt, der mit seiner Reise nach Italien den politischen und gesellschaftlichen Debatten zu entkommen hoffte,78 im Gegenteil, er nimmt leidenschaftlich teil an der Debatte. Und natürlich, zum dritten, teilt Reumont nicht die von einer preußischen und zunehmend gesamtdeutschen Staatsräson ausgehende Einschätzung Bismarcks, dass ein italienischer Einheitsstaat, ein Königreich Italien, nützlich sei als Gegengewicht gegen Österreich.79 Von dieser Auffassung wurden immer größere Teile der deutschen Gesellschaft ergriffen, eben auch viele Historiker. Im Denken Sybels, Treitschkes, Droysens und Baumgartens etwa verband sie sich mit der nationalliberalen Bewegung; dazu mischten sich die antiklerikalen Töne eines säkularisierten, preußischen Protestantismus, für den das risorgimentale Italien als Verbündeter im Kampf gegen den Ultramontanismus galt.80 In den Kreisen dieser zeitgenössischen deutschen Historiker dürfte die Haltung Reumonts Kopfschütteln, ja zunehmend Kritik ausgelöst haben und als abwegig empfunden worden sein. Allerdings finden sich in der konsultierten Forschungsliteratur kaum Hinweise auf zeitgenössische Stellungnahmen zu Reumonts politischer Einstellung, abgesehen von der oben skizzierten Debatte mit Vieusseux. Überhaupt scheint die Skepsis Reumonts gegenüber einer nationalstaatlichen Ordnung Italiens in der Forschung zwar im einzelnen zutreffend beschrieben,81 jedoch nicht immer mit der erforderlichen Sorgfalt und historischen Distanz beurteilt worden zu sein. Insbesondere verdienten seine Äußerungen eine genauere, den politischen Wandel von 1848/49, 1859/60 und 1866 sorgfältiger berücksichtigende Untersuchung.82 Zuletzt ist Reumonts Haltung sogar die subjektive Legitimität abgesprochen worden – in modernisierungstheoretischer Befangenheit auch historisch offenbar nur solche Auffassun-
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Aus dem Brief, mit dem Jacob Burckhardt im Frühjahr 1846 seinen Freunden vorwarf, sie würden sich immer tiefer in politische Dinge verstricken, ist oft zitiert worden: „Ich bin ganz im stillen, aber komplett mit ihr [der Zeit] überworfen und entweiche ihr deshalb in den schönen faulen Süden, der der Geschichte abgestorben ist und als stilles, wunderbares Grabmonument mich Modernitätsmüden mit seinem altertümlichen Schauer erfrischen soll. Ja, ich will ihnen allen entweichen, den Radikalen, Kommunisten, Industriellen, Hochgebildeten, Anspruchsvollen, Reflektierenden, Abstrakten, Absoluten, Philosophen, Sophisten, Staatsfanatikern, Idealisten, aner und iten aller Art – bloß die Jesuiten werden mir wieder jenseits begegnen und von den uten bloß die Absoluten“. Zit. nach Clemens 2000 (wie Anm. 60), S. 253. 79 Vgl. Petersen 1982 (wie Anm. 60), S. 80 – 85. 80 Vgl. Petersen 2000 (wie Anm. 64), S. 12 f. 81 Jedenfalls für die Literatur, die nach den wegweisenden Studien von Wolfgang Altgelt: Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848. Tübingen 1984 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 59) über das deutsche Italienbild in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und von Petersen 1982 (wie Anm. 60) über Risorgimento und italienischen Einheitsstaat erschienen ist, dürfte das gelten. 82 Interessant wäre eine solche Untersuchung auch im Kontext der Dante-Polemiken von 1859/60, bei denen es um die Inanspruchnahme Dantes für das Risorgimento ging; vgl. dazu die interessanten Hinweise von Petersen 2000 (wie Anm. 64), S. 14 f.
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gen gelten lassend, die auf den siegreichen Nationalstaat hinauslaufen.83 Dabei wird aber nicht nur die relative Offenheit der politischen Situation übersehen, vor allem: die Offenheit der intellektuellen Diskussion bis weit in die 1850er Jahre hinein, die in neueren Gesamtdarstellungen doch deutlicher zu greifen ist.84 Ausgeblendet wird auch die Tatsache, dass Reumont mit seiner Ablehnung eines italienischen laizistischen Nationalstaats keineswegs alleine stand. Unter den deutschen Italienkennern zählte jedenfalls Friedrich von Raumer dazu,85 ferner gilt das für die anderen aus Italien berichtenden Korrespondenten der Augsburger Allgemeinen Zeitung,86 und in Italien selbst stand die große Gruppe der kirchentreuen Katholiken einem laizistischen Nationalstaat lange mit großen Vorbehalten gegenüber.87 Im Einzelnen mochten die Gegner des italienischen Nationalstaats also sehr unterschiedliche Motive gehabt und ihre Kritik in unterschiedlicher Weise geäußert haben. Eine Kulturgeschichte der italienischen Renaissancediplomatie als Warnung vor einem laizistischen Einheitsstaat, wie sie Reumont 1853 vorlegte – das allerdings war wohl singulär und dürfte Reumonts ganz eigener Beitrag zum politischen Streit der 1850er Jahre gewesen sein. Diese Einsichten stellen nun aber nicht nur die Frage nach der Gattung der Diplomatenschrift neu; sie verlangen darüber hinaus danach, die Bedingungen für die Konstruktion Reumonts zum Gestrigen nicht mehr nur in seinem Werk, sondern konsequent auch in seinem Netzwerk zu suchen.
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Insbesondere Petersen und Clemens bedenken die Skepsis Reumonts gegenüber dem italienischen Nationalstaat mit Unverständnis, mehr aber noch die Beharrlichkeit, mit der Reumont diese Einstellung auch weiterhin in den 1850er Jahren vertrat. Reumonts Festhalten an den Grundzügen der von ihm für richtig erkannten Programmatik, an einer föderativen Lösung für Italien unter Führung des Papstes noch nach 1848/49, wird von Petersen 1982 (wie Anm. 60), S. 74 als „merkwürdig unpolitisch“ gebrandmarkt, da die „neoguelfischen Träume“ doch bereits „ausgeträumt“ gewesen seien. Vgl. auch Clemens 2000 (wie Anm. 60), S. 267, Anm. 56. 84 Sowohl Reinhardt 2003 (wie Anm. 60), Kap. 7 („Erzwungene Modernisierung und der Weg zum Nationalstaat – 1796 bis 1861“) als auch David Gilmour: Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart 2013, Kap. 6 („Revolutionäres Italien“) lassen den unterschiedlichen Positionen Gerechtigkeit widerfahren. 85 Vgl. etwa Petersen 1999 (wie Anm. 60), S. 69. 86 Vgl. Clemens 2000 (wie Anm. 60), S. 255 – 258, sowie Petersen 2000 (wie Anm. 64), S. 2 – 5. 87 Gerade die romtreuen Katholiken stellten für den jungen italienischen Nationalstaat durchaus ein Integrationsproblem dar; vgl. Franz J. Bauer: Wie „bürgerlich“ war der Nationalstaat in Deutschland und Italien? In: Christof Dipper (Hrsg.): Deutschland und Italien 1860 – 1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich. München 2005 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 52), S. 107 – 120, hier S. 119 f., sowie Dipper 2000 (wie Anm. 60), S. 88.
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IV. Das Werk und das „falsche“ Netzwerk – wie Reumont aus der Geschichtswissenschaft hinausgeschrieben wurde Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass schon die Angehörigen der nachfolgenden Professorengeneration, diejenigen, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf die Lehrstühle kamen, Reumonts Diplomatenschrift im Rahmen ihrer – jetzt als solche begriffenen – Wissenschaft nicht mehr schätzten. Sie konnten ihre Qualitäten nicht mehr erkennen und begannen, sie zu marginalisieren. Eine Schrift wie diese, die zwar über eine methodisch reflektierende Rahmung verfügt, dann aber Gesandtenberichte als historische Erzählungen begreift und die Diplomaten selbst sprechen lässt, die den zwischenstaatlichen Austausch um seiner selbst willen propagiert und Mitteilungen über Land und Leute höher veranschlagt als diplomatische Verhandlungserfolge, eine Schrift zudem, die gegen den italienischen laizistischen Nationalstaat Position bezieht, vergangene staatliche Verhältnisse, und dann noch italienische, für vorbildhaft hält und am Konzept eines föderativen Italien mit dem Papsttum an der Spitze festhält – eine solche Kulturgeschichte der Renaissancediplomatie konnten die deutschen Geschichtsprofessoren um 1900 und danach nicht schätzen. So kam es, dass Reumonts Italienische Diplomaten und diplomatische Verhältnisse seit den 1880er Jahren historiographiegeschichtlich unterlagen. Mit diesen Befunden zur Rezeptionsgeschichte könnte die Kontextualisierung der Diplomatenschrift Reumonts ihr Bewenden haben. Allerdings würde sie dann gar nichts erzählen über die Konstruktion Reumonts zum Gestrigen. Sie bliebe folglich nicht bloß unterkomplex, sondern würde sogar die bisherige Forschungsmeinung bestätigen, nach der Reumonts Werke zu Recht, nämlich wegen ihres überholten Inhalts und ihres Mangels an darstellerischer Qualität, vergessen sind. Hingegen geht die vorliegende Studie davon aus, dass Reumont aus der Geschichtswissenschaft hinausgeschrieben worden ist. Denn dass sich nicht die Art und Weise Reumonts durchsetzte, Diplomatiegeschichte zu schreiben, sondern eine am Ausbau neuzeitlicher Staatlichkeit, an politischen Entscheidungen und an der Professionalisierung der Diplomatie interessierte, dass vor allem Reumonts Auffassung von Diplomatie und Diplomatiegeschichte bald nicht einmal mehr verstanden und dann ignoriert wurde, lag, so die These, eben nicht einfach an einer präsumtiv geringeren Qualität seiner Diplomatiegeschichte, sondern vor allem an der Ausbildung von Schulen im Rahmen der Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft, zu der Reumont nicht gehören sollte. Um 1900, um 1920 und um 1940 war eben niemand da, der für die Qualitäten der Reumontschen Schrift stritt und ihren Autor als guten Historiker autorisierte. Reumont hatte keine Schülerschaft und auch sonst keine entsprechenden Netzwerke aufgebaut, so dass es ein leichtes war, ihn aus der Wissenschaft hinauszuschreiben. Davon soll in diesem Kapitel die Rede sein. Ihren Ausgangspunkt nehmen die folgenden Ausführungen an jener Schnittstelle zwischen Werk und Netzwerk Reumonts, von der oben (Kap. II. 3.) die Rede war.
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Dort war festgestellt worden, dass der Amerikaner Garrett Mattingly den Aufsatz Reumonts viel höher einschätzt als die deutschen Historiker und dabei Leopold von Ranke nicht einmal erwähnt. Zum anderen verwunderte dann doch, wie ungewohnt unscharf Willy Andreas und Fritz Ernst formulieren, wenn sie die präsumtiv höheren Verdienste Rankes um die erstmalige Darstellung der Renaissancediplomatie zu dokumentieren und die im Vergleich dazu geringeren Verdienste Reumonts zu begründen haben. Schaut man genauer zu, wird man dessen gewahr, dass weder Andreas noch Ernst die wissenschaftliche Leistung Rankes mit Nachweisen aus dessen historischen Werken belegen. Anstelle solcher Belege phantasiert etwa Willy Andreas ausführlich über die Empfindungen Rankes bei der Lektüre der Archivalien und deren Wirkung auf den jungen Historiker,88 an anderer Stelle stützt er sich auf Briefe Rankes,89 überwiegend aber zieht er weiträumige Kreise und verbreitet auf diese Weise mehr Stimmung als Information. Andreas konnte allerdings, auch ohne Belege zu liefern, davon ausgehen, dass die meisten Leser, dass vor allem seine Professorenkollegen diese Sicht der Dinge teilten, denn: Diese Ansicht verstand sich von selbst. Die Verständigung über die präsumtiv größeren wissenschaftlichen Verdienste Rankes gegenüber denen Reumonts geschah eben kaum in inhaltlichen Erörterungen, sondern funktionierte vor allem als Verständigung über die Zugehörigkeit zu historischen Schulen. Willy Andreas, Fritz Ernst und Karl Brandi waren in diese Schulen eingebunden und konnten durch sie – jedenfalls für Willy Andreas und Karl Brandi gilt das – ihre eigene wissenschaftliche Arbeit auf die erste Generation des Historismus zurückführen, nämlich sogar auf Leopold von Ranke selbst.90 Die Zugehörigkeit zu einer dieser historischen Schulen erlaubte, wie sich hier deutlich zeigt, eine Zuschreibung von wissenschaftlicher Qualität ohne inhaltliche Auseinandersetzung. Vor allem aber, und nur darum geht es hier, erlaubte die Nicht-Zugehörigkeit Reumonts zu einer der dominierenden historischen Schulen eine Verständigung über dessen Abqualifizierung als Historiker – wie gesagt: ohne in eine Debatte über Form und Inhalt der Schrift auch nur einzutreten. Ein solches Verhalten auf individuelle Charakterschwächen dieser Historiker 88 „Wer lange bestimmte historische Dokumente auf sich wirken lässt, weiß, wie sie allmählich Einfluß auf einen gewinnen, wie sie das geistige Wesen auch eines Erforschers von kühlster Haltung zu färben anfangen. In Ranke aber, der sich voll Erkenntnishunger und mit einem wahren Glücksgefühl auf die langen Reihen der venezianischen Gesandtenberichte stürzte, lebte mehr als die Empfänglichkeit einer künstlerischen Seele. Innere Wahlverwandtschaften zogen ihn, den Grandseigneur der historischen Wissenschaft, den Geistesaristokraten und Schüler der Restauration, zu diesen Gegenständen hin, wie denn gerade die Führer- und Entdeckernaturen oft mit einer Art von Gesetzmäßigkeit auf die Dinge stoßen, die ihnen wesensverwandt sind und in einem bestimmten Augenblick ihres Werdens Förderung verheißen“. Andreas 1948 (wie Anm. 32), S. 77 f. 89 Vgl. ebd., S. 76, mit der Anm.; immerhin handelt es sich um publizierte Briefe. 90 Willy Andreas hatte bei Erich Marcks promoviert, der wiederum bei Heinrich von Treitschke, dem Nachfolger Rankes auf dem Berliner Lehrstuhl, promoviert hatte; Brandis wissenschaftliche Genealogie verweist über Druffel und Waitz direkt auf Ranke. Fritz Ernst gehört nicht direkt in diese Tradition, er hatte bei Johannes Haller promoviert; vgl. dazu die über viele Seiten verteilten Übersichten bei Weber 1987 (wie Anm. 22).
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zurückzuführen oder im Umkehrschluss die wissenschaftlichen Leistungen Andreas’, Ernsts und Brandis zu diskreditieren, griffe indessen viel zu kurz. Die Verständigung über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur „Zunft“ der Historiker und innerhalb der „Zunft“ zu einzelnen Schulen gehört vielmehr zu den Regeln, nach denen eine Disziplin funktioniert;91 Andreas konnte Reumont also gar nicht ebenso loben wie er Ranke pries, denn dann hätte er seine eigenen wissenschaftlichen Traditionen in Frage zu stellen begonnen – und damit in letzter Konsequenz sich selbst. Den entscheidenden Hinweis für die Richtigkeit der hier vorgelegten Interpretation liefert die ganz andere Auffassung von der Dignität Reumonts, die der Amerikaner Mattingly vorgetragen hat: Dieser stand außerhalb der deutschen Schulbildungen und ist deshalb heute bei der Beurteilung Reumonts ein willkommener Wegweiser. Die „Fundgrube“ indessen, bis heute ein vernichtendes Urteil über jede Geschichtswissenschaft, entpuppt sich vor diesem Hintergrund als Metapher für die Nichtzugehörigkeit Reumonts zur Zunft der professionellen Historiker. Diesen war die methodische, konzeptuelle und organisatorische Offenheit des Fachs im Jahrhundert zuvor offenbar vollständig in Vergessenheit geraten, obwohl man davon hätte jederzeit Kenntnis nehmen können, etwa in Franz Schnabels Geschichte des 19. Jahrhunderts.92 Aber Willy Andreas, Fritz Ernst und wohl auch Karl Brandi hatten vollkommen aus dem Blick verloren, dass in den 1850er Jahren von einer allgemein akzeptierten „historistischen“ Geschichtsschreibung, bei der die Darstellung der größeren historischen Zusammenhänge, „der allgemeinen Verhältnisse“, im Mittelpunkt steht und diese die Anordnung der Details leiten, noch gar nicht die Rede sein konnte.93 Die „Fundgrube“ ist also eine die historische Kritik beiseite schiebende, anachronistische – und insofern Prinzipien der historisch-kritischen Methode ignorierende! – Kategorie, die der Diplomatenschrift Reumonts nicht angemessen ist, die aber als Selbstvergewisserung der Adepten unverzichtbar war. Auf Alfred von Reumont dagegen folgte niemand, der seine Geschichtsschreibung fortsetzte oder sich auf ihn berief. Reumont gehörte zu keiner dieser Schulen; Reumont schrieb auch nicht für die Wissenschaftler, Reumont war nicht einmal ein Universitätshistoriker – er war nicht habilitiert –, ja: er hatte überhaupt keinen klar erkennbaren Beruf. Seine politische Heimat, wenn es denn eine solche für ihn gegeben hat, war der katholische Liberalismus. Als konservativer, papsttreuer Katholik, der nicht in die Historikerzunft einheiratete – der überhaupt nicht heiratete –, blieb er 91
Einen knappen Überblick über solche Regeln – er nennt sie sogar „Gesetze“ – gibt Stefan Jordan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Paderborn 2009, S. 36 f. im Kapitel „Die Verfachlichung der Geschichtswissenschaft“; vgl. ausführlicher Weber 1985 (wie Anm. 22) sowie Weber 1987 (wie Anm. 22). 92 Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 3. Erfahrungswissenschaften und Technik. Freiburg im Breisgau 1934 (ND München 1987), S. 36 – 162. 93 Fulda 1996 (wie Anm. 19) zeigt ja gerade die Entstehung dieser Geschichtsschreibung; vgl. auch Georg G. Iggers: Historismus – Geschichte und Bedeutung. Eine kritische Übersicht der neuesten Literatur. In: Gunter Scholtz (Hrsg.): Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion. Berlin 1997, S. 102 – 126.
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der protestantisch, kleindeutsch und preußisch orientierten Professorenschaft, die die Historischen Institute vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an jahrzehntelang dominierte, auch hinsichtlich Sozialisation und Habitus fremd.94 Ein solcher Historiker wie Reumont fand schon wegen seines ganz anderen Lebenszuschnitts keine Anerkennung mehr, weil er eben nicht „dazugehörte“. Gewiss war Reumont bestens vernetzt – aber nur für sein Leben, gerade auch für die Erfordernisse seiner Tätigkeiten in Italien, nicht aber für sein Nachleben als deutscher Historiker. Zunächst zu Italien: Hier gelang ihm die Aufnahme in die traditionsreiche historisch-philosophische Akademie „Colombaria“, eine Ehre, die nur wenigen Ausländern zuteil wurde.95 Und er schaffte es, von den führenden gesellschaftlichen Kreisen in Florenz akzeptiert zu werden, etwa von Gino Capponi und dessen Freundeskreis. Seine geschätzte Mitwirkung am Archivio Storico Italiano, dem 1842 von Gian Pietro Vieusseux gegründeten Fachjournal für italienische Geschichte, bewirkte und bedeutete eine weitere Vernetzung, sollte Reumont doch in dieser Zeitschrift über neue historische Forschungen in Deutschland und die deutschen Debatten über historische Methoden berichten.96 Ohnedies war ja ein funktionierendes italienisches Netzwerk die Voraussetzung sowohl für seine Aufgaben als Diplomat wie auch für seine Tätigkeit als Korrespondent der Augsburgischen Allgemeinen Zeitung.97 Freilich bleibt bis auf weiteres ungewiss, wie sehr ihn seine politische Einstellung von den Freunden isolierte, wie denn überhaupt erst wenig über seine Kontakte zu den alten Freunden in Italien über 1860 hinaus bekannt ist. Auch in Deutschland gelang Reumont der Ausbau guter Beziehungen. Jedin zählt all die Personen auf, mit denen Reumont korrespondierte oder sogar in persönlichem Kontakt stand.98 Die sehr enge Beziehung zu Friedrich Wilhelm IV., die ihm 1846 den Adelstitel einbrachte, ist ohnedies etwas ganz Besonderes. Unter den deutschen Historikern sorgte übrigens kein geringerer als Leopold von Ranke 1854 für die Ernennung Reumonts zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, wofür, wie Ranke ihm mitteilt, „die Majorität im Plenum […] sehr anständig“ ausgefallen sei.99 Im Verhältnis zwischen Ranke und Reumont, das von gegenseitiger Wertschätzung geprägt gewesen zu sein scheint, sieht man darüber hinaus 94 Zu Herkunft, Konfession, Sozialisation und Netzwerkbildungen über Heiraten sowie zur Bedeutung dieser Merkmale für die Schulbildung vgl. Weber 1985 (wie Anm. 22). 95 Vgl. Clemens 2004 (wie Anm. 10), S. 203. 96 Vgl. Clemens 2006 (wie Anm. 5), S. 214 – 218. 97 Reumont dürfte eben ein vorzüglicher Netzwerker und erfolgreicher Wissenschaftsorganisator vor Ort gewesen sein. Er stand im preußischen Staatsdienst und brauchte sich deshalb, jedenfalls ab 1843, um Gehalt und Altersversorgung keine Sorgen mehr zu machen; mit seiner publizistischen Tätigkeit – für die Augsburger Allgemeine Zeitung schrieb er 1500 Artikel in etwa 50 Jahren (Clemens 2006 [wie Anm. 5], S. 222) – verdiente er dazu und scheint auch insofern unabhängig gewesen zu sein. 98 Jedin 1973 (wie Anm. 2), S. 101 f. 99 Ranke an Reumont, Berlin, 15. Juni [1854], gedr. bei Hüffer 1904 (wie Anm. 10), S. 193.
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sehr schön, wie Netzwerke von Historikern als Do-ut-des-Verhältnisse funktionieren: Ranke sorgte für die Aufnahme Reumonts in die Akademie, Reumont öffnete Ranke die Archivtüren in ganz Norditalien.100 Doch eine Biographie wie die Reumonts funktionierte schon in seinem Todesjahr nicht mehr, und sie wurde nicht einmal mehr verstanden – wer konnte um die Jahrhundertwende noch Historiker, Diplomat und Publizist zugleich sein und in allen drei Tätigkeiten mit Anerkennung rechnen? In der zweiten Jahrhunderthälfte, also während der produktiven Zeit Reumonts, entwickelten sich die drei Tätigkeitsbereiche – die Publizistik freilich mit erheblicher Verzögerung – zu Professionen mit Ausschließlichkeitsanspruch. In diesen Zusammenhängen, die hier nicht weiter ausgeführt werden können, wurde Reumont die Anerkennung der professionellen Historiker allmählich entzogen. Dieser Vorgang spiegelt sich in den Formulierungen, mit denen unser Fach den Historiker Reumont seit der Jahrhundertwende für nicht mehr zugehörig erklärte. Den Würdigungen, die mit dem Todesjahr Reumonts 1887 einsetzen, ist zu entnehmen, dass die Historiker, die Reumont noch persönlich gekannt und die Vielzahl seiner Tätigkeiten verstanden haben, seine Schriften schätzten. Dieser Befund gilt, wie gezeigt, zunächst für Ranke selbst. Und er gilt für Hugo Loersch (1840 – 1907), Aachener wie Reumont und promovierter Rechtshistoriker, der Karriere im preußischen Staatsdienst machte. Loersch verfasste einen auch den Historiker anerkennenden Aufsatz zum Tode Reumonts.101 Seitdem aber lässt sich feststellen: Je professionalisierter und institutionalisierter der würdigende Historiker, desto weniger wurde Reumont selbst als Historiker begriffen, desto deutlicher wurde er zum kulturellen Mittler. Schon bei Hermann Hüffer (1830 – 1905), dem Bonner Professor für Rechtsgeschichte, steht 1904 der kulturelle Mittler Reumont vor dem Historiker.102 Franz Schnabel, seinerseits in gewisser Weise ein Außenseiter unter den Universitätshistorikern, nennt Reumont noch in einem Atemzug mit Friedrich von Raumer, Wilhelm von Humboldt, Niebuhr und Bunsen als „preußische Gesandte, die zugleich fachkundige Gelehrte waren“ und in Rom die diplomatischen Geschäfte geführt haben.103 Von da aber schließt sich über Fritz Ernsts „Fundgrube“ aus dem Jahre 1951 allmählich der Kreis zu den anachronistischen Urteilen, die in der Ein100 Vgl. Hüffer 1904 (wie Anm. 10), S. 192. Das Verhältnis zwischen den beiden verdiente vor dem Hintergrund ihrer Netzwerke, Kapitalsorten, Widmungen, Bestätigungen und Vergewisserungen eine genauere Aufarbeitung. 101 Loersch 1888 (wie Anm. 11) mit einer Zusammenstellung der in dieser Zeitschrift erschienenen Aufsätze Reumonts. Loersch stützt sich vielfach auf die Jugenderinnerungen Reumonts. 102 Bei Reumont „denkt man zuerst an den Freund Friedrich Wilhelms IV., den erfolgreichen Diplomaten, den Vermittler zwischen Deutschland und Italien, den Verfasser der Geschichte von Rom, der Römischen Briefe, des Lorenzo de Medici, der Geschichte Toskanas und einer langen Reihe grösserer und kleinerer Werke, die eine kaum übersehbare Fülle von neuen Tatsachen und feinsinnigen Bemerkungen in sich schließen“. Hüffer 1904 (wie Anm. 10), S. 5. 103 Schnabel 1934 (wie Anm. 92), S. 146 f.
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leitung erörtert worden sind, zu Jedins Diktum vom geringen „wissenschaftlichen Dauerwert“ der Geschichte der Stadt Rom Reumonts 1973, Petersens „Gestrigem“ aus dem Jubiläumsaufsatz von 1987 und Leppers im Jahre 2003 geäußerten Verdikt, Reumonts Römische Geschichte sei im Vergleich zu der von Gregorovius „methodisch und konzeptionell konservativ“.104 Vor dem Hintergrund dieser Analyse wird nun auch manch wunderliche Kritik an Reumonts Werken105 besser verständlich: Sie fungiert als Ersatz für eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Form und Inhalt der Reumontschen Werke. V. Fazit und Perspektiven – warum der Historiker Reumont wiederentdeckt werden sollte Die vorliegende Studie hat erwiesen, dass Reumonts Diplomatenschrift als eine Kulturgeschichte der italienischen Renaissancediplomatie durchaus lesenswert ist, und sie konnte nachvollziehen, wie und warum Reumont aus der Geschichtswissenschaft hinausgeschrieben und zu einem Gestrigen gemacht wurde. Die Ergebnisse sind nun kurz zu summieren – um abschließend die Frage umzudrehen und deutlich zu machen, warum Reumont als Historiker wiederentdeckt werden sollte. Reumonts Diplomatenschrift, gelesen als ein Dokument aus den frühen 1850er Jahren – und insofern als „Überrest“ verstanden – bietet eine Momentaufnahme, die wie eine Ausschnittvergrößerung die Offenheit einer historischen Situation viel deutlicher zeigt als ein Rückblick von Zeitgenossen oder gar der Nachgeborenen. Im Erscheinungsjahr von Reumonts Diplomaten und diplomatischen Verhältnissen gilt eine solche Unabgeschlossenheit nämlich für viele der in seiner Schrift ausdrücklich thematisierten wie auch für die nur unausgesprochenen mitschwingenden historiographischen Probleme: Sie gilt für das Renaissancebild im deutschen Sprachraum, für die Einsicht in die Kontinuitäten der neuzeitlichen Diplomatie bis zurück in dieses späte Mittelalter, für den thematischen Zuschnitt einer Diplomatiegeschichte, und sie gilt für die Praxis der Geschichtsschreibung vor Droysens Historik. Durchgesetzt hat sich dann aber – trotz dieser Offenheit – eine Auffassung von Diplomatie und Diplomatiegeschichte, die mehr auf die staatliche als die kulturelle Seite des Gesandtschaftswesens blickte und, als politische Geschichte, den Fokus auf die einzelne Entscheidung richtete; und durchgesetzt hat sich eine Geschichtswissenschaft, die
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Lepper 2003 (wie Anm. 6), S. 454 f. Schon Hermann Hüffer kritisierte, neben dem Lob für die „Wärme und Kraft“, mit der Reumont gerade in den Lebensbildern „mit Meisterhand“ die „charakteristischen Züge“ dargestellt habe, den sprachlichen Ausdruck Reumonts, insbesondere eine „gewisse Ungelenkigkeit des Satzbaues“. Hüffer 1889 (wie Anm. 10), S. 294 f. Noch eigenartiger erscheint die Kritik von Petersen, die oben in Anm. 7 vollständig zitiert worden ist. Insbesondere lässt sich sein Verdikt, Reumont fehle „die große individuelle Subjektivität, die als zeitgeschichtliches Dokument selbst in die Geschichte eingehen kann“, im Lichte der vorstehenden Ausführungen gar nicht halten. 105
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nicht mehr den Anspruch vertrat, mit der Geschichte als Argument in die aktuelle politische Situation hinein wirken zu wollen. Diese anderen Auffassungen haben sich aber nicht einfach durchgesetzt, sondern sie wurden durchgesetzt. Beobachtet werden konnte, mit welchen Formulierungen schon bald nach Reumonts Tod die Vertreter einer nun exklusiv an den Universitäten betriebenen professionellen Geschichtswissenschaft eine solche Geschichtsschreibung als unwissenschaftlich ausgrenzten, die von einem Historiker vorgelegt wurde, der aufgrund seiner Sozialisierung, seiner politischen Einstellung, seiner Auffassung von der historiographischen Praxis und wegen seines ganz anderen Lebensentwurfs nicht zu ihnen, nicht zu einer ihrer Schulen gehörte. Die Frage nach dem Stellenwert dieser Faktoren als Prüfsteine der „Zugehörigkeit“ muss hier allerdings noch unbeantwortet bleiben. Um diese Faktoren im einzelnen gewichten zu können, wären Analysen weiterer Werke Reumonts erforderlich; seine Geschichte der Stadt Rom böte sich dafür an, ergänzt um seine Ausführungen über die Methoden im Archivio Storico Italiano. Zitiert sei an dieser Stelle aber noch einmal Daniel Fulda: „Auch Ranke, Droysen und Mommsen repräsentierten eine professionalisierte Geschichtswissenschaft erst, indem sie sich Schüler erzogen, nicht aber schon in eigener Person, d. h. als ausgebildete Philologen oder Juristen“.106 Man ist eingeladen sich vorzustellen, dass alles auch ganz anders hätte kommen können mit der Diplomatiegeschichte in Deutschland. Mithin zeigt sich auch für die Geschichtsschreibung um die Jahrhundertmitte eine viel größere Offenheit und Vielfalt als oftmals dargestellt. Insbesondere erscheinen die Unterscheidungen in kleindeutsch-borussisch-protestantisch und großdeutschkatholisch einerseits und wissenschaftlich und vorwissenschaftlich andererseits keineswegs ausreichend.107 Zwar findet erfreulicherweise die katholische Historiographie des 19. Jahrhunderts mit neuen Fragen wieder mehr Beachtung;108 unabhängig davon aber sind Analysen der einzelnen Werke im Hinblick auf deren narrative Strategien und spezifische Themen ebenso unverzichtbar wie sorgfältige Kontextualisierungen dieser Werke – im Sinne einer modernen Wissenschaftsgeschichte: Von Wechselwirkungen zwischen Erzählung und Geschichtsschreibung, zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Poetik und Historik109 ist dabei ebenso auszugehen 106
Fulda 1996 (wie Anm. 19), S. 275. Vgl. zu einer solchen „Dekonstruktion von Grenzziehungen“, die in der Historiographiegeschichte bereits erfolgt sei, Metzger 2011 (wie Anm. 39), S. 34. 108 Vgl. etwa Marcus Sandl: Heilige Stagnation. Mediale Konfigurationen des Stillstands in der großdeutsch-katholischen Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 285 (2007), S. 529 – 563, und die anschließende Diskussion mit Winfried Becker. 109 In diesem Zusammenhang ein letztes Mal Daniel Fulda, der solche Postulate schon 1996 erhob: Eine historiographiegeschichtliche Untersuchung müsse „derzeit vor allem drei Gefahren zu entkommen suchen: der Reduktion von Historiographiegeschichte auf den Verwissenschaftlichungsaspekt, der Privilegierung der Historik und Vernachlässigung der praktisch-historiographischen Seite sowie der Depravation von disziplinärer Selbstreflexion im 107
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wie von Gattungsunschärfen zwischen Geschichtsschreibung und Publizistik. Mit Durchsetzungs- und Ausgrenzungsstrategien ist zu rechnen und andere, zeitgenössische Wissenschaftsbegriffe sind ernst zu nehmen; diese sind jedenfalls nicht in die „Vorwissenschaft“ oder gar „in eine Vorgeschichte des historischen Denkens“ zu verdrängen.110 Vor allem aber wird man akzeptieren müssen: Was sich durchgesetzt hat, war nicht einfach das Bessere. Die Figur des „Gestrigen“, des „Uninteressanten“, findet man folglich auch in anderen Bereichen, etwa in der Kunst und in der Musik, und gewiss auch in den Naturwissenschaften – zu einer solchen Figur gemacht mit den geschilderten Mechanismen der Zuschreibung und Aberkennung von Autorität und Qualität. Über solche wissenschaftsgeschichtlichen Einsichten hinaus hat sich aber auch unversehens eine geschichtswissenschaftliche Bedeutung der Reumontschen Diplomatenschrift gezeigt. Reumont berührt nämlich eine zentrale Frage, die unser Fach unter den Rubriken „neue Diplomatiegeschichte“ und „Kulturgeschichte des Politischen“ seit einiger Zeit diskutiert: Wie viel Staatlichkeit gehört in eine moderne Diplomatiegeschichte? Im Rahmen dieser Debatte bieten Reumonts Italienische Diplomaten und diplomatischen Verhältnisse eine unerwartete Orientierung. Reumont interessiert sich nicht für die politische Entscheidung der großen Staatslenker, nicht für den Prozess der Staatsbildung und der Verstetigung der Gesandtenposten, auch nicht für die großen Bewegungen im Staatensystem. Wenn seine Darstellung überquillt von Mitteilungen über Sitten und Gebräuche, über die Lebensweise, die Kunst, die Bauten, die Topographie, über das Essen und Feiern, dann deshalb, weil er das Wissen und die Informationen über andere Länder, weil er Kommunikation im Sinne von Verständigung, Verständnis und Verlässlichkeit für eine Kulturleistung hielt und als Voraussetzung begriff, die einen kultivierten Umgang miteinander, eben auch im zwischenstaatlichen Verkehr, erst ermöglicht; insofern findet für Reumont der kommunikative Austausch unter Diplomaten seinen Zweck immer auch in sich selbst.111 Er selbst grenzt seine Auffassung von Diplomatie scharf ab von einer staatsutilitaristischen, für die er das Diktum Henry Wottons zitiert, ein Diplomat sei „a clever man sent abroad to lie for his country“ (S. 8). Reumonts Verständnis von Diplomatie hingegen, mit dessen Aufdeckung hier auf eine verschüttete Tradition von Diplomatiegeschichte aufmerksam gemacht werden konnte, ist wahrscheinlich eine spezifisch europäische Auffassung vom Sinn und Zweck aller Diplomatie. Von ihr sollte wieder mehr die Rede sein, in der Geschichtswissenschaft und in der Politik. Medium der Historiographiegeschichte zur Selbstbestätigung oder wissenschaftspolitischen Polemik“. Fulda 1996 (wie Anm. 19), S. 17. 110 Günther 1975 (wie Anm. 40), S. 625. 111 Zu diesem Verständnis von Diplomatie gehört auch eine bestimmte Auffassung vom Selbstbild eines Diplomaten, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann; zur Bedeutung dieses Selbstbildes für das Funktionieren der Diplomatie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zum Bruch, den der Erste Weltkrieg auch hier bedeutete, hat Verena Steller eine instruktive Studie vorgelegt: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen 1870 – 1919. Paderborn u. a. 2011.
Noch einmal Gregorovius und Reumont oder: Alfred von Reumont als Reiseschriftsteller Von Frank Pohle Als sich der Dresdener Verlag Wolfgang Jess 1927 entschloss, eine Reihe von Aufsätzen und kleineren Arbeiten Alfred von Reumonts unter dem Titel Frauenschicksale der Renaissance in Überarbeitung neu herauszugeben, schrieb Emil Schaeffer dazu ein erstaunliches Vorwort. Es beginnt wie folgt: „Zweierlei Arten von Geschichtsschreibern gibt es: den Dichtern verwandt sind die einen, Fürsten im Reiche der Wissenschaft, gesalbt mit einem Tropfen Shakespearischen Öles, begnadet mit der Kraft, längst in Staub zerfallenden Körpern neuen Odem einzuhauchen, so daß sie, dem Grabe entsteigend, neben uns wandeln und wir die Toten zu kennen vermeinen wie unsere Nächsten. Die anderen mühen sich um die Tatsache, wollen unser Wissen um das, was ,wirklich‘ geschehen ist, bereichern; vermitteln uns schätzbare, bisweilen unschätzbare Kenntnis des Vergangenen, und ihre Werke bedeuten eine Notwendigkeit – bis zu dem Augenblick, wo neue Forschungen, neue Funde aus den Schächten der Archive neues Tatsachenmaterial zutage fördern. In diesem Moment ist das Buch, weil nur das Erzählte wichtig war und der Erzähler uns gleichgültig blieb, auch schon überholt, veraltet und wird eingesargt zu selten gestörtem Schlummer in den Katakomben des Geistes, den großen Bibliotheken.“1
Schaeffer rechnet Reumont zu den letzteren; dessen rund 150 Bücher und längere Abhandlungen hätten eben jenes Schicksal erfahren, nur noch papierne Präsenz in den staubigen Regalen der Bibliotheken zu besitzen, aber dem lebendigen wissenschaftlichen und geistigen Diskurs längst entzogen zu sein. Geahnt habe dies unter den Zeitgenossen nur der Geschichtsschreiber Ferdinand Gregorovius, dessen Verhältnis zu Reumont selten ein ungetrübtes, meist ein von Konkurrenz beschattetes war. Im privaten Briefwechsel spottete Gregorovius über Reumont als „Raymundus a Pennaforte“,2 als vielschreibender Seitenfüller ohne künstlerische Form und originellen Gehalt – eine Haltung, die sich 1927 auch Schaeffer zu Eigen machte: 1
Emil Schaeffer: Vorwort zu Alfred von Reumont: Frauenschicksale der Renaissance. Dresden 1927, S. VII–XV, hier S. VII. 2 Vgl. z. B. Herman von Petersdorff (Hrsg.): Briefe von Ferdinand Gregorovius an den Staatssekretär Hermann von Thile. Berlin 1894, S. 61 (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 16. Februar 1863) und ebd., S. 92 (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 23. März 1873). Zum Hintergrund dieser Briefe vgl. Johannes Hönig: Bismarcks Staatssekretär Hermann von Thile und seine Freundschaft mit Alfred von Reumont. In: Gelbe Hefte 16 (1940), S. 232 – 245, zum Konkurrenzverhältnis zwischen Gregorovius und Reumont wegen beider Geschichten der Stadt Rom vgl. u. a. Ferdinand Gregorovius: Römische Tagebücher
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„Reumont, der nicht gleichgiltig gegen die äußeren Zeichen des Berühmtseins war, ist Mitglied unzähliger gelehrter Körperschaften, Ehrendoktor […] und noch einiges andere gewesen; die Nachwelt jedoch wurde nicht geblendet vom Funkeln seiner Orden, der tönende Schall seiner Titel hat sie nicht betäubt, mit respektloser Gelassenheit schob sie sogar das Ehrenbürgerdiplom der Stadt Rom beiseite und hat, Wort für Wort, Silbe um Silbe das Verdikt von Gregorovius bestätigt.“3
Aber stimmt das wirklich? Liegt es tatsächlich an den Schriften selbst, dass sie heute kaum noch bekannt sind? Liegt es nicht auch an der Haltung des Autors? An den Zufällen der Rezeptionsgeschichte? Und ist mit dem Ausscheiden der Werke zuerst aus dem Buchhandel, dann aus dem wissenschaftlichen Diskurs auch schon ein Verdikt über ihren Autor gesprochen: uninteressant, altmodisch – Raymundus a Pennaforte, Vielschreiber, unsere Zeit stiehlst Du nicht? Mit Gregorovius und Reumont sind von Schaeffer jedenfalls zwei Männer genannt, die in vielerlei Beziehung als Antipoden gelten können: Ostpreuße, Protestant, Sozialist und Revolutionär der eine, Rheinländer, Katholik und liberaler Konservativer der andere; Gregorovius ein mitunter mürrischer Zeitgenosse mit Hang zum Einzelgängertum, Reumont ein Gesellschaftstier, das auf Bällen und Empfängen auflebte; Gregorovius ängstlich auf seine Unabhängigkeit als Künstler und Schriftsteller bedacht, Orden und Lehrstühle ausschlagend, Reumont hoch erfreut über gesellschaftliche Anerkennung.4 In ihrem privaten Umfeld und ihrer schriftstellerischen 1852 – 1889. Illustriert mit 64 Originalzeichnungen von Ferdinand Gregorovius, hrsgg. und komm. von Hanno-Walter Kruft und Markus Völkel. München 1991, S. 222, 246 und 330. 3 Schaeffer 1927 (wie Anm. 1), S. VIII. 4 Zu Leben und Werk des Ferdinand Gregorovius vgl. Johannes Hönig: Ferdinand Gregorovius. Eine Biographie. 2., völlig neu gestaltete Aufl., Stuttgart 1944 sowie die Beiträge in Arnold Esch/Jens Petersen (Hrsg.): Ferdinand Gregorovius und Italien. Eine kritische Würdigung. Tübingen 1993 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 78), aber auch die älteren Arbeiten von Johannes Hönig: Ferdinand Gregorovius als Dichter. Stuttgart 1914 (= Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte NF 39), ders.: Ferdinand Gregorovius, der Geschichtsschreiber der Stadt Rom. Mit Briefen an Cotta, Franz Rühl und andere. Stuttgart/ Berlin 1921, Heinrich Hubert Houben: Ferdinand Gregorovius als Journalist. In: Deutsche Rundschau 171 (1917), S. 223 – 242 und Paul F. Kehr: Ferdinand Gregorovius und Italien. Ein Nachruf zu seinem 100. Geburtstag. In: Deutsche Rundschau 178 (1921), S. 194 – 200; vgl. ferner Hanno-Walter Kruft: Der Historiker als Dichter. Zum 100. Todestag von Ferdinand Gregorovius. Öffentlicher Vortrag, gehalten am 2. Dezember 1991. München 1992 (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 1992, H. 2). Eine ausführliche Biographie Alfred von Reumonts steht bis heute aus. Lesenswerte biographische Abrisse legten vor: Hugo Loersch: Zur Erinnerung an Alfred von Reumont. Vortrag gehalten in der Generalversammlung des Aachener Geschichtsvereins am 10. November 1887. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 10 (1888), S. 1 – 21, Hermann Hüffer: Alfred von Reumont. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 77 (1904), S. 5 – 241, Leo Just: Alfred von Reumont. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 131 (1937), S. 133 – 148, Hubert Jedin: Alfred von Reumont (1808 – 1887). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 112, Francesco Cataluccio: Lo storico e diplomatico A. von Reumont nel Risorgimento italiano. In: Archivio storico italiano 117 (1956), S. 319 – 378 und Herbert Lepper: Alfred von Reumont. Eine biographische Skizze. In: Öffentliche Bibliothek der Stadt Aachen (Hrsg.): Dante-Sammlung. Aachen 1987,
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Tätigkeit berührten sich beide. Gerade im Hinblick auf Letzteres entwickelte sich zeitweise eine starke Rivalität. Die Polemiken und Verwerfungen zwischen Gregorovius und Reumont zeichnete, vor allem in Konzentration auf die Geschichte der Stadt Rom bzw. die Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Alberto Forni 1985 nach.5 Wie aber ist das Verhältnis beider zueinander im Hinblick auf jene Werke, die nicht im engeren Sinne der Geschichtsschreibung, sondern der leichteren Muse der Reiseliteratur zuzuordnen sind? Solche Texte begegnen im Werke beider in großer Zahl, zum Teil behandeln sie sogar die gleichen Gegenden und Örtlichkeiten, so dass ein Vergleich besonders lohnend ist. Füllt Reumont auch hier ohne einen „Tropfen Shakespearischen Öles“6 Seite um Seite? Oder ist doch dem Aachener Stiftspropst Alfons Bellesheim beizupflichten, der anlässlich des 100. Geburtstags Reumonts nachgerade dessen „von fast dichterischem Zauber belebte Sprache, eine überall den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung aufdeckende Geistesschärfe“, verbunden mit „unbestechlicher Liebe zur Gerechtigkeit“ zu rühmen wusste?7 Grundlage der folgenden Betrachtungen werden die Wanderjahre in Italien, der Essay Korfu und Die Grabdenkmäler der römischen Päpste von Ferdinand Gregorovius sowie die Reiseschilderungen und Umrisse aus südlichen Gegenden, die Dichtergräber und die Römischen bzw. Neuen Römischen Briefe von einem Florentiner Alfred von Reumonts sein. Über Gregorovius’ große Schriften sind nicht viele Worte zu verlieren; die Wanderjahre in Italien erscheinen noch heute in mehreren Sprachen, die deutsche, inhaltlich etwas entstellte Ausgabe bei C. H. Beck befindet sich gegenwärtig in der siebten Auflage;8 die beiden anderen Schriften sind zumindest noch um S. 5 – 20, wieder in: Stadtbibliothek Aachen (Hrsg.): Alfred von Reumont (1808 – 1887). Gelehrter, Diplomat, Ehrenbürger Aachens. Aachen 2008, S. 22 – 38, sowie ders.: Art. „Reumont, Alfred v.“. In: NDB 21 (2003), S. 454 f. 5 Vgl. Alberto Forni: La questione di Roma medievale. Una polemica tra Gregorovius e Reumont. Rom 1985 (= Studi storici 150/151). Zu im Grundzug ähnlichen Ergebnissen, wenn auch ohne Kenntnis der Arbeit Fornis kam jüngst an anderem Beispiel Kathrin Haakshorst: Der Konflikt zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. im historiographischen Werk von Ferdinand Gregorovius, Alfred von Reumont und Wilhelm von Giesebrecht. Staatsarbeit (masch.) Aachen 2009. 6 Schaeffer 1927 (wie Anm. 1), S. VII. 7 Alfons Bellesheim: Zum 100. Geburtstage von Excellenz Alfred von Reumont. In: Echo der Gegenwart, 15. 8. 1908. 8 Die Essays über Avignon, über die römischen Poeten der Gegenwart, über toskanische und sizilianische Volkslieder, den Krieg der Freischaren um Rom sowie die Betrachtungen über „Das Reich“, „Neapel und Sizilien“ und „Rom und Deutschland“ sind nicht mehr Teil der modernen Ausgaben der Wanderjahre. Schon die 1925 im Verlag Wolfgang Jess in Dresden erschienene, von Fritz Schillmann besorgte Ausgabe der Wanderjahre verzichtete auf alle rein volkskundlichen und rein zeitgeschichtlichen Kapitel und eben den Essay über Avignon, da die Stadt ja außerhalb Italiens liegt und man somit glaubte, ein Abdruck des Textes nach der Erstausgabe würde mehr Verwirrung stiften als dem Leser gewinnbringend sein. Dafür wurden Texte von Gregorovius, die ursprünglich in anderen Kontexten veröffentlicht worden waren, in das Textkorpus aufgenommen, namentlich die Essays Die öffentlichen Monumente in Florenz
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die Mitte des 20. Jahrhunderts aufgelegt worden.9 Anders dagegen die genannten Werke Reumonts, die aus dem Bewusstsein des heutigen Bildungsbürgertums verschwunden und nur in den Erstausgaben zu konsultieren sind. Die Reiseschilderungen erschienen 1835 als fünfter Band der Reihe „Reisen und Länderbeschreibungen“ bei Cotta, die Römischen Briefe von einem Florentiner ohne Angabe des Autors 1840 bei Brockhaus in Leipzig. Ihnen folgten 1844 ebenda die Neuen Römischen Briefe, während die Dichtergräber über die Grabstätten Dantes, Petrarcas und Boccaccios 1846 in Druck gegeben wurden.10 Reumonts Schriften gehen also denjenigen des Gregorovius zeitlich um mindestens ein bis zwei Jahrzehnte voraus. Alle diese Schriften besitzen essayistischen Charakter. Sie zeichnen sich durch eine unsystematische, bisweilen assoziative, und fragmentarische Art, ihren Gegenstand zu behandeln, aus. Gregorovius führte die Gattungsdebatte explizit im Umfeld der Grabdenkmäler der römischen Päpste, die er als „englisches Essay“11 begann; die ursprünglich fünf Bände der Wanderjahre, erschienen über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren (1856 – 1877), sind im Grunde Sammlungen von längeren Artikeln aus der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Reumont griff stärker auf essayistische Traditionen der Aufklärung zurück, bezeichnete sich gerade in den Römischen Briefen selbst als „Dilettant“, der „leichte Skizzen“ verfasse, „wie der Moment sie erzeugt“,12 und dem „nicht einfallen kann zu glauben, in diesen oft leichten Skizzen einen der mannigfachen Gegenstände erschöpft zu haben, von denen sie handeln. Die Form allein schon spricht gegen eine solche Annahme, und in manchen Fällen ist blos eine Anregung gegeben.“13 Und auch die Reiseschilderungen wollten nicht mehr und Die Villa Malta in Rom sowie Beiträge über Segesta, Selinunt und das Königsschloss Caserta. Leider folgt die gegenwärtig erhältliche Ausgabe der Wanderjahre des Beck-Verlags der Neukomposition von 1925 und griff nicht auf die Erstausgabe zurück. 9 Vgl. Ferdinand Gregorovius: Korfu. Eine ionische Idylle. In: ders.: Werke. Berlin o. J., S. 403 – 457, ders.: Korfu. Eine ionische Idylle. Dresden 1952 und ders.: Die Grabdenkmäler der Päpste. Marksteine der Geschichte des Papsttums. Neue ill. Ausg. Dresden 1942. Zitiert wird der Essay Korfu im Folgenden nach der Ausgabe Berlin o. J., die Grabdenkmäler der römischen Päpste wurden in der Buchausgabe von 1857 benutzt. 10 Vgl. Alfred von Reumont: Reiseschilderungen und Umrisse aus südlichen Gegenden. Stuttgart/Tübingen 1835 (= Reisen und Länderbeschreibungen 5), [ders.]: Römische Briefe. Von einem Florentiner. 2 Bde., Leipzig 1840, [ders.]: Neue Römische Briefe. 2 Bde., Leipzig 1844 (zugleich als Bde. 3 – 4 der Römischen Briefe gezählt) sowie ders.: Dichtergräber. Ravenna, Arqua, Certaldo. Berlin 1846. 11 Friedrich Althaus: Ungedruckte Briefe von Ferdinand Gregorovius. In: Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart 19 (1894), H. 2, S. 241 – 255, hier S. 247. Vgl. dazu den erhellenden Aufsatz von Michael Borgolte: Zwischen „englischem Essay“ und „historischer Studie“. Gregorovius’ „Grabmäler der Päpste“ von 1854/81. In: Esch/Petersen 1993 (wie Anm. 4), S. 97 – 116. Zur komplizierten Textgeschichte der Grabdenkmäler der römischen Päpste, die erstmals in der Allgemeinen Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur im September 1854 erschienen und für die Buchausgaben 1857 und 1881 durchgreifend überarbeitet und neu geordnet worden waren, vgl. bes. Borgolte 1993 (wie oben), S. 111. 12 Reumont, Römische Briefe I, Nr. 2, S. 21. 13 Reumont, Römische Briefe III, S. XI.
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sein als eine „bunte Reihe“ von „bei verschiedenen Veranlassungen entstandenen Skizzen“.14 Damit sind die ausgewählten Schriften in ihren Formen so homogen, dass sich für einen Vergleich keine größeren methodischen Hindernisse ergeben. Angesichts der Tatsache, dass Reumonts Reiseschilderungen denen des Gregorovius zeitlich vorausgehen, ist das Konkurrenzverhältnis, in dem beide während ihrer Arbeit an den Geschichten der Stadt Rom standen, hier unter einem anderen Aspekt zu betrachten: dem des Vorgängers und Nachfolgers. Dies umso mehr als Gregorovius in seinem gesamten Werk oft das Paragone suchte. Bei seinen Polen- und Magyarenliedern orientierte er sich 1849 an Nikolaus Lenau, die Tragödie Der Tod des Tiberius war 1851 eine direkte Auseinandersetzung mit Schillers Wallenstein,15 und auch für seine Wanderjahre wählte er gezielt Themen, mit denen er sich in eine größere literarische Tradition einschreiben und mit ihr wetteifern konnte. Am deutlichsten und anspruchsvollsten geschieht dies in den Römischen Figuren, die den Bezug zu Goethes Römischem Karneval allenthalben durchblicken lassen.16 Bereits auf den ersten Blick fällt zwar auf, dass die Arbeiten Reumonts thematisch ungleich breiter angelegt sind. Es erstaunt die stupende Vielzahl der Gegenstände, die Reumont in seinen Römischen Briefen behandelt: Antike und neuzeitliche Paläste, Feste und Bälle in Rom, Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts, Stein- und Mauerarten, Staatsfinanzen, Landwirtschaft in der Campagna, Maßnahmen gegen die Cholera, Buchhandel und Zensur, Schulwesen, Armenwohlfahrt, das Ghetto in Rom, kleine historisch-biographische Skizzen, ein Stierkampf im Kolosseum im Jahre 1332, Bilder in öffentlichen Galerien, die Kunst der Gegenwart in Rom, die neuere poetische Literatur der Italiener, Überschwemmungen in Rom usw. usw. Bei Gregorovius dominiert eindeutig das Mittelalter als Schwerpunkt des eigenen Interesses. Zwar ist auch er nicht gegenwartsblind – die Wanderjahre enthielten in den ersten Auflagen eine ganze Reihe von Essays zu zeitgeschichtlichen und künstlerischen Fragestellungen – doch treten solche Themen hinter die Geschichte des italienisch-deutschen Mittelalters zurück. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Bezugnahme der Texte aufeinander ausgeschlossen wäre. Auch Themen, denen sich Reumont bereits ausführlich gewidmet hatte, griff Gregorovius wieder auf und suchte dabei die Auseinandersetzung mit dem älteren Text. Ein Vergleich von Reumonts 21., „Latium maritimum“ betitelten Neuen Römischen Brief von 1844 und den erstmals 1854 erschienenen Idyllen vom
14 Reumont, Reiseschilderungen, S. V. Immerhin: Soweit sie Italien betreffen, sind die Gegenstände der Skizzen mit Bedacht ausgewählt: „In diese abgelegenen Striche kommt der Ausländer selten, und auch vom Landesbewohner werden sie eben nicht häufig besucht“; ebd. 15 Vgl. Ernst Osterkamp: Vom Ideal der „mäßigen Form“. Ferdinand Gregorovius als Dichter. In: Esch/Petersen 1993 (wie Anm. 4), S. 185 – 202, hier S. 187. 16 Vgl. Hanno-Walter Kruft: Gregorovius und die Anschauung Roms. In: Esch/Petersen 1993 (wie Anm. 4), S. 1 – 11, hier S. 3. Die Römischen Figuren sind enthalten in: Gregorovius, Wanderjahre, S. 158 – 204.
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lateinischen Ufer des Gregorovius mag dies belegen:17 Reumont beschreibt einen Ausflug von den Albaner Bergen über eine noch im Bau befindliche Straße nach Porto d’Anzio und Nettuno. Er blickt von dort aus durch das Fernrohr auf die Torre Astura, wo sich das Schicksal der Hohenstaufen in Italien vollendete, und reitet dann mit seiner Reisebegleitung weiter Richtung Ardea, Pratica und Albano. „Archäologische Studien zu machen“, so Reumont, „war nicht der Zweck [des Ausflugs], wol aber den gegenwärtigen Zustand des Landes kennen zu lernen und die durch Sage und Dichtung so hochgefeierten Stätten“.18 Gregorovius nun bewegt sich in seinen Idyllen vom lateinischen Ufer in der gleichen Gegend wie Reumont, vorgeblich nur um dem Scirocco in Rom zu entgehen. Die bei Reumont als noch im Bau befindlich beschriebene Straße ist fertiggestellt, alles Beschwerliche des Reumontschen Ausflugs damit Geschichte, denn nun fährt dreimal in der Woche ein Omnibus Gäste nach Nettuno und Porto d’Anzio. Der Tourismus ist ausgebrochen, wenn auch die Gastronomie und Hotellerie noch keinen internationalen Standard erreicht hat. Er nutzt eine Herberge für einen längeren Aufenthalt – und tut nun gerade das, was Reumont unterließ: Er bewegt sich zu Fuß in die Umgebung, entdeckt Ruinen römischer Paläste, treibt „archäologische Studien“19 und tritt auch den Fußweg zur Torre Astura an. Bezüge auf Vergils Aeneis, die Reumont gerade suchte, sind hingegen äußerst reduziert, Probleme der Verlandung des neuen Hafens von Anzio, die Reumont ausgiebig schildert, interessieren Gregorovius überhaupt nicht. Und damit auch jeder den Bezug erahnen kann, nennt Gregorovius Reumont mit Namen – wenn auch nur an untergeordneter Stelle.20 Bei anderen Texten scheint es, als hätte Gregorovius geradezu einen Bogen um Reumonts Texte gemacht und just diejenigen Gegenden beschrieben, die den bei Reumont behandelten benachbart waren. So bereiste Reumont 1832 die Maremmen und blickte auf Elba, während Gregorovius wiederum 1852 Elba ausführlich behandelte und von der Insel aus die Küste betrachtete. Ganz zufällig scheint dies nicht zu sein, denn der Aufsatz Die toscanischen Maremmen im Frühling 1832 erregte seinerzeit Aufsehen und hat im Werk Reumonts durchaus Gewicht: 1832 erschien er sowohl als Separatdruck bei Cotta als auch in italienischer Übersetzung und wurde 1835 abermals in den Reiseschilderungen abgedruckt.21 Reumont näherte sich den Maremmen von Siena aus, begann die Erkundung in Grosseto und reiste entlang der Küste nach Norden über Follonica, Piombino, Cecina 17
Vgl. Reumont, Römische Briefe IV, Nr. 21, S. 175 – 209 und Gregorovius, Wanderjahre, S. 442 – 467. 18 Reumont, Römische Briefe IV, Nr. 21, S. 178. 19 Ebd. 20 Gregorovius, Wanderjahre, S. 449. 21 Vgl. Alfred von Reumont: Die toscanischen Maremmen im Frühling 1832. Stuttgart/ Tübingen 1832 sowie ders.: Ausflug in die toscanischen Maremmen im Frühling 1832. In: ders.: Reiseschilderungen und Umrisse aus südlichen Gegenden. Stuttgart/Tübingen 1835, S. 44 – 73. Der Druckort der italienischen Ausgabe, die es dem Vorwort des deutschen Separatdrucks zufolge gegeben haben muss, konnte noch nicht ermittelt werden.
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nach Livorno. Er schildert die Sumpflandschaft der Maremmen, ermittelt Ursachen der Versumpfung wie der gesundheitsschädlichen Klimate jener Gegend, benennt frühere Projekte zur Bonifikation der Sümpfe und Gründe für deren Scheitern und macht sich daran, ein neues, erst 1829 begonnenes Projekt zur Austrocknung der Sümpfe ausführlich zu besprechen. Dabei stand er den Bonifikationsmaßnahmen in den Maremmen uneingeschränkt positiv gegenüber und wünschte die Maßnahmen auch auf die Pontinischen Sümpfe ausgedehnt. „Dieses Land“, schreibt Reumont, „Jahrhunderte hindurch der verrufene Wohnsitz erblicher Übel, durch Krankheit und Elend entvölkert, von Menschen und Natur gleichsam aufgegeben, ist in unseren Tagen der Schauplatz reger, wohlthuender Thätigkeit geworden, die dasselbe seinem alten Flor zurückzugeben strebt“.22 Immer wieder liefert er Angaben zur Meereshöhe bestimmter Landesteile und zur darauf ausgerichteten Höhe von Dämmen, Sperrwerken und Kanälen, immer wieder gewährt er Ausblicke auf wirtschaftliche Unternehmungen in oder bei den Sümpfen, so auf die Salinen von Volterra und Cecina, die Eisenhämmer von Follonica und die Marmorbrüche von Campiglia. Ausführliche Darlegungen finden sich auch zur traditionellen Landwirtschaft der Maremmen. Reumont schildert die Baustellenorganisation, die Unterbringung und die Alltagsarbeit der 3.000 bis 5.000 Arbeiter, die zu dem Projekt zusammengezogen sind, berichtet über einen neuen Schiffsanleger in Follonica und über die Beschaffenheit der neuen Brücken, die über die kanalisierten Flussläufe und die Kanäle geschlagen wurden. Kunstgeschichtliches wird kaum behandelt, da Reumont die Städte und Kirchen der Gegend „wenig Merkwürdiges“23 zu bieten scheinen, Geschichtliches beschränkt sich im Wesentlichen auf kurze Umrisse der Ortsgeschichte von Grosseto und Piombino sowie des etruskischen Populonia. Reumonts Blick auf Elba konzentriert sich auf den Schiffsverkehr zwischen der Insel und Follonica, wo das Eisenerz von Rio verhüttet wird. Die Schönheiten Elbas sind nur mit einem Satz behandelt: „Rauschendes Getöse der Eisenhämmer [von Follonica] schallte uns bei unserem Nahen entgegen, und zwischen freundlichen, zerstreut liegenden, meist neuen Wohnungen und frischgrünenden Bäumen hindurch hatten wir einen entzückenden Anblick der blauen Wellen des Mittelmeers und der in ihrer Breite sich ausdehnenden vom Abendroth purpurn gemalten Insel Elba, einst des mächtigsten Kaisers kleines Reich, das er bald mit einem Felsen in tropischen Klimaten vertauschen mußte.“24
Gregorovius nun zeigt sich bei seinem Blick von Elba auf die Maremmen ähnlich wortkarg: Er bewegt sich mit dem Postdampfer von Livorno über Piombino nach Elba: „Immer längs der tuskischen Küste, an den Maremmen hinsegelnd [sic], erfreut man sich der grünen und weitausgedehnten Niederung, die sich zum Meere senkt und nach dem Lande zu durch das Gebirge geschlossen wird, welches die Gegend von Volterra durchstreicht. Türme 22
Reumont, Reiseschilderungen, S. 44 f. Ebd., S. 62 (dort mit Bezug auf Piombino). 24 Ebd., S. 60. 23
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an solchen Stellen, wo ein Landungsplatz sich befindet, wenige kleine Hafenorte, einige Fabrikgebäude und zerstreut liegende Campagnahäuser unterbrechen den einförmigen Strich der Maremmen, welche von Arbutusbuschwäldern und Myrten grünen und in ihrem Dickicht die reichste Jagd von Wildschweinen hegen.“25
Gregorovius gedenkt der Orte der etruskischen Geschichte an dieser Küste, schlägt die Brücke zur Gegenwart und findet nur noch Ruinen und ein totes, menschenleeres Ufer, um sich dann eingehend Elba und seiner jüngeren Geschichte, sprich: Napoleon in seinem ersten Exil, zu widmen. Kein Wort über die umfangreichen Bonifikationsmaßnahmen, die damals, 1854, schon weit fortgeschritten waren und den Maremmen ein anderes Gesicht gaben, aber gezielte Erwähnung der Fabrikgebäude, von denen aus Reumont die Insel Elba ja betrachtet hatte. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit Reumonts Artikel holte Gregorovius Jahre später, 1871, in seinem Artikel Eine Pfingstwoche in den Abruzzen nach, als er den Lago di Fucino besuchte. Der Fuciner See war damals nur noch in Resten erhalten, da er Gegenstand eines Bonifikationsprojekts des Fürsten Torlonia war. Gregorovius beschreibt zunächst, was auch Reumont schilderte: „Überall sahen wir Menschen tätig, Wege zu machen, Brücken zu bauen, behauene Steine fortzuschaffen – ein rühriges Leben zeigte sich, durch die Austrocknungsarbeiten in Bewegung gebracht.“26 Allerdings kommt er zu einer gänzlich anderen Bewertung der Maßnahmen: Es habe am Lago di Fucino einst ein „lachendes Paradies“ bestanden, „ein herrliches Werk der Natur“, „ein Wunder der Landschaft“27 – und dieses werde nun unwiederbringlich zerstört. „Ich fürchte“, so Gregorovius, „es wird über kurz oder lang auch dem Trasimenus nicht besser ergehen. Auch ihn wird man ins Meer spedieren, um Acker und Weideland zu gewinnen, und wer weiß, welche neue mörderische Kapitalisten und Austrocknungsmenschen schon an seinen reizenden Ufern umherschleichen und die Kosten berechnen, mit denen diese zaubervolle Dichtung der Natur in rentable Industrieprosa umzuwandeln sei. Ja, Geld und Dampfmaschinen trocknen die Poesie der Welt aus: nur wer ein Kaufmann ist, wird dessen froh. […] Welch ein prachtvoller Spiegel muß der See in seiner ganzen Fülle gewesen sein! Auch jetzt noch erscheint er so zaubervoll im Abendglanze, daß man wähnen mag, Nymphen und Galateen auf Muschelwagen aus seinen Fluten heraufsteigen zu sehen. Die Nymphen werden bald sterben wie die armen Fische, ihre kristallenen Paläste bald Heuschobern Platz machen. […] Da fahren noch dunkle Nachen bei Transaqua! dort weiter wirbeln weiße Dampfwolken auf. Es sind wohl Maschinen, die dem armen See die Seele aus dem Leib pumpen. Torlonia, der große Seccatore der Natur, ist taub für das Flehen der Nymphen; er fürchtet auch nicht die aufgesperrten Rachen der Fische, die ihm im Traum erscheinen. […] Er hat Geld und kann daher den Göttern trotzen, die täglich bankrotter werden.“28
Die Heftigkeit der Polemik gegen Torlonia und andere „Seccatori“ überrascht zunächst, findet aber ihre Erklärung in der Art und Weise, mit der Gregorovius auf Ge25
Gregorovius, Wanderjahre, S. 77 f. Ebd., S. 402. 27 Ebd., S. 404. 28 Ebd., S. 405 f. 26
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schichte zugreift. Gregorovius entdeckt nicht die „Vergangenheit als Dimension der Gegenwart“,29 sondern schaut die Vergangenheit durch die Gegenwart hindurch, und je besser jene in dieser noch bewahrt ist, umso glücklicher gelingt ihm die Schilderung. „Gregorovius arbeitete einerseits bewußt in dem historischen Spannungsfeld zwischen dargestellter Geschichte und erlebter Gegenwart, andererseits konnte er sich mit den Veränderungen, die die Gegenwart mit den Schauplätzen der Vergangenheit vornahm, nicht abfinden.“30 Geschichte ist nicht eigentlich eine „Dimension der Gegenwart“, sie ist eine Dimension dahinter, und die historische Betrachtung meist recht gegenwartsfeindlich. Ganz anders Reumont! Sein Blick ist ein streng gegenwartsgenetischer. Ein anonymer Rezensent der Neuen Römischen Briefe beschrieb das Verfahren 1845 ganz richtig wie folgt: „Gewöhnlich sind es Denkmale der Kunst, der Thatkraft, des Fleißes, oder Bilder der Landschaft, an deren Betrachtung der Verf. seine historischen Skizzen anlehnt, dadurch sowohl das Interesse jener Betrachtung als dieser Skizzen erhöhend.“31 Die Geschichte ist nur Vehikel eines an der Beschreibung der Gegenwart – auch in ihrem Gewordensein – ausgerichteten Interesses. Wenn Reumont nicht eine größere, eher anekdotenhafte oder romantische Geschichte erzählt, bedarf er des historischen Hintergrunds immer nur soweit, als es ihm zur Erklärung der gegenwärtigen Zustände unerlässlich ist. Bei seiner Beschreibung von Frascati und Tusculum zum Beispiel schildert Reumont in den Römischen Briefen vor allem den gegenwärtigen Zustand dieser Orte.32 Im Rahmen von Baubeschreibungen der dortigen Villen ist natürlich ein wenig Geschichte gefragt, die aber nur in Andeutungen als grobe Skizze geschildert wird. Selbst das antike Theater von Tusculum interessiert Reumont als solches nur wenig; der größte Teil des diesbezüglichen Textes handelt über die Geschichte der Ausgrabungen an diesem Theater in den letzten vier Jahrzehnten.33 Und anlässlich der Beschreibung des Wiederaufbaus von S. Paolo fuori le mura findet sich der bezeichnende Satz: „Wir wollen uns nun ansehen, wie weit der Bau vorgerückt ist und das Nothwendigste von der Beschreibung der alten Kirche einflechten.“34 Viel spannender als die Geschichte der Kirche sind für Reumont Herkunft und Kosten der neuen Säulen.35 Daneben reizt Reumont das Anekdotische, reizen ihn tragische und romantische Geschichten, die er aus dem historischen Zusammenhang löst und als solche erzählt. In den Reiseschilderungen etwa breitet er die Lebensgeschichte eines Camaldulen29
Jens Petersen: Das Bild des zeitgenössischen Italien in den Wanderjahren von Ferdinand Gregorovius. In: Esch/Petersen 1993 (wie Anm. 4), S. 73 – 96, hier S. 94. 30 Kruft 1993 (wie Anm. 16), S. 7. 31 Rezension der Neuen Römischen Briefe in: Blätter für literarische Unterhaltung, 13. 6. 1845, S. 657 – 659 / 14. 6. 1845, S. 661 – 664 / 15. 6. 1845, S. 665 f. / 16. 6. 1845, S. 669 – 671, hier S. 657. 32 Reumont, Römische Briefe IV, Nr. 15, S. 3 ff. 33 Vgl. ebd., S. 11 f. 34 Reumont, Römische Briefe II, Nr. 27, S. 38. 35 Vgl. ebd., S. 39.
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sers aus, der sich nach dem Tod der Geliebten, einer verheirateten Frau, ins Kloster zurückzog, dort Maler wurde und der Hauptfigur in einem seiner Gemälde im Chor der Klosterkirche die Züge der Toten gegeben habe. Er erzählt vom „tragischen Schicksal der Vittoria Accorombona“,36 der letzten Stuarts37 u. a. mehr. Bei seinen Ausflügen in die Umgebung Roms bedauert Reumont: „Ich weiß nicht, wie’s kommt, daß die meisten dieser Castelle in der Umgebung Roms etwas Uninteressantes und Monotones an sich haben. Ist es ihrer oft ungünstigen Lage beizumessen, oder der Bauart […] – ist es, weil ihnen meist der Reiz einer an romantischen Begebenheiten reichen Geschichte fehlt, was sie so unwichtig macht; oder ist es das überwiegende gewaltige Interesse, welches die antike Welt in Anspruch nimmt mit ihren noch immer lebenvollen Erinnerungen, ihren immer noch großartigen Monumenten? Wol alles das wirkt zusammen.“38
Geschichte hat hier keinen Eigenwert, sondern ist Bestandteil geselliger Konversation und wird nach ihrer Kommunizierbarkeit, ja nach ihrem Unterhaltungswert bemessen. Reumont will einem größeren, gebildeten Laienpublikum Sachverhalte aus der Welt der Gegenwart attraktiv präsentieren mit den ihm dazu zu Gebote stehenden Mitteln. Er will sein Publikum im klassischen Sinne aufklären. Er scheut sich dabei nicht, Literatur zur Vertiefung des Dargelegten anzugeben und Quellen seiner eigenen Darstellung offen zu legen. Statt poetischer Darstellung füllt er seine Seiten mit statistischen Angaben, für die er spätestens nachdem er 1835 die Theorie der Statistik des ehemaligen schwedischen Konsuls in Genua, Tanger und Tripolis, Jacob Gråberg af Hemsö, übersetzt und bearbeitet hatte,39 viel erübrigen konnte. Mit Statistiken lässt sich die Welt der Gegenwart angemessen beschreiben, aus statistischen Entwicklungen ablesen, ob Maßnahmen zur Verbesserung von Lebensbedingungen anschlagen oder nicht. 36
Reumont, Römische Briefe IV, Nr. 25, S. 273 – 300. Vgl. Reumont, Römische Briefe III, Nr. 9, S. 238 – 278. Die letzten Stuarts beschäftigten Reumont weit intensiver als es in den Römischen Briefen den Anschein hat; in späteren Jahren legte er weitere, ausführliche Veröffentlichungen zu diesem Thema vor. Vgl. Alfred von Reumont: Die Gräfin von Albany. 2 Bde., Berlin 1860 und ders.: Die letzten Stuart. Vittorio Alfieri und die Gräfin von Albany. In: ders.: Kleine historische Schriften. Gotha 1882, S. 399 – 458. 38 Reumont, Römische Briefe IV, Nr. 23, S. 254 f., Hervorhebung Verf. 39 Vgl. Jacob Gråberg von Hemsö: Theorie der Statistik. Bearb. von Dr. Alfred Reumont. Aachen/Leipzig 1835; die Übersetzung erfolgte aus dem Italienischen ins Deutsche. Für Gråberg, mit dem Reumont eine freundschaftliche Beziehung verband, übersetzte er außerdem 1833 eine Abhandlung über Marokko und brachte sie noch ein Jahr vor der italienischen Ausgabe heraus; vgl. Das Sultanat Mogh’rib-ul-Aksa oder Kaiserreich Marokko. In Bezug auf Landes-, Volks- und Staats-Kunde beschrieben von J. Graberg von Hemsö […]. Aus der italiänischen Handschrift übersetzt von Alfred Reumont. Stuttgart/Tübingen 1833 sowie Jacopo Graberg di Hemso: Specchio geografico, e statistico dell’Impero di Marocco. Genua 1834. 1848 widmete Reumont dem Konsul a. D. und Bibliothekar des Archivio storico italiano einen Nachruf in italienischer Sprache; vgl. Alfred von Reumont: Necrologia di Jacopo Gråberg da Hemsö. Estratta dall’appendice dell’Archivio storico italiano No. 19. [Florenz] 1848. 37
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Das Fortschrittsdenken der Populäraufklärung weckte bei Reumont großes Interesse vor allem an wasserbaulichen Maßnahmen, wie es bereits im Falle der Trockenlegung der Sümpfe der Maremma zu sehen war und wie es auch in Bezug auf die Anlage von Häfen und Kanälen festzustellen ist. Bezeichnend sind hier Reumonts Reiseschilderungen über Konstantinopel:40 Nachdem die Stadt selbst und ihre Atmosphäre auf einem Stadtspaziergang eingefangen und erste Neuerungen der Sultane etwa im Heereswesen als wenig sinnvoll und nicht schön karikiert sind, fügt Reumont in gleicher Ausführlichkeit ein Kapitel über „Constantinopels Wasserleitungen“ an, das von den Quellgebieten bis zur Wasserverteilung in der Stadt das gesamte System zu erfassen sucht. Dabei ist Reumont im Detail nicht blind für Naturschönheiten, aber seine Ziele liegen darin, Landschaftsschilderungen, Stimmungswerte und historische Anmerkungen mit seinem doch recht trockenen Gegenstand zu vermischen und letzteren dadurch auch für ein breiteres Publikum interessanter zu machen. Bezeichnend ist auch, wie beide Autoren ihre Beschreibung der Insel Korfu anlegten, Reumont 1835, Gregorovius 1864.41 Reumont beschreibt Land und Leute nur kurz, beschränkt sich dabei auch im Wesentlichen auf die Stadt Korfu, um sich umso breiter der jüngeren Vergangenheit der Inseln seit dem Ende der venezianischen Herrschaft zu widmen und insbesondere die damals ausgeübte britische Schutzherrschaft einer sorgfältigen – und für das Vereinigte Königreich meist nicht schmeichelhaften – Bewertung zu unterziehen. Eine längere Schilderung der landschaftlichen Schönheiten schließt – sehr bezeichnend für Reumont – mit dem Satz: „Je malerischer und reizender nach allen Seiten hin Buchten sich eröffnen […] – um so lebhafter muß man bedauern, daß dieses schöne Land so vernachlässigt, daß der Anbau so sorglos und träge betrieben wird.“42 Und sogleich schließen sich Hinweise auf eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge und auf einen Musterbauernhof an, der doch vormache, wie es besser ginge.43 Gregorovius geht gerade umgekehrt vor: Schilderungen der Landschaft nehmen weite Passagen ein, vor allem die ältere Geschichte der Insel ist ausführlich behandelt, die neuere hingegen nur wenig, wenig 40
Vgl. Reumont, Reiseschilderungen, S. 91 – 121. Vgl. ebd., S. 165 – 185 und Gregorovius, Korfu. Reumont befasste sich über die kleine Skizze der Reiseschilderungen hinaus auch später noch mit der Geschichte und Gegenwart Korfus. So verfasste er kurze Biographien zweier englischer Gouverneure der ionischen Inseln, ein Lebensbild des Gelehrten Mustoxides und behandelte später nochmals ein Kapitel aus der reichen Geschichte der Insel in einem größeren Aufsatz; vgl. Alfred von Reumont: Frederick Adam. Ein Lebensbild aus neuester Zeit. O.O. [1854], ders.: Frederick Adam. In: ders.: Zeitgenossen. Biographien und Karakteristiken. Berlin 1862, Bd. 2, S. 105 – 173, ders.: Frederick North Graf von Guilford. Eine Erinnerung. Ebd., S. 175 – 198, ders.: Andrea Mustoxidi. Nach Niccolò Tommaséo. Beilage zu den Biografien Sir Fred. Adam’s und Lord Gilford’s. Ebd., S. 199 – 241 und ders.: Die Ionischen Inseln unter venetianischer Herrschaft. In: ders.: Kleine historische Schriften. Gotha 1882, S. 229 – 282. Frederick North, Kurgast in Aachen, hatte Reumont im Herbst 1824 eingeladen, ihn nach Korfu zu begleiten und an der von ihm begründeten Universität tätig zu werden; der Reise standen aber u. a. Passprobleme entgegen. Vgl. Loersch 1888 (wie Anm. 4), S. 8. 42 Reumont, Reiseschilderungen, S. 173. 43 Vgl. ebd., S. 174. 41
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kritisch und zudem sichtbar aus zweiter Hand gearbeitet, aus einem Werk des Engländers Kirkwall über die Ionischen Inseln. Gregorovius referiert und schließt: „darüber steht mir kein Urteil zu.“44 In seinen Briefen über die römische Campagna läuft Reumont als Aufklärer zur Hochform auf.45 Er beschreibt das zwar manchmal malerische, aber landschaftlich wie wirtschaftlich nicht sonderlich ansprechende Gebiet mit Sorgfalt, legt im Rückgriff auf statistische Erkenntnisse die Wirtschaftsweise dieses ganzen Raumes dar, erläutert die Missstände bei der Bebauung des Landes und die Ursachen für den latenten Getreidemangel in Rom, obwohl im Umland der Stadt doch so viel Land nur als Weide dient, schildert Musterbetriebe und neue Formen, das alte Feudalwesen durch Pachtsysteme gewinnbringend abzulösen und ist – ganz nebenbei – auch noch auf den Spuren der latinisch-etruskischen Städte in der leicht gewellten Ebene beiderseits des Tibers. Reumont ist also Aufklärer alter Schule und glaubt an seinen Bildungsauftrag. Diesen rückwärtsgewandten Zug hat Gregorovius an ihm sehr genau gesehen und bezeichnet, wenn er Reumont als „höchst eigenartiges Ingenium“ betrachtete, das „eigentlich in die seltsame Classe alleswissender Abbés des vorigen Jahrhunderts gehörte“46 – ein Impetus Reumonts, der durch das geistige Klima seiner Aachener Jugend wohl vorbereitet, durch seinen Florentiner Freundeskreis aber fraglos verstärkt wurde, da dieser bei seinen liberalen Reformprojekten in ganz ähnliche Richtung arbeitete. Reumonts überwiegend gegenwartsorientierten, wirtschaftsgeographischzeitgeschichtlich ausgerichteten Reiseschilderungen waren in ihrer Anlage und ihrer Form in der geistigen Welt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fundiert.47 44
Gregorovius, Korfu, S. 454. Vgl. Reumont, Römische Briefe II, Nr. 33, S. 149 – 201, III, Nr. 12, S. 354 – 383 und IV, Nr. 23, S. 228 – 262. Der Aufklärung dient wohl auch Reumonts Fiktion, dass der Autor der Briefe ein Florentiner sei. Der Zweck des Maskenspiels dürfte wohl sein, die Urteile über Rom und den Kirchenstaat unangreifbarer zu machen und als inneritalienische Kritik zu legitimieren. Mit dieser Fiktion täuschte Reumont anfangs auch die Rezensenten; vgl. etwa Rezension der Römischen Briefe in: Blätter für literarische Unterhaltung, 2. 8. 1840, S. 865 – 867 / 3. 8. 1840, S. 869 f., hier S. 870 oder Karl Zimmer: Rezension der Römischen Briefe an unbekanntem Ort (Zeitungsausriss im Nachlass Alfred von Reumont in der Stadtbibliothek Aachen). Der 33. Brief des zweiten Bandes der Römischen Briefe zur Situation in der Campagna erschien auch in italienischer Sprache: Della Campagna di Roma. Memoria di Alfredo Reumont. Florenz 1842. 46 Petersdorff 1894 (wie Anm. 2), S. 189 (Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 29. April 1887). Schon 1885 urteilte Gregorovius anlässlich des Erscheinens von dessen Erinnerungsbuch an Friedrich Wilhelm IV., Alfred von Reumont sei „von Natur mit einem auffallenden Annäherungsvermögen an Menschen und Dinge ausgerüstet gewesen“. Allerdings habe er „sich mit vielem und vielen berührt, gleichwohl aber nicht vermocht seine Erfahrungen von der Welt zu einem Zeitbilde zu gestalten“; ebd., S. 157 [Ferdinand Gregorovius an Hermann von Thile, 22. Februar 1885]). 47 Zum Geistesleben in der Badestadt Aachen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. einführend Frank Pohle: Dautzenbergs Bücher. Leben und Wirken des Peter Joseph Franz 45
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Bei den zeitgenössischen Rezensenten trug ihm dieser Ansatz noch hohes Lob ein. Die Blätter für literarische Unterhaltung klagen 1840 über die Einförmigkeit und schlechte Qualität der Reiseliteratur gerade über Italien und insbesondere über die Stadt Rom. Sie sei verfasst von Reisenden „ohne Beruf, ohne Sachkenntnis, ohne Auffassungsgabe. […] Dogenpalast, Bleidächer und Seufzerbrücke, schiefe Türme und Ruinen im Mondenschein, Tribune und Fornarina, Carneval, Charwoche, Benediction, Miserere, Räuber, Trasteveriner, der Eremit auf dem Vesuv, die blaue Grotte… Wer erlöst uns endlich von diesen ewig und unaufhörlich wiederkehrenden Schilderungen und Erzählungen?“48
Reumont hebe sich von diesem Einheitsbrei im Allerlei mit seinen Römischen Briefen wohltuend ab. Das hohe Verdienst des Verfassers sei es sogar, eine Lücke gefüllt zu haben mit seinen Bemerkungen zur mittelalterlichen Geschichte der Stadt. Auch sei das gebildete Publikum „jener herkömmlichen beschreibenden Literatur über Italien, die in endloser Wiederholung ewig dieselben, ja unvermeidlich aufdringenden Gegenstände vorbringt, um sie je nach den subjectiven Eindrücken der Beschauer dilettantisch darzustellen, schon seit Jahren überdrüssig. Man fordert jetzt eine tiefer eingehende, objectiv gehaltene, instructivere Behandlung des Gegenstandes.“49
Und diese objektive, instruktive Behandlung leisteten die Reiseschilderungen und Briefe Reumonts. Gregorovius dagegen bevölkert die Landschaft mit Feen und Nymphen, was sich gar herzerwärmend liest, und sucht die Auseinandersetzung mit der Gegenwart nur dann, wenn sein dichterisches Bild bedroht ist – etwa in den Polemiken um die Trockenlegung des Lago di Fucino oder später, in Zeitungsartikeln, in Einlassungen gegen den Abriss des mittelalterlichen Rom nach 1870.50 Mit dem Stichwort „Feen und Nymphen“ ist ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen beiden Autoren angesprochen, der in ihrem Verhältnis zur Dichtkunst besteht. Gregorovius ist seinem Selbstverständnis nach Dichter, zumindest fühlte er Dautzenberg (1769 – 1828) im Spiegel seiner Bibliothek. Aachen 1999 (= Schriften zur Literatur und Kunst 4) mit der älteren Literatur, zum Denken der gelehrten politischen Kreise um Reumont in Italien vgl. v. a. Peter Herde: Guelfen und Neuguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento. Wiesbaden 1986 (= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main 22/2), aber auch Wolfgang Altgeld: Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848. Tübingen 1984 (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts zu Rom 59). 48 Rezension der Römischen Briefe in: Blätter für literarische Unterhaltung, 2. 8. 1840, S. 865 – 867 / 3. 8. 1840, S. 869 f., hier S. 865. 49 Rezension der Neuen Römischen Briefe (wie Anm. 31), S. 657. 50 Vgl. Gregorovius, Wanderjahre, S. 402 – 406 sowie z. B. ders.: Neue Schicksale alter Ruinen. In: ders.: Werke. Berlin o. J., S. 538 – 543 (zuerst 1885) und ders.: Offener Brief an den Präsidenten der Akademie der Schönen Künste von S. Luca in Rom. Ebd., S. 546 – 551 (zuerst 1886). Vgl. dazu v. a. Cesare de Seta: Gregorovius und die Polemiken über den Wandel des römischen Stadtbildes nach 1870. In: Esch/Petersen 1993 (wie Anm. 4), S. 203 – 216, aber auch Petersen 1993 (wie Anm. 29).
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sich „in allem, was er tat, als Schriftsteller mit künstlerischem Anspruch“,51 der Gedichte ganz gezielt zur Verdichtung von Stimmungen und Gedanken nutzte, die ihm dann bei seinen Reiseschilderungen zugute kamen. Seine Elegie Ninfa etwa, der Pompeji-Hymnus Euphorion oder das Gedicht Der Turm Astura haben die Darstellung dieser Orte in den Artikeln der Wanderjahre zutiefst beeinflusst.52 Bei Reumont ging das Selbstverständnis als Dichter nicht so weit. Gewiss: Auch Reumont entwickelte in der Dichtkunst einigen Ehrgeiz, veröffentlichte noch in seiner Studentenzeit erste eigene Verse, war als „Itasius Lemniacus“ Mitglied der Päpstlichen Dichterakademie der Arkadier auf dem Kapitol und verfasste noch 1870 ein gedrucktes Huldigungsgedicht auf den Kronprinzen Friedrich von Preußen53 – aber er wusste die Gattungen scharf zu trennen und besaß bei seinem schriftstellerischen Werk zwar einen Willen zur Gestaltung von Stoffen, verfolgte aber nicht auch noch einen künstlerischen Anspruch. Zwar bescheinigte ihm kein geringerer als der Dante-Fachmann Karl Witte 1846, seine Dichtergräber seien durch eine „Schreibart[,] die mehr weichen ineinanderrauschenden lyrischen Wellenschlag als den scharf abschneidenden Klang des historischen Styls besitzt“,54 ausgezeichnet, doch gilt das für die wenigsten Essays Reumonts in vollem Umfang. Reumont geht mit Literatur um, indem er sie zitiert und meist für sich stehen und wirken lässt. Das gilt für Verse aus den antiken Heldenepen ebenso wie – in der Regel in der Originalsprache – für Shakespeare, Petrarca, Boccaccio, Tasso und vor allem für Dante. In den Römischen Briefen bilden Dante-Zitate häufig den Ausgangspunkt der Betrachtungen oder einen Versuch der atmosphärischen Verdichtung, Dante ist regelmäßig Reiselektüre Reumonts gewesen. Schon in den Briefen über das Casentino von 1831 ist offensichtlich, dass Reumont den „Dante“ in der Tasche hatte, und 51
Kruft 1993 (wie Anm. 16), S. 3. Dieser Anspruch Gregorovius’ kommt in Selbstzeugnissen zur Genüge zum Ausdruck. So formuliert er 1867 in seinem Tagebuch: „Reumont hat einen guten Tatsachensinn. Er speichert auf, was er liest. Den höheren, künstlerischen Sinn und die Gestaltungskraft besitzt er nicht. Gedanken fehlen ihm. Sein Gedächtnis und seine Promptheit sind bewundernswert“; Gregorovius, Römische Tagebücher, S. 222. Und 1870 über Philipp Jaffé: „Der Selbstmord Jaffés […] hat mich tief erschüttert. […] Vielleicht genügte seinem Geist die bloß kritische Forschung und das Sammeln von Material nicht, während ihm die Natur das versagt hatte, was den Geschichtsforscher macht, die Phantasie, welche Kunstwerke erzeugt“; ebd., S. 281. Über diese erhebe sich Gregorovius als phantasiebegabter Dichter. 52 Vgl. Ferdinand Gregorovius: Gedichte. Hrsgg. von Adolf Friedrich Graf von Schack. Leipzig 1892, S. 17 – 23 (Der Turm Astura) und S. 45 – 57 (Ninfa) sowie ders.: Euphorion. Eine Dichtung aus Pompeji in vier Gesängen. Leipzig 1858. 53 Vgl. u. a. Del Fausto ritorno in Roma della Santità di Nostro Signore Papa Pio IX solenne Adunanza tenuta dagli Arcadi il Giorno 12 di Maggio 1850 nella protomoteca capitolina. Rom 1850, S. 82 und An den Kronprinzen von Preußen. Bonn 1870. Zu Reumonts Übersetzung von Claudius Rutilius Namatianus’ Gedicht De redditu suo 1872 vgl. den Beitrag von David Engels, zu Reumonts Sagengedichten in dessen Aachener Liederchronik von 1873 den Beitrag von Klaus Graf in diesem Band. 54 Karl Witte: Rezension der Dichtergräber in: Beilage zu Nr. 80 der Augsburger Allgemeinen Zeitung, 21. 3. 1846, S. 634 f., hier S. 634.
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auf der Reise von Konstantinopel nach Syros ist Dantes Divina Commedia demonstrative Reiselektüre.55 In den Dichtergräbern zitiert Reumont die Verstorbenen ausführlich; um Örtlichkeiten und Ereignisse vorzustellen, ja selbst Empfindungen nachzuzeichnen,56 übt Reumont sich aber hier wie andernorts in allergrößter Zurückhaltung, was das Dichten in seinen Prosawerken angeht. Auch poetische Beschreibungen von Landschaften, Ruinen usw. gehen ihm selten von der Hand, und er ist mit Emotionen weit zurückhaltender als Gregorovius. So schreibt Reumont in den Römischen Briefen angesichts der antiken Ruinen Roms: „Alles dies vermag ich nur zu skizzieren. Ich kann die Empfindungen nicht aussprechen, welche beim Anblick dieser Scene den Busen füllen. Das große Buch der Geschichte einer Welt liegt vor uns aufgeschlagen.“57 Und dies ist nicht als abgedroschener Unsagbarkeitstopos, sondern als ernst zu nehmende Haltung anzusehen, als ein stilistisches Programm, das allen Reiseschriften Reumonts eigen ist – und in das „große Buch der Geschichte einer Welt“ schreibt Reumont seine Gegenwart ein. Mit der Verweigerung von Poesie und dem Willen zur Belehrung, zur Aufklärung hängt bei Reumont auch zusammen, dass seine Schilderungen knapp ausfallen, tatsächlich nur Skizzen sind. Gregorovius behandelt seine Gegenstände ungleich breiter. Ein Beispiel nur unter vielen: Reumont schreibt: „Der römische Ghetto liegt im Rione St. Angelo, dicht an der Tiber, deren Überschwemmungen er häufig ausgesetzt ist.“58 Aus diesem Satz macht Gregorovius eine ganze Druckseite, die in beeindruckender Prosa alles Elend einer solchen Überschwemmung schildert.59 Im Großen und Ganzen ist Gregorovius emotionaler, emphatischer, ausführlicher, Reumont hingegen nüchterner, sachlicher – und das bei oft gleichem Informationsgehalt. In inhaltlicher Hinsicht sind jene Differenzen am größten, die sich aus der unterschiedlichen politischen und religiösen Anschauung beider Autoren ergeben. Gregorovius ist – insbesondere nachdem die Arbeit an der Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter abgeschlossen war und er keine Restriktionen bei seinen Forschungen mehr befürchten musste – ein scharfer Kritiker des Papsttums, insbesondere des Dominium Temporale, während Reumont den Kirchenstaat verteidigt und – zumindest dem eigenen Anspruch nach – zwar tadelt, was des Tadelns wert ist, aber der päpstlichen Regierung Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Die Römischen Briefe sieht 55
Vgl. Reumont, Reiseschilderungen, S. 22 f./133. Reumonts Aufsatz über die Maremmen beginnt ebenfalls mit einem Dante-Zitat, der Verbannung der Pia de’ Tolomei auf ein Schloss in den Maremmen, damit sie dort an der ungesunden Luft zugrunde gehe (vgl. ebd., S. 44), und in den Römischen Briefen setzte Reumont häufig Dante-Zitate als Ausgangspunkt der Betrachtungen oder Versuch der atmosphärischen Verdichtung ein. 56 Vgl. dazu auch Karl Witte: Rezension der Dichtergräber in: Blätter für literarische Unterhaltung, 19. 04. 1846, S. 435 f. Gregorovius verfuhr in den Grabdenkmälern der römischen Päpste gänzlich anders; er beschränkte sich auf die Zitation der Grabinschriften und kommentierte sie oftmals kurz. 57 Reumont, Römische Briefe I, Nr. 4, S. 52. 58 Reumont, Römische Briefe III, Nr. 7, S. 205. 59 Vgl. Gregorovius, Wanderjahre, S. 239 f.
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er ausdrücklich als einen Versuch, der „Anti-popery-Literatur“ entgegenzuwirken und Übel zu benennen, aber das Gute auch nicht zu verschweigen.60 Wenn dies auch für die Darstellung seiner Gegenwart einige Gültigkeit beanspruchen darf, so ist die Schilderung des Vergangenen mitunter doch von einer erstaunlichen Einseitigkeit geprägt. Im Zuge der Lebensschilderung Papst Bonifaz’ VIII. erwähnt Reumont die berühmte „Ohrfeige von Anagni“ mit keinem Wort und unterstreicht sogar, dass die Person des Papstes bei Angriff und Besetzung seines Palastes durch seine Gegner unversehrt geblieben sei. Die Krankheit, die zum Tode des Papstes bald nach seiner Rückkehr nach Rom führte, habe er sich auch erst dort zugezogen.61 Beides lässt sich mit den Quellen schwer vereinbaren, bewahrt aber die Würde des Papsttums. In den Berichten über das römische Ghetto differenziert Reumont in starker Weise: „Unter den ersten Päpsten, welche in Rom weltliche Macht mit der geistlichen zu verbinden begannen, wenn auch nur in einem sehr beschränkten Kreise und im Genusse einer über die Verwaltung der kirchlichen Güter wie über eine Art Schutzverhältniß, in welchem der Stadt Bewohner zu ihnen standen, kaum hinausgehenden Autorität, waren die Verhältnisse der Bekenner des mosaischen Glaubens keineswegs ungünstig, noch gedrückt.“62
Zwischen den Zeiten vor und nach der Einrichtung des Ghettos, also vor und nach 1556, weiß er zu unterscheiden, und die Gegenwart unter der Herrschaft Pius’ IX., in der Reumont alle demütigenden Rituale abgeschafft sehen will, schildert er eher positiv, wohl wissend, dass sich im Ghetto noch Schmutz und Elend gehalten haben. Für Gregorovius hingegen bestand dieser Elendszustand gleichsam immer schon: „Zusammengedrängt in einem dumpfen und traurigen Winkel Roms, welchen der Tiberfluss von Trastevere scheidet, wohnt hier seit alten Zeiten, gleichsam von der Menschheit ausgestoßen, das römische Judenvolk.“63 Der Bericht des Gregorovius hebt gerade die Erniedrigung und Demütigung der römischen Juden als zu allen Zeiten unterdrückte und mißhandelte Minorität hervor und behandelt das römische Ghetto der Gegenwart in seinen Baulichkeiten und all seiner Lebendigkeit nur auf 60 Reumont, Römische Briefe III, S. X. Zu dieser Grundhaltung vgl. auch Lepper 1987 (wie Anm. 4), S. 17 f. sowie Alfred von Reumont: Pro Romano Pontifice. Rückblick und Abwehr. Bonn 1871 und mit ähnlicher Tendenz das Vorwort zu ders.: Briefe heiliger und gottesfürchtiger Italiener. Freiburg im Breisgau 1877, S. V-XXXIII. Möglicherweise ist in diesem Kontext noch eine dritte, anonym erschienene Schrift anzuführen: Über die gegenwärtige Regierung des heiligen Stuhles. Aus den Papieren eines Diplomaten. Schaffhausen 1865. Unter den gesammelten Rezensionen des Reumont-Nachlasses in der Stadtbibliothek Aachen befindet sich auch eine zu diesem Bändchen, in der der Rezensent eine (keineswegs sichere) Zuschreibung an Reumont vornimmt. 61 Vgl. Reumont, Römische Briefe II, Nr. 30, S. 87 f. Zum „Attentat von Anagni“ vgl. kurz Lévis Mirepoix: L’Attentat d’Anagni. Le conflit entre la Papauté et le Roi de France. Paris 1969 (= Trente journées qui ont fait la France 7) und Charles T. Wood (Hrsg.): Philip the Fair and Boniface VIII. State vs. Papacy. New York u. a. 21971 (= European Problem Studies). 62 Reumont, Römische Briefe III, Nr. 7, S. 196. 63 Gregorovius, Wanderjahre, S. 205.
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den letzten Seiten seines Berichts ausführlicher. Die demütigendsten Verordnungen gegen die Juden, die Gregorovius breit behandelt, wenngleich sie zum überwiegenden Teil in seiner Gegenwart nicht mehr bestanden, sind bei Reumont nicht einmal erwähnt. Umgekehrt zeigt sich Gregorovius mitunter dazu geneigt, republikanische Staatswesen – und seien sie hinsichtlich ihrer Strukturen noch so eingeschränkt als demokratisch zu bezeichnen – recht unkritisch zu betrachten. Die Darstellungen der Insel Korfu unterscheiden sich bei Gregorovius und Reumont gerade im Hinblick auf die Bewertung der langen Herrschaft der Republik Venedig.64 „Es gab kein elenderes und unterdrückteres Land als die ionischen Inseln unter der Herrschaft Venedigs, unter der Ruthe der gehässigsten und räuberischsten Gesetze“,65 stellte Reumont fest, während Gregorovius dagegen die Liberalität der Republik gegenüber den Korfioten betonte, da sie gegen die griechische Volkssprache keine einschneidenden Maßnahmen ergriff und auch ein Bekenntnis zur orthodoxen Kirche möglich bleiben ließ.66 Gegenüber den demokratischen, mitunter sozialistisch angehauchten Äußerungen Gregorovius’ sind in Reumonts Reisewerken liberal-konservative Positionen erkennbar: So klagt er über die Untätigkeit des Kirchenstaates bezüglich eines Ausbaus seiner Häfen und einer Handelsmarine; da man glaube, partielle Reformen nutzten nicht, allgemeine Reformen aber dürfen nicht unternommen werden, bleibe alles beim Alten, „oder vielmehr es verschlimmert sich von Tage zu Tage“.67 Anlässlich des Fehlens von Erntehelfern in Folge einer Sperrung der Grenzen des Kirchenstaats wegen Choleragefahr schreibt er: „So jammern denn die Mercanti di campagna über unausbleiblichen Ruin. Die Menge glaubt ihnen nicht, wie gewöhnlich.“68 Und zur Mißwirtschaft in der Campagna heißt es abschließend: „Der Besitz ist heilig! Altrömische Ackergesetze werden auch in modernen Revolutionen nicht durchgesetzt. Die Gütercomplexe der Campagna di Roma sind einmal vorhanden: es kommt nur darauf an, in Zukunft die schädlichen Wirkungen zu paralysieren, die sie für Land, Volk, Regierung, für Cultur, Reichtum, Moralität gehabt haben.“69 – eine Position, die Gregorovius in keiner Weise teilen konnte. Auch zur Frage der italienischen Einheit findet sich im Vorwort der Neuen Römischen Briefe eine ausführlichere Stellungnahme Reumonts:70 Es sei Land und Volk nicht gedient, wenn sie unter ein Szepter kämen; angestrebt werde von den „Verständigen“ ein „Handels- und Zollvereine, wie er in den teutschen Bundesstaaten besteht“71 – also eine wirtschaftsliberale Kopie des Deutschen Bundes als System sou64
Vgl. Reumont, Reiseschilderungen, S. 165 – 185. Ebd., S. 169. 66 Vgl. Gregorovius, Korfu, S. 427 f. 67 Reumont, Römische Briefe I, Nr. 17, S. 298. 68 Ebd., Nr. 21, S. 387. 69 Reumont, Römische Briefe II, Nr. 33, S. 201. 70 Vgl. Reumont, Römische Briefe III, S. XIX-XXIII. 71 Ebd., S. XX. 65
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veräner Staaten. Ein solcher Bundesstaat oder Staatenbund sei aber „durch Unordnungen und Aufstände“72 nicht zu erreichen, wenngleich die Verbesserungen, die ein solches System mit sich brächte, für Italien unbedingt erstrebenswert seien. Gregorovius hingegen war ein Verfechter der Nationalstaatsidee und einer Einigung Italiens – lieber noch unter Garibaldi als unter Vittorio Emanuele, aber besser so als gar nicht.73 Die unterschiedliche politische Ausrichtung ist sicherlich durch die Biographie beider Autoren und ihre unterschiedliche gesellschaftliche Stellung erklärbar. Auffällig ist, wie sehr mitunter die soziale Differenz zwischen Gregorovius und Reumont bei aller Zugehörigkeit zur einen und unteilbaren Gelehrtenrepublik doch durchscheint: Gregorovius redet in seinen Wanderjahren mit dem „einfachen Volk“, nicht nur mit Malern und Wirten, auch mit Handwerkern, Fischern, Wäscherinnen und Bauern, was seinen Berichten oft ein volkstümliches Element verleiht. Palazzi und große Villen sieht er von außen und erwähnt ihre Besitzer. Reumont hingegen redet mit dem „Volk“ nur in Notsituationen – etwa wenn sich anders kein erträglicher Mittagsimbiss beschaffen lässt als dadurch, dass man an die Hüttentür eines Bauarbeiters klopft.74 Im Regelfall sind seine Ansprechpartner die Verwalter der großen adligen Güter, wenn nicht deren Besitzer selbst, sind hohe Offiziere und Kleriker, Konsuln und Kommandanten. Daran ausgerichtet ist auch, was Gregorovius und Reumont beispielsweise von Dom Miguel, gewesener König von Portugal, erzählen, auf den beide im Zuge ihrer Schilderungen der Latina marittima zu sprechen kommen. Reumont war Gast im Jagdhaus Dom Miguels bei Pratica, streichelte dessen Jagdhunde und sah sogar das Schlafzimmer des Infanten, wenn auch in dessen Abwesenheit.75 Gregorovius blickte zu der Villa an der Küste hinauf und berichtete nur aus der Distanz: „Am schönen Strom des Tajo hatte er um die Krone Portugals gekämpft, im tropischen Amerika hatte er gelebt. Dom Miguel war dieser verwünschte Prinz von Portugal. Er kam hierher flüchtig und ohne Krone, mit weniger Begleitung. Er lebte lange in dieser Einsamkeit neben den Galeerensklaven und in wahrhaft trostloser Verbannung; denn für einen flüchtigen König muß dies einsame Ufer an den Pontinischen Sümpfen, welches uns, die wir nichts abzubüßen haben, idyllisch erscheint, grauenvoll gewesen sein. Er tobte seine Pein aus in dem wilden Walde Asturas als ein waghalsiger Jäger. Eines Tages verschwand er wieder.“76
Es reizt Gregorovius das Pittoreske der Gestalt, das Exotische des Mannes, der aus Brasilien kam. Reumont interessiert anderes, nämlich ein wenig gesellschaftlicher Klatsch: „Dom Miguels Größe ist freilich sehr heruntergekommen, und beinahe das Einzige, was ihm noch von den Äußerlichkeiten geblieben, ist die Loge, welche ihm alljährlich zu Ostern und 72
Ebd., S. XXIII. Vgl. Petersen 1993 (wie Anm. 29), bes. S. 79 – 82. 74 Vgl. Reumont, Römische Briefe IV, Nr. 21, S. 183 f. 75 Vgl. ebd., Nr. 21, S. 203 f. 76 Gregorovius, Wanderjahre, S. 454. 73
Alfred von Reumont als Reiseschriftsteller
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bei anderen Festlichkeiten in der Sixtina und in S. Peter eingeräumt wird und in welcher er, von seinem Adjutanten begleitet, zu erscheinen pflegt, mit den Grand-Cordons aller portugiesischen Orden geschmückt. […] es ist wahrscheinlich nur der Geldmangel, der ihn in Rom zurückhält, wo seine einzigen Souveränetätsakte darin bestehen dürften, daß er bisweilen einem Unterthan Sr. Heiligkeit einen Orden verleiht. Man begegnet in der römischen Gesellschaft nicht wenigen dieser Miguelistischen Dekorationen, die aber neuerdings mehr noch denn früher im Werth – und man sagt: im Preise – gesunken scheinen.“77
Mit der sozialen Stellung und den finanziellen Möglichkeiten verbunden war auch eine unterschiedliche Art, sich fortzubewegen. Gregorovius benutzte zwar häufiger als Reumont die neuen Verkehrsmittel Eisenbahn und Dampfschiff, da in den wenigen Jahren seit dem Erscheinen der Schriften Reumonts das Netz deutlich ausgebaut worden war, bewegte sich zugleich aber ungleich mehr zu Fuß, während Reumont außerhalb der Städte den Pferderücken nur zum Essen verlassen zu haben scheint. Gregorovius konnte daher genauer beobachten und gelangte an Orte, die Reumont versperrt blieben. So heißt es bei Reumont einmal, er habe mehrmals (!) versucht, antike Grabmonumente im Gefolge der alten Via Appia zu besuchen, doch sei für sein Pferd kein Durchkommen gewesen; allenfalls zu Fuß hätte man weiter vordringen können.78 Dies dann auch zu tun, darauf scheint er nicht gekommen zu sein – während Gregorovius sich wohl hurtig in die Büsche geschlagen hätte. Die wenigen Jahre, die zwischen dem Erscheinen der Reiseschilderungen und der Römischen Briefe einerseits und den Wanderjahren andererseits liegen, die dreizehn Jahre, um die Gregorovius jünger war als Reumont, und vor allem die grundlegend andere Sozialisation beider Autoren führten zu wesentlich anderen Akzenten, die sie in ihren Reisebüchern setzten. Während Gregorovius als bewusster Sprachkünstler arbeitete, der durch die Schule der Klassik und Romantik gegangen war, ihr im Fiktionalen zwar nicht genügen, seine auch lyrische und dramatische Schulung aber für seine Prosa nutzbar machen konnte, vertrat Reumont noch einen älteren, in der Spätaufklärung wurzelnen und aufklärerische Zielsetzungen berücksichtigenden Ansatz, der Geschichte zum Zwecke der Erklärung der Gegenwart oder als auflockernden Anekdotenschatz nutzt, aber nicht in ihrer Gesamtheit durchdringen will. Das Problem der Schriften Reumonts ist nur: Welche Bedeutung haben seine Ausführungen, wenn die Gegenwart selbst Geschichte geworden ist? Wenn der Zweck der Belehrung selbst nur noch historisch zu fassen ist? Stellen seine hier besprochenen Werke eine empfehlenswerte Lektüre dar, wenn man nicht an einigen wenigen Spezialfragen der italienischen Geschichte interessiert ist? Der Griff zum Gregorovius birgt heute immer noch Gewinn, denn, um mit Petersen zu sprechen: „Statt des Grauschimmels einer nicht mehr fortwischbaren Gestrigkeit liegt auf dieser Prosa [des Gregorovius] nach wie vor der Goldglanz eines kostbaren Antiquitätenstücks, das auch
77 78
Reumont, Römische Briefe IV, Nr. 21, S. 204 f. Vgl. ebd., Nr. 23, S. 252.
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für den heutigen Leser zum inneren Besitz und zum Ausdruck eigener Empfindungen und Eindrücke geworden ist.“79
Insbesondere Gregorovius’ Wanderjahre unterstützen den Reisenden bis heute bei seiner Suche nach südländischer Idylle, die in ihrer Rückwärtsgewandtheit das Ausblenden manch weniger erhebender Aspekte der Gegenwart ermöglicht. Auf Reumonts Reiseschilderungen dagegen liegt der „Grauschimmel einer nicht mehr fortwischbaren Gestrigkeit“ – leider – nur allzu oft fingerdick; ihn zu entfernen ist schwer, aber lohnend. Was Italien und Rom insbesondere betrifft, so hat Reumont – um mit einem seiner zeitgenössischen Rezensenten zu sprechen – „vollgültigen Anspruch auf das Anerkenntniß, in die unendlich lange Reihe Derer, die von Ewigkeit her über die Ewige Stadt geschrieben haben, nicht als ein Überflüssiger und als einer der Besten eingetreten zu sein“.80
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Petersen 1993 (wie Anm. 29), S. 74. Rezension der Römischen Briefe 1840 (wie Anm. 48), S. 866.
Alfred Reumont als Sagensammler und Sagenautor Von Klaus Graf Es schlingt sich eine Pracht von Blüten Um Aachens ewig junges Haupt; Geschicht’ und Sag’ im Wettstreit bieten Ihm Ruhmeskränze reichbelaubt. Wo auf der Vorzeit Boden weiter Ein immer frisches Leben sprießt, Da schaut nicht blos die Jetztwelt heiter, Da wird die Zukunft froh begrüßt.
Diese Verse Alfred Reumonts sind das Motto zu seiner Aachener Liederchronik von 1873.1 Mit floraler Metaphorik werden Sagen und historische Fakten als üppiger Blumenschmuck verstanden, dazu bestimmt, das Ansehen der Stadt zu mehren. Die Natur-Metapher wird in der zweiten Strophe fortgesetzt, die dem Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gilt. Bereits im zweiten Vers ist von Aachens ewig jungem Haupt die Rede; die zweite Strophe lässt keinen Zweifel daran, dass die Vergangenheit auf das Engste mit Gegenwart und Zukunft verbunden ist. Geschichte und Sagen sind kein antiquarischer Ballast; auf dem Boden der Vergangenheit, der „Vorzeit“, entfaltet sich „frisches Leben“, das fortschrittsoptimistisch nach vorne blickt. Kurz nach der Reichsgründung von 1871 verwundert eine solche Zuversicht keineswegs. Bevor auf das Thema Geschichte und Sage zurückzukommen ist, sollen zunächst Reumonts drei einschlägige Bücher vorgestellt werden: Aachens Liederkranz und Sagenwelt von 1829, die Neubearbeitung von 1873, Aachener Liederchronik, sowie Rheinlands Sagen, Geschichten und Legenden von 1837. 1829 erschien im Verlag von J. A. Mayer Aachens Liederkranz und Sagenwelt, herausgegeben von Alfred Reumont,2 der damals gerade einmal 21 Jahre alt war. Der über 380 Seiten umfassende Band wurde 1984 bei Olms nachgedruckt. Wer einen Sammelband von Prosasagen und Sagengedichten erwartet, stellt erstaunt fest, dass der Hauptteil eine von Reumont geschriebene historische Darstellung von „Leben und Thaten“ Karls des Großen ist. Der Band beginnt mit einem aus Frankfurt am 19. April 1829 datierten Prolog in Versform von Johann Baptist Rous1 Alfred von Reumont: Aachener Liederchronik. Aachen 1873, o. S. Digitalisate von Werken Reumonts weist nach: http://de.wikisource.org/wiki/Alfred_von_Reumont. 2 Aachens Liederkranz und Sagenwelt. Hrsg. von Alfred Reumont. Aachen/Leipzig 1829.
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seau (1802 – 1867), in dem als Leitmotiv die patriotische Heimatliebe aufscheint. Reumonts Vorwort ist kurz gehalten, er will mit dem Buch „Aachens Ruhm und Würde“3 feiern. Auf etwas über 100 Seiten schildert Reumont die Biographie Karls, abschließend als „Teutschlands größter Kaiser“ bezeichnet.4 Die Fußnoten weisen jeweils die lateinischen Primärquellen nach und beziehen sich überwiegend auf den ersten Band der Scriptores (in Folio) der Monumenta Germaniae Historica. Der Kölner Gelehrte Ernst Weyden steuerte einen Anhang über den Sagenkreis Karls des Großen bei, hauptsächlich eine Bibliographie der Karls-Tradition. Es folgen über 20 Seiten „Historisch-literarische Nachweisungen“ Reumonts, die weitere sachliche Erläuterungen enthalten, aber einen deutlichen Schwerpunkt auf die Sagen und das literarische „Nachleben“ Karls legen. Sie zeigen eine stupende Belesenheit und können noch heute von Nutzen sein, wenn es darum geht, die literarische Karls-Rezeption nach 1800 zu erschließen. Dies betrifft vor allem die in vergessenen Periodika von nicht weniger vergessenen Autoren publizierten Stücke. Gut vertraut ist der junge Autor auch mit der sagenkundlichen Literatur. Der nächste Abschnitt ist eine Kompilation „Chronologische Übersicht der Geschichte Aachens“, also eine Zeittafel. Im anschließenden Liederkranz sind 24 Aachen-Gedichte versammelt, bis auf die letzten zwei – von Konrad Celtis und dem Poeta Saxo – alle auf Deutsch. Sie stammen meist von zeitgenössischen Dichtern, als einzige Dichterin ist Helmina von Chezy vertreten. Hinsichtlich der einige Jahrzehnte alten Texte ist von Nachdrucken anhand der Erstausgaben oder der jeweiligen gesammelten Werke auszugehen. Heute noch prominent sind Friedrich Schiller, Ludwig Uhland, Friedrich von Schlegel und Friedrich Rückert. Die Aachener wie die rheinischen Lokal- und Regionalautoren dürften überwiegend dem Mitarbeiterkreis der von Rousseau 1824/25 herausgegebenen Rheinischen Flora angehört haben, den Reumont selbst in einem Aufsatz für die Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins gewürdigt hat.5 Von Rousseau stammen außer dem Prolog drei Gedichte. Reumont selbst hat hier nicht mitgeschrieben. Der nächste Teil ist überschrieben mit „Geschichten, Sagen, Legenden“ und enthält zehn Prosa-Erzählungen. Sie beginnen mit einem Auszug zu Karls Gemahlin Fastrada aus dem Geschichtswerk von Niklas Vogt. Überschneidungen mit den Autoren der Gedichte gibt es nicht. Von einem Friedrich Coßmann stammen zwei Texte, einer handelt über die Belagerung Aachens durch Wilhelm von Holland, der andere ist eine historische Erzählung aus der Zeit Karls IV. Eine schaurige Sage liegt dem Beitrag von Carl Hecker Die Schäferkreuze zugrunde. Die restlichen sechs Erzählungen sind von Reumont, vier mit dem Kürzel Rt gekennzeichnet, zwei mit dem Pseudonym Albano, das sonst für Reumont, Rousseau und Friedrich Arnold Steinmann 3
Ebd., S. VII. Ebd., S. 108. 5 Alfred von Reumont: Die Rheinische Flora. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 3 (1881), S. 179 – 218. 4
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steht, hier aber eindeutig Reumont meint. Dies ergibt sich aus der Übernahme der beiden Texte in die Rheinsagensammlung von 1837, wo sie ausdrücklich als Reumonts Werke erscheinen. Reumont behandelt eine Episode aus der Geschichte der Ezzonen, Der Pfalzgraf und die Kaiserstochter, den Tod des Grafen von Jülich 1277, eine Templer-Überlieferung, eine Teufelssage vom Lousberg, eine Koboldund Zwergensage Der Hinzenturm sowie eine Erzählung Die buckligen Musikanten. Als Anhang sind Auszüge aus Briefen Friedrich von Schlegels aus Aachen von 1806, eine kurze Abhandlung zur Aachener Mundart von Wilhelm Weiz sowie eine Liste Aachener Sprichwörter beigegeben. Dieses eigenartige Aachener „Heimatbuch“ mischt also gelehrte historische Abhandlungen, einen volkskundlichen Aufsatz, eine Gedichte-Anthologie zum Thema Aachen (unter Einschluss von Sagenballaden) sowie fiktionale und Sagen-Erzählungen. Der Band weist eine größere Geschlossenheit auf als die damals beliebten Taschenbücher und Zeitschriften, ist aber für heutige Leser von befremdlicher Heterogenität. Es ist ungewohnt, historische Darstellungen, eine literarische Anthologie und einen Sagenband in ein und demselben Buch vorzufinden. 1833 legte Reumont der Erlanger philosophischen Fakultät neben zwei anderen Schriften auch den Liederkranz vor, worauf man ihn zum Doktor der Philosophie promovierte.6 Bereits gut 40 Jahre später war ein solcher Mix nicht mehr zeitgemäß. Unter dem Erscheinungsjahr 1873 veröffentlichte Reumont anonym und ohne Vorwort eine Bearbeitung unter anderem Titel: Aachener Liederchronik. Mit einer Chronologie der Geschichte Aachens. Wie sich aus einer Rezension in der Beilage zum Aachener Anzeiger vom 15. Dezember 1872 ergibt, erschien das Buch aber bereits gegen Ende des Vorjahres. Die veraltete Darstellung zu Karl dem Großen wurde ebenso gestrichen wie die Prosatexte und die weiteren Beigaben. Außer der Gedichte-Anthologie blieb nur die Zeittafel zur Aachener Geschichte übrig, die erheblich überarbeitet wurde, einerseits erweitert, andererseits aber auch gestrafft und nüchterner formuliert. Der erwähnte Rezensent äußert sich sehr lobend zu dieser Zusammenstellung Reumonts. Aus den 24 Gedichten sind nunmehr 65 chronologisch geordnete geworden, eine bis heute verdienstvolle umfangreiche Sammlung poetischer Beschäftigung mit Aachen. Hinzu kommen einige Originaltexte übersetzter Dichtungen. Drei Gedichte aus der Erstausgabe sind entfallen. In die Ausgabe von 1873 nahm Reumont nun auch eigene Verse auf: Sechs Gedichte sind mit A. R. gekennzeichnet. Von seinem Bruder Alexander, dem Badearzt, stammen zwei Texte. Noch zu Lebzeiten Reumonts, 1885, erlebte die Liederchronik eine zweite Auflage.
6 Vgl. Frank Pohle: Alfred von Reumont. Lebensskizze und Katalog. In: Stadtbibliothek Aachen (Hrsg.): Alfred von Reumont (1808 – 1887). Gelehrter, Diplomat, Ehrenbürger Aachens. Aachen 2008 [Katalog der gleichnamigen Ausstellung in der Stadtbibliothek Aachen, 25. 11. 2008 – 03. 01. 2009], S. 5 – 21, hier S. 13.
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Nun zum dritten Buch, den Rheinland-Sagen, die 1837 in erster Auflage bei Ludwig Kohnen in Köln und Aachen erschienen.7 Die Ausstattung mit acht Stahlstichen und einem Titelkupfer signalisiert, dass man den Band auf die Bedürfnisse eines gehobenen Publikums zuschnitt. Die Vorlagen stammen von verschiedenen Künstlern, zwei von Alfred Rethel. Reumonts Vorwort – am Neujahrstag 1837 aus Rom datiert – skizziert zunächst mit geübter Feder auf zwei Seiten den Lauf des Rheins und geht dann zu einem Abschnitt über, der von deutschem Patriotismus bestimmt wird. Tausend Empfindungen wecke der Rhein in der Brust jedes Deutschen, denn er sei „verschwistert mit den wichtigsten Ereignissen der Geschichte des Vaterlands“,8 bewohnt von einem Volk, das nie den deutschen Sinn verleugnet habe. Der „deutsche Gesang und die deutsche Sage sind heimisch auch an den Ufer des Rheines“, schreibt Reumont im erwähnten Vorwort und fährt mit romantischer Rhetorik fort: „Diese Ufer erzählen ihre Geschichte, lauter denn Urkunden und Jahrbücher des Chronikenschreibers. Da liegen die Städte, jugendmuthig in ihrem Alter; da erheben sich die Kirchen, nach so manchem Raube noch reich an den herrlichsten Schätzen der Künste; da stehn die Klöster, aus denen die Bewohner gewichen sind, deren einst wohltätige Wirksamkeit aber in Stadt und Feld und Weinberg ihre Spuren hinterlassen hat; da schauen die Burgen herab von den Höhen, in ihrer Zertrümmerung einen Spiegel vergangener Tage vorhaltend. Das sind die Blätter der rheinischen Geschichte. Und hundert Dinge erzählt man von diesen Städten und Kirchen, diesen Klöstern und Burgen, und von ihren Erbauern und Bewohnern; zum Geschehenen gesellt sich die Sage, und das Lied erklingt, bald ernst bald heiter, und berichtet von den Tagen und Thaten der Väter, von altem Ruhm und alter Größe, von Glück wie von Leid. Das ist die Stimme des rheinischen Volkes.“9
Für Reumont ist die Sage „nicht immer ein bloßer Traum von der Vergangenheit“,10 da sie fest und innig mit der Gegenwart verwachsen sei. Ein Gang durch manche rheinische Stadt sei belehrender als eine Vorlesung über das Mittelalter. Er wirbt für den Wert der Überlieferungen: Sie könnten in der Historiographie übergangene Details enthalten oder Hinweise auf eine „abgelegte Sitte des Volkes, auf ein einst Geglaubtes, auf ein Erlebtes, Vorübergegangenes, Vergessenes“.11 Bei der schweren Auswahl der Sagen aus dem reichen Stoff bevorzugte Reumont diejenigen, die eine erzählerische Ausgestaltung zuließen. Er wollte abgerundete kleine Gemälde liefern. Besonders lagen ihm die eher vernachlässigten niederrheinischen Sagen am Herzen, den Oberrhein südlich von Speyer und Heidelberg klammerte er ganz aus. Ursprünglich hatte Reumont vor, die während eines Aufenthalts in Deutschland 1835 und 1836 entstandene Sammlung mit Erläuterungen zu versehen, 7 Rheinlands Sagen, Geschichten und Legenden. Hrsg. von Alfred Reumont. Köln/Aachen 1837. 8 Ebd., S. XV. 9 Ebd., S. XV f. 10 Ebd., S. XVIII. 11 Ebd., S. XIX.
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musste dann aber – fernab von den benötigten Hilfsmitteln – darauf verzichten. Er beschränkt sich daher auf sehr summarische Quellenhinweise im Vorwort, das mit einer Beschwörung der Erinnerung an die Schönheiten der Heimat schließt. Zweck der Sammlung war es Reumont zufolge, „einen Begleiter auf der Rheinreise, ein Erinnerungsbuch für den Heimgekehrten zu liefern“.12 Man zielte also auf zahlungskräftige Touristen ab, die sich mit den in die gängigen Rheinreiseführer eingestreuten Sagen nicht zufriedengeben wollten. Das Buch hatte anscheinend Erfolg; zumindest kam es 1844 zu einer verbesserten und vermehrten Zweitauflage. Da Engländer und Franzosen damals zuhauf an den Rhein pilgerten, war es zudem ratsam, für sie geeignete Rhein-Literatur auch in ihrer Muttersprache bereitzuhalten. Daher erschienen 1838 eine englischsprachige Ausgabe, auf deren Titelblatt Charles White statt Reumont als Herausgeber genannt wird, sowie eine französische Ausgabe, beide ebenfalls im Verlag Kohnen.13 Von den 50 Texten hat Reumont etwa die Hälfte (26) selbst geschrieben; von den anderen Autoren lieferte der Kölner Lehrer Ernst Weyden, bereits Mitarbeiter an Rosseaus Rheinischer Flora und Reumonts Liederkranz, mit sieben Texten die meisten Beiträge. Bis auf das Gedicht von Reinick, eine Auslegung der Vater-Rhein-Allegorie auf dem Titelkupfer, sind alle Sagen in Prosa wiedergegeben. Nachdem kurz zuvor Simrocks Rheinsagen als Gedicht-Anthologie erschienen waren (Erstauflage 1836), gab es für einen weiteren Gedichtband wohl keinen Markt mehr. Vielleicht hat Reumont bereits bei den Sammelarbeiten von Simrocks Vorhaben gewusst. Von den fünf Aachener Sagen waren vier schon zuvor im Liederkranz erschienen. Reumonts Texte sind alles andere als treu wiedergegebene Volksüberlieferungen, es sind meist historische Erzählungen, in der literarischen Darstellungsform ganz der historischen Novelle verpflichtet. Auch soweit sie Übernatürliches oder Dämonologisches enthalten, sind sie – wie die meisten Rheinsagen – „historische Sagen“.14 Die neuere Sagenforschung hat das romantische Klischee, das in den Sagen mündlich über viele Generationen tradierte Botschaften aus uralter Zeit sah, inzwischen erfolgreich verabschiedet. Sagen sind keine Überbleibsel aus grauer Vorzeit, sondern zuallererst literarische und historische Dokumente ihrer eigenen Zeit, näm-
12
Ebd., S. XXI. Rheinlands Sagen, Geschichten und Legenden. Hrsg. von Alfred Reumont. 2. verm. und verb. Aufl., Köln/Aachen 1844, Ruins of the Rhine, their times and traditions. Hrsg. von Charles White. Aachen u. a. 1838, Sagas légendes des bords du Rhin. Aachen u. a. [1838]. Mit Charles White war Reumont befreundet; er übersetzte damals ein Buch von ihm ins Deutsche und bearbeitete es; vgl. Charles White: Häusliches Leben und Sitten der Türken. 2 Bde., Berlin 1844/45. 14 Zu den Problemen dieses Begriffs vgl. Klaus Graf: Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der ,historischen Sage‘. In: Fabula 29 (1988), S. 21 – 47, online: http://www.freidok. uni-freiburg.de/volltexte/5273/. 13
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lich derjenigen Zeit, in der sie aufgeschrieben wurden. Reumonts „Sagen“ sind daher primär als Zeugnisse des 19. Jahrhunderts ernst zu nehmen.15 Was Reumont tatsächlich an mündlicher Volksüberlieferung vorlag, lässt sich nicht sagen, aber viel dürfte es nicht gewesen sein. Ob man bei den literarisch gestalteten Erzählungen von Fakelore statt von Folklore sprechen sollte, ein von dem amerikanischen Folkloristen Richard Dorson geprägter Begriff,16 ist Geschmackssache. Die meisten Autoren schrieben damals nicht authentische Volksüberlieferungen auf, sondern sahen in ihnen Vorlagen für mehr oder minder freie poetische Gestaltungen. Keine Anhaltspunkte für eine mündliche Quelle gibt es bei der Erzählung vom Pfalzgrafen und der Kaisertochter, die letztlich auf Quellen aus dem Kloster Brauweiler zurückgeht. Die kurze schriftliche Quelle wurde nach dem Muster einer historischen Novelle mit Dialogen und anderen Handlungs-Elementen angereichert. Die bedeutendste Aachener Karls-Sage war die vom Ring der Fastrada.17 Rousseaus Zeitschrift Rheinische Flora sollte ursprünglich sogar Fastrada heißen.18 Dieser Stoff war im Liederkranz nicht von Reumont selbst behandelt worden. Reumonts Prosaversion von 1837 ordnet sich in die außerordentlich reiche Geschichte dieses Erzählstoffs ein, den im 19. Jahrhundert nicht wenige Literaten aufgriffen. Schon 1840 wurde Reumonts Fassung von dem sächsischen Sagendichter Widar Ziehnert in Verse gebracht. Die maßgebliche Behandlung der Stoffgeschichte durch Karl Reuschel 1908 attestiert Reumont immerhin, er habe die Geschichte „gut und schlicht“ vorgetragen.19 In den gelehrten Nachweisen im Liederkranz nennt Reumont weitere Behandlungen;20 selbstverständlich stützte er sich auf diese schriftlichen Quellen. Zu den bekanntesten Sagen zählt die Sage vom Münsterbau in Aachen, eine Variante der vielen Sagen über den geprellten Teufel, der in Aachen mit einem Wolf statt der erwünschten Menschenseele vorlieb nehmen muss. Sie tritt bei Reumont in Kombination mit einer Lousberg-Sage auf, in der der Teufel von einer Frau überlistet wird und der Lousberg der ursprünglich vom Teufel zur Vernichtung der Stadt bestimmte Sandberg ist. Emil Pauls konnte von der Wolfs-Sage kein früheres Zeugnis als eine 15 Vgl. Klaus Graf: Schwabensagen. Zur Beschäftigung mit Sagen im 19. und 20. Jahrhundert. 2007, online: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/3459/ und ders.: Urschel, Nachtfräulein und andere Gespenster. Überlieferungen und Sagen in Reutlingen und Pfullingen. In: Reutlinger Geschichtsblätter NF 50 (2011), S. 209 – 250. 16 Richard M. Dorson: Fakelore. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 4, Berlin/New York 1984, Sp. 800 – 802. 17 Zur Stoffgeschichte vgl. auch Klaus Graf: Ring. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 11, Berlin/New York 2004, Sp. 688 – 696, hier Sp. 691. 18 Reumont 1881 (wie Anm. 5), S. 194. 19 Karl Reuschel: Die Sage vom Liebeszauber Karls des Großen in dichterischen Behandlungen der Neuzeit. In: Philologische und volkskundliche Arbeiten. Karl Vollmöller zum 16. Oktober 1908. Hrsg. von Karl Reuschel/Karl Gruber. Erlangen 1908, S. 371 – 389, hier S. 377. Vgl. auch August Pauls: Der Ring der Fastrada. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 17 (1895), S. 1 – 73. 20 Reumont 1829 (wie Anm. 2), S. 137.
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im Jahr 1800 erschienene Ballade des Dichters August Friedrich Ernst Langbein beibringen;21 er übersah den früheren Abdruck dieses Langbein-Gedichts in Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1796.22 Die Lousberg-Sage begegnet nach Pauls erstmals in einem scherzhaften Beitrag in der Rheinischen Flora 1825. Da es keinen Beweis für frühere Zeugnisse gibt, sehe ich in der Behauptung einer längeren mündlichen Überlieferung vor 1800 eine unbewiesene Spekulation. Möglicherweise ist die Lousberg-Sage in Anlehnung an andernorts verbreitete Sagen über bergeversetzende Riesen oder Teufel für den Flora-Beitrag erfunden worden. Fakelore also auch hier? Bei den buckligen Musikanten muss offen gelassen werden, ob Reumont eine schriftliche oder mündliche Variante des verbreiteten Erzähltyps „Gaben des kleinen Volkes“ kannte.23 Die Erzählung begegnet in stark abgewandelter Form in den Volksmärchen des Musäus. In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass Reumont für einen Kostümball im Berliner Schloss den Begleittext zu acht gestellten Bildern nach Volksmärchen des Musäus verfasste.24 Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Musäus die direkte Quelle für Reumont war. Sicher von ihm erfunden ist die pseudohistorische Einkleidung mit genauer Datierung: „Am Tage Sankti Mathäi, im Jahr nach des Welterlösers Geburt, 1549, kam ein armer bukliger Spielmann spät in der Nacht von einem Dorf zurück, woselbst er bei einer Hochzeit aufgespielt hatte“.25 Und wie sieht es mit der Zwergen-Geschichte vom Hinzenturm aus? Auch hier kann man nicht überprüfen, was Reumont womöglich der mündlichen Überlieferung entnahm. In der Liederchronik gibt er das 1836 gedruckte berühmte Heinzelmännchen-Gedicht von August Kopisch mit Änderung des Ortsnamens Köln in Aachen wieder, was er in einer Fußnote verteidigt: „Mein guter Freund Kopisch, der manche seiner hübschen Sagen im Jahr 1835/36 auf meine Ermunterung dichtete, würde mir, weilte er noch unter uns, die Freiheit verzeihen“.26 Dieser Äußerung zufolge könnte Reumont Kopisch auf die Behandlung des Kobold-Stoffs in Ernst Weydens 1826 er-
21 Emil Pauls: Der Lousberg bei Aachen. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 18 (1896), S. 19 – 64, hier S. 48. Der Stoff ist in der internationalen Erzählforschung als „ATU 1191“ bekannt: Hans-Jörg Uther: The Types of International Folktale. 3 Bde., Helsinki 2011 (Neubearbeitung von Aarne/Thompson = AT). Vgl. auch Elfriede Moser-Rath: Brückenopfer. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 2, Berlin/New York 1979, Sp. 838 – 842, hier Sp. 839 (Erwähnung Aachens nach den Deutschen Sagen der Brüder Grimm Nr. 186). 22 Musen-Almanach für das Jahr 1796, S. 193 – 203. Der Text ist bequem zugänglich in: http://de.wikisource.org/wiki/Der_Kirchenbau_in_Aachen._Eine_Legende. 23 Vgl. Johannes Bolte/Jirí Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Bd. 3, Leipzig 1918, S. 326 mit Erwähnung der Reumont-Fassung. Zum Stoff vgl. ATU 503 (wie Anm. 21), Hans-Jörg Uther: Gaben des kleinen Volkes. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 5, Berlin/New York 1987, Sp. 637 – 642 und ders.: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Berlin/New York 2008, S. 375 – 378. 24 Hubert Jedin: Alfred von Reumont (1808 – 1878). In: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 95 – 112, hier S. 101. 25 Reumont 1829 (wie Anm. 2), S. 333. 26 Reumont 1873 (wie Anm. 1), S. 143, Anm. *.
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schienenem Buch Cöln’s Vorzeit aufmerksam gemacht haben.27 Ferdinand Philipp Grimm (1788 – 1845), der unbekannte Bruder Grimm, nahm Die Hinzemännchen aus Reumonts Rheinsagen 1837 in seine handschriftliche Sagensammlung auf, bezeichnenderweise mit der Anmerkung: „Die beste und fast einzige Sage in der Sammlung“.28 Man kann aus dieser Einschätzung ablesen, wie weit Reumonts Sagen-Konzept, das er mit den anderen Rheinsagen-Büchern teilte, von dem der Brüder Grimm entfernt war. Neben dem schwer fassbaren Rinnsal authentischer mündlicher Volks-Überlieferung verläuft der breite Strom schriftlicher und literarischer Gestaltungen. Im Bereich der Rheinsage – gemeint ist vor allem der Mittelrhein von Speyer bis Köln – ist das freilich eher die Regel als die Ausnahme. Die Rheinsage ist ein Kind der Romantik, der in den Jahren nach 1800 entstehenden Rheinromantik. Vor allem zwei Autoren haben, wenn man so will, die Gattung „Rheinsage“ im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts „erfunden“: der Historiker Niklas Vogt und der zum Kreis der Heidelberger Romantiker zählende Ästhetikprofessor Aloys Schreiber.29 Die Rheinsage verkörpert einen Sagentyp, so Helmut Fischer, der schriftlich, „weithin in Versgestalt und künstlich auftritt, über viele Verbreitungswege dem Rhein eine weltweite Öffentlichkeit verschafft und die Folklorisierung des Rheinlandes mitbewirkt“.30 Reumont traf als Student 1828 in Heidelberg auf ein ausgesprochen sagenfreundliches Milieu; denn bereits kurz nach 1800 hatte sich die Heidelberger Romantik fasziniert den Volksüberlieferungen zugewandt. Bekannt ist vor allem die Volksliedersammlung von Arnim und Brentano Des Knaben Wunderhorn, aber bereits in Schreibers Badischer Wochenschrift von 1806/08 begegnen Sagenaufzeichnungen.31 Reumont zitiert im Liederkranz von 1829 Beiträge von Carl Geib in der Zeitschrift Cornelia sowie Band 1 der ein Jahr zuvor erschienenen Volkssagen des Rheinlandes, 27 Ohne diesen Beleg: Marianne Rumpf: Wie war zu Cölln es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem. In: Fabula 17 (1976), S. 45 – 74. Zu Reumont und zur Aachener Sage ebd., S. 53 – 57/72. Zum Stoff vgl. auch Uther 2008 (wie Anm. 23), S. 96 – 99. Denkbar wäre, dass Reumont die Existenz der Aachener Hinzengasse zum Anlass genommen hat, die Sage von den Kobolden auf Aachen zu übertragen. Zur Hinzengasse vgl. den von Dietmar Kottmann verfassten Beitrag „Heinzelmännchen, Hinzenmännchen, Römermännchen im rheinischen Sagenschatz“, online: http://www.aachener-geschichtsverein.de/Online-Beitraege/hein zelmaennchen-hinzenmaeaenchen-roemermaennchen-im-rheinischen-sagenschatz. 28 Der unbekannte Bruder Grimm. Deutsche Sagen von Ferdinand Philipp Grimm. Aus dem Nachlaß hrsg. von Gerd Hoffmann/Heinz Rölleke. Düsseldorf/Köln 1979, S. 120, zu Nr. 82. 29 Klaus Graf: „Eine Sage für den Pinsel eines Ovids!“ Kritisches zur Rheinsage am Beispiel der Sieben-Jungfrauen-Sage von Oberwesel. Festvortrag beim Hansenfest 1998. In: Hansen-Blatt 64 (1999), Nr. 52, S. 53 – 59, online: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz: 929:01 – 3930. Zur Rheinsage vgl. zusammenfassend Helmut Fischer: Rheinromantik. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 11, Berlin/New York 2004, Sp. 640 – 648. 30 Fischer 2004 (wie Anm. 29), Sp. 645. 31 Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Kettner. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 6 (1896), S. 62 – 122.
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ebenfalls von Geib.32 Ist für die literarische Zuordnung des Liederkranzes vor allem der Kreis um Rousseau wichtig, so kann man hinsichtlich der Rezeption des SagenKonzepts auf die Prägung Reumonts durch die Heidelberger Romantik und den Kontakt zum Kölner Sagensammler Ernst Weyden verweisen. Möglicherweise hat Reumonts Liederkranz die Aachener Sagenwelt dauerhaft mit der Rheinsage verknüpft. Bei Schreiber und Geib hatte Aachen noch keine Rolle gespielt, aber es ist sicher kein Zufall, dass nicht wenige der Sagengedichte aus Reumonts Liederkranz von 1829 sich in Simrocks poetischer Rheinsagen-Anthologie wiederfinden. Reumonts Gedichtsammlung machte unmissverständlich klar, welche ungeheure historische und patriotische Bedeutung Aachen und der Figur Karls des Großen zukam. Auf die politischen Implikationen der Aachen-Gedichte in der Zeit der Befreiungskriege wies Reumont 1881 hin, als er schrieb: „Die Stätte alter deutscher Herrlichkeit in Geschichte und Sage mußte vor allen gefeiert werden in den Tagen als es hieß: ,Frei geworden ist der Strom, ist das Land am deutschen Rheine‘“.33 Man beachte die Paarformel „Geschichte und Sage“! Natürlich wussten die Gebildeten von der historischen Bedeutung Aachens, aber Reumonts Liederkranz fasste geschickt die historischen und poetischen Belege zusammen. Überspitzt formuliert: Wer auf Aachen in einem Rheinsagenbuch verzichtete, verzichtete auch auf Karl den Großen. Unser heutiges Sagenverständnis wird vor allem durch die sogenannten dämonologischen Sagen geprägt, und in populären Veröffentlichungen hält sich hartnäckig die Ansicht, diese gewährten Einblicke in die germanische vorchristliche Zeit. Als Werk, das ein wirkmächtiges Sagen-Paradigma begründete, kann Jacob Grimms Deutsche Mythologie von 1835 gelten. In der Folge mühten sich unzählige Epigonen an spekulativen mythologischen Deutungen ab. Bissig formulierte Rudolf Schenda: „Die Parallelisierung von Mythen- und Sagenfiguren wurde zum Steckenpferd der deutschen Lehrerschaft. Wotan/Donar war allgegenwärtig […], die Holden und Unholden trabten omnipräsent durch Berg und Tal“.34 Reumonts Sagen sind vom mythologischen Paradigma noch frei. Ein wenig spekulativ darf man vermuten, dass die Weglassung der Prosasagen aus dem Liederkranz in der Liederchronik 1873 auch dem neuen mythologischen Wind in der Sagenbuch-Szene geschuldet war. Man zeichnete Prosasagen nunmehr nach dem Volksmund auf und legte viel Wert auf Details, die mythologische Rückschlüsse ermöglichen sollten. Das Sagen-Paradigma des Vormärz war dagegen die dichterisch gestaltete historische Sage aufgrund eines Stoffs aus der eigenen vaterländischen Geschichte, gedacht als poetische Zier, um den auf Deutschland und das jeweilige Territorium bezogenen Patriotismus zu stärken. Sagen sollten ganz entschieden der Heimatliebe dienen. In einer positiven Rezension des Liederkranzes im Wegweiser im Gebiete der Künste und Wissenschaften heißt es zu den zehn Geschichten, Sagen und Legenden, 32
Reumont 1829 (wie Anm. 2), S. 135 f. Reumont 1881 (wie Anm. 5), S. 181. 34 Rudolf Schenda: Mären von Deutschen Sagen. In: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 26 – 48, hier S. 37. 33
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diese seien zwar „prosaisch und von unbekannten oder ungenannten Verfassern, aber nicht ohne Geschick behandelt, und bieten in sich selbst ein so mannigfaches Interesse dar, daß gewiß den hier gebotenen Stoff noch mancher ausgezeichnete Dichter benutzen wird“.35 Prosasagen galten nur als Vorstufe und Stoffsammlung zur höheren Form der Versdichtung. Die späteren volkskundlichen Gralshüter der „echten deutschen Volkssage“ sahen es gerade umgekehrt und haben sich daher bis zur Gegenwart so gut wie nicht um die vielen Sagengedichte und Sagenballaden gekümmert, die nicht nur in den 1820er Jahren das Lesepublikum begeisterten. Sie versuchten einen authentischen, volkstümlichen Sagenkern aus den poetischen Gestaltungen herauszuschälen, das Literarische war Abfall, den man beiseiteschob. Aber für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts kann man hinsichtlich des literarischen Prestiges durchaus vom Primat der Sagenballade sprechen. Eine Sammelbesprechung im Allgemeinen Archiv für die Geschichtskunde des preußischen Staates 1832, die auch Reumonts Liederkranz streift, verweist auf die Gebrüder Grimm, die den Anstoß gegeben hätten, „zu einer Reihe verdienstlicher Bestrebungen, uns in den Sagen des Volkes die geschichtlichen Erinnerungen desselben und die poetische Seite des Volkslebens aufzubewahren“.36 Die Grimmsche Sammlung war 1816 und 1818 in zwei Bänden erschienen. Die Rezension stellte also bei den Volkssagen die Aspekte „Geschichte“ und „Poesie“ in den Vordergrund. Für das Volk ist die Volkskunde zuständig, für die Poesie die Literaturwissenschaft und für die Geschichte die Geschichtswissenschaft. Das viel zu wenig beachtete Phänomen der „Sagenproduktion im 19. Jahrhundert“ bedarf also interdisziplinärer Anstrengung. Ergänzt werden können die (leider viel zu wenigen) literaturwissenschaftlichen Interpretationen37 und die Resultate der modernen volkskundlichen Erzählforschung, die sich weitgehend von den alten romantischen Klischees distanziert hat,38 durch einen spezifisch geschichtswissenschaftlichen Zugriff. Es gilt die Sagen in den Forschungskontext der Erforschung der Geschichts- oder Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts einzubetten, der ja auch in der Kunstgeschichte spannende Ergebnisse geliefert hat. Sagentexte und Sagenbilder müssen als Elemente jenes Ensembles aus Denkmälern, Historienbildern, Schauspielen, Festzügen, historistischen Schlossbauten usw. begriffen werden, also der Medien, die sich mit der eigenen – insbesondere mittelalterlichen – Vergangenheit auseinandersetzten.39 35 Rezension in: Wegweiser im Gebiete der Künste und Wissenschaften, 14. 10. 1829, Zeitungsausschnitt in: Stadtbibliothek Aachen, Nachlass Reumont. 36 Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 9 (1832), S. 185, online: http://books.google.de/books?id=2RgbAAAAYAAJ&pg=PA185. 37 Vgl. etwa jüngst Hanns-Peter Mederer: Der unterhaltsame Aberglaube. Sagenrezeption in Roman, Erzählung und Gebrauchsliteratur zwischen 1840 und 1855. Aachen 2005. 38 Vgl. exemplarisch Rudolf Schenda: Von Mund zu Ohr. Göttingen 1993. 39 Vgl. nur Gerhard Faix: Vaterländische Geschichte als öffentliches Ereignis im Königreich Württemberg. In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 59 (2000), S. 119 – 139. Zum Zusammenhang von Sage und territorialer Geschichtskultur in Württemberg und Hohenzollern vgl. Graf 2007 (wie Anm. 15).
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Sage und Geschichte galten als Schwestern. Im Treppenhaus des 1855 eröffneten Neuen Museums zu Berlin stellte der Historienmaler Wilhelm von Kaulbach Sage, Geschichte, Poesie und Wissenschaft nebeneinander dar.40 Auch für Reumont waren Sage und Geschichte aufs engste verknüpft. Nochmals sei das Liederchronik-Motto zitiert: „Geschicht’ und Sag’ im Wettstreit“ bieten Aachens ewig jungem Haupt Ruhmeskränze dar. Die nüchternen Fakten zum Leben Karls des Großen, erhoben aus karolingischen Annalen, waren nicht geeignet, lokale Identität emotional aufzuladen. Karl war ein „Mythos“, eine deutsche Symbolfigur auch in den Freiheitskriegen, die Karls-Sage, die wirkmächtige Traditionsbildung um den Franken-Herrscher, vermochte es im Gegensatz zur trockenen historischen Darstellung, patriotische Gefühle zu wecken. Die Geschichte bedurfte der Sage, um lebendig zu werden, die Sage salbte gleichsam die Geschichte mit poetischem Öl. Der Rückgriff auf Aachens alten Ruhm in Sage und Geschichte diente der Orientierung in schwieriger Zeit. Restaurative Unterdrückung und Zensur lastete auch auf der vermeintlich unpolitischen Mittelalterschwärmerei, doch bot diese immerhin ein Feld, in dem politische Werte im Spiegel der Historie artikuliert werden konnten. Sagen galten als Volkspoesie, und sie verwiesen daher auf das „Volk“, also die Bürgergesellschaft, die ein eigenes altes Recht gegen die Fürsten von Napoleons Gnaden ins Feld führen konnte. Ludwig Uhland, einer der Liederkranz-Autoren und Sagenforscher, war wie kein anderer von diesem Volksrecht überzeugt.41 1833 schlug die Repression zurück: Uhland musste die geliebte akademische Laufbahn aufgeben, da sich die württembergische Regierung weigerte, den zur Wahrnehmung eines Abgeordnetenmandats notwendigen Urlaub zu gewähren. Die Volksüberlieferungen leisteten in den Jahren nach 1800 einen entscheidenden Beitrag zur „Erfindung der Nationen“. Darauf hat Hans Magnus Enzensberger in einem prägnanten Essay hingewiesen. Es komme ihm so vor, schreibt er, „als wären die meisten der Nationen von einer Handvoll stiller Gelehrter erfunden worden, und zwar innerhalb der letzten 200 Jahre. […] Es begann damit, dass die Forscher sich an ihre Schreibtische setzten um herauszufinden, was der sogenannte Volksmund zu sagen hatte. Mit Eifer trugen sie Märchen, Redensarten, Rätsel, Lieder und Sagen zusammen“.42
40 Zur Deutung vgl. etwa einen anonym erschienenen Aufsatz über Wilhelm Kaulbach in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 12 (1862), S. 241, online: http://books.google.de/books?id=h5LQAAAAMAAJ&pg=PA241. Vgl. auch Hans Ebert: Über die Entstehung, Bewertung und Zerstörung der Wandgemälde Wilhelm von Kaulbachs im Treppenhaus des Neuen Museums zu Berlin. In: Forschungen und Berichte 26 (1987), S. 177 – 204. Es wäre an der Zeit, dass sich die Kunstgeschichte des Themas der Sagenillustrationen und Sagendenkmäler mit vergleichendem Zugriff annimmt. 41 Zu Uhland und der Volkspoesie vgl. zusammenfassend Klaus Graf: Johann Ludwig Uhland. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 13, Berlin/New York 2010, Sp. 1128 – 1134. 42 Hans Magnus Enzensberger: Enzensbergers Panoptikum. Quaden, Wilzen und Chauken. Dritte Lieferung: Wie man Nationen am Schreibtisch erfindet. In: Der Spiegel 2011, Nr. 48, S. 134 f.
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Reumonts Erstlingswerk und seine späteren Sagenbücher verdienen nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil sie Anschauungsmaterial für die Überschneidung des Sagen- und Volksüberlieferungen-Diskurses mit dem patriotisch-nationalen Diskurs im 19. Jahrhundert bereitstellen. Aachen, Karl der Große und der Rhein waren damals eminent politisch aufgeladene Themen, und die auf sie bezüglichen „Volkssagen“ lieferten hochwillkommenen Geschichtsstoff und bedeutende Bausteine für das nationale Selbstbewusstsein. Anders als heute waren Sagen im 19. Jahrhundert ein bedeutender Faktor in der Geschichtskultur und im literarischen Leben.
Alfred von Reumont als Philologe und Althistoriker – Überlegungen zu „Des Claudius Rutilius Namatianus Heimkehr“ (1872) Von David Engels I. Einleitung Velocem potius reditum mirabere, lector, / tam cito Romuleis posse carere bonis1 – mit diesen Worten beginnt eines der erstaunlichsten und auch menschlich ergreifendsten poetischen Werke der lateinischen Antike, das leider nur fragmentarisch erhaltene de reditu suo des römischen Senators Claudius Rutilius Namatianus, in dem dieser seine ins Jahr 417 zu datierende Reise von Rom nach Südgallien beschreibt und uns einen faszinierenden Einblick in die spätantike Zivilisation der Völkerwanderungszeit erlaubt. Es ist kaum erstaunlich, dass die insgesamt wenig mehr als 700 Verse dieses Textes schon seit langem die Aufmerksamkeit nicht nur der altertumswissenschaftlichen Forschung auf sich gezogen, sondern auch in Literatur2 und sogar Film3 Eingang gefunden haben, spiegelt sich doch in diesem persönlichen Reisebericht wie in einer Momentaufnahme die politische, religiöse, kulturelle und menschliche Situation einer ganzen Epoche wider, ohne dass dieses opusculum darum an persönlichem Gehalt verlieren oder von der Bedeutsamkeitsschwere seiner Zeit erdrückt werden würde. Bedenkt man das Interesse des Aachener Polyhistors Alfred von Reumont für die Zeit der Spätantike, die Kultur Norditaliens und die Geschichte des Christentums, 1
Rut. Nam. 1,1 – 2. Man denke hier etwa an die besondere Rolle, welche Rutilius neben Ausonius und Claudian in der Bibliothek von des Esseintes in Huysmans Roman A rebours spielt (vgl. ebd., Kap. 3: „Rutilius, avec ses hymnes à la gloire de Rome, ses anathèmes contre les juifs et les moines, son itinéraire d’Italie en Gaule, où il arrive à rendre certaines impressions de la vue, le vague des paysages reflétés dans l’eau, le mirage des vapeurs, l’envolée des brumes entourant les monts.“). 3 Hier sei verwiesen auf die 2004 verfilmte Version des Gedichts de reditu suo, „Il Ritorno“ (Szenario und Leitung Claudio Bondi), in welchem Rutilius Namatianus nach einer gescheiterten Liebesaffaire in Rom hofft, in Südgallien ein Heer zur Befreiung der Hauptstadt ausheben zu können. Zum Nachleben des Rutilius im 20. Jahrhundert vgl. Alessandro Fo: Rievocazioni. Rutilio Namaziano dal viaggio alla letteratura e allo spettacolo (con un ritorno). In: Emanuele Narducci u. a. (Hrsg.): Aspetti della fortuna dell’antico nella cultura europea. Atti della prima giornata di studi, Sestri Levante, 26 marzo 2004. Pisa 2005, S. 101 – 207. 2
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wirkt es im Rückblick schon fast unausweichlich, dass Reumont, der neben seiner diplomatischen Karriere v. a. als Autor zahlreicher Untersuchungen zur Geschichte der Renaissance und als Verfasser einer dreibändigen Geschichte der Stadt Rom hervorgetreten war,4 sich auch mit Rutilius Namatianus auseinandersetzen musste. Dass diese Beschäftigung sich in Form eines 1872 unter dem Pseudonym Itasius Lemniacus veröffentlichten, ausführlichen wissenschaftlichen Kommentars mitsamt Übersetzung niederschlug,5 zeigt umso anschaulicher die Bedeutung, welche Reumont dem Rutilius und seiner Zeit zukommen ließ. Im Folgenden soll versucht werden, die Bedeutung der literarischen Vorlage, die Besonderheiten des Reumont’schen Kommentars und die Grundzüge der wissenschaftlichen Rezeption der Schrift in aller gebotenen Kürze herauszuarbeiten, um einen kleinen Beitrag zur Würdigung Reumonts als Philologe und Althistoriker zu liefern. II. Rutilius Namatianus Rutilius Namatianus’ de reditu suo6 wird oft zusammen mit den Werken Claudians und Merobaudes’ unter die letzten Zeugnisse kaiserzeitlicher römischer Dichtung gerechnet7 und als beredte Quelle für den kulturellen Untergang des Weströmischen Reiches gewertet, und dies nicht etwa nur aufgrund der zeitlichen Umstände, sondern auch wegen der direkten Thematik des Texts, welcher in nicht unbeträchtlichem Maße der Schilderung der verwüsteten oder verfallenden norditalischen Küstenstädte8 und der zusammenbrechenden staatlichen Ordnung des römischen Reiches gewidmet ist. Von stilistischem „Verfall“9 – wenn man denn diese zweifelhafte Wertung spätantiker Literatur anhand des anachronistischen Vergleichs mit den Sprachmaßstäben der damals vier Jahrhunderte zurückliegenden klassischen Literatur zu übernehmen gewillt ist – ist allerdings in dem sehr rein, sprachlich fast klassisch gehaltenen und von zahlreichen literarischen Anspielungen durchsetzten10 Ge4
Alfred von Reumont: Geschichte der Stadt Rom. 3 Bde. Berlin 1867 – 1870. [Alfred von Reumont]: Des Claudius Rutilius Namatianus Heimkehr. Übers. und erl. von Itasius Lemniacus. Berlin 1872. 6 Der Titel ist wohl nicht authentisch. 7 Vgl. etwa Harold Isbell (Übers.): Last Poets of Imperial Rome. Middlesex 1971. 8 Zu diesem Aspekt vgl. A. Ligneri: Morte della città in Rutilio Namaziano. In: Giuseppe Catanzaro/Francesco Santucci (Hrsg.): Tredici secoli di elegia latina. Atti del convegno internazionale, Assisi 22 – 24 aprile 1988. Assisi 1989, S. 311 – 330. 9 Vgl. etwa die Würdigung bei Eduard Norden: Die römische Literatur. Stuttgart 1905, S. 114. Vgl. dagegen allerdings die Kritik bei Pierre de Labriolle: Rutilius Claudius Namatianus et les moines. In: Revue des études latines 6 (1928), S. 30 – 41, bes. S. 31. 10 Hierzu etwa François Paschoud: A quel genre littéraire le poème de Rutilius Namatianus appartient-il? In: Revue des études latines 57 (1979), S. 315 – 322, Eustaquio Sánchez Salor: La última poesía latino-profana. Su ambiente. In: Estudios clásicos 25 (1981 – 1983), S. 111 – 162 und Nicoletta Brocca: A che genere letterario appartiene il „de reditu“ di Rutilio Namaziano? In: Franca Ela Consolino (Hrsg.): Forme letterarie nella produzione latina di IV-V secolo. Con uno sguardo a Bisanzio. Rom 2003, S. 231 – 255. 5
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dicht im Versmaß des elegischen Distichons wenig zu spüren,11 und dies nicht ohne Grund: Der Senator Claudius Rutilius Namatianus, Sohn des praefectus urbi Lachanius, hatte zweifellos eine gediegene Erziehung genossen und bewies schon durch die literarische und intellektuelle Qualität seiner Verse, dass das späte 5. und beginnende 6. Jahrhundert nicht nur durch den politischen Verfall des westlichen Kaiserreichs gekennzeichnet war, sondern auch durch einen späten Nachsommer von Bildung und Dichtung klassischer Tradition, bevor dann endgültig der logistische Zusammenbruch des Nordwestens der alten Welt und die Umformung Westeuropas in den Dark Ages erfolgen sollten. Wir wissen nur wenig über das Leben des Claudius Rutilius Namatianus.12 Aus hohem südgallischem Adel stammend, machte er, wie sein Vater Lachanius, Karriere in Rom und bekleidete im Jahr 412, in der stürmischen Umbruchszeit zwischen dem Tod Kaiser Theodosius’ I. 395 und dem Sturz des Usurpators Priscus Attalus, als wohl höchste Ämter die Charge eines magister officiorum13 und, im Jahre 414, die eines praefectus urbi.14 Hierauf ist er wohl längere Zeit in Rom verblieben, sicherlich in der Hoffnung auf weitere Ämter. Äußere Gründe waren es schließlich, die im Herbst 41715 seine Rückkehr in die Heimat notwendig machten. Ob es aber, wie oft angeführt, Germaneneinfälle waren, die ihn um seine Güter bangen ließen, oder eher administrative Verpflichtungen, ist unsicher.16 Eilig war es ihm mit der 11 Vgl. allg. zum Stil des Rutilius Emilio Merone: Aspetti dell’ellenismo in Rutilio Namaziano. Neapel 1967 und A. Ianni Ventura: Studi recenti su Rutilio Namaziano e note al suo classicismo. In: Atene e Roma 16 (1971), S. 83 – 102. 12 Zu Leben und Werk des Rutilius vgl. Emilio Merone: Rutilio Namaziano. Il suo ritorno. In: Il Mondo Classico 18 (1951), S. 53 – 69, Italo Lana: Rutilio Namaziano. Turin 1961, Lucie Anne Porterfield: Rutilius Namatianus. De reditu suo. Some Historical, Political, and Literary Considerations. New York 1971, Ernst Doblhofer (hrsgg., übers. und komm.): Rutilius Claudius Namatianus. De reditu suo sive Iter Gallicum. 2 Bde., Heidelberg 1972 und Marisa Squillante: Il viaggio, la memoria, il ritorno. Rutilio Namaziano e le trasformazioni del tema odeporico. Neapel 2005. 13 Rut. Nam. 1,563. Die Datierung basiert auf der Identifizierung des Namatianus mit dem magister officiorum Namatius aus Cod. Theod. 6,27,15 vom 7. Dezember 412. 14 Rut. Nam. 1,155 – 160. Die Praefectur des Namatianus muss sehr kurz gewesen sein, wie André Chastagnol: Les Fastes de la préfecture de Rome au Bas-Empire. Paris 1962, S. 272 gezeigt hat, und datiert zwischen dem 27. Mai und dem 17. September 414. Vgl. auch Arnold Hugh Martin Jones/John Robert Martindale: The Prosopography of the Later Roman Empire. Cambridge 1971 – 1992, Bd. 2, S. 771. Allg. zur Einordnung der Ämter des Rutilius in den religionspolitischen Kontext vgl. Raban von Haehling: Die Religionszugehörigkeit der hohen Amtsträger des Römischen Reiches seit Constantins I. Alleinherrschaft bis zum Ende der Theodosianischen Dynastie (324 – 450 bzw. 455 n. Chr.). Bonn 1978, s.v. Rutilius Namatianus. 15 Die Datierung ist nunmehr, dank der Auffindung zweier neuer Fragmente, sicher, wird doch in Frg. B das zweite Consulat des Constantius erwähnt. 16 Alessandro Fo: Rutilio Namaziano. Il ritorno. Turin 1992, S. 64 denkt etwa an die Überwachung der Ansiedlung der Westgoten gemäß dem Vertrag vom Jahr 416, Hagith S. Sivan: Rutilius Namatianus, Constantius III and the Return to Gaul in Light of New Evidence. In: Mediaeval Studies 48 (1986), S. 522 – 532, hier S. 530 f. an eine Teilnahme am concilium Galliarum des Jahres 418.
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Rückreise, die er der Bequemlichkeit und Sicherheit halber auf dem See- statt auf dem Landweg zurücklegte, allerdings nicht, wie seine häufigen Exkursionen an Land beweisen.17 Was Rutilius dann schließlich in Südgallien vorfand und wie sich sein weiteres Leben gestaltete, ist nicht bekannt; das fragmentarisch erhaltene Werk ist allerdings, obwohl es den Eindruck eines Reisetagebuchs zu erwecken sucht, sicherlich erst nach der Rückkehr beendet worden, wie wenigstens die Verwendung der Naturgeschichte des Plinius belegt, die in Anbetracht ihres beträchtlichen Umfangs wohl kaum zum Reisegepäck des Rutilius gehört haben dürfte.18 Von seinem Werk haben sich außer dem ersten Buch nur einige Verse des zweiten sowie zwei 1973 entdeckte kurze Fragmente erhalten;19 ob das Manuskript unvollendet abbrach, oder die fehlenden Teile in den späteren Jahrhunderten verloren gegangen sind, entzieht sich unserer Kenntnis, wenn auch die Qualität des Erhaltenen eine grundlegende Stilisierung des Gesamten nahelegt und daher wohl kaum auf ein nur fragmentarisches Manuskript schließen lässt. Auch zeigen schon die erhaltenen Teile die Komplexität und den großen Reichtum des Ganzen. Denn tatsächlich handelt es sich bei de reditu suo keineswegs nur um einen einfachen Reisebericht nach Art eines bloßen Itinerars,20 bieten die aufgezählten Stationen dem Autor doch willkommene Gelegenheiten, seine Bildung auszubreiten.21 So finden wir denn zahlreiche Exkurse zu mythologischen Aitiologien ebenso wie moralisierende Betrachtungen, direkte Anreden an seine Freunde, Reiseanekdoten, politische Betrachtungen und Reminiszenzen an die jüngst zurückliegende Geschichte, welche den Text weniger als Reisebericht denn vielmehr als eine Art überzeitliche, das Geographische nur als Vorwand nehmende Bestandsaufnahme klassischer Kultur deuten lässt,22 wel17
Vgl. Rut. Nam. 1,249 – 276 (Thermae Taurinae); 1,541 ff. (Pisa). Vgl. Plin. nat. 3,39 ff. und Rut. Nam. 2,17 – 21. 19 Zu dieser wertvollen Ergänzung des Gedichts vgl. Mirella Ferrari: Spigolature bobbiesi. In: Italia medioevale e umanistica 16 (1973), S. 1 – 41, Enzo Cecchini: Per il nuovo Rutilio Namaziano. In: Rivista di filologia e instruzione classica 102 (1974), S. 401 – 404, ders. u. a.: Il nuovo Rutilio Namaziano. In: Maia 27 (1975), S. 3 – 26, Paolo Frassinetti: I nuovi frammenti di Rutilio Namaziano. In: Studi e ricerche dell’Istituto del latino 3 (1980), S. 51 – 58 und Francesco della Corte: Il frammento A del De reditu di Rutilio Namaziano. In: Laurea corona. Studies in Honour of E. Coleiro. Amsterdam 1987, S. 181 – 185. 20 Zum Zusammenhang der Schrift mit dem Genus antiker Reiseliteratur vgl. Ernst Doblhofer: Drei spätantike Reiseschilderungen. In: Doris Ableitinger/Helmut Gugel (Hrsg.): Festschrift Karl Vretska zum 70. Geburtstag überreicht von seinen Freunden und Schülern. Heidelberg 1970, S. 1 – 22, Hubert Zehnacker: Géographie plinienne et littérature de voyage dans le „De reditu suo“ de Rutilius Namatianus. In: Yves Lehmann u. a. (Hrsg.): Antiquité tardive et humanisme de Tertullien à Beatus Rhenanus. Mélanges offerts à François Heim à l’occasion de son 70e anniversaire. Turnhout 2005, S. 295 – 309 und Dietmar Korzeniewski: Reiseerlebnisse des Rutilius Namatianus. In: Gymnasium 86 (1979), S. 541 – 556. 21 Vgl. etwa Anna Paola Mosca: Aspetti topografici del viaggio di ritorno in Gallia di Rutilio Namaziano. In: Fabio Rosa/Francesco Zambon (Hrsg.): Pothos. Il viaggio, la nostalgia. Trient 1995, S. 133 – 151. 22 So äußert sich etwa ganz kritisch gegen eine rein geographische Lektüre François Paschoud: Une relecture poétique de Rutilius Namatianus. In: Museum Helveticum 35 (1978), S. 319 – 328. 18
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che wertvolle Aufschlüsse über die Person des Autors und den Geist seiner Zeit erlaubt. So lässt sich Rutilius politisch-religiös zweifelsfrei dem schwindenden Kreis der letzten heidnischen Senatoren zuordnen, deren direkte politische Bedeutung zwar in stetiger Abnahme begriffen war, deren gesellschaftlicher Einfluss aber immerhin noch groß genug war, ihnen eine vorsichtige Meinungsäußerung gegenüber dem Christentum sowie gegen die Germanisierung der römischen staatlichen Einrichtungen zu erlauben. Diese politische Grundhaltung des Rutilius23 wird vor allem in seiner Lobrede auf Rom24 deutlich, welche einen Großteil des ersten Buchs des Werks ausmacht und ein typisches Zeugnis der spätantiken Romidee darstellt.25 Der Autor grenzt Zivilisation und Barbarei scharf voneinander ab und akzeptiert zwar die Sterblichkeit eines jeden staatlichen Gebildes26 – ein Topos, der in der römischen Geschichtsschreibung seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. große Brisanz besaß27 –, hofft aber explizit, dass Rom diesem Schicksal entgehen könne und, ganz im Gegenteil, verjüngt nach seinem vorübergehenden Fall wieder zu Kräften kommen werde: Utque novas vires fax inclinata resumit, / clarior ex humili sorte superna petis. […] / Quae restant nullis obnoxia tempora metis, / dum stabunt terrae, dum polus astra feret. / Illud te reparat quod cetera regna resolvit: / ordo renascendi est crescere posse malis.28
23 Vgl. allg. zur politischen Situation des Rutilius: Ulrich Knoche: Ein Sinnbild römischer Selbstauffassung. In: Symbola Coloniensia I. Kroll sexagenario oblata. Köln 1949, S. 143 – 162, Luigi Alfonsi: Significato politico e valore poetico nel De reditu suo di Rutilio Namaziano. In: Studi Romani 3 (1955), S. 125 – 139, Wolfgang Schmid: Roma nascens in Rutilio Namaziano. In: Studi in onore di L. Castiglioni. Florenz 1960, S. 877 – 887, Mauricio Pastor Muñoz: Cuestiones en torno a Rutilio Namaciano. In: Hispania antiqua 3 (1973), S. 187 – 217 und Giulia Stampacchia: Problemi sociali nel De reditu suo di Rutilio Namaziano. In: Index 17 (1989), S. 243 – 254. 24 Rut. Nam. 1,47 – 164. Allg. hierzu Italo Lana: Originalità e significato dell’inno a Roma di Rutilio Namaziano. In: La coscienza religiosa del letterato pagano. Genua 1987, S. 101 – 123, Vincent Zarini: Histoire, panégyrique et poésie. Trois éloges de Rome autour de l’an 400 (Ammien Marcellin, Claudien, Rutilius Namatianus). In: Ktèma 24 (1999), S. 167 – 179, Michael Roberts: Rome Personified, Rome Epitomized. Representations of Rome in the Poetry of the Early Fifth Century. In: American Journal of Philology 122 (2001), S. 533 – 565 und Stéphane Ratti: Rutilius Namatianus, Aelius Aristide et les chrétiens. In: Antiquité Tardive 14 (2006), S. 235 – 244. 25 Carl Koch: Roma aeterna. In: Gymnasium 59 (1952), S. 128 – 143 und S. 196 – 209, François Paschoud: Roma aeterna. Études sur le patriotisme romain dans l’occident latin à l’époque des grandes invasions. Neuchâtel 1967 und Manfred Fuhrmann: Die Romidee in der Spätantike. In: Bernhard Kytzler (Hrsg.): Rom als Idee. Darmstadt 1993, S. 86 – 123. 26 Rut. Nam. 1,413 f.: Non indignemur mortalia corpora solui : / cernimus exemplis oppida posse mori. 27 Vgl. David Engels: Déterminisme historique et perceptions de déchéance sous la république tardive et le principat. In: Latomus 68 (2009), S. 859 – 894. 28 Rut. Nam. 1,131 f. und 137 – 140. In der Übersetzung Reumonts: „Wie zur Erde geneigt die Fackel verdoppelt die Flamme, / Strebst zu höherem Glanz du nach Verdunklung hinan. / […] Die dir bleibt, sie bindet sich nicht an Gesetze, die Zukunft, / Während die Erde besteht,
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Nur nach einer solchen Verjüngung könne sich Rom dann von der Gewalt der Goten befreien,29 welche explizit als „Barbaren“ bezeichnet und aufgrund ihrer Fellkleidung ins Lächerliche gezogen werden;30 ein direktes Zeugnis nicht nur der Frustration aufgrund der Einnahme und Plünderung der Stadt Rom durch Alarich (welche bei Rutilius dezent nur in Andeutungen umschrieben wird),31 sondern auch der zahlreichen strukturellen und kulturellen Probleme, welche mit der zunehmenden Bedeutung der Germanen im römischen Heeresdienst und der Umstrukturierung des bislang eher zentralistischen Reichs durch Ansiedlung halbautonomer germanischer foederati auf Provinzialboden einhergingen.32 Diese politische und kulturelle Grundhaltung findet sich bei Rutilius ferner untrennbar mit religionspolitischen Aspekten verknüpft, wie klar wird, wenn man seine Kritik an Stilicho aufgrund der von diesem aus religiösen Gründen befohlenen Verbrennung der heidnischen Sibyllinischen Bücher betrachtet,33 jener Orakelsammlung, welche seit den Tagen der etruskischen Könige den Römern in den verschiedensten Krisensituationen konkrete politische und rituelle Ratschläge gegeben hatte.34 Rutilius bedauert, dass Rom sich, einmal mehr, aber nun durch Einwirkung eines germanischen Feindes, eines wichtigen religiösen Hilfsmittels begeben hat: At Stilicho aeterni fatalia pignora regni / et plenas voluit praecipitare colo.35
Noch deutlicher dem Heidentum zugewandt sind dann, sieht man von den zahlreichen, in der Spätantike aber mittlerweile weitgehend religionsneutral verwendeten Anspielungen auf die klassische Mythologie ab, die Beschreibung einer Feier zu
Sterne am Himmel erglüh’n. / Was die Reiche zerstört, die andern, dich hebt es von neuem: Wachen im Unglück ist herrliches Wiedererstehn.“ 29 Rut. Nam. 1,141 f.: Ergo age, sacrilegae tandem cadat hostia gentis: / summittant trepidi perfida colla Getae. In der Übersetzung Reumonts: „Auf denn! Es falle das Volk, das treulos freche, zum Opfer; / Auf, und heisse das Haupt beugen der Geten Geschlecht!“. 30 Rut. Nam. 2,49 f. (Bezogen auf Stilichos Bedeutung in der römischen Politik): Ipsa satellitibus pellitis Roma patebat / et captiva prius quam caperetur erat. In der Übersetzung Reumonts: „Rom stand offen durch ihn den Trabanten, in Felle gekleidet, / Eh’ ihm nahte der Sturm, war es genommen bereits.“ 31 Rut. Nam. 1,119 : tristem […] casum. 32 Charles Henry Coster: Christianity and the Invasions. Two Sketches. In: Classical Journal 54 (1959), S. 146 – 159, Hans Armin Gaertner: Rome et les Barbares dans la poésie latine au temps d’Augustin. Rutilius Namatianus, et Prudence. In: Ktèma 9 (1984), S. 113 – 121 und Domenico Lassandro: Echi dell’opposizione a Stilicone in Rutilio Namaziano e in Orosio. In: Marta Sordi (Hrsg.): L’opposizione nel mondo antico. Mailand 2000, S. 299 – 309. 33 Zu Rutilius’ Einschätzung dieser Handlung: Nicoletta Brocca: Il „proditor Stilicho“ e la distruzione dei „Libri Sibyllini“. In: Isabella Gualandri/Fabrizio Conca/Raffaele Passarella (Hrsg.): Nuovo e antico nella cultura greco-latina di IV-VI secolo. Mailand 2005, S. 137 – 184. 34 Vgl. hierzu allg. David Engels: Das römische Vorzeichenwesen (753 – 27 v. Chr.). Quellen, Terminologie, Kommentar, historische Entwicklung. Stuttgart 2007. 35 Rut. Nam. 2,55 f. In der Übersetzung Reumonts: „Aber des ewigen Reichs schicksalsbeherrschende Pfänder / Wollte zu sicherm Ruin Stilicho Roma entziehn.“
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Ehren des Osiris,36 welche Rutilius’ Vertrautheit mit paganem Ritual nahelegt, sowie seine heftigen Angriffe gegen das zeitgenössische Mönchtum, hinter dem sich zweifelsfrei eine Kritik des Christentums generell versteckt. So bezeichnet Rutilius das Mönchtum gar als geistige Krankheit, welche das Genießen der Glückseligkeiten des Lebens unmöglich mache: Quaenum perversi rabies tam stulta cerecri, / dum mala formides, nec bona posse pati?37
Ähnlich kritisiert er auch einen zum Mönch gewordenen ehemaligen Standesgenossen, dessen plötzlichen Lebenswandel Rutilius nur dem Einfluss der Furien zuzuschreiben weiß, bevor er bedauert, dass die Geschicke seiner Zeit nunmehr nicht nur, wie die mythologische Halbgöttin Kirke, die Körper der Menschen verwandle, sondern auch die Seelen – eine heftige Attacke, bedenkt man, dass es Schweine waren, in welche Circe die Gefährten des Odysseus verwandelt hatte: Num, rogo, deterior Circaeis secta venemis? / Tunc mutabantur corpora, nunc animi.38
Zwar krisitierten auch christliche Autoren und selbst offizielle Gesetzestexte das Mönchtum und seine radikale Abkehr von aristokratischem Standesethos und fiskalischem wie militärischem Staatsdienst,39 doch ist Rutilius’ Ablehnung von ganz anderer Art; sie entspringt einer prinzipiellen Kritik an christlich-mönchischer Selbstzerfleischung und lebensfernem Einsiedeln, welche nicht nur den Körper, sondern auch die Seele zerstören. Dies macht auch Rutilius’ Attitüde gegenüber dem Judentum verständlicher, welches in verklausulierter Weise als Urheber des Christentums hervorgehoben und deshalb auch verdammt wird: Atque utinam nunquam Iudaea subacta fuisset / Pompeii bellis imperioque Titi! / Latius excisae pestis contagia serpunt / victoresque suos natio victa premit.40
Rutilius’ Reisebeschreibung ist also einer der letzten und eindringlichsten Texte, in denen sich das spannungsgeladene Verhältnis zwischen ausgehendem Heidentum und siegreicher, auch von den Germanen favorisierter Christianisierung widerspie-
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Rut. Nam. 1,373 – 376. Rut. Nam. 1,445 f. In der Übersetzung Reumonts: „Wahrlich, ein krankes Gehirn nur kann ersinnen die Thorheit, / Die dem Genusse entsagt, weil sie Verluste besorgt.“ Zur schwierigen Frage nach einem Bezug zwischen Rutilius und Augustinus vgl. Alan Cameron: Rutilius Namatianus, St. Augustine and the Date of de reditu. In: Journal of Roman Studies 57 (1967), S. 31 – 39. 38 Rut. Nam. 1,525 f. In der Übersetzung Reumonts: „Ist circaeisches Gift unschuldiger nicht als die Secte? / Jenes verwandelt den Leib, diese verkehret den Geist.“ 39 Vgl. Jacques Fontaine: L’aristocratie occidentale devant le monachisme aux IVe et Ve siècles. In: Rivista di storia e letteratura religiosa 15 (1979), S. 28 – 53. 40 Rut. Nam. 1,395 – 398. In der Übersetzung Reumonts: „O dass Roma doch nie unterworfen sich hätte Judaea, / Dass Pompejus es nie, Titus es hätte bekämpft. / Schleicht ja das Gift der beendeten Pest stets weiter im Stillen, / Wie das bezwungene Volk seine Besieger besiegt.“ 37
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gelt;41 ein zu Beginn des 5. Jahrhunderts natürlich längst entschiedener Kampf, welcher somit auch die resignative Stimmung des Gedichts erklärt,42 welches nicht ohne Grund auch stilistisch sehr eng an Ovids Beschreibung seines Exils am Schwarzen Meer angelehnt ist43 und somit Rutilius’ Fortgang aus Rom als eine Art inneren Abschied verstehen lässt. III. Reumonts Text Reumont war nicht der erste, der sich ausführlicher mit Rutilius Namatianus beschäftigte, bedenkt man die Aufnahme des Rutilius in die Poetae Latini minores durch Johann Christian Wernsdorf, die Ausgabe von Lucian Müller 1870 und den 1837 erschienenen lateinischen Kommentar von August Wilhelm Zumpt.44 Doch war es bislang v. a. die französische Altertumswissenschaft gewesen, welche sich auf dem Gebiet der Rutilius-Forschung hervorgetan hatte, so dass hier schon 1779 eine erste Übertragung vorlag, der 1842 eine weitere folgte.45 Wie Reumont selber nicht ohne Stolz erwähnt, war seine Übersetzung des Gedichts die erste in deutscher Sprache, und sie sei qualitativ, wie Reumont suggeriert, den französischen Übertragungen weit überlegen,46 wobei angemerkt werden muss, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts zumindest im deutschen Kulturbereich das Anfertigen von Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen weniger als wissenschaftliche Betätigung angesehen wurde – fließende Kenntnis beider Sprachen zählte ja zum Kern humanistischer Bildung –, denn vielmehr als literarische Tätigkeit, welche zum einen persönliche stilistische Begabung und metrische Feinfühligkeit im Bereich der Zielsprache demonstrieren, zum anderen das betreffende Werk einem breiteren Publikum erschließen sollte. Dieser – im positiven Sinn – „amateurhafte“ Zugang macht auch verständlich, wieso das Werk schließlich nicht unter Reumonts eigenem Namen in den Druck gegangen ist, sondern unter dem Pseudonym Itasius Lemniacus; 41 Miguel Ribagorda: La pervivencia religiosa pagana en el siglo V. El ejemplo de Rutilio Namaciano. In: Antiguedad y cristianismo 14 (1997), S. 179 – 187, Joëlle Soler: Religion et récit de voyage. Le „Peristephanon“ de Prudence et le „De reditu suo“ de Rutilius Namatianus. In: Revue d’études augustiniennes 51 (2005), S. 297 – 326 und Wim Verbaal: A Man and his Gods. Religion in the „De reditu suo“ of Rutilius Claudius Namatianus. In: Wiener Studien 119 (2006), S. 157 – 171. 42 Gabriella Amiotti: La migrazione verso le isole „territorio dell’anima“. In: Marta Sordi (Hrsg.): Emigrazione e immigrazione nel mondo antico. Mailand 1994, S. 271 – 282. 43 Zu den Parallelen beider Werke vgl. etwa Alessandro Fo: Ritorno a Claudio Rutilio Namaziano. In: Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici 22 (1989), S. 49 – 74 und Garth Tissol: Ovid and the Exilic Journey of Rutilius Namatianus. In: Arethusa 35 (2002), S. 435 – 446. 44 Lucian Müller: Claudius Rutilius Namatianus, de reditu suo. Leipzig 1870, August Wilhelm Zumpt: Observationes in Rutilii Claudii Namatiani carmen de reditu suo. Berlin 1837. 45 Jean-Jacques LeFranc de Pompignan: Mélange de traductions. Paris 1779, FrançoisZénon Collombet: Claudius Rutilius Namatianus. De reditu suo. Paris/Lyon 1842. 46 Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 27: „Ob dieselbe geeignet ist, vom Sachlichen abgesehn irgendeinen Leser anzuziehn, mag dahingestellt bleiben.“
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ein Beiname, welcher Reumont bei seinem Eintritt in die Accademia degli Arcadi auf dem Kapitol47 zugekommen war, welcher vor das Jahr 1849 zu datieren ist.48 Unter dieser Grundvoraussetzung erklären sich auch einige Besonderheiten der Reumont’schen Arbeit. Tatsächlich nämlich handelt es sich nicht um eine den Maßstäben des 21. Jahrhunderts entsprechende textnahe Übersetzung mit kritischen Anmerkungen und einem historisch-philologischen Kommentar, sondern vielmehr um eine recht freie Übertragung, deren Kommentierung eher reiseliterarisch und kulturhistorisch ausgefallen ist. Dies darf nicht verwundern, gehörte aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts eine Übersetzung eher zum Bereich populärwissenschaftlicher Aktivitäten und bedurfte dementsprechend keiner philologischen Anmerkungen, wie Reumont ja auch selbst erklärt: „Philologische Bemerkungen würden bei einer Uebertragung, selbst wenn der Verfasser Philologe vom Fach wäre, übel angebracht sein.“49
Kernstück des Werks ist daher die eher freie, wenn auch metrisch gebundene Übertragung (33 – 62) ohne Beigabe des lateinischen Originals, eingeleitet durch ein Widmungsgedicht und eine kurze historische Einführung (1 – 32) und abgeschlossen durch topographische, kunsthistorische und, gelegentlich, historische und prosopographische Erklärungen (62 – 202), denen ein Index (203 – 207) und einige Karten beigegeben sind. Bereits das im Stil des Rutilius gehaltene (deutsche) Widmungsgedicht, welches Hermann von Thile (1812 – 1889) zugedacht ist – Reumonts Freund und Kollegen im preußischen auswärtigen Dienst, mit dem er auch eine umfangreiche Korrespondenz pflegte –, verrät das Zeitgefühl, welchem der Kommentar erwachsen ist, und mag paradigmatisch für die Besonderheiten der gesamten Schrift stehen. So wird der spätantike Dichter, Mitglied der hohen römischen Aristokratie und Herr über weitläufige Besitzungen in der Gallia Narbonensis, dem wohl am stärksten romanisierten Gebiet außerhalb Italiens,50 trotz allem anachronistisch als „Gallier“ bezeichnet, ganz im Geiste europäischen Nationalgefühls des 19. Jahrhunderts:
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Zur Vorgeschichte dieser ehrwürdigen Institution, in die 1787 auch Goethe eingetreten war und die 1925 in „Accademia letteraria italiana“ umbenannt wurde, vgl. Isidoro Carini: L’Arcadia dal 1690 – 1890. Memorie storiche. Rom 1891, Maria Teresa Graziosi: L’Arcadia. Trecento anni di storia. Rom 1991 und Susan M. Dixon: Between the Real and the Ideal. The Accademia degli Arcadi and its Garden in Eighteenth-Century Rome. Newark 2006. 48 Tatsächlich nämlich benutzte Reumont den Namen erstmals nachweislich in einem auf das Jahr 1849 datierten, auf die Rückkehr Papst Pius’ IX. aus dem Exil in Gaeta anspielenden Sonett. Auf die Akademie der Arkadier spielt auch das Motto an, welches Reumont seinem Werk vorangestellt hat: Et in Arcadia ego. 49 Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 65. 50 Vgl. etwa Plin. nat. 3,31. Hierzu Greg Woolf: Becoming Roman. The Origins of Provincial Civilization in Gaul. Cambridge 1998 und Stéphane Drémont: Romanisation et occupation du sol en Gaule Transalpine (IIe - Ier siècles av. J.-C.). In: Revue Archéologique de Narbonnaise 31 (1998), S. 301 – 306.
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„Was der Gallier sang, dem ein römisches Herz in der Brust schlug, / lass’ es vorüber zieh’n in verjüngter Gestalt.“51
Ähnlich unweigerlich erscheinen auch die Völkerwanderungen weniger als ein allmählicher, sich über Jahrhunderte hinziehender Prozess, welcher erst langfristig zum staatlichen Ende des Weströmischen Reichs und zur umfassenden Transformation der spätrömischen Kultur geführt hat,52 wie es uns heute ersichtlich scheint, sondern vielmehr als heroischer und punktueller Ansturm „nordischer“ Völker gegen einen bereits verfallenden Großstaat: „Nordischer Andrang schon droht dem zerfallenden Reich, / das die gährende Welt wie einst zu umfassen beansprucht.“53
Als dritten Faktor können wir dann die auch ansonsten bei Reumont stets präsente Hochschätzung der Christianisierung des römischen Reichs spüren, die damit deutlich mit der Ansicht des Rutilius kontrastiert. Ganz anders nämlich als etwa Edward Gibbon, der in seinem Decline and Fall of the Roman Empire gerade im religiösen Wandel einen der grundlegenden Faktoren des inneren Zerfalls des Reiches sieht, betrachtet Reumont aus gut Hegel’scher,54 letztlich aber bereits bis in die Antike zurückgehender55 Geschichtssicht die Christianisierung des Mittelmeers als teleologischen Zweck des Römischen Reiches: „Rom, das, besiegend die Welt, ihr das Recht, das gleiche, verliehen, / Rettender Lehre des Heils hat es die Wege gebahnt.“56
51
Reumont 1872 (wie Anm. 5), Widmungsgedicht, Zeile 1 f. Vgl. zur Umwandlung des spätrömischen Reichs etwa Arnold H.M. Jones: The Later Roman Empire 284 – 602. A Social, Economic and Administrative Survey. Oxford 1964, Walter A. Goffart: Barbarians and Romans A.D. 418 – 584. The Techniques of Accomodation. Princeton 1980, Karl Christ (Hrsg.): Der Untergang des Römischen Reiches. Darmstadt 21986, Ramsay MacMullen: Corruption and Decline of Rome. New Haven/London 1988, Donald Kagan: The End of the Roman Empire. Decline or Transformation? Boston 31992, Alexander Demandt: Geschichte der Spätantike. München 1998, Hartwin Brandt: Das Ende der Antike. Geschichte des spätrömischen Reiches. München 22004, Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. Stuttgart 22005, Peter J. Heather: The Fall of the Roman Empire. A New History. New York 2006 und Bryan Ward-Perkins: The Fall of Rome and the End of Civilization. Oxford 2006. 53 Reumont 1872 (wie Anm. 5), Widmungsgedicht, Zeile 12 f. 54 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte. In: Sämtliche Werke, Bd. 9. Hrsgg. von Georg Lasson, Leipzig 21923, S. 720 f.: „Die römische Welt, wie sie beschrieben worden, in ihrer Ratlosigkeit und in dem Schmerz des von Gott Verlassenseins hat den Bruch mit der Wirklichkeit und die gemeinsame Sehnsucht nach einer Befriedigung, die nur im Geiste innerlich erreicht werden kann, hervorgetrieben und den Boden für eine höhere geistige Welt bereitet.“ 55 Literatur hierzu bei Richard Klein: Das Bild des Augustus in der frühchristlichen Literatur. In: Raban von Haehling (Hrsg.): Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung. Darmstadt 2000, S. 205 – 236. 56 Reumont 1872 (wie Anm. 5), Widmungsgedicht, Zeile 13 – 24. 52
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Die bestenfalls ambivalente Einschätzung der germanischen Einfälle und die uneingeschränkt positive Wertung der Christianisierung stehen damit in einem gewissen Kontrast zu Reumonts Hochschätzung der Person des spätantiken Dichters selbst, dessen Position ebenso dezidiert anti-germanisch wie pro-heidnisch ist – ein Dilemma, dem Reumont hier wie später dadurch auszuweichen sucht, indem er Rutilius gewissermaßen als „Irregeführten“ in Schutz nimmt: „Wenn sein Auge das Licht nicht erkennt, das die Welt zu erleuchten / ward von oben gesandt […] nicht ihm lege allein es zur Last! / Haben die Wirren der Zeit ja manche erlesene Geister / in den beengenden Kreis trügender Lehre gebannt.“57
Auch die historische Einleitung, welche Reumont seiner Übersetzung vorausschickt, und welche als eine Art breite politische und kulturelle Kontextualisierung zu sehen ist, bleibt den bereits aus dem Widmungsgedicht zu entnehmenden mentalitätsgeschichtlichen Grundvorstellungen verpflichtet. Der Autor versucht in historisch solider, aber natürlich vom Zeitgefühl des 19. Jahrhunderts geprägter Weise, die Krise des römischen Reichs angesichts äußerer Bedrohung durch die Germanen und innerer Identitätssuche im Konflikt zwischen Christen und Heiden darzustellen. Zwar enthält sich Reumont der damals doch durchaus geläufigen terminologischen Identifizierung der Germanen als „Deutsche“58 und der damit v. a. in den Gründerjahren fast notgedrungen einhergehenden politischen Parteinahme, doch freilich finden sich auch bei Reumont Spuren jener oft anachronistischen Verallgemeinerung und vereinfachenden Zusammenfassung aller rechtsrheinischen Stämme als „germanisches Volk“: „Dass das germanische Volk dies Verständniss [mit dem Imperium] in einer seinen Interessen entsprechenden Weise zu gestalten wünschte und strebte, liegt ebensowol in der Natur der Dinge, wie dass die angewandten Mittel sehr verschiedener Art waren und römischen Stolz und Eigenliebe umsomehr reizen mussten, je exclusiver römische Ansprüche […] wurden.“59
Ähnlich holzschnittartig wie das Verhältnis „Römer-Germanen“ findet sich auch die Beziehung der westlichen und östlichen Reichshälfte auf die dichotomische Vorstellung des Gegensatzes „Orient-Okzident“ reduziert. Während nämlich in der neueren Forschung die kulturelle Dynamik, politische Stärke und administrative Kohärenz der östlichen Reichshälfte immer stärker hervorgehoben werden und aus diesem Blickwinkel die Germanisierung des Westens als eine Art Epiphänomen erscheint, hatte sich doch das Machtzentrum des römischen Reichs schon lange vor Beginn der Völkerwanderungen in den Orient verlagert, so ist für Reumont immer noch 57
Ebd., Zeile 35 – 40. Allg. zur kontrastreichen Einschätzung der Germanen in der deutschen Altertumswissenschaft Heinrich Beck (Hrsg.): Germanenprobleme in heutiger Sicht. Berlin/New York 1986, Heinrich Beck (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Berlin 2004 und Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts. Darmstadt 2006. 59 Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 7. 58
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das westliche Rom der „eigentliche Träger“ der kulturellen Identität des Reiches, während der Osten auf ethnographische Stichworte wie „Grausamkeit“ und „Gewaltmassregeln“ reduziert wird – eine Einschätzung, welche sowohl kolonialen Stereotypen60 als auch dem im 19. Jahrhundert allgemein verbreiteten und auf die mittelalterliche Geschichtsschreibung zurückgehenden negativen Bild des Byzantinischen Reichs61 verhaftet ist, welches hier anachronistisch um Jahrhunderte zurückprojiziert wird und möglicherweise auch mit persönlichen Reminiszenzen an Reumonts Tage in Constantinopel verbunden ist.62 So hören wir über den Osten nur: „Die Umstände [jener Zeit] […] hatten von jener durch den Contact mit dem Orient mehrundmehr [sic] in das Abendland eingedrungenen kalten Grausamkeit gezeugt, die wesentlich verschieden ist von der altrömischen Härte.“63
oder ähnlich: „Der Regierung des Honorius lagen, wenigstens so lange Stilicho die Leitung hatte, Gewaltmaassregeln ferne, wie sie im Orient gängundgäbe [sic] waren.“64
Auch, was die Einschätzung der religiösen Lage betrifft, so ist Reumont, wie bereits am Widmungsgedicht ersichtlich, zwischen seiner humanistischen Sympathie für die gerade Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts im Zentrum des antiquarischen Forschungsinteresses stehende altrömische Religion65 einerseits und seinem persönlichen Bekenntnis zum Christentum andererseits gewissermaßen hin und her gerissen, so dass seine diesbezüglichen Aussagen das Dilemma nur zu verschleiern, nicht aber zu überwinden wissen: „[…] mochten viele vornehme Familien, namentlich in Rom selbst […] bei der frühern Staatsreligion ausharren, mochte das Landvolk an den alten Satzungen und den mit seinem 60 Zur Konstruktion des „Orients“ vgl. Gereon Sievernich/Hendrik Budde (Hrsg.): Europa und der Orient 800 – 1900. München 1989, Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.): Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Bielefeld 2007, Charis Goer/Michael Hofmann (Hrsg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München 2008 und Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. New York 2009. 61 Zum abendländischen Byzanzbild vgl. einführend Agostino Pertusi: Storiografia umanistica e mondo bizantino. Palermo 1967, Ralph-Johannes Lilie: „Graecus perfidus“ oder Edle Einfalt, Stille Größe? Zum Byzanzbild in Deutschland während des 19. Jahrhunderts am Beispiel Felix Dahns. In: Klio 69 (1987), S. 181 – 203 und Johannes Irmscher: Zum Byzanzbild der deutschen Historiographie des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Jahrbücher der österreichischen byzantinistischen Gesellschaft 15 (1966), S. 97 – 99. 62 Reumont war seit 1830 Privatsekretär des preußischen Gesandten in Florenz, Friedrich von Martens, dem er 1832 nach Konstantinopel folgte. 63 Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 12. 64 Ebd., S. 20. 65 Franz Cumont: Les religions orientales dans le paganisme romain. Paris 1906 (kommentierte Neuausgabe Turnhout 2010), Georg Wissowa: Religion und Kultus der Römer. München 21912 und William Warde Fowler: The Religious Experience of the Roman People from the Earliest Time to the Age of Augustus. London 1911.
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Leben und seiner Arbeit verwachsenen, in ihrem Ursprung grosstentheils sinnreichen und schönen, in ihrer allmähligen Gestaltung häufig entarteten Ceremonien mit der ihm eigenen Zähigkeit festhalten […]: im Abendlande war die Entscheidung [i. e. zwischen Christen und Heiden] nicht mehr zweifelhaft.“66
Schließlich ist es ebenfalls typisch für das Bild, welches das 19. Jahrhundert sich von der Spätantike machte, dass jene historisch ungemein spannende Phase der spätrömischen Entwicklung weniger als eigenständige und in sich geschlossene Epoche mittelmeerischer Evolution verstanden wird, sondern lediglich als Zeit des Übergangs oder gar des Niedergangs. So finden sich denn auf nahezu jeder Seite des Reumont’schen Werks Anspielungen auf das „sinkende“, „zerfallende“, „untergehende“, „alte“ und „müde“ Römerreich,67 dessen erstaunliche kulturelle und institutionelle Kohäsionskraft ganz hinter der Betonung seiner allmählichen, schon vor den Völkerwanderungen absehbaren territorialen Auflösung verschwindet. So wird auch die Zeit des Honorius wesentlich als Niedergangszeit gewertet – eine letztlich der oströmischen Historiographie geschuldete Einschätzung68 –, und auch die gerade für kulturelle Schaffenskraft und auch politische Dynamik sprechende Dichtung jener Zeit, die sich neben Rutilius etwa auch in Claudians Werk äußert, nur vor dem Hintergrund staatlichen „Zerfalls“ gesehen: „Die farbenreichen Verse Claudians, der so manche Ereignisse dieser Regierung mit Schwung und Aufwand poetischer Rhetorik besungen hat, bieten uns, während wir ihre Kunst bewundern und ihren Inhalt historisch wie antiquarisch verwerthen, einen betrübenden Contrast zwischen Thatsachen und Resultaten einerseits, andrerseits der auf deren Darstellung verwandten Eloquenz, deren Misverhältnis man kaum dem begabten Dichter zur Last legen wird. Auch auf die vorliegende Dichtung findet dies, wenngleich in geringerm Maasse, Anwendung.“69
Umso erstaunlicher ist daher Reumonts negative Einschätzung gerade jener konservativen politischen Partei, welcher Rutilius angehörte, und welche sowohl gegen66
Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 12. Allg. zur Idee des „Untergangs“ des römischen Reichs vgl. Walter Rehm: Der Untergang Roms im abendländischen Denken. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und zum Dekadenzproblem. Leipzig 1930, Santo Mazzarino: Das Ende der antiken Welt. München 1961; Alexander Demandt: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. München 1984, ders.: Der Untergang Roms als Menetekel. In: ders.: Geschichte der Geschichte. Wissenschaftshistorische Essays. Köln/Weimar/Wien 1997, S. 39 – 59, Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hrsg.): Kein Wille zur Macht – Dekadenz. In: Merkur 9/10, 2007, Kurt Lenk: Das Problem der Dekadenz seit Georges Sorel. In: Heiko Kauffmann/Helmut Kellershohn/Paul Jobst (Hrsg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster 2005, Gustav Sichelschmidt: Wie im alten Rom. Dekadenzerscheinungen damals und heute. Kiel 2006 und David Engels: Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik – historische Parallelen. Berlin 2014. 68 Vgl. hierzu David Engels: Der Hahn des Honorius und das Hündchen der Aemilia. Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmotivik bei Prokop. In: Antike und Abendland 55 (2009), S. 118 – 129. 69 Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 5. 67
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über germanischen foederati wie auch gegenüber der fortschreitenden Christianisierung des Reichs einen strengeren Kurs einschlagen wollte, und zwar mit dem erklärten Ziel, auf lange Sicht hin sowohl die alten Reichsgrenzen und zentralisierten institutionellen Strukturen zu restituieren als auch die politische Parität zwischen Heiden und Christen wiederherzustellen.70 Reumont gibt sich in seiner Einschätzung als typisches Kind seiner Zeit zu erkennen, denn zum einen ist es ihm als katholischem Rheinländer nicht möglich, trotz seiner persönlichen Sympathie für das Altrömische die restaurativen, gegen Christen und Germanen gerichteten Absichten der letzten heidnischen Senatoren prinzipiell gutzuheißen, zum andern missfällt ihm als loyalem preußischem Staatsbürger sichtlich, dass jene „konservative Revolution“ angesichts des christlichen Bekenntnisses des Kaiserhauses eine notgedrungen gegen den Kaiser selbst gerichtete Aktivität entfalten musste und Usurpationen förderte, die die geschwächten Zentralinstitutionen noch stärker zerrütten mussten. So erklärt Reumont: „Die, welche gleich unserm Dichter dachten und fühlten, mochten glauben dass sie die Würde des Imperiums vertraten. Sie mochten sich, mehr oder minder ehrlich, als Repräsentanten wahren Römerthums ansehen. Aber sie schätzten nicht das wirkliche Maass der Umgestaltung der Dinge und der Versetzung mit fremden Elementen, deren Wirkungen sie doch täglich, bis zu den Stufen des Caesarenthrons hinan, vor Augen hatten. Sie ermassen nicht die Gefahr, selber dazu beizutragen, die Idee der römischen Majestät in den Augen derer abzuschwächen, auf welche dieselbe noch grossen Eindruck machte.“71
oder: „Um so bedenklicher, wenn das angebliche Nationalgefühl, welches, wie die Natur der Dinge es mit sich brachte, in einem auf solche Weise zusammengesetzten Reiche mit dessen Erweiterung stets in Abnahme begriffen gewesen war, im Grunde dem Parteiwesen zum Deckmantel diente […].“72
Was nun Reumonts Übersetzung des Rutilius betrifft, der bezeichnenderweise kein Originaltext beigegeben ist, was einmal mehr ein künstlerisch und literarisch aufgeschlossenes Amateurpublikum, nicht aber die wissenschaftliche Fachwelt als Zielpublikum erkennen lässt, so ist diese eine feinfühlig empfundene, textlich stellenweise aber recht freie Übertragung, welche das Versmaß des Lateinischen möglichst genau im Deutschen umzusetzen versucht. Eine Wertung ausgehend von moderneren Gepflogenheiten wäre historisch anachronistisch und soll daher hier auch 70 Allg. zu diesem Kreis etwa Johannes Straub: Heidnische Geschichtsapologetik in der christlichen Spätantike. Untersuchungen über Zeit und Tendenz der Historia Augusta. Bonn 1963; vgl. auch Friedrich Vittinghoff: Zum geschichtlichen Selbstverständnis der Spätantike. In: Historische Zeitschrift 198 (1964), S. 529 – 574, Ferdinand Heinzberger: Heidnische und christliche Reaktion auf die Krisen des Weströmischen Reiches in den Jahren 395 – 410 n. Chr. Bonn 1976 und Sergio Roda: L’aristocrazia senatoria occidentale al tempo di Attila. L’ideologia oltre la crisi dell’impero. In: Silvia Blason Scarel (Hrsg.): Attila flagellum Dei? Convegno internazionale di studi storici sulla figura di Attila e sulla discesa degli Unni in Italia nel 452 d.C. Rom 1994, S. 131 – 151. 71 Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 7. 72 Ebd., S. 8.
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ausbleiben; relevant in dieser Hinsicht ist aber das durchaus widersprüchliche Urteil, welches die Zeitgenossen über die Qualität der Übertragung gefällt haben, und welches später angesprochen werden soll. Immerhin ist in diesem Kontext interessant hervorzuheben, welche stilistische Einschätzung des Rutilius den Hintergrund für Reumonts Übersetzung liefert. Tatsächlich nämlich ist dieser, obwohl (oder vielleicht auch: weil) er eigens hervorhebt, kein Philologe vom Fach zu sein73 – selbstverständlich auch ein Bescheidenheitstopos – ganz den philologischen Stereotypen seiner Zeit verpflichtet, wenn er die Qualität des Werkes an Richtlinien misst, welche auf der klassischen lateinischen Literatur der Zeitenwende basieren, so dass allein schon methodologisch Reumont den Rutilius bestenfalls als geschickten Nachahmer oder aber als unoriginellen Epigonen betrachten kann und sich daher die Möglichkeit nimmt, ihn vielmehr als Ausdruck seiner und nur seiner Zeit zu empfinden, deren Wert nicht am anachronistischen Vergleich mit anderen Epochen gewonnen werden kann, sondern nur aus einer lebensweltlichen Kontextualisierung. Da nun aber die Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts noch stärkstens mit der zeitgenössischen Philologie verwachsen war, und die Erforschung antiker Stilistik nur durch Aufstellung von Regeln zu erreichen war, welche auf einer Analyse der am besten überlieferten, da aus verschiedenen Gründen wirkmächtigsten Schriften beruhten, die im Wesentlichen mit der attischen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. und der lateinischen Literatur des 1. Jahrhunderts v. Chr. und des 1. Jahrhunderts n. Chr. übereinstimmten,74 kann es nicht wunder nehmen, dass alles, was diesen Horizont überschritt, entweder als „archaisch“ und „unvollendet“, oder aber als „dekadent“ und „spät“ gelten musste. Reumont, wiewohl kein klassischer Philologe, ist hier keine Ausnahme und reproduziert topisch das Urteil der Zeitgenossen, wenn er schreibt: „Die Verse sind regelrecht und elegant, mit wenigen Ausnahmen die den verdorbenen Geschmack verkünden. Die Sprache krankt an Untugenden, sei’s an Unbestimmtheit des Ausdrucks und unrichtigen Bildern, sei’s durch Gebrauch von Worten und Formen, die der classischen Epoche fremd sind. An Reminiscenzen fehlt es nicht, aber sie sind meist geschickt verwendet, zum Theil nicht minder geschickt umgemodelt, und mahnen, ohne zu stören an das Fortleben der Cultur schönerer Tage.“75
Was schließlich den Kommentar betrifft, so handelt es sich hierbei wohl um die persönlichste Leistung Reumonts, und gleichzeitig auch diejenige, an der seine individuellen Interessen und Vorlieben am unverfälschtesten zu erkennen sind. Tatsächlich nämlich handelt es sich hier weniger um einen strengen Kommentar, welcher Vers für Vers oder gar Wort für Wort die Besonderheiten von Satzbau, Stilistik, historischer und geographischer Bedeutung zu erschließen sucht. Vielmehr dient Rutilius Alfred von Reumont als fast ausschließlich prosopographischer und topo73
Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 65. Vgl. etwa Rudolf Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie, Bd. 2. Die klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München 1982. 75 Reumont 1872 (wie Anm. 5), S. 24. 74
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graphischer Stichwortgeber, nimmt der Kommentator den Text doch systematisch zum Vorwand dafür, der altertumswissenschaftlichen Erklärung der von Rutilius erwähnten Örtlichkeiten der Toskana mindestens ebenso umfangreiche, wenn nicht noch umfassendere Ausführungen zur weiteren Entwicklung der betreffenden Gebiete anzuschließen, in denen er detailreich – man ist versucht zu sagen, detailverliebt – die mittelalterliche, renaissancezeitliche und barocke Geschichte zusammenfasst und mit voluminösen Ausführungen zu den verschiedensten zeitgenössischen Sehenswürdigkeiten und zur italienischen Kunstgeschichte verbindet. Hierbei gründet Reumont seine Erklärungen ganz explizit vor allem auf seine eigene Ortskenntnis,76 die sich ja auch bereits vorher in umfassenden Beschreibungen niedergeschlagen hatte77 und ihm auch hier Anlass zur Wiedergabe umfassender Landschaftsschilderungen und persönlicher Reiseeindrücke liefert, welche teils bis zur Erwähnung verschiedener Gaststätten führen. Erstaunlich – und wahrscheinlich auch typisch für Reumonts individuelle Lebenswelt – ist hierbei zudem zweierlei: zum einen die besondere Aufmerksamkeit, welche Reumont der Einschätzung der hygienischen Verhältnisse der jeweiligen Küstenregionen widmet,78 und zum anderen die Bedeutung, welche in den historisch-kunstgeschichtlichen Ausführungen der Zeit des Spätmittelalters und der Renaissance zukommt, während das 18. und 19. Jahrhundert meist nur insoweit ins Blickfeld des Autors geraten, als es gilt, aktuelle Bevölkerungseinschätzungen zu liefern und zeitgenössische Verkehrseinrichtungen zu beschreiben. In diesem Sinne ließe sich Reumonts Kommentar zu Rutilius Namatianus nach heutigen Maßstäben eher den literarischen und wissenschaftlichen Kriterien der (umfangreichen) Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts zuordnen79 als mit einem wissenschaftlichen Kommentar im strengen Sinne identifizieren; und so wird das Werk wohl eher dem aufgeschlossenen Bildungsreisenden jener Zeit von Nutzen gewesen sein als dem Altertumswissenschaftler (der einer Übersetzung auch nicht bedurfte).
76 Ebd., S. 65: „Mit wenigen Ausnahmen beruht die Schilderung auf persönlicher, theilweise wiederholter Anschauung.“ 77 Vgl. u. a. Alfred von Reumont: Reiseschilderungen und Umrisse aus südlichen Gegenden. Stuttgart 1835. 78 Es würde zu weit gehen, hier auch nur eine Auswahl der Stellen anzugeben, an denen Reumont sich über die (meist bescheidene) Qualität des Wassers, die Malariagefährung einzelner Landstriche, die Schwüle des Klimas und die Ausdehnung und Beschaffenheit der zahlreichen küstennahen Sümpfe auslässt. 79 Vgl. zur Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts Attilio Brilli: Le voyage d’Italie. Histoire d’une grande tradition culturelle du XVIe au XIXe siècle. Paris 1989, Andreas Wetzel: Partir sans partir. Le récit de voyage littéraire au XIXe siècle. Toronto 1992 und Gilles Bertrand: La culture du voyage. Pratiques et discours de la Renaissance à l’aube du XXe siècle. Paris 2004.
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IV. Die Sicht der Zeitgenossen Wie wurde der Kommentar nun von den Zeitgenossen aufgenommen? Insgesamt sind acht Rezensionen zu Reumonts Rutiliuskommentar aus Ausschnitten des Nachlasses bekannt, von denen sich einige in die Jahre 1873 bis 1875 datieren lassen, andere leider zeitlich nicht näher verortet sind oder sogar noch nicht einmal einem Publikationsorgan zugeordnet werden können.80 Es ist interessant (aber auch irgendwie menschlich nicht verwunderlich) festzustellen, dass die insgesamt meist recht kurzen, mit einer Ausnahme nicht viel mehr als Zusammenfassungen liefernden Rezensionen in einigen, scheinbar doch grundsätzlichen Punkten kleinere Divergenzen zeigen, und in anderen, augenscheinlich mehr als sekundären Aspekten erstaunlich miteinander übereinstimmen. Während etwa der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung bedauert, dass sich der „deutsche Übersetzer […] leider hinter dem Pseudonym Idasius Lemniacus verbirgt“, haben die meisten Rezensenten wie Hermann Sauppe, der Rezensent des Literarischen Centralblatts oder der Rezensent des Theologischen Literaturblatts hinter Itasius Lemniacus sogleich Alfred von Reumont erkannt und dies auch offen angesprochen. So erklärt der „H.“ abgekürzte Autor des Theologischen Literaturblatts schon fast dithyrambisch: „Ein pseudonymer Gelehrter, dessen Stil wie dessen ausgesuchte Erudition und Localkenntniß sofort den Geschichtsschreiber der Stadt Rom verrathen, hat hier zum erstenmal das Carmen ins Deutsche übertragen; ich brauche kaum zu sagen, mit demselben feinen Geschmack und der Gewandtheit, welche alle Schriften Reumonts auszeichnet.“
Nahezu adulatorisch ist schließlich der „b.t.“ abgekürzte Rezensent des Local-Anzeigers, hinter dem sich höchstwahrscheinlich ein persönlicher Bekannter oder zumindest Bewunderer Reumonts verbirgt: „Natürlich konnte nur ein Mann, der seit Jahren mit den betreffenden Oertlichkeiten, den Geschicken des Landes sowie der Literatur desselben aufs Innigste vertraut ist, einen so gehaltvollen Commentar verfassen, und wir irren wol nicht, wenn wir den langjährigen Gastfreund der Arnostadt, den gediegenen Kunstkenner und Verfasser der Geschichte Italiens, Alfred v. Reumont, hinter dem Pseudonym suchen.“
80 Ich möchte an dieser Stelle meinem Aachener Kollegen Frank Pohle herzlich dafür danken, dass er mir freundlicherweise Ansichten der Rezensionen zur Verfügung gestellt hat, welche aus dem in der Aachener Stadtbibliothek befindlichen Nachlass Reumonts (Kasten III) stammen. Es handelt sich hier um die Besprechungen von: Anon., Publikationsort unbekannt. Fundort: Stadtbibliothek Aachen, Nachlass Reumont IV; Bu., in: Literarisches Centralblatt [ohne genaueren Nachweis], W. Grambach, in: Blätter für literarische Unterhaltung [ohne genaueren Nachweis]; Hermann Sauppe, in: Göttinger gelehrte Anzeigen 1873, 17. Stück, S. 672 – 678, Anon., aus: Allgemeine Literatur-Zeitung, zunächst für das katholische Deutschland 20 (1873), Nr. 42, S. 251, Anon., in: Cölnische Zeitung 1873, Nr. 41, H., in: Theologisches Literaturblatt 9 (1874), Nr. 13 und b.t., in: Local-Anzeiger der „Presse“ 28 (1875), Beilage zu Nr. 151, 2. Juni 1875.
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Ferner wäre die Einschätzung der Qualität der Übersetzung zu nennen. Sauppe erklärt hier: „Wenn auch der Verfasser ausdrücklich erklärt, dass er nicht Philolog von Fach sei, so untersteht doch Uebersetzung und sprachliche Erklärung unzweifelhaft philologischer Beurtheilung, und in dieser Beziehung können einige Bemerkungen nicht unterdrückt werden. Die Uebersetzung erstrebt nicht wörtliche Treue, sondern giebt oft nur den Gedanken in ziemlich freier Weise wieder.“
– eine Einschätzung, der dann vier Seiten gedrängter Kritik folgen. Auch der Rezensent des Literarischen Centralblatts führt kritisch aus: „Die Uebersetzung selbst giebt, soweit wir sie mit dem Original verglichen haben, abgesehen von einzelnen Ungenauigkeiten (wie z. B. V. 100 , ,Tale giganteum Graecia laudat opus‘ übersetzt wird: ,Hellas priese fürwahr solch ein gigantisches Werk‘, während der Sinn ist: ,Griechenland preist ein solches Werk als ein gigantisches‘), den Sinn des Gedichtes in treuer und geschmackvoller Weise wieder.“
Ganz anders hingegen schließt die leider anonyme und auch nicht einer spezifischen Zeitschrift zuzuordnende, nur durch einen Ausschnitt aus dem Nachlass Reumonts überlieferte Rezension mit der Schlussfolgerung: „[…] es ist daher umso dankenswerther, daß uns in dem angezeigten Werke eine ebenso treue und sorgfältige, als geschmackvolle und fließende Uebertragung geboten wird, welcher dann Erläuterungen folgen, die von gründlichen Studien und allseitiger Durchdringung des interessanten Stoffes Zeugniß ablegen.“
Ähnlich lobt auch der Rezensent des Local-Anzeigers die „ganz nach den strengen Anforderungen der besten Dichter und im Geiste der deutschen Sprache“ verfasste Übertragung, während der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung vielmehr lobend hervorhebt, dass das Buch „auch für Nichtphilologen vollkommen verständlich“ sei. Was schließlich den Kommentar und die zahlreichen topographischen Exkurse betrifft, so stellt Sauppe in seiner Rezension in den Göttinger Gelehrten Anzeigen fest, dass der Kommentar „unverkennbar das Gepräge eigener Anschauung und umfassender Kenntnis der italienischen Geschichte und Literatur an sich trägt“, und lobt schließlich: „Die Stärke des Buchs liegt in den geographischen und topographischen Excursen mehr, als Anmerkungen, für welche Reumont die Verse des Gedichts als Anknüpfungs- und Ausgangspunkte benutzt; sie verleihen ihm bleibenden Werth.“ Auch der anonyme Rezensent der Cölner Zeitung schließt mit den Worten: „Das Buch ist in seiner Art ein eben so lehrreicher wie anziehender Beitrag zur Culturgeschichte und Geographie jener merkwürdigen Zeit.“ Ganz ähnlich fasst auch Grambach in seiner lapidaren Besprechung, welche wenig mehr als eine Paraphrase des Gedichts an sich ist, zusammen: „In den Erläuterungen bietet der Verfasser eine große Fülle geographisch-historischer Bemerkungen, welche sich über Alterthum, Mittelalter und neue Zeit erstrecken. Sie lassen den
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Leser gleichsam dem Rutilius nachreisen und führen ihm all die Erinnerungen vor, die heutzutage freilich nur einen sehr gelehrten Reisenden auf der Fahrt begleiten würden.“
In diesem Sinne schließt auch der Rezensent des Theologischen Literaturblatts: „Man wird mit Genuß den alten Reiseführer lesen, und mit nicht geringerm seinen modernen Interpreten, dessen eingehende Erläuterungen sich über die Topographie, die Geschichte und die Antiquitäten der von Namatianus beschriebenen Localitäten verbreiten, in jener geistvollen, zugleich unterhaltenden und belehrenden Manier, wie wir sie aus den ,Briefen eines Florentiners‘ kennen.“81
V. Schluss Wie jede geisteswissenschaftliche Disziplin ist auch die Altertumswissenschaft eben jenen Gesetzen der Zeitlichkeit menschlichen Schaffens unterworfen, deren Erforschung ihr eigentlicher Gegenstand ist.82 Auch Alfred von Reumont macht hier keine Ausnahme; ganz im Gegenteil. Wie wir gesehen haben, stellt sein Kommentar ein typisches Zeugnis humanistischer Gelehrsamkeit dar. Zum einen nämlich ist das Werk, von einem „Amateur“ im besten Sinne des Wortes verfasst, durchaus durch einen originellen Zugang zum Thema gekennzeichnet, da der Reiseweg des Rutilius gleichsam nur als eine in die Vergangenheit projizierte Hintergrundfolie für die persönliche Italienbegeisterung Reumonts dient. Zum anderen aber bewirkte die historische und prosopographische Auseinandersetzung mit der Antike und die Beschäftigung mit der zeitgenössischen altertumswissenschaftlichen Literatur auch, dass der Autor unweigerlich durch die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gültigen und in den Besonderheiten christlich-deutscher Nationalstaatlichkeit wurzelnden Forschungspositionen und Stereotypen geprägt wurde und dieses Gut unbewusst weitervermittelte. In der Rutilius-Namatianus-Forschung hat Alfred von Reumonts Werk keine bleibenden Spuren hinterlassen83 – leider, wie man vielleicht hinzuzufügen versucht ist, denn wenn das Buch auch sicherlich keinen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des spätantiken Reisenden liefert, so bietet es doch ein ebenso typisches wie einnehmendes Zeugnis deutscher humanistischer Bildung, dessen Ziel eben nicht die zum System erhobene einzelwissenschaftliche Vertiefung spezieller Fachfragen war, welche unweigerlich mit einer Verkümmerung des hinter jedem Forschen stehenden Allgemeinmenschlichen einhergeht, sondern die gleichmäßige, dem seelisch-geistigen Werdegang des Einzelnen angepasste systematische Ausweitung des intellektuellen 81 Die Anspielung bezieht sich auf Alfred von Reumont: Römische Briefe von einem Florentiner. 4 Bde., Leipzig 1840 – 1844. 82 Zur Geschichte der Altertumsforschung vgl. einführend etwa: Karl Christ: Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit. Darmstadt 1972 und Willem den Boer: Les études classiques aux XIXe et XXe siècles. Leur place dans l’histoire des idées. Genf 1979. 83 Die neueste französische Textausgabe mit historischem Kommentar – Etienne Wolff (hrsg. und übers.)/Serge Lancel (übers.)/Joëlle Soler (Einl.): Rutilius Namatianus. Sur son retour. Paris 2007 – führt Reumonts Untersuchung selbst in der Bibliographie nicht mehr an.
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wie empathischen Horizonts; ein Verständnis von Forschung und Bildung, das heute, zu Beginn des europäischen 21. Jahrhunderts – wohl zum Leidwesen des Menschlichen wie auch des Wissenschaftlichen – im Aussterben begriffen zu sein scheint. In diesem Sinne ließe sich denn Reumonts allseits ausgeglichenes, eher vom persönlichen Interesse des Autors als von fachwissenschaftlicher Selbstbeschränkung zeugendes Werk als typisches Produkt jenes goldenen Zeitalters der Bildung begreifen, und somit lässt sich wohl kein passenderer und gerechterer Abschluss vorliegender Darstellung finden, als Reumonts eigene Worte aus dem Widmungsgedicht an Hermann von Thile: Zwar sie schwanden dahin, die goldenen Tage der Dichtung, Doch an bessere Zeit mahnt noch der geistige Hauch, So wie der flüchtige Duft im Winde verwehender Blüten Uns im Herbst zurück ruft die vergangene Pracht.84
84
Reumont 1872 (wie Anm. 5), Widmungsgedicht, Zeile 3 – 6.