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German Pages [295] Year 2022
Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? ORTE POLITISCHER UND KULTURELLER PARTIZIPATION IN DER DDR
JÖRG GANZENMÜLLER / BERTR AM TRIEBEL (HG.)
Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Anke John Christiane Kuller in Verbindung mit dem Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Ettersberg
Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? Orte politischer und kultureller Partizipation in der DDR
Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller, Bertram Triebel Redaktion Katharina Schwinde
BÖHLAU VERLAG KÖLN WIEN
Gefördert durch die Thüringer Staatskanzlei Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh,Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Werkstatt Depot der Thüringer Waldbahn, Gotha, 1987. © Fotograf: Ulrich Kneise Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Anja Borkam, Jena Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52166-0
Inhalt
Jörg Ganzenmüller · Bertram Triebel Einleitung .....................................................................................................................
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Jörg Ganzenmüller Herrschaft, Partizipation und Vergemeinschaftung Perspektiven einer Gesellschaftsgeschichte der DDR .. ...................................... 17
Herrschaft als soziale Praxis: Akteure und Formen der politischen Partizipation im SED-Staat Sabine Pannen Parteileben im Betriebsalltag Die SED-Grundorganisation als gesellschaftliche Steuerungsinstanz . . ......... 43 Bertram Triebel Systemloyale Gemeinschaften Die Basis der Blockpartei CDU .. ................................................................................ 69 Christian Rau Städtische Partizipationsräume und der Wandel der Diktatur Wohnraummangel, Kommunalpolitik und Gesellschaft in Leipzig zwischen Mauerbau und Mauerfall ........................................................................ 95 Christian Möller Umweltschutz und Herrschaft in der DDR »Räume des Mitmachens« und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur .............................................................................................................. 119
Engagement für die Gesellschaft: Partizipation am Rande und jenseits des SED-Staats Cornelia Bruhn Die FDJ-Singebewegung – eine staatliche Veranstaltung? Engagement und Entfremdungsprozesse in der Sphäre staatssozialistischer Jugendkultur der DDR ......................................................... 151
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Jan Scheunemann »Uns eint ein neues Heimatgefühl«. Heimatdiskurs und Heimatmuseen in der frühen DDR ..................................... 183 Tobias Huff Wider die atomisierte Gesellschaft Lokales Umweltengagement und der Kampf um die Öffentlichkeit ............. 207
Von der staatlichen Veranstaltung zur gesellschaftlichen Selbstorganisation: Die Kontinuitäten des Umbruchs 1989/1990 Anja Schröter Ein ostdeutscher Marsch durch die Institutionen? Politische Partizipation vom Spät- zum Postsozialismus .................................. 239 Jenny Price Die »Köpfe von gestern«: Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse im Zuge des Systemwechsels im Thüringer Raum 1989/1990 ................................................................................. 255 Autorinnen und Autoren ......................................................................................... 285 Abbildungsverzeichnis .. ........................................................................................... 291 Personenregister ........................................................................................................ 293
Jörg Ganzenmüller · Bertram Triebel
Einleitung
Als die westdeutschen Historiker Lutz Niethammer, Dorothee Wierling und Alexander von Plato im Frühjahr 1987 in der DDR lebensgeschichtliche Interviews führten, sprachen sie auch mit Anna Immermann.1 Die Mitarbeiterin einer Stadtgärtnerei war eine äußerst engagierte Bürgerin und lebte auf den ersten Blick idealtypisch den allseits bekannten Aufruf zur Mitgestaltung des staatssozialistischen Gemeinwesens »Arbeite mit, plane mit, regiere mit!«.2 Immermann war nämlich nicht nur in der SED und in der Gewerkschaft aktiv. Sie verantwortete in ihrem Wohnblock auch die gemeinschaftlichen Arbeitseinsätze, die Subottniks, und leitete die Ortsverbände des Demokratischen Frauenbundes und der Volksfürsorge. Wie vorbildlich ihr Einsatz aus Sicht des Staates war, illustrierte ihre Auszeichnung mit dem prestigeträchtigen Karl-Marx-Orden. Dabei waren es weniger politische als soziale Motive, die Immermann antrieben. Sie schätzte an ihren Aktivitäten den menschlichen Austausch und das Gemeinschaftsgefühl in den Gruppen. Und das ist viel wert, gerade so für’n älteren Menschen, da kommt man mal dahin und da hat man mal da was. Und so sitzt du in deinen vier Wänden, sitzte alleene und grübelst leicht rum. Aber so biste mal da, dann gehste da hin und nimmst am gesellschaftlichen Leben teil, und das ist bei uns viel wert, gerade für uns Ältere.3
Auf ihrer Reise trafen die Forschenden auch Susanne Murowski.4 Sie war CDU-Mitglied und in der Kommunalpolitik tätig. Aus ihrer Sicht spielten Parteizugehörigkeit und sozialistische Ideologie vor Ort keine Rolle. Murowski und den anderen Aktiven 1 Lutz Niethammer/Alexander von Plato/Dorothee Wierling: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen. Berlin 1991, S. 329 – 353. Wie bei allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Buch ist auch der Name Anna Immermann fiktiv. 2 Die Formel, in früheren Fassungen ›Plane mit, arbeite mit, regiere mit!‹, fand auch Eingang in die Verfassung der DDR von 1968. Im entsprechenden Artikel 21 heißt es: »Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz ›Arbeite mit, plane mit, regiere mit!‹« 3 Niethammer u. a.: Die volkseigene Erfahrung (wie Anm. 1), S. 343. 4 Ebd., S. 514 – 532.
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ging es vielmehr um die konkrete Entwicklung ihrer Gemeinde. Ein Ergebnis ihrer gemeinschaftlichen Arbeit war der Bau eines Strandbads aus einem Tagebauloch. »Es ist ein Erholungszentrum für Tausende und Abertausende Menschen. […] Das wurde alles teils durch Firmen und Betriebe, die beauftragt wurden, aber unter großer Mitwirkung der Menschen unseres Ortes, auch der Betriebe gestaltet.«5 Die Geschichten von Susanne Murowski und Anna Immermann öffnen den Blick auf die staatlich-offiziellen Partizipationsräume in der DDR und deren eigensinnige Aneignung durch die Bürgerinnen und Bürger. Dieses Spannungsfeld ist Thema des vorliegenden Sammelbandes, der auf einer Tagung an der FriedrichSchiller-Universität Jena im Oktober 2019 basiert. Die titelgebende Formulierung »Gesellschaft als staatliche Veranstaltung« stammt ursprünglich aus einem anderen Forschungskontext. Der Tübinger Osteuropahistoriker Dietrich Geyer hat 1975 einen Schlüsselaufsatz zum vorrevolutionären Russland veröffentlicht, in dem er die vieldiskutierte These aufstellte, K atharina II. habe den Provinzadel allein deshalb veranlasst, nach preußischem Vorbild Standeskorporationen zu gründen, um diese anschließend für die Etablierung einer staatlichen Verwaltung heranzuziehen. Während in Preußen eigenständige Standeskorporationen in »Veranstaltungen des Staates« transformiert wurden, seien diese in Russland überhaupt erst als »Veranstaltungen des Staates« gegründet worden. »Gesellschaft« sei deshalb in Russland von Beginn an eine »staatliche Veranstaltung« gewesen, und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts s eien Gesellschaft und Staat auch nicht auseinandergetreten.6 Über Geyers weitreichende Interpretation der russischen Geschichte diskutiert die Forschung bis heute. Diese Debatte erinnert zugleich an die Kontroverse über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der DDR in den frühen 1990er Jahren. Auch hier ging es um die Frage, ob es in der SED-Diktatur eine eigenständige, vom Staat abgrenzbare Gesellschaft gab oder diese eine vom Staat gelenkte Veranstaltung war. Inzwischen besteht in der Forschung Konsens, dass in der DDR eine Gesellschaft eigener Art existierte, die sich im Wechselspiel zwischen dem politischen Primat der SED und dem sozialen Eigenleben der Akteure konstituierte.7 Ungeklärt bei der staatssozialistischen Gesellschaft ist aber bislang die Rolle der von der SED geschaffenen Strukturen und Organisationen, die auf die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in der DDR zielten. An dieser Stelle setzt der vorliegende Sammelband an. Er folgt der 5 Ebd., S. 518. 6 Dietrich Geyer: »Gesellschaft« als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaats im 18. Jahrhundert. In: ders. (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland. Köln 1975, S. 20 – 52. 7 Siehe den Beitrag von Jörg Ganzenmüller in diesem Band.
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These, dass die offiziellen Partizipationsräume nicht nur staatliche Steuerungsinstanzen, sondern auch Vergesellschaftungskerne darstellten. Gesellschaftlichem und politischem Engagement waren in der DDR enge Grenzen gesetzt. Die SED tolerierte nur jenen Einsatz, der in den parteistaat lichen Strukturen stattfand und damit ihrer Steuerung unterlag. Zu diesen Räumen gehörten die ›sozialistischen Volksvertretungen‹, die Staatspartei selbst, die anderen Blockparteien, die Massenorganisationen sowie die Wettbewerbe der Nationalen Front. Engagierten sich Bürgerinnen und Bürger in unabhängigen Initiativen, mussten sie mit ernsten Konsequenzen rechnen. Gleichzeitig war passives Verhalten auch suspekt, vielmehr erwartete die SED von den Menschen, dass sie die Beteiligungsangebote annahmen. Vor d iesem Hintergrund schloss sich ein Großteil von ihnen einer oder mehreren Organisationen an, rein statistisch kam jede Person in der DDR auf durchschnittlich 2,8 Mitgliedschaften.8 Ohne Zweifel sollte man diese Zahl nicht mit tatsächlichem Engagement gleichsetzen. Gleichwohl löst sich der vorliegende Band von der wirkmächtigen Deutung, nachdem viele nur Alibizugehörigkeiten in der »Organisationsgesellschaft« (Detlef Pollack) gepflegt hätten.9 Vielmehr zeigen die hier versammelten Beiträge, dass die Mitglieder den Organisationen noch andere Bedeutungen zuschrieben, etwa das Erleben von Gemeinschaft wie im Fall von Anna Immermann. Zugleich arbeitet der Band die Mehrdeutigkeiten von Handlungen heraus und erhellt so, warum Bürgerinnen und Bürger auf die staatlichen Beteiligungsangebote eingingen. Außerdem verdeutlicht er, dass dieser systemstabilisierende Eigen-Sinn in den 1980er Jahren an seine Grenzen geriet und die Menschen substanziellere Mitsprache forderten, was zur Erosion der SED-Herrschaft wesentlich beitrug.
1. Forschungsstand Die staatlichen Partizipationsräume in der DDR haben lange ein Schattendasein in der historischen Forschung gefristet. Eine Ausnahme bildeten die Beteiligungsformen im Betrieb.10 Die mangelnde Aufmerksamkeit hat sich zum einen 8 Thomas Koch: Die Parteien und Massenorganisationen der DDR als Sozialisationsinstanzen. In: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Hrsg.): Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch. Berlin 2002, S. 116 – 142, hier S. 117. 9 Detlef Pollack: Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR. In: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 292 – 307. 10 Thomas Reichel: »Sozialistisch arbeiten, lernen und leben«. Die Brigadebewegung in der DDR (1959 – 1989). Köln/Weimar/Wien 2011; Renate Hürtgen: Zwischen D isziplinierung
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aus der Tatsache ergeben, dass sich die Forschung entsprechend der zentralistischen Ordnung der DDR auf die Strukturen und Entscheidungen der politischen ›Spitze‹ konzentriert hat. So sind lokale Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse in den Hintergrund getreten, was auch die staatlichen Beteiligungsangebote betroffen hat. Hinzu kommt die berechtigte, aber einseitige Annahme, dass sich viele Menschen eher widerwillig und nur aus pragmatischen Gründen auf die Partizipationsräume einließen, allen voran um den stetig geforderten »Loyalitätsnachweis« gegenüber dem System zu erbringen.11 Infolge dieser Lesart sind die zahlreichen Organisationen und Wettbewerbe als leere Kulissen ohne große Bedeutung für die Menschen erschienen, deren weitere Betrachtung sich nicht sonderlich lohne. Doch seit ein paar Jahren erfahren die »Räume des Mitmachens« (Thomas Lindenberger) eine größere Beachtung.12 Zum Ersten speist sich der Wandel aus einem stärkeren Interesse an lokalen Herrschaftsverhältnissen. Eine wichtige Rolle spielt hier die Forschung zu den Handlungsmöglichkeiten von Kommunen in der Ordnung des ›Demokratischen Zentralismus‹. Als Sonde dient häufig die Wohnungspolitik, bei der auch die Einbeziehung der Bevölkerung beleuchtet wird.13 Zum Zweiten hat die Beschäftigung mit den Blockparteien CDU und LDPD wieder an Auftrieb gewonnen. Nachdem lange die Gründungs- und Transformationsphase der beiden Parteien das Forschungsinteresse dominiert hat, steht nun deren Geschichte zwischen Mauerbau und Mauerfall im Mittelpunkt. Neben der politischen Handlungspraxis betrachten neuere Studien das Innenleben der Parteien, wobei sie sich auf die Sicht und Erfahrungen der ›einfachen‹ Mitglieder
und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb. Köln/Weimar/Wien 2005; Sabine Pannen: Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979 – 1989 (Kommunismus und Gesellschaft, 7). Berlin 2018. 11 Peter Hübner: Zur Rolle der »Massenorganisation« im Alltag der DDR -Bürger. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band 2/3. Baden-Baden/ Frankfurt am Main, S. 1723 – 1769, hier S. 1760 f.; Kritik an dieser Deutung übt Thomas Lindenberger: Das Land der begrenzten Möglichkeiten. Machträume und Eigen-Sinn der DDR-Gesellschaft. In: Deutschland Archiv, 10. 08. 2016. Abgerufen unter URL: www.bpb. de/232099, letzter Zugriff: 09. 05. 2022. 12 Lindenberger: Das Land der begrenzten Möglichkeiten (wie Anm. 11). 13 Stefan Haas: »Wir bauen Wohnungen«. Bürgerbeteiligung in der DDR am Beispiel der Wohnungsbaupolitik in den 1950er Jahren. In: Thomas Grossbölting (Hrsg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand. Berlin 2009, S. 250 – 268; Christian Rau: Stadtverwaltung im Staatssozialismus. Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957 – 1989). Stuttgart 2017; Jay Rowell: Le totalitarisme au concret. Les politiques du logement en RDA. Paris 2006.
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konzentrieren.14 Dass sich die Forschung intensiver mit den staatlichen Beteiligungsangeboten auseinandersetzt, resultiert zum Dritten aus der Konjunktur kulturalistischer Themen wie Heimat, Identität und Umwelt im Staatssozialismus. Grundlegend in diesem Bereich ist die Studie von Jan Palmowski über Heimat im DDR-Alltag.15 Darin zeigt er auf, dass Bürgerinnen und Bürger die staatlichoffiziellen Strukturen wie Kulturbund und den ›Mach-mit!‹-Wettbewerb der Nationalen Front aktiv nutzten, um beispielsweise heimische Traditionen zu pflegen. Dieser Zugang findet sich ebenfalls bei jüngeren Arbeiten zur Umweltgeschichte der DDR. Diese berücksichtigen nicht nur die unabhängigen, oftmals systemkritischen Gruppen, sondern betrachten ebenfalls das bürgerliche Engagement in den staatlichen Partizipationsräumen.16 Ein weiterer, vierter Impuls stammt aus der zunehmenden Historisierung der Zeit nach dem Ende der DDR im Oktober 1990. Um das Verhältnis von Brüchen und Kontinuitäten in der »Übergangsgesellschaft« in Ostdeutschland auszuloten, nimmt die Forschung auch die Entwicklung vor 1989 in den Blick.17 Ein Beispiel für diesen Zugriff ist die Geschichte von Bürgergruppen zum Erhalt von Altbauten in ostdeutschen Städten in der späten DDR.18
14 Bertram Triebel: Die Thüringer CDU in der SBZ/DDR – Blockpartei mit Eigeninteresse. Sankt Augustin/Berlin 22020; Tilman Pohlmann (Hrsg.): Die LDPD und das sozialistische »Mehrparteiensystem« in der DDR (Berichte und Studien, 81). Göttingen 2020; Luise Güth: Die Blockparteien im SED-System der letzten DDR-Jahre. Wahrnehmung und Partizipation am Beispiel des Bezirks Rostock. Baden-Baden 2018. 15 Jan Palmowski: Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDRAlltag (Kommunismus und Gesellschaft, 4). Berlin 2016. 16 Tobias Huff: Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR (Umwelt und Gesellschaft, 13). Göttingen 2015; Christian Möller: Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 234). Göttingen 2019; Anne-Kathrin Steinmetz: Landeskultur, Stadtökologie und Umweltschutz. Die Bedeutung von Natur und Umwelt 1970 bis 1989. Eine deutsch-deutsche Betrachtung. Berlin 2017. 17 Der zitierte Begriff geht zurück auf die Ausstellung Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft erarbeitet vom Deutschen Historischen Museum und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit 2015, vgl. Jürgen Danyel: Alltag Einheit: Ein Fall fürs Museum. In: APuZ 33 – 34 (2015), S. 26 – 35, hier S. 30. 18 Siehe den Beitrag von Anja Schröter in diesem Band. Die Arbeit gehörte zum Forschungsprojekt Die lange Geschichte der Wende, das in weiteren Studien den Wandel des Konsums, der Bildung und des Wohnens von Mitte der 1970er Jahren bis Anfang 2000 untersucht, vgl. dazu Kerstin Brückweh/Clemens Villinger/Kathrin Zöller: Die lange Geschichte der »Wende«. In: Marcus Böick/Constantin Goschler/Ralph Jessen (Hrsg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2020. Berlin 2020, S. 293 – 312 und dies.: Die lange Geschichte der »Wende«. Geschichtswissenschaft im Dialog. Berlin 2020.
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Die erhöhte Aufmerksamkeit für die staatlichen Partizipationsräume in der
DDR geht allerdings auch mit Fehlstellen einher. Wenig Interesse hat die For-
schung bislang am Innenleben zahlreicher Massenorganisationen gezeigt, insbesondere für die Zeit zwischen Mauerbau und Mauerfall. Dieser Befund gilt beispielsweise für den Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) und die Volkssolidarität.19 Weitgehend nicht beachtet worden sind ebenso die Herrschaftsund Gesellschaftsstrukturen im ländlichen Raum in der Ära Honecker.20 Während der große Einfluss der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) auf das Leben in den Dörfern bekannt ist,21 ist die Rolle anderer Akteure noch nicht untersucht, seien es die Gemeinderäte, die Ortsgruppen der Block parteien und Massenorganisationen oder die Freiwilligen Feuerwehren.22 Auffällig ist zudem das Ungleichgewicht bei der Forschung zu den Blockparteien. So fehlt es nach wie vor an einer Geschichte der beiden anderen Blockparteien DBD und NDPD für die Jahrzehnte nach dem Mauerbau.23 All diese Lücken kann der vorliegende Band nicht schließen, mit seinen Beiträgen will er aber die Forschungsneugierde gegenüber den offiziellen Partizipationsräumen in der DDR und den damit verbundenen Eigenheiten der staatssozialistischen Gesellschaft wecken. 19 So liegt zum DFD je eine Studie zu dessen Transformation in den frühen 1990er Jahren und zu dessen Kaderarbeit vor, vgl. Barbara Koelges: Der demokratische Frauenbund. Von der DDR-Massenorganisation zum modernen politischen Frauenverband (Studien zur Sozialwissenschaft, 214). Wiesbaden 2001 und Petra Scheidt: Karriere im Stillstand? Der Demokratische Frauenbund Deutschlands im Spiegel seiner Kaderarbeit und der Kaderstrukturen seines hauptamtlichen Funktionärskorps (Historische Forschungen, 28). Stuttgart 2011. 20 Dies konstatiert (wiederholt) Jens Schöne: Herrschaft durch Überwältigung. Die ländlichen Regionen der DDR. In: Anna Kaminsky (Hrsg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. Berlin 32016 (Erstauflage 2004), S. 633 – 637, hier S. 636 f. und Jens Schöne: Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der DDR. In: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn u. a. 2003, S. 254 – 259, hier S. 258 f. 21 Siehe die volkskundlich angelegte Lokalstudie von Barbara Schier: Alltagsleben im »sozialistischen Dorf«. Merxleben und seine LPG im Spannungsfeld der SED-Agrarpolitik (1945 – 1990). Münster 2002 und Michael Heinz: Von Mähdreschern und Musterdörfern. Industrialisierung der DDR-Landwirtschaft und die Wandlung des ländlichen Lebens. Berlin 2011. 22 Erste Erkenntnisse zu den Freiwilligen Feuerwehren im Staatssozialismus verspricht das laufende Forschungsprojekt Ehrenamtliche Tätigkeit in lokalen Gemeinden z wischen Staatssozialismus und liberalem Kapitalismus. Die Geschichte der Freiwilligen Feuerwehr in Deutschland und Ostmitteleuropa 1980 und 2000 (Hannah-Arendt-Institut Dresden/Universität Wien), vgl. Ana Kladnik u. a.: Weder Ost noch West – Zentral!(Europa!). Freiwillige Feuerwehren als nachhaltiges Muster der lokalen Selbstregierung. In: Zeitgeschichte-online, März 2019. Abgerufen unter URL : https://zeitgeschichte-online.de/themen/weder-ost-noch-west-zentraleuropa, letzter Zugriff: 09. 05. 2022. 23 Siehe den Beitrag von Bertram Triebel in diesem Band.
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2. Aufbau des Bandes Diesen Forschungsimpuls greift der Band in drei Teilen auf, denen ein einführender Beitrag von Jörg Ganzenmüller vorangestellt ist, der die Potenziale einer Gesellschaftsgeschichte der DDR ausleuchtet. Er betont mit Blick auf die Herrschaftspraxis, dass sich eine klare Trennlinie z wischen Staat und Gesellschaft in der DDR kaum ziehen lässt. Da es allerdings möglich war, eigene Interessen in Aushandlungsprozessen mit der Staatsmacht geltend zu machen, war Gesellschaft keine bloße staatliche Veranstaltung, vielmehr waren Staat und Gesellschaft eng miteinander verflochten. Für eine Gesellschaftsgeschichte der DDR heißt dies, dass auch jene Akteure in den Blick genommen werden müssen, die innerhalb der staatlichen Strukturen gesellschaftliches Engagement entfalteten. Partizipation trug auch in diesem Fall zu gesellschaftlicher Integration bei, allerdings weniger in einem gesamtstaatlichen Rahmen als im sozialen Nahbereich. Vergesellschaftung erfolgte in der DDR im Modus der Vergemeinschaftung, was im Kontext von Krisenerfahrungen im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses eine affirmative Einstellung zu Gemeinschaftserlebnissen im DDR-Alltag nach sich zog. Der erste Teil thematisiert Akteure und Formen politischer Partizipation im SED -Staat. Zunächst behandelt Sabine Pannen die SED -Parteibasis im Stahlwerk Brandenburg in der Ära Honecker. Dort diskutierten die Mitglieder in den monatlichen Parteiversammlungen weniger über allgemeine politische Fragen. Vielmehr thematisierten sie die alltäglichen Probleme innerhalb und außerhalb des Betriebes und forderten deren Lösung ein. Als im Zuge der sich verschärfenden Wirtschaftskrise die Schwierigkeiten überhandnahmen, schwand die Parteibindung vieler Genossinnen und Genossen. Forciert wurde diese Entfremdung durch die Öffnung gegenüber der Bundesrepublik und die Reformpolitik in der Sowjetunion. Die zunehmende Unzufriedenheit mündete schließlich in massenweise Parteiaustritte im Herbst 1989. Bertram Triebel wiederum konzentriert sich in seinem Aufsatz auf die Basis der größten Blockpartei, der CDU. Deren Mitglieder begegneten den Vorgaben der Parteiführung in eigen-sinniger Weise, wobei sie sich generell systemloyal verhielten. Über ihre Praktiken, verbunden mit Ausschlusserfahrungen in der staatssozialistischen Gesellschaft, entwickelten die ›Unionsfreunde‹ ein besonderes Gemeinschaftsgefühl, das sie neben pragmatischen Erwägungen in der Partei hielt. Diese lokalen Gemeinschaften erodierten, als 1989/1990 mit der herrschenden Ordnung der konstitutive Rahmen zerbrach. Anschließend stellt Christian Rau am Beispiel Leipzigs die Frage, w elche Rolle die Bevölkerung bei der Wohnungspolitik in der DDR spielte. Ein einflussreicher Akteur waren die alteigesessenen Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften, die ihre Wohnungen selbstbewusst nach organisationseigenen Kriterien vergaben
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und politische Vorgaben ignorierten. Um den weiteren Verfall der Altbauten zu verhindern, animierte die Stadtverwaltung die Bürgerinnen und Bürger wiederum, die eigene Wohnung selbst zu sanieren. Zugleich wachten in den Häusern ältere Bewohnerinnern und Bewohner über die Einhaltung traditioneller Moralvorstellungen und kooperierten dafür auch mit Volkspolizei und Staatssicherheit. Schließlich lotet Christian Möller am Beispiel der Umweltpolitik die Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Partizipationsangebote aus. So beeinflussten die Naturschützerinnen und Naturschützer in den 1960er Jahren über personelle Netzwerke und Eingaben die Gesetzgebung zum Thema Umwelt in ihrem Sinne. Als die SED unter Erich Honecker den Umweltschutz dann zunehmend vernachlässigte, versuchten die Menschen erneut über Eingaben Veränderungen zu erreichen. Da substanzielle Korrekturen oft ausblieben, initiierten Bürgerinnen und Bürger eigene Gruppen jenseits der staatlichen Partizipationsräume. Die Beiträge des zweiten Teils setzen sich mit Engagement am Rande und jenseits des SED-Staates auseinander. Mit der vielschichtigen Partizipation von Jugendlichen in der FDJ-Singebewegung beschäftigt sich Cornelia Bruhn. 1966 zunächst außerhalb staatlicher Strukturen gegründet, wurden die Musikklubs rasch in den Jugendverband integriert. In den folgenden Jahrzehnten verhielten sich die Gruppen generell staatsloyal, wobei vor allem jüngere Mitglieder in ihren Liedern auch Alltagsprobleme thematisierten. Mit der sowjetischen Reformpolitik unter Michail Gorbatschow und den zunehmend sichtbaren Missständen im eigenen Land traten schließlich die Singeklubs aus ihrer systemaffirmativen Rolle heraus und drängten offen auf Veränderungen in der DDR. Neben Musik weckten auch heimatliche Traditionen das Interesse der Menschen. Jan Scheunemann erläutert in seinem Artikel die schwierige Integration von Heimatmuseen in das entstehende Museumswesen der DDR in den 1950er Jahren. Nach Kriegsende schlossen sich die Heimatvereine relativ geräuschlos dem Kulturbund an, ohne dass die Mitglieder grundsätzlich ihre Arbeitsweise und Vorstellungen von Heimat änderten. So hatte die SED große Schwierigkeiten, ihre geschichtspolitischen Ansprüche gegenüber den Ehrenamtlichen und den von ihnen betriebenen Ausstellungen zur Lokalgeschichte durchzusetzen. Deren störrische Haltung war in der Regel nicht politisch intendiert, sondern entsprang eher einer engen Verbundenheit mit traditionellen Heimatdarstellungen aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Ein weiteres Schlaglicht auf die Umweltgeschichte der DDR wirft Tobias Huff, der sich mit unabhängigen Umweltgruppen in der Ära Honecker auseinandersetzt. Eine wichtige Rolle beim Aufbau entsprechender Initiativen, die zunächst jenseits der Industrieregionen – etwa im Erzgebirge – entstanden, spielten kirchliche Akteure. Sie gaben eigene Publikationen zum Thema heraus und halfen bei der Organisation von landesweiten Aktionen. Auf
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diese Weise vernetzten sie sich untereinander und trugen ihre Forderungen in die Öffentlichkeit. Der dritte und abschließende Teil behandelt den Wandel lokaler Partizipationsformen im Zuge des revolutionären Umbruchs in der DDR. Anja Schröter befasst sich anhand der Interessengemeinschaft Stadtgestaltung in Dessau mit bürgerlichem Engagement vor und nach der Zäsur von 1989/1990. Um Ende der 1980er Jahre den Erhalt eines Altbauviertels zu erreichen, nutzten die beteiligten Bürgerinnen und Bürger offensiv verschiedene, legale Aktionsformen – von einer Fotoausstellung über Eingaben an die Stadtverwaltung bis hin zu öffentlichen Veranstaltungen – und weiteten damit stetig die Grenzen des Sag- und Machbaren aus. Mit der Revolution in der DDR verlor die Interessengemeinschaft Mitglieder, blieb aber bestehen. Sie bildete den Grundstein für eine neue Initiative, die sich Anfang der 1990er Jahre weiter für den Schutz des Altbauviertels in Dessau einsetzte. Jenny Price wiederum behandelt in ihrem Beitrag die politische und wirtschaftliche Transformation vor Ort. Am Beispiel von Eisenach und Erfurt verdeutlicht sie, dass die Demokratisierung in der DDR kein Selbstläufer, sondern ein mühevoller Aushandlungsprozess war. So hatten die Parteien Schwierigkeiten, für die zahlreichen Wahlen im Jahr 1990 interessierte Kandidatinnen und Kandidaten zu finden, die als ›unbelastet‹ galten. Zugleich waren die ›neuen‹ Eliten beim Aufbau demokratischer Strukturen – entgegen der eigenen Ausschlussrhetorik – auf das Wissen und die Erfahrungen der ›alten‹ Funktionärinnen und Funktionäre angewiesen. Anhand der Reaktionen lokaler Betriebe auf die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien im Frühsommer 1990 zeigt Price zudem, dass das häufig gezeichnete Bild von den Ostdeutschen als ohnmächtige Akteure im Transformationsprozess einseitig ist.24 Vielmehr erlernten die Arbeiterinnen und Arbeiter rasch medien- und öffentlichkeitswirksame Protest- und Kommunikationsformen und setzten sich aktiv für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze ein. Gemein ist allen Beiträgen, dass sie hinter die Fassade der staatlich-offiziellen Partizipationsräume blicken und das konkrete Handeln und die Sinndeutungen der Menschen ausloten. Damit zeigen sie das Potenzial einer kulturalistisch informierten Gesellschaftsgeschichte der DDR. Diese bietet allem voran die Chance, die unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Menschen in der DDR stärker in eine belastbarere historische Deutung zu integrieren, als dies politikgeschichtliche Zugänge können. Es ist deshalb an der Zeit, durch empirische Forschung verstärkt an die bereits formulierten Fragen und Pionierstudien zur 24 Sehr pointiert bei Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München 2019.
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Gesellschaftsgeschichte der DDR anzuschließen und über den spezifischen Charakter des Staatssozialismus sowie seine Folgen für die postsozialistische Gesellschaft in Ostdeutschland neu nachzudenken.25
25 Siehe u. a. Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Harmut Zwahr (Hrsg.): Sozial geschichte der DDR. Stuttgart 1994; Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR. In: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 96 – 110.
Jörg Ganzenmüller
Herrschaft, Partizipation und Vergemeinschaftung Perspektiven einer Gesellschaftsgeschichte der DDR
Staat und Gesellschaft werden in der deutschen Denktradition zumeist als Antipoden betrachtet. Gesellschaft gilt als staatsferner Raum, in dem sich Freie und Gleiche zum Ausgleich ihrer Interessen zusammenschließen.1 Das Gesellschaftsverständnis der SED war ein anderes. Sie verstand und organisierte Staat und Gesellschaft als eine Einheit, die auf das Erreichen übergeordneter politischer Ziele ausgerichtet war. Als Aufgabe der Gesellschaft galt, die Staatsmacht bei der Erreichung gemeinsamer Ziele sowie der Lösung von Problemen zu unterstützen. Staat und Gesellschaft sollten im Konsens agieren und als eine Art Gesamtbetrieb effektiv und konfliktarm funktionieren.2 Die Historiographie hat die Beschaffenheit einer Gesellschaft, wie sie infolge dieser Prämissen in der DDR bestand, konzeptionell und begrifflich zu fassen versucht. Sigrid Meuschel ist zunächst von einem weitgehenden Absterben der Gesellschaft ausgegangen. Im Zuge eines machtpolitisch durchgesetzten sozialen Entdifferenzierungsprozesses seien die ökonomischen, wissenschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Subsysteme ihrer Eigenständigkeit beraubt und ihre spezifischen Rationalitätskriterien außer Kraft gesetzt oder politisch-ideologisch überlagert worden. Die Gesellschaft sei auf diese Weise gleichsam »stillgelegt« gewesen, die bürokratische und polizeiliche Kontrolle habe jegliche Eigendynamik erstickt.3 Konrad Jarausch hat die Kompensation dieser politischen Entmündigung
1 Zum Wandel des Gesellschaftsbegriffs siehe Manfred Riedel: Artikel Gesellschaft, bürgerliche. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 719 – 800. 2 Vgl. Sighard Neckel: Das lokale Staatsorgan. Kommunale Herrschaft im Staatssozialismus der DDR. In: Zeitschrift für Soziologie 21 (1992), 4, S. 252 – 268, hier S. 261 ff.; Lutz Niethammer: Volkspartei neuen Typs? Sozialbiografische Voraussetzungen der SED in der Industrieprovinz. In: Prokla 20 (1990), S. 40 – 70, hier S. 65. 3 Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Frankfurt am Main 1992, S. 10; dies.: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 5 – 14, hier S. 5 f.; Lutz Niethammer: Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR. In: H artmut
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durch einen permanenten Gestus von sozialer Betreuung und materieller Versorgung als eine paternalistische »Fürsorgediktatur« beschrieben.4 Eine solchermaßen inaktive Gesellschaft entsprach allerdings nicht der Programmatik der SED. Ihr Ziel war es vielmehr, die Gesellschaft durch Kampagnen und beständige Aktivitäten ihrer Mitglieder im Rahmen betrieblicher Organisationen und gesellschaftlicher Massenorganisationen zum bereitwilligen Aufbau des Sozialismus zu mobilisieren. Eine Variation zur Vorstellung einer abgestorbenen Gesellschaft bildete jene Deutung, welche die DDR-Gesellschaft als vom Staat ermöglicht, durchformt und abhängig beschrieb. Der Staat sei bis in die feinsten Verästelungen einer »durchherrschten Gesellschaft« vorgedrungen, es habe keinen politikfreien Raum gegeben.5 Der SED-Staat wird als Krake gezeichnet, »dessen Tentakel sich noch in den letzten Winkel sozialer Existenz erstreckten und verhinderten, dass sich irgendeine Art von ›Zivilgesellschaft‹ jenseits der Reichweite und Kontrolle des Staates entwickelte und gedieh«.6 Dieses Bild der institutionellen Durchdringung von Staat, Justiz, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft mit einem Institutionengeflecht, das hierarchisch auf die SED ausgerichtet war, spiegelt zuvorderst deren Herrschaftsanspruch sowie die Struktur der Herrschaftsapparate wider, die geschaffen wurden, um die staatlichen Postulate bis auf die unterste Ebene sozialer Beziehungen im Betrieb, im Wohngebiet und in der Familie durchzustellen. Doch inwieweit lässt sich von einem allumfassenden Herrschaftsanspruch auf eine lückenlose staatliche Kontrolle der Gesellschaft schließen? Inzwischen besteht weitgehend Einigkeit darin, dass die Herrschaftsstrukturen und das »Durchherrschungs-Programm«7 nicht die soziale Praxis der Herrschaftsausübung abbilden: »Kein soziopolitischer Krake, wie allumfassend seine Absichten auch s eien mögen, kann in der Praxis wirklich allgegenwärtig sein. Der
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Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 95 – 115, hier S. 114. Konrad Jarausch: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: APuZ 20 (1998), S. 33 – 4 6. Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft. In: Kaelble u. a. (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR (wie Anm. 3), S. 547 – 553, hier S. 548 ff.; Detlef Pollack: Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen? In: Geschichte und Gesellschaft 24 (1988), S. 110 – 131, hier S. 115. Mary Fulbrook: Methodologische Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 274 – 297, hier S. 291. Thomas Lindenberger: Alltagsgeschichte und ihr möglicher Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR . In: Bessel/Jessen (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur (wie Anm. 6), S. 298 – 325, hier S. 314.
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Versuch totaler Kontrolle und totaler Anpassung war unweigerlich zum Scheitern verurteilt.«8 Die Gleichzeitigkeit eines weitreichenden staatlichen Steuerungsanspruchs und die Begrenztheit der administrativen Regelungsmechanismen aufgrund individueller Strategien des Ausweichens und Unterlaufens zählt fraglos zur konstitutiven Widersprüchlichkeit der DDR.9 Die »Grenzen der Diktatur«, die gerade durch das Scheitern einer totalen Vereinnahmung der Gesellschaft durch den Staat sichtbar wurden, haben den Blick auf die informellen Netzwerke, welche den Alltag in der DDR prägten, gelenkt.10 In der öffentlichen Debatte wird die DDR dabei immer noch als eine »Nischengesellschaft« gezeichnet. Der Begriff geht auf Günter Gaus zurück, der bereits 1981 in den »gesellschaftlichen Nischen« den unzerstörbaren Rest einer Kulturgesellschaft sah, die den Eingriffen des Staats resistent gegenüberstand.11 Gaus’ häufig zitiertes Konzept koppelt die Alltagskultur und die Lebenswelten der Bevölkerung vom staats- und parteiöffentlichen Leben ab und unterscheidet strikt z wischen öffentlicher Staatsgesellschaft und privater Gesellschaft. Gesellschaft erscheint hier als eine Sphäre jenseits des Staates, die sich in Konfrontation zu einer in alle Lebensbereiche ausgreifenden Staatsmacht befindet. Thomas L indenberger hat deshalb bereits im fünften Jahr der deutschen Einheit dafür plädiert, das Augenmerk nicht auf das »Verschwinden von Gesellschaft« zu richten, sondern zu versuchen, die sozialen Beziehungen »an den Grenzen und jenseits der Grenzen des umfassenden staatssozialistischen Zugriffs auszumachen«.12 Inzwischen hat sich die Deutung von Ralph Jessen weitgehend durchgesetzt, der ebenfalls schon früh auf den Unterschied z wischen staatlicher Intention und Herrschaftspraxis hingewiesen hat. Er sieht das Spezifische der DDR -Gesellschaft in der Wechselwirkung von politischem Steuerungsanspruch und sozialem Eigenleben. Der ideologisch motivierte Umbau der Gesellschaft musste mit der Gewährleistung und Steigerung der Leistungsfähigkeit einer staatlich gesteuerten Wirtschaft in Einklang gebracht werden. Dabei standen sich die ökonomischen Ziele und das sozialistische Projekt regelmäßig gegenseitig im Wege. Die Folge 8 Fulbrook: Methodologische Überlegungen (wie Anm. 6), S. 292. 9 Pollack: Konstitutive Widersprüchlichkeit (wie Anm. 5), S. 113 f. Siehe dazu auch das Resümee von Johannes Hürter/Hermann Wentker: Diktaturen im 20. Jahrhundert. Überlegungen zu einem zeithistorischen Forschungsfeld. In: dies. (Hrsg.): Diktaturen. Perspektiven der zeithistorischen Forschung. Berlin/Boston 2019, S. 7 – 29, hier S. 24 f. 10 Richard Bessel/Ralph Jessen: Einleitung: Die Grenzen der Diktatur. In: dies. (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur (wie Anm. 6), S. 7 – 23, hier S. 15 f. 11 Günter Gaus: Zur Identität der deutschen Nation – zur jüngsten Geschichte der Deutschen und ihrer Staaten. In: ders.: Texte zur deutschen Frage. Darmstadt/Neuwied 1981, S. 32. 12 Lindenberger: Alltagsgeschichte (wie Anm. 7), S. 312.
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war eine systembedingte Überforderung, w elche im Alltag mit Pragmatismus kompensiert wurde. Die Leistungslücken wurden durch soziale Beziehungen überbrückt, die sich zu informellen Netzwerken auswuchsen. Richtete man den Fokus auf die funktionalen Ziele der SED, so kämen sehr viel stärker diese ausgleichenden und kompensatorischen Kräfte in den Blick.13 Alle diese Deutungen werfen eine Reihe grundsätzlicher Probleme auf, die es für einen gesellschaftsgeschichtlichen Zugang zur »DDR als Geschichte«14 zu bedenken gilt. An erster Stelle steht das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Ein gewichtiger Teil der Forschung geht inzwischen von einer engen Verflechtung von Staat und Gesellschaft im Staatssozialismus aus.15 Allerdings mangelt es noch an empirischen Studien zur Interaktion von Staat und Gesellschaft in der sozialen Praxis. So gelten die Parteien und Massenorganisationen noch zu oft als staatliche Herrschaftsinstrumente oder leere Kulissen einer Scheinpartizipation anstatt als Handlungsebenen für eine spezifische Form der Vergesellschaftung. Inwieweit waren diese parteistaatlichen Institutionen Orte einer Vergesellschaftung? Unter w elchen Bedingungen und in welcher Weise fand eine Vergesellschaftung dort statt? Zweitens sind gesellschaftliche Akteure in ihrem Handeln ernst zu nehmen. Engagement innerhalb der staatlichen Strukturen speiste sich häufig aus Anpassung oder »missmutiger Loyalität«,16 konnte aber auch auf Überzeugung in der Sache basieren oder der Verfolgung eigener Interessen dienen. Inwieweit lässt sich Engagement für die DDR als gesellschaftliche Partizipation verstehen? Gab es eine soziale Eigendynamik im Rahmen der staatlich vorgegebenen Grenzen, die sowohl zur Integration in die SED-Diktatur als auch zur Desintegration gesellschaftlicher Milieus beitragen konnte?17 13 Vgl. Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR. In: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 96 – 110, hier S. 102 – 105. 14 Alf Lüdtke: Die DDR als Geschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 (1998), S. 3 – 16. 15 Vgl. Frank Bajohr: Gesellschaft in Diktaturen. In: Hürter/Wentker (Hrsg.): Diktaturen (wie Anm. 9), S. 47 – 57, hier S. 47 f. Siehe auch den Kommentar von Mary Fulbrook zu diesem Aufsatz in: ebd., S. 58 – 6 4, hier S. 58. 16 Alf Lüdtke: »Helden der Arbeit« – Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR. In: Kaelble u. a. (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR (wie Anm. 3), S. 188 – 213. 17 Thomas Lindenberger sieht in der DDR keine soziale Eigendynamik, die sich auf das sozialistische Gesellschaftsmodell zubewegt habe, da die meisten DDR -Bürgerinnen und Bürger »ihrem« Staat allenfalls »widerwillig-loyal« zugetan gewesen seien, vgl. Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. In: ders.: Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 13 – 4 4, hier S. 27.
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Und drittens bedarf es der Analyse von Vergesellschaftungsprozessen in einer Diktatur, in der den Herrschenden interessengeleitete Zusammenschlüsse von Menschen suspekt waren und möglichst unterbunden werden sollten. Wie verliefen Vergesellschaftungsprozesse im konkreten Einzelfall? Inwieweit lässt sich in diesen Fällen überhaupt von Vergesellschaftung sprechen?
1. Staat und Gesellschaft? Eine verflochtene Herrschaftsbeziehung Staat und Gesellschaft stehen stets in einer engen Wechselbeziehung, eine klare Grenzziehung zwischen beiden ist generell ein unmögliches Unterfangen.18 Die Beziehung von Staat und Gesellschaft war in der DDR ein asymmetrisches Herrschaftsverhältnis. Die SED stellte Ordnung nicht durch einklagbare Rechte, sondern durch Regeln her, die für die Herrschenden selbst nicht verbindlich waren und von ihnen auch jederzeit geändert werden konnten. Diese Regeln setzten Grenzen und definierten die Handlungsspielräume staatlicher wie gesellschaftlicher Akteure. Der totale Herrschaftsanspruch ist allerdings nicht mit der sozialen Realität gleichzusetzen. Max Weber hat Herrschaft einst als »die Chance« definiert, »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«.19 Alf Lüdtke hat sich gegen eine solche eindeutige Trennung in Herrschende und Beherrschte ausgesprochen. Auch Herrschende befänden sich mitunter in Abhängigkeiten, so dass die Beherrschten mehr als passive Adressatinnen und Adressaten von Befehlen s eien. Außerdem existierten Ungleichheiten und Widersprüche sowohl z wischen den Herrschenden als auch den Beherrschten.20 In der Geschichtswissenschaft besteht heute weitgehend Einigkeit darin, dass die alltägliche Herrschaftspraxis nicht nur durch Zwang nach dem Schema ›Befehl und Gehorsam‹ stattfand, sondern in komplexen Kommunikations- und Interaktionsprozessen. Die Herrschenden gewannen auf die lokale Ebene nur Einfluss, wenn ihre Anordnungen und Befehle von den Angesprochenen wahrgenommen und umgesetzt wurden. Alf Lüdtke verwendet 18 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700 – 1815. München 1987 – 2008, S. 7 f. 19 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 5 1972, S. 38. 20 Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis. In: ders. (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991, S. 9 – 63, hier S. 12 ff.
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in seinen kulturanthropologisch inspirierten Ansätzen für diesen Adaptionsvorgang den Begriff der ›Aneignung‹: Herrschaft mischt sich […] weniger mit offenem Widerstehen als mit Hinnehmen, Ausweichen und Ausnutzen. Zwang schließt Momente von Konsens nicht aus – Stabilität enthält Ansätze zur Umwälzung (und umgekehrt). Erkennbar werden jene Mehrdeutigkeiten, die aus den Aneignungen der Betroffenen erwachsen. Nicht nur Zwänge und Zumutungen aus ›Befehlsgewalt‹ (Weber), sondern auch die Gewalt, die aus Anreizen und Verlockungen […] entsteht: So unterschiedlich sie sind, so sehr werden sie dennoch ›wirklich‹ nur in den Formen, in denen die Angesprochenen sie wahrnehmen und umsetzen.21
Herrschaft ist somit ein Aushandlungsprozess, im Zuge dessen Anordnungen durch die Betroffenen interpretiert und an die jeweiligen Verhältnisse angepasst werden.22 Es greift deshalb zu kurz, wenn man die SED-Diktatur als eine Form der Herrschaft beschreibt, die alle Bereiche des sozialen Lebens in der DDR durchdrungen habe und alle staatlichen sowie gesellschaftlichen Akteure nur kleine Rädchen in einem Getriebe gewesen s eien. Vielmehr sind Machträume und Herrschaftsverhältnisse näher und jeweils konkret und quellenbasiert auszuloten. Es ist nach der Reichweite des SED-Staats bzw. den Handlungsmöglichkeiten jener Bürgerinnen und Bürger zu fragen, die keinen unmittelbaren Zugang zu staatlichen Machtressourcen hatten, aber doch um ihre Rechte wussten.23 Ein praxeologisches Verständnis von Herrschaft nimmt die handelnden Akteure in den Blick und beleuchtet den Zusammenhang von Strukturen, die Handeln gleichermaßen ermöglichen und beschränken, sowie die strukturierenden Folgen sozialen Handelns.24 Auf diese Weise stehen nicht nur die Kontroll- und 21 Ebd., S. 13 f. (Hervorhebungen im Original). Zum Forschungspotenzial einer Alltagsgeschichte, die nach Formen und Praxen der Aneignung fragt, siehe Alf Lüdtke: Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? In: ders. (Hrsg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt am Main/New York 1989, S. 9 – 4 6, hier S. 12 f. 22 Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure. Oder – es hat noch kaum begonnen! In: Werkstatt Geschichte 17 (1997), S. 83 – 91, hier S. 85; ders.: Geschichte und Eigensinn. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur T heorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster 1994, S. 139 – 153, hier S. 146 f. Mit Blick auf die Verhältnisse in der DDR: Lindenberger: Alltagsgeschichte (wie Anm. 7), S. 315. 23 Thomas Lindenberger: Das Land der begrenzten Möglichkeiten. Machträume und EigenSinn der DDR-Gesellschaft. In: Deutschland Archiv, 10. 08. 2016. Abgerufen unter URL: www. bpb.de/232099, letzter Zugriff: 09. 05. 2022. 24 Thomas Welskopp: Der Mensch und die Verhältnisse. »Handeln« und »Struktur« bei Max Weber und Anthony Giddens. In: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hrsg.):
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epressionsmechanismen im Fokus, sondern die Vielfalt informeller und indiR rekter Formen von Herrschaft und damit auch jene Institutionen, in denen die Apparate und Funktionäre der Bevölkerung im Alltag gegenübertraten.25 Die soziale Praxis von Herrschaft lässt sich nur mit einem mikrohistorischen Blick auf lokalen Ebenen untersuchen. Dort fanden Aushandlungsprozesse sowohl zwischen der Machtzentrale in Ost-Berlin und den Behörden des Kreises als auch z wischen kommunaler Verwaltung und der Bevölkerung statt. In einer »Arbeitsgesellschaft«26 wie der DDR hatten die ansässigen Betriebe und ihre Betriebsdirektoren großen Einfluss. Mit ihren betrieblichen Sozial- und Kulturfonds, ihren Bauabteilungen und ihren Sonderleistungen für Infrastrukturmaßnahmen stellten sie entscheidende Ressourcen für die kommunale Entwicklung bereit und waren deshalb ein machtvoller Akteur, demgegenüber die örtlichen Verwaltungen häufig als Bittsteller auftreten mussten.27 Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften, die von ansässigen Betrieben oder Institutionen getragen wurden, vertraten die Interessen ihrer Klientel auch gegen politische Leitlinien und in Auseinandersetzung mit staatlichen Behörden.28 Blickt man auf die Betriebsebene, so fällt die relativ starke Verhandlungsmacht der Arbeiterschaft auf, die vielfach auch eine Folge der Erfahrungen des 17. Juni 1953 und der in der SED tief sitzenden Angst vor einem Protest der Arbeiterinnen und Arbeiter war.29 Die Grundorganisationen der SED fungierten hier als Vermittler zwischen Parteiführung und der Belegschaft. Sie konnten Herrschaft nicht durchsetzen, sondern allenfalls die aktuelle Parteilinie erklären, sich als Problemlöser engagieren und als Adressat für angestauten Frust anbieten. Die Grundorganisationen der SED lassen sich somit nicht eindeutig verorten, sie waren weder staatlicher noch Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 39 – 70; ders.: Die Dualität von Struktur und Handeln. Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie als »praxeologischer« Ansatz in der Geschichtswissenschaft. In: Andreas Suter/ Manfred Hettling (Hrsg.): Struktur und Ereignis. Göttingen 2001 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 19), S. 99 – 119. 25 Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen (wie Anm. 17), S. 23. 26 Lüdtke: Die DDR als Geschichte (wie Anm. 14), S. 7. 27 Neckel: Das lokale Staatsorgan (wie Anm. 2), S. 257 f. 28 Vgl. Christian Rau: Stadtverwaltung im Staatssozialismus: Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957 – 1989). Stuttgart 2017, S. 285 – 292. Siehe auch den Beitrag von Christian Rau in diesem Band. 29 Vgl. Francesca Weil: Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit. Zwei sächsische Betriebe in der DDR während der Honecker-Ära. Köln/Weimar/Wien 2000; Renate Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR -Betrieb. Köln/Weimar/Wien 2005. Zur Relevanz des 17. Juni für die Wahrnehmung der Arbeiterschaft durch die SED vgl. Lutz Niethammer: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin 1991, S. 54 – 58.
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gesellschaftlicher Akteur, sondern hatten eine Transmissionsfunktion, welche die Kommunikation zwischen der Parteiführung und den politisch nicht organisierten Bevölkerungsteilen regeln sollte.30 Inwieweit war eine Gesellschaft, die staatlich verfasst und eng mit staatlichen Strukturen verflochten war, lediglich eine »staatliche Veranstaltung«?31 Zweifellos gab es einen Arkanbereich politischer Herrschaft, der den meisten Menschen nicht zugänglich war. Doch der Grenzverlauf zwischen den Arenen exklusiver SED-Herrschaft und dem sozialen Nahbereich war nicht immer eindeutig.32 Formelle und informelle Strukturen griffen ineinander, so dass die Grenzen immer wieder neu ausgelotet werden mussten und zum Teil auch modifiziert werden konnten.33 Gesellschaft konstituierte sich in der DDR, indem die Menschen politische Konformität mit der Verfolgung eigener Interessen, der Wahrnehmung sozialer Chancen und dem Aufbau sozialer Netzwerke verbanden. Ein konstituierendes Element dieser Gesellschaft war die marktwirtschaftlich funktionierende Schattenwirtschaft, die staatsunabhängig war und zugleich doch von staatlichen Ressourcen lebte sowie staatliche Akteure mit einbezog.34 Und diese ließen sich nicht nur bereitwillig einbeziehen, sondern nutzten ihre staatliche Stellung aktiv und kreativ zur Selbstbereicherung.35 Zwischen der allzuständigen Partei und der kommunalen Gesellschaft entstand ein dichtes Netzwerk klientelistischer Beziehungen. Loyalität und Partizipation wurden gegen 30 Vgl. Sabine Pannen: Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED-Partei basis 1979 – 1989. Berlin 2018. Siehe auch den Beitrag von Sabine Pannen in diesem Band. Im Hinblick auf spezifische Milieus hatten auch die anderen Blockparteien eine vergleichbare Transmissionsfunktion, vgl. Siegfried Suckut: Die DDR-Blockparteien im Lichte neuer Quellen. In: Jürgen Weber (Hrsg.): Der SED-Staat. Neues über eine vergangene Diktatur. München 1994, S. 99 – 199, hier S. 120. 31 Hier liegt die Definition von »staatlicher Veranstaltung« von Dietrich Geyer zugrunde, die dieser im Kontext der russischen Geschichte vorgenommen hat, vgl. Dietrich Geyer: »Gesellschaft« als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaats im 18. Jahrhundert. In: ders. (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland. Köln 1975, S. 20 – 52. Siehe dazu auch die Einleitung in diesem Band. 32 Lindenberger: Diktatur der Grenzen (wie Anm. 17), S. 31. 33 Detlef Pollack: Sozialstruktur und Mentalität in Ostdeutschland. In: Archives européenes de sociologie 32 (1991), S. 381 – 391, hier S. 384. 34 Dorothee Wierling: Die DDR als Fall-Geschichte. In: Ulrich Mählert (Hrsg): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Berlin 2016, S. 205 – 213, hier S. 210. 35 So zum Beispiel die Volkspolizisten an der Transitautobahn, die ihren Lebensalltag durch freiwillige oder erpresste »Geschenke« bei der Kontrolle von westdeutschen Transitreisenden aufbesserten. Vgl. Axel Dossmann: »Wer ist wer?« Feindaufklärung an den Transitautobahnen in der DDR. In: traverse 11 (2004), S. 85 – 99, hier S. 90 f.
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knappe Ressourcen und soziale Bevorzugung getauscht. Persönliche Beziehungen subsituierten sachliche Funktionsmängel, informelle Lösungen zog man bürokratischen Verfahren vor. Die staatliche wurde somit eng mit der privaten Sphäre verwoben. Die fehlende Trennung von Staat und Gesellschaft reichte bis tief in den Alltag der Menschen hinein.36 Wenn man vor dem Hintergrund dieser engen Verflechtung von Staat und Gesellschaft nach einer Gesellschaft jenseits des Staates fragt, dann wird man zwangsläufig nur auf jene Akteure stoßen, die sich mit ihrem Engagement bewusst und unter Inkaufnahme der zum Teil harten Konsequenzen vom Herrschafts anspruch der SED distanzierten. Oppositionsgruppen und die seit den 1970er Jahren aufkommende Bürgerrechtsbewegung entsprechen am ehesten dem Idealtyp einer Gesellschaft als staatsfernem Raum. Allerdings zählte nur ein sehr kleiner Teil der DDR-Bevölkerung zu diesen Gruppen. Ein sozialanthropologischer Blick auf die DDR-Gesellschaft sollte sich deshalb nicht nur auf die Widerspenstigkeit der Dissidenz richten, weil er sonst in einer Ethnologie der Unangepasstheit steckenbliebe – wie Lutz Niethammer zu bedenken gegeben hat.37 Wenn man darüber hinaus gesellschaftliche Partizipation in den Blick bekommen möchte, dann muss man nach Möglichkeiten und Formen der Teilhabe innerhalb oder am Rande staatlicher Strukturen fragen, also in den Parteien, in den Massenorganisationen und auch innerhalb der staatlichen Behörden. Hier stößt man auf Grenzgänger, die sowohl im Staat als auch in der Gesellschaft agierten. Sie vermittelten beiderseits der Grenze und versuchten zugleich ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger von Grenzverletzungen abzuhalten.38 Im betrieblichen Alltag transportierten etwa die Vertrauensleute des FDGB Herrschaftsanliegen und vertraten Belegschaftsinteressen gleichermaßen: Sie waren für ein gutes Betriebsklima verantwortlich, pufferten Konflikte ab, leiteten die Stimmung der Mitglieder weiter und wurden mitunter zu Disziplinierungsmaßnahmen herangezogen. Es ist schlechterdings nicht möglich, sie unter diesen Bedingungen klar dem Staat oder den Arbeitskollektiven bzw. der Belegschaft zuzuordnen.39 Selbst ein Dorfpolizist versah seinen Dienst tendenziell in Übereinstimmung sowohl mit den staatlichen Vorgaben als auch den Vorstellungen der Dorfgemeinschaft, da er selbst einen Alltag in dieser Gemeinschaft hatte. Die SED beklagte sich infolgedessen regelmäßig über das »Versöhnlertum«, das unter 36 Neckel: Das lokale Staatsorgan (wie Anm. 2), S. 259 und S. 262. 37 Lutz Niethammer: Einleitung. In: ders./Roger Engelmann (Hrsg.): Bühne der Dissidenz und Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt der späten DDR. Göttingen 2014, S. 7 – 54, hier S. 40. 38 Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen (wie Anm. 17), S. 34. 39 Vgl. Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation (wie Anm. 29), S. 324.
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den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei grassiere.40 Der Staat war auch in der DDR kein monolithischer Block. Allzu oft verliefen lokale Konflikte nicht z wischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren, sondern innerhalb des stetig wachsenden Partei- und Staatsapparats. In Gera entbrannte zum Beispiel in den frühen 1980er Jahren ein Kulturkonflikt um ein Puppentheater, weil SED -Kulturfunktionäre die Kulturpolitik für Trends der Jugendkultur öffnen wollten, Mitarbeiter des MfS diesen Öffnungs- und Integrationskurs der Partei jedoch bekämpften, da sie in der autonomen Jugendkultur eine Variation des Klassenfeindes sahen.41 Hier stand eine gesellschaftliche Initiative weder jenseits des Staates, noch war sie eine staatliche Veranstaltung. Gesellschaft war in der DDR somit vorwiegend eine lokale Veranstaltung. Ein mikrohistorischer Blick zeigt, wie sich lokale Akteure mit ihrem sozialen Umfeld arrangierten, ihre Tätigkeit mit diesem aushandelten, auf soziale Beziehungen Rücksicht nahmen oder Anpassungsleistungen erbrachten, die eine Umsetzung der politischen Absichten ermöglichten. Von einer Gleichrangigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Akteure kann hierbei nicht die Rede sein. Die Beherrschten konnten die Grenzen der Herrschaft zwar punktuell verschieben, jedoch nichts grundsätzlich an den Herrschaftsverhältnissen ändern.42 Die Menschen waren in der DDR in einem komplizierten Geflecht von Mikrobeziehungen mit der Staatsmacht verbunden. Dieses Beziehungsgeflecht konnte das Herrschaftssystem sowohl reproduzieren als auch konterkarieren. Akteure konnten eine Stellung einnehmen, die gleichzeitig im Staat und in der Gesellschaft verankert war, so dass eine klare Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft kaum zu ziehen ist.43 Das schließt nicht aus, dass die Herrschenden ihrerseits Grenzen setzten. Doch in den Bereichen, wo sie diese Grenzen nicht für alle sichtbar zogen, mussten die Menschen ihre Handlungsspielräume selbst deuten und ausloten. Um dies zu tun, ohne in Schwierigkeiten zu kommen, eigneten sie sich die Vorstellungen, Werte und Begriffe des Regimes eigensinnig an und waren dadurch in der Lage, Einfluss auf die soziale Praxis von Herrschaft zu gewinnen. 40 Vgl. Thomas Lindenberger: Der ABV als Landwirt. Zur Mitwirkung der Deutschen Volkspolizei bei der Kollektivierung der Landwirtschaft. In: ders. (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur (wie Anm. 17), S. 167 – 203, hier S. 176 – 180. 41 Vgl. Niethammer: Einleitung (wie Anm. 37), S. 40 f. 42 Christoph Boyer: Der Beitrag der Sozialgeschichte zur Erforschung kommunistischer Systeme. In: Christiane Brenner/Peter Heumos (Hrsg): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und die DDR 1948 – 1968. München 2005, S. 13 – 32, hier S. 24. 43 Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt 22011, S. 252 f.
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Es muss in der weiteren Forschung deshalb darum gehen, eigensinnige soziale Interaktionen in formellen Strukturen, die sowohl integrierend als auch herrschaftsbegrenzend wirkten, aufzuzeigen. Eigensinn wird dabei nicht als Widerspenstigkeit verstanden, sondern steht für die intrinsischen Reibungsverluste jeglicher Herrschaftspraxis. Es fordert die Herrschenden nicht heraus, sondern reproduziert herrschaftskonforme Handlungsweisen, indem sie diesen einen anderen Sinn geben als die offizielle Ideologie. Eigensinn ist somit auch eine Voraussetzung für die Stabilität von Herrschaft.44 Für diejenigen, die in der DDR eigensinnig handelten, bedeutete dies mitunter auch, sich eine widrige Umwelt anzueignen und sich stets z wischen beschämendem Mitmachen und listigem Verweigern entscheiden zu müssen.45 Die sich wandelnden Handlungsmöglichkeiten – und im Verlaufe von 40 Jahren DDR veränderten sich diese erheblich – sowie die soziale Herrschaftspraxis durch Akteure an den Schnittstellen von Staat und Gesellschaft sind Untersuchungsfelder, die Gesellschaft unter den spezifischen Bedingungen einer Diktatur sichtbar machen.
2. Gesellschaftliches Engagement in staatlichen Strukturen: Orte der Partizipation im SED-Staat Die Menschen in der DDR zeigten vielfältige Formen von Engagement und Eigeninitiative: in ehrenamtlichen Tätigkeiten, in den Basiseinheiten der Institutionenlandschaften, in der Sanierung von Altbausubstanz und nicht zuletzt in der 44 Alf Lüdtke hat das Konzept des ›Eigensinns‹ am Beispiel von Industriearbeitern um 1900 entworfen, die sich im Fabrikalltag durch eigensinniges Verhalten zwar partiell den Anforderungen der Betriebsleitung entzogen, stets aber das Funktionieren der Produktionsgemeinschaft aufrechterhielten. Der Eigensinn der Herrschaftsunterworfenen sei einerseits für die Aufrechterhaltung der Funktion eines Betriebs notwendig gewesen, denn ein Betrieb funktioniere nicht, wenn sich die Arbeiter die sozialen Beziehungen, in die sie gestellt werden, nicht aneigneten. Andererseits sei diese Aneignung auch die Quelle von Friktionen, von Fehlfunktionen gewesen, von Verlaufsstörungen und von Reibungsverlusten. Eigensinn meint somit den ›Anspruch auf einen eigenen Raum‹, wobei die Anstrengungen, »bei sich« zu sein, einhergehe mit der Anstrengung, auch »bei den anderen« zu sein. Siehe Alf Lüdtke: Lohn, Pausen, Neckereien. Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900. In: ders.: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeiter erfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993, S. 120 – 160. Zur Begriffs- und Wirkungsgeschichte dieses Konzepts siehe Thomas Lindenberger: EigenSinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 02. 09. 2014. Abgerufen unter URL: http://docupedia.de/zg/Lindenberger_eigensinn_v1_de_2014, letzter Zugriff: 09. 05. 2022. 45 Axel Dossmann: Anpassung, Distanzierung, Eigen-Sinn. Autobiographische Annäherungen an den Alltag im Sozialismus. In: WerkstattGeschichte 18 (2009), 50, S. 82 – 94, hier S. 89.
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Arbeitswelt, wo professioneller Gestaltungswille und institutionelle Gestaltungsmöglichkeiten aufeinandertrafen. Auch wenn staatssozialistische Regime nach einer staatlichen Steuerung des gesellschaftlichen Lebens strebten und Eigeninitiative grundsätzlich ablehnten, war deren Überlebensfähigkeit vom Engagement und von der Eigeninitiative der Menschen abhängig.46 Partizipation war somit erwünscht. Doch war damit nicht Mitbestimmung gemeint, sondern lediglich eine aktive, affirmative Beteiligung bei der Umsetzung politisch vorgegebener Ziele. Auch sollte dieser Einsatz innerhalb und nicht außerhalb der staatlichen Strukturen stattfinden. Es waren einerseits diese Möglichkeiten der Partizipation, die ganz wesentlich zur Integration der Menschen beitrugen und bis heute als positive Seiten der DDR erinnert werden. Andererseits konnte persönliches Engagement auch unfreiwillig sein und allein dem Selbstschutz in bestimmten staatlichen Institutionen oder sozialen Konstellationen dienen.47 Inwieweit trug all dies zum Funktionieren und zur Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft bei, so dass man von einer »partizipativen Diktatur« sprechen kann?48 Der SED-Staat war für viele DDR-Bürgerinnen und Bürger nicht allein der einschüchternd-bornierte Leviathan der Reglementierung und Repression. Er bildete auch den Rahmen für individuelles und kollektives Engagement. Innerhalb der staatlichen Strukturen erbrachten die Menschen Leistungen, befriedigten ihren Ehrgeiz und erwarben sich soziale Anerkennung.49 Ein bis zwei Millionen DDRBürgerinnen und Bürger, das sind rund 10 Prozent der Erwachsenen, waren in Massenorganisationen, politischen Parteien, regionalen und lokalen Vertretungsgremien oder im staatlichen Verwaltungs- und Wirtschaftsapparat ›aktiv‹. Ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung der DDR bekleidete irgendwann im Laufe des Berufslebens eine ehrenamtliche Funktion: in Gemeindevertretungen, Wohnungskommissionen, Elternvertretungen, Gewerkschaftsleitungen und anderen Gremien. Sie setzten sich für Problemlösungen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ein oder engagierten sich in Bereichen, die ihnen persönlich wichtig waren. Sie alle trugen zum Funktionieren der SED-Diktatur bei, lassen sich aber nicht pauschal als Repräsentanten der Staatsmacht charakterisieren.50 Stefan Wolle sieht d ieses ehrenamtliche Engagement als Ausdruck einer »Aktivitätsfalle«. Zum einen sei totale Abstinenz von gesellschaftlicher Arbeit in der 46 Lindenberger: Land der begrenzten Möglichkeiten (wie Anm. 23). 47 Zu Letzterem siehe die autobiographische Reflexion Axel Doßmanns über seinen dreijährigen Dienst in der NVA. Dossmann: Anpassung (wie Anm. 45), S. 90. 48 So Fulbrook: Ein ganz normales Leben (wie Anm. 43), S. 254. 49 Hermann Rudolph: Wie sieht das Selbstverständnis der DDR-Gesellschaft aus? In: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Die Identität der Deutschen. Bonn 1983, S. 193 – 209, hier S. 206. 50 Fulbrook: Ein ganz normales Leben (wie Anm. 43), S. 254.
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SED-Diktatur kaum durchzuhalten gewesen, zum anderen habe man der staatli-
chen Bürokratie nicht vollkommen das Feld überlassen wollen. Wer sich jedoch in seinem Wohngebiet, am Arbeitsplatz oder in den Schulen für eine Besserung der Verhältnisse habe einsetzen wollen, der »lief Gefahr, durch die Beteiligung tendenziell integriert zu werden«.51 Soziale Integration als Ergebnis einer »Aktivitätsfalle« unterstellt, dass gesellschaftliches Engagement trotz oder gegen die SED-Herrschaft stattgefunden habe und Integration letztlich nicht gewollt gewesen sei. Gesellschaftliches Engagement wurde aber keineswegs nur widerwillig geleistet. Es bot für viele ein Betätigungsfeld, auf dem Erfolg, Befriedigung und Bestätigung gesucht und gefunden wurde.52 Zudem gab es auch überzeugtes, intrinsisch motiviertes gesellschaftliches Engagement für den Sozialismus, wobei diejenigen, die sich für einen Sozialismus jenseits der SED-Doktrin einsetzten, schnell stigmatisiert, ausgegrenzt und verfolgt wurden.53 Es gehört auch zu den konstitutiven Widersprüchen der DDR, dass die SED eine Gesellschaft schaffen wollte, die durch aktive Teilhabe getragen wurde und deshalb »gesellschaftliche Aktivität« einforderte, zugleich aber jegliche eigenständige Regung misstrauisch beäugte und möglichst unterband.54 Thomas Lindenberger hat diese Vorstellung einer staatlich gelenkten Gesellschaft treffend umschrieben: Jeder sollte an dem Platz, wo ihn die SED hingestellt hatte, seinen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten, aber auch nur dort.55 Eine Partizipation, bei der sich der Einzelne mit seinen Ideen und Vorstellungen einbringen konnte, war dies nicht. Die Orte, an denen sich Menschen engagieren konnten, waren vielfältig. Die SED schuf ein ausuferndes Institutionengeflecht, das gesellschaftliche Teilhabe innerhalb der staatlichen Strukturen ermöglichte und zugleich determinierte. Die meisten Mitglieder hatten die staatlichen Massenorganisationen, von denen Ende der 1980er Jahre der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) mit 9,6 Millionen und die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) mit 51 Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 – 1989. Bonn 1999, S. 111. 52 Siehe auch jüngst die Einleitung von Thomas Lindenberger zum Themenheft Freiwilligkeit im Staatssozialismus. In: Totalitarismus und Demokratie 17 (2020), S. 147 – 156, hier S. 149 – 151. 53 Die Gleichzeitigkeit von Zustimmung und Distanz, wobei die Zustimmung auch aus der Vorliebe für das Altbekannte resultieren konnte, betonte bereits Lüdtke: Die DDR als Geschichte (wie Anm. 14), S. 11 ff. 54 Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation (wie Anm. 29), S. 15. 55 Thomas Lindenberger: Diktatur der Grenze(n). Die eingemauerte Gesellschaft und ihre Feinde. In: Hans-Hermann Hertle/Konrad Jarausch/Christoph Klessmann (Hrsg.): Mauerbau und Mauerfall. Ursachen – Verlauf – Auswirkungen. Berlin 2002, S. 203 – 213, hier S. 204.
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6,4 Millionen Mitgliedern die größten waren. Der FDJ gelang es durch politischen und sozialen Druck, am Ende der DDR über 80 Prozent der Jugendlichen organisatorisch an sich zu binden. Die Mitgliederzahlen lassen noch keine Rückschlüsse auf gesellschaftliches Engagement zu, da die überwiegende Mehrheit zur Mitgliedschaft genötigt worden war und aus Karteileichen bestand. Vielmehr ist von wenigen aktiven Mitgliedern auszugehen, denen die Massenorganisationen eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichten. Auch diese aktive Minderheit war ein Teil der DDR-Gesellschaft. Dies trifft ebenso auf die hunderttausenden hauptamtlichen Kader und Millionen Mitglieder zu, die in der SED auf den unteren Ebenen der Parteihierarchie Funktionen und Aufgaben übernahmen. Sie konnten im begrenzten Maße die Politik im regionalen und lokalen Umfeld mitgestalten.56 Engagement speiste sich auch aus politischen Überzeugungen, die eine Schnittmenge mit der Politik der SED aufwiesen und eine eigensinnige Aneignung ermöglichten. Wer seine politischen Vorstellungen zumindest partiell mit jenen der SED in Einklang bringen konnte, der konnte sich innerhalb der staatlichen Strukturen engagieren, ohne restlos im SED-Staat aufzugehen. Auch wenn s olche mit der SED sympathisierenden gesellschaftlichen Akteure weit davon entfernt waren, eine Autonomie gegenüber der herrschenden Partei zu erlangen, so war ihr Engagement doch mehr als nur eine staatliche Veranstaltung.57 Wer der SED hingegen politisch fernstand, sich aber dennoch aktiv bei der Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes einbringen wollte, der konnte dies im Rahmen der anderen Blockparteien tun. Wer sich zum Beispiel in der CDU engagierte, für den bedeutete Parteiarbeit auf lokaler Ebene zumeist, sich für die dörfliche Infrastruktur, die Renovierung der K irche 58 oder bei der Freizeitgestaltung einzusetzen. Die Aufrechterhaltung der SEDHerrschaft gehörte in diesen Fällen nicht zu den leitenden Handlungsmotiven. Jenseits der Politik boten sich am Arbeitsplatz Möglichkeiten der Teilhabe. In den Betrieben stützten sich die Gewerkschaftsleitungen nicht nur auf ihre Mitglieder und Vertrauensleute, sondern auch auf zahlreiche Kommissionen, in denen die Beschäftigten sich ehrenamtlich engagieren konnten. Diese Kommissionen dienten nicht zuletzt der Verteilung von Gütern sowie der A ushandlung von 56 Jens Gieseke: Zur Socio-Histoire von Herrschaft und Alltag im Staatssozialismus. Ein Kommentar. In: Sandrine Kott/Emmanuel Dorit (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Berlin 2006, S. 104 – 110, hier S. 105. 57 Siehe den Beitrag von Cornelia Bruhn in diesem Band zur FDJ-Singebewegung als ein Beispiel gesellschaftlichen Engagements für die SED. 58 Vgl. Bertram Triebel: Die Thüringer CDU in der SBZ/DDR – Blockpartei mit Eigeninteresse. Sankt Augustin, Berlin 2019, S. 99 – 102. Siehe auch den Beitrag von Bertram Triebel in diesem Band.
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betrieblichen Konflikten, wie etwa die Wohnungskommission, die Ferienkommission oder Arbeitsschutzkommission.59 Ehrenamtliche Funktionärinnen und Funktionäre arbeiteten auch in den Konfliktkommissionen in den Betrieben, in den Schiedsgerichten der Bezirke und in den Kommissionen für Ordnung und Sicherheit. Dort wurde nicht zuletzt sozial abweichendes Verhalten verhandelt und mitunter auch sanktioniert. Insbesondere gegenüber Menschen, deren Verhaltensweisen den Normvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft widersprachen, wurden »erzieherische Maßnahmen« befürwortet oder gar angeregt.60 Ehrenamtliches Engagement konnte somit auch Teilhabe an staatlicher Repression bedeuten. Es entsprach dem Gesellschaftsverständnis der SED, dass die Menschen sich auch nach Feierabend für die sozialistische Gemeinschaft einbringen sollten. Unter dem Titel »Mach mit! – Schöner unsere Städte und Gemeinden« gab es seit 1967 eine Kampagne der Nationalen Front, an der sich zahlreiche Menschen beteiligten. Die Kampagne verfolgte das Ziel, dass sich die Menschen in ihrer Freizeit für die Gesellschaft engagierten und damit auch ihre Verbundenheit mit dem sozialistischen Aufbau demonstrierten. Innerhalb dieses staatlichen Rahmens fanden sich lokale Interessengemeinschaften zusammen, um das eigene Dorf oder den eigenen Wohnblock zu verschönern, lokale Infrastruktur zu reparieren oder sich für den Umweltschutz einzusetzen. Hier trafen sich Gleichgesinnte, die sich im Interesse der jeweiligen Gemeinschaft engagierten und sich an Leitkategorien wie ›Sauberkeit‹ und ›Ordnung‹ orientierten.61 Manche nutzten den staatlichen Rahmen auch dazu, individuelle Anliegen zu verfolgen. Die SED nahm ein solches Engagement als Loyalitätsbeweis hin, solange es in der Sprache der Partei begründet wurde.62 Der – zumal im Kalten Krieg nicht zu unterschätzende – Minimalkonsens z wischen SED und Bevölkerung beruhte durchaus auf gemeinsamen Wertorientierungen und politischen Zielen: Frieden, soziale Sicherheit und wachsender Wohlstand waren die zentralen Bestandteile dieser gemeinsamen politischen 59 Zur betrieblichen Praxis dieser Kommissionen siehe Weil: Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit (wie Anm. 29), S. 98 – 107. 60 Vgl. Sandrine Kott: Die ›Arbeiterklasse an der Macht‹: Die Geschichte der DDR aus der Randperspektive. In: Belinda Davis/Thomas Lindenberger/Michael Wildt (Hrsg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen, Frankfurt am Main/New York 2008, S. 458 – 473, hier S. 464. 61 Zu den Formen kultureller Orientierung siehe Lüdtke: Die DDR als Geschichte (wie Anm. 14), S. 14 f. 62 Zur sozialen Praxis der ›Mach-mit!‹-Wettbewerbe siehe Jan Palmowski: Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag. Berlin 2016, S. 165 – 201.
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Vorstellungen.63 Es war darüber hinaus möglich, eigene Interessen zu verfolgen, mitunter sogar eine eigene Rationalität zu entwickeln und Bündnisse mit staatlichen Akteuren einzugehen. Engagement für Umweltschutz fand sowohl im Rahmen der 1980 unter dem Dach des Kulturbundes gegründeten Gesellschaft für Natur und Umwelt als auch jenseits des Staates in lokalen Umweltgruppen statt, die sich häufig unter dem Dach der Kirchen organisierten.64 Mitunter führte das Engagement für staatlich legitimierte Ziele zu ungewöhnlichen Bündnissen. Ende Oktober 1988 begannen zum Beispiel einige Studierende der Jenaer Universität, die Aktion Ambulancia ins Leben zu rufen.65 Sie sammelten Spenden für einen Krankenwagen, der einem Krankenhaus in Nicaragua geschenkt werden sollte. Solidarität mit Nicaragua lag ganz auf der politischen Linie der SED . Allerdings sollte diese auch staatlich kontrollierbar sein. Die Initiatoren der Aktion waren Studenten der Sektion Staats- und Rechtswissenschaften und strebten den Beruf des Staatsanwalts an. Ihr Vorhaben wies zwei Besonderheiten auf. Zum einen organisierten sie die Sammlung ganz bewusst jenseits der Organisationsstrukturen der FDJ , zum anderen hatten sich einige Studierende der Theologie dem Projekt angeschlossen. Diese drängten darauf, die Sammlung für die Spendengeber transparent zu gestalten, das heißt: Alle sollten die Höhe ihrer Spende selbst bestimmen und auch wissen, wofür die Gelder verwendet würden. Deshalb wollten sie ihre Initiative selbst koordinieren. Zu Beginn entwickelte sich die Sammlung sehr erfolgreich. Bis zum Frühjahr 1989 war es gelungen, mit öffentlichen Veranstaltungen, durch gespendete Honorare der auftretenden Künstlerinnen und Künstler, durch Arbeitseinsätze und durch Verkaufsbasare knapp 28.000 Mark zu sammeln. Gleichzeitig stellte ein selbst herausgegebenes Informationsblatt die angestrebte Transparenz her und warb für die Sammlungsaktion. Genau dadurch war aus Sicht der staatlichen Organe jedoch eine Grenze überschritten worden. Sowohl die Zusammenarbeit mit den als feindlich deklarierten Studierenden der Theologie als auch die überregionale Vernetzung durch das Informationsblatt galten diesen als Sakrileg. Universitätsleitung und Partei übten nun Druck auf die angehenden Juristen aus, 63 Lindenberger: Land der begrenzten Möglichkeiten (wie Anm. 23), S. 3. 64 Vgl. Tobias Huff: Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR. Göttingen 2015; Christian Möller: Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur. Göttingen 2020. Siehe auch die Beiträge von Tobias Huff und Christian Möller in diesem Band. 65 Zu folgendem Fallbeispiel vgl. Katharina Lenski: Zwischen System und Solidarität: ›Ambulancia – ein Krankenwagen für Nicaragua‹. Studierende und Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR . In: Robert Gramsch/Tobias Kaiser (Hrsg.): Engagement und Ernüchterung. Jenaer Studenten 1988 bis 1995. Jena 2009, S. 47 – 75.
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sich von ihren theologischen Mitstreitenden zu trennen und die ganze Aktion als Projekt der FDJ weiterzuführen, und die Staatssicherheit instruierte die angehenden Stasi-Offiziere unter den Jurastudenten, ihre Kommilitonen stärker zu überwachen und die Trennung derselben von den angehenden Theologinnen und Theologen zu erreichen. Schließlich sollte die Aktion durch Partei, FDJ und Universitätsleitung übernommen werden. Als auch dies scheiterte, eröffnete die Staatssicherheit einen Operativen Vorgang und die Universitätsleitung brachte die angehenden Juristen durch Sanktionen wieder ›auf Linie‹. Ohne die Friedliche Revolution wäre das ganze Projekt vermutlich im Sande verlaufen und der Krankenwagen wäre nie nach Nicaragua gelangt. Die Gründe für diese staatliche Intervention lagen darin, dass die Akteure sich über Grenzen hinweggesetzt hatten, als sie ein Feindbild ignoriert und das Inszenierungsmonopol des Staates unterlaufen hatten. Mit der Disziplinierung wird das tiefe Misstrauen der SED gegenüber jeglichen gesellschaftlichen Eigeninitiativen sichtbar. Die Jurastudenten wiederum glaubten, systemkonform zu agieren, und hofften, den Konflikt durch eine Eingabe an Erich Honecker aus der Welt schaffen zu können. Die künftigen Staatsanwälte zeigten gesellschaftliches Engagement, agierten dabei systemimmanent und wurden zu potenziellen Feinden stigmatisiert sowie zum Objekt – und teilweise auch Subjekt – der Ermittlungen von Seiten der Staatssicherheit. Gesellschaftliches Engagement speiste sich darüber hinaus auch aus unpolitischen Gründen. Die unterschiedlichen Praktiken des Mit- und Selbermachens zeugen von der hohen Bereitschaft der Menschen, sich dann in ihrer Freizeit zu engagieren, wenn sie sich einen konkreten Nutzen von ihrer eingebrachten Arbeitsleistung versprachen. Dies war nicht auf die private Herstellung von Konsumgütern begrenzt, die in der Mangelgesellschaft nur schwer zu bekommen waren, sondern erstreckte sich auch auf Wohnungsreparaturen, wenn bauliche Eigenleistungen die Chancen auf einen eigenen Wohnraum erhöhten.66 Ordnung, Stabilität und Berechenbarkeit lagen nicht nur im Interesse der SED, sondern auch im Interesse der Menschen. Staat und Gesellschaft gingen in der DDR überall dort vielgestaltige Arrangements ein, wo sie Interessen teilten.67 Und es gab ein stillschweigendes Abkommen, dass aktiver Einsatz für die DDR mit kleineren Privilegien belohnt wurde. Dort, wo Letzteres ausblieb, beschwerten sich die 66 Zu den Praktiken des Selbermachens siehe Reinhild Kreis: Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters. Frankfurt am Main/New York 2020, S. 374 – 412. Zur Instandhaltung von Wohnungen durch ›Bevölkerungsleistungen‹ siehe den Beitrag von Christian Rau in diesem Band. 67 Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen (wie Anm. 17), S. 30.
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Betroffenen nicht selten mit empörten Eingaben, in denen sie ihre Leistungen der fehlenden Anerkennung durch den Staat (zum Beispiel in Form der Zuteilung einer Datscha) entgegenstellten.68 Die SED bestand auf eine staatliche Rahmung jeglichen gesellschaftlichen Engagements nicht nur deshalb, weil sie den Menschen misstraute, sondern auch, weil sie die staatliche Inszenierung von Partizipation zur Legitimation ihrer Herrschaft nutzte. Die permanente Mobilisierung der Massen suggerierte und inszenierte die Identität von Volk und Führung. Der oktroyierte Konsens zwischen ›Avantgarde und Massen‹ war allerdings keine reine Inszenierung der Herrschenden, sondern basierte auf Perzeptionshaltungen und Orientierungsmustern, welche die Menschen im Laufe der Zeit gelernt hatten, ja lernen mussten, um innerhalb der staatlichen Strukturen zu agieren.69 Wer sich am Arbeitsplatz oder im gesellschaftlichen Leben einbringen wollte, der musste nicht nur den Führungsanspruch der herrschenden Partei anerkennen, sondern auch an deren Inszenierung von Wirklichkeit sowie an dem proklamierten Konsens von Herrschenden und Beherrschten teilhaben.70 Dazu genügte es aber nicht, in einer Art Mimikry in den Worten und Begriffen der Herrschenden zu sprechen. Wer etwas bewirken wollte, der musste sich wohl oder übel das herrschende Deutungs- und Wertesystem aneignen und d ieses mit dem eigenen wenigstens partiell in Einklang bringen. Wer bereit war, die herrschenden Dogmen zu akzeptieren, der konnte innerhalb des Diskurses seine eigenen Interessen verfolgen.71 Das Verhältnis der Menschen zum Staat geht somit nicht in Strategien des Ausweichens und Anpassens auf, vielmehr gehörten zu den Handlungsmustern auch Formen des Aneignens und Ausnutzens. Partizipation war somit eine Handlungsoption, die den Menschen gerade auf lokaler und regionaler Ebene auch in der SEDDiktatur offenstand. Spätestens Mitte der 1980er Jahre verlor die SED zusehends die Folgebereitschaft der gesellschaftlichen Unterstützergruppen. In den Betrieben waren es die ehrenamtlichen Vertrauensleute des FDGB, die im Zuge der D elegitimierung der SED ein Selbstbewusstsein gegenüber dem Parteistaat entwickelten und 1989 68 Fulbrook: Ein ganz normales Leben (wie Anm. 43), S. 255 ff. 69 Martin Sabrow: Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive. In: Konrad H. Jarausch/ders. (Hrsg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR. Göttingen 1999, S. 83 – 118, hier S. 90 f. 70 Martin Sabrow: Die Diktatur des Paradoxons. Fragen an die Geschichte der DDR. In: Hans-Günter Hockerts (Hrsg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 153 – 174, hier S. 174. 71 Siehe zu dieser performative shift Alexei Yurchak: Everything was forever, until it was no more. The last Soviet generation. Princeton 2005, S. 18 – 29.
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zu Protagonisten des Wandels wurden.72 1988/1989 waren auch die SED-Mitglieder und Funktionäre auf Kreisebene immer weniger bereit, der Parteiführung zu folgen. Die zunehmenden Massenproteste, wozu neben den Demonstrierenden des Herbstes 1989 auch die Ausreisebewegung in den langen 1980er Jahren zählte, entlarvte den inszenierten Konsens von Partei und Volk und machte den Herrschaftsverlust der SED für alle sichtbar – und ermutigte zum Ansprechen der Probleme als auch der Verzweiflung. Indem sich die Massen im Herbst 1989 von der SED emanzipierten, traten Staat und Gesellschaft in der DDR wieder auseinander.
3. Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung: Formen und Grenzen sozialer Integration Die partizipativen Möglichkeiten in die SED -Diktatur sind bislang vor allem hinsichtlich ihrer Disziplinierungsfunktion untersucht und nur selten als Faktor von Vergesellschaftung in der Diktatur verstanden worden. Alltagsgeschichtliche und mikrohistorische Studien haben inzwischen jedoch hinlänglich gezeigt, dass Vergesellschaftung in der DDR möglich war.73 Gesellschaftliches Engagement speiste sich wesentlich aus eigenen Interessen und Bedürfnissen. Verstehen wir mit Max Weber »Vergesellschaftung« als eine soziale Beziehung, wenn soziales Handeln auf gemeinsamen Interessen beruht oder einen Interessenausgleich anstrebt,74 dann trifft dies auf ein Engagement zur Verbesserung der eigenen Lebenswelt zu. Menschen haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam ihre lokalen, betrieblichen oder individuellen Interessen zu vertreten. Kennzeichen der SED-Diktatur war, dass eine s olche Interessenvertretung innerhalb der vorgegebenen staatlichen Strukturen erfolgen sollte und keinesfalls auf gesamtstaatlicher Ebene, sondern nur in den untersten Segmenten der Institutionenebenen. Die Folge war nach Thomas Lindenberger eine Verinselung der weitgehend auf sich gestellten Partizipationsräume. Es habe keine übergreifende Instanz gegeben, die diese weit verstreute Partizipation gebündelt und zu politischer Wirksamkeit verholfen habe – mit Ausnahme der K irchen in den letzten Jahren der DDR. Die Gesellschaft in der DDR sei nicht abgestorben oder stillgelegt, sondern vor allem begrenzt gewesen. Dort, wo die Verhältnisse überschaubar gewesen s eien, hätten 72 Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation (wie Anm. 29), S. 16. 73 Vgl. Thomas Lindenberger: Ist die DDR ausgeforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer Ausblick. In: APuZ 64, 24 – 26 (2014), S. 27 – 32, hier S. 28. 74 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 19), S. 21 ff.
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die Menschen Regelungskompetenzen gehabt. Schon die Grenze nach oben zur Kreis- oder Bezirksebene sei jedoch weitgehend undurchlässig gewesen. Um diese kleinen Einflusszonen zu s chützen, hätten die Menschen ihrerseits dafür gesorgt, deren Grenzen aufrechtzuerhalten. »Eindringlinge« von oben s eien als Funktionsstörung und Bedrohung der untersten Einheit empfunden worden. Soziale Differenzierung habe wiederum nur auf dieser untersten Ebene stattgefunden, es habe sich eine Gesellschaft en miniature herausgebildet.75 Staat und Gesellschaft treten auch in dieser Analyse als zwei abgegrenzte Sphären auf, wobei die Grenzen nun zwischen den untersten und den unteren Organisationseinheiten des Staats verlaufen. Jeder, der sich in der DDR gesellschaftlich engagierte, war zu einer permanenten Beziehungsarbeit gezwungen: Er musste ein Netzwerk persönlicher Kontakte und seine do-ut-des-Verhältnisse pflegen.76 Vergemeinschaftung war somit eine Notwendigkeit für gesellschaftliches Engagement. Max Weber unterschied zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung. »Vergemeinschaftung« war demnach eine soziale Beziehung, wenn die Einstellung des sozialen Handelns auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruhte.77 Betrachtet man das gesellschaftliche Engagement in den begrenzten Partizipationsräumen, dann stößt man regelmäßig auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl der handelnden Akteure. Ihr Engagement war zwar interessengeleitet, ließ sich jedoch nur im sozialen Nahbereich verwirklichen und war deshalb auch durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl geleitet. Vergesellschaftung fand in der DDR somit im Modus der Vergemeinschaftung statt. Vergemeinschaftung wirkte wiederum einer Atomisierung der Gesellschaft entgegen und war eine Triebfeder gesellschaftlichen Engagements. Die soziale Praxis gesellschaftlichen Engagements förderte in allen Organisationen aktiv das Zusammengehörigkeitsgefühl. In einer Blockpartei wie der CDU war das Feiern ebenso ein zentraler Bestandteil wie das Erörtern politischer Fragen, auf Kreisebene hatten Parteiveranstaltungen sogar häufig den Charakter von Zusammenkünften im Freundeskreis.78 Viele FDGB-Vertrauensleute sahen
75 Lindenberger: Diktatur der Grenzen (wie Anm. 17), S. 31 – 36. 76 Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus (wie Anm. 13), S. 106. 77 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 19), S. 21 ff. Zu weiteren Bedeutungen von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung in begriffsgeschichtlicher Perspektive siehe M anfred Riedel: Artikel Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 801 – 862. 78 Siehe den Beitrag von Bertram Triebel in diesem Band.
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die Gewerkschaftsgruppe als eine Art Verein an, w elchen man wegen der Geselligkeit und der guten Beziehungen pflegte.79 Ein Ort der betrieblichen Vergemeinschaftung war die Brigade. Sie umfasste als kleinste betriebliche Einheit 15 bis 25 Kolleginnen und Kollegen. Formal war sie eine Organisationseinheit im sozialistischen Wettbewerb und eine Interessenvertretung gegenüber der Betriebsleitung, im Betriebsalltag war sie aber nicht zuletzt eine Feier- und Freizeitgemeinschaft.80 Die Akzeptanz in der Gruppe stand in einem engen Zusammenhang mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl. Es reichte nicht aus, bei einem gesellschaftlichen Projekt seine Bereitschaft zum Engagement zu erklären, man musste von den anderen auch als Teil der Gemeinschaft akzeptiert werden. Wer bei einem Arbeitseinsatz im Rahmen der ›Machmit!‹-Kampagne in Anzug und Krawatte erschien, der konnte als ›Spinner‹ weggeschickt werden, weil er nicht in die Gemeinschaft passe.81 Gemeinschaftsstiftend war auch die Abgrenzung nach außen. Die CDU sah sich als eine Vereinigung von Christen in einem atheistischen Staat und pflegte d ieses Sonderbewusstsein, insbesondere auf den unteren Ebenen der Parteigremien.82 Die Sozialwissenschaften sehen Partizipation als einen wesentlichen Faktor von sozialer Integration an.83 Der Befund, dass es Möglichkeiten und Formen der politischen und kulturellen Partizipation in der DDR gab, führt somit zu der Frage, inwieweit und in welcher Weise diese zur Integration in die Gesellschaft der DDR und insofern auch zur Stabilisierung von Staatlichkeit beitrugen. Gesellschaftliche Teilhabe setzt nicht zwangsläufig die Akzeptanz der herrschenden Normen voraus. Soziales Handeln orientiert sich vielmehr an den Handlungsmöglichkeiten, die sich in der jeweiligen Situation anbieten. Wenn eine Person trotz dieser Auswahl an Möglichkeiten in verschiedenen Situationen immer wieder normenkonform handelt, dann aus dem Grund, dass sie sich daraus den größten Nutzen verspricht. Allein die individuelle Nutzenmaximierung kann demnach zur sozialen Integration beitragen. Auf der anderen Seite kann eine mangelnde Befriedigung von Interessen zur Desintegration und zum 79 Vgl. Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation (wie Anm. 29), S. 183. 80 Vgl. Jörg Roesler: Die Produktionsbrigaden in der Industrie der DDR . Zentrum der Arbeitswelt? In: Kaelble u. a. (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR (wie Anm. 3), S. 112 – 117. 81 Ein typisches Fallbeispiel schildert Palmowski: Die Erfindung der sozialistischen Nation (wie Anm. 62), S. 194 f. 82 Vgl. Triebel: Die Thüringer CDU (wie Anm. 58), S. 95 f. Siehe auch den Beitrag von B ertram Triebel in diesem Band. 83 Alfons Bora: ›Partizipation‹ als politische Inklusionsformel. In: Christoph Gusy/ Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel. Frankfurt am Main/New York 2005, S. 15 – 34, hier S. 15.
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sozialen Konflikt führen.84 Eine interessengeleitete Partizipation innerhalb des staatlichen Institutionengefüges der DDR trug zur sozialen Integration in die SED-Diktatur bei, auch wenn man die Normen und Werte der SED nicht oder nur partiell teilte. In den 1980er Jahren führten die Enttäuschung von Partizipationserwartungen aufgrund fehlender Aufstiegsperspektiven und das Ausbleiben von Reformen nach dem Vorbild Gorbatschows die Grenzen der Partizipation immer deutlicher vor Augen. Dies beförderte die Desintegration weiter Teile der Bevölkerung im Laufe der 1980er Jahre.85 Die SED-Diktatur war so lange stabil, wie die Partizipationserwartungen und Partizipationsmöglichkeiten nicht zu weit auseinanderklafften. Als weite Teile der Bevölkerung gesellschaftliche Teilhabe als sinnlos erachteten, kam die soziale Integration durch eine staatlich gesteuerte und beschränkte Vergesellschaftung an ihr Ende. Ihre Langzeitwirkung entfaltete jene Vergesellschaftung im Modus der Vergemeinschaftung in einem Gefühl des Verlustes von gesellschaftlichem Zusammenhalt, da im vereinten Deutschland Vergesellschaftung weit weniger gemeinschaftsstiftend ist.86 Die Erfahrungen sozialer Integration schlagen sich zwangsläufig in der autobiographischen Erzählung über die DDR nieder und haben damit nicht zuletzt eine erinnerungskulturelle Relevanz. Die Geschichtswissenschaft hat in ihren Darstellungen der DDR die Erfahrungen sozialer Integration bislang zu wenig berücksichtigt.87 Dies ist ein wesentlicher Grund für das Auseinanderklaffen von privater Erinnerung und öffentlicher Repräsentation der DDR. Es geht 84 Ralf Dahrendorf: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts. In: Wolfgang Zapf (Hrsg.): Theorien des sozialen Wandels. Köln/Berlin 1969, S. 108 – 123. 85 Zum Generationenstau in der DDR siehe Lutz Niethammer: Annäherung an den Wandel. Auf der Suche nach der volkseigenen Erfahrung in der Industrieprovinz der DDR. In: BIOS 1 (1988), S. 19 – 66. Siehe dazu auch den Beitrag von Cornelia Bruhn in diesem Band. 86 Sozialwissenschaftliche Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Ostdeutschen bis heute das »Zusammengehörigkeitsgefühl« zu den positiven Dingen in der DDR zählt, vgl. Heinrich Best u. a.: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Thüringen im 25. Jahr der deutschen Einheit – Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2015, S. 29 – 48. Abgerufen unter URL: https:// www.landesregierung-thueringen.de/fileadmin/user_upload/Landesregierung/Landesregierung/Thueringenmonitor/thuringen-monitor_2015.pdf, letzter Zugriff: 09. 05. 2022. Diese Ergebnisse bestätigte der Thüringen-Monitor 2017, siehe Heinrich Best u. a.: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Thüringens ambivalente Mitte: Soziale Lagen und politische Einstellungen. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2017, S. 107 – 108. Abgerufen unter URL: https://www.landesregierung-thueringen.de/fileadmin/user_upload/Landesregierung/Landes regierung/Thueringenmonitor/thuringen-monitor_2017_schlussfassung.pdf, letzter Zugriff: 22. 07. 2022. 87 Die Oral History hat hingegen Wege gefunden, die integrativen Faktoren der DDR aufzuzeigen, siehe Niethammer: Die volkseigene Erfahrung (wie Anm. 29); Dorothee Wierling:
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also auch darum, erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen des DDR-Alltags, die bislang unterrepräsentiert sind, mehr Gewicht zu verleihen.
4. Fazit Die sozialistische Gesellschaft war nicht stillgelegt, und sie war auch keine staatliche Veranstaltung. Zwar griff der Staat in alle gesellschaftlichen Bereiche ein und begrenzte jegliche Formen der Selbstorganisation. Gleichzeitig wuchs die Bedeutung von sozialen Beziehungen auch innerhalb der staatlichen Institutionen, so dass Staat und Gesellschaft symbiotisch miteinander verbunden waren. Allerdings addierten sich die zahllosen gesellschaftlichen Aktivitäten auf der Mikroebene nicht zu einer Gesellschaft auf der Makroebene, und genau hierin besteht der fundamentale Unterschied zu demokratisch verfassten Gesellschaften.88 Trotzdem trugen die Formen der Partizipation zur Integration des Einzelnen in die Gesellschaft der DDR bei, da sie trotz klarer Grenzen die Gelegenheit boten, sich mit anderen gemeinsam für bestimmte Interessen einzusetzen. Die Charakterisierung der DDR als ›partizipative Diktatur‹ ist allerdings insofern irreführend, da hier die Partizipation als freiwilliger Dienst zum Erhalt der Diktatur beschrieben wird. Die Motive vieler, die sich engagierten, speisten sich allerdings aus Interessen und Wertvorstellungen, die jenseits der SED-Diktatur bestanden und zur Stabilität einer jeden Gesellschaftsordnung beitrugen. Als im Zuge der Friedlichen Revolution und des deutschen Vereinigungsprozesses die staatlichen Strukturen der SED -Diktatur wegbrachen und zahlreiche Betriebe schlossen, verschwand auch jene für die DDR spezifische Form der Vergesellschaftung. Soziale Netzwerke verloren in der Konsumgesellschaft ihre Bedeutung oder transformierten sich in Geschäftsbeziehungen. Gleichzeitig brachte die Selbstdemokratisierung der DDR neue Arenen und neue Formen der Vergesellschaftung hervor, die sich nach dem Beitritt zum Bundesgebiet weiter ausdifferenzierten. Vergemeinschaftung war nun nicht länger konstitutiv für Vergesellschaftungsprozesse. Die staatssozialistische Erfahrung hat die gesellschaftlichen Vorstellungen der Menschen geprägt. Dabei hatten die angelernten Verhaltensweisen im Staatssozialismus einen nachhaltigeren Einfluss auf die Wertvorstellung von Ostdeutschen als die staatliche Propaganda. Die Menschen hatten in der DDR Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR – Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002. 88 Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus (wie Anm. 13), S. 106 – 109.
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gelernt, politische Konformität mit der Verfolgung eigener Ziele, mit der Wahrnehmung sozialer Chancen sowie mit der Schaffung privater Nischen und sozialer Netzwerke zu verbinden. Zu diesen erlernten sozialen Praktiken gehörten auch staatsunabhängige, marktwirtschaftlich geprägte Tauschbeziehungen, die von staatlichen Ressourcen lebten und staatliche Akteure einbezogen.89 Das Verhältnis der Ostdeutschen zum Staat, das gleichermaßen von Distanz und einer Erwartungshaltung geformt ist, sowie die Vorstellung von Gesellschaft als einer Vertrautheits- und Nahbeziehungsgemeinschaft sind mentale Prägungen, die bis heute nachwirken.90
89 Wierling: Die DDR als Fall-Geschichte (wie Anm. 34), S. 209 f. 90 Vgl. Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin 2019, S. 220.
Herrschaft als soziale Praxis: Akteure und Formen der politischen Partizipation im SED-Staat
Sabine Pannen
Parteileben im Betriebsalltag Die SED-Grundorganisation als gesellschaftliche Steuerungsinstanz
Heute erinnert nur noch wenig an den einstigen Koloss, der bis zu seiner Stilllegung 1993 den Lebensrhythmus vieler Einwohner in der Stadt Brandenburg an der Havel vorgab. Hinter den verbliebenen Mauern des alten Stahl- und Walzwerkes hält ein Industriemuseum die Erinnerung an das einst lärmende und qualmende Werk mit seinen zwölf Siemens-Martin-Stahlöfen wach, das bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle in der Rüstungsproduktion einnahm und seit den 1950er Jahren zum größten Rohstahlproduzenten der DDR avancierte. Das Werk war industrielles Herz des Bezirks Potsdam und mit zuletzt fast 10.000 Beschäftigten größter Arbeitgeber und Lebensader der Stadt. Seine Schornsteine fanden sich sogar im Wappen der so genannten Stahlstadt wieder.1 Brandenburger und Zugezogene hielten im Schichtdienst am Stahlofen, an den Walzen, im Betriebskindergarten oder auch in der Exportabteilung den Betrieb am Laufen. Für sie war das Werk jedoch nicht nur Arbeitgeber. Es war, wie auch andere Betriebe in der DDR, Ort für die Herrschaftsausübung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die sowohl durch ihre vielen einfachen Mitglieder als auch durch einen eigenen Parteiapparat mit hauptamtlichen Funktionär*innen im Werk präsent war. Denn als ›Partei neuen Typs‹ waren die Mitglieder der SED nicht in Ortsgruppen, sondern an ihren Arbeitsstätten organisiert.2 Dort kamen die Genoss*innen einer Grundorganisation jeden Montag zu Parteiversammlungen zusammen. In größeren Behörden, Instituten 1 1980 nahm neben dem alten Werk das Elektrostahlwerk seinen Betrieb auf, das auch heute noch in Brandenburg an der Havel Stahl produziert. Vgl. Sieglinde von Treskow/ Wolfgang Sponholz: Stahlstandort am Silokanal. In: Gerd Heinrich (Hrsg.): Stahl und Brennabor. Die Stadt Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert. Potsdam 1998, S. 419 – 431; Klaus Hess: Das Stahl- und Walzwerk und die Stadt Brandenburg. In: Förderverein Stahlmuseum (Hrsg.): 90 Jahre Stahl aus Brandenburg. Zeitzeugen berichten. Berlin 2005, S. 65 – 67. 2 In Wohngebieten waren allein Rentner, die wenigen Selbstständigen und Hausfrauen mit Parteibuch organisiert. Vgl. Katrin Passens: Der Zugriff des SED-Herrschaftsapparates auf die Wohnviertel. Berlin 2003.
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oder eben in I ndustriebetrieben wie dem Stahlwerk in Brandenburg existierten eigene Parteiapparate, deren hauptamtliche Mitarbeiter*innen nicht nur die einfachen Mitglieder mobilisierten, sondern auch die Chefetage kontrollierten, um den Parteieinfluss auf allen Ebenen sicherzustellen. Ausgehend von dieser strukturellen Perspektive ist das Bild der SED als Machtmaschine sehr präsent. Ein übermächtiger, repressiver und perfekt funktionierender Parteiapparat durchherrschte einem Fremdkörper gleich die Belegschaften und Betriebsleitungen. Herrschaftsträger*innen und Milieuangehörige wirken aus diesem Blickwinkel als einander gegenüberstehende Gruppen. Für das Innenleben der SED an ihrer (Betriebs-)Basis ist entsprechend die Vorstellung von Repression und Erstarrung dominant. Denn neben der Unterordnung unter die von oben gefassten Beschlüsse, auch ›Demokratischer Zentralismus‹ genannt, gab es viele Anforderungen für einfache Parteimitglieder. Die regelmäßigen Parteiversammlungen waren verpflichtend, und unentschuldigtes Fehlen wie auch der Verlust des Parteibuches konnten Parteiverfahren und Strafen nach sich ziehen. Selbstredend führte politischer Dissens zum feindlichen Parteiausschluss. Die innerparteilichen Säuberungen Anfang der 1940er, Ende der 1950er Jahre sowie die Disziplinierungen im Zuge der Entstalinisierung und des Mauerbaus drückten dem Parteileben den Stempel als Ort der Repression auf. Nach der innerpartei lichen Herrschaftsdurchsetzung, so die verbreitete Lesart, setzte dann ein Sinnund Funktionsverlust ein. Denn freie Wahlen und politischen Meinungsstreit suchte man am Versammlungstisch der diktatorischen Partei vergebens. Das Parteileben wurde immer ritueller.3 Die regelmäßig montags nach Feierabend abgehaltenen Parteiversammlungen brachten die Genoss*innen entsprechend schweigend, gähnend oder zähneknirschend hinter sich. Gerade in Industriebetrieben beklagte die Zentrale Parteikontrollkommission dauerhaft die Trägheit der Anwesenden bei der Diskussion von politisch-ideologischen Themen. Referate auszuarbeiten oder Beschlüsse zu formulieren, seien überwiegend Einmannarbeit 3 Sandrine Kott: Die SED im Betrieb. In: Jens Gieseke/Hermann Wentker (Hrsg.): Die Geschichte der SED. Eine Bestandsaufnahme. Berlin 2011, S. 218 – 221. Siehe auch Sandrine Kott: Le communisme au quotidien. Les entreprises d’Etat dans la société est-allemande. Berlin 2001. Zu den Machtstrukturen der SED in Betrieben Thomas R eichel: Die »durchherrschte Arbeitsgesellschaft«. In: Renate Hürtgen/Thomas Reichel (Hrsg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 85 – 110. An dieses Bild der rituellen und eintönigen Mitgliederversammlungen an der SED-Basis knüpft die Studie von Alexei Yurchak zum sowjetischen Jugendverband Komsomol an. Er argumentiert, dass es in der poststalinistischen Organisationswelt darauf angekommen sei, die politischen Dogmen zu akzeptieren, um die Strukturen für vielfältige Eigeninteressen nutzen zu können. Dieses Phänomen bezeichnet er als performative shift. Vgl. Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation. Princeton 2005.
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der Parteisekretärin oder des Parteisekretärs gewesen.4 Die einstige Kranfahrerin im Stahlwerk Brandenburg, Elke Schubert, beschreibt die Parteiveranstaltungen rückblickend als reine Belastung. Sie bestückte sommers wie winters von ihrem Kranhäuschen die kochenden Stahlöfen und nicht selten fielen ihr in der Parteiversammlung, die sich an ihre Schicht anschloss, die Augen zu »[…] nach acht Stunden arbeiten war man fertig und man hat denn genug gehabt.«5 Trotz dieses Sinnverlustes legten die höheren Parteiebenen größten Wert darauf, dass die SED-Mitgliederversammlungen in allen Betrieben der DDR regelmäßig durchgeführt wurden. Doch aus welchem Grund mussten die rituellen Veranstaltungen abgehalten werden? Oder anders gefragt: Was war Zweck der ereignislosen Versammlungen der SED-Grundorganisationen in den Betrieben? Begreift man Herrschaft nicht nur als asymmetrische Machtbeziehung, sondern auch als soziale Praxis, ergibt sich ein anderes Bild. Davon ausgehend sind Parteimitglieder eben nicht nur Unterworfene eines übermächtigen Parteiapparates, sondern auch eigenständige, soziale Akteur*innen. Sie reproduzierten im Alltag die Parteiregeln und maßen ihnen Sinn bei.6 Ausgehend von diesem Vorverständnis lässt sich das Verhältnis von Staatspartei und Gesellschaft, das weitgehend vom Bild der ›durchherrschten Gesellschaft‹ geprägt ist, auch in die andere Richtung wenden: Die SED war vergesellschaftet.7 Sie stand nicht außerhalb der Belegschaften, sondern war durch ihre vielen Mitglieder gerade in Industriearbeitermilieus stark verankert. Die Themen und Konflikte dieses 4 Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt an die ZK-Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation, 13. 02. 1978. In: SAPMO-BArch, DY/30/IV B 2/5, o. Bl. 5 Interview mit Elke und Jürgen Schubert am 04. 08. 2010, Transkript der Audiodatei, S. 32. Die Namen der Interviewten wurden anonymisiert. 6 Das Konzept ›Herrschaft als soziale Praxis‹ basiert auf der Vorstellung von Max Weber, die Herrschaft als asymmetrische Machtbeziehung versteht, die jedoch auch des Handelns der Beherrschten bedarf. Vgl. Alf Lüdtke: Einleitung, Herrschaft als soziale Praxis. In: ders. (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991, S. 9 – 63. 7 Der Text basiert auf der Dissertation der Autorin. Vgl. Sabine Pannen: »Wo ein Genosse ist, da ist die Partei!« Der innere Zerfall der SED -Parteibasis 1979 – 1989 (Kommunismus und Gesellschaft, 7). Berlin 22019. Für eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive auf kommunistische Parteien sowjetischen Typs siehe auch: Rüdiger Bergien/Jens Gieseke (Hrsg.): Communist Parties Revisited. Sociocultural Approaches to Party Rule in the Soviet Bloc 1956 – 1991. New York/Oxford 2018; Andrea Bahr: Parteiherrschaft vor Ort. Die SED-Kreisleitung Brandenburg 1961 – 1989 (Kommunismus und Gesellschaft, 3). Berlin 2016; Rüdiger Bergien: Im »Generalstab der Partei«. Organisationskultur und Herrschaftspraxis der SED-Zentrale (1946 – 1989) (Kommunismus und Gesellschaft, 5). Berlin 2017. Michel Christian/Jens Gieseke/Florian Peters: Die SED als Mitgliederpartei, Dokumentaion und Analyse (Kommunismus und Gesellschaft, 9). Berlin 2019.
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Milieus prägten auch das Innenleben der SED in den Betrieben. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das Parteileben trotz der Abwesenheit freier politischer Debatten und Meinungsbildungsprozesse nicht funktionslos war. Ganz im Gegenteil entwickelten sich die SED-Grundorganisationen in Industriebetrieben wie dem Stahlwerk Brandenburg seit dem Mauerbau zu wichtigen gesellschaftlichen Steuerungsinstanzen, die zur Stabilität des politischen Systems erheblich beitrugen. Im Laufe der 1980er Jahre sollte diese Funktion allerdings sukzessive verloren gehen. Doch zunächst sollen die Akteur*innen selbst skizziert werden. Wie setzte sich die SED-Mitgliederschaft im Stahlwerk in Brandenburg und republikweit zusammen, und welche Funktion kam ihnen in der staatssozialistischen Gesellschaft zu?
1. Die SED-Parteibasis in der staatssozialistischen Gesellschaft 1987 erlebte die SED mit 2.328.331 Mitgliedern und Kandidat*innen den Höhepunkt ihres Wachstums. In den 1980er Jahren war jeder sechste Erwachsene in der DDR im Besitz eines Parteibuches, womit die SED über mehr Mitglieder verfügte als alle bundesdeutsche Parteien zusammengenommen.8 Funktional kann die Mitgliederschaft in drei Gruppen eingeteilt werden, die einer Pyramide gleichend aufgebaut sind: Ganz oben stehen die wenigen Spitzenfunktionär*innen, gefolgt von der breiten Funktionselite bzw. der sozialistischen Dienstklasse und zuletzt der großen Parteibasis. Mit Blick auf die soziale Zusammensetzung ergibt sich für Ende der 1980er Jahre folgendes Bild: Knapp 22 Prozent aller Parteimitglieder waren hauptamtliche Funktionär*innen oder im Militär- und Sicherheitsbereich beschäftigt und können als Machtsicherungselite bezeichnet werden. Daneben können ca. 10 Prozent der Mitglieder dem Sektor Ideologieproduktion und -vermittlung, also der (Partei-)Presse wie dem Kultur- und Bildungsbereich zugerechnet werden. Ebenso viele gehörten der Verwaltungs- und Managementelite an, womit Ökonom*innen und Ingenieur*innen der Industriebetriebe gemeint sind, die zeitgenössisch auch als wissenschaftlich-technische Intelligenz firmierten. Damit können insgesamt etwa 40 Prozent der Mitglieder der sozialistischen Dienstklasse zugeordnet werden.9 Auch (Fach-)Arbeiter*innen 8 Horst Dohlus: Bericht über die Entwicklung der Mitgliederbewegung der SED im Jahre 1987. Sitzung und Protokoll des Politbüros des ZK der SED, 05. 01. 1988. In: SAPMO-BArch, DY 30/JIV 2/2/2254, Anlage Bl. 1. Vgl. Alemann, Ulrich von: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 2000, S. 138. 9 Pannen: Wo ein Genosse ist (wie Anm. 7), S. 43 – 4 6. Stephen Kotkin sieht das sozialistische Establishment als Kern sozialistischer Gesellschaften, die er als Uncivil Society bezeichnet. Dazu
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bildeten trotz statistischer Manipulationen eine bedeutsame Größe. Jenseits des offiziellen Arbeiteranteils von knapp 60 Prozent kann der Anteil tatsächlicher Arbeiter*innen auf ca. 33 Prozent beziffert werden, was immer noch einer beachtlichen Größe von etwa 650.000 Genoss*innen entspricht.10 Anhand dieser Sozialstruktur wird deutlich, dass die SED einen doppelten Charakter hatte: Sie war Kader- und Arbeiterpartei. Die SED war Organisationsinstanz für gesellschaftliche Eliten und unternahm stets größte Anstrengungen, genügend Arbeiter*innen zu rekrutieren.11 Die dominierenden Gruppen in der SED waren demnach die Angehörigen der Machtsicherungselite, die Spezialist*innen sowie die Managementelite der Industriebetriebe und natürlich Industriearbeiter*innen. Entsprechend dieser minutiös konstruierten Mitgliederschaft gab es zwei SED-Hochburgen: Verwaltungszentren wie Ost-Berlin oder die Bezirksstädte und Standorte der klassischen Groß- und Schwerindustrie. Entgegen des Selbstbildes der SED als Geheimbund Gleichgesinnter, als gesellschaftliche Elite bzw. ›Avantgarde‹ standen ihre Mitglieder keineswegs außerhalb der staatssozialistischen Gesellschaft, sondern waren tief in ihr verankert. Strukturell kann diese, wie auch die SED-Mitgliederschaft, in die wenigen Spitzenfunktionär*innen in den obersten Rängen, gefolgt von der breiten sozialistischen Dienstklasse und zuletzt der sozialistischen Arbeiterklasse eingeteilt werden.12 Neben dieser sozialen Schichtung existierte auch eine politisch-kulturelle Hierarchisierung. Arbeiter*innen wurden als Ausdruck einer Gegenprivilegierung im Vergleich zu höherqualifizierten Positionen relativ hoch entlohnt. Das Verständnis von arbeiterlicher Tätigkeit orientierte sich am industriellen Ideal von körperlich herausfordernder Arbeit oder Spezialistentätigkeit in Großbetrieben. Auch Angehörige der Machtsicherungseliten erhielten ein überdurchschnittliches Gehalt, wobei politisch-bürokratische Zuteilungsmechanismen diese Einkommensprivilegierung verstärkten. Bevorzugte Eigenschaften waren männliches Geschlecht, junges und mittleres Alter (unterhalb des Rentenalters) sowie politische und kulturelle Konformität. Benachteiligt wurden hingegen geringe Erwerbs- und körperliche Leistungsfähigkeit, weibliches Geschlecht, zählt er Partei- und Staatsfunktionäre, den Sicherheitsbereich und Intellektuelle, die gemeinsam mit ihren Familienangehörigen etwa 5 bis 7 Prozent der Gesamtbevölkerung ausgemacht hätten. Den Gegenpol zur sozialistischen Elite bildeten die K irchen als Second Society. Vgl. Stephen Kotkin: Uncivil Society. 1989 and the Implosion of the Communist Establishment. New York 2009, S. 11 – 13. 10 Pannen: Wo ein Genosse ist (wie Anm. 7), S.44 f. 11 Christian/Gieseke/Peters: Die SED als Mitgliederpartei (wie Anm. 7), S. 23 – 59. 12 Heike Solga: »Systemloyalität« als Bedingung sozialer Mobilität im Staatssozialismus, am Beispiel der DDR. In: Berliner Journal für Soziologie 4 (1994), S. 523 – 542.
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hohes Alter sowie p olitisch oder ethnisch-kulturell abweichende Eigenschaften und Verhaltensweisen.13 Parteimitglieder waren bei den ›bewaffneten Organen‹, in der Verwaltung und an Industriestandorten besonders präsent, so dass sie den soziopolitischen Kern der staatssozialistischen Gesellschaft bildeten. Diese Gesellschaftsordnung und Mitgliederpolitik spiegelte sich auch im Stahlwerk wider, das – wie eine Nahaufnahme zeigt – ein ›roter‹ Vorzeigebetrieb war. 1981 dokumentierte die SED-Kreisleitung Brandenburg 7.489 Beschäftigte, darunter 2.136 SED-Mitglieder und Kandidat*innen, was einem Organisationsgrad von 28,6 Prozent entsprach. Angesichts der Gesamtmitgliederzahl von 13.216 Mitgliedern sowie Kandidat*innen in der Kreisstadt Brandenburg war das ein Spitzenwert. Nur das Rathaus konnte mit einem Organisationsgrad von etwa 50 Prozent eine bessere Quote vorweisen. Das Werk und die dortige Parteiorganisation waren zudem ganz in Männerhand. Nur etwa ein Viertel der Beschäftigten waren Frauen und nur 17 Prozent der SED-Mitglieder Genos sinnen. Bemerkenswert ist auch der hohe Anteil von Arbeiter*innen mit Parteiabzeichen: Jeder vierte unmittelbar in der Produktion Beschäftigte war im Besitz eines Parteibuches.14 Diese Zahlen waren Ausdruck der massiven Werbungsbemühungen der SED in der Schwerindustrie, um ihr Selbstbild als Arbeiterpartei zu beglaubigen.15 Das Milieu der Stahlfacharbeiter*innen prägte das Leben in der Stadt, im Werk und in der Partei.16 Angesichts ihrer überdurchschnittlichen Löhne, betrieblicher Sozialleistungen und einem hohen Status im SED-Offizialdiskurs traten sie entsprechend selbstbewusst auf. Das Stahlwerk war jedoch für alle Betriebsangehörigen mehr als ein Arbeitsplatz. Mit den Werksiedlungen, der Betriebskrippe und dem Kindergarten, der Betriebspoliklinik, den Ferienheimen sowie der Kultur- und Sporthalle, die exklusiv den Beschäftigten zur Verfügung standen, nahm das Werk in der ›betriebszentrieten Arbeitsgesellschaft‹ 13 Jens Gieseke: Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013) 2. Abgerufen unter URL : https://zeithistorische-forschungen.de/2-2013/4493?language=en, letzter Zugriff: 09. 05. 2022, Druckausgabe S. 171 – 198. 14 Laut Statistik der SED-Kreisleitung Brandenburg waren 1981 von insgesamt 5.538 Arbeitern im Werk 1.543 SED-Mitglieder. Abteilung Parteiorgane der SED-Kreisleitung Brandenburg/ Havel: Organisationsgrad und Parteischulbesuch ausgewählter Betriebe und Einrichtungen. In: BLHA, Rep. 531 Brbg. Nr. 1843, o. Bl. 15 Zur Mitgliederpolitik und den Rekrutierungsbemühungen der SED siehe: Christian/ Gieseke/Peters: Die SED als Mitgliederpartei (wie Anm. 7). 16 Astrid Segert: Das traditionelle Arbeitermilieu in Brandenburg. Systemische Prägung und regionale Spezifika. In: Michael Vester/Michael Hofmann/Irene Zierke (Hrsg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen z wischen Zerfall und Neubildung. Köln 1995, S. 289 – 329.
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eine herausgehobene Stellung in der Stadt ein. Diese Privilegierung ging bei den Mitarbeiter*innen mit einem ausgeprägten Werkstolz einher. Zugleich war der Betrieb als ›Vergesellschaftungskern‹ der Ort, wo gesamtgesellschaftliche Probleme reguliert wurden. Dabei nahm die SED mit ihren einfachen Mitgliedern vor Ort eine zentrale Rolle ein.
2. Die Grundorganisation als betriebliche Steuerungsinstanz Das Stahlwerk verfügte wie alle größeren Betriebe und Einrichtungen über einen eigenen Parteiapparat. An seiner Spitze standen der direkt dem ZK in Berlin untergeordnete Erste Parteisekretär, seine drei Stellvertreter sowie zwei weitere hauptamtliche Parteisekretäre.17 Sie bildeten die Zentrale Betriebsparteileitung, die die Chefetage des Werkes kontrollierte und die Parteimitglieder im Werk im Sinne der Parteiführung mobilisierte. Letztere waren dem Produktionsprinzip entsprechend im Jahr 1983 in 19 Grundorganisationen (GO) zusammengefasst, die wiederum in 49 kleinere Abteilungsparteiorganisationen (APO) untergliedert waren. Die größten Grundorganisationen waren die GO Hauptmechanik mit 383 Mitgliedern und die GO der alten Stahlhalle mit 262 Genoss*innen. Die kleinste Organisationeinheit bildete die Betriebspoliklinik mit 16 SED-Mitgliedern.18 Sie alle mussten regelmäßig immer montags zur Versammlung ihrer Grundorganisation, der kleineren Parteigruppe oder zum Parteilehrjahr zusammenkommen. Hinter den Türen der verschlossenen Versammlungszimmer war die Atmosphäre jedoch nicht nur von Furcht vor Disziplinierungen oder Langeweile bestimmt. Ein Blick auf die Statistiken der Zentralen Parteikontrollkommission zeigt, dass Parteiverfahren keineswegs an der Tagesordnung waren. Nach der innerparteilichen Machtdurchsetzung lag ihre Anzahl seit dem Mauerbau republikweit dauerhaft bei durchschnittlich etwa 20.000 Verfahren jährlich und damit hinsichtlich der Gesamtmitgliederzahl bei unter 1 Prozent.19 Dass Parteiverfahren Seltenheitswert hatten, lag am geänderten Repressionsbedürfnis des Parteiapparates. 17 SED-Kreisleitung Brandenburg/Havel: Gliederung der Nomenklatur, 16. 01. 1970. In: BLHA, Rep. 531 Brbg. Nr. 1298, Bl. 9. 18 ZBPL SWB: Information über die Vorbereitung der Parteiwahlen 1983/84 auf der Grundlage der Wahldirektive des Zentralkomitees der SED, 12. 09. 1983. In: BLHA, Rep. 532 GO SED Stahlwerk, Nr. 6135, o. Bl. 19 Hier und im Folgenden vgl. Pannen: Wo ein Genosse ist (wie Anm. 7), S. 93 – 104. Zur veränderten Disziplinierungspraxis in der KPdSU seit Chruschtschow siehe Edward Cohn: The High Title of a Communist. Postwar Party Discipline and the Values of the Soviet Regime. Illinois 2015.
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Denn seit 1954 änderte sich die Disziplinierungspraxis. Seitdem galt es, Parteimitglieder nicht gleich auszuschließen, sondern sie ›zu erziehen‹, um sie der Partei zu erhalten. Damit lag die SED ganz auf Linie mit der KPdSU.20 Diese Integrationsstrategie erwies sich in der Praxis jedoch als Herausforderung. Der Parteiapparat beklagte dauerhaft die Trägheit der Genoss*innen, einander zu disziplinieren und zu erziehen. Konflikte wurden lieber in Vieraugengesprächen mit der Parteisekretärin oder dem Parteisekretär gelöst als zum Gegenstand eines peinlichen Parteiverfahrens gemacht. Das galt besonders für Vorgesetzte, deren Ansehen nicht beschädigt werden sollte. Arbeiter*innen erlebten, wie die Statistiken der Zentralen Parteikontrollkommission zeigen, häufiger Parteiverfahren als ihre Vorgesetzten. Sie verfügten über geringere Machtmittel als ihre Vorgesetzten, die Parteidisziplinierungen auch als Hebel zur Durchsetzung ihrer beruflichen Interessen nutzen konnten. Berufliche Hierarchien setzten sich am Versammlungstisch unter den formal gleichrangingen Mitgliedern fort. Die wenigsten Verfahren hatten jedoch politischen Dissens zum Gegenstand, überwiegend ging es um Ordnungswidrigkeiten und Gesetzesverstöße. Gerade in Industriebetrieben hießen die Feinde des Sozialismus Korruption und Trunkenheit am Arbeitsplatz.21 Seit dem Mauerbau weitete der Parteiapparat diese innerparteiliche Integrationsstrategie stetig aus und konzentrierte sich mit Blick auf die einfachen Mitglieder auf zwei Instrumente. Im Alltag galten sie als Vermittler der SED-Politik. Diese Rollenanforderung war eng mit den ›Informationen‹ aus dem ZK verknüpft. Der parteiinterne Informationsdienst, der manchmal den Umfang eines kleinen Heftes einnehmen konnte, existierte seit 1957 und diente dazu, über anstehende innen- wie außenpolitische Entscheidungen oder Ereignisse zu informieren, bevor die breite Öffentlichkeit über die Presse darüber in Kenntnis gesetzt wurde. Ab 1968 wurde diese Exklusivinformation aus der Parteizentrale ausgeweitet. Nun wurden nicht mehr nur die Parteisekretär*innen der Grundorganisationen der 100 wichtigsten Großbetriebe der DDR mit diesem Wissensvorsprung ausgestattet, sondern die Parteisekretär*innen aller Grundorganisationen.22 Sie waren außerdem angehalten, diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen im 20 Pannen: Wo ein Genosse ist (wie Anm. 7), S. 95. 21 Ebd. S. 94 – 104. 22 Rundschreiben Walter Ulbrichts an die Ersten Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen über die Herausgabe eines internen Informationsdienstes durch die Abteilung Agitation und Propaganda, Berlin, 06. 05. 1957. In: SAPMO-BArch, DY 30 9231 (Informationsaustausch des Leiters des Büros des Politbüros mit der Abteilung Agitation im ZK der SED), o. Bl. Sekretariat des ZK: Beschluss über das Informationssystem des ZK der SED für die Sekretäre der Grundorganisationen der Partei, 17. 01. 1968. In: SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/3A 1533, o. Bl.
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Panzerschrank aufzubewahren. Die Inhalte sollten nur mündlich dargelegt werden. Allein auf Nachfrage bekamen einfache Mitglieder der Grundorganisation die Mitteilungsblätter aus dem ZK zu Gesicht. Sie durften sich Notizen machen, aber das Blatt nicht kopieren. Diese einem Geheimbund ähnelnden Regeln zusammen mit dem Erscheinungsbild des Informationsblattes, das allein mit dem Titel Informationen versehen war und keinen Absender aufwies, stand ganz in der Konspirationstradition kommunistischer Parteien. Sie stießen dann auf reges Interesse, wenn die darin aufgeworfenen Themen relevant für den Lebens- und Arbeitsbereich waren.23 Natürlich standen auch weitere parteiinterne Informationskanäle zur Verfügung, wie etwa die ›Anleitung der Parteisekretäre‹ durch die Kreisleitung oder durch die Zentrale Betriebsparteileitung im Stahlwerk. Dort konnten sich die anwesenden Parteisekretär*innen ein Gesamtbild der Lage vor Ort machen, mündliche Informationen des regionalen Parteiapparates erhalten und sich vernetzen.24 Doch zeigt die Ausweitung des Informationsbulletins aus dem ZK, dass der Vermittlerrolle der einfachen Mitglieder in der sanktionierten staatssozialistischen Öffentlichkeit ein größerer Stellenwert eingeräumt wurde. Diese zeichnete sich zunächst durch das Informationsmonopol der SED-Führung aus. Sie steuerte und kontrollierte den Zugang zu Informationen, was einen künstlichen Informationsmangel erzeugte. Einerseits war die Parteiführung stets daran interessiert, was ›die Bevölkerung‹ dachte, und ließ von der Staatssicherheit Stimmungsberichte anfertigen, forderte von allen Parteiebenen wie auch der Gewerkschaft Lageeinschätzungen und installierte zeitweise sogar ein Institut für Meinungsforschung. Andererseits brodelte in der Bevölkerung beständig die Gerüchteküche.25 Mit wachsender Verbreitung der Fernsehgeräte und des Westfernsehempfangs seit Mitte der 1960er Jahre wurde das Westfernsehen zu einer Quelle alternativer Informations- und Unterhaltungsangebote.26 Damit spielten die Westmedien als politische Ersatzöffentlichkeit eine immer größere Rolle. Daneben zeichnete sich die staatssozialistische Öffentlichkeit auch durch unterschiedliche Räume des Sagbaren aus. Der öffentliche Raum mit Presse wie auch Parteiveranstaltungen war vom Offizialdiskurs bestimmt. Im Kollegen- oder Freundeskreis, in der Familie, beim Schlangestehen oder bei Lesungen entfalteten
23 Pannen: Wo ein Genosse ist (wie Anm. 7), S.128 – 135. 24 Bahr: Parteiherrschaft vor Ort (wie Anm. 7), S. 66 – 89. 25 Ágnes Horváth/Árpád Szakolczai: Information Management in Bolshevik-type Party States: A version of the Information Society. In: East European Politics and Societies 5 (1991) 2, S. 268 – 305, insb. S. 292 f. 26 Michael Meyen: Einschalten, Umschalten, Ausschalten? Das Fernsehen im DDR-Alltag. Leipzig 2003, S. 53 f.
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Abb. 1 Neben der Information aus dem Zentralkomitee gehörte die Auswertung der Tagespresse, insbesondere des Neuen Deutschland, zum Standardrepertoire von SED-Partei versammlungen. Auf dem Foto ist Hildegard Rasche, eine Parteisekretärin im Mansfelder Land zu sehen. Das Foto war Teil einer Reportage in der illustrierten Wochenzeitschrift Für Dich in den 1960er Jahren und trägt den Titel ›Einen Kopf drum machen‹.
sich Meinungen freier, wurden Diskussionen offener, teilweise sehr offen geführt.27 In dieser Gemengelage sollten Parteimitglieder für die Politik der Parteiführung einstehen und sie verständlich machen. Mit den ZK-Informationen wurden sie zu diesem Zweck in der Regel früher informiert, mit mehr Hintergrundwissen sowie mit der Parteilinie und ›Argumenten‹ versorgt, was sie in der sozialistischen Öffentlichkeit privilegierte. Doch für Parteimitglieder war die ihnen zugedachte Vermittlerrolle ambivalent, wie die so genannte Kaffeekrise zeigt. 1977 zogen die Kaffeepreise auf dem Weltmarkt stark an, so dass die Parteiführung gezwungen war, weniger Kaffee zu importieren. Preiswerte Kaffeesorten verschwanden aus dem Sortiment und wurden durch einen unbeliebten Mischkaffee ersetzt.28 Noch bevor die Kürzung 27 Jens Gieseke: Whom did the East Germans trust? Popular Opinion on Threats of War, Confrontation and Détente in the GDR, 1968 – 89. In: Reinhild Kreis/Martin Klimke/ Christian Ostermann (Hrsg.): »Trust, but verify«. Confidence and Distrust From Détente to the End of the Cold War. Stanford 2016, S. 143 – 166. 28 Anne Dietrich: Kaffee in der DDR. »Ein Politikum ersten Ranges«. In: Christiane Berth/Dorothee Wierling/Volker Wündrich (Hrsg.): Kaffeewelten. Historische Perspektiven auf eine globale Ware im 20. Jahrhundert. Göttingen 2015, S. 225 – 248; Monika Sigmund: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten. Berlin 2015.
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am 1. August 1977 in Kraft trat, wurden Parteimitglieder mit der ZK-Information Nr. 152 über diese anstehenden Änderungen unterrichtet. Das gab ihnen die Möglichkeit, die bald nicht mehr erhältlichen Kaffeesorten zu kaufen und auch zu horten. Sie erhielten auch mehr Informationen über die Hintergründe als die Öffentlichkeit, die erst am 23. September 1977 mit einer Meldung im Parteiorgan Neues Deutschland (ND) nach Eintreten der Maßnahme knapp informiert wurde.29 Neben dem Wissensvorsprung boten die ZK-Informationen auch ›Argumentationen‹, die es den Genoss*innen vor Ort erleichtern sollten, für die Politik der SED einzustehen und für Akzeptanz zu werben. Das war nicht nur für Parteisekretär*innen relevant, sondern für all jene, die in Berufen tätig waren, wo die Ideologievermittlung eine wichtige Rolle spielte, wie etwa für Lehrer*innen, Verwaltungsangestellte und auch für Leitungskader in Industriebtrieben. Sie mussten gegenüber der Belegschaft und im Kreise der SED-Mitglieder Rede und Antwort stehen. Die Vermittlung der Parteilinie wurde im Zuge der Kaffeekürzungen jedoch zur Belastungsprobe. Das Verschwinden der günstigen Kaffeesorten und die mangelnde Unterrichtung wurden emotional in der breiten Bevölkerung diskutiert. Das MfS dokumentierte Klagen von Parteimitgliedern. Sie standen vor Ort in der aufgeheizten Stimmung unter erheblichem Erklärungsdruck und wünschten zur Entlastung eine breite Berichterstattung in der Presse.30 Neben der Rolle des Ideologievermittlers wuchs den Grundorganisationen bzw. deren Mitgliedern auch die Funktion des Problemlösers bei Alltagsschwierigkeiten zu. Im Zuge der Integrationsstrategie weitete die Parteiführung ihre Partizipationsangebote für die Parteibasis aus. Seit 1963 wurden etwa parteiinterne Eingaben 31 eingeführt und auch den Monatsberichten aus den Grundorganisationen wurde im Laufe der 1960er Jahre mit der Professionalisierung der Parteiapparate mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Mit regelmäßigen Berichten aus den Grundorganisationen wollte der regionale Parteiapparat über die Aktivitäten und Probleme vor Ort im Bilde sein und organisierte zugleich deren Behebung. In allen Monats berichten fand sich der Abschnitt ›Hinweise, Vorschläge und Kritiken‹, wo Parteisekretär*innen gewissenhaft die von Genoss*innen in Mitgliederversammlungen 29 ZK-Information: Zur Versorgung mit K affee- und Kakaoerzeugnissen, 1977/6, Nr. 152. In: BStU, MfS, SED-KL 3944, Bl. 149 f. Siehe auch: Mitteilung des Ministeriums für Handel und Versorgung. In: Neues Deutschland, 23. 09. 1977, S. 2. 30 ZAIG: Weitere Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung zu den Maßnahmen des Ministerrates der DDR zur Versorgung mit K affee und Kakaoerzeugnissen, 01. 09. 1977. In: Henrick Bispinck (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1977. Die geheimen Berichte an die SEDFührung. Göttingen 2012, S. 226 – 228. 31 Pannen: Wo ein Genosse ist (wie Anm. 7), S. 104 – 113.
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vorgebrachten Klagen dokumentierten, wie etwa überfüllte Straßenbahnen zur Rushhour, leere Ladenregale in Kaufhallen oder kaputte Heizungen in Werkhallen. Alle Anliegen, die Parteisekretär*innen nicht betriebsintern klären konnten, wurden an die K reisleitung zur Lösung weitergeleitet. Die Kreisleitung in der Stadt Brandenburg an der Havel verfeinerte Anfang der 1970er Jahre ihr Vorgehen mit den ›Hinweisen, Vorschlägen und Kritiken‹ aus den Grundorganisationen. Sie koordinierte nicht nur die Weitergabe der parteiinternen Beschwerden an den Rat der Stadt bzw. an den Rat des Kreises, um die dort jeweils zuständige Abteilung zur Behebung des Problems aufzufordern. Sie kontrollierte auch die Bearbeitung und informierte die Grundorganisation darüber. Ab 1971 sollten die Mitarbeiter*innen der Kreisleitung auf den Versammlungen der Grundorganisation auch persönlich über den Stand der Dinge Auskunft geben können.32 Zwar waren Parteiversammlungen immer schon Orte der Verständigung über Probleme des Alltagslebens. Doch räumten die Parteiapparate den Alltagsschwierigkeiten und deren Behebung seit dem Mauerbau mehr Bedeutung ein. Das Lösungsangebot des Parteiapparates wurde viel und gerne von Grundorganisationen in Anspruch genommen, wovon zahlreiche Monatsberichte zeugen. Auch Jürgen Schubert, der damals als Sanitäter im Stahlwerk tätig war, berichtet rückblickend davon, dass Mitgliederversammlungen intensiv genutzt wurden, um Probleme vor Ort vorzubringen und sich mit diesem Engagement auch ein positiver Effekt einstellte. Er schildert: Und denn, war’s aber auch, wie gesagt, schon vorhin schon gesagt, äh, teilweise auch oder oft nötig, dass man denn tatsächlich erstmal wat verändert hat. Ob et nun von Dauer war oder ob et tatsächlich, äh, äh, äh, die endgültige bessere Lösung war, det blieb dahingestellt, aber […] man hat erstmal wat verändert. Und man hatte auch dat Gefühl, irgendwo, äh, wat bewegen zu können. Nachher nicht mehr, aber zumindestens bis Mitte der achtziger Jahre. Hatt’ man wirklich och selbst das Gefühl: Jawohl, wenn ick jetzt dahingehe oder bei den, äh, Parteiversammlungen oder Parteilehrjahr wat sage, et ändert sich wat. Et wird besser. Ja, und teilweise wurde et sogar auch besser. Nachher denn nicht mehr, aber bis dahin doch schon, ja.33
Diese rückblickende Schilderung zeigt, wie auch die Monatsberichte aus den Grundorganisationen, dass die Lösungsangebote des Parteiapparates ernst genommen und selbstbewusst eingefordert wurden. Da mit Hilfe des Parteikanals t atsächlich 32 Abteilung Parteiorgane der SED-KL Brandenburg: Einschätzung der Arbeit der Kreisleitung Brandenburg zur Realisierung der Hinweise, Vorschläge und Kritiken aus den Grundorganisationen im Zusammenhang mit dem Umtausch der Parteidokumente und welche Lehren ergeben sich daraus für die Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages. Potsdam, 20. 07. 1971. In: BLHA, Rep. 530 Nr. 3911, Bl. 1 – 5. 33 Interview mit Elke und Jürgen Schubert am 04. 08. 2010, Transkript der Audiodatei, S. 34.
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Abb. 2 Die Abbildung zeigt eine Arbeitsbesprechung im VEB Elite Karl-Marx-Stadt/VEBKombinat Textilmaschinenbau TEXTIMA im Jahr 1984. Auch in SED-Parteiversammlungen wurden Probleme des Betriebsalltags verhandelt.
Abhilfe geschaffen werden konnte, erschien das politische Engagement sinnvoll. Diese Vermittlerrolle wurde im Stahlwerk nicht nur aus praktischen Erwägungen angenommen, um die persönliche Situation zu verbessern. Genoss*innen konnten mit ihrem Engagement für die Interessen des Arbeitskollektivs oder der Nachbarschaft Ansehen erwerben und vor Ort als ›Kümmerer‹ gelten. Die Teilnahme an den diskussionsarmen, entpolitisierten Parteiversammlungen konnte also durchaus sinnvoll sein, um mit Vorab- und Hintergrundinformationen, mit dem politischen Standpunkt der Parteiführung und Argumenten ausgestattet zu werden, die es erleichterten, die Rolle als Parteimitglied im Beruf oder im Ehrenamt auszuüben. Teilweise brachte der Wissensvorsprung auch andere, praktische Vorteile mit sich. Zugleich eröffneten die Versammlungen die Möglichkeit, sich für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen im Betrieb und Wohngebiet einzusetzen. Damit soll nicht gesagt werden, dass die repressive Kraft der SED innerparteilich keine Rolle spielte – im Gegenteil. Sie wirkte vielmehr als Drohkulisse im Hintergrund. Im Vordergrund standen seit dem Mauerbau die teilweise nervenaufreibenden Aufgaben von Systemlegitimation vor Ort und Alltagsmanagement. Der Grundorganisation kam damit die Funktion als gesellschaftliche Steuerungsinstanz zu, in der Parteimitglieder die ihnen zugedachte Vermittlerrolle teilweise mit großem Engagement und Selbstbewusstsein annahmen.
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Wie bei der Disziplinierungspraxis bereits angeklungen, herrschte in der Parteiöffentlichkeit eine Kluft zwischen den Erfahrungen und Wahrnehmungen von Arbeiter*innen auf der einen Seite und ihren Vorgesetzten auf der anderen Seite. Stahlarbeiter*innen agierten äußerst selbstbewusst in diesem engen Rahmen des Sagbaren. Sie nutzten ihre Stellung im offiziellen Diskurs, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auch konnten sie, anders als ihre Vorgesetzten, nicht die Karriereleiter herunterfallen, was ihnen mehr Spielraum verschaffte. Staatliche Leiter*innen fühlten sich umgekehrt von ihren Forderungen nicht selten unter Druck gesetzt. Denn sie trugen nicht nur Verantwortung für fachliche, sondern auch für politische Anforderungen ihres Arbeitsbereiches. Günter Dornheim, einst Leiter des Verkaufsbereichs im Stahlwerk, empfand diese untrennbare Verknüpfung rückblickend als »Einheit«. Er musste nicht nur die Verkaufszahlen für den Stahl im Blick haben, sondern auch dafür Sorge tragen, dass seine Mitarbeiter*innen die Kampfgruppen unterstützten oder sich am Kampf um den Titel ›Kollektiv der sozialistischen Arbeit‹ engagierten. Natürlich war er auch im Parteileben eingebunden. Als Mitglied des Leitungsgremiums der Grundorganisation musste er, wie staatliche Leiter*innen insgesamt, im Kreis der Genoss*innen Auskunft über aktuelle Entwicklungen im Arbeitsbereich geben und wurde bei Alltagsproblemen auch jenseits des Betriebslebens in die Pflicht genommen. Für ihn wäre es deshalb nicht in Frage gekommen, das Amt des Parteisekretärs seiner Grundorganisation zu übernehmen. Rückblickend stellt es sich für ihn so dar: Weil, wenn sie dich dann gefragt haben, ja, warum gibt’s denn das nicht, warum haben wir denn Schwierigkeiten, warum ist es, ja, ja wat haste den Leuten jesagt, ja? Und die, da waren en Haufen Frauen bei mir da. Ja, wat ich denen jesagt, die sind doch och alle nicht doof. Und wenn ich da, die hätten, die haben doch alle bloß drauf gelauert, dass sie mich widerlegen konnten, wenn irgendwat war, ja?34
Die Schilderung des Verkaufsleiters verweist darauf, dass seine Mitarbeiter*innen ihn nicht nur als Experten sahen, sondern auch als Repräsentanten der Staatspartei in die Verantwortung nahmen. Sie forderten, dass er bei Versorgungsschwierigkeiten sowohl Abhilfe organisieren als auch Erklärungen anbieten sollte, was er als Belastung empfand.35 Günter Dornheim wählte auch aus d iesem Grund das 34 Interview mit Günther Dornheim am 29. 11. 2010, Transkript der Audiodatei, S. 50. 35 Unterschiedliche Wahrnehmung der Parteizugehörigkeit bei Arbeiter*innen und Leiter*innen hat auch Leonore Ansorg beobachtet. Während die Loyalität der Arbeiterinnen ihren Kolleginnen gegolten habe, hätten Leiterinnen die Parteizugehörigkeit als Hebel zu Durchsetzung ihrer Interessen genutzt. Vgl. Leonore Ansorg: »Ick hab immer von unten Druck gekriegt und von oben«. Weibliche Leitungskader und Arbeiterinnen in einem DDR-Textilbetrieb.
Parteileben im Betriebsalltag |
Ehrenamt ›Propagandist des Parteilehrjahrs‹. Als Dozent auf den monatlich stattfindenden und verpflichtenden Sitzungen des Parteilehrjahres erläuterte er beispielsweise die politische Ökonomie des Sozialismus oder die Geschichte der SED, während die Teilnehmer*innen gegen die Müdigkeit ankämpften. Dieses Amt war für ihn deshalb attraktiv, weil es ihm erlaubte, tagesaktuelle Probleme auszuklammern. Die Funktion des Parteisekretärs war für staatliche Leiter*innen auch deshalb wenig verlockend, weil sie mit einer Reihe von zusätzlichen Verpflichtungen im ohnehin vollen Terminkalender einherging. Parteisekretär*innen von Grundorganisationen übten ihr Amt in der Regel ehrenamtlich aus. 1983 gab es republikweit insgesamt 86.023 ehrenamtliche und nur 4.874 hauptamtliche Parteiarbeiter*innen an der Basis.36 In rückblickenden Erzählungen und teilweise auch in Parteiüberlieferungen begegnet man der Schilderung, dass nicht selten aufstiegsorientierte Mitarbeiter*innen das Ehrenamt übernahmen, um sich beruflich zu vernetzen und sich für höhere Aufgaben zu empfehlen.37 Natürlich konnte die Rolle auch so interpretiert werden, dass sich Parteisekretär*innen ganz als Anwält*innen ihrer Kolleg*innen oder ihrer Nachbarschaft, als ›Kümmerer‹, verstanden. Im Laufe der 1980er Jahre sollten die Grundorganisationen dann sukzessive ihre Funktion als Steuerungsinstanzen einbüßen und Parteimitglieder sich schrittweise von ihrer Vermittlerrolle zurückziehen, was erhebliche Folgen für die politische Stabilität haben sollte.
3. Die Versorgungskrise als Erosionsfaktor Versorgungsprobleme waren in der DDR ein Thema, das dauerhaft die Gemüter bewegte. Doch sollte dieses Konfliktfeld im Laufe der 1980er Jahre neben der wachsenden Präsenz des Westens und der Reformpolitik Gorbatschows systemsprengende Kraft entwickeln. Unter Erich Honecker wurde ein KonsumsoziaEine Studie zum Innenleben der DDR -Industrie. In: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 123 – 165. 36 Abteilung Parteiorgane: Informationen über die kadermäßige Zusammensetzung der gewählten Leitungen der Grundorganisationen, Abteilungsparteiorganisationen und Ortsleitungen, 30. 11. 1983. In: SAPMO -BA rch, DY 30/27971, Bl. 1. Siehe auch Abteilung Parteiorgane: Informationen über die kadermäßige Zusammensetzung der hauptamtlichen Parteiarbeiter in den Grundorganisationen der Partei, 18. 06. 1984. In: SAPMO-BArch, DY 30/27971, Bl. 1. 37 Diese Untersuchung der Bezirksleitung Berlin verdeutlicht, dass das Ehrenamt als berufliche Aufstiegsschleuse genutzt werden konnte. BPKK Berlin: Bericht über die Untersuchung in der Grundorganisation des Instituts für Arzneimittelwesen der DDR zum DDR-Verrat des ehemaligen Parteisekretärs, 29. 07. 1983. In: SAPMO-BArch DY 30/15331, Bl. 3.
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lismus installiert, der die Wirtschaftskraft langfristig überforderte. Massive Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, das Wohnungsbauprogramm, die Stabilität von Verbraucherpreisen bei gleichzeitigem Import westlicher Konsumgüter waren die Eckpfeiler der von Honecker bis zuletzt verfolgten ›Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‹, die außenpolitisch von einer Entspannungspolitik begleitet wurde.38 Damit stieg die Auslandsverschuldung und die finanzielle Abhängigkeit vom Westen. Geld für dringend benötigte Investitionen in die überalterte Wirtschafts- und Infrastruktur fehlte.39 Diese Überforderung war seit Beginn der 1980er Jahre auch deutlich im Alltagsleben spürbar. Die Parteiführung drehte stillschweigend an der Preisschraube. Neue und veränderte Produkte aber auch so genannte ›Güter von hohem Gebrauchswert‹, wie Schuhe und Kleidung, wurden teurer, der Import von Obst und Gemüse fast vollständig aufgehoben.40 Angesichts dieser Preiserhöhungen und Versorgungslücken dokumentierte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in einem Stimmungsbericht Mitte September 1980 massive Frustration, da es sich um Waren handelte, die zuvor dauerhaft zu erwerben gewesen waren.41 Jene mit SED-Parteibuch waren ebenso davon betroffen wie Parteilose. Doch waren Parteimitglieder laut MfS in der Defensive und verfügten über keine überzeugenden Argumente, um für die Parteilinie einzustehen.42 Ihr Frust entlud sich auch in der Parteiöffentlichkeit. Allerdings stieg 38 Christoph Boyer: Grundlinien der Sozial- und Konsumpolitik der DDR in den siebziger und achtziger Jahren in theoretischer Perspektive. In: Renate Hürtgen/Thomas Reichel (Hrsg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 69 – 84, insb. S. 80 – 84; Jens Gieseke: Die Einheit von Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitspolitik. Militarisierung und Überwachung als Probleme einer DDR-Sozialgeschichte der Ära Honecker. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003) 11, S. 996 – 1021; Peter Skyba: Die Sozialpolitik der Ära Honecker aus institutionentheoretischer Perspektive. In: Christoph Boyer/Peter Skyba (Hrsg.): Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und ČSSR. Dresden 1999, S. 49 – 62. 39 Andreas Malycha konstatiert, dass bereits Ende der 1970er Jahre aufgrund der wirtschaftlichen Schieflage Skepsis und Resignation unter führenden Wirtschaftsfunktionären geherrscht hätten, die auch Teile des ZK-Apparates erfasst hätten. Andreas Malycha: Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989. München 2014, S. 263 f. und S. 268. 40 Matthias Judt: »Bananen, gute Apfelsinen, Erdnüsse u. a. sind doch keine kapitalistischen Privilegien«. Alltäglicher Mangel am Ende der 1980er Jahre in der DDR. In: DA online, 12. 07. 2013. Abgerufen unter URL: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutsch landarchiv/163470/bananen-gute-apfelsinen-erdnuesse-u-a-sind-doch-keine-kapitalistischenprivilegien?p=all, letzter Zugriff: 09. 05. 2022; siehe auch Jonathan Zatlin: The Currency of Socialism. Money and Political Culture in East Germany. Boston 2007, S. 110 f. 41 ZAIG: Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung, 15. 09. 1980. In: BStU, ZAIG 4165, Bl. 1 – 4, hier Bl. 4. 42 ZAIG: Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung, 05. 09. 1980. In: BStU, ZAIG 4165, Bl. 2.
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nicht die Zahl der Parteiverfahren und Disziplinierungen an, doch wurde der Ton emotionaler. So wurde etwa im August 1980 ein 40-jähriger Kranfahrer aus dem Stahlwerk in Brandenburg wegen ›parteifeindlicher Äußerungen‹ aus der SED ausgeschlossen. Er teilte, laut Kreisparteikontrollkommission Brandenburg, Bürger*innen in drei Kategorien ein: in diejenigen, die sich alles, ohne anzustehen, kaufen können, weil sie Verwandte im kapitalistischen Ausland haben und Devisen besitzen; in jene, die viel Geld verdienen und sich in Exquisit- und Delikatläden versorgen können, und in jene, die sich nichts leisten und keine hochwertigen Waren kaufen können und für ihr ›sauer verdientes‹ Geld noch anstehen müssen.43
Ganz offensichtlich fand sich der Kranfahrer auf der unteren Stufe der von ihm skizzierten Konsumhierarchie wieder. Da er zudem in der Mitgliederversammlung verkündete, nur Parteimitglied bleiben zu wollen, wenn seine materiellen Wünsche erfüllt werden würden, und im Kollegenkreis erklärte, »dass es immer mehr in der DDR bergab geht, alles schlechter geworden ist und die Parteiführung das nicht wahrhaben will und die Wirklichkeit entstellt wird«,44 wurde er aus der SED ausgeschlossen. Zuletzt musste er auch deshalb die SED verlassen, weil er in einer späteren parteilichen Aussprache nicht bereit war, seine Aussagen zurückzunehmen. Solche heftigen Reaktionen aufgrund der schlechten Versorgungslage waren zwar selten, doch hatte es sie in den 1970er Jahren in Brandenburg nicht gegeben. Es waren nicht allein Lücken in Ladenregalen, teurere Produkte und das Schlangestehen, die für Ärger sorgten. Der Versorgungsmangel machte die sozialen Ungleichheiten im Staatssozialismus stärker sichtbar. Auch entstand nach den vorherigen relativ stabilen Jahren in der Versorgung nun der Eindruck eines wirtschaftlichen Sinkflugs, der durch die Konsumwelt im Westfernsehen noch zusätzlich befeuert wurde. Zuletzt war das Schweigen der Parteiführung zu dieser für alle spürbaren Entwicklung nicht nachvollziehbar. Parteimitglieder waren also nicht nur genauso betroffen wie Parteilose. Sie standen außerhalb des Versammlungszimmers unter erhöhtem Erklärungsdruck und sollten für den Kurs der Parteiführung einstehen. Genau dazu war der Kranfahrer im Sommer 1980er nicht mehr bereit. Auch weil er anders als Spezialist*innen in Leitungspositionen beruflich nicht sanktioniert werden konnte, ließ er seinem angestauten Frust freien Lauf. Die Lösungskompetenz der regionalen Parteiapparate stieß bei strukturellen Problemen an ihre Grenzen, und Parteisekretär*innen standen den 43 KPKK: Protokoll der Sitzung der KPKK Brandenburg, 13. 08. 1980. In: BLHA Rep. 531 Brbg. Nr. 1821, o. Bl. 44 Ebd.
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tagtäglichen Schwierigkeiten auch wegen der Tabuisierung durch die Parteiführung zunehmend ratlos gegenüber. Hans Plischka, hauptamtlicher Parteisekretär im Stahlwerk, schildert rückblickend, dass in den 1980er Jahren die innerparteilichen Informationen abnahmen, und präzisierte: Ja, et blieb nicht aus, aber det war eigentlich, das, was wir dann als Information jekriegt haben, in die Grundorganisationen, war eben nicht so, dass wir det als befriedigend ansehen konnten. Dass wir gesagt haben: ›Pass ma uff !‹ Du kannst erzählen, wat de willst, wenn’s trotzdem draußen für die Frauen Schlüpfer, keene Schlüpfer, jab, jab ja keene, denn warn det eben keene Büstenhalter. Ick kann denen ja erzählen, wat se wollen, ja? Wenn der sagt: ›Morgen wird die Lieferung anjeliefert‹, ja, und man sieht det übermorgen, dann konntest du auch sagen: ›Du pass ma uff, hör uff zu meckern, ab morgen läuft det wieder.‹ Ja? Und so weiter. Aber det warn denn eben Aussagen oder Informationen, die nicht dazu beigetragen haben, da die Menschen weiter so zu überzeugen, dass du eben sagen konntest: ›So!‹45
Er konnte den Genoss*innen in der Parteiversammlung sowie den parteilosen Kolleg*innen weder Hintergrundinformationen noch Lösungsinitiativen anbieten und blieb immer öfter Antworten schuldig. Zwar gelang es der Parteiführung, durch einzelne Initiativen die Lage vorübergehend zu stabilisieren. Doch schaffte sie keine Trendwende. Der Versorgungsmangel verschärfte sich 1982, als er auch die Delikat- und Exquisit-Läden erreichte. Letztere waren gehobene Modehäuser für den größeren Geldbeutel. Delikat-Läden boten überwiegend importierte Feinkost an. Mit dem Importrückgang 1980 wurde das Sortiment schrittweise auf hochwertige heimische Produkte umgestellt. Ab 1982 notierten die Auswertungsoffiziere der Staatssicherheit verstärkt Beschwerden über die schmaler werdende Warenpalette.46 Damit fühlten sich nun auch mittlere und höhere Einkommensgruppen in ihren Konsumbedürfnissen abgehängt. 1985 hatte sich die Versorgungslage dahingehend verschärft, dass laut MfS nun die Meinung verbreitet war, dass Mangelware nur noch zu hohen Preisen in den Exquisit-Geschäften erhältlich sei, was jedoch bei weitem die Möglichkeiten eines durchschnittlichen Einkommens übersteige.47 Doch verschlechterte sich die Lage nicht nur auf Verbraucherebene. Schon Ende der 1970er Jahre machte sich auch in den Betrieben aufgrund m angelnder 45 Interview mit Hans Plischka am 12. 11. 2010, Transkript der Audiodatei, S. 26 f. 46 ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Fragen des Handels und der Versorgung 12. 05. 1982. In: BStU, 15. 05. 1982, ZAIG 4165, Bl. 19. 47 ZAIG: Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen der Bevölkerung der DDR, 02. 12. 1985. In: BStU, ZAIG 4158, Bl. 74.
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Investitionen und zunehmender Rohstoffknappheit große Unzufriedenheit breit,48 die in den folgenden Jahren massiv anziehen sollte. 1985 registrierte die SED Kreisleitung in Brandenburg bei Arbeitern in Industrie- und Baubetrieben große Unzufriedenheit über Sonderschichten wegen unregelmäßiger Materialzufuhr. Nicht nur würden Parteimitglieder bei der Vermittlung der politischen Linie im Arbeitskollektiv Zweifel entgegenschlagen. Auch »der Glauben an die eigene Kraft geht verloren«.49 Die mittlere Leitungsebene klagte über die Zunahme von Hektik, Konflikten mit leitenden Kadern übergeordneter Organe und Mitarbeiter*innen. Sie sahen sich verstärkt einem doppelten Druck von oben und unten ausgesetzt.50 Ende des Jahres 1986 notierte das MfS in einem Stimmungsbericht, dass sich mittlerweile die Wahrnehmung etablierte habe, dass sich die DDR zu einer »Mangelgesellschaft« entwickle. Versorgungsschwierigkeiten wurden nicht mehr als vorübergehende Situation, sondern als permanenter Zustand empfunden.51 Das galt auch für die fehlende Wartung und Pflege von Maschinen in Betrieben.52 Diese Krisenwahrnehmung sollte sich in den folgenden Jahren mit der Lockerung der Westreiserestriktionen erheblich verschärfen. Ab 1985 lockerte die Parteiführung die Genehmigungspraxis für Besuchsreisen nach Westdeutschland ›in dringenden Familienangelegenheiten‹. Bis dahin wurden Besuchsreisen bei genau festgelegten Ausnahmen gestattet, so dass sich ihre Zahl jährlich bei etwa 60.000 bewegte. Mit den Lockerungen stieg diese Zahl nun massiv an: 1986 reisten schon 573.000 Personen zu ihren Verwandten in den Westen, 1987 waren es rund 1,3 Millionen und 1988 sogar 1,6 Millionen Bürger*innen der DDR, die völlig legal Westdeutschland besuchten.53 Dass immer mehr Menschen zu Besuchsreisen in den Westen aufbrechen durften, hatte auch einen nicht intendierten Effekt. Bereits im November 1986 registrierte das MfS, dass jene zurückgekehrten Westreisenden mit ihren Erlebnisberichten die Diskussionen über Versorgungslücken und Mängel 48 Malycha: Die SED in der Ära Honecker (wie Anm. 39), S. 220. 49 Abteilung Parteiorgane der SED-KL Brandenburg: Abschlusseinschätzung über den Verlauf und die Ergebnisse der persönlichen vertrauensvollen Gespräche mit den Mitgliedern und Kandidaten der Partei, 02. 10. 1985. In: BLHA, Rep. 531 Brbg. Nr. 2043, Bl. 1 – 17, hier Bl. 9. 50 Ebd. 51 ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Problemen des Handels und der Versorgung, 17. 11. 1986. In: BStU, ZAIG 4165, Bl. 53 – 60, insb. Bl. 60. 52 ZAIG: Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen der Bevölkerung der DDR, 02. 12. 1985. In: BStU, ZAIG 4158, Bl. 69. 53 Hans-Hermann Hertle/Konrad H. Jarausch/Christoph Klessmann (Hrsg.): Mauerbau und Mauerfall. Ursachen, Verlauf, Auswirkungen. Berlin 2002, S. 301. Siehe auch Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989. Berlin 1996, S. 45.
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befeuern würden.54 Nicht aus dem Westfernsehen, sondern aus eigener Anschauung erlebten nun immer mehr Bürger*innen der DDR die westliche Warenwelt, was die heimische Krisenwahrnehmung verschärften sollte.55 Das MfS registrierte im April 1987 »teilweise sehr kritische und stark emotional geprägte Reaktionen auf Sortimentslücken, (Qualitäts-)Mängel bei Industriewaren, Konsumgütern und Grundnahrungsmitteln«.56 In dieser zunehmend angespannten Atmosphäre standen Parteimitglieder agitatorisch zunehmend auf verlorenem Posten. Diese Situation wirkte sich auch auf das Stahlwerk in Brandenburg aus. Nicht nur wurden die von den Parteisekretär*innen dokumentierten ›Hinweise, Vorschläge und Kritiken‹ umfangreicher. Ihre Monatsberichte an die oberen Parteiebenen glichen immer mehr Mängellisten.57 Nun kam auch die Steuerungskompetenz des Parteikanals zum Erliegen. Ende des Jahres 1987 klagten Parteimitglieder im Stahlwerk, dass der Rücklauf mit Informationen bzw. Antworten aus dem Parteiapparat zu den vorgebrachten Schwierigkeiten ganz ausblieben. Viele verharrten in den Mitgliederversammlungen nun in Schweigen. Sie waren der Meinung, dass es sich nicht mehr lohne, »über diese Fragen in der Parteiversammlung zu sprechen, weil die Parteileitung keine befriedigende Auskunft geben kann«.58 Politisches Engagement in den gegebenen Parteistrukturen verlor damit zunehmend an Sinn. Ähnliches beobachtete das MfS auch bei Parteimitgliedern im Transportwesen, die enttäuscht und geradezu empört waren, dass der Parteikanal trotz erheblicher Schwierigkeiten seine Unterstützung versagte.59 Das Versiegen der innerparteilichen Integrationsmechanismen im sich zuspitzenden gesellschaftlichen Klima, wo von der schweigenden Parteiführung immer dringlicher Erklärungen und Lösungen erwartet wurden, ließ Parteimitglieder von ihrer Vermittlerrolle abrücken. 54 ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Problemen des Handels und der Versorgung, 17. 11. 1986. In: BStU, ZAIG 4165, Bl. 53. 55 Diese Beobachtung machte auch Luise Güth für die Blockparteien. Sie konnte zeigen, dass Versorgungsmängel dort erheblich zu einer Legitimitätskrise beitrugen. Neben Versorgungsmängeln waren Westenreisen und ab 1985 die Politik Gorbatschows dominierende Konfliktthemen. Vgl. Luise Güth: Die Blockparteien im SED-System der letzten DDR-Jahre. Wahrnehmung und Partizipation am Beispiel des Bezirks Rostock. Marburg 2018, S. 88 – 100 und S. 102 – 103. 56 ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung zu Problemen des Handels und der Versorgung, 14. 04. 1987. In: BStU, ZAIG 4165, Bl. 62. 57 Diese Beobachtung macht auch Sönke Friedreich für die GO des VEB Sachsenring. Vgl. Sönke Friedreich: Autos bauen im Sozialismus. Arbeit und Organisationskultur in der Zwickauer Automobilindustrie nach 1945. Leipzig 2008, S. 365 f. 58 APO-Berichtsprotokoll der SED im SWB über Meinungen zu Versorgungsfragen, 15. 12. 1987. In: BLHA Rep. 532, Nr. 6234, o. Bl. 59 ZAIG: Hinweise zu einigen aktuellen Aspekten der Reaktion der Bevölkerung, 27. 05. 1988. In: BStU, ZAIG 4158, Bl. 81 f.
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In dieser Rückzugsphase sorgte die Ankündigung eines neuen Automodells für einen regelrechten Skandal und zu einer weiteren Entfremdung z wischen Mitgliederschaft und Parteiführung. Im August 1988 berichtete das Neue Deutschland, dass auf der Leipziger Herbstmesse das neue Wartburg-Modell 1.3 mit Viertaktmotor vorgestellt werde. Gegenstand der Empörung bildete der Preis. Der neue Wagen sollte 30.200 Ost-Mark kosten, was eine erhebliche Steigerung gegenüber den vormals 20.000 Ost-Mark darstellte. Zwar war der Wartburg im Vergleich zum Trabant immer schon der Wagen der Oberklasse gewesen. Mit dem neuen Preis war das Fahrzeug nun für viele unerschwinglich, so dass Bestellungen storniert wurden und viele auf die Warteliste für einen Trabant wechselten, was diese Wartezeit verlängerte. Laut MfS kam es unter allen Schichten der Bevölkerung, insbesondere jedoch in Industriebetrieben, aber auch in der Verwaltung und unter Pädagog*innen »in beachtliche[m] Umfang [zu] spontane[n], emotional stark geprägte[n], z. T. aggressive[n], überwiegend ablehnende[n] Meinungsäußerungen«.60 Die Aufregung war so groß, dass sich Arbeitskollektive und Gewerkschaftsgruppen, ja sogar Parteigruppen bei zentralen Staats- und Parteiorganen beschwerten.61 Während die Ankündigung des neuen Wartburg-Modells gerade in Industriebetrieben regelrechte Wutausbrüche auslöste, war für Künstler*innen und (Partei-)Intellektuelle das Verbot der Zeitschrift Sputnik wenige Wochen später Gegenstand der Empörung. Das neue Wartburg-Modell wurde als Höhepunkt der seit Jahren stattfindenden Preiserhöhungen empfunden und somit auch von Parteimitgliedern als das Ergebnis einer verfehlten Politik betrachtet. Denn angesichts der Technik und des Designs wurde der Preis als viel zu hoch gewertet. Im Sportclub Berlin-Grünau etwa herrschte die Meinung vor, dass der Wartburg trotz Neuerungen »eine alte Oma mit einem Herzschrittmacher (alte Karosse mit neuem Motor)« sei.62 Dass der neue Viertaktmotor ausgerechnet von einem westdeutschen Autobauer stammte, verstärkte zudem das Empfinden der Innovationsschwäche der eigenen Wirtschaft. Auch berührte dieser Aspekt ein weiteres Konfliktfeld, das von Parteimitgliedern im Zuge der Einführung des neuen 60 Hier und im Folgenden ZAIG: Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung auf die in den Massen medien der DDR erfolgten Veröffentlichungen zum Personenkraftwagen ›Wartburg 1.3‹, 26. 09. 1988. In: BStU, ZAIG 4241, Bl. 1 – 5. Siehe auch: ›Wartburg mit Viertakt-Motor‹. In: Neues Deutschland, 27. 08. 1988, S. 3. 61 ZAIG : Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Pkw ›Wartburg 1.3‹, 27. 10. 1988. In: BStU, ZAIG 4241, Bl. 7 – 11, hier Bl. 7. 62 Abteilung XX der MfS-BV Berlin: Reaktionen der Bevölkerung, 20. 09. 1988. In: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX 3720, Bl. 103. Siehe auch Zatlin: The Currency of Socialism (wie Anm. 40), S. 225 –227.
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Wartburgmodells ebenfalls emotional diskutiert wurde. Die Zugangsfrage zur begehrten D-Mark führte gerade in der SED-Mitgliederschaft zu erheblichen Verwerfungen. Jene, die zufällig Verwandte im Westen hatten, verfügten auch über ›harte‹ D-Mark, womit sie in den Intershop-Läden jene Mangelware kaufen konnte, die in gewöhnlichen Geschäften nicht angeboten wurde. All jene ohne Westverwandtschaft und Zugang zur westdeutschen Währung fühlten sich dagegen erheblich benachteiligt. Gerade Parteimitglieder aus dieser Gruppe waren verbittert, dass sich ihr jahrlanges, zeitintensives Engagement für die SED und Gesellschaft nicht auszahle. Auch die ZK-Information zum Wartburg beruhigte die Gemüter nicht. Im Gegenteil empörten sich Parteimitglieder über die Argumente der Parteiführung und waren der Meinung, »die Autor*innen wüssten offenbar nicht mehr, wie es an der Basis aussieht, was die Werktätigen denken«.63 Das MfS notierte, dass die ZK-Information innerparteilich »überhaupt nicht oder nur formal ausgewertet bzw. angezweifelt und als unglaubwürdig zurück gewiesen werde, in Meinungsäußerungen in einzelnen Gesprächen bzw. auf Versammlungen offen eine von den zentralen Orientierungen abweichende Haltung zum Ausdruck gebracht wird«.64 Dass SED-Mitglieder nun ganz offen auch in Parteiversammlungen abweichende Haltungen zum Ausdruck brachten, hätte eigentlich Parteiverfahren nach sich ziehen müssen, wie im Stahlwerk im August 1980 gegenüber des Kranfahrers geschehen. Diese Disziplinierungen blieben nun jedoch aus. Während Parteimitglieder nach außen immer schweigsamer wurden, begannen sie am Versammlungstisch vermehrt die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten. Als im September 1989 die Ausreisewelle die Gemüter bewegte, die Massendemonstrationen sich langsam formierten und Genoss*innen überall in der DDR damit begannen, ihre Mitgliederbücher abzugeben, widmete das MfS der desolaten Lage der Parteiorganisationen erstmals einen eigenen Stimmungsbericht.65 Darin schilderten die Auswertungsoffiziere unter anderem, dass hauptamtliche Parteifunktionär*innen in ihrer Argumentation hilflos wirkten und kritischen Fragen auswichen. Parteimitglieder vermissten überzeugende Argumente und Hintergrundinformationen, so dass viele resignierten, weil sie sich alleingelassen fühlten. Diese Atmosphäre existierte bereits seit mindestens einem Jahr. Neu war, 63 ZAIG: Weitere Hinweise (wie Anm. 61), Bl. 8. 64 Ebd. Bl. 11. 65 Hier und im Folgenden ZAIG: Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen von Mitgliedern und Funktionären der SED zu einigen aktuellen Aspekten der Lage in der DDR und zum innerparteilichen Leben, 11. 09. 1989. In: BStU, ZAIG Nr. 4256, Bl. 6 – 11.
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dass Parteimitglieder nun damit begannen, ihren Austritt zu erklären, und das MfS machte drei Hauptmotive aus: die Versorgungsmisere, mangelndes Vertrauen in die Parteiführung und die Informationspolitik. Auch waren es überwiegend Arbeiter*innen, die der Partei zuerst den Rücken kehrten – so auch im Stahlwerk Brandenburg.66 Auch hier war im September 1989 die Austrittwelle in vollem Gange. Die Leitung der Grundorganisation (bestehend aus Parteisekretär*in und meist auch staatlichen Leiter*in) war angehalten, so genannte Aussprachen mit den Austrittswilligen zu führen, um sie mit einer Mischung aus Überredung und Drohung von ihrem Schritt abzubringen. Wie etwa die SED-Kreisleitung Königs Wusterhausen nun meldete, kapitulierten sie vor dieser Aufgabe. Aus ihrer Sicht seien die Austrittsgründe nicht zu entkräften und würden somit kommentarlos hingenommen.67 Mit der versiegenden Bereitschaft, einander zu disziplinieren, erodierte die Repressionskraft als letzter innerparteilicher Integrationspfeiler. Damit waren die Ventile weit geöffnet und die Austrittswelle setzte parallel zur Fluchtwelle und den sich allmählich formierenden Massendemonstrationen ein.
4. Die vergesellschaftete SED als handlungsleitende Einheit – Fazit Aus diesen Erkundungen ergibt sich das Bild, dass die SED und ihre betrieb lichen Parteiorganisationen kein funktionsloser Fremdkörper, sondern integraler Bestandteil der betriebszentrierten Arbeitsgesellschaft waren. Sie war mit ihren vielen Mitgliedern in großen Industriebetrieben, aber auch in Verwaltungen verankert und mit dem Betriebs- bzw. Arbeitsleben untrennbar verwachsen. Die Themen des Arbeitsplatzes und der Lebenswelt der unterschiedlichen Milieus prägte auch die Atmosphäre am Versammlungstisch. Disziplinierungen und einvernehmliches Schweigen bei ›politischen Diskussionen‹ waren zwar Teil der Parteiöffentlichkeit. An der Tagesordnung waren jedoch die Verständigung über Probleme des (Betriebs-)Alltags sowie deren Behebung. Der seit der innerparteilichen Machtdurchsetzung betriebene Ausbau der Grundorganisationen zu gesellschaftlichen Steuerungsinstanzen wurde von den Mitgliedern vor Ort angenommen und 66 KPKK Brandenburg: Information zu Ausschlüssen, Streichungen und Austritten in Zusammenhang mit dem Dokumententausch, 22. 09. 1989. In: BLHA, Rep. 530 Pdm. Nr. 7764, Bl. 1 – 3. Siehe auch Abteilung Parteiorgane des ZK: Bericht über den Verlauf und die Ergebnisse des Umtausches der Parteidokumente 1989, 22. 09. 1989. In: SAPMO-BArch, DY/30/J IV 2/3a, Protokoll Nr. 105 der Sitzung des Sekretariats des ZK am 27. 09. 1989, o. Bl. 67 SED-Kreisleitung Königs Wusterhausen an die Bezirksleitung der SED in Potsdam, 21. 09. 1989. In: BLHA, Rep. 530 Pdm. Nr. 7764, o. Bl.
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Unterstützung für die vielfältigen Belange eingefordert. V ersorgungsprobleme oder etwa Schwierigkeiten mit der Infrastruktur wurden in der Parteiöffentlichkeit selbstbewusst vorgebracht und eine Lösung der Parteiapparate erwartet. Die Dominanz der alltäglichen ›kleinen Probleme‹ in der entpolitisierten Partei öffentlichkeit war natürlich auch Resultat der strengen Sagbarkeitsregeln, wo alternative politische Vorstellungen nicht artikuliert werden durften. Zugleich verdeutlicht dieses Phänomen die kommunikative Dimension der Vergesellschaftung der SED. Damit kam Parteimitgliedern eine stabilisierende Funktion im politischen System zu, was auch am Ausbau des parteiinternen Informationskanals deutlich wird. Der Wissensvorsprung konnte im Berufs- und Alltagsleben nicht nur Vorteile mit sich bringen. Dieser klandestine Informationsdienst stärkte auch das Gefühl einer gewissen Exklusivität und sollte Parteimitglieder dazu befähigen, in einem Umfeld, geprägt von Gerüchten und Berichten der Westmedien, für die Parteilinie einzustehen. Zwar waren politische Disziplinierungen stets ein zentrales Integrationsinstrument, das jedoch nur gelegentlich zum Einsatz kam und im Hintergrund wirkte. Seit den 1960er Jahren bildeten die vorpolitische Kommunikation und Ideologievermittlung die Schwerpunkte der Tätigkeit auf allen Parteiebenen, und die zugedachte Vermittlerrolle wurde von Parteimitgliedern teilweise mit großem Engagement angenommen. Ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen unterschieden sich dabei stark vom Berufsprofil und von ihrer Milieuzugehörigkeit. Durch ihr Mitwirken wurde die Autorität der Staatspartei als handlungsleitende Einheit reproduziert, womit sie einen Beitrag zur Stabilität des politischen Systems leisteten. Ebendiese ging im Laufe der 1980er Jahre sukzessive verloren. In der sich zuspitzenden Versorgungskrise büßten die Grundorganisationen im Laufe der 1980er Jahre ihre Steuerungsfunktion ein, so dass sich Parteimitglieder schrittweise von ihrer Vermittlerrolle zurückzogen. Dieser Erosionsprozess war auch anderen Konfliktfeldern geschuldet, wie etwa der wachsenden Präsenz des Westens oder der Politik Gorbatschows, die eine Repolitisierung in der Mitgliederschaft bewirkte. Doch gerade für Industriebetriebe bildeten die wirtschaftliche Talfahrt und die Versorgungskrise die zentralen Konfliktfelder. Dass die SED sukzessive ihre Funktion als Steuerungsinstanz einbüßte, ließ Parteimitglieder nicht nur von ihrer Vermittlerrolle abrücken. Auch die strengen Grenzen des Sagbaren wurden brüchig. Dieser Legitimationsverlust kann als zweite Stufe der Vergesellschaftung der SED gedeutet werden. Denn mit dem wachsenden Unruhepotenzial in der Bevölkerung kam es nicht zur Wiederkehr der ›Kampforganisation‹ – auch wenn der Parteiführung diese Rolle in der finalen Krise vor Augen schwebte. Stattdessen war die Entkräftung der Mitgliederpartei als eigenständiger, korrigierender und disziplinierender Akteur der geschichtsmächtige Prozess.
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Es waren zunächst insbesondere Arbeiter*innen und Leitungskader der Industriebetriebe, die der SED scharenweise den Rücken kehrten und ihre Parteibücher abgaben. Ihre tendenziell geringe Bindung zur SED war den massiven Rekrutierungsbemühungen geschuldet sowie der untrennbaren Verbindung von Parteizugehörigkeit und Leitungstätigkeit. Für sie war die SED ordnende Kraft, Vernetzungsraum und alternativloser Handlungsrahmen. Mit dem Versiegen der SED als handlungsleitende Einheit verlor ihr Engagement für die Partei an Sinn. Doch nicht alle wandten sich gleich von der SED ab. Für einige blieb die SED auch im Zerfall zentraler Handlungsrahmen, um sich für die Bedürfnisse ihres Betriebes und ihrer Kolleg*innen einzusetzen. Gemeinsam mit kritisch-treuen (Partei-)Intellektuellen engagierten sie sich etwa in der Plattform WF – eine Initiative einiger SED-Mitglieder des Werks für Fernsehelektronik in Berlin – für einen moralischen Neustart und erzwangen die Einberufung eines Sonderparteitags. Dort wurde nicht zuletzt beschlossen, die betrieblichen Parteiorganisationen abzuschaffen, womit auch formal das Ende der Parteibasis einer kommunistischen Partei sowjetischen Typs eingeläutet wurde. Ab 1990 galt es für die nun territorial organisierten verbliebenen Mitglieder der SED-PDS, die ersten demokratischen Wahlen zu bestreiten. 1991 war die in Partei des Demokratischen Sozialismus umbenannte Organisation mit 240.000 Mitgliedern auf 10 Prozent ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. 97 Prozent hatten vormals das SEDParteibuch besessen.68
68 Michael Chrapa/Dietmar Wittich: Die Mitgliedschaft, der große Lümmel. Forschungsbericht zur Mitgliederbefragung der PDS 2000. Berlin/Halle 2000, S. 8. Die Transformation der PDS ist in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Studien beschrieben worden und rückt nun in den Fokus einer zeithistorischen Neuanalyse. Vgl. Dissertationsprojekt von Antonia Gäbler: Von der SED zur PDS. Die Transformation der DDR-Staatspartei in der Demokratie.
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Systemloyale Gemeinschaften Die Basis der Blockpartei CDU
Ein ständiger Begleiter der CDU in Ostdeutschland ist ihre DDR-Vergangenheit. Bei den in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Diskussionen wird gerade die Rolle der ›einfachen‹ Mitglieder kontrovers bewertet. Öffentlich ist reflexhaft von ›Blockflöten‹ die Rede. Dies war zuletzt nach den Landtagswahlen in Thüringen im Herbst 2019 der Fall, als die Union eine Koalition mit der Linkspartei auch wegen deren Status als Nachfolgerin der SED ablehnte.1 Das Sprachspiel beruht auf der populären Auffassung, dass Mitglieder und Funktionäre der CDU (wie der drei anderen Blockparteien) stets widerspruchslos der SED gefolgt seien. Die mit der Metapher einhergehenden Vorwürfe reichen bis in die DDR-Zeit zurück. Ursprünglich wohl als Spott in der Bevölkerung entstanden,2 spielte der Begriff im Wahlkampf zur Volkskammerwahl im Frühjahr 1990 eine prominente Rolle. So attackierte das Bündnis 90 als Zusammenschluss von Oppositionsgruppen, zu denen das Neue Forum gehörte, die Ost-CDU mit dem Slogan: »Wer bei Honecker BLOCKflöte gelernt hat, kann in keiner Demokratie die erste Geige spielen«.3 Danach etablierte sich der eingängige Begriff deutschlandweit, nicht zuletzt weil Journalisten und Publizisten ihn häufig verwendeten, wenn sie über die Blockpartei CDU schrieben.4 Eine gänzlich andere Position nimmt die CDU ein, die das Etikett der ›Blockflöten‹ naturgemäß ablehnt. Für sie waren ein Großteil der Mitglieder »aufrechte 1 Siehe beispielhaft für die mediale Berichterstattung Jens Schneider: Aus der Blockflöte. In: Süddeutsche Zeitung, 19. Februar 2020, S. 2 und Martin Debes: Unter Blockflöten. In: Zeit Online. Abgerufen unter URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-01/ thueringen-landtag-regierungsbildung-cdu-fdp-linke, letzter Zugriff: 01. 07. 2020. 2 Ohne Verfasser: Tausend kleine Dinge. In: Der Spiegel, 23. Oktober 1989, S. 34 f. und Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2 2009, S. 45. 3 Hervorhebung im Original. Zum Wahlkampf anlässlich der Volkskammerwahlen am 18. März 1990 vgl. Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München 2009, S. 216 – 225 sowie die zeitgenössischen Dokumente und Fotos in: Jan Wenzel (Hrsg.): Das Jahr 1990 freilegen. Remontage der Zeit. Leipzig 2019, S. 155 – 280. 4 So Christian von Ditfurth: Blockflöten. Wie die CDU ihre realsozialistische Vergangenheit verdrängt. Köln 1991.
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Freunde«, die weiterhin die »Idee der christlichen Demokratie« gepflegt hätten im Gegensatz zur SED-treuen Parteiführung um den langjährigen Vorsitzenden Gerald Götting.5 Angesichts dieser Auseinandersetzungen hat sich die historische Forschung vor allem mit der Haltung der CDU-Mitglieder zum staatssozialistischen System auseinandergesetzt. Auch sie kommt zu dem Schluss, dass sich die Basis wesentlich kritischer gegenüber der SED und ihrer Herrschaftsordnung verhalten habe als die Parteiführung.6 Im Schatten dieser bis heute wirkmächtigen Narrative über die ›einfachen‹ Mitglieder sind allerdings zentrale Aspekte unberücksichtigt geblieben. Neben dem Alltag der ›Unionsfreuende‹ ist die Frage offen, warum sie trotz ihrer Unzufriedenheit in der Partei blieben. Der vorliegende Beitrag setzt an dieser Stelle an und beleuchtet die Lebenswelt der CDU-Basis in den Jahrzehnten nach dem Mauerbau im August 1961, als die CDU als Blockpartei an der Seite der SED agierte. Mit der Parteibasis – gemeint sind damit die Mitglieder ohne oder in ehrenamtlicher Funktion – rücken die Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in den Städten und ländlichen Gemeinden der DDR in den Blick, mit denen sich die Forschung seit einigen Jahren intensiver beschäftigt.7 Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Parteileben im Thüringer Raum, zu dem die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl gehörten. Methodisch wiederum orientiert sich der vorliegende Beitrag an dem Verständnis von Herrschaft als Aushandlungs- und Interaktionsprozess, das Alf Lüdtke und Thomas 5 Geteilt. Vereint. Gemeinsam. Perspektiven für den Osten Deutschlands. Beschluss des 22. Parteitags der CDU Deutschland 30.11. – 02. 12. 2008 in Stuttgart, S. 4. Abgerufen unter URL : https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=8b689d0b-0bef-f4f4-7533- e78f57d41563&groupId=252038, letzter Zugriff: 13. 05. 2022 und CDU -Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.): Freiheit in Verantwortung. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, beschlossen vom 5. Parteitag in Hamburg 20. – 23. Februar 1994, Bonn 1994, S. 4. Abgerufen unter URL : https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uu id=3c7580d4-1a63-31f6-5d94-4f057de659c0&groupId=252038, letzter Zugriff: 13. 05. 2022. Zum Geschichtsbild der CDU siehe auch Frank Bösch: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU . Stuttgart/München 2002, S. 58 und Thomas Sauer: Die CDU . In: Karl Schmitt/Torsten Oppelland (Hrsg.): Parteien in Thüringen. Ein Handbuch (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 16). Düsseldorf 2008, S. 41 – 139, hier S. 66 f. 6 Siehe beispielsweise Manfred Agethen: Unruhepotentiale und Reformbestrebungen an der Basis der Ost-CDU im Vorfeld der Wende. In: Historisch-Politische Mitteilungen (HPM) 1 (1994), S. 89 – 114, hier S. 90 f.; Michael Richter: Christlich-Demokratische Union (CDU). In: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Hrsg.): Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch. Berlin 2002, S. 284 – 310, hier S. 305 f. und Christian S chwiesselmann: Zwischen Fremdsteuerung und Mitverantwortung: Innenansichten der CDU im Norden der DDR, In: HPM 16 (2009), S. 109 – 153, hier S. 152 f. 7 Siehe dazu den Forschungsüberblick in der Einleitung dieses Bandes.
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Lindenberger entwickelt haben.8 In diesem Sinne wird davon ausgegangen, dass auch mindermächtige Akteure wie die CDU -Mitglieder aktiv und eigenständig agierten. Dabei geht es weniger um offenen Widerspruch der herrschenden Ordnung gegenüber, den nur wenige im besagten Zeitraum wagten. Ihre Handlungsmacht – Lindenberger spricht von »Eigen-Sinn« – äußerte sich eher auf unspektakuläre Weise im Alltag, in dem sie die bestehenden Strukturen für die Verwirklichung eigener Anliegen nutzten. Dabei betont Lindenberger zu Recht, dass auch s olche subkutanen Aneignungen das geltende Regelwerk reproduziert und damit die Herrschaftsordnung stabilisiert hätten. Vor d iesem Hintergrund zeigt der vorliegende Beitrag zum einen, dass die Mitglieder im Parteialltag in systemloyaler Weise die Erwartungen der Führung unterliefen; eine auf grundlegende Veränderungen drängende Politisierung der Basis setzte erst in den 1980er Jahren ein. Zum anderen wird die These vertreten, dass die vor Ort gepflegten Praktiken ein spezifisches Gemeinschaftsgefühl stifteten, das die Mitglieder in der Partei hielt. Diese Gemeinschaften lösten sich größtenteils mit dem Wandel der CDU im Zuge des revolutionären Umbruchs in der DDR 1989/1990 auf.9
1. Die CDU-Ortsgruppe als polyvalenter Akteur in der ›sozialistischen Demokratie‹ Als Blockpartei orientierte sich die CDU stark an der SED. So akzeptierte die Union nicht nur den politischen Führungsanspruch der Staatspartei und strebte keine programmatische Profilierung an, sondern passte sich auch strukturell und ideell-kulturell an. Geleitet vom Prinzip des ›Demokratischen Zentralismus‹, konzentrierte sich die Entscheidungsmacht bei der Parteiführung in Berlin und ihrem Apparat, dem Sekretariat des Hauptvorstands, dessen Beschlüsse 8 Alf Lüdtke: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 91). Göttingen 1991, S. 9 – 63; Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR (Zeithistorische Studien, 12). Köln/Weimar/Wien 1999, S. 13 – 4 4 und ders.: Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Das Alltagsleben der DDR und sein Platz in der Erinnerungskultur des vereinten Deutschlands. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 40 (2000), S. 5 – 12. 9 Der Beitrag schließt an frühere Überlegungen des Autors an, vgl. Bertram Triebel: Die Thüringer CDU in der SBZ/DDR – Blockpartei mit Eigeninteresse. Sankt Augustin/Berlin 2 2020, S. 96 – 104 und S. 140 – 165 und ders: Innenleben einer Blockpartei. Die Thüringer CDU in der DDR und ihre Mitglieder. In: HPM 26 (2019), S. 65 – 85, hier S. 78 – 84.
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alle n achgeordneten Instanzen umzusetzen hatten. Der offizielle Wertekanon der CDU als Teil einer ›Parteikultur‹,10 die im Idealfall identitäts- und gemeinschaftsstiftend wirkte, wiederum speiste sich zum großen Teil aus der marxistischleninistischen Ideologie. In d iesem Sinne gehörte die ›führende Rolle‹ der SED ebenso zu den Leitbildern wie der Sozialismus als unantastbares Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell. Mit dieser Weltsicht einher ging die Vorstellung von Politik als Kampf zwischen Freund und Feind, begleitet von militärisch gefärbten Sprachmustern, die ebenfalls aus der kommunistischen Organisationskultur stammten. Zum Selbstverständnis der Blockpartei CDU gehörte auch der christliche Glaube, der an deren Gründung als überkonfessionelle Sammlungsbewegung im Juni 1945 erinnerte. Mit diesem religiösen Bezug unterschied sich die CDU von der SED und den anderen Blockparteien, die sich allesamt atheistisch gaben. Allerdings stellte der christliche Glaube keine eigenständige Größe dar, die auf eine Welt jenseits der herrschenden Ordnung verwies, sondern war aufs Engste mit dem Leitmotiv des Sozialismus verwoben. Diese Verquickung spiegelte sich auch in der Symbolsprache der CDU in der DDR wider. So lautete ihr Wahlspruch Ex oriente pax (Aus dem Osten kommt der Frieden), eine bewusste Abwandlung des vielfach besetzten Ausspruchs Ex oriente lux (aus dem Osten kommt das Licht), womit auch das Christentum gemeint war.11 Zudem schmückte das Parteiem blem eine Taube, ein christliches Motiv für Versöhnung sowie für den Heiligen 10 Dabei handelt sich nicht um einen zeitgenössischen Begriff, sondern um ein kulturgeschichtlich inspiriertes Konzept, um das Innenleben von Parteien zu untersuchen. In den Blick rücken dabei soziokulturelle Aspekte wie handlungsleitende Normen, Verhaltens- und Sprachmuster, Symbole und Rituale und deren organisatorische Bedeutung, etwa für den inneren Zusammenhalt. In der DDR -Forschung haben insbesondere Arbeiten zur SED diesen Ansatz in Teilen aufgegriffen, vgl. Andrea Bahr: Parteiherrschaft vor Ort. Die SED -Kreisleitung Brandenburg 1961 – 1989 (Kommunismus und Gesellschaft, 3). Berlin 2016, S. 146 – 156 und Sabine Pannen: Wo ein Genosse ist, da ist die Partei! Der innere Zerfall der SED -Parteibasis 1979 – 1989 (Kommunismus und Gesellschaft, 7). Berlin 2018, S. 87 – 93. Zu den wesentlichen Stichwortgebern einer historischen ›Parteikultur‹ zählen die Organisationssoziologie sowie neuere Strömungen in der Institutionen- und Unternehmensgeschichte, siehe dazu Stefan Kühl: Organisation. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 113 – 136; Bernhard Löffler: Moderne Institutionengeschichte in kulturhistorischer Erweiterung. In: HansChristof Kraus/Thomas Nicklas (Hrsg.): Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege (Beihefte der Historischen Zeitung, 44). München 2007, S. 155 – 183, hier S. 166 – 174 und Hartmut Berghoff: Unternehmenskultur und Herrschaftstechnik. Industrieller Paternalismus: Hohner von 1857 bis 1918. In: Geschichte und Gesellschaft (GG ) 23 (1997), S. 167 – 205, hier S. 172 – 180. 11 Den Ausspruch ex oriente pax prägte der Parteivorsitzende Otto Nuschke auf dem 5. Parteitag der CDU in der DDR im September 1950. Dort wurde auch das Parteiemblem mit der Taube beschlossen, vgl. dazu Gerhard Fischer: Otto Nuschke. Ein Lebensbild. Berlin 1983, S. 222 f. Ich danke Oliver Salten (Sankt Augustin) für den Quellenhinweis.
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Geist, das sich in der Nachkriegszeit zum Z eichen des Friedens nicht zuletzt in der DDR entwickelte. Mit der engen Anlehnung an die SED korrespondierte die Rolle der CDU im politischen System der DDR. In der ›sozialistischen Demokratie‹, wie die auf die Staatspartei zugeschnittene Ordnung in bewusster Abgrenzung zur ›bürgerlichen Demokratie‹ im westlichen Ausland offiziell hieß, hatte die Union vor allem eine integrative Funktion.12 Ihre Aufgabe war es, die eigenen Mitglieder und das der Partei nahestehende gesellschaftliche Umfeld – allen voran die christlichen Bevölkerungsgruppen – in das staatssozialistische System einzubinden. Für die CDU war daher die Arbeit mit der Parteibasis von zentraler Bedeutung. Um ein Vielfaches kleiner als die SED, besaß sie unter den Blockparteien hingegen die meisten Mitglieder. Nachdem die quantitative Entwicklung in den 1960er Jahren auch unter dem Einfluss der SED bei der Marke von rund 100.000 ›Unionsfreundinnen und -freunden‹ stagniert hatte, erlebte die CDU seit 1970 ein stetiges Wachstum, von knapp 95.000 auf 140.000 Mitglieder im Jahr 1988.13 Anders als bei der SED waren die CDU-Mitglieder nicht in den Betrieben organisiert, sondern in ihren Wohnorten, weshalb die lokalen Parteigruppen auch Ortsgruppen (OG ) hießen.14 Sie hatten offiziell zwei Funktionen. Zum einen ging es um die ›politisch-ideologische Arbeit‹ mit den Mitgliedern. Ihnen sollte in den monatlichen Versammlungen die geltende Parteilinie zu aktuellen Ereignissen und Problemen im In- und Ausland vermittelt werden. Die zu vertretenden Standpunkte gab das Sekretariat des Hauptvorstands in Berlin auf unterschiedlichen Wegen vor, teils in gesonderten Schreiben an die Vorsitzenden der Ortsgruppen, sogenannten Informationen, teils in der Zeitschrift Union teilt mit, 12 Die gesamtdeutsche Rolle der CDU aus der Zeit der SBZ und frühen DDR trat nach dem Mauerbau dagegen deutlich in den Hintergrund, weil sie nicht mehr den Zielsetzungen der SED entsprach, siehe dazu Siegfried Suckut: Die DDR-Blockparteien im Lichte neuer Quellen. In: Jürgen Weber (Hrsg.): Der SED-Staat: Neues über eine vergangene Diktatur. München 1994, S. 99 – 199, hier S. 104 f. Zu den Funktionen der Blockparteien in der SBZ/ DDR vgl. Hermann Weber: Die DDR 1945 – 1990 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 20). München 42006, S. 35. 13 ACDP 07 – 011 – 3857, Mitgliederzahl der CDU, Statistik vom 13. September 1990, unpag. Zum Vergleich: Im Jahr 1987 verzeichnete die LDPD 104.000 Mitglieder, die DBD 115.000 und die NDPD 110.000, Zahlen nach Peter Joachim Lapp: Die »befreundeten Parteien« der SED. DDR-Blockparteien heute. Köln 1988, S. 146. Die SED registrierte damals 2,3 Millionen Mitglieder, vgl. dazu Andreas Malycha/Peter Jochen Winters: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei. München 2009, S. 415. 14 Zur Organisation der SED siehe Lutz Priess: Die Organisationsstruktur. In: Andreas Herbst u. a. (Hrsg.): Die SED. Geschichte-Organisation-Politik, Ein Handbuch. Berlin 1997, S. 124 – 144.
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die sich an die haupt- und ehrenamtlichen Funktionärinnen und Funktionären der Union richtete. Entsprechend dem eigenen Wertekanon vertrat die CDUFührung unter Gerald Götting stets systemstützende Deutungsmuster. Als beispielsweise im Frühjahr 1984 Kommunalwahlen in der DDR anstanden, sollten die »Unionsfreunde« erkennen, »daß in der sozialistischen Demokratie die Übereinstimmung des Wesens und der Ziele sozialistischer Staatspolitik mit den Interessen eines jeden Bürgers zum Ausdruck kommt«.15 Zum anderen war die Ortsgruppe im parteioffiziellen Verständnis der Raum, wo die Mitglieder zur Mitarbeit in der ›sozialistischen Demokratie‹ mobilisiert wurden. ›Gesellschaftliche Mitverantwortung‹ zeigte allerdings nicht nur, wer Mandate in den kommunalen Volksvertretungen übernahm. Gefragt waren auch Tätigkeiten wie Sammelaktionen und Arbeitseinsätze in den Gemeinden. Im Idealfall verabschiedeten die »Unionsfreundinnen und -freunde« stets zu Jahresbeginn ein ›Ortsgruppenprogramm‹, indem sie sich unter dem Slogan »Jeder Unionsfreund eine Tat« zu bestimmten Aufgaben verpflichteten. Ein Jahr später sollten die Leistungen, von denen viele im Rahmen des ›Mach-mit!‹Wettbewerbs der Nationalen Front stattfanden, ›abgerechnet‹ werden.16 Wie mustergültiges Engagement von Ortsgruppen aussah, verdeutlichen zahlreiche Artikel in der parteieigenen Presse. So veröffentlichte die Zeitschrift Union teilt mit am Heftende gewöhnlich eine Bildreportage über eine Ortsgruppe und ihren vorbildhaften Beitrag zum lokalen Gemeinwesen. Im März 1984 etwa stellte die Redaktion die Ortsgruppe in Böhlitz im Bezirk Leipzig vor.17 Deren Mitglieder erscheinen als umtriebige wie geschätzte Einwohner*innen der Gemeinde, sei es als Wehrleiter der Freiwilligen Feuerwehr oder Angehöriger des Gemeindekirchenrates. Zugleich hob die Darstellung die gemeinschaftlichen Aktivitäten hervor, die ›Unionsfreundinnen und -freunde‹ halfen unter anderem bei der Renovierung der Kirche und beim Umbau des Kindergartens. Passend zu dieser Bildsprache lobte der Begleittext die »stabile Leistungsstärke und immer neue[n] Willenskräfte« der Ortsgruppe. Mit solchen bilderbuchartigen Geschichten kommunizierte die Parteiführung ihre Erwartungen an die Mitglieder vor Ort. Zugleich gestand sie mit diesen visuellen Appellen ein, dass der Alltag in den Ortsgruppen von ihren Vorstellungen abwich. In der Tat pflegten die Mitglieder oft einen e igenwilligen Umgang 15 Hinweise für unsere Ortsgruppenverstände. In: Union teilt mit 2 (1984), S. 3. 16 Zur Geschichte des Wettbewerbs siehe Jan Palmowski: Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag (Kommunismus und Gesellschaft, 4). Berlin 2016, S. 165 – 180. 17 Vgl. Union teilt mit 3 (1984), Umschlagseite.
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mit den erhobenen Forderungen. Dies begann beim Turnus der Mitgliederversammlungen, die monatlich stattfinden sollten. Es passierte aber immer wieder, dass sich die Mitglieder über längere Zeit nicht trafen. Dahinter steckte weniger Unbotmäßigkeit als mangelnde Zeit verbunden mit der Tatsache, dass einige der ehrenamtlichen Vorsitzenden der Ortsgruppen mit der Organisation überfordert waren. Bei den Versammlungen selbst stand die politische Instruktion nicht im Vordergrund. Entweder ging man auf die Themen der Parteiführung nur am Rande ein oder diskutierte sie nicht in dem verordneten Interpretationsrahmen. Diese Schwierigkeiten hatte Walter Günnel, stellvertretender Vorsitzender der CDU im Bezirk Gera, vor Augen, als er im September 1983 forderte, dass in jeder Ortsgruppe »monatlich Mitgliederversammlungen stattfinden, die ein hohes politisches Niveau haben und in denen möglichst alle Unionsfreunde erfaßt werden«.18 Stattdessen nutzten die Mitglieder die Runden, um offener über Ereignisse und Missstände im Ort und im Land zu reden. In der Ortsgruppe von Manfred Heise in Treffurt bei Eisenach im Bezirk Erfurt beispielsweise kreisten die Diskussionen in den 1980er Jahren vor allem um die Mangelwirtschaft in der DDR: Dass sie 17 Jahre auf ein Auto warten müssen. Dass sie keine Kohlen, dass sie keinen Koks bekommen, dass Sie keine Baustoffe, keine Materialien bekommen. All das ist doch beredet worden.19
Bei aller Unzufriedenheit bewegten sich die Mitglieder mit ihren Äußerungen größtenteils in den Grenzen des Sagbaren in der DDR. Grundlegende Kritik am System – allen voran am Führungsanspruch der SED – dagegen mieden sie wie die Mehrheit der Bevölkerung.20 »Da konnten wir über solche Missstände [wie Versorgungsmängel] eigentlich reden, solange sie nicht [die] Politik [gemeint der SED sowie ihre herausgehobene Stellung in der DDR ] betraf[en]«,21 erinnert sich Hans-Peter Häfner an die Selbstbeschränkung bei den Gesprächen in seiner Ortsgruppe in Vacha im Bezirk Suhl. Dass die Mitglieder die politischen Vorgaben unterliefen und den Versammlungen einen eigenen Sinn gaben, missfiel der CDU-Führung um Gerald Götting mit ihrem umfassenden Steuerungsanspruch. Ihr blieben allerdings meistens nur 18 Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) 03 – 045 – 079/1, Redemanuskript von Walter Günnel für Vorstandssitzung des BV Gera am 8. September 1983. 19 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Manfred Heise am 31. Mai 2017, S. 13. 20 Zur Deutung der DDR als »Diktatur der Grenzen« siehe Thomas Lindenberger: Grenzregime und Gesellschaftskonstruktionen im SED-Staat. In: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung. München 2011, S. 111 – 121, hier S. 117 – 119. 21 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Dr. Hans-Peter Häfner am 29. Mai 2017, S. 19.
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Ermahnungen, da für eine wirksame Durchsetzung des Ideologietransfers die personellen Ressourcen fehlten. In den Kreisen fiel der hauptamtliche Apparat sehr klein aus, bei den größeren Verbänden teilte sich der Kreissekretär bzw. die Kreissekretärin die Arbeit als ›Grenzwächter‹ mit einer Stellvertreterin oder einem Stellvertreter, bei kleineren musste er bzw. sie diese Aufgabe allein bewältigen. Mit so wenig Funktionärinnen und Funktionären war es nicht möglich, alle Ortsgruppen in einem Kreis kontinuierlich im Sinne der Zentrale ›anzuleiten‹. Ohne es offen einzugestehen, war diese Grauzone für die Parteiführung letztlich tolerabel, stellten doch die Mitglieder mit ihren entpolitisierten Diskussionen über soziale Aspekte weder die herrschende Ordnung in Frage, noch waren diese außergewöhnlich. Sich über Versorgungsmängel zu beschweren, gehörte vielmehr zum Alltag vieler Menschen in der Ära Honecker und bestimmte auch die Parteiversammlungen anderer Parteien wie die SED.22 Die Mitglieder deuteten aber nicht nur die monatlichen Parteiversammlungen um. Auch die jährlichen Arbeitseinsätze eigneten sie sich auf unterschiedliche Weise an. Es gab Mitglieder, die sich den Appellen zum ›Mitmachen‹ entzogen und keine Aufgaben übernahmen. Nach parteieigenen Statistiken stellten sie allerdings eine Minderheit dar. Im August 1969 beispielsweise meldete die partei eigene Zeitung Thüringer Tageblatt im systemtypischen Duktus: Wenn sich fast 80 Prozent unserer Unionsfreunde am Wettbewerb der Städte und Gemeinden zu Ehren des 20. Jahrestages der DDR beteiligen, tragen unsere Freunde durch diesen ihren persönlichen Beitrag nicht nur zur erfolgreichen Lösung wichtiger örtlicher Vorhaben bei, sondern leisten einen nicht unwesentlichen Beitrag zur allseitigen Stärkung unserer Republik.23
Dass sich die Mehrheit der Mitglieder formal an den Wettbewerben beteiligte, bedeutete aber nicht, dass sich alle auch tatsächlich einbrachten. Eine bewährte Strategie war es, dass Mitglieder Beteiligung nur vortäuschten und im Betrieb Geleistetes als gesellschaftliches Engagement ausgaben.24 Aus solchen ›Erfolgsgeschichten‹ hat die Forschung lange geschlossen, dass sich die Menschen eher 22 Siehe zur ›Mecker-Gesellschaft‹ in der DDR Andrew Port: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin 2010, S. 149 – 157 und zu den Diskussionen unter SED-Mitgliedern in der Ära Honecker Pannen: Wo ein Genosse ist (wie Anm. 10), S. 135 – 144 und S. 178 – 200. 23 Anonym: Schöner unsere Städte und Gemeinden – mach mit. In: Thüringer Tageblatt, 5. August 1969, S. 1. 24 Siehe zu dieser Praxis Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Dr. Hans-Peter Häfner am 29. Mai 2017, S. 32 f.
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unwillig auf die staatlichen Angebote eingelassen hätten.25 Neuere Studien zu lokalen Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen zeigen dagegen, dass die Menschen sich durchaus in den partizipativen Strukturen engagiert hätten, wenn sie so eigene Interessen hätten verwirklichen können.26 Diese Form der Aneignung lässt sich auch bei einem Teil der CDU-Mitglieder feststellen. Sie nutzten die Arbeitseinsätze, um die Lebensverhältnisse in ihrem Ort zu verbessern. Diese Motivation trieb auch Johannes Hertwig an, der Mitte der 1970er Jahre die Ortsgruppe in Sulzbach bei Apolda im Bezirk Erfurt leitete. Es gab da einen Brunnen im Dorf, der nicht mehr in Ordnung war, es gab da Bachläufe, die mal sauber gemacht werden mussten, es gab Wege, die man schottern konnte, auf dem Sportplatz haben wir das Sportlerheim renoviert und Ähnliches mehr. Also wir haben mit den Möglichkeiten, die wir hatten, haben wir dort schon einiges bewegt […].27
Gerade bei Themen wie ›Ordnung‹ und ›Sauberkeit‹ trafen sich die Interessen von Staat und Bürgern, unabhängig von der Parteizugehörigkeit – Thomas Lindenberger spricht von einem herrschaftsstabilisierenden ›Minimalkonsens‹.28 Daneben verfolgten die CDU-Ortsgruppen in ihren Arbeitseinsätzen aber auch Projekte, die aus offizieller Sicht keine besondere Priorität besaßen, etwa die Sanierung der Gemeindekirche. Diese Praxis, die wiederum Anerkennung im Ort fand, schildert Gisela Farinski, Kreissekretärin im Kreisverband (KV) Eisenach in den 1980er Jahren: […] wenn es manchmal drum ging, dass an Kirchen was gemacht werden musste […,] da war immer die SED überhaupt nicht begeistert für so was. Die Ortsverbände der CDU konnten das so lange vorantreiben, immer wieder die Finger in die Wunde legen, bis das Ding lief. […] Also das waren manchmal vielleicht für einen Außenstehenden kleine Sachen, die aber doch dann was bewirkt haben, wo auch die im Ort gesehen haben: ›Mensch, die machen ja wirklich was.‹ Und wo auch ein anderer gesagt hat: ›Ach, da könntest du mitmachen‹.29
25 Dies konstatiert Thomas Lindenberger: Das Land der begrenzten Möglichkeiten. Machträume und Eigen-Sinn der DDR-Gesellschaft. In: Deutschland Archiv, 10. 08. 2016. Abgerufen unter URL: www.bpb.de/232099, letzter Zugriff: 06. 07. 2020. 26 Siehe mit Blick auf den ›Mach-mit!‹-Wettbewerb‹ vor allem Palmowski: Erfindung (wie Anm. 16), S. 181 – 201. Für diese Deutung spricht sich allgemein auch Mary Fulbrook aus, die die DDR als »partizipative Diktatur« bezeichnet, vgl. Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Herrschaft in der DDR. Darmstadt 2008, S. 26 – 33. 27 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Johannes Hertwig am 26. Oktober 2017, S. 4 f. 28 Vgl. Lindenberger: Land der begrenzten Möglichkeiten (wie Anm. 25). 29 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Gisela Farinski am 29. Mai 2017, S. 45.
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Wie sehr die Bereitschaft zum Engagement sich aus Verbundenheit mit dem heimischen Umfeld speiste, verdeutlicht auch die Tatsache, dass Ortsgruppen in den ländlichen Gemeinden oft aktiver waren als die Verbände in den Städten. Im Kreis Heiligenstadt im Bezirk Erfurt konstatierte die SED 1967 beispielsweise, dass sich die CDU-Mitglieder auf dem Land wesentlich stärker an den Aktionen der Nationalen Front beteiligt hätten als diejenigen in den Städten. Die Genossen erklärten den Unterschied damit, »daß man in den ländlichen Gemeinden oft den gesellschaftlichen und persönlichen Nutzen bei Vorhaben, die im Rahmen des Massenwettbewerbes der Nationalen Front standen, schneller erkannte«.30 Die CDU-Ortsgruppen entziehen sich klaren Zuschreibungen. Wenngleich die Mitglieder im Parteialltag die Erwartungen und Deutungsmuster ihrer Führung unterliefen, verhielten sie sich generell systemloyal. Diese Sichtweise relativiert das Bild einer unbotmäßigen Basis. Trotz ihrer vorpolitischen Praktiken stellten die Ortsgruppen aber ebenso wenig politik- und ideologieferne Räume dar, wie dies Einschätzungen als »Nischenpartei«, »unpolitische Bürgerinitiative« oder »Geselligkeitsverein« nahelegen.31 Solche Räume gab es in der von der SED gesteuerten Gesellschaft nicht.32 Wer sich jenseits kirchlicher Strukturen legal engagieren wollte, musste dies in staatlich-offiziellen Organisationen tun, zu denen die Blockpartei CDU gehörte. Dort war das System mit der SED stets gegenwärtig, mögen die Tätigkeiten aus heutiger Sicht noch so trivial und unpolitisch gewesen sein. Deutlich wird der politische Kontext jenseits des propagandistischen Überbaus an ›Grenzwächtern‹ wie den Kreissekretärinnen und Kreissekretären und dem geübten Umgang der Mitglieder mit den Regeln des Sag- und Machbaren. Die CDU -Ortsgruppe war vielmehr eine polyvalente Akteurin. Als fester Bestandteil der staatssozialistischen Organisationswelt band sie die Mitglieder in systemdienliche Aufgaben ein. Zugleich nutzten die Mitglieder die vorhandenen Strukturen für eigene Aktivitäten und Sinngebungen im Rahmen der 30 Landesarchiv Thüringen (LATh) – Hauptstaatsarchiv (HStA) Weimar, Bezirksparteiarchiv der SED-Erfurt, SED-Kreisleitung Heiligenstadt, IV A/4.06 – 140, Bericht über die Durchführung der Jahreshauptversammlung der CDU im Kreis Heiligenstadt vom 18. April 1967, unpag. 31 Die Einschätzungen stammen von Michael Richter: Christlich-Demokratische Union (CDU). In: Gerd-Rüdiger Stephan u. a. (Hrsg.): Die Parteien und Organisation der DDR. Berlin 2002, S. 284 – 311, hier S. 305; Jan Schönfelder: Die Ost-CDU in lokalen Konflikten am Beispiel des Kreises Pößneck. In: Evangelischer Pressedienst Dokumentation (epdD) 20 (2012), S. 30 – 37, hier S. 34 und Helge Matthiesen: Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich in Demokratie und Diktatur 1900 – 1990 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und politischen Parteien, 122). Düsseldorf 2000, S. 664. 32 Darauf verweist vehement Lindenberger: Grenzregime (wie Anm. 20), S. 119 f. hin.
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errschenden Ordnung. Dieser mehrdeutige Charakter wohnte aber nicht allein h lokalen CDU-Verbänden inne, sondern lässt sich auch bei anderen Parteien und Organisationen in der DDR feststellen.
2. Die Vergemeinschaftung der ›Unionsfreunde‹ in den Ortsgruppen Der Blick in den Parteialltag zeugt von einer latenten Unzufriedenheit der CDUMitglieder mit der Ausrichtung ›ihrer‹ Partei. Die eigen-sinnige Umfunktionierung der vorgegebenen Strukturen erklärt neben pragmatischen Erwägungen – mit der CDU-Mitgliedschaft legte man die allseits geforderte Bekenntnispflicht zum System ab – aber nur teilweise, warum die ›Unionsfreunde‹ mehrheitlich in der Partei blieben. Entscheidend hierfür war vielmehr, dass die Mitglieder sich als eine Gemeinschaft empfanden. Eine Gemeinschaft lässt sich als soziale Gruppe mit einem spezifischen Zusammenhalt interpretieren.33 Dieser ist nicht einfach da, sondern wird von den Angehörigen der Gemeinschaft über Inklusions- und Exklusionsprozesse geschaffen und beständig erneuert. Mit der nach innen gerichteten Vergemeinschaftung hat sich grundlegend der französische Soziologe Émile Durkheim beschäftigt. In seinem Buch über den Totemismus australischer Ureinwohner hat er herausgearbeitet, dass die Stämme ihre »Kollektivität« über Symbole und ritualisierte Handlungen (er-)lebten. »Ihre erste Wirkung [der Zeremonien] ist also, Individuen einander näher zu bringen, Kontakte unter ihnen zu vervielfachen und sie untereinander vertrauter zu machen. Damit allein ändert sich schon das Bewußtsein.«34 Im Fall der CDU-Mitglieder übernahmen die Praktiken des lokalen Parteialltags die Rolle der Zeremonien und Riten. Die ›Unionsfreunde‹ bestätigten sich entlang der Diskussionen über die sozialen und wirtschaftlichen Missstände sowie die Arbeitseinsätze für ein lebenswerteres Umfeld gegenseitig ihrer Überzeugungen und entwickelten darüber oft ein besonderes Gemeinschaftsgefühl. Parallel dazu pflegten sie ihre Zusammengehörigkeit über gemeinsame Feiern. Eine besondere Rolle spielte dabei die alljährliche Weihnachtsfeier der Ortsgruppe. Die Veranstaltung am Jahresende erinnern Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als Jahreshöhepunkt, so auch Karl Stein aus Sonneberg im Bezirk Suhl. 33 Vgl. zur theoretischen Einordnung des Folgenden Hartmut Rosa u. a.: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg 22018 (Erstausgabe 2010), S. 66 – 83. 34 Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main 1981, S. 470.
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Wir hatten jedes Jahr eine Weihnachtsfeier organisiert. In Sonneberg gibt es einen Berg namens Schlossberg, da oben gibt es eine wunderbare Gaststätte. In d iesem Saal haben wir mehrere Weihnachtsfeiern durchgeführt und vieles andere mehr. Also wir hatten ein wunderbares Zusammengehörigkeitsgefühl und auch eine gute Zusammenarbeit. Man kannte sich, man wusste, man hat an einem Strang gezogen.35
Neben der Vergemeinschaftung, die auf gruppeninternen Mechanismen fußte, trug bei den CDU-Mitgliedern ebenso die Abgrenzung nach außen zur Gemeinschaftsbildung bei. Maßgeblich hierfür waren drei Erfahrungen von Andersartigkeit und Ausschluss in der staatssozialistischen Gesellschaft. Was viele Mitglieder verband, war die Wahrnehmung, eine distanzierte Haltung zur SED zu pflegen.36 Viele, die sich der CDU anschlossen, taten dies aus einem negativen Grund: Als ›Unionsfreund‹ entzogen sie sich dem Werben der Staatspartei. Dass sie sich für die Union und nicht für eine andere Blockpartei entschieden, hing oft mit ihrem christlichen Hintergrund zusammen. Hans-Peter Häfner aus Vacha beispielsweise betont, dass vor seinem CDU-Eintritt mehrere »Abwerbeversuche« der SED gestanden hätten. Das an und für sich richtige Argument, dass ich ja umsonst bis dahin studiert hatte und meine berufliche Entwicklung genommen habe, ohne dafür Geld ausgeben zu müssen, das war der Anspruch der SED . Dann sollte ich da in diese Partei eintreten. Das habe ich schon nicht gewollt, weil meine Eltern da schwer dagegen waren. Die waren kirchlich engagiert, und ich bin dann ’72 ziemlich problemlos zum Kreissekretär der CDU gefahren und dort in die CDU aufgenommen worden.37
Eine distanzierte Haltung zur SED legten auch die Frauen und Männer an den Tag, die vorrangig in die CDU eintraten, um sich politisch in der DDR zu engagieren. Zu ihnen gehörte Johannes Hertwig aus Sulzbach. Ganz einfach, mein Vater war Pfarrer. Ich bin mit einem christlichen Menschenbild aufgewachsen und hatte nie einen Draht in Richtung SED. Da hab’ ich mir gedacht, wenn du dich politisch mal bindest, dann gehst du in die CDU. Und das habe ich dann ’76 gemacht.38
35 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Karl Stein am 30. Mai 2017, S. 19. 36 Zu dieser Selbstwahrnehmung siehe auch Matthiesen: Greifswald (wie Anm. 31), S. 662 – 664. 37 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Dr. Hans-Peter Häfner am 29. Mai 2017, S. 1. 38 Matthias Benkenstein: Die Wende ist für Jahrhunderte einmalig. Interview mit Johannes Hertwig. In: Thüringische Landeszeitung, 30. April 2015, S. 3.
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In diesem Sinne störten sich viele Mitglieder an der starken Anlehnung der CDU an der SED. Ihre Kritik äußerten sie unvermittelt, wenn etwa ›Unionsfreunde‹ aus dem Bezirksverband Suhl im Dezember 1968 die eigene Partei als »Anhängsel der SED« charakterisierten, oder indirekt, wie im Fall etlicher Vorstände von Ortsgruppen im Bezirk Erfurt, die im Februar 1981 eine zu geringe politische Eigenständigkeit ihrer Partei beklagten.39 Die zweite Ausschlusserfahrung betraf den Status der CDU in der ›sozialistischen Demokratie‹. Bei zahlreichen Mitgliedern herrschte der Eindruck vor, dass ihre Partei beständig an Bedeutung verliere, vielleicht einmal sogar aufgelöst werden könne. Diese Existenzangst, die auch die anderen Blockparteien umtrieb, war vor allem in den beiden Jahrzehnten nach dem Mauerbau virulent.40 In den 1960er Jahren strebte die SED unter Walter Ulbricht eine ›sozialistische Menschengemeinschaft‹ ohne Klassen und Schichten an, was die Blockparteien überflüssig gemacht hätte. Als Erich Honecker 1971 die Führung der Partei übernahm, begrub er die Gesellschaftsvision seines Vorgängers. Stattdessen betonte er die stetig wachsende Führungsrolle der SED in allen Bereichen – ein Kurs, den die ›Bündnispartner‹ ebenso aufschreckte. Die Mitglieder beurteilten die Stellung der CDU im System anhand der von ihr eingenommenen Posten. Verlor die Partei ein Amt, kam Unruhe an der Basis auf. Als beispielsweise die SED im Herbst 1976 Gerald Götting als Präsidenten der Volkskammer absetzte, fragten einige ›Unionsfreunde‹ sorgenvoll: »Hat die CDU im Sozialismus-Kommunismus noch eine Perspektive?«41 Gemeinschaftsstiftend wirkte zudem die Wahrnehmung vieler Mitglieder, wegen ihrer Parteizugehörigkeit gesellschaftlich benachteiligt zu werden, allem voran im Hinblick auf die eigene berufliche Laufbahn. Dieses Motiv war weit verbreitet, es findet sich in schriftlichen Unterlagen, aber auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen ungefragt von Benachteiligungen. So nahm Manfred 39 LATh – StA Meiningen, BPA SED Suhl, Bezirksleitung der SED Suhl, IV/B-2/15/600, Auswertung der Informationsberichte des Bezirksvorstandes der CDU, Dokument vom 11. Dezember 1968 und ACDP 07 – 011 – 2789, Informationsbericht des Bezirksverbandes (BV) Erfurt zum 15. Februar 1981. 40 Vgl. Suckut: DDR-Blockparteien (wie Anm. 12), S. 105 f. und speziell zur LDPD Thomas Widera: Die LDPD in der DDR als Blockpartei der SED – ein Problemaufriss. In: Ewald Grothe/Jürgen Frölich/Wolther von Kieseritzky (Hrsg.): Liberalismus- Forschung nach 25 Jahren. Bilanz und Perspektiven. Baden-Baden 2016, S. 97 – 123, hier S. 108. Zur ideologischen Ausrichtung der SED in dieser Zeit vgl. Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 – 1989. Frankfurt am Main 1992, S. 183 – 192 und 221 – 229. 41 BStU, MfS, HA XX/AKG Nr. 1366, Situation in der CDU anlässlich der Wahlen zur Volkskammer und den Bezirkstagen, Aktenvermerk vom 23. Dezember 1976, Bl. 102.
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Heise aus Treffurt bei Eisenach, der als leitender Kfz-Ingenieur in einer Autowerkstatt arbeitete, seinen Eintritt in die CDU als das »Ende einer beruflichen Karriere« wahr. Ich habe einmal in einer so genannten Leitwerkstatt eine Konferenz in Berlin vor dem VEB Importhandel, das war das Importorgan für sämtliche Importfahrzeuge, einen Beitrag da gehalten. Da war der Betriebsdirektor scheinbar zufrieden, was ich da gesagt habe, und wollte mich als Kundendienstler haben für die gesamte DDR. Das hat mich natürlich gereizt. Nach acht Tagen kriegte ich eine Absage. Der hat da irgendwie gar nicht mitgekriegt, dass ich nicht SED-Genosse war.42
Sowohl die empfundene Marginalisierung in der staatssozialistischen Gesellschaft als auch die gemeinschaftlichen Aktivitäten in- und außerhalb der Ortsgruppen trugen zur Vergemeinschaftung unter den Mitgliedern bei. Diese Bande waren neben den erwähnten Motiven der Grund für viele Mitglieder, in der Partei zu bleiben. Dies war für die Partei als Organisation wichtig, da deren ideelles Koordinatensystem nicht den inneren Zusammenhalt förderte. Im Gegenteil, viele ›Unionsfreunde‹ standen dem herrschenden Selbstverständnis der CDU als treu ergebener ›Bündnispartner‹ der SED skeptisch gegenüber. Unter den offiziellen Werten konnten sie sich lediglich mit den christlichen Anleihen identifizieren. Die Vergemeinschaftung der Mitglieder überbrückte die mangelnde Bindekraft der offiziellen Parteikultur und sorgte damit für eine gewisse organisatorische Stabilität. In dieser Hinsicht waren die lokalen Gemeinschaften für die CDU-Führung eine tolerierbare Begleiterscheinung, zumal die Mitglieder trotz des latenten Unmuts über die Ausrichtung der Partei keine generellen Veränderungen anstrebten. Zu einem politischen Akteur wurde die Basis erst in den 1980er Jahren.
3. Politisierung und Auflösung der CDU-Mitgliedergemeinschaften in der finalen Systemkrise Als im November 1989 Gerald Götting als CDU-Vorsitzender zurücktrat, spielte der Druck der Basis eine entscheidende Rolle. Angestoßen durch den Brief aus Weimar, mit dem vier CDU-Mitglieder im September 1989 öffentlichkeitswirk42 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Manfred Heise am 31. Mai 2017, S. 11. Siehe dazu auch die Liste des Sekretariats des CDU-Hauptvorstandes von Anfang März 1978 über berichtete Benachteiligungen von CDU-Mitgliedern und parteilosen Christen in der DDR, abgedruckt bei Suckut: DDR-Blockparteien (wie Anm. 12), S. 167 – 177.
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sam eine Reform der Partei forderten, hatte ein Gros der ›Unionsfreunde‹ im Zuge der Protestbewegung gegen die SED-Herrschaft immer deutlicher auf Veränderungen an der Parteispitze gedrängt.43 Auch wenn es von außen so wirkte – das politische Selbstbewusstsein der Basis bildete sich nicht spontan im Herbst 1989, sondern hatte sich in den 1980er Jahren sukzessive entwickelt. Ein wesentlicher Faktor für den Wandel war die Reformpolitik in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, der unter den Schlagwörtern ›Perestroika‹ und ›Glasnost‹ sowohl eine wirtschaftliche Erneuerung als auch gesellschaftliche Öffnung anstrebte.44 Von diesem Aufbruch angeregt, kritisierten CDU-Mitglieder wie große Teile der Bevölkerung die Missstände in der DDR immer deutlicher, vom altbekannten Mangel bestimmter Alltagsprodukte über die marode Infrastruktur und Bausubstanz bis hin zur einseitigen Berichterstattung der Medien in Form von ›Erfolgsmeldungen‹.45 Neben der sowjetischen Reformpolitik speiste sich die Politisierung der CDUBasis auch aus der Interaktion mit kirchlichen Basisgruppen. Sie entwickelten zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen eigene Ansätze, die vor allem jüngere CDU-Mitglieder beeinflussten. Ein Thema, das die Menschen aktiv werden ließ, war die immer offenkundiger werdende Umweltverschmutzung im Land.46 Die SED beobachtete das Engagement mit Argwohn und war darauf bedacht, die Gruppen in- und außerhalb der K irchen mit Hilfe der staatlichoffiziellen Organisationen einzuhegen. Diese Aufgabe fiel der Gesellschaft für 43 Siehe zum Brief aus Weimar und zum Umbruch in der CDU in der DDR im Herbst 1989 Agethen: Unruhepotentiale (wie Anm. 6), S. 94 – 98 und Michael Richter: Zur Entwicklung der Ost-CDU im Herbst 1989. In: HPM 1 (1994), S. 115 – 133. 44 Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013, S. 502 – 512. 45 Ausführlich zu den Diskussionen unter den CDU-Mitgliedern in der finalen Krise des Systems Michael Richter: Aufbruch an der Basis. Zur Situation in der Ost-CDU vom Beginn der Gorbatschowschen Reformpolitik bis zum Sonderparteitag im Dezember 1989. Eine Dokumentation. In: HPM 8 (2001), S. 189 – 240. Zur allgemeinen Stimmung in der DDR vgl. Jens Gieseke: »Seit Langem aufgestaute Unzufriedenheit breitester Bevölkerungskreise« – Das Volk in den Stimmungsberichten des Staatssicherheitsdienstes. In: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Revolution und Vereinigung. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. München 2009, S. 130 – 148. 46 Zur Umweltgeschichte in der Ära Honecker siehe Anne-Kathrin Steinmetz: Landeskultur, Stadtökologie und Umweltschutz. Die Bedeutung von Natur und Umwelt 1970 bis 1989. Eine deutsch-deutsche Betrachtung. Berlin 2017; Tobias Huff: Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR (Umwelt und Gesellschaft, 13). Göttingen 2015; Christian Möller: Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 234). Göttingen 2019 und die Beiträge der beiden letztgenannten Autoren in diesem Band.
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Natur und Umwelt im Kulturbund und der CDU zu. Ganz im Sinne der staatlichen Umweltpolitik argumentierte die Parteiführung allerorten, dass allein der Sozialismus die »Bewahrung der Schöpfung« gewährleiste.47 Diese Sichtweise fand aber weder bei den Umweltgruppen Anklang, noch überzeugten sie Teile der eigenen Basis. Gegen die parteioffizielle Deutung sprachen die eigene alltägliche Erfahrung und die ungeschönten Berichte westdeutscher Medien über den Zustand der Umwelt in der DDR. Im Oktober 1988 beispielsweise hielt die CDU-Führung im Bezirk Suhl resigniert fest, dass nach einem ARD-Beitrag über die Versalzung von Flüssen in der DDR durch die Kali-Industrie viele Mitglieder die »Glaubwürdigkeit unserer Umweltpolitik« in Frage stellen würden.48 Außerdem beteiligten sich ›Unionsfreunde‹ selbst an den Initiativen und verbreiteten deren Konzepte in der Partei. Diese Verflechtung lässt sich anhand der Ortsgruppe ›Am Steiger‹ in Erfurt illustrieren. Ihr Vorsitzender Jörg Kallenbach engagierte sich in der Umweltgruppe im evangelischen Jugendzentrum ›Oase‹, die sich unter Leitung von Stadtjugendpfarrer Aribert Rothe unter anderem mit der Luftverschmutzung in der Stadt auseinandersetzte.49 Angeregt von den dort geführten Diskussionen, thematisierte Kallenbach die in Erfurt herrschenden Umweltprobleme auch in den Versammlungen seiner Ortsgruppe offener. Wir haben da eben auch Veranstaltungen dann organisiert eben auch mit Pfarrern und mit Leuten, die sich besonders engagiert haben meinetwegen in der Umweltbewegung und haben das dann eben auch diese Themen [sic] in die CDU reingetragen. Und das merkten dann die Mitglieder, dass das eben nicht so gleich konforme [sic] Äußerungen waren, und da war dann die Beteiligung recht hoch.50
Entsprechend dieser kritischeren Gesprächsatmosphäre gaben sich die Mitglieder um Jörg Kallenbach auch mit den üblichen Formen der Beteiligung am Gemein47 ACDP 07 – 011 – 5786, Mitarbeit bei der Lösung von Aufgaben in Landeskultur und Umweltschutz, Sekretariat des Hauptvorstandes-Vorlage zum 13. Dezember 1988 (unpag.). 48 Ebd., 07 – 011 – 3845, Informationsbericht des BV Suhl zum 15. Oktober 1988, unpag. Zur Skepsis von CDU-Mitglieder gegenüber der staatlichen Umweltpolitik im Bezirk Rostock und in Greifswald vgl. Luise Güth: Die Blockparteien im SED-System der letzten DDR-Jahre. Wahrnehmung und Partizipation am Beispiel des Bezirks Rostock. Baden-Baden 2018, S. 98 f. und Matthiesen: Greifswald (wie Anm. 31), S. 666 f. 49 Siehe zur Arbeit der Gruppe Thomas Auerbach/Ehrhart Neubert: »Es kann anders werden«. Opposition und Widerstand in Thüringen 1945 – 1989 (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 3). Köln/Weimar/Wien 2005, S. 164 und Aribert Rothe: Die Ökologiebewegung im kirchlichen Freiraum der DDR. Erfurt 2015, S. 51 – 75. 50 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Jörg Kallenbach am 3. Mai 2017, S. 7.
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wesen – allen voran mit den Arbeitseinsätzen – nicht mehr zufrieden. Sie wollten die Missstände politisch substanzieller angehen. »Natürlich war es schön, wenn man dann sagte, da machen wir mal eine Baumpflanzaktion. Das konnte man machen, haben wir auch gerne gemacht, aber wir wollten es dabei eben nicht bewenden lassen.«51 Das Selbstbewusstsein der Ortsgruppe ging allerdings nicht so weit, dass sie elementare Regeln wie den Führungsanspruch der SED öffentlich in Frage stellte. Ihr Streben nach Veränderungen brachte sie stets in den Grenzen der Ordnung zum Ausdruck. Ein probates Mittel waren kritische Briefe an die CDU-Führung in Berlin und staatliche Stellen zu aktuellen Ereignissen und lokalen Ärgernissen. Mal fragte die Ortsgruppe um Kallenbach spitz nach, warum der rumänische Staats- und Parteichef Nicolae Ceauşescu trotz der miserablen Lage seines Landes den Karl-Marx-Orden erhalte, mal bezweifelten sie den Sinn, dass ein Feldweg am Rande Erfurts betoniert werde.52 Diese subtilen Vorstöße reichten aber bereits aus, um den Unmut übergeordneter Parteigremien zu erregen. Im Sommer 1987 musste sich Kallenbach beispielsweise rechtfertigen, weil ein Brief von ihm an das Umweltministerium in einer Ausstellung der Umweltgruppe Oase zum Thema Wasser in der Michaeliskirche in Erfurt gezeigt wurde.53 Trotz solcher Einschüchterungsversuche blieben Kallenbach und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter weiter aktiv. Ihren Anspruch auf Mitsprache machten sie wie auch andere ›Unionsfreunde‹ bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 deutlich. Wie in den Jahrzehnten zuvor wollte die SED die Wahl als öffentliche Demonstration der vielbeschworenen Einheit von Partei und Volk inszenieren.54 Dafür strebte die Staatspartei wieder eine einhundertprozentige Zustimmung zur Einheitsliste an. Ziel dieser »Performanz des Konsenses« (Hedwig Richter) war es, die Legitimität der eigenen Herrschaft aufs Neue zu bekräftigen. In d ieses Ritual war auch immer die CDU (und die anderen Blockparteien) eingebunden. Sie sollte neben ihrer Basis die christlichen Bevölkerungskreise für die T eilnahme 51 Ebd. S. 13 f. 52 Sammlung Jörg Kallenbach, Brief von Kallenbach und Engele an Sekretariat des CDU-Hauptvorstandes vom 28. Januar 1988 und Brief von Ritzau an CDU-Stadtbezirksverband (SBV) Erfurt-Süd vom 24. Februar 1988. 53 BStU, MfS, BV Erfurt, IMS ›Conrad‹, IX 637/73, Teil II, Bd. 3, Information vom 31. Juli 1987 und 23. Juli 1987, Bl. 136 und 143. 54 Zur Interpretation der Wahlen in der DDR als Ritual siehe Bahr: Parteiherrschaft (wie Anm. 10), S. 237 – 257; Hedwig Richter: Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüder gemeine in der DDR (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 186). Göttingen 2009, S. 283 – 295 und dies.: Mass Obedience: Practices and Functions of Elections in the German Democratic Republic. In: Ralph Jessen/Hedwig Richter (Hrsg.): Voting for Hitler and Stalin. Elections Under 20th Century Dictatorships. Frankfurt am Main 2011, S. 103 – 125.
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an der Wahl gewinnen. Doch die Mobilisierung gestaltete sich schwierig. Im ›Wahlkampf‹ gaben sich nämlich nicht nur »kirchliche Amtsträger« als renitent, von denen einige bereits bei früheren Wahlen mit Abstinenz gedroht hatten. Gestützt auf die Demokratisierung in anderen staatssozialistischen Ländern, stellte im Frühjahr 1989 eine spürbare Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern aus allen gesellschaftlichen Schichten die bisherige Wahlpraxis und damit ihre Rolle bei dieser Herrschaftsinszenierung in Frage, so auch CDU-Mitglieder.55 Sie forderten allem voran, ihre Stimme nicht mehr öffentlich, sondern geheim in einer Wahlkabine abgeben zu können.56 Gefördert wurde diese Haltung von den evangelischen Kirchen in der DDR, die ebenfalls für Veränderungen beim Wahlablauf warben. Entsprechend ihrer Skepsis gegenüber dem Wahlverfahren schlossen sich CDU-Mitglieder auch den Gruppen an, die am Wahltag landesweit die Auszählung der Stimmen überwachten. Doch dabei blieb es oft nicht. Nachdem Jörg Kallenbach und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Erfurt Unstimmigkeiten festgestellt hatten, zweifelten sie parteiintern die offiziellen Ergebnisse an.57 In Jena gingen die CDU-Mitglieder noch einen Schritt weiter und kritisierten bei der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung Ende Mai 1989 öffentlich das Wahlverfahren und -ergebnis. In einer Erklärung wies man darauf hin, dass eine statistisch relevante Zahl unserer Bürger mit unserer Politik nicht einverstanden ist. […] Es hat sich gezeigt, dass die Praxis unseres Wahlgesetzes […] nicht den Erfordernissen unserer innenpolitischen Situation entspricht. Nicht bewährt hat sich nach unserer Erkenntnis, daß sich im veröffentlichen Wahlergebnis das differenzierte Urteil der Bürger nicht niederschlägt.58 55 Ausführlich dazu Kowalczuk: Endspiel (wie Anm. 2), S. 318 – 325. Speziell zur Diskussion über die Kommunalwahlen 1989 an der Basis von LDPD und SED siehe Luise Güth: War die LDPD liberaler als die anderen Blockparteien? Eine Untersuchung des Bezirksverbandes Rostock 1985 – 1989. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung (JzLF) 28 (2016), S. 375 – 391 und Pannen: Genosse (wie Anm. 10), S. 276 – 280. Zu den Wahlreformen in der Sowjetunion, Ungarn und Polen 1988/1989 vgl. Hans Michael Kloth: Vom »Zettelfalten« zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die »Wahlfrage«. Berlin 2000, S. 126 – 129. 56 Siehe dazu beispielhaft ACDP 07 – 011 – 3834; 3421, Informationsbericht des BV Erfurt zum 15. Mai 1989, unpag. sowie Mitarbeit der CDU im Bezirk Suhl bei der Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen, Anlage zum Informationsbericht vom 15. Mai 1989, unpag. 57 Sammlung Jörg Kallenbach, siehe die Briefe von Peter Jürgen Klippstein an den Vorstand des Stadtbezirksverbandes Erfurt-Süd vom 12. Mai 1989 und von Jörg Kallenbach an den Vorstand des Stadtkreisverbandes Erfurt vom 11. Mai 1989 sowie das Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Jörg Kallenbach am 3. Mai 2017 S. 19 – 22. 58 ACDP 07 – 011 – 3821, Informationsbericht des KV Jena an das SHV vom 19. Juli 1989, unpag. Vgl. zur Situation in Jena zudem Eberhard Stein: »Sorgt dafür, dass sie die Mehrheit nicht
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Nach diesen offenen Worten der Jenaer CDU musste sich der Kreissekretär Werner Müller bei der SED-Kreisleitung rechtfertigen. Mit diesen Aktivitäten entfernten sich die beteiligten Mitglieder weiter von der CDU-Führung um Gerald Götting. Sie stützte erwartungsgemäß die Linie der SED, nach der die Wahlen regelkonform abgelaufen s eien. Ihre unbedingte Treue behielt die Parteispitze auch bei, als sich die Krise des Landes mit der zunehmenden Abwanderung von Bürgerinnen und Bürgern in die Bundesrepublik im Sommer 1989 zuspitzte. In dieser Situation erschien der Brief aus Weimar, der mit seinen Forderungen nach einer Demokratisierung der Partei und einer eigenständigeren Politik gegenüber der SED auf Zustimmung vieler Mitglieder stieß. Dabei hatten sie wie die Autorinnen und Autoren des Schreibens zunächst nicht einen radikalen Bruch mit der herrschenden Ordnung vor Augen, sondern vielmehr eine reformorientierte Politik. Diese Haltung verdichtet sich in der Meinung der Mitglieder im Kreisverband Hildburghausen. Sie wollten »das in Ordnung bringen, was noch nicht in Ordnung ist«59. Erst als mit den landesweiten Demonstrationen gegen die SED-Herrschaft im Herbst 1989 Sprech- und Denktabus nach und nach wegfielen, griffen sie auch elementare Prinzipien des staatssozialistischen Systems an. Ende Oktober 1989 betonten beispielsweise Mitglieder der Ortsgruppe Niedergebra im Kreis Nordhausen, dass keiner Partei ein »alleiniger Führungsanspruch« zustehe.60 Zugleich verlangten die ›Unionsfreunde‹ die Einberufung eines Sonderparteitags ihrer Partei, um sich personell und inhaltlich neu aufzustellen. Unter diesem Druck trat Gerald Götting als CDU-Vorsitzender schließlich Anfang November 1989 zurück, einen Monat später, Mitte Dezember, traf sich die Partei dann zu ihrem Sonderparteitag in Berlin. Dort wählten die Delegierten mit Lothar de Maizière nicht nur einen neuen Vorsitzenden und verabschiedeten eine andere Gliederung der Partei in Landesverbände.61 Nach längerer Diskussion brachen sie auch mit der bisherigen programmatischen Fixierung auf den Sozialismus als alleiniges Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in der DDR. Stattdessen verschrieb hinter sich kriegen!« MfS und SED im Bezirk Erfurt. Die Entmachtung der Staatssicherheit in den Regionen, Teil 5 (Bildung und Forschung informiert, 22). Berlin 1999, S. 24 und Sauer: CDU (wie Anm. 5), S. 55 f. 59 ACDP 07 – 011 – 3830, Informationsbericht des KV Hildburghausen vom 5. Oktober 1989, unpag. 60 Ebd. 07 – 011 – 3819, Brief der OG Niedergebra an CDU-Kreissekretariat Nordhausen vom 30. Oktober 1989, unpag. 61 Vgl. dazu Wolfgang Jäger/Michael Walter: Die Allianz für Deutschland. CDU, Demokratischer Aufbruch und Deutsche Soziale Union 1989/90. Köln 1998 S. 39 – 43 und Ute Schmidt: Von der Blockpartei zur Volkspartei? Die Ost-CDU im Umbruch 1989 – 1994 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, 81). Wiesbaden 1997, S. 114 f.
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sich die CDU in der DDR nun einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft und der Einheit Deutschlands. Der Umbruch in der DDR im Herbst 1989 und der damit einhergehende Wandel der CDU veränderten deren Basis nachhaltig. Deutlich wird dies an den zahlreichen ›Abgängen‹ von Mitgliedern 1989, die viermal so hoch ausfielen als ein Jahr zuvor.62 Sie konnten nicht durch Neuaufnahmen ausgeglichen werden, so dass die CDU erstmals seit 1970 einen Mitgliederrückgang verzeichnete. Die Partei schrumpfte um knapp 4 Prozent, von 139.705 (Ende 1988) auf 134.507 Mitglieder. Die Gründe für die Austritte unterschieden sich stark. Zunächst gab es etliche Mitglieder, die aus Protest gegen die reformunwillige Führung um Gerald Götting bereits im September und Oktober 1989 aus der Partei austraten.63 Nach dem Sonderparteitag kehrten wiederum jene der CDU den Rücken, die die programmatische Wende nicht mittrugen.64 Gleichzeitig begannen sich ›Unionsfreunde‹ gerade in dieser Phase zu engagieren, die sich zuvor nicht mehr am Parteileben beteiligt hatten.65 Die Risse in den Gemeinschaften der CDU-Mitglieder in den Ortsgruppen vertieften sich im Jahr 1990. Ein Grund war die Annäherung zwischen der CDU in der DDR und der westdeutschen Union.66 Bestanden z wischen beiden Parteien auf regionaler Ebene bereits seit Herbst 1989 Verbindungen, zeigte sich die Führung der Bundes-CDU um den Vorsitzenden Helmut Kohl noch reserviert gegenüber den Unionsfreundinnen und -freunden aus dem Osten. Sie überwand ihre Vorbehalte, die vor allem auf der Vergangenheit der CDU in der DDR als Blockpartei an der Seite der SED beruhten, im Vorfeld der Wahl zur Volksammer im Frühjahr 1990. Ursprünglich wollte die Bundes-CDU den Demokratischen Aufbruch (DA) unterstützen, der sich im Dezember 1989 als bürgerlich-konservative Partei gegründet hatte.67 Problematisch war jedoch, dass der DA nicht die nötige Infrastruktur für einen Wahlkampf besaß. Wesentlich besser aufgestellt war dagegen die CDU in der DDR mit ihren personellen 62 1989: 8388, 1988: 1960. Unter Abgängen fasste die parteiinterne Statistik Austritte, Streichungen und den Ausschluss von Mitgliedern, vgl. ACDP 07 – 011 – 3857, Abgänge sowie Mitgliederzahl der CDU, Statistiken vom 13. September 1990, unpag. 63 Siehe beispielhaft ACDP 07 – 011 – 3422, Bericht von Schimoneck an Götting vom 20. Oktober 1989, unpag. 64 Siehe zu dieser Gruppe von Mitgliedern Sauer: CDU (wie Anm. 5), S. 108 und Schmidt: Blockpartei (wie Anm. 61), S. 83 – 86. 65 ACDP 07 – 011 – 3834, Informationsbericht des BV Erfurt vom 13. November 1989, unpag. 66 Dazu ausführlich Hanns Jürgen Küsters: Die Vereinigung von CDU (Ost) und CDU (West). In: HPM 18 (2011), S. 167 – 192, hier S. 169 – 182. 67 Zur Geschichte des Demokratischen Aufbruchs vgl. Steffen Kammradt: Der Demokratische Aufbruch. Profil einer jungen Partei am Ende der DDR. Frankfurt am Main u. a. 1997.
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essourcen verbunden mit einer landesweiten Präsenz. Vor d iesem Hintergrund R und der Beziehungen auf regionaler Ebene entschloss sich die Spitze der BundesCDU, mit der CDU in der DDR im Rahmen eines Wahlbündnisses zu kooperieren. Unter Vermittlung von Helmut Kohl entstand daraufhin die Allianz für Deutschland, zu der neben der Union der Demokratische Aufbruch und die Deutsche Soziale Union (DSU) gehörte, die sich im Januar 1990 gebildet hatte und stark an der CSU orientierte.68 Gemeinsam setzten sich die drei Parteien unter dem zentralen Slogan »Nie wieder Sozialismus« für die Einführung einer marktwirtschaftlichen Ordnung in der DDR und eine rasche Vereinigung beider deutscher Staaten ein. Die westdeutsche CDU unterstützte den Wahlkampf der Allianz mit ihrem strategischkommunikativen Know-how und Auftritten ihres Spitzenpersonals massiv.69 Dazu gehörte auch, dass Mitglieder westdeutscher Kreisverbände den ›Unionsfreunden‹ direkt vor Ort halfen. Diese Zusammenarbeit wie überhaupt den Wahlkampf empfanden viele Mitglieder als etwas Besonderes, hatten sie doch keinerlei Erfahrung, wie man in einem ergebnisoffenen Wettbewerb z wischen verschiedenen Parteien um die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger warb. In d iesem Sinne erinnert sich Jörg Kallenbach: Wir kriegten dann Hilfe vom Kreisverband Mainz der CDU und auch von anderen, die haben uns dann erst mal erklärt, wie man jetzt so einen Wahlkampf machen müsste, und brachten jetzt ganz viel Material mit. Also ohne den wäre es gar nicht gegangen, denn wir hatten ja absolut nichts, was man für so einen Wahlkampf gebrauchen konnte. Und die haben uns da sehr viel geholfen, da sind wir heute noch dankbar dafür.70
Die Kooperation mit der westdeutschen CDU begrüßten aber nicht alle Mitglieder, weshalb sie sich von der Partei abwendeten. Dies betont Gisela Farinski, damals CDU-Kreissekretärin in Eisenach: Ich kenne eine Deutschlehrerin, die viele, viele Jahre Mitglied war, die war im Kreisvorstand, die war im Kreistag mit drin und alles. Und die kam zu mir ins Büro und legt einen Ausweis 68 Die Gründung der DSU und deren programmatische Ausrichtung beleuchten Jäger/Walter: Allianz (wie Anm. 61), S. 149 – 202 und Jens Weinhold-Fumoleau: Blickrichtung Westen? »Wilde« CSU-Gründungen im Winter 1989/1990 und ostdeutsche Vorstellungen vom bundesrepublikanischen Parteiensystem. In: Eckhard Jesse/Tom Mannewitz/IsabelleChristine Panreck (Hrsg.): Populismus und Demokratie. Interdisziplinäre Perspektiven. Baden-Baden 2019, S. 299 – 318. 69 Vgl. Jäger/Walter: Allianz (wie Anm. 61), S. 63 – 71. 70 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Jörg Kallenbach am 3. Mai 2017, S. 36.
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hin und sagte: ›Ich kann damit nicht leben. Ich hatte gedacht, die CDU geht einen anderen Weg, aber ich möchte nichts mit der CDU West zu tun haben‹.71
Zeitgleich zu dieser Annäherung zwischen west- und ostdeutscher CDU löste sich die bis dahin geltende Herrschafts- und Gesellschaftsordnung in der DDR auf, was sich auch auf das Gemeinschaftsgefühl der Mitglieder auswirkte. Nun konnte man überall ungezwungen diskutieren und musste sich nicht mehr in kleine Gruppen zurückziehen. Nötig waren auch nicht mehr die gemeinsamen Arbeitseinsätze, um das eigene Umfeld zu erhalten. Außerdem verschwand das Gefühl, als CDU-Mitglied durch den Staat benachteiligt zu werden. Mit d iesem Wandel lösten sich die Aspekte auf, über die Mitglieder bislang ihre Gemeinschaft gebildet hatten. So waren sie gezwungen, ihre wechselseitigen Bande über andere Normen und Aktivitäten zu begründen. Ob dies geschah, ist bislang noch nicht ausreichend erforscht worden. Erste Erkundungen lassen aber darauf schließen, dass die Gemeinschaften der CDU-Mitglieder vielerorts zerbrachen. Dafür spricht die rückläufige Mitgliederentwicklung der CDU in Ostdeutschland in den frühen 1990er Jahren, wobei noch andere Gründe wie die Überprüfung der Mitgliederdaten und die parteiinternen Konflikte z wischen ›Blockflöten‹ und ›Erneuerern‹ für diesen Trend ausschlaggebend waren.72 Verzeichnete die Partei im März 1990 131.000 Mitglieder, gehörten ihr in den ›neuen Ländern‹ (ohne Ost-Berlin) im August 1996 noch 67.700 Frauen und Männer an.73 Mit diesem Schwund büßte die Partei auch an lokaler Präsenz ein. So lösten sich zwischen 1989 und 1992 knapp 39 Prozent der Ortsgruppen in Ostdeutschland auf.74 Selbst wenn ein Verband weiterbestand, bedeutete dies nicht, dass die Mitglieder sich noch engagierten. Offen konstatierte die CDU-Bundesgeschäftsstelle in ihrem Bericht zum Parteitag in Düsseldorf im Oktober 1992, dass die Orts- und Kreisverbände in Ostdeutschland »neu aktiviert und zum Kontakt mit den Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermuntert werden« müssten.75 71 Transkript des Zeitzeugeninterviews mit Gisela Farinksi am 29. Mai 2017, S. 57. 72 Vgl. Oskar Niedermayer: Parteimitgliedschaften. In: ders. (Hrsg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden 2013, S. 147 – 178, hier S. 164 f. 73 Zahlen nach Siegfried Suckut: Blockparteien und Blockpolitik in der SBZ /DDR 1945 – 1990. Leipzig 2018, S. 163 und Schmidt: Blockpartei (wie Anm. 61), S. 149. 74 1989 registrierte die CDU 5080 Ortsgruppen (ohne Ost-Berlin), 1992 existierten in den ostdeutschen Landesverbänden (ohne Ost-Berlin) insgesamt 3122 Ortsverbände, Zahlen nach ACDP 07 – 011 – 3857, Ortsgruppen absolut, Statistik vom 13. September 1990 und Bericht der Bundesgeschäftsstelle zum 3. Parteitag der CDU, 25. – 28. Oktober 1992 in Düsseldorf S. 9. Abgerufen unter URL: https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=1c8f724d1622-79b0-ee53-d1a552942d3 f&groupId=252038, letzter Zugriff: 13. 05. 2022. 75 Ebd.
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4. Schluss Die CDU-Ortsgruppe war wie andere staatlich-offizielle Organisationen in der DDR eine polyvalente Akteurin. Als integrales Glied einer Blockpartei nahm sie im Herrschaftsgefüge der SED einen festen Platz ein. Im Rahmen der Ortsgruppe versuchte die Parteiführung um Gerald Götting unablässig, die Mitglieder politisch-ideologisch zu schulen und für eine aktive Mitarbeit in der ›sozialistischen Demokratie‹ zu mobilisieren. Zugleich war die CDU-Ortsgruppe ein Raum der Vergemeinschaftung und der (begrenzten) Einflussnahme auf das eigene Lebensumfeld. So vernachlässigten die Mitglieder in den Parteiversammlungen den vorgegebenen Ideologietransfer und tauschten sich vorrangig über Alltagsprobleme aus, die obligatorischen Arbeitseinätze nutzten sie, die eigene Gemeinde bzw. das Stadtviertel mit zu gestalten. Über diese Praktiken, verbunden mit Ausschlusserfahrungen in der staatssozialistischen Gesellschaft, bildete sich unter den Mitgliedern ein Gemeinschaftsgefühl heraus, das sie an die Partei band. In der Weise, wie sie die offiziellen Strukturen handhabten, legten die ›Unionsfreunde‹ Eigen-Sinn an den Tag und bewegten sich dennoch stets in den Grenzen der herrschenden Ordnung Erst im Laufe der 1980er Jahre drangen vor allem jüngere Mitglieder auf grundlegende Veränderungen und substanzielle Mitsprache. Diese Politisierung speiste sich gleichermaßen aus dem sowjetischen Reformkurs unter Gorbatschow und den Aktivitäten kirchlicher Basisgruppen. Mit dem revolutionären Umbruch in der DDR im Herbst 1989 ergaben sich für die Mitglieder neue, ungewohnte Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten in ihrer Partei. Andererseits zerbrach mit dem Ende der Diktatur der konstitutive Rahmen für die Vergemeinschaftung der Mitglieder. Viele von ihnen schlossen sich unter den geänderten Umständen nicht erneut zusammen, sondern verließen in den frühen 1990er Jahren scharenweise die CDU. Dieser Mitgliederschwund verdeutlicht noch einmal die Bedeutung der lokalen Gemeinschaften für die Parteibindung in der DDR. In dieser Perspektive verliert das verbreitete Narrativ von einer systemkritischen CDU-Basis an Überzeugungskraft. Im Vergleich zur Parteiführung agierten die ›einfachen‹ Mitglieder nonkonformer, auch verstanden viele ihre CDU -Mitgliedschaft als Distanzierung gegenüber der SED, insgesamt verhielten aber auch sie sich loyal zum SED-Staat. Wie gewöhnlich beispielsweise die beständigen Klagen über die Misswirtschaft im Staatssozialismus waren, zeigt sich, wenn man den Blick auf die Gesellschaft und andere Parteien in der DDR weitet. So gehörte ebenso unter den Genossinnen und Genossen der SED das ›Meckern‹ über die sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten zum Parteialltag.
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Daran schließt sich ein doppeltes Forschungsplädoyer an. Das eine betrifft die Geschichte der Blockparteien nach dem Mauerbau. Während neben der CDU auch die Entwicklung der LDPD in diesen Jahrzehnten mittlerweile größere Aufmerksamkeit erfahren hat, ist über die Demokratische Bauernpartei (DBD) und die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) – beide maßgeblich von der SED 1948 initiiert – kaum etwas bekannt.76 Neben deren Handlungsspielraum in der ›sozialistischen Demokratie‹ ist ebenfalls die Frage nach dem Verhalten der Mitglieder offen.77 Wie das Beispiel der CDU verdeutlicht, ist es zudem angebracht, die Parteien stärker miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise können Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Allgemeines und Besonderes in den Alltagspraktiken ihrer Mitglieder (und Funktionäre) herausgearbeitet werden. Der zweite Vorschlag befasst sich mit einer ›langen‹ Transformationsgeschichte der CDU-Basis in Ostdeutschland. Gemeint ist damit eine engere Verzahnung der Zeit vor und nach 1989/1990.78 Der revolutionäre Umbruch stellte eine Zäsur dar, gleichwohl war dieser weder ein zwangsläufiger Endpunkt des ›Alten‹ noch ein vorbehaltloser Anfang von etwas ›Neuem‹. Dieses Junktim zeigt sich bei der CDU in zweierlei Hinsicht. Zunächst lässt sich der Aderlass bei 76 Siehe zur LDPD den Sammelband von Tilman Pohlmann (Hrsg.): Die LDPD und das sozialistische »Mehrparteiensystem« in der DDR (Berichte und Studien, 81). Göttingen 2020; Michael Thoss: Reaktionen auf oppositionellen Tendenzen in der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) am Ende der 1980er Jahre. Der Fall des Bernauer Kreissekretärs Reimar Clausnitzer. In: JzLF 29 (2017), S. 283 – 302; Güth: LDPD (wie Anm. 55) und Widera (wie Anm. 40). Mit der Geschichte der Blockparteien Ende der 1980er Jahre im Bezirk Rostock befasst sich Güth: Blockparteien (wie Anm. 48). Speziell DBD liegt für den besagten Zeitraum vor: Wolfgang Jäger/Michael Walter: Die Demokratische Bauernpartei (DBD) im Transformationsprozeß 1989/90. In: HPM 4 (1997), S. 141 – 168; zur NDPD: Christoph Schreiber: »Deutsche, auf die wir stolz sind.« Untersuchungen zur NDPD . Hamburg 2018. Die Studie beschäftigt sich schwerpunktmäßig allerdings mit dem Geschichtsbild der Partei und dem biographischen Hintergrund der Mitglieder und Funktionär*innen. Die politische Handlungspraxis der NDPD und das Parteileben werden dagegen kaum behandelt. 77 Eine stärkere Erforschung des Innenlebens der Blockparteien fordern auch Dierk Hoffmann/ Michael Schwartz/Hermann Wentker: Die DDR als Chance. Desiderate und Perspektiven künftiger Forschung. In: Ulrich Mählert (Hrsg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Berlin 2016, S. 23 – 70, hier S. 30. 78 Für solch einen zeitlichen Brückenschlag über die Epochenwende von 1989/1990 hinweg plädieren immer mehr Historikerinnern und Historiker, vgl. Kerstin Brückweh: Das vereinte Deutschland als zeithistorischer Forschungsgegenstand. In: AP uZ 28 – 29 (2020), S. 4 – 10, hier S. 9 f. und Marcus Böick/Constantin Goschler/Ralph Jessen: Die deutsche Einheit als Geschichte der Gegenwart. Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2020. Berlin 2020, S. 9 – 23, hier S. 16.
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den Mitgliedern in Ostdeutschland nur verstehen, wenn man sich mit der speziellen Parteibindung in der DDR auseinandersetzt. Außerdem baute die CDU nach 1990 keine gänzlich neue Basis auf. Neben Mitgliedern, die sich nach der Neuaufstellung der Partei anschlossen, arbeiteten weiter ›Unionsfreunde‹ aus der Zeit der DDR in der Partei mit. Ungeklärt sind nicht nur die Motive für den Eintritt bzw. Verbleib und das Binnenklima, also ob sich – ähnlich wie unter den Funktionärinnen und Funktionären und den Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern – die Basis in ›Reformer‹ und ›Blockis‹ teilte.79 Allgemein stellt sich die Frage nach dem Parteileben in einer nun gesamtdeutschen Union. Zugleich rückt das politische Engagement unter den neuen, demokratischen Bedingungen in Ostdeutschland in den Blick. Dabei interessiert besonders, wie die Mitglieder mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen vor Ort konkret umgingen. Denn auch für die Ost-CDU gilt: Ihr Wandel war mit dem Ende der DDR und dem Aufgehen in die bundesdeutsche Union im Oktober 1990 nicht abgeschlossen, sondern dauerte in organisatorischer, personeller und ideell-kultureller Hinsicht weiter an. Zur Selbstvergewisserung der Partei gehörten insbesondere die internen und öffentlichen Diskussionen über ihre Rolle in der SED-Diktatur, verdichtet im Schlagwort der ›Blockflöten‹.
79 Siehe zu diesen zeitgenössischen (Selbst-)Zuschreibungen Schmidt: Blockpartei (wie Anm. 61), S. 175 – 177.
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Städtische Partizipationsräume und der Wandel der Diktatur Wohnraummangel, Kommunalpolitik und Gesellschaft in Leipzig zwischen Mauerbau und Mauerfall
Die ältere DDR-Forschung hat einhellig betont, dass die DDR nicht zuletzt an ihrer Unfähigkeit gescheitert sei, die Existenz- und Konsumbedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen. Dass die Menschen in der DDR angesichts der bis in den letzten Winkel der Gesellschaft reichenden SED-Diktatur auch selbst Einfluss auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nehmen konnten, etwa in den Betrieben und in den Wohnbezirken oder durch hartnäckiges Schreiben von Eingaben an den Staatsrat, war lange Zeit kaum vorstellbar. Wohnungspolitik stellte geradezu ein Paradebeispiel für die DDR als failed state dar. Der Wirtschaftswissenschaftler Hannsjörg Buck hat die Wohnungspolitik der DDR noch im Jahre 2004 als »mit hohem Anspruch gescheitert[es]« Unternehmen bezeichnet.1 Buck zählt zu jener Generation westdeutscher DDR-Forscher, die den ostdeutschen Staat bereits viele Jahre vor 1990 erforscht haben und das Bild vom gescheiterten sozialistischen Experiment maßgeblich mitgeprägt haben.2 Auch zahlreiche Reportagen und journalistische Analysen, die sich in der unmittelbaren Transformationszeit nach 1990 mit dem ›Osten‹ beschäftigten, haben zur Kanonisierung dieses Bildes beigetragen. Traditionsreichen Metropolen wie Leipzig kam hierbei eine besondere Bedeutung zu, ließ sich am Verfall ihrer Innenstädte doch besonders deutlich »das republikweite Resultat von 40 Jahren Mißwirtschaft« erkennen, wie der Spiegel bereits in den Tagen der Friedlichen Revolution aus der »Heldenstadt« berichtete.3 Der Zusammenhang von Mangelwirtschaft und Systemzusammenbruch stellt sich im Lichte neuerer Forschungen hingegen weniger eindeutig dar. Mit zunehmendem Interesse an der Alltagsgeschichte der DDR seit Ende der 1990er Jahre 1 Hannsjörg F. Buck: Mit hohem Anspruch gescheitert. Die Wohnungspolitik der DDR. Münster 2004. 2 Jens Hüttmann: DDR -Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung. Berlin 2008. 3 Bilder, die weh tun. In: Der Spiegel 46 (1989), S. 56 – 59.
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verlagerte sich der Fokus weg von der Frage, warum die DDR untergehen musste, hin zu der Frage, was sie im Innern zusammenhielt. Oder anders ausgedrückt: Die »rätselhafte Stabilität der DDR«4 rückte auf die Forschungsagenda. Damit zogen bald auch die Herrschaftsinstitutionen und -träger in den Gemeinden und Kommunen Aufmerksamkeit auf sich, denen lange Zeit der Makel anhaftete, am »zentralistischen Gängelband«5 gehangen zu haben und damit als Forschungsgegenstand irrelevant zu sein. Seit der Jahrtausendwende wurde der »sozialistische Herrschaftsalltag« »zwischen zentralistischem Einheitsstaat und regionalen Eigeninteressen«6 in verschiedenen Forschungsverbünden aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht, so etwa an der Universität Jena,7 an der TU Berlin,8 am Institut für Raumbezogene Sozialforschung Erkner (IRS)9 sowie am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ), an der Technischen Universität Chemnitz und am Zentrum für Zeithistorische Forschungen Potsdam (ZZF).10 Weniger 4 Andrew I. Port: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin 2010 (im Original: Conflict and Stability in the German Democratic Republic. Cambridge u. a. 2007). 5 Helmut Wollmann: Transformation der ostdeutschen Kommunalstrukturen. Rezeption, Eigenentwicklung, Innovation. In: Helmut Wollmann/Hans-Ulrich Derlien/ Klaus König u. a. (Hrsg.): Transformation der politisch administrativen Strukturen in Ostdeutschland. Opladen 1997, S. 259 – 328, hier S. 264. 6 Heinz Mestrup: Zwischen zentralistischem Einheitsstaat und regionalen Eigeninteressen. Ein Plädoyer für die Erforschung des »sozialistischen Herrschaftsalltags«. In: Monika Gibas (Hrsg.): Couragierte Wissenschaft. Eine Festschrift für Jürgen John zum 65. Geburtstag. Jena 2007, S. 77 – 93. 7 DFG-Sonderforschungsbereich 580: Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch – Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung. Universität Jena, 2001 – 2012. Abgerufen unter URL: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/5484710, letzter Zugriff: 20. 04. 2022. 8 Zusammen mit dem IRS Erkner im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Verbundprojektes: Industriestädte in der SBZ/DDR 1945 – 1989/90. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und urbanes Leben in einer »durchherrschten Gesellschaft«. Zum Projektdesign vgl. Thomas Wolfes: Industriestädte in der SBZ/DDR 1945 1989/90. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und urbanes Leben in einer »durchherrschten Gesellschaft«. Ein Forschungsprojekt. In: Zeitgeschichte regional 5 (2001) 2, S. 109 – 111. Zu den wesentlichen Ergebnissen vgl. Christoph Bernhardt/Heinz Reif (Hrsg.): Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung. Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR. Stuttgart 2009. 9 DFG -Projekt: Die DDR -Bezirke – Akteure zwischen Macht und Ohnmacht. Handlungsspielräume und politische Strategien der staatlichen Mittelinstanz der DDR am Beispiel der sozialistischen Urbanisierungspolitik, IRS Erkner, 2012 – 2015. Abgerufen unter URL: https:// leibniz-irs.de/forschung/projekte/projekt/5f2d859001/, letzter Zugriff: 20. 04. 2020. 10 Die letztgenannten drei Institutionen bildeten einen Forschungsverbund im Rahmen des 2009 einmalig aufgelegten Stipendienprogramms der Bundestiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: SED-Geschichte zwischen Mauerbau und Mauerfall. Abgerufen unter URL: https:// www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/node/6202, letzter Zugriff: 20. 04. 2022.
Städtische Partizipationsräume und der Wandel der Diktatur |
systematisch im Fokus dieser Studien standen jedoch die vielfältigen und ambivalenten Interaktionen zwischen den Herrschaftsträgern und der Bevölkerung. Ein Grundanliegen dieser Forschungen, die Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft aufzulösen, wurde somit nur bedingt erfüllt. Hier setzt der vorliegende Beitrag an, der über den Fokus auf Strategien der Herrschaftsträger zur Vermittlung zwischen Zentralismus und Region 11 hinausgeht und öffentliche Wohnungspolitik als gesellschaftspolitisches Aushandlungsfeld versteht, das historische Kontinuitäten und Wandlungen aufweist, die sich gängigen Periodisierungen der DDR-Geschichte ein Stück weit entziehen. Der Beitrag schließt damit an ältere Studien an, welche die Entwicklung des Politikfeldes seit dem Aufkommen der Wohnungsfrage als soziale Frage im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert untersucht haben.12 Auf diesen, eng mit dem Gerechtigkeitsdiskurs der deutschen Arbeiterbewegung verbundenen Traditionsstrang bezog sich auch SED-Chef Erich Honecker beim unter seiner Führung vorangetriebenen Wohnungsbau.13 In der DDR sollte der Leistungsegalitarismus 14 der deutschen Arbeiterbewegung Realität werden. Ein hoher materieller wie symbolischer Wert kam dabei den Trabantenstädten und Plattenbausiedlungen an den Rändern der Städte und in den Industriegebieten zu. Unter den Bewohner*innen stellten qualifizierte Arbeiter*innen, die in den ansässigen Kombinaten arbeiteten, mit fast 50 Prozent die größte Gruppe dar, wie die Soziologin Alice Kahl mit Blick auf Leipzig-Grünau gezeigt hat.15 In den vernachlässigten innerstädtischen Altbauvierteln wohnten dagegen überdurchschnittlich viele unqualifizierte Arbeiter*innen sowie Rentner*innen, also Personengruppen, die am Rande der Arbeits- und Leistungsgesellschaft der DDR standen.16 Neben der Förderung einer sozialistischen (Leistungs-)Gesellschaft erhielt die Wohnungspolitik mit der Zeit auch eine stärkere sozialpolitische Ausrichtung. So sollten etwa kinderreiche Familien und junge Ehepaare bevorzugt versorgt werden.17 Während dieser Strang gerade in der Ära Honecker (1971 – 1989) eine hohe symbolische Bedeutung für 11 Zur Geschichte der Wohnungspolitik in der DDR diesbezüglich wegweisend Jay Rowell: Le totalitarisme au concret. Les politiques de logement en RDA. Paris 2006. 12 Vor allem Clemens Zimmermann: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik. Die Reformbewegung in Deutschland 1845 – 1914. Göttingen 1991. 13 Erich Honecker: Aus meinem Leben. Berlin (Ost) 1980, S. 303 – 316. 14 Jens Gieseke: Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013) 2, S. 171 – 198. 15 Alice Kahl: Erlebnis Plattenbau. Eine Langzeitstudie. Opladen 2003. 16 Konzeption zur Lösung der Wohnungsfrage in der Stadt Leipzig bis 1990, Sächsisches Staatsarchiv, Außenstelle Leipzig (SächsStAL), 21123, IV/D/2/6/04/412, Bl. 231. 17 Lothar Weiss: Kontinuität und Wandel in der staatlichen Wohnraumlenkung der DDR. In: Deutschland Archiv (1988) 21, S. 647 – 652.
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die Inszenierung der »Fürsorgediktatur«18 erlangte, blieb er in der Praxis sekundär. Denn trotz der gesetzlichen Verankerung der Versorgungspolitik mangelte es – nicht zuletzt wegen des Fehlens eines zentralen Organs für Wohnungspolitik (ein Unikum im ›Ostblock‹)19 – an einer institutionellen Umsetzung. In der Praxis blieb Wohnungspolitik seit den 1950er Jahren ein Instrument der staatlichen Wirtschaftsplanung. Anders als in der bisherigen Forschung zur Wohnungspolitik in Deutschland, die sich überwiegend auf die Perspektive der politischen Eliten und Herrschaftsträger konzentriert hat, wird in dem vorliegenden Beitrag der Bevölkerung als gestaltender Akteurin mehr Raum gegeben. Diese tritt nicht nur als Ansammlung von Individuen auf, die ihre Eigeninteressen mit staatlichen Akteuren aushandelten, sondern als gestaltende Kraft, die gesellschaftliche Strukturen wesentlich mitprägte und damit einen schleichenden Wandel der Diktatur im Alltag mitbewirken konnte, der allerdings keineswegs nur in Richtung einer zunehmenden Abschwächung der Diktatur, wie die These von der »Fürsorgediktatur« suggeriert, oder gar ihrer partiellen Entpolitisierung verlief. Eine besondere Rolle hierfür spielten Angebote des Staates, an der Wohnungspolitik der SED durch Eigeninitiative mitzuwirken, etwa beim Wohnungsbau sowie bei der Instandhaltung und Zuweisung von Wohnraum. Vor Ort entstanden dadurch Strukturen, die ein Eigenleben entwickelten, die Institutionen des SED-Staates nutzten, zum Teil aber auch dessen Untergang im Herbst 1989 mitbewirkten und überdauerten.
1. Weltstadt in engen Grenzen: Wohnungsnot und Herrschaftsdurchsetzung in Leipzig Als westliche Beobachter*innen im Herbst/Winter 1989 auf Leipzig blickten, sahen sie vor allem die Ruinen eines gescheiterten Gesellschaftssystems. In ähnlicher Weise blickten auch lokale Herrschaftsträger in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) auf lokale Erblasten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich Wohnraummangel als das zentrale kommunalpolitische Problem in Leipzig herausgebildet hatte. Dem stetigen Zuzug in die boomende 18 Konrad H. Jarausch: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (1998) 20, S. 33 – 4 6; ders.: Care and Coercion. The GDR as Welfare Dictatorship. In: ders. (Hrsg.): Dictatorship as Experience. Towards a Socio-cultural History of the GDR. New York 1999, S. 47 – 69. 19 Rowell: Le totalitarisme au concret (wie Anm. 11), S. 176 – 180.
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Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturmetropole korrespondierte schon im Kaiserreich ein empfindliches Defizit an Wohnraum. Die letzten Eingemeindungen, die der Stadt kontinuierlich neues Bauland zuführten und ein dynamisches Städtewachstum ermöglichten, fanden 1936 statt. Seit 1888 war Leipzig damit etwa um das Siebenfache, von 1800 auf 14.000 Hektar, angewachsen.20 Dennoch reichte dies nicht aus. Bereits 1939 bezeichnete der nationalsozialistische Oberbürgermeister Rudolf Haake Leipzig erneut als »Stadt ohne Raum«21 und sein Nachfolger Alfred Freyberg sprach zwei Jahre später von der »Raumnot« Leipzigs,22 wobei beide bewusst völkische Raummetaphern einsetzten, um ein entsprechendes Problembewusstsein bei höheren Herrschaftsträgern für die Notwendigkeit neuer, noch expansiverer Eingemeindungen zu erzeugen, die jedoch ausblieben. Die sozialistischen Nachfolger Haakes und Freybergs erbten diese Problemsituation, die sich durch den Zweiten Weltkrieg noch zugespitzt hatte. Von 225.000 Wohnungen waren nach den Bombenangriffen von 1943 und 1944 nur 94.000 unbeschädigt geblieben, 44.000 waren gänzlich verloren gegangen.23 Dessen ungeachtet knüpften die Planer in Ost-Berlin schon 1952 an ältere Entwicklungspläne aus den 1930er Jahren an, nach denen die Stadt bis 1975 auf 700.000 bis 750.000 Einwohner anwachsen sollte. Das bedeutete zum Zeitpunkt der Planungen einen Zuwachs von etwa 100.000 Einwohnern.24 Versuche der Stadtverwaltung, diesen Ansprüchen wie in der Vergangenheit durch Eingemeindungen zu genügen, lassen sich noch bis 1955 belegen. Ziel dieser gemeinsamen Initiativen von SEDFunktionären, Vertretern der Verwaltung und Wissenschaftlern aus Leipzig war es, durch die Eingemeindung von 21 Ortschaften aus dem Leipziger Umland »historisch gewachsene Industrie-, Verkehrs-, Handels- und Kulturgrenzen bzw. geschlossene Siedlungsgebiete«25 wiederzuvereinigen. Doch weder diese ambitionierte Umstrukturierung wurde realisiert noch der Plan aus den 1960er J ahren, 20 Olaf Hillert: Die Leipziger Eingemeindungspolitik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Leipziger Kalender (1996), S. 166 – 182. 21 Rudolf Haake: Leipzig, die Stadt ohne Raum. Denkschrift der Reichsmessestadt Leipzig zur Frage der Eingemeindung. Leipzig 1939. 22 Alfred Freyberg: Die Raumnot der Reichsmessestadt Leipzig. Leipzig 1941. 23 Rainer Gries: Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege. Münster 1991, S. 41; Manfred Unger: Leipzig 1945. In: Sächsische Heimatblätter 15 (1969) 5, S. 211 – 218, hier S. 211. 24 Staatliche Plankommission, Beschlussvorlage für das Ministerium für Aufbau zur städtebaulichen Planung Leipzig, 14. 08. 1952, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BA ), DE 1/5123, Bl. 51 – 53. 25 Warum sollen die 14 Stadtbezirke auf 8 reduziert werden? O. D., SächsStAL, 21123, IV/2/13/615, Bl. 282.
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die Ansiedlung von Arbeitskräften in Leipzig durch eine Zuzugsordnung zu begrenzen. Beide Vorhaben scheiterten an internen Konflikten über die Balance nationaler und lokaler Interessen.26 Dem standen die wachsenden Erwartungshaltungen der SED-Führung gegenüber. Aufgrund der wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung Leipzigs seit der Industrialisierung stieg die Stadt in der DDR zum zweitwichtigsten Standort hinter Ost-Berlin auf.27 Leipzig sei, so der gebürtige Leipziger und SED-Chef Walter Ulbricht bei einem Besuch in der Messestadt im Oktober 1960, die Stadt der Industrie, des Handels und der Kultur, dagegen sei Berlin die politische Hauptstadt.28 Das setzte die örtlichen Herrschaftsträger unter starken Erfüllungsdruck. Was Ulbrichts Vision von Leipzig als »Weltstadt« für die Herrschaftsdurchsetzung vor Ort bedeutete, machte der SED-Chef bei einem Besuch in seiner Geburtsstadt im Jahr zuvor unmissverständlich klar: »Ich werde der Stadtverwaltung sagen: Lernt etwas von dieser alten Leipziger Bourgeoisie, die alten Bürgermeister hier haben sich gekümmert um die Stadt, die haben – für das damalige Niveau – nicht solche Rückständigkeiten zugelassen. Solche Fanatiker auf sozialistischer Basis, auf neuer Basis müßt ihr auch sein.«29 Diese Forderung mochte nicht nur seltsam in den Ohren der örtlichen Funktionäre geklungen haben, weil kaum einer von ihnen aus Leipzig stammte und das Leipziger Bürgertum nicht gerade als Vorbild der SED galt. Auch angesichts der tatsächlich realisierten Investitionen, die sich so verheißungsvoll mit dem Bedeutungszuwachs Leipzigs verbanden, war diese Erwartungshaltung schlicht realitätsfremd. 1969 machte der Leipziger Chefarchitekt Horst Siegel ein Defizit von etwa 50.000 bis 60.000 Neubauwohnungen aus. Es müsse, so Siegel auf einem Architektenkongress, »fast ein Halle-Neustadt innerhalb von Leipzig«30 26 Christian Rau: Stadtverwaltung im Staatssozialismus. Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957 – 1989). Stuttgart 2017, S. 286. 27 Oliver Werner: Zwischen Konsolidierung, Bedeutungsverlust und Stagnation. Die Stadt Leipzig in der Planwirtschaft der DDR. In: Susanne Schötz (Hrsg.): Leipzigs Wirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart. Akteure, Handlungsspielräume, Wirkungen (1400 – 2011). Leipzig 2012, S. 360 – 362. 28 Niederschrift über die Aussprache mit dem Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Walter Ulbricht, am 9. Oktober 1960, Stadtarchiv Leipzig (StadtAL), StVuR (1), 4873, Bl. 12. 29 Protokoll der Bezirksdelegiertenkonferenz in Leipzig am 14. und 15. März 1959, SächsStAL, 21123, IV/1/11, unfol. 30 Horst Siegel: Zu städtebaulichen Strukturmodellen als Kernstück der Einheit von Generalbebauungsplan, Generalverkehrsplan und Plan zur Entwicklung des Bauwesens am Beispiel der Stadt Leipzig. In: Hubert Scholz (Hrsg.): Generalbebauungsplanung der Städte der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Beitrag zur prognostisch begründeten hocheffekti-
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Abb. 1 Leipzig-Grünau 1985: Zweitgrößtes Wohngebiet der DDR und Repräsentationsort der ›sozialistischen Gesellschaft‹
entstehen, wobei die Bevölkerungsplanungen zu d iesem Zeitpunkt (600.000 Einwohner) im Vergleich zu ersten Planungen im Jahr 1952 schon deutlich nach unten korrigiert worden waren. Siegels Mahnungen wurden jedoch erst spät erhört. 1977 beschloss das Politbüro der SED ein Wohnungsbauprogramm eigens für Leipzig, das den Bau von bis zu 95.000 Wohnungen und die Sanierung von bis zu 52.000 Altbauwohnungen vorsah.31 1981 stellte das Stadtbauamt jedoch fest, dass in der Praxis allein 50.000 bis 60.000 Neubauwohnungen als Ersatz für den »progressiven Verschleiß« an Altbauwohnungen benötigt würden.32 Denn der Sanierungsplan, dessen Umsetzung vollständig in die Verantwortung regionaler und lokaler Stellen fiel, blieb wegen Ressourcenmangels weitgehend auf dem Papier. ven Strukturpolitik. Fachtagung der Zentralen Fachgruppe Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung des BDA, 20. und 21. Februar 1969 in Magdeburg. Berlin (Ost) 1970, S. 54. 31 Beschluss zur weiteren Durchführung des Wohnungsbauprogramms in der Stadt Leipzig im Fünfjahrplanzeitraum 1976 bis 1980 und bis 1990, BA , DY 30/J IV 2/2A/2099, Bl. 14 – 20. 32 Rat der Stadt Leipzig, Stadtplankommission/Stadtbauamt, Entwurf einer Kurzdokumentation zur Lösung der Wohnungsfrage in der Stadt Leipzig bis 1990 – Stand und weitere Maßnahmen zur Erfüllung des Politbürobeschlusses vom 30. 08. 1977, Stand: 14. 10. 1981, StadtAL, StVuR (2), 17894, Bl. 32 – 49.
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Die vom Stadtbauamt ausgemachten Defizite im Altbaubereich entsprachen in etwa der Zahl der zu diesem Zeitpunkt in den Ämtern erfassten Wohnungsanträge, die bis zum Ende der DDR konstant bei etwa 50.000 blieben.33 Deren Bearbeitung fiel in die Kompetenz der sieben Räte der Stadtbezirke, die dem Rat der Stadt Leipzig untergeordnet waren und das Leitbild einer volksnahen Kommunalverwaltung verkörpern sollten. In der Praxis aber avancierten sie vielmehr zum Inbegriff eines dysfunktionalen und schwachen Staates. Denn sie waren zugleich Teil der institutionellen Hackordnung des »demokratischen Zentralismus«, der das Leitbild der Leistungsgesellschaft insoweit konterkarierte, dass er die Zuteilung staatlicher Ressourcen wie Wohnungen nicht nur an der Wertigkeit gesellschaftlicher Leistungen, sondern auch an der Zugehörigkeit zu politisch und wirtschaftlich relevanten Betrieben und Einrichtungen bemaß. Als Faustregel galt: Je wichtiger eine Institution für die Volkswirtschaft war, desto höher und umfangreicher fiel das zugewiesene Wohnungskontingent aus. 1978 gab es in Leipzig bereits 63 »Kontingentträger«.34 Für die Wohnungsbehörden in den Stadtbezirken resultierte aus der wachsenden Zahl wirtschafts- bzw. exportrelevanter Kombinate, international renommierter Wissenschafts- und Kultureinrichtungen sowie Verwaltungsbehörden ein immer enger werdender Handlungsrahmen, der mit dem Bau großer Siedlungsgebiete am Stadtrand seit dem Ende der 1960er Jahre nur noch offensichtlicher wurde. Denn die Mehrzahl der Neubauwohnungen gelangte erst gar nicht in die Verfügungsmasse der Stadtbezirke. Lediglich 5 bis 10 Prozent der jährlich neugebauten Wohnungen konnten sie in den Jahren von 1971 bis 1986 offiziell vergeben. Das entsprach in etwa 3600 bei einem Gesamtaufkommen von rund 48.700 Neubauwohnungen.35
2. Die eigene Wohnung: Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften, Eigentumsvorstellungen und Individualisierung Eine wichtige Rolle für den Bau und die Vergabe von Neubauwohnungen spielten Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften (AWG). Auf diese tief in der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Tradition des 20. Jahrhunderts verwurzelte 33 Entwicklung der Wohnungsanträge, o. D., StadtAL, StVuR, 20651, Bl. 81. 34 Wohnungsverteilungskonzeption 1978, StadtAL, StVuR, 19137, Bl. 56 – 58. 35 Aufteilung der gebauten Neubauwohnungen 1971 – 1979, StadtAL, StVuR, 20651, Bl. 32; Rat der Stadt, Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft, Verteilung der Neubauwohnungen 1981 – 1986, o. D., StadtAL, StVuR, 17898, Bl. 15.
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Institution griff der SED-Staat zur Bewältigung von Kriegslasten und der stetig steigenden Bedürfnisse aller am »Aufbau des Sozialismus« beteiligten Akteure im Wohnungsbereich schon in den 1950er Jahren zurück.36 Getragen wurden die der Aufsicht kommunaler Verwaltungen unterstehenden AWG von ansässigen Betrieben und Institutionen, die nicht über eigene ›Wohnraumlenkungsorgane‹ verfügten. Ihre Bedeutung stieg nicht erst in der Ära Honecker. Bereits in den 1960er Jahren verwalteten die AWG in Leipzig die Mehrzahl der Neubauwohnungen, in den 1970er Jahren pendelte sich ihr Anteil auf zum Teil über 50 Prozent ein, was noch über dem DDR-Durchschnitt von 45 Prozent lag.37 Ein besonderes Charakteristikum der AWG war ihr partizipatives Element, das jedoch an materielle Bedingungen geknüpft war. Um die Vorzüge der AWG genießen zu können, reichte die Zugehörigkeit zu einem ›Schwerpunktbetrieb‹ nicht aus. Jede Person war zudem verpflichtet, eigene Anteile zu erbringen. Wer dazu bereit war, für eine 2,5-Zimmer-Wohnung rund 2100 Mark einzuzahlen und zusätzliche Arbeiten auf den Baustellen der AWG zu verrichten, konnte in vergleichsweise kurzer Zeit (drei Jahre) eine Neubauwohnung erhalten, ohne dass staatliche Belegungsnormative beachtet werden mussten.38 Entsprechend stark war der Zulauf. Schon zu Jahresbeginn 1960 beklagten die Leipziger AWG einen Fehlbedarf von rund 6000 Wohnungen und bereits im Jahr darauf hatte sich in der AWG Polygraphie die Wartezeit auf fünf Jahre erhöht.39 Mitte der 1960er Jahre wurde der Anteil der AWG am Neubau deshalb auf 9 Prozent radikal gedrosselt, was in der Ära Honecker allerdings schnell wieder rückgängig gemacht wurde. Gleichwohl trugen die Verordnungen zur Eindämmung des Zustroms in die AWG dazu bei, dass diese bald zu elitären Einrichtungen wurden. So wurde den AWG vorgeschrieben, welche ›Schwerpunktbetriebe‹ sie versorgen sollten, woran zugleich Vergünstigungen wie zinslose Darlehen und Steuerbefreiung geknüpft 36 Helmut Jenkins: Die gemeinnützige Wohnungswirtschaft z wischen Markt und Sozialbindung. Aufsätze und Abhandlungen, Bd. 1. Berlin (West) 1985, S. 594. 37 Manfred Melzer/Wolfgang Steinbeck: Wohnungsbau und Wohnungsversorgung in beiden deutschen Staaten – ein Vergleich. Berlin (West) 1983, S. 79; Art. ›Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG )‹. In: Bernd Kaden (Hrsg.): Das gesellschaftliche Leben im Wohngebiet. Handbuch. Berlin (Ost) 1988, S. 46 f.; Rat der Stadt, Abt. Wohnungswirtschaft, Konzeption zur künftigen Arbeitsweise und Weiterentwicklung der sozialistischen Wohnungsbaugenossenschaften in der Stadt Leipzig, 17. 01. 1973, StadtAL , StVuR, 18950, Bl. 23 – 25. 38 Verordnung über die Umbildung gemeinnütziger und sonstiger Wohnungsbaugenossenschaften vom 14. März 1957. In: Gesetzblatt der DDR 1957, Teil I, S. 202. 39 Aufstellung über die Fehlbeträge bei den 30 Genossenschaften 1962, StadtAL , StVuR (1), 13443, Bl. 96; Rechenschaftsbericht der AWG Polygraphie 1961, 21. 03. 1962, StadtAL, StVuR (1), 2595, Bl. 144 – 164.
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wurden.40 Zudem wurden die 21 AWG in Leipzig bis 1970 auf 4 konzentriert, um deren Praktiken besser durch die Stadtverwaltung kontrollieren zu können. Der Erfolg dieser Maßnahme blieb jedoch begrenzt.41 Das lag auch daran, dass die AWG durch ihre privilegierte Stellung ein spezifisches Verständnis von ›innergenossenschaftlicher Demokratie‹ entwickelt hatten, das sich an den individuellen Leistungen der Mitglieder orientierte. Das ging zuweilen sogar so weit, dass Mitglieder selbst den Bauprozess und die Ausgestaltung der Wohnungen zu beeinflussen versuchten. So berichtete die AWG Polygraphie im Frühjahr 1962 über »einige Ungehörigkeiten unserer späteren Mieter«, die immer wieder auf Baustellen auftauchten, um sich selbst von der Qualität der eigenen vier Wände zu überzeugen, die sie für ihre finanziellen Einlagen und Eigenleistungen erwarteten. So sei es vielerorts zu »eigenmächtige[n] Gütekontrollen« gekommen, was zuweilen auch darin enden konnte, dass erzürnte Mieter in spe selbst Hand anlegten und mangelhafte Wände mit Bauklammern beschädigten oder Bauarbeiter wild beschimpften. Materielle Engpässe wie das Fehlen von Fliesen, Einbauwannen oder Heizkonvektoren bildeten beständige Beschwerdegründe, aus denen sich schnell Kritik gegenüber den für Materiallieferungen zuständigen Staatsorganen entwickeln konnte.42 Die AWG-Vorstände betrachteten s olche Vorgänge mit Argwohn, zugleich bemühten sie sich aus eigenem Interesse heraus kaum darum, konsequent dagegen vorzugehen. Vielmehr stützten die Praktiken der Vorstände, die sich mit den AWG einen eigenen Herrschaftsbereich schufen, die Verfestigung eines individuellen Eigentumsverständnisses, ungeachtet der Tatsache, dass sich diese rechtlich im staatlichen ›Volkseigentum‹ befanden. Die Vorstände selbst waren ein Spiegelbild der städtischen Elite, die durch die Ansiedlungs- und Investitionspolitik der SED in die Stadt Leipzig privilegierte Stellungen erlangten. Dort versammelten sich überwiegend Lehrer*innen, Justiziar*innen, Betriebsdirektor*innen und Wissenschaftler*innen, während Arbeiter*innen einen verschwindend geringen Anteil an den Spitzenpositionen hatten.43 In gewisser Weise reproduzierten sich 40 Verordnung über die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften vom 21. November 1963. In: Gesetzblatt der DDR 1964, Teil II, S. 19. 41 Rat der Stadt, Bericht, 18. 04. 1969, StadtAL, StVuR (1), 20344, Bl. 87 – 95. 42 Rechenschaftsbericht der AWG Polygraphie 1961, 21. 03. 1962, StadtAL , StVuR (1), 2595, Bl. 144 – 164, zit. Bl. 161 f. 43 Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI) Stadtbezirkskomitee Nord, Bericht von der Weiterführung der Überprüfung zur Verbesserung der Wohnverhältnisse kinderreicher Familien und über die Durchführung gezielter Kontrollen zu ausgewählten Schwerpunkten der sozialistischen Wohnungspolitik, 21. 10. 1973, SächsStAL, 20301, 658, unfol.; ABI Stadtkomitee, Aktennotiz, 19. 09. 1973, SächsStAL, 20301, 501 unfol.
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in den AWG die betrieblichen Sozialordnungen der ›realsozialistischen‹ DDR, in der neben der Betriebsleitung vor allem Angestellte, Ingenieur*innen und technische Expert*innen einen höheren Status einnahmen als Facharbeiter*innen. Das spiegelte sich auch in der Besetzung der Leitungspositionen im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), auf den regionalen und lokalen Ebenen wider, die ebenso wie die AWG sozialpolitische Versorgungsaufgaben wahrnahmen.44 Die Modalitäten der Zuteilung des Wohnraums bestimmten die Vorstände, die ihre Macht allerdings nicht auf der Durchsetzung politischer Vorgaben, sondern auf den Interessen ihrer Mitglieder gründeten. Priorität bei den Entscheidungen um Wohnraumvergaben genossen daher vor allem die Höhe der eingezahlten Beiträge und die Reihenfolge des Eintritts,45 sozialpolitische Erwägungen waren dagegen irrelevant. So zeigten Kontrollen immer wieder, dass weder Arbeiter*innen noch junge Ehepaare oder kinderreiche Familien bei der Vergabe eine bevorzugte Stellung einnahmen. Laut Überprüfungen Anfang der 1980er Jahre wurden Wohnraumstatistiken von den AWG bewusst gefälscht, um unliebsame Nachfragen zu vermeiden. So ermittelten die Kontrolleur*innen der Stadt unter den Bewohner*innen stichprobenartig überprüfter Neubauwohnungen anstatt ausgewiesener 60 bis 65 Prozent nur 30 Prozent Arbeiter*innen, zudem nur 6 Prozent junge Ehepaare und 0,3 Prozent kinderreiche Familien.46 Zu diesen Ergebnissen trug auch bei, dass sich an der Höhe der Mitgliedsbeiträge im Vergleich zu den 1960er Jahren nichts geändert hatte, obwohl der individuelle Beitrag in der Ära Honecker aus sozialpolitischen Gründen heraus auf durchschnittlich 300 Mark heruntergeschraubt worden war. Auch an der unkontrollierten Aufnahme von Mitgliedern änderte sich im Vergleich zu den 1960er Jahren nichts. Die auf Entscheidungsautonomie bedachten AWG-Vorstände behaupteten sich zudem mit allen Kräften gegenüber Versuchen des Rates der Stadt, eigene langjährige Problemfälle in einer AWG unterzubringen. Schon Anfang der 1960er Jahre stießen solche Versuche auf »keine Gegenliebe« bei den Vorständen, wie sich Oberbürgermeister Walter Kresse beim Stadtrat für Wohnungspolitik, Hans-Ulrich Wittstock, resigniert beklagte.47 So wiesen die AWG Anfragen der Stadtverwaltung häufig wegen formaler Gründe zurück. Beispielhaft für die 44 Renate Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 167. 45 ABI Stadtkomitee, Aktennotiz, 19. 09. 1973 (wie Anm. 43). 46 Zur Vergabe von Neubauwohnungen 1980 in der Stadt Leipzig, o. D., SächsStAL, 20237, 25557, unfol.; Rat der Stadt, Ratsmitglied für Neubaugebiete, Vorlage für die Beratung der AG ›Komplexer Wohnungsbau‹ des Rates des Bezirkes am 28. 10. 1980, 15. 10. 1980, ebd., unfol. 47 Rat der Stadt, Oberbürgermeister Kresse an Stadtrat Wittstock, 26. 10. 1960, StadtAL, StVuR (1), 3590, Bl. 101.
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a symmetrische Machtverteilung z wischen AWG und Stadtverwaltung steht der Fall einer vierköpfigen Familie, der es 1972 mit Unterstützung des Rates der Stadt Leipzig gelungen war, in einer AWG aufgenommen zu werden, verbunden mit der Hoffnung, ihrer prekären Wohnsituation entrinnen zu können. Ihre aktuelle Wohnung in einem heruntergekommenen Altbau befand sich in einem denkbar schlechten Zustand. Starker Salpeterbefall hatte dazu beigetragen, dass die Tochter bereits an chronischer Bronchitis litt und sich auch der Gesundheitszustand der Mutter zusehends verschlechtert hatte. Eheliche Konflikte nahmen zu. Die von der AWG verlangten Eigenleistungen hatte der Vater in kürzester Zeit in »Feierabendarbeit« abgeleistet. 1978 aber hatte die Familie noch immer keine Wohnung erhalten. Obwohl der Vater sogar anbot, sämtliche Renovierungsarbeiten und gesellschaftliche Tätigkeiten im Wohngebiet zu übernehmen, bestand die AWG hartnäckig darauf, dass noch 250 Mark Mitgliedsbeitrag ausstünden.48 Auch der Rat der Stadt gab der Familie gegenüber unumwunden zu, dass er gegen die Bestimmungen der AWG nichts ausrichten könne.49 Genau wie in diesem Fall beschränkten sich der Rat der Stadt und die Räte der Stadtbezirke darauf, beobachtete Missstände intern anzuprangern, ohne die politischen Vorgaben der SED durchzusetzen. Sie trugen damit ihren Teil zur Paradoxie der ›Fürsorgediktatur‹ bei. Global betrachtet erkaufte sich zwar die SED durch Verbesserungen in der Versorgung, unter anderem mit Wohnraum, die stillschweigende Zustimmung breiter Bevölkerungskreise. Lokal betrachtet aber stützte die Wohnungsbaupolitik der SED vielmehr Substrukturen wie die AWG, die die politischen Vorgaben der SED gerade nicht durchsetzten. Die AWG bildeten damit eine Institution, welche die begrenzte Autorität der kommunalen Behörden sichtbar machte, aber zugleich zur prekären Stabilität der DDR vor Ort beitrug, indem sie die Vision eines Auswegs aus unzumutbaren Wohnverhältnissen aufrechterhielt. Dass die AWG nach dem Untergang der DDR bestehen blieben, liegt nicht zuletzt in deren alltagsweltlicher Legitimation während der DDR begründet.
3. Leben im Abriss: Städtisches Krisenmanagement, Hausgemeinschaften und der Wandel des Politischen Obwohl Neubaugebiete für die Repräsentation der sozialpolitischen Leistungen der DDR eine hohe Bedeutung hatten, stellten sozialpolitische Erwägungen bei deren Verteilung in den meisten Fällen nicht das ausschlaggebende Kriterium 48 Eingabe des Bürgers H., 29. 06. 1978, StadtAL, StVuR (2), 958, Bl. 70. 49 Rat der Stadt Leipzig, Abt. Wohnungspolitik an H., 29. 08. 1978, ebd., Bl. 71.
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dar. Altbaugebiete und ihre Probleme blieben im öffentlichen Diskurs dagegen weitgehend unsichtbar, im behördlichen Alltag aber standen sie ganz oben auf der Agenda. Auch hierbei wurde eine andere Seite der ›Fürsorgediktatur‹ deutlich. In dem Maße, wie der Bau von Neubaugebieten auch kommunale Ressourcen band, regte sich zunehmend Unmut in der Wohnbevölkerung der Altbaugebiete. Im Rat der Stadt war man sich dieser Zwangslage bewusst. So diskutierte man etwa bei internen Gewerkschaftssitzungen immer wieder über das »Unverständnis über die vorrangige Sicherung kommunalpolitischer Aufgaben in Grünau […], während andere Gebiete seit Jahren ohne diese Einrichtungen [gemeint sind Einkaufsmöglichkeiten, soziale und medizinische Infrastruktur] sind.«50 Besonders im Vorfeld von Kommunalwahlen registrierte auch die Stasi die wachsende Kritik an lokalen Staatsorganen und ›Parteibonzen‹, die unfähig s eien, die zum Teil lebensbedrohlichen Verhältnisse in den Altbaugebieten zu beseitigen. Immer wieder drohten frustrierte Mieter*innen mit Wahlverweigerung, öffentlichem Protest, ›Republikflucht‹ oder der Beschädigung von Herrschaftssymbolen, was die Sicherheitsbehörden in Alarmbereitschaft versetzte.51 Dazu kam das bereits zum Ritual gewordene massenhafte Abfassen von Eingaben an den Staatsrat der DDR über schlechte Wohnverhältnisse im Vorfeld von Wahlen.52 Es lag daher im genuinen Interesse der Stadtverwaltung, Möglichkeiten zur Abmilderung der Probleme anzubieten, um unerwünschte Verhaltensweisen der Bevölkerung, die das chronische Legitimationsdefizit der SED in die Öffentlichkeit trugen, zu verhindern. Angesichts des Materialmangels musste die Bevölkerung dabei jedoch umfänglich einbezogen werden, was auch gelang. Das zeigen allein schon die Bilanzabrechnungen des Rates der Stadt im Bereich Instandhaltung. Der Kommentar zum Planerfüllungsbericht von 1975 war eindeutig: »Die ausgewiesene Planerfüllung resultiert zum größten Teil aus der Übererfüllung der Bevölkerungsleistungen«.53 1980 machten Bevölkerungsleistungen fast 50 Prozent aller abgerechneten Instandhaltungsleistungen aus.54 Gestützt auf 50 Rat der Stadt Leipzig, BGL, Monatsbericht über das Mitgliederwesen, 15. 06. 1978, BA, DY 34/11293, unfol. 51 Vgl. die Berichte der Kreisdienststelle des MfS Leipzig-Stadt über die Vorbereitungen zu den Kommunalwahlen, April/Mai 1979, Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS, BV Lpz., KD Leipzig-Stadt, 01186, Bl. 11 – 42. 52 Vgl. z. B. Eingabenanalyse I. Halbjahr 1974, StadtAL, StVuR, 21416, Bl. 256. 53 Rat des Bezirkes, Instrukteurabteilung, Hinweise zum Bericht des Rates der Stadt Leipzig über die Erhöhung der Rolle, Verantwortung und Arbeitsfähigkeit der Räte der Stadtbezirke vor dem Sekretariat der SED-Bezirksleitung am 07. 01. 1976, SächsStAL, 20237, 24345, unfol. 54 Rat der Stadt, Auszüge aus dem Bericht des Stadtrates, o. D., StadtAL, StVuR, 20651, Bl. 29.
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diese B ereitschaft zum Mitmachen, baute die Stadtverwaltung in den 1970er und 1980er Jahren ihren Dienstleistungsbereich im Wohnungswesen aus. Dabei berief man sich auch auf interne Parteidokumente, so etwa einen Beschluss des Ministerrats der DDR vom 21. Juli 1977 über »Maßnahmen zur besseren Gewährleistung der Erhaltung und Verwaltung des Wohnungsbestandes«, der vor allem die Förderung bzw. den Aufbau von »Mach-mit!«-Zentralen, Reparaturstützpunkten, Reparaturschnelldiensten, Brigadeeinsätzen, mobiler Werkstätten, zentraler Servicebüros und den Abschluss von Mietermitverwaltungsverträgen zu zentralen Aufgaben der Kommunalverwaltung erklärte.55 Mit der Einrichtung von Reparaturstützpunkten, bei denen Bürger*innen Werkzeuge ausleihen konnten, hatte die Leipziger Stadtverwaltung bereits Anfang 1978 im Auftrag lokaler SED-Stellen begonnen. Notwendig hierfür war jedoch die Bereitschaft ansässiger Kombinate zur Förderung der Stützpunkte mit Werkzeugen, Kleinmaschinen und Personal, da die Stadtverwaltung keine eigenen Mittel besaß. Stadtbezirke bzw. Stadtviertel mit gut ausgestatteten Betrieben profitierten hierbei am meisten, während kleinere bzw. schlecht ausgestattete Betriebe die Kooperation grundsätzlich verweigerten.56 Es kam vor, dass Reparaturstützpunkte im selben Stadtbezirk ihre Pläne deutlich über- oder nicht einmal annähernd erfüllten. Im Stadtbezirk Südwest beispielsweise schwankten 1985 die Erfüllungsquoten zwischen 12,6 und 156,8 Prozent.57 Gerade letztere Zahl verdeutlicht, welch starken Zulauf funktionierende Reparaturstützpunkte aus der Bevölkerung haben konnten. Nicht funktionierende Stützpunkte sorgten dagegen häufig für erneuten Unmut. Einen ebenso regen Zulauf, vor allem bei jungen Menschen zwischen 18 und 23 Jahren,58 erlebten Angebote zum Um- und Ausbau von Altbauwohnungen. Die Stadtverwaltung stellte den ›Ausbauwilligen‹ ein finanzielles Kontingent von 3.000 bis zu 10.000 Mark, s päter sogar bis zu 20.000 Mark pro Wohnung zur Verfügung, was etwa einem Drittel des Aufwands für eine professionelle Sanierung 55 Beschluss des Ministerrates vom 21. 07. 1977, Maßnahmen zur besseren Gewährleistung der Erhaltung und Verwaltung des Wohnungsbestandes, StadtAL, StVuR, 19448, Bl. 226 – 237. 56 Rat des Stadtbezirkes Südost, Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft, an den Rat der Stadt, Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft, Information zum Stand des Aufbaus von Reparaturstützpunkten in den einzelnen Wahlkreisen per 30. 09. 1979, 17. 10. 1979, StadtAL, SB Südost, 871, Bl. 35. 57 Rat des Stadtbezirkes Südwest, Abt. Wohnungspolitik, Information über die Wirksamkeit der Reparaturstützpunkte der Großbetriebe und ihre vertragliche Einbeziehung in die Wohnraumwerterhaltung, 09. 09. 1985 [Abschrift], StadtAL, SB Nordost, 1994, Bd. 1, Bl. 45 – 48. 58 Rat des Stadtbezirkes Nordost, Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft an den Rat der Stadt, Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft, Ausbauvertrag für die Beseitigung von baulichen Schäden mit Hilfe der Initiative der Bürger und Betriebe, 07. 04. 1980, ebd., Bl. 224.
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Abb. 2 ›Mach-mit!‹-Stützpunkt des VEB Gebäudewirtschaft Leipzig 1983: Zwischen staatlicher Dienstleistung und ›sozialistischer‹ Nachbarschaftshilfe
entsprach, suchte entsprechende Wohnungen aus und legte die E igenleistungen 59 der ›Ausbauwilligen‹ fest. Mitte der 1980er Jahre wurde das Angebot ausgebaut, indem die Stadtverwaltung Vermittlungszentren einrichtete, die den ›Ausbauwilligen‹ mit technischem und fachlichem Rat zur Seite standen sowie bei der Materialbesorgung halfen.60 Die Vermittlungszentren blieben allerdings weitgehend irrelevant. Im Stadtbezirk Nordost vergaben sie beispielsweise im Jahre 1983 insgesamt nur 345 von 3.553 zum Um- und Ausbau bestimmte Wohnungen. Auch waren die Zentren vielfach nicht in der Lage, die technische Unterstützung zu leisten, die von ihnen erwartet wurde. So blieben die Räte der Stadtbezirke weiterhin die maßgeblichen Institutionen, die den Um- und Ausbau organisierten.61 Dies weckte allerdings auch Begehrlichkeiten bei höheren Funktionären in der Stadt und im Bezirk Leipzig, die sich nicht selten großräumige Um- und Ausbauwohnungen sicherten und sich diese großzügig und modern ausbauten oder ausbauen 59 SED-SPKK, Einschätzungen und Fakten aus ABI-Berichten, 01. 04. 1972, SächsStAL, 21145, IV/C/5/01/150, unfol. 60 Rat der Stadt, Stadtrat für Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft, Grundsätze über die Aufgaben des Beratungs- und Vermittlungszentrums für Um- und Ausbauwohnungen des Stadtbezirkes Leipzig-Mitte, o. D., StadtAL, StVuR, 17895, Bl. 364 – 372. 61 VEB Gebäudewirtschaft, Überprüfung des Gesamtprozesses Um- und Ausbau, 16. 12. 1985, StadtAL, SB Nordost, 1994, Bd. 1, Bl. 54 – 66; Rat der Stadt, Stadtrat für Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft an den Stadtbezirksbürgermeister Nordost, 14. 02. 1984, ebd., Bl. 79.
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ließen.62 Kontrollorgane, die auf solche Fälle aufmerksam wurden, sahen hierin vor allem eine Gefahr für die Stabilität des SED-Regimes. Gleichwohl sollte der Blick der Kontrolleure, deren Berichte einmalige Einblicke in den sonst schwer zugänglichen Alltag der Diktatur gewähren, nicht dazu verleiten, von der Dysfunktionalität lokaler Institutionen auf deren fehlende Legitimation im Alltag zu schließen. Vielmehr trug die institutionelle Verstetigung des Um- und Ausbaus dazu bei, Bürger*innen zur Eigeninitiative zu mobilisieren. Das ging allerdings mitunter so weit, dass Baustellen zunehmend Schauplätze von Materialdiebstählen wurden – nicht selten sogar mit stillschweigender Unterstützung durch die Baustellenleiter. In einem Bericht von 1974 wurde festgehalten, dass fast 40 Prozent der Diebstähle von Bauarbeitern selbst begangen worden s eien, wobei die entwendeten Materialen wie Fenster, Warmwasserspender usw. häufig als »Hilfeleistungen« mitgenommen worden seien.63 Ein anderes Beispiel für die wachsende Beliebtheit von lokalen Institutionen, die unter planwirtschaftlichen Bedingungen dysfunktional arbeiteten, ist die städtische Wohnungstauschzentrale, die in den 1980er Jahren im Rat der Stadt eingerichtet worden war. Obwohl sie letztlich einen hohen Verwaltungsaufwand verursachte – im Jahr 1988 mussten für 1.400 Wohnungstausche 35.000 Tauschvorschläge unterbreitet werden 64 –, entwickelte sie sich zu einer zentralen Anlaufstelle für Wohnungssuchende. Sie blieb nach 1990 genauso wie die AWG bestehen und stellte zusammen mit diesen eine wichtige Stütze beim Aufbau kommunaler Strukturen in der Transformation dar. Bezeichnend in d iesem Zusammenhang ist, dass der seit 1984 amtierende Leiter die Wohnungstauschzentrale 1990 als Privatunternehmen fortführte, obwohl (oder vielleicht auch weil) er während der späten 1980er Jahre als Hauptverdächtiger eines bis in die Stadtverwaltung hineinreichenden Wohnungsschiebernetzwerks ins Visier von Stasi und Staatsanwaltschaft geraten war.65 Reparaturstützpunkte und Ausbauberatungsstellen verloren im Zuge der Privatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes und 62 SED-SBPKK Mitte, Bericht, 28. 05. 1987, SächsStAL, 21138, IV/F/5/02/056, unfol.; SEDSBPKK Mitte, Untersuchung im VEB GWL Mitte, 12.05. – 02. 07. 1987, ebd., unfol. 63 Abschrift aus dem Bericht über Straftaten in der Volkswirtschaft gemäß Informationsordnung 081/73, SächsStAL, 21123, IV/C/2/4/310, unfol. 64 Rat der Stadt, Instrukteurabteilung, Kontrollbericht im Ergebnis der Untersuchung zur Verwirklichung des Beschlusses 0149 des Rates der Stadt vom 13. 07. 1988 – Maßnahmen zur weiteren Erhöhung der sozialpolitischen Wirksamkeit der Wohnungspolitik und zur effektiven Nutzung und Erhaltung des Wohnungsfonds in der Stadt Leipzig, 05. 12. 1988, StadtAL, StVuR, 17900, Bl. 4. 65 Zu dieser Untersuchung vgl. Rau: Stadtverwaltung im Staatssozialismus (wie Anm. 26), S. 355 – 364.
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der Etablierung von Baumärkten und Gewerbeparks nach 1990 dagegen schnell an Relevanz. Dem Ausbau des staatlichen Dienstleistungssektors lag auch ein mentaler Wandel des Verhältnisses von Staat und Bevölkerung zugrunde, der wiederum einem gesellschaftlichen Wandel folgte. Verwaltungsfunktionär*innen der ersten Generation, die zum Teil noch in den frühen 1960er Jahren Leitungspositionen im Rat der Stadt bekleidet hatten, verstanden sich als genuine Parteisoldat*innen und setzten überwiegend auf repressive Maßnahmen in der Wohnungspolitik. Damit unterstützten sie die von Gewalt im Innern geprägte Aufbauphase des Sozialismus in den 1950er Jahren.66 Bis in die frühen 1960er Jahren finden sich zahlreiche Beispiele, dass Belegungsnormen in der Wohnungspolitik mit besonderer Härte durchgesetzt wurden. Dabei machte man nicht einmal vor Rentner*innen halt, die den offiziellen Vorgaben zufolge in »unterbelegten« Wohnungen oder ohne staatliche Zuweisung wohnten, weil diese ein »Beispiel für undisziplinierte Bürger schufen«.67 So musste noch 1964 eine 72-jährige Rentnerin eine administrative Zwangsmaßnahme über sich ergehen lassen. In ihre Dreizimmerwohnung, die sie bis dahin allein bewohnt hatte, wurde von einem Tag auf den anderen ohne Ankündigung ein Ehepaar eingewiesen, so dass sie ihre Möbel in einem Raum unterbringen musste, der dann nicht mehr bewohnbar war. Sie zog daraufhin in die Wohnung einer Freundin. Sie war nicht die einzige Rentnerin, die im Zuge einer großangelegten Aktion des Jahres 1964 zur Aufspürung »unterbelegter« Wohnungen neue Mitbewohner*innen zugewiesen bekam. Wurden Wohnungen unrechtmäßig, sprich ohne staatliche Zuweisung bewohnt, dann bedienten sich die Behörden häufig auch moralischer Argumente, um ihr Vorgehen zu legitimieren. So wurden Mieter*innen in den 1950er und 1960er Jahren nicht nur mit der Begründung des Verstoßes gegen Belegungsnormen ausgewiesen, obwohl dies der unmittelbare Anlass war, sondern auch, weil Wohnungen verwahrlost gewesen seien, Wohnungssuchende falsche Tatsachen vorgetäuscht hätten, Mieter*innen häufig den Arbeitsplatz gewechselt hätten oder bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten seien.68 66 Grundlegend zur Rolle von Gewalt im Aufbauprozess des Sozialismus in der DDR Manfred Wilke (Hrsg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht. Berlin 1998; Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946 – 1953. Paderborn 2000; Thomas Klein: »Für die Einheit und Reinheit der Partei«. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht. Köln/Weimar/Wien 2002. 67 Aufstellung von Einzelproblemen aus den Eingabenanalysen II/1963, die in die Gesamtanalyse nicht mit aufgenommen werden konnten, o. D., StadtAL, StVuR, 1604, Bl. 86. 68 Rat der Stadt, Org.-Instr.-Abteilung, Räumungen auf dem Verwaltungswege, 08. 07. 1964, StadtAL, StVuR, 1719, Bl. 17 f.
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Dies änderte sich, nachdem es Mitte der 1960er Jahre zu einem Generationswechsel in der Stadtverwaltung gekommen war. Nun bestimmten zunehmend jüngere, wissenschaftlich-technisch geschulte Verwaltungsexpert*innen, die in der DDR aufgewachsen waren und den ostdeutschen Staat vor allem als sozialistische Wohlstandsgesellschaft wahrnahmen, den Arbeitsalltag in der Kommunalverwaltung.69 Nicht selten pflegten sie selbst einen Lebensstil jenseits staatlicher Belegungsnormen oder anderer wohnungspolitischer Vorgaben. Das machte sie auch toleranter gegenüber ›Schwarzwohnern‹,70 die gegenüber staatlichen Stellen beflissentlich darauf hinwiesen, dass sie ihre Wohnungen mit »viel Kraft, Mühe und Geld« hergerichtet hätten.71 Mit diesen Mieter*innen, die zwar keine staatliche Zuweisung besaßen, aber häufig (anonym) Miete zahlten, sollte allenfalls noch ein »ordentlicher Klärungsprozeß« erfolgen.72 Auch »unterbelegte« Wohnungen wurden zwar statistisch noch erfasst, konnten intern aber kaum noch für Empörung sorgen. Vielmehr bemühte sich die Stadtverwaltung darum, solche Erkenntnisse nicht öffentlich werden zu lassen, um zusätzlichen Unmut frustrierter Wohnungssuchender zu vermeiden. Bestenfalls versuchte man noch, Menschen auf dem Wege der Überzeugung für die Aufnahme von Mitbewohner*innen zu gewinnen. Aber selbst bei Rentner*innen, die eher noch Entbehrungen und kollektive Not erlebt hatten, stießen die Verwaltungsmitarbeiter*innen zunehmend auf Ablehnung. So konstatierte der Stadtrat für Wohnungspolitik im Jahr 1986: »Sie [die Rentner*innen] gehen davon aus, daß nur durch ihr Entgegenkommen eine Lösung zugunsten kinderreicher Familien möglich ist. Die Beschränkung in höherem Lebensalter auf einen Raum wird unter Hinweis auf die bisherigen Lebensgewohnheiten fast ausnahmslos abgelehnt«.73 Der hohe Anteil von Rentner*innen in ›Modernisierungsgebieten‹ – zum Teil bis zu 90 Prozent 74 – war nicht nur ein sozialpolitisches Problem. Vielmehr bildeten Rentner*innen als Organisator*innen von Hausgemeinschaften ein 69 Zu diesem Generationswechsel vgl. Rau: Stadtverwaltung im Staatssozialismus (wie Anm. 26), S. 171 f. 70 Hierzu grundlegend Udo Grashoff: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR. Göttingen 2011. 71 Beschwerdebrief, o. D., BStU, MfS, BV Lpz., KD Leipzig-Stadt, 03933, Bl. 7. 72 Handschriftliche Mitschrift der Sekretariatssitzung der SED-Stadtleitung vom 23. 06. 1983, ebd., Bl. 14 – 19. 73 Rat der Stadt, Stadtrat Wiedemann, Wohnungsprobleme kinderreicher Familien in der Stadt Leipzig, 13. 06. 1986, StadtAL, StVuR, 17899, Bl. 302. 74 Rat der Stadt Leipzig, Oberbürgermeister, Bericht des Rates der Stadt über Ergebnisse und weitere Aufgaben der Wohnraumlenkung und der Gebäudewirtschaft für die Sitzung des Rates des Bezirkes am 10. Juni 1977, 31. 05. 1976, StadtAL, StVuR (2), 8486, Bl. 58.
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wichtiges Rückgrat für das Zusammenleben in Altbaugebieten und hatten damit zugleich einen großen Einfluss auf die soziale Ordnung. Hausgemeinschaften, denen ehrenamtliche Hausgemeinschaftsleitungen vorstanden, genossen durch die staatlich organisierte Mobilisierung der Bevölkerung in der Wohnungspolitik besondere ideelle Unterstützung. Sie bildeten Selbsthilfegemeinschaften und Institutionen der sozialen Kontrolle im Wohngebiet zugleich. Hausgemeinschaftsleiter*innen fungierten dabei als unmittelbare Ansprechpartner*innen der Staatsorgane, häufig auch der Stasi, wenn es um Auskünfte über bestimmte Personen im Wohnumfeld ging. Rentner*innen, die diese Ehrenämter in Altbaugebieten überwiegend bekleideten, trugen mit der Ausübung ihrer Funktionen auch dazu bei, ältere Moralvorstellungen im Alltag zu verankern bzw. zu reproduzieren und staatlich induzierten gesellschaftlichen Wandel zu blockieren. Sie standen im gesellschaftlichen Nahbereich damit gerade nicht am »Rande der sozialistischen Arbeitergesellschaft«,75 sondern waren aktiver Bestandteil der Konstruktion sozialer Wirklichkeit. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist der Umgang mit Haftentlassenen, die infolge des 1968 erlassenen Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetzes gesellschaftlich rehabilitiert werden sollten. Dass dies durch eine »engmaschige Überwachung durch die Organe« des Staates geschah, »welche dazu führte, das Stigma der Straftat im öffentlichen Bewußtsein (Wohngebiet, Arbeitskollegen etc.) zu erhalten und dem Betroffenen eine echte soziale Wiedereingliederung geradezu unmöglich zu machen«, haben Matthias Zeng und Sven Korzilius bereits umfänglich dargestellt.76 Dazu trug auch die Übernahme des Straftatbestands der ›Asozialität‹ aus dem NS-Recht in das Strafrecht der DDR (§ 249) bei. Darunter wurden all diejenigen Tugenden gefasst, die dem bereits im Kaiserreich »von der organisierten Arbeiterbewegung im Lumpenproletariatsdiskurs« konstruierten Kanon der »arbeiterlichen Sozialkultur« (Fleiß, Ehrlichkeit, Kollegialität, Solidarität, Kollektivbewusstsein, Familiensinn, Ordnungsliebe usw.) als »wesensfremd« entgegenstanden.77 Auf diese tief in der Arbeiterkultur des 19. und 20. Jahrhunderts verwurzelte Moralvorstellung rekurrierten H ausgemeinschaftsleitungen, 75 Dierk Hoffmann: Am Rande der sozialistischen Arbeitergesellschaft. Rentner in der DDR 1945 – 1990. Erfurt 2010. 76 Matthias Zeng: »Asoziale« in der DDR. Transformationen einer moralischen Kategorie. Münster 2000; Sven Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ, DDR. Randgruppen im Sozialismus z wischen Repression und Ausgrenzung. Köln/Weimar/Wien 2005, Zit. S. 623 f. 77 Thomas Lindenberger: Das Fremde im Eigenen des Staatssozialismus. Klassendiskurs und Exklusion am Beispiel der Konstruktion des »asozialen Verhaltens«. In: Jan C. Behrends/ Thomas Lindenberger/Patrice G. Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der
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wenn Haftentlassene durch staatliche Organe eine großzügige Wohnung im Altbau erhielten und sich zudem nicht in die Hausgemeinschaft einfügten. Dabei achtete die Stadtverwaltung fast schon pedantisch darauf, dass Haftentlassene nur die gerade noch bewohnbaren Wohnungen erhielten, um Beschwerden aus der Bevölkerung wegen bevorzugter Behandlung von ›Asozialen‹ zu vermeiden, was die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Differenzkategorie eindrücklich verdeutlicht. Verwaltungsmitarbeiter*innen mussten sich nicht nur die ständige Frage besorgter Bürger*innen gefallen lassen, wie es denn sein könne, dass Menschen, die für ihre Wohnung keine gesellschaftliche Gegenleistung erbracht hätten, bessere Wohnungen als manch andere redliche Person (im Zweifel sie selbst) erhielten.78 Teilweise wurden sie dafür sogar angefeindet und beleidigt, wenn ›Asoziale‹ eine ›Komfortwohnung‹ erhielten. So hielt ein Stadtbezirksrat in einer internen Hausmitteilung 1986 fest: »Auf die Reaktionen der Bürger im jeweiligen Wohngebiet bei solchen Entscheidungen möchte ich bewußt nicht näher eingehen«.79 Die ganze Mobilisierungskraft einer Hausgemeinschaft bekam ein 19-Jähriger zu spüren, der wegen ›staatsfeindlicher Handlungen‹ in Haft gesessen hatte und 1979 auf der Grundlage eines Amnestiebeschlusses freigekommen war. Obwohl der Rat der Stadt dazu verpflichtet war, Haftentlassenen im Zuge der sozialen Rehabilitierung Starthilfe bei der Renovierung und Möblierung der Wohnung zu leisten, musste der Jugendliche diese selbst organisieren. Dabei kam es häufig zu nächtlichen Ruhestörungen. Zudem habe er sich verweigert, die Etagentoilette zu reinigen. Gestützt auf ihre moralische Deutungshoheit, bemühten sich die Hausbewohner*innen, die verwerfliche Lebensweise des Jugendlichen akribisch zu dokumentieren. Dabei machten sie auch vor dem Privatbereich des ungeliebten Nachbarn nicht Halt. Ihre Befunde sammelten sie in einer umfangreichen Eingabe, die sie direkt an die Volkspolizei schickten, die sie, vielmehr als die Stadtverwaltung, als ordnende Kraft ansahen. In ihrer Sammelbeschwerde führte die Hausgemeinschaft vor allem die »negative[…] Einstellung zur Arbeit« und offenkundige »Bindungen zu kirchlichen Kreisen« des Jugendlichen als Beleg für dessen »asoziale« Lebenswiese an.80 In seiner Wohnung habe man eine Korb glocke entdeckt, die Tage zuvor aus einem benachbarten Blumengeschäft gestohlen DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Berlin 2003, S. 179 – 191, hier S. 190. 78 Niederschrift über das politische Gespräch mit Bürgern des Stadtbezirkes am 08. 11. 1989, StadtAL, SB Nord, 1971, Bl. 54. 79 Rat des Stadtbezirkes Mitte, Abt. Wohnungspolitik an den Rat der Stadt Leipzig, Abt. Wohnungspolitik, Hausmitteilung, 15. 12. 1986, StadtAL, StVuR, 19418, Bl. 48. 80 VPKA Leipzig, VP Revier West, Ermittlungen über den Jugendlichen [anonymisiert], 29. 03. 1981, BStU, MfS, BV Lpz. AKAG 1272/91, KNA 1, Bl. 65.
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worden sei. Diese diene nun als Lampenschirm. Geschlafen habe der Jugendliche auf Bierkästen, die zu einem Bett zusammengeschoben worden seien.81 Die Polizei, die eng mit der Stasi zusammenarbeitete, reagierte prompt und forderte den zuständigen Rat der Stadtbezirks West dazu auf, den Jugendlichen in eine kleinere Wohnung einzuweisen, damit er »nicht mehr in der Lage ist fremde Personen aufzunehmen«.82 Der Stadtbezirk lehnte jedoch ab, mit der Begründung, dass »dies nicht dazu beiträgt eine grundsätzliche Veränderung im Verhalten des [anonymisiert] zu erreichen«.83 Dies ist nicht der einzige Fall, bei dem ältere Bürger*innen in Altbaugebieten mit der Volkspolizei und zuweilen direkt mit der Stasi Kontakt aufnahmen, die daraufhin in Konflikt mit der Stadtverwaltung im Umgang mit unerwünschten Personen gerieten. Im Juli 1984 zogen zwei Jugendliche, die sich der Punkszene zuordneten und von denen einer arbeitslos war, den Ärger eines 52-jährigen Nachbarn auf sich, der sich durch seine »asozialen« Nachbarn gestört fühlte. Dieser hatte sie bei der Polizei angezeigt, weil sie ein Transparent mit der offiziellen Losung »Wohnungspolitik, Kernstück unserer Sozialpolitik« an das von ihnen bewohnte Abrisshaus angebracht hatten, was freilich eine öffentliche Provokation darstellte. Später hatten sie noch Suchanzeigen an der Ladenfensterscheibe des Hauses befestigt, auf denen zu lesen war: »Suche ab sofort Wohnraum« und: »Suche dringend Zimmer. Hilfe im Haushalt zugesichert«. Auch auf diese Provokation reagierte die Volkspolizei prompt. Die beiden Punks wurden als »Schwarzwohner« ausgemacht und mussten ihre Wohnungen binnen eines Tages räumen.84 Der zuständige Rat des Stadtbezirks Nordost ordnete die Zwangsräumung formal an, unterließ es aber, diese auch zu organisieren. Der Stadtbezirksrat für Wohnungspolitik ließ wissen, dass er für den Notfall in seinem Garten erreichbar sei. Erst nachdem die beiden Betroffenen ihr Hab und Gut auf die Straße gestellt hatten und die Stasi dies als erneute Provokation gedeutet hatte (sie hätten ihre Obdachlosigkeit sichtbar machen wollen), ordnete diese an, die Zwangsräumung umgehend zu vollziehen. Auf Druck des E rsten Sekretärs der SED-Stadtbezirksleitung musste nun (an einem Sonnabend) ein Transport organisiert werden. Nachdem die Möbel schließlich zu Verwandten der Betroffenen abtransportiert 81 VPKA Leipzig, Gespräch zur Verhinderung der Anreise zum V. Festival der Freundschaft in Karl-Marx-Stadt, 23. 05. 1980, Ebd., Bl. 25; VPKA Leipzig, Wohngebietsermittlung, 23. 06. 1980, ebd., Bl. 35. 82 VPKA Leipzig, VP Revier West, Ermittlungen über den Jugendlichen (wie Anm. 80). 83 Rat des Stadtbezirkes West, Abt. Innere Angelegenheiten, Beschwerde der Hausgemeinschaft, 28. 08. 1980, BStU, MfS, BV Lpz. AKAG 1272/91, KNA 1, Bl. 50. 84 VPKA Leipzig, Revier Nordost, Befragung zur vorliegenden Ordnungswidrigkeit gem. § 4 (1 Ziff. 3) OWVO, 22. 07. 1984, BStU, MfS, BV Lpz., AU, 1606/84, Strafakte, Bl. 56 – 166.
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worden waren, war die Sache für die Stadtverwaltung erledigt.85 Einer der Betroffenen wurde von der Stasi indes bald wieder als »Schwarzwohner« identifiziert, was diese erneut als Provokation betrachtete: »Offensichtlich legt er es darauf an, durch eine Zwangsräumung erneut ins Gespräch zu kommen, um sein Wohnungsproblem zu klären«.86 Altbaugebiete wurden so in den 1980er Jahren zunehmend zu politisierten Räumen. Sie wurden nicht nur als Soziotope ›oppositioneller‹ Gruppen ins Visier der Ordnungsbehörden genommen, sondern wurden auch zu Aushandlungsorten über die Zugehörigkeit zur ›sozialistischen Gesellschaft‹. Moral- und Generationskonflikte wurden hierbei mit wohnungspolitischen Imperativen verknüpft, denen die Stadtverwaltung bestenfalls noch lakonisch folgte. Wohnungspolitik wurde damit noch einmal zu einem Instrument der sozialen Ordnung, wobei sich die Zielgruppe änderte. Nicht mehr die Mitte der Gesellschaft war von wohnungspolitischen Repressionen betroffen, sondern nur noch gesellschaftliche Randgruppen und ›Asoziale‹, die den realsozialistischen Konsens störten. Vor allem ältere Bürger*innen und Rentner*innen kooperierten dabei mit den Sicherheitsbehörden und schützten sich damit womöglich selbst vor staatlichen Zugriffen auf ihre Privatsphäre. Zumindest konnten sie im Alltag ihre strukturelle Benachteiligung bei wohnungspolitischen Entscheidungen durch den Rückgriff auf kollektiv geteilte Moralvorstellungen kaschieren und sich als Teil der ›sozialistischen Gesellschaft‹ der DDR inszenieren.
4. Zusammenfassung und Ausblick Es greift zu kurz, Wohnungspolitik in der DDR lediglich als Mittel der ›Fürsorgediktatur‹ zu begreifen, mit dem sich die SED die stillschweigende Zustimmung breiter Bevölkerungsteile erkaufte. Wohnungspolitik war stets auch ein staatliches Instrument der sozialen Ordnung, um die ›sozialistische Gesellschaft‹ zu verwirklichen, und kann damit als Sonde für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft betrachtet werden. Wohnungen wurden dabei nach ›Leistung‹ und aufgrund sozialpolitischer Zielvorstellungen vergeben, die tief in der deutschen Arbeiterbewegung wurzelten. Allerdings waren Wohnungen und Investitionsmittel für den Wohnungsbau knapp. Selbstmobilisierung, Initiative und Eigenleistungen der Gesellschaft waren daher integrativer Bestandteil der Wohnungspolitik, um 85 MfS, BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt, Sachverhaltsinformation zum Stadtbezirk Nordost, 23. 07. 1984, ebd., Bl. 198 f. 86 MfS, BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt, Information, 24. 11. 1984, ebd., Bl. 202.
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die Defizite zu kompensieren. Zugleich sollte dadurch die ›sozialistische Gesellschaft‹ praktisch im Alltag verankert werden. Damit wurde auch das staatlicherseits erwünschte Bewusstsein verstetigt, dass staatliche Sozialleistungen nicht unmittelbar auf einem verbrieften Anrecht gründeten, sondern man dafür eine Gegenleistung zu erbringen habe. In Großstädten wie Leipzig, die besonders von Wohnungsproblemen bei stetigem Zuzug geplagt waren, verfestigten sich dadurch aber auch Binnenstrukturen wie AWG und Hausgemeinschaften, die von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und deren Moralvorstellungen dominiert wurden und damit ein exklusives Eigenleben entwickelten, das sich immer weiter von staatlichen Zielen entfernte. Durch die Partizipation städtischer Bevölkerungskreise, die sich in den AWG und Hausgemeinschaften institutionalisierte, verschoben sich zugleich die durch die offizielle Wohnungspolitik gezogenen gesellschaftlichen Grenzen. Die Vorstände der AWG waren fest in der Hand städtischer Eliten, die in privilegierten Betrieben und Einrichtungen der Stadt den Ton angaben und die Interessen ihrer Belegschaften und damit ihrer Einrichtungen bedienten. Ungeachtet wohnungspolitischer Vorgaben teilten sie ihre Wohnungskontingente nach der Höhe der finanziellen Eigenleistungen sowie der Reihenfolge des Eintritts der Mitglieder zu. Dies legitimierte sie in den Augen ihrer Klientel. Ansprüche anderer kommunaler Akteure wie der Stadtverwaltung wehrten sie dagegen erfolgreich ab. Die AWG trugen damit zur Sichtbarkeit der Dysfunktionalität der Wohnungspolitik, aber auch zur Stabilität der DDR vor Ort bei. Zugleich beförderten sie Segregationen innerhalb der Stadtgesellschaft, da sozialpolitische Problemgruppen wie kinderreiche Familien oder junge Ehepaare kaum von ihnen profitierten und dadurch an den Rand der Wohlstandsgesellschaft gedrängt wurden. Dass Partizipation zwar zur prekären Stabilität der DDR beitragen konnte, aber zugleich die Autorität städtischer Behörden untergrub, lässt sich auch am Beispiel der Hausgemeinschaften nachvollziehen. Diese vorwiegend von älteren Menschen und Rentner*innen dominierten Sozialstrukturen, die besonders in Altbaugebieten Relevanz besaßen, wurden vom Staat gefördert und verstanden sich nicht nur als Selbsthilfegemeinschaften, sondern auch als Hüter älterer Moralvorstellungen tugendhafter Arbeiterlichkeit. Vor allem Jugendliche, die diesem Idealbild sowohl äußerlich als auch ihrem Verhalten nach widersprachen, erfuhren in Hausgemeinschaften häufig Ausgrenzung. Ältere Bürger*innen, die als ›unproduktiver‹ Teil der Gesellschaft wohnungspolitisch benachteiligt waren, arbeiteten dabei eng mit örtlichen Sicherheitsorganen zusammen, die sie (mehr als die Stadtverwaltung) als Hüter von Recht, Ordnung und Moral betrachteten. Sie inszenierten und legitimierten sich damit als Teil der ›sozialistischen
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Gesellschaft‹. AWG und Hausgemeinschaften markieren damit die Verfestigung zweier gesellschaftlicher Leitbilder qua Beteiligung – die Konstruktion der auf individuellen Leistungen gründenden und der tugendhaften ›sozialistischen Gesellschaft‹. Diese Ergebnisse erweitern den Blick auf die »partizipative Diktatur« der DDR. Nicht nur eröffneten lokales Engagement und die Zusammenarbeit mit Behörden vielen Ostdeutschen einen Zugang zu Privilegien und Sozialleistungen, wie dies Mary Fulbrook eindrücklich dargestellt hat.87 Auch trug Partizipation gerade in gesellschaftspolitischen Feldern wie der Wohnungspolitik zum schleichenden Wandel der Diktatur und zum Autoritätsverlust seiner politischen Institutionen bei. Nicht mehr der Staat allein bestimmte mit der Zeit, wer zur ›sozialistischen Gesellschaft‹ gehörte, was auch immer darunter jeweils verstanden wurde, sondern Bürger*innen konnten gesellschaftliche In- und Exklusionspraktiken in zunehmendem Maße selbst mitprägen. Zudem förderte der Staat vor Ort Institutionen wie die AWG oder Wohnungstauschzentralen, die zum Teil systemgefährdende Eigenlogiken entwickelten, aber auf hohe Akzeptanz in der Bevölkerung stießen. Sie verkörperten die gesellschaftliche Bedeutung individuellen Engagements und überlebten nicht zuletzt deshalb den Untergang der SED im Herbst 1989 sowie das Verschwinden der DDR im Jahr darauf. Im Übergang von der Diktatur zur Demokratie wurden sie dann zu Stützen des Aufbaus kommunaler Strukturen in den ostdeutschen Bundesländern. Damit weist der Blick auf Formen der Partizipation in der DDR auch über die Zäsur von 1989/1990 hinaus und weitet zugleich den Blick auf die gegenwärtig besonders im Fokus der Forschung stehende Transformationsphase Ostdeutschlands, die sich auf kommunaler Ebene nicht nur durch auffällige personelle,88 sondern auch (allerdings bislang kaum erforschte) institutionelle Kontinuitäten auszeichnete. Für die noch junge historische Transformationsgeschichte kann es damit je nach Fragestellung und Gegenstand erhellend sein, den Untersuchungszeitraum nicht mit dem Jahr 1989 zu beginnen, sondern gesellschaftlichem Wandel auf der Mikroebene bereits in der DDR nachzuspüren.
87 Mary Fulbrook: The People’s State. East German Society from Hitler to Honecker. New Haven/London 2005, S. 234 – 290. 88 Hellmut Wollmann/Frank Berg: Die ostdeutschen Kommunen. Organisation, Personal, Orientierungs- und Einstellungsmuster im Wandel. In: Hiltrud Nassmacher/Oskar Niedermayer/Hellmut Wollmann (Hrsg.): Politische Strukturen im Umbruch. Berlin 1994, S. 239 – 274; Tom Cusack: Democracy and Local Government. Political-Administrative Elites Five Years after Unification. Roots and Rules. Berlin 1996.
Christian Möller
Umweltschutz und Herrschaft in der DDR »Räume des Mitmachens« und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur
Die »Räume des Mitmachens« in der SED-Diktatur zählen zu den »hartnäckigen Forschungslücken« der DDR-Geschichte, wie Thomas Lindenberger betont hat.1 Wer auf ihre Existenz verweist und sie zum Gegenstand historischer Forschung machen möchte, provoziert jedoch fast schon reflexhaften Widerspruch. Der Einwand lautet, wie es der langjährige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, 2007 formuliert hat, dass eine Verwischung der »fundamentalen Dichotomie« z wischen »Demokratie« und »Diktatur«, die seiner Ansicht nach durch »das Spielen mit Begriffen« erfolge, einer Relativierung der Verbrechen der SEDHerrschaft Vorschub leiste.2 Die Kritik, die in ähnlicher Form auch von anderen Historikerinnen und Historikern geäußert wurde, richtete sich gegen die Forderung, die Gesellschaft und den Alltag in der DDR gegenüber den Repressionen der Diktatur, die nach der Wiedervereinigung 1990 im Fokus des geschichtspolitischen Erinnerns standen, stärker zu gewichten.3 Die dazu entwickelten begrifflichen Kompositionen, wie etwa »durchherrschte Gesellschaft« (Kocka), »Fürsorgediktatur« ( Jarausch), »Konsensdiktatur« (Sabrow) oder »partizipatorische Diktatur« (Fulbrook), lehnen Möller und andere Kommentatoren als »Begriffsverwirrungen«4 1 Thomas Lindenberger: Das Land der begrenzten Möglichkeiten. Machträume und Eigen-Sinn der DDR -Gesellschaft. In: Deutschland Archiv, 10. 08. 2016. Abgerufen unter URL : https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/232099/das-landder-begrenzten-moeglichkeiten-machtraeume-und-eigen-sinn-der-ddr-gesellschaft, letzter Zugriff 09. 01. 2021. 2 Horst Möller: Demokratie und Diktatur. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 3 (2007), S. 3 – 7, hier S. 3 und 6. 3 Ilko-Sascha Kowalczuk: Es gab viele Mauern in der DDR. In: Deutschland Archiv 1 (2012). Abgerufen unter URL: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/61489/ viele-mauern-in-der-ddr, letzter Zugriff: 09. 01. 2021; Dierk Hoffmann u. a.: Totgesagte leben länger. Oder: Konjunkturen der DDR-Forschung vor und nach 1989. Eine Einführung. In: Ulrich Mählert (Hrsg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Berlin 2016, S. 23 – 70, hier S. 26. 4 So Horst Möller z. B. in einem Hearing der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ›Aufarbeitung der SED-Diktatur‹, das im Juni 2006 im Bundestag statt-
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und »Weichzeichnungen« ab, die einem »rosaroten Geschichtsbild« entspringen würden, das die Opfer der SED-Diktatur verhöhne.5 Dieser Vorwurf wiegt schwer, lässt sich aber ebenso gut umkehren. Denn die aktuelle Diskussion um den Stand der Deutschen Einheit und die in d iesem Zusammenhang immer noch betonte »Andersartigkeit« der »Ostdeutschen« zeigt, wie wichtig es ist, pauschalisierende Schwarz-Weiß-Betrachtungen zu überwinden. Ein erweitertes Repertoire an begrifflichen Werkzeugen, das auch die Grau- und Zwischentöne erfasst, ermöglicht es, die Diktatur in der DDR differenzierter zu erfassen und – gerade auch mit Blick auf die Gegenwart – besser zu verstehen.6 Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass in der DDR »Räume des Mitmachens« existierten, in denen Bürger*innen sowie inkorporierten gesellschaftlichen Akteuren begrenzte Möglichkeiten der Teilhabe eingeräumt wurden. Diese Mitmachräume existierten nicht trotz, sondern wegen des allumfassenden Machtanspruches der SED und erklären sowohl die Langlebigkeit ihrer Herrschaft als auch ihren Niedergang. Welche Bedingungen waren an Teilhabe in der sozialistischen Diktatur gebunden? Wie war es Menschen in der DDR möglich, Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse und politische Entscheidungen zu nehmen? Wo lagen die Grenzen der Teilhabe in der sozialistischen Diktatur? Welche Folgen hatten die Interaktion in den »Räumen des Mitmachens« und ihre Begrenztheit für die Herrschaft der SED? Diese Fragen sollen im Folgenden aus umwelthistorischer Perspektive am Beispiel des Einflusses des Naturschutzes auf die Verabschiedung des Landeskulturgesetzes im Jahr 1970 und der Diskussion über Umweltprobleme in Eingaben erörtert werden. Die Umweltgeschichte bietet sich dafür an, weil dieses Thema weite Teile der Bevölkerung berührte, durch das Landeskulturgesetz und offizielle Verlautbarungen der Staats- und Parteiführung politisch legitimiert wurde und darüber hinaus ausreichend politisches Konfliktpotential bereithielt, um auch die Grenzen der Partizipation auszuloten.
fand. Die öffentliche Anhörung vom 06. 06. 2006. In: Martin Sabrow u. a. (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Göttingen 2007, S. 47 – 184, hier S. 55. 5 So zugespitzt bei Mathias Döpfner: Keine DDR light. In: Die Welt, 20. 06. 2006. Abgerufen unter URL : https://www.welt.de/print-welt/article224207/Keine-DDR -light.html, letzter Zugriff 09. 01. 2021. 6 Diese Kritik z. B. bei Ulrike Nimz: Mauern im Kopf. In: Süddeutsche Zeitung, 03. 10. 2020. Abgerufen unter URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/wiedervereinigung-osten-ver saeumnisse-fortschritt-1.5051517, letzter Zugriff: 04. 01. 2021.
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1. Die Herrschaft der SED und die »Räume des Mitmachens« in der DDR Der historische Beitrag, den »Räume des Mitmachens« zu einem besseren Verständnis der SED-Herrschaft und somit auch der ostdeutschen Gesellschaft leisten können, ist bereits in den 1990er Jahren mit guten Argumenten diskutiert worden. Richard Bessel und Ralph Jessen haben beispielsweise in ihrem einflussreichen Sammelband über Die Grenzen der Diktatur darauf hingewiesen, »daß sich viele Besonderheiten der ostdeutschen Geschichte« nur dann erklären lassen, »wenn es gelingt die komplizierte Wechselwirkung […] zwischen dem totalen Geltungsanspruch der Diktatur und den auf sie einwirkenden, zum Teil von ihr selbst geschaffenen, aber nicht immer von ihr kontrollierten Umweltbedingungen zu beschreiben«.7 Thomas Lindenberger hat in d iesem Zusammenhang dazu aufgefordert, die Herrschaft der SED als soziale Praxis zu begreifen, in der die Beherrschten trotz einer asymmetrischen Verteilung der Macht niemals machtlos gewesen seien.8 Martin Sabrow hat postuliert, dass nicht Repression, sondern das »suggerierte, inszenierte, erzwungene oder freiwillige Einverständnis« weiter Teile der Gesellschaft »das schärfste Instrument diktatorischer Herrschaft« gewesen sei. Die DDR erscheint ihm aus kulturwissenschaftlicher Perspektive daher als eine diskursiv konstituierte »Konsensdiktatur«. Der Garant für ihre Stabilität sei demnach die Fähigkeit der SED gewesen, den Glauben an die Legitimität ihrer Herrschaft aufrechtzuerhalten und immer wieder neu zu justieren. Diesem »Konsensprinzip« habe ein Zwang zum Mitmachen zugrunde gelegen, der aber auch Raum für Dissens geboten habe, solange sich dieser im Rahmen der konformen Diskursordnung bewegt habe. Widerspruch außerhalb der von der SED gesetzten Diskursgrenzen habe hingegen harte Reaktionen durch den Herrschaftsapparat zur Folge gehabt.9 Die Sozialhistorikerin Mary Fulbrook wendet sich in ihrer Gesellschafts geschichte der DDR den konkreten sozialen Handlungen zu und wählt zur 7 Richard Bessel/Ralph Jessen: Einleitung: Die Grenzen der Diktatur. In: dies. (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 7 – 23, hier S. 8 f. 8 Thomas Lindenberger: Alltagsgeschichte und ihr möglicher Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 298 – 325, hier S. 315. 9 Martin Sabrow: Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive. In: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow: Der Weg in den Untergang. Göttingen 1999, S. 83 – 116, hier S. 89 f.; ders.: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR. München 2001, S. 397.
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C harakterisierung der SED-Herrschaft den Begriff der »partizipatorischen Diktatur«. Diese bewusst als Widerspruch angelegte Komposition soll veranschau lichen, »dass die Menschen durch das sich ständig verändernde soziale und politische System der DDR eingeschränkt und beeinflusst wurden, es gleichzeitig aber aktiv und oft freiwillig trugen«. Die Voraussetzung dafür sei eine in den 1960er Jahren einsetzende Phase der »Normalisierung« gewesen, die – flankiert vom Bau der Mauer und einem Generationenwechsel – Strukturen und Institutionen hervorgebracht habe, die von einer Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung aufgrund ihrer Verlässlichkeit akzeptiert worden seien. Fulbrook fordert, die DDR differenzierter zu betrachten, denn der ›Staat‹ und das ›Regime‹ der SED seien ebenso wenig homogen verfasst gewesen wie die Bevölkerung, die gelernt habe, sich im Labyrinth des komplexen moralischen und politischen Universums der sozialistischen Diktatur zu bewegen.10 Die Verwicklung der Menschen mit dem ostdeutschen Staat, der sukzessive immer stärker ausgebaut wurde und weite Teile der Gesellschaft erfasste, war groß. So waren mehr als ein Zehntel der erwachsenen Bevölkerung als Funktionär*innen in einer politischen Partei, einer Massenorganisation oder einem anderen inkorporierten Gesellschaftsbereich tätig. Hinzu kamen Millionen einfacher Mitglieder und Hundertausende, die im Laufe der Jahre dazu bereit waren, ihre Mitmenschen als »Inoffizielle Mitarbeiter« der Staatssicherheit zu bespitzeln und sich somit auch an der repressiven Ausübung der Macht zu beteiligen.11 Die vorhandenen Mikrostrukturen der Macht, die einen »Minimalkonsens z wischen Regime und Bevölkerung«12 erzeugten, dienten der SED als Herrschaftslegitimation, boten umgekehrt aber auch den Menschen die Möglichkeit, gesellschaftliche Prozesse anzustoßen oder politische Entscheidungen zu beeinflussen. Der seit 1968 in der Verfassung festgeschriebene Grundsatz ›Arbeite mit, plane mit, regiere mit!‹ war nicht nur eine ideologische Phrase, sondern stellte für die SED eine notwendige Bedingung dar, um ihre Macht zu erhalten.13 Neben konkreten Mitmachräumen an der Parteibasis, in Ortsgruppen des Kulturbundes, in schulischen Arbeitsgemeinschaften und Elternaktivs oder bei ›Mach-mit!‹-Wettbewerben der Nationalen Front war die politische Kommu10 Wie Fulbrook allerdings einräumt, sei »Normalisierung« ein »außerordentlich unsichere[r] Begriff«, der sowohl die Internalisierung kultureller Normen und routinemäßiges Handeln als auch solche Verhaltensweisen umfasse, die die Akzeptanz der sozialistischen Herrschaftsordnung lediglich vortäuschten. Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt 2008, S. 24 und 28 f. 11 Fulbrook: Leben (wie Anm. 10), S. 254 f. 12 Lindenberger: Land (wie Anm. 1). 13 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1968, Art. 21.
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nikation in Eingaben die wohl wichtigste Form der Teilhabe in der DDR.14 Das Recht der Bürger*innen, sich in Eingaben an die Volksvertretung zu wenden, wurde bereits in Artikel 3 der Verfassung von 1949 festgelegt. Nach der Abschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR im Jahr 1952 erhielt das Eingabewesen eine wachsende Bedeutung. Was genau eine Eingabe ausmachte und wie mit ihr umzugehen war, wurde jedoch erst im Laufe der 1960er Jahre festgelegt. Eine Reihe von Staatsratserlassen, Artikel 103 der neuen Verfassung von 1968 und das 1975 von der Volkskammer verabschiedete Eingabengesetz regelten schließlich die zulässigen Formen von Eingaben und deren Bearbeitung durch die Empfänger.15 Eingaben sind von der Forschung oft als Bitten und Beschwerden bezeichnet worden, um ihren untertänigen Charakter und ihre begrenzte politische Reichweite zu betonen. Der Zweck dieses Instrumentes habe aus Sicht der SED demnach darin bestanden, den Unmut über Problemlagen durch eine individualisierte Form der Kommunikation zu kanalisieren und so die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit zu verhindern.16 Die Staatsratserlasse der 1960er Jahre 14 Zum Forschungsstand vgl. Jochen Staadt: Eingaben: Die institutionalisierte Meckerkultur in der DDR . Goldbrokat, Kaffee-Mix, Büttenreden, Ausreiseanträge und andere Schwierigkeiten mit den Untertanen (Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED -Staat, 24). Berlin 1996; Jonathan R. Zatlin: Ausgaben und Eingaben. Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR . In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 45 (1997), 10, S. 902 – 917; Ina Merkel (Hrsg.): »Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation«: Briefe an das DDR -Fernsehen. Mit einer Einführung von Ina Merkel und Felix Mühlberg. Berlin 1998; Felix Mühlberg: Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR. Berlin 2004; Fulbrook: Leben (wie Anm. 10), S. 286 – 306; Paul Betts: Die Politik des Privaten: Eingaben in der DDR . In: Daniel Fulda u. a. (Hrsg.): Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg. Göttingen 2010, S. 286 – 309. Eine vergleichende Perspektive auf zwei deutsche Diktaturen und die UdSSR außerdem bei Stephan Merl: Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich. Göttingen 2012. 15 Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane vom 27. Februar 1961. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1961, S. 7 – 9; Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Änderung des Erlasses vom 27. Februar 1961 über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane vom 18. Februar 1966. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1966, S. 69 – 70; Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger vom 20. November 1969. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1969, 239 – 244; Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1968, S. 24, Art. 21; Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger – Eingabengesetz – vom 19. Juni 1975. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1975, 461 – 4 62. 16 Staadt: Eingaben (wie Anm. 14), S. 3; Zatlin: Ausgaben (wie Anm. 14), S. 903; Martin Stief: »Stellt die Bürger ruhig«. Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld (Analysen und Dokumente, 55). Göttingen 2019, S. 229.
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betonten indes, dass die aus der Bevölkerung vorgebrachten »Vorschläge, Hinweise, Kritiken, Beschwerden und Anliegen« ein grundlegendes »Recht der Bürger auf aktive Mitarbeit bei der Leitung des volksdemokratischen Staates und der sozialistischen Betriebe« s eien, das dezidiert auch in öffentlichen Versammlungen oder gegenüber den Staatsmedien vorgebracht werden konnte.17 Wie im Folgenden gezeigt wird, waren Eingaben denn auch weder pauschal devot als ›Bitten‹ formuliert, noch alleine auf die Erfüllung individueller Bedürfnisse ausgerichtet. Die Motive der Petent*innen konnten vielfältig sein und wiesen in der Regel eine Mischung aus individueller Betroffenheit und Gemeinwohlinteresse auf. Den hohen Anspruch, den die Staats- und Parteiführung an das Eingabewesen erhob, verdeutlichen umfangeiche Aktenvorgänge, in denen die ordnungsgemäße Bearbeitung von Eingaben kontrolliert wurde.18 Anlass dazu gab es zur Genüge, denn vielerorts waren die Empfänger aufgrund der schieren Anzahl der Schreiben und der Komplexität der darin verhandelten Sachverhalte schlichtweg überfordert, die an sie gerichteten Forderungen und Anregungen aus der Bevölkerung in der vorgegebenen Frist zu bearbeiten. Eingaben wurden von Männern und Frauen, Arbeiter*innen und Akademiker*innen, Schüler*innen und Rentner*innen, also von allen Bevölkerungsschichten verfasst. Ihre Anzahl lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, aber konservativen Schätzungen zufolge erhielten alleine die zentralen Staatsorgane und die Organe der Bezirke jedes Jahr mehrere hunderttausend – Mitte der 1970er Jahre sogar annähernd eine Million – Briefe und mündliche Einwendungen aus der Bevölkerung.19 Aufschlussreicher für die Bewertung von Eingaben ist ihr Zustandekommen, das sich aber ebenfalls nur in seltenen Fällen explizit belegen lässt. Vielen Schreiben dürften lange Diskussionen in der Familie, in der Nachbarschaft, im Kollegenkreis oder in anderen sozialen Kleingruppen vorausgegangen sein. Zur Besprechung der Anliegen von Eingaben trafen sich Petent*innen in eingerichteten ›Konsultationsstützpunkten‹ oder kamen in Einwohnerversammlungen und zu Ortsbegehungen zusammen, zu denen die kommunalen Verwaltungen, die zuständigen Wohnbezirksausschüsse der Nationalen Front oder Betriebsdirektionen einluden. An diesen Veranstaltungen nahmen mitunter mehrere hundert Menschen und je nach Schwere des vorliegenden Problems ranghohe Wirtschafts- und Politfunktionär*innen, mitunter auch Minister teil, 17 Erlaß des Staatsrates (wie Anm. 15), Präambel und § 2 (2). 18 Christian Möller: Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 234). Göttingen 2020, S. 257 – 259. 19 Mühlberg: Bürger (wie Anm. 14), S. 175.
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um sich den Fragen und dem Unmut aus der Bevölkerung zu stellen. Eingaben waren zudem nicht zwangsläufig lokal begrenzt. Die Rückkehr aus dem Urlaub, der Umzug oder der Austausch in und z wischen Mitgliedern staatlich legitimierter Gruppen, wie Hausgemeinschaften, Elternaktiven und Ortsgruppen des Kulturbundes oder der Blockparteien, sorgten für einen regen Meinungsaustausch über vorhandene Problemlagen, der sich auch in Schreiben an die Partei- und Staatsorgane niederschlug. Das Eingabewesen vermochte es zwar nicht, einen Kommunikationsraum zu schaffen, der mit Blick auf das kritisch-korrigierende Potenzial jenen Möglichkeiten vergleichbar war, die sich den Bürger*innen freiheitlich-demokratisch verfasster Gesellschaften boten. In den Schreiben finden sich aber Hinweise auf die Existenz von Parallelöffentlichkeiten, die durchaus dazu in der Lage waren, dem von der SED kontrollierten öffentlichen Raum ein kritisches Korrektiv entgegenzusetzen.20 Eine aus sozial- und umwelthistorischer Perspektive besonders interessante Ausprägung des ostdeutschen Eingabewesens waren Kollektiveingaben. Diese von mehreren Petent*innen verfassten Schreiben sind analytisch aufschlussreich, weil die Unterzeichner*innen eine Problemlage erkennen, in Treffen über das Vorgehen beraten und schließlich eine gemeinsame Stellungnahme formulieren mussten. Mit ihrer Unterschrift traten die Verfasser*innen gegenüber der Adressatin bzw. dem Adressaten als Interessenspartei auf. Das Zustandekommen von Kollektiveingaben beruhte also auf einem vorangegangenen Meinungsaustausch und verweist auf die Existenz eines zumindest diffusen, oftmals sogar konkreten Gruppencharakters. Die kollektiv verfassten Schreiben sorgten nicht selten für eine Verstetigung von Protest und waren in den 1980er Jahren häufig der Ausgangspunkt für die Bildung kritischer Umweltgruppen. Kollektiveingaben stellten somit gewissermaßen eine spezifische Form der sozialistischen Bürgerinitiative dar, die von der SED sanktioniert und zeitweise sogar gefördert wurde. Angesichts der ab Mitte der 1970er Jahre zunehmenden wirtschaftlichen und innergesellschaftlichen Probleme waren sie jedoch auch ein Ausdruck der gestörten Kommunikation zwischen Herrschern und Beherrschten. Insofern hatten Kollektiveingaben eine wichtige Mittlerfunktion im langen Prozess der inneren Erosion der DDR und sind als Quelle dazu geeignet, um sowohl die in der DDR vorhandenen Partizipationsmöglichkeiten als auch deren Grenzen zu untersuchen.
20 Dazu ausführlich Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 25 – 32.
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2. ›Normalisierung‹ als Schlüssel zur Partizipation: Die Anpassung und Einbindung des Naturschutzes im umweltpolitischen Aufbruch Die Umweltgeschichte ist ein Musterbeispiel für die Existenz verschiedenartiger ›Räume des Mitmachens‹ in der SED-Diktatur. Denn obwohl Umweltschutz immer nur eine nachrangige Stellung in der Politik der SED einnahm und man mit Recht sagen kann, dass die DDR an ihrem Ende ökologisch gescheitert war, wurden Umweltprobleme bereits früh kontrovers diskutiert und zum Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Aushandlungsprozesse gemacht. In den 1950er Jahren war eine Reihe von Institutionen und Organisationen aus ganz unterschiedlichen Motiven heraus mit Fragen des Umweltschutzes befasst. Während das dem Ministerrat direkt unterstellte Amt für Wasserwirtschaft beispielsweise aus Gründen des Ressourcenschutzes darum bemüht war, effektive Regeln zur Reinhaltung der Gewässer zu etablieren, begann die Staatliche Hygieneinspektion mit Unterstützung der Bezirkshygieneinstitute damit, die schädliche Wirkung der Luftverschmutzung auf die Gesundheit der Menschen zu erfassen, und setzte sich im darauffolgenden Jahrzehnt für die Verabschiedung eines Luftreinhaltegesetzes ein.21 Ein erster, mit Blick auf seine Beständigkeit allerdings nur zaghafter Wendepunkt in der Bewertung von Umweltproblemen in der DDR war der 17. Juni 1953. Dieses Datum gilt bislang als negativer Einschnitt in der ostdeutschen Umweltgeschichte, weil die im Zuge des ›Neuen Kurses‹ beschlossene Ausweitung der Konsumgüterproduktion, mit der die aufgebrachte Bevölkerung besänftigt werden sollte, eine Zunahme der Umweltverschmutzung zur Folge hatte.22 Tatsächlich reagierte die SED nun aber zumindest an der Basis sensibler auf vorhandene Umweltprobleme. Das geschah allerdings nicht, weil innerhalb der Parteiführung ein grundlegendes ökologisches Umdenken eingesetzt hatte, sondern weil man darum bemüht war, ökonomische Reserven zur Steigerung der Produktion freizusetzen, und außerdem erkannte, dass von Umweltproblemen eine politische Sprengkraft ausgehen konnte. Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle, die im Auftrag von SED, Staatsorganen oder aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung die Arbeitsweise von Behörden und Wirtschaftsorganen kontrollierte, rückte daher in den Jahren 1953 und 1954 vermehrt aus, um solche Vorfälle zu untersuchen. 21 Ebd., S. 57 – 90. 22 Tobias Huff: Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR (Umwelt und Gesellschaft, 13). Göttingen 2015, S. 60 f.
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In der Gemeinde Trachenau bei Leipzig sorgte beispielsweise im Frühjahr 1953, wenige Wochen vor dem Volksaufstand, eine Auseinandersetzung um Rauchschäden für Spannungen, die durch den VEB Kombinat Otto Grotewohl in Böhlen verursacht wurden. Einige Landwirte hatten den Vorwurf erhoben, dass einzelne Privatbauern bei der Auszahlung von Entschädigungen bevorzugt worden s eien. Die Vorwürfe erwiesen sich zwar als unzutreffend, zeigten aber bestehende Mängel im Umgang mit Entschädigungszahlungen auf und zwangen das zuständige Chemieministerium dazu, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Im thüringischen Saalburg hatte die Zunahme von Abwässern aus der Papier- und Zellstoffindustrie im Jahr 1954 zur Folge, dass zahlreiche Urlaubsgäste nach dem Baden in der Bleilochtalsperre erkrankten und vorzeitig wieder abreisten. Die Ferienlager, zu denen etwa 20.000 Jugendliche und Kinder erwartet wurden, mussten daraufhin abgesagt werden. Das zuständige Ministerium für Leichtindustrie hatte zu diesem Zeitpunkt auf Drängen der Wasserwirtschaft bereits in einzelnen Betrieben mit der Planung und dem Bau neuer technischer Anlagen zur Reinigung der Abwässer begonnen, deren Realisierung sich aber aufgrund fehlender Investitionsmittel immer wieder verzögerte.23 Für ein systematisches Vorgehen gegen die vorhandenen Umweltprobleme fehlte es in der DDR in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten – wie in anderen Industrieländern auch – an ökonomischen und technologischen Mitteln sowie insbesondere am notwendigen politischen Willen. Umso wichtiger war es, dass sich von der SED sanktionierte gesellschaftliche Akteure, wie beispielsweise der Naturschutz, darum bemühten, politische Ressourcen für ein Umdenken im Umgang mit Umweltverschmutzung zu mobilisieren. Anpassung – oder in den Worten von Mary Fulbrook: »Normalisierung« – war dabei der Schlüssel, um dieses Ziel unter den Bedingungen der Diktatur verwirklichen zu können.24 Dem Naturschutz in der DDR, der aufgrund einer mehrheitlich bürgerlichen Tradition seiner Vereine starke Gegensätze zum sozialistischen Regime aufwies, war es auf diese Weise möglich, beeindruckende Erfolge zu erzielen: Die Verabschiedung eines Naturschutzgesetzes im Jahr 1954, die Aufnahme des Naturschutzgedankens in Artikel 15 der Verfassung von 1968 und das zwei Jahre darauf von der Volkskammer verabschiedete Landeskulturgesetz stellten wichtige Wegmarken eines umweltpolitischen Aufbruchs in der DDR dar, der den ökologischen Kollaps der 1980er Jahre noch nicht erahnen ließ.25 23 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 45 – 56. 24 Fulbrook: Leben (wie Anm. 10), S. 24 – 26. 25 Vgl. dazu sowie zum Forschungsstand der ostdeutschen Naturschutzgeschichte ebd., S. 14, Anm. 19 und 91 – 94.
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Der Naturschutz war organisatorisch in drei Säulen gegliedert. Die in der DDR bestehenden Naturschutz- und Heimatvereine wurden zu Beginn der 1950er Jahre in der Zentralen Kommission für Natur- und Heimatfreunde des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands zwangsvereinigt. In zahlreichen Fach- und Arbeitsgruppen kümmerten sich die Mitglieder dort unter anderem um die Pflege von Schutzgebieten, die Erfassung des Tier- und Pflanzenaufkommens oder die Organisation von Initiativen im Rahmen des Wettbewerbs der Nationalen Front. Die Zentrale Kommission für Natur und Heimat veranstaltete außerdem landesweite Naturschutzwochen (seit 1957) und regionale Landschaftstage (seit 1966), die auf die Belange des Naturschutzes aufmerksam machten und den Naturschützer*innen als Plattform dienten, um naturpolitische Forderungen öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. Mit der monatlich erscheinenden Zeitschrift Natur und Heimat verfügten sie in den 1950er Jahren zudem über ein Publi kationsorgan, in dem zahlreiche kritische Berichte zur Umweltsituation und zum Umgang mit Umweltproblemen erschienen. Die Mitgliederzahl betrug 1958 etwa 45.000 und stieg in den 1980er Jahren, als die Natur- und Heimatfreunde in der Gesellschaft für Natur und Umwelt neu organisiert wurden, auf mehr als 60.000 an, so dass der Naturschutz mit Abstand die stärkste Fraktion innerhalb des Kulturbundes bildete.26 Hinzu kamen zahlreiche Nichtmitglieder, die regelmäßig an Naturschutzaktionen teilnahmen oder sich in Schüler*innen- und Jugendgruppen engagierten, die von Natur- und Heimatfreunden geleitet wurden.27 Die zweite Säule, die Naturschutzverwaltung, war dem Landwirtschaftsministerium unterstellt, das die Interessen des Naturschutzes im Ministerrat vertrat und die Arbeit der mittleren und unteren Naturschutzbehörden bei den Bezirken und Kreisen anleitete. Die Naturschutzverwaltungen hatten häufig mit personeller Unterbesetzung und knappen finanziellen Ressourcen zu kämpfen, wurden aber infolge einer 1959 beschlossenen Neuregelung zur Genehmigung von Industrieanlagen als Begutachtungsinstanz stärker in strukturpolitische Entscheidungen einbezogen. Die dritte Säule war in der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (DAL) verankert und hatte formal eine beratende Funktion. Innerhalb der Akademie befassten sich die 1951 gebildete Sektion Landeskultur 26 Gerhard Würth: Umweltschutz und Umweltzerstörung in der DDR. Frankfurt a. M. 1985, S. 84 – 88; Hermann Behrens u. a.: Wurzeln der Umweltbewegung. Die »Gesellschaft für Natur und Umwelt« (GNU) im Kulturbund der DDR. Marburg 1993, S. 44; ders.: Die ersten Jahre – Naturschutz und Landschaftspflege in der SBZ/DDR von 1945 bis Anfang der 60er Jahre. In: Naturschutz in den Neuen Bundesländern – Ein Rückblick. Hrsg. vom Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (IUGR), Berlin 22001, S. 37 – 43, 47 und 52. 27 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 283 und 296 f.
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Abb. 1 Mit landesweiten Naturschutzwochen, wie hier vom 7. bis 14. Mai 1961, machten die Natur- und Heimatfreunde auf die Anliegen des Naturschutzes aufmerksam.
und Naturschutz und das zwei Jahre darauf gegründete Institut für Landesforschung und Naturschutz (ILN) in Halle mit wissenschaftlichen Aspekten des Naturschutzes und der Beratung der Naturschutzbehörden in fachlichen Fragen. Darüber hinaus wurden hier naturpolitische Konzepte entwickelt, die den Naturschutz stärker an die Herrschaftsideologie der SED und die Bedürfnisse einer auf Wachstum ausgerichteten Industriegesellschaft anpassten. Der große Einfluss, den Naturschutzfragen innerhalb der DAL erhielten, ging wesentlich auf ihren ersten Präsidenten, Hans Stubbe, zurück. Der Genetiker und Züchtungsforscher hatte sich bereits 1948 für eine Wiederbelebung des Naturschutzes auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone eingesetzt und genoss als renommierter sowie politisch gut vernetzter Agrarwissenschaftler großes Ansehen.28 Der Naturschutz durchlief in den 1950er Jahren einen doppelten Prozess der Anpassung an die neuen sozialistischen Herrschaftsverhältnisse. Zum einen setzte sich insbesondere in wissenschaftlichen Debatten innerhalb der DAL und in Beiträgen in Natur und Heimat ein bereits in den 1930er Jahren b egonnenes 28 Ebd., S. 378 – 382.
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mdenken fort, das darauf abzielte, die bis dahin dominierende, museal-konserU vierende Naturschutzkonzeption nach Hugo Conwentz zu überwinden. Führende Naturschützer, wie der Pflanzengeograph und erste Leiter des ILN, Hermann Meusel, oder der Gartenbau- und Landschaftsarchitekt Georg Pniower verstanden Natur nun nicht mehr als ein romantisches Kleinod, sondern als einen von Menschen geschaffenen Kulturraum, den es zwar zu erhalten gelte, der aber selbstverständlich auch ökonomischen Nutzungsansprüchen zu dienen habe. Streit entbrannte allenfalls um die Frage, w elchen Stellenwert der Schutz einzelner Naturdenkmäler und Landschaftskomponenten weiterhin haben dürfe. Damit einhergehend setzten sich zudem ökologische Denkansätze durch, wonach »Landschaft als ein[…] Komplex verschiedenartiger Gebilde und Prozesse« zu verstehen sei, dessen einzelne Bestandteile in ständiger Wechselwirkung miteinander stünden. Die ökologische Perspektive schlug Brücken zu anderen umweltpolitischen Reforminitiativen der 1950er Jahre, wie der Gewässerreinhaltung oder dem Gesundheitsschutz, und führte zu einer Erweiterung des Naturschutzgedankens.29 Am augenfälligsten vollzog sich dieser Paradigmenwechsel am Bedeutungswandel von Landeskultur. Dieser ursprünglich auf den Erhalt und die Verbesserung des agrarischen Bodens ausgerichtete Fachbegriff erfuhr im Laufe der 1950er Jahre eine Umdeutung und wurde in der DDR zum Rubrum für all jene Maßnahmen, die in westlichen Industrieländern ab 1969 unter dem Schlagwort ›Umweltschutz‹ zusammengefasst wurden. Ähnlich wie auch in der Bundesrepublik sollte die Pflege der Landeskultur jedoch ebenso dem Schutz der Natur und der Verbesserung der Volksgesundheit wie der Vermehrung des volkswirtschaftlichen Wohlstands dienen und ein stetes Wirtschaftswachstum ermöglichen.30 Zum anderen erfolgte in den ersten beiden Jahrzehnten des Bestehens der DDR eine Anpassung an die neuen Herrschaftsbedingungen. Dieser Prozess gestaltete sich jedoch alles andere als konfliktfrei und sorgte dafür, dass das Verhältnis zwischen den Naturschützer*innen in der DAL und im Kulturbund und der obersten Naturschutzbehörde, dem Landwirtschaftsministerium, langfristig beschädigt wurde. Im Vorfeld der 2. Naturschutzwoche im Mai 1958 kam es zu einer hitzigen Auseinandersetzung um die Frage, wie weitreichend der Einfluss des Naturschutzes beim ›Aufbau des Sozialismus‹ sein durfte und w elche Aufgaben den Naturschützer*innen künftig zukommen sollten. Als im August 1958 29 So z. B. auf der 2. Naturschutzwoche vom 11. bis zum 17. Mai 1958, die unter dem Motto »Naturschutz und Volksgesundheit« stand. Aufgrund der vielerorts in der DDR alarmierenden Wasserverschmutzung wurde im Rahmen der Veranstaltungswoche auch ein »Tag des Gewässerschutzes« begangen. Vgl. Naturschutzwoche 1958. In: Natur und Heimat 7 (1958), 3, S. 96. 30 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 101 – 105.
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der Versuch gescheitert war, eine Einigung zwischen dem Landwirtschaftsministerium, der DAL und der Zentralen Kommission der Natur- und Heimatfreunde über eine entsprechende Grundkonzeption zu erzielen, kam es wenige Monate darauf zu einem offenen Schlagabtausch in der Zeitschrift Natur und Heimat. Der Auslöser dafür war ein Flugblatt mit dem Titel Naturschutz dient dem Arbeiter- und Bauernstaat, das im Frühjahr 1959 vom Landwirtschaftsministerium ohne vorherige Absprache an alle Natur- und Heimatfreunde verschickt worden war und, so die Kritik der Naturschützer*innen, auf plumpe Weise versuchte, den Naturschutz in den Dienst der ideologischen Auseinandersetzung im Ost-West-Konflikt zu stellen. Der Naturschutzaktivist Reimar Gilsenbach, der in den 1950er Jahren als Redakteur für Natur und Heimat tätig war, veröffentlichte in der Aprilausgabe einen kämpferischen Artikel, in dem er das Flugblatt als »Hohn auf jede wissenschaftliche Erkenntnis vom Sinn des Naturschutzes« bezeichnete und zum öffentlichen Meinungsstreit aufrief. Gilsenbach kritisierte, dass das Ministerium als Aufgabe für den Naturschutz nur »Lächerlichkeiten« vorsehe, »wie ›Einfluglöcher für Schleiereule und Steinkauz in Scheunen und Stallungen zu schaffen‹ oder ›einige trockene Bäume im Wald für Höhlenbrüter […] stehenzulassen‹. Wir wollen nicht falsch verstanden werden: Die zuletzt angeführten Maßnahmen mögen im einzelnen richtig sein, falsch, grundfalsch ist es nur, darüber die eigentlichen, viel weiter gehenden Aufgaben im Naturschutz außer acht zu lassen.«31 In einer Erwiderung wies der zuständige Abteilungsleiter im Landwirtschaftsministerium, Fritz Weißhaupt, die Vorwürfe Gilsenbachs scharf zurück und kritisierte dessen Artikel als verkürzend und polemisch. Allerdings musste Weißhaupt auch einräumen, dass die Führung der Beratungen »nicht immer als glücklich bezeichnet werden kann, was zum Teil bei der Wissenschaft zu einer gewissen Resignation« geführt habe. Der Abteilungsleiter schloss seine Gegenrede mit der »Bitte an alle Leser, sich noch stärker als bisher an der Lösung der Aufgaben des Naturschutzes zu beteiligen und offene, begründete Kritik ständig zu üben, damit unsere gemeinsame Arbeit im Naturschutz verbessert wird«.32 Die offene Konfrontation zeigte Wirkung. Noch im April 1959 kam es zu einer Aussprache zwischen Landwirtschaftsminister Hans Reichelt und DAL Präsident Stubbe. In der Akademie erarbeitete man daraufhin neue Grundsätze für die Arbeit des Naturschutzes in der DDR, in denen die organisatorischen 31 Reimar Gilsenbach: Widerstreit von Wissenschaft und Praxis im Naturschutz? In: Natur und Heimat 8 (1959), 4, S. 163 f. 32 Fritz Wiesshaupt: Widerstreit von Wissenschaft und Praxis im Naturschutz. Erwiderung auf den Artikel von R. Gilsenbach. In: Natur und Heimat 8 (1959), 7, S. 323 – 325, hier S. 325.
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Regelungen des Naturschutzgesetzes, insbesondere die Zuständigkeit des Landwirtschaftsministeriums als oberste Naturschutzbehörde, einerseits anerkannt, andererseits aber auch ein deutliches Bekenntnis für einen erweiterten Naturschutz postuliert wurde.33 Für den wissenschaftlichen Naturschutz waren die Folgen des Schlagabtauschs jedoch ambivalent. Im September 1960 drängte das Landwirtschaftsministerium darauf, das agrarpolitische Ziel – die Steigerung der Fleischproduktion über eine verbesserte Grünlandbewirtschaftung – stärker in den Forschungsstrukturen der DAL zu gewichten. Das Akademieplenum beschloss daraufhin, die Sektion Landeskultur und Naturschutz in Sektion für Landeskultur und Grünland umzubenennen. Naturschutzfragen wurden in der DAL fortan nur noch von einer Ständigen Kommission für Landschaftspflege und Naturschutz erörtert, erhielten aber aufgrund fortbestehender personeller Verflechtungen weiterhin große Aufmerksamkeit.34 Mittelfristig war die Auseinandersetzung mit der obersten Naturschutzbehörde aber ein Erfolg. Denn die Naturschützer*innen konnten im gefundenen Konsens über ihre eigene Rolle beim ›Aufbau des Sozialismus‹ geschickt an das Partizipationsangebot des SED-Staates anknüpfen und die Grundkonzeption dazu nutzen, politische Ressourcen für das Ziel eines neuen, umfassenderen Naturschutzgesetzes zu mobilisieren. Dabei erhielten sie Rückenwind aus der Sowjetunion. Bereits im Mai 1958 druckte die Zeitschrift Natur und Heimat einen Beitrag des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Alexander Nikolajewitsch N esmejanow, in dem er dazu aufrief, »ein wissenschaftlich begründetes System der Nutzung aller Naturreichtümer« zu schaffen, um zu gewährleisten, »daß diese wirtschaftlich voll ausgenutzt, reproduziert und bereichert werden«.35 Ein im Oktober 1960 vom Obersten Sowjet verabschiedetes Naturschutzgesetz, das diese Forderungen rechtlich umsetzen sollte, wurde von ostdeutschen Naturschützer*innen entsprechend euphorisch begrüßt. Gilsenbach forderte unter Verweis auf das sowjetische Gesetz, »daß der Naturschutz in der Deutschen Demokratischen Republik zu einem System der staatlichen Kontrolle aller Naturreichtümer und ihrer Nutzung ausgebildet« werden müsse. Wir sollten dabei die Erfahrungen aus der Sowjetunion auswerten. Ein neuer Naturschutz wird sich nicht von heute auf morgen erreichen lassen. Aber mit dem Aufbau des Sozialismus 33 Grundsätze des Naturschutzes in der Deutschen Demokratischen Republik und ihre Verwirklichung, Berlin, den 05. 01. 1960: BArch, DK 107, 7658. 34 DAL, Sektion Landeskultur und Grünland, Jahresbericht 1960 der Sektion Landeskultur und Grünland, Berlin, den 19. 01. 1961: BArch, DK 107/5397, pag. 170 f. 35 A. N. Nesmejanow: Naturschutz – ein Anliegen des ganzen Volkes. In: Natur und Heimat 7 (1958), 5, S. 136 – 138.
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reifen auch bei uns neue Möglichkeiten heran. Je schneller, mutiger und umsichtiger wir sie utzen, desto reicher wird die Natur sein, die wir den kommenden Geschlechtern übergeben.36 n
Der Naturschutz profitierte in den 1960er Jahren zudem von einem »Reformschwung« ( Jörg Roesler), der vom VI. Parteitag der SED im Frühjahr 1963 ausging. Das dort beschlossene Programm für ein ›Neues ökonomisches System der Planung und Leitung‹, 1967 in einer dritten Etappe als ›Ökonomisches System des Sozialismus‹ fortgeführt, sollte bekannte Konstruktionsfehler der Planwirtschaft ausmerzen.37 In diesem Zusammenhang erhielten auch Fragen der Ressourcennutzung und die Auswirkungen der industriellen Produktion auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen stärkere Aufmerksamkeit. Die Ständige Kommission für Landschaftspflege und Naturschutz formulierte Richtlinien für eine sozialistische Landeskultur, die sich in die Ideenwelt der Reformperiode einfügten und wenige Monate nach dem Parteitag vom Plenum der DAL bestätigt wurden. Die darin enthaltene Definition von »der planmäßigen Gestaltung einer Landeskultur« war ganz auf einen Konsens im Geiste der neuen Parteidoktrin ausgelegt: Oberstes Prinzip muß […] die Erhaltung und Mehrung der in der Natur vorhandenen Reichtümer sein, um die Kulturlandschaft heute und für die Zukunft produktionskräftig, gesund und schön zu erhalten und zu gestalten. Diese als Landeskultur bezeichnete umfassende Aufgabe ist ein System staatlicher und gesellschaftlicher Maßnahmen zum Schutz, zur rationellen Nutzung und zur erweiterten Reproduktion der natürlichen Ressourcen der Kulturlandschaft zum Wohle des Menschen.38
Den Naturschützer*innen gelang es nun, SED -Kader und ›Schlüsselfunktionär*innen‹ für ihre politischen Ziele zu gewinnen. Auf Vermittlung von Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann wurden ILN-Direktor Meusel und sein 36 Reimar Gilsenbach: Wohin gehst du, Naturschutz? 3. Teil. In: Natur und Heimat 10 (1961), 7, S. 350 – 353, hier S. 353. Zum Hintergrund des sowjetischen Naturschutzgesetzes vgl. Klaus Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948 – 1967. München 2010, S. 508 – 510. 37 Jörg Roesler: Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963 – 1970 in der DDR. Berlin 1990; André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der 60er Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül. Berlin 1999. Eine soziologische Perspektive auf die Ideenwelt der Reformperiode bei Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 – 1989. Frankfurt a. M. 1992, S. 181 ff., 190 und 192 ff. 38 DAL, Ständ. Kommission für Landschaftspflege und Naturschutz, Grundsätze für eine der sozialistischen Gesellschaftsordnung entsprechende Gebietsplanung und Landeskultur, Berlin, d. 5. Dez. 1963: BArch, DK 107/5398, pag. 83.
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wissenschaftlicher Mitarbeiter, der spätere Institutsleiter Hugo Weinitschke, eingeladen, im Mai 1963 vor Volkskammerabgeordneten über die »Aufgaben der Landeskultur beim Aufbau des Sozialismus« zu sprechen. Zwar scheiterte ihr eigentliches Anliegen, die Volkskammer zu einer Resolution zu bewegen, durch die der Staatsrat dazu angehalten werden sollte, die bereits als Entwurf vorliegenden Richtlinien für eine sozialistische Landeskultur verbindlich zu verabschieden. Dieckmann setzte sich aber auch in den folgenden Jahren für den Naturschutz ein und forderte schließlich auf einer Pressekonferenz anlässlich der 10. Naturschutzwoche im Jahr 1966 unter Verweis auf das sowjetische Naturschutzgesetz, dass es an der Zeit sei, »auch in der Deutschen Demokratischen Republik wirksame Maßnahmen zur Durchsetzung der Prinzipien sozialistischer Landeskultur zu ergreifen«.39 Im gleichen Jahr setzten sich der SED-Kulturfunktionär Alexander Abusch und Herbert Weiz, Staatssekretär für Forschung und Technik, gegenüber Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrats, und Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, ein, eine Koordinationsstelle zur Verwirklichung der Ziele einer sozialistischen Landeskultur zu schaffen.40 Parallel dazu suchten die Mitarbeiter des ILN nach neuen i nterdisziplinären Lösungskonzeptionen, die zusammen mit Vertretern aus Wasserwirtschaft, Hygiene und anderen für den Umweltschutz wichtigen Disziplinen im Forschungsrat der DDR entwickelt wurden. Das 1957 als Beirat für naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung beim Ministerrat geschaffene Wissenschaftsgremium übte in den 1960er Jahren großen Einfluss auf Entscheidungen der Staats- und Parteiführung aus.41 Entscheidend für den politischen Durchbruch des erweiterten Naturschutzgedankens war die Arbeit einer hier gebildeten Kommission, die zur Minimierung von volkswirtschaftlichen Kosten und zur Erweiterung der ›sekundären Rohstoffbasis‹ eine »Grundkonzeption für die Verwertung indus trieller Abprodukte« erstellen sollte – also jener festen, flüssigen und gasförmigen Abfallstoffe, die auch überwiegend für die Umweltverschmutzung verantwortlich 39 Johannes Dieckmann: Sozialistische Landeskultur – eine nationale Aufgabe. In: Naturschutzarbeit in Berlin und Brandenburg 2 (1966), 3, S. 67 f. 40 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), 156 f. 41 Matthias Wagner: Der Forschungsrat der DDR . Im Spannungsfeld von Sachkompetenz und Ideologieanspruch. 1954 – April 1962. Unveröffentlichte Dissertation. Berlin 1992, S. 204 f. und 248 – 251; Agnes Charlotte Tandler: Geplante Zukunft. Wissenschaftler und Wissenschaftspolitik in der DDR 1955 – 1971. Freiberg 2000, S. 240 – 245; Andreas M alycha: Wissenschaft und Politik in der DDR 1945 bis 1990. Ansätze zu einer Gesamtsicht. In: Clemens Burrichter/Gerald Diesener (Hrsg.): Reformzeiten und Wissenschaft. Beiträge zur DDR-Wissenschaftsgeschichte, Reihe B/Bd. 2. Leipzig 2005, S. 181 – 205, hier S. 189.
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waren. Die Arbeit der Kommission verlieh den Richtlinien für eine sozialistische Landeskultur zusätzliches Gewicht, da sie die ökonomischen Kosten von Umweltverschmutzung herausarbeitete und mit der Idee der Wiederverwertbarkeit einen Lösungsansatz verfolgte, der einen volkswirtschaftlichen Nutzen versprach.42 In der Bevölkerung nahmen derweil Eingabenproteste aufgrund der vorhandenen Umweltprobleme zu. Insbesondere die vielerorts grassierende Luftverschmutzung provozierte zahlreiche Schreiben, die in regelmäßigen Abständen den Staatsrat, die Volkskammer und den Ministerrat in Alarm versetzten und 1967 einen vorläufigen Höhepunkt erreichten.43 Die Eingaben setzten eine »Dynamik des Aufbruchs« in Gang, in deren Zuge die vorhandenen Reforminitiativen zusammengeführt und in eine neue sozialistische Umweltpolitik übersetzt wurden. Die neue Verfassung, zu der im Frühjahr 1968 mehr als 12.000 Zuschriften aus der Bevölkerung eingegangen waren, forderte nun in Artikel 15, dass Staat und Gesellschaft »im Interesse des Wohlergehens der Bürger […] für den Schutz der Natur« zu sorgen hatten.44 Das zwei Jahre darauf verabschiedete Landeskulturgesetz war schließlich ein klares Partizipationsangebot der SED an den Naturschutz und jene Reforminitiativen, die sich seit den 1950er Jahren für den Schutz der Umwelt einsetzten. Vor der Verabschiedung durch die Volkskammer wurde der Gesetzesentwurf zur »öffentlichen Diskussion« gestellt. Die Natur- und Heimatfreunde organisierten mehr als 100 Foren und Aussprachen zum Gesetzestext, die abschließend auf einer Tagung des Zentralvorstandes ausgewertet wurden. Insgesamt gingen in der Diskussion etwa 1600 Änderungsvorschläge ein, die an 174 Stellen im Gesetz sowie in 4 zeitgleich zur Diskussion gestellten Durchführungsverordnungen aufgegriffen wurden.45
42 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 142 – 146. 43 Information über den hauptsächlichsten Inhalt der Eingaben an den Staatsrat im ersten Halbjahr 1967 wegen Verunreinigungen der Luft sowie Lärm- und andere Belästigungen durch Produktionsbetriebe. Berlin, 31. 07. 1967: BArch, DC 20/19317, pag. 123. 44 Verfassung (wie Anm. 15), S. 17. Zu den Ergebnissen der Diskussion vgl. Artikel 12 im Verfassungsentwurf: Volkskammer Der DDR /Nationalrat Der Nationalen Front Des Demokratischen Deutschland: Bericht des Vorsitzenden der Kommission zur Ausarbeitung einer sozialistischen Verfassung, Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrates. Berlin 1968, S. 57, Art. 12 (2). 45 Der größte Erfolg der Diskussion stellt die Abänderung von § 3 des Landeskulturgesetzes dar, der zunächst vorsah, dass »bei unterschiedlichen Standpunkten zur Durchführung grundsätzlicher landeskultureller Aufgaben den gesamtgesellschaftlichen Interessen der Vorrang gegeben wird«. Nach der Diskussion wurde der Passus dahingehend abgeändert, dass im Zweifelsfall »gesamtgesellschaftliche Interessen« den Ausschlag geben sollten. Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 178.
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Die Beharrlichkeit der Naturschützer*innen hatte sich bezahlt gemacht. Der Schutz der Umwelt wurde nun in das ideologische Konstrukt der ›sozialistischen Menschengemeinschaft‹ eingebettet, das den ›humanistischen Charakter‹ des Sozialismus veranschaulichen sollte und nach der Absetzung Ulbrichts unter dem Begriff der ›sozialistischen Gemeinschaftsarbeit‹ fortgeführt wurde. Das Ziel war es, einen breiten gesellschaftlichen Konsens über ein Thema herzustellen, das eigentlich im Interesse des SED-Staates lag, aufgrund der mit dem Umweltschutz verbundenen Kosten und Einschränkungen für die Wirtschaft aber umstritten war. Die Staats- und Parteiführung bemühte sich daher darum, deutlich zu machen, dass eine Verbesserung der Umweltsituation nicht sofort, sondern nur schrittweise und unter Mitwirkung weiter Teile der Bevölkerung erfolgen könne.46 Diese Botschaft wurde in Redebeiträgen, Presseberichten und auf offiziellen Veranstaltungen immer wieder proklamiert und von Naturschützer*innen sowie interessierten und von Umweltproblemen betroffenen Bevölkerungsteilen aufmerksam wahrgenommen. Der spätere designierte Umweltminister Werner Titel, der kurz vor Antritt seines Amtes an Weihnachten 1971 verstarb, forderte beispielsweise in einer Rede auf der Naturschutzwoche 1969, dass »das System der sozialistischen Landeskultur« nur ein »immanentes Teilsystem des entwickelten gesellschaftlichen Sozialismus« sein könne und in d iesem Sinn als »sehr komplexe gesellschaftliche Aufgabe« verstanden werden müsse, »die in allen Wirtschaftsbereichen zu lösen ist, um die grundlegenden natürlichen Existenzbedingungen der Gesellschaft zu sichern«.47 Sein Nachfolger, der frühere Landwirtschaftsminister Hans Reichelt, äußerte auf einer gemeinsamen Tagung mit dem Sekretariat des Nationalrats der Nationalen Front im Jahr 1974, »die Vielfalt der Aufgaben« zeige, »daß diese nur bei breitester Mitwirkung der Bevölkerung erfüllt werden können«.48 Führende Naturschützer*innen begrüßten s olche Aussagen und stimmten begeistert der neuen Umweltpolitik zu. Diese Einbindung in den SED-Staat ging jedoch mit einer Funktionalisierung einher, 46 So Erich Honecker in seiner Rede auf dem VIII. Parteitag der SED 1971: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv: DY 30/2049, pag. 58. 47 Werner Titel: Die Aufgaben der sozialistischen Landeskultur bei der Gestaltung des entwickelten Systems des Sozialismus in der DDR. In: Deutscher Kulturbund (Hrsg.): Sozialistische Landeskultur. Referate und Diskussionsbeiträge der Eröffnungsveranstaltung zur »Naturschutzwoche 1969« und »Woche des Waldes« am 11. Mai 1969 in Zwickau, o. A., S. 9 – 23, hier S. 14. 48 Hans Reichelt: Die Umwelt zum Wohle der Menschen gestalten. In: Landeskulturelle Aufgaben im Wettbewerb »Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!«. Gemeinsame Tagung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft und des Sekretariats des Nationalrats der Nationalen Front der DDR am 21. Juni 1974 in Bergen/Rügen. Hrsg. vom Sekretariat des Nationalrates der Nationalen Front. o. A. [Suhl 1974], S. 38 – 47, hier S. 45 f.
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Abb. 2 Die z wischen 1971 und 1973 landesweit veranstalteten Wochen der sozialistischen Landeskultur waren Ausdruck eines umweltpolitischen Aufbruchs, der infolge der Verabschiedung des Landeskulturgesetzes im Jahr 1970 in der DDR einsetzte.
die zumindest zeitweise zu einem Verstummen der kritischen Stimmen aus den Reihen des Naturschutzes führte.49 Erst in den 1980er Jahren stellten die neu entstehenden Umwelt- und Stadtökologiegruppen unter dem Dach des Kulturbundes diesen Konsens angesichts ausbleibender Erfolge in Frage. Diese Neuaushandlung zielte aber nicht länger nur auf eine bessere Verwirklichung des Umweltschutzes, sondern forderte auch weitergehende Mitspracherechte für die Bevölkerung und übte Kritik am Wachstumsmodell der sozialistischen Planwirtschaft.
3. Die Grenzen der Partizipation: Umweltbewegung in Eingaben und die gescheiterte Suche nach einem neuen Konsens Der 1970 vom SED-Staat proklamierte und in den darauffolgenden Jahren während landesweiter Wochen der sozialistischen Landeskultur, auf regionalen Landeskulturtagen und in zahlreichen ›Mach-mit!‹-Wettbewerben von Natur 49 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 393 f.
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schützer*innen und der an Umweltfragen interessierten Bevölkerung immer wieder diskutierte umweltpolitische Konsens bekam ab Mitte 1970er Jahre große Risse. Zwar war es der Umweltpolitik gelungen, mit Hilfe von Investitionen und durch die Stilllegung alter Industrieanlagen in vielen Bereichen zunächst eine weitere Zunahme der Belastungen zu verhindern und bei einzelnen Werten, wie beispielsweise den Staub- und Schwefeldioxidemissionen, kurzzeitig sogar einen Rückgang zu erzielen. Die sich verschärfenden wirtschaftlichen Probleme und eine Reihe politischer Fehlentscheidungen sorgten aber dafür, dass die Verschmutzung der Umwelt zu Beginn der 1980er Jahre insgesamt wieder zunahm.50 Gleichzeitig stieg die Zahl der Eingaben, die Kritik an Umweltproblemen übten, wieder deutlich an. Aufgrund einer Kompetenzzersplitterung im Umweltschutz und der teilweise schlechten Überlieferungslage in den Archiven ist eine genaue Quantifizierung dieser Schreiben, wie für das Gesamtaufkommen von Eingaben, nicht möglich. Betrachtet man nur die Briefe, die seit dessen Gründung im Jahr 1972 an das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft (MUW) gerichtet wurden, erscheint die Zahl gering. Das Ministerium erreichten jährlich zwischen 4000 und nicht ganz 6000 Eingaben, von denen der überwiegende Teil allerdings Probleme der Wasserwirtschaft behandelte, die nur bedingt auch Umweltschutzfragen betrafen. Die im MUW unmittelbar zu Umweltproblemen eingehenden Eingaben beliefen sich demgegenüber auf wenige hundert Schreiben pro Jahr, wiesen in den 1980er Jahren jedoch eine stark zunehmende Tendenz auf.51 Zählt man jedoch umweltorientierte Eingaben an andere Ministerien, die Räte der Bezirke und Kommunen, zentralstaatliche Behörden, Medien, volkseigene Betriebe und Massenorganisationen hinzu, verändert sich das Bild deutlich. Im Gesundheitsministerium, das für die Hygieneinspektionen zuständig war, gingen beispielsweise im Jahr 1981 knapp 4200 Eingaben zu Umweltproblemen ein – mehr als zehnmal so viele Schreiben, wie im gleichen Zeitraum das Umweltministerium erreichten. Der Rat des Bezirkes Halle erhielt von Oktober 1981 bis September 1982 mehr als 3700 Schreiben und mündliche Einwendungen zu Fragen des Umweltschutzes und der Wasserwirtschaft. Das Chemiekombinat Bitterfeld registrierte in der ersten Jahreshälfte 1983 bereits 615 Eingaben zu Umweltproblemen und erhielt damit mehr Schreiben, als im gesamten Jahr im MUW eingingen.52 Wenn man die punktuell überlieferten Angaben addiert, ist davon auszugehen, dass die 50 Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 221 – 237 und 239 – 255. 51 So die Annahme bei Tobias Huff, der nur die an das MUW gerichteten Eingaben betrachtet und die geringe Zahl als Indiz dafür wertet, dass das Kalkül des SED-Regimes, Umweltpro bleme totzuschweigen, aufgegangen sei. Huff: Natur (wie Anm. 22), S. 313. 52 Stief: Stellt die Bürger ruhig (wie Anm. 16), S. 230 – 242; Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 278 – 282.
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Abb. 3 Ironische Gestaltung einer Eingabe anlässlich einer lang andauernden Auseinandersetzung über ein Umweltproblem
Bürger*innen im letzten Jahrzehnt der DDR jedes Jahr etwa 10.000 Eingaben zu Umweltproblemen und Fragen des Umweltschutzes verfassten. Rechnet man die Werte für andere Behörden, Betriebe und Organisationen hoch, waren es vermutlich noch sehr viel mehr. Und berücksichtigt man außerdem die eingangs beschriebenen Entstehungshintergründe sowie die Tatsache, dass seit Mitte der 1970er Jahre das Aufkommen von Kollektiveingaben stark zunahm, ist davon auszugehen, dass der in Eingaben involvierte Personenkreis um ein Vielfaches höher lag, als es die Summe ihres Aufkommens ausdrückt. Die Zunahme von umweltorientierten Eingaben an das MUW in den 1980er Jahren bestätigt die These von Felix Mühlberg, wonach diese Schreiben als Instrument der Konfliktregulierung zunächst im lokalen Raum eingesetzt und erst bei langanhaltenden Problemlagen an höhere Instanzen gerichtet worden seien.53 Die Eingaben zu Umweltproblemen wiesen in der Regel eine Mischung aus individueller Betroffenheit und einem auf das Gemeinwohl ausgerichteten Interesse auf. Die Verfasser*innen trugen ihre Anliegen in der Regel selbstbewusst vor und griffen dazu auf ein breites Repertoire rhetorischer Stilmittel zurück, das 53 Mühlberg: Bürger (wie Anm. 14), S. 176.
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von Bitten, der Äußerung von Sorge über nüchterne Sachlichkeit bis hin zu Wut oder Drohung reichte. Einige Eingaben waren sehr aufwendig gestaltet, um den darin formulierten Anliegen Nachdruck zu verleihen. Zu diesem Zweck lagen den Briefen auch verdorrte Blätter, Staubproben, Zeitungsausschnitte oder Fotografien als Beweismittel bei.54 Die Petent*innen waren meist gut informiert und verwiesen in den Schreiben nicht selten auf die geltende Rechtslage oder umweltpolitische Äußerungen führender Staats- und Parteifunktionär*innen.55 Parteitage der SED und Wahlen boten überdies Anlass dazu, auch unabhängig von konkreten Problemlagen ein Umdenken in der Umweltpolitik zu fordern. Eine Ärztin aus Hohenstein-Ernstthal im Bezirk Karl-Marx-Stadt wandte sich beispielsweise 1986 anlässlich des XI. Parteitages »in tiefer Sorge um die Zukunft« an das ZK der SED. Auf sieben Seiten setzte sie sich – teilweise sehr emotional – mit allen Themenbereichen des Umweltschutzes auseinander: von den Gefahren der zunehmenden Schwefeldioxidbelastung der Luft, deren Folgen sie als Ärztin besonders zu spüren bekam, bis hin zu Fragen des Abfallrecyclings. Mit Blick auf die im Zuge der wirtschaftlichen Probleme wieder verstärkte Nutzung der Braunkohle kritisierte die Petentin freimütig: Viele Jahre sind wir an den Problemen der Umweltverschmutzung vorbeigegangen. […] Nach dem Erkennen dieser schwerwiegenden Fehlentscheidungen ist es umso erschreckender, wenn auch jetzt wieder aus ökonomischen Gründen Entscheidungen gegen den Umweltschutz getroffen werden.56
Schreiben wie dieses widerlegen die Annahme, dass den meisten Petent*innen die allgemeine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage verborgen geblieben sei und Eingaben zwangsläufig einer Individualisierung der Kommunikation Vorschub geleistet hätten.57 Die Verfasser*innen von Eingaben erhielten 54 So Frau R. aus Freital, die einer Eingabe an das Umweltministerium einige ihrer Meinung nach mit Schadstoffen belastete Lindenblätter beilegte, die der Akte heute immer noch angeheftet sind. Kirsch an H. R., Freital, 11. 12. 1981: BArch, DK 5/70, Teil 1 von 2. Für weitere Beispiele und zum Hintergrund vgl. Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 265 f. 55 So z. B. eine Eingabe aus Leipzig. Der Petent nahm ein ADN-Interview von Umweltminister Reichelt vom 5. Februar 1983 zum Anlass, um auf die Zunahme der Luftverschmutzung in seiner Heimatstadt sowie allgemein in DDR aufmerksam zu machen. Vgl. E. S. an MUW, 20. 02. 1983: BArch, DK 5/68 1 von 2. 56 OMR Dr. med. an Zentralkomitee der SED, Eingabe zur Umweltverschmutzung anläßlich des XI. Parteitages, 24. Februar 1986: BStU, AKG-2928, pag. 5 – 11. 57 Diese These vertritt Martin Stief, der in Eingaben keine Form des Bürgerbegehrens erkennt und überdies davon ausgeht, dass die meisten Petenten nur die Lösung einer individuellen Problemlage angestrebt hätten. Stief: Stellt die Bürger ruhig (wie Anm. 16), S. 229.
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oftmals Informationen von Mitarbeiter*innen von Behörden und Betrieben oder Naturschutzhelfer*innen und tauschten sich untereinander aus. Deutlich wird dies insbesondere in der Kommunikation über langanhaltende Problemlagen, die eine Verbreitung von Informationen und Argumenten sehr gut nachvollziehen lässt. Im Erzgebirge kam es beispielsweise bereits in den 1960er Jahren zu Beschwerden über eine zunehmende Luftverschmutzung, die Kopfschmerzen, Übelkeit, Atemwegserkrankungen und deutlich wahrnehmbare Schäden des Waldes verursachte. Da die Probleme überwiegend auf Schwefeldioxidemissionen aus der Tschechoslowakei und nur zu einem kleineren Teil auf Schadstoffeinträge aus den Industriebezirken der DDR zurückzuführen waren, übten Eingaben lange Zeit vornehmlich Kritik am sozialistischen Nachbarstaat.58 In den 1980er Jahren, als sich die Probleme weiter verschärften, veränderte sich jedoch der Protest und richtete sich nun gegen die eigene Umweltpolitik. Ausgangspunkt für den Austausch und die Vernetzung von Petent*innen waren oftmals staatlich sanktionierte Kollektive. In Neuhausen im Kreis Marienberg klärte die Vorsitzende eines Elternaktivs der Polytechnischen Oberschule die anwesenden Eltern im Sommer 1980 über den erhöhten Krankenstand von Schulkindern auf, der auf die hohe Luftverschmutzung zurückzuführen war. Das Elternaktiv verfasste daraufhin zusammen mit der Klassenleiterin eine Eingabe, in der man den Staatsrat dazu aufforderte, den Schüler*innen aus der Region regelmäßig Erholungstage in Landschaftsschutzgebieten zu ermöglichen und Familien mit schulpflichtigen Kindern bevorzugt Urlaub zu gewähren. Das Elternaktiv diskutierte außerdem, die Eingabe anderen Schulen und Elternbeiräte vorzulegen, damit sich diese dem Protest anschließen konnten. Ein Forstingenieur aus Neuhausen wiederum nutzte eine politische Schulung der CDU-Ortsgruppe, um die Folgen der Luftverschmutzung für die Wälder offen anzusprechen, und löste daraufhin unter den anwesenden Parteifreunden eine lebhafte Diskussion aus, die in der Forderung mündete, den CDU-Kreisvorstand zur Verabschiedung von Maßnahmen zu bewegen. Ein Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit, das die politisch angespannte Situation im Erzgebirge bereits seit den 1960er Jahren beobachtete, stellte in diesem Zusammenhang fest, »daß im internen Kreis des CDU-Vorstandes Neuhausen der Standpunkt vertreten wird, man müsse verstärkt mit sogenannten ›Bürger- und Bevölkerungsinitiativen‹ in der Öffentlichkeit auftreten«. Der 58 Vgl. die Eingabe des Gemeindevorstehers von Deutschneudorf: M. an die Kanzlei des Vorsitzenden des Staatsrates, Deutschneudorf, den 30. 01. 1965: BArch, DQ 1/3490, pag. 216 f. Diese Beobachtung auch in KD Marienberg an die BV Karl-Marx-Stadt, Betr.: Denkschrift über die Rauchschadensituation im Bereich des mittleren und östlichen Erzgebirges, Bezug: Gegebene Veranlassung, 16. 04. 1964. BStU, MfS, MB-156, pag. 61 – 73.
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Forstingenieur geriet außerdem in das Visier der Staatssicherheit, weil er Urlaubern spezielle Führungen durch den Wald des Erzgebirgskamms angeboten hatte, auf denen sie sich selbst ein Bild über die Schäden machen konnten.59 Dass diese Strategie aufging, zeigen zahlreiche Eingaben, in denen Urlauber von ihren Eindrücken berichteten.60 Eine Bürgerin aus Potsdam nahm beispielsweise eine Sendung über »Holzschäden« im II. Programm des DDR-Fernsehens zum Anlass, um im Januar 1983 kritisch anzumerken: Nein! In Altenberg/Zinnwald habe ich selbst gesehen, daß der Wald wegen der Umweltverschmutzung stirbt!! […] Deshalb bitte ich Sie zu überdenken, ob es nicht möglich ist, die Bevölkerung zu aktivieren, damit jeder einzelne seinen Beitrag zum Erhalt der Umwelt leisten kann.61
Im Sommer 1981 plante das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft aufgrund eines starken Schädlingsbefalls weiter Teile des Waldes im Westerzgebirges, das DDT-haltige Insektizid bercema-Aero-Super flächendeckend einzusetzen. In einer knappen Veröffentlichung im SED-Bezirksblatt Freie Presse kündigte die Forstverwaltung die Sprühaktionen an und zeigte dabei von vornherein wenig Verständnis für mögliche Bedenken, da die Schädlinge im Wald stärker seien »als jeder kleinmütige Einwand dieser oder jener Art«.62 Diese Meinung teilten viele Bürger*innen jedoch nicht und wandten sich in Eingaben an die örtlichen Behörden und an das Umweltministerium. Obwohl es sich bei der Mehrzahl dieser Schreiben um Einzeleingaben von Familien handelte, lassen sich jedoch wiederkehrende Argumente ausmachen, die auf einen vorherigen Austausch der Petent*innen hinweisen.63 Die Proteste im Westerzgebirge verweisen zudem noch auf eine weitere Entwicklung, die sich Ende der 1970er Jahre vollzog. Unter den Eingaben waren nun auch Schreiben von Pfarreien, die stellvertretend für ihre Gemeinden gegen die Sprühaktion protestierten. Ein Pfarrer aus Lauter (Sachsen) wandte sich beispielsweise »vertrauensvoll« an das Umweltministerium, um darüber zu informieren, dass unter seinen Gemeindemitgliedern breite Diskussionen und viel »Unbehagen« über den bevorstehenden DDT-Einsatz aufgekommen s eien. Mit Verweis darauf, dass er eine große Kirchengemeinde 59 Information über Diskussionen und Reaktionen der Bevölkerung des Kreises Marienberg zur Immissionssituation (Luftverschmutzung) und damit in Zusammenhang stehende Probleme, Karl-Marx-Stadt, den 05. 08. 1980: BStU, Mb-156, pag. 61 – 67. 60 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 260. 61 Abschrift, Dr. C. R., Potsdam an FF Dabei Programmillustrierte: BArch, DK 5/68, 1 von 2. 62 So zitierte eine Familie aus Waschleithe den Artikel vom 02. 06. 1981 in ihrer Eingabe: Abschrift, M. R., Waschleithe, o. D. [1981]: BArch, DK 5/69, 1 von 2. 63 Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 271 f.
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repräsentiere, bat er um weitere Informationen über die Aktion und appellierte an das Ministerium, verantwortungsvoll mit dem Schädlingsbekämpfungsmittel umzugehen.64 Das Pfarramt zu Albernau schlug bereits einen kritischeren Ton an und forderte »im dringenden Interesse der mit uns verbundenen Bevölkerungsgruppen […] eine sofortige Überprüfung der geplanten Maßnahmen und den Verzicht auf die Anwendung von DDT angesichts vorhandener Alternativen«. Zwar zeigte man Verständnis dafür, dass grundsätzlich etwas gegen den Schädlingsbefall unternommen werden müsse. Die Wahl der Mittel und insbesondere das Verhalten der Behörden gegenüber der Bevölkerung hielt man allerdings für unangebracht: Über die Neben- und Nachwirkungen von DDT sind gewisse Kreise unserer Bevölkerung im Verlauf der letzten Jahre hinreichend aufgeklärt worden, so daß durch die jetzt bekannt werdenden Vorhaben eine dem staatlichen Interesse und Ansehen nicht zuträgliche Unruhe im Entstehen ist. Daß die geplanten Maßnahmen ohne vorherige und ausreichende Information der zunächst betroffenen Bevölkerungsgebiete stattfinden sollen, ist weder zu verstehen noch zu tolerieren und wird mit steigender Verbitterung vor allem solcher Bürger quittiert, die sich um Umweltschutz, Naturschutz und Tierschutz in tausenden freiwilligen Arbeitsstunden verdient gemacht haben.65
Mit den Pfarreien traten neue gesellschaftliche Akteure in die Aushandlung von Umweltkonflikten ein, in denen sich Bürger*innen austauschen und vernetzen konnten.66 Trotz der immer wieder geäußerten Kritik an den Staatsorganen lassen viele Schreiben am Ende der 1970er Jahre aber erkennen, dass die Mehrheit der Petent*innen grundsätzlich noch Vertrauen in die Lösungskompetenz des sozialistischen Staates hatte. Die Reaktionen vieler Behörden und Betriebe verdeutlicht hingegen, dass die Vertreter*innen des SED-Staates dieses in sie gesetzte Vertrauen zunehmend verspielten. Eine in Eingaben der 1980er Jahre immer häufiger anzutreffende Kritik war die Klage darüber, dass die Anliegen der Petent*innen nicht ernst genommen würden. In Gorknitz im Bezirk Dresden war es im Laufe der 1970er Jahre zu Problemen mit der Wasserversorgung gekommen. Die 64 Pfarrer G. R. an das Ministerium für Umweltschutz, Betr.: Umweltgefährdung durch Bekämpfung von Forstschädlingen, Lauter, am 2. Juni 1981: BArch, DK 5/69, 2 von 2. 65 Alle Zitate aus: Ev.-luth. Kirchgemeinde zu Albernau – Pfarramt – an das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Betr.: Eingabe, Albernau, am 04. 06. 1981: BArch, DK 5/69, 2 von 2. 66 Zur Entwicklung der Umweltbewegung unter dem Dach der evangelischen Kirchen und zum aktuellen Forschungsstand vgl. Möller: Umwelt (wie Anm. 18), S. 14, Anm. 16 bis 18 und S. 303 – 320, insbesondere S. 304, Anm. 296.
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kommunale Trinkwasseranlage war marode und aufgrund einer intensiven Landwirtschaft befürchteten die Bewohner*innen der Gemeinde eine Belastung des Grundwassers mit Schadstoffen. Insbesondere der großflächige Einsatz von Pesti ziden durch die Volkseigene Genossenschaft (VEG) Obstbau Borthen machte vielen Bürger*innen große Sorgen. Nachdem mehrere Hinweise und Einwendungen ohne Folgen geblieben waren, wandten sich im Januar 1979 17 Familien in einer Kollektiveingabe an den Vorsitzenden des Rates des Kreises (RdK) Pirna. Darin forderten sie die Instandsetzung und Säuberung der Trinkwasseranlage, eine Anpassung der Trinkwasserschutzzonen an die örtlichen Gegebenheiten sowie eine Ausschilderung der Schutzgebiete für ortsfremde Traktorist*innen. Die Petent*innen waren durch einen Mitarbeiter des VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung (WAB) Pirna gut informiert worden und griffen mit Hilfe rhetorischer Fragen bereits im Vorfeld erwartete Einwände der Adressaten gegen ihr Anliegen auf, um diese unmittelbar zu entkräften. Trotz einer latenten Wut, die sich durch einen sarkastischen Unterton ausdrückte, gaben sich die Petent*innen aber konstruktiv und äußerten keine über den Sachverhalt hinausreichende Kritik.67 Die binnen vier Wochen fristgerecht eingegangene Reaktion des RdK Pirna war aus Sicht der Unterzeichner*innen allerdings wenig befriedigend. Zwar stellte das für Umweltschutz zuständige Ratsmitglied fest, dass die Eingabe »im wesentlichen den Tatsachen« entspreche, und dankte den Familien für die Hinweise. Zu einer möglichen Belastung des Grundwassers verwies das Antwortschreiben jedoch auf die geltende Rechtslage, wonach der Einsatz von Düngemitteln und Bioziden in der vorliegenden Wasserschutzzone nicht generell untersagt sei. Die Kreisverwaltung konnte zudem nicht erkennen, dass die vom Obstbau eingesetzten Mittel tatsächlich eine schädigende Wirkung auf das Grundwasser hatten, und beraumte daher für den Sommer eine Einwohnerversammlung ein, an der auch Vertreter*innen des VEG Obstbau Borthen teilnehmen sollten.68 Die Petent*innen reagierten auf das Antwortschreiben mit Unverständnis. Zwar bedankte sich der Sprecher der Gruppe für den Bescheid – eine rhetorische Floskel, die zu dieser Zeit aufgrund des rauer werdenden Tons längst nicht mehr üblich war. Es zeigte sich außerdem, dass das Vertrauen der Petent*innen in die kommunale Verwaltung bereits gestört war. Die Verfasser*innen verwiesen auf 67 Kollektive Eingabe! Betr.: Zentrale Trinkwasserversorgung der Gemeinde Gorknitz, Gorknitz, den 19. 02. 1979: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS BV Dresden, Abt. IX – 30413, pag. 65 – 67. 68 Rat des Kreises Pirna, Betrifft: Kollektiveingabe vom 19. 02. 1979 zum Problem der Trinkwasserversorgung der Gemeinde Gorknitz, Pirna, 05. 04. 1979: BStU, MfS BV Dresden, Abt. IX – 30413, pag. 70 f.
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einige Widersprüche, die ihrer Meinung nach in der Argumentation der Kreisverwaltung bestanden hätten, und verlangten nach weitergehenden Informationen zu den vorgenommenen Maßnahmen. Darüber hinaus forderten die Familien: Sie müssen verstehen, daß wir, die auf d ieses Wasser angewiesen sind, langsam die Geduld verlieren. Wir fordern ein sofortiges Verbot des Ausbringens von Dünge- und Spritzmitteln für das gesamte Einzugsgebiet des Oberflächenwassers und zwar so lange, bis sich die Gorknitzer Wasseranlage wieder in einem ordnungsgemäßen Zustand befindet. […] Sollten wir von Ihnen erneut eine unbefriedigende Antwort erhalten, werden wir den gesamten Schriftverkehr weiterleiten.69
Da sich die Missstände auch in den folgenden Jahren nicht besserten, machten die Petent*innen ihre Drohung wahr und wandten sich im Mai 1982 mit einer Eingabe an den Vorsitzenden des Staatsrates. Die Petent*innen kritisierten, dass sie von Beratungen über das Vorgehen bei der Lösung vorhandener Probleme ausgeschlossen worden s eien, sie fühlten sich durch eine bereits angekündigte Verzögerung beim Bau einer neuen Trinkwasserleitung als »Menschen zweiter Klasse« behandelt. Das Verhältnis z wischen Bürger*innen und Verwaltung schien nun gänzlich zerstört gewesen zu sein: Außerdem haben wir kein Vertrauen mehr zu unserer Abt. Wasserwirtschaft und Umweltschutz. – Woher sollen wir also erfahren, wenn die Höchstwerte [der Schadstoffbelastung] erreicht sind? Wir haben den Eindruck, daß Obstbau und Rat des Kreises sich gegenseitig decken und außerdem persönliche Beziehungen von seiten des Obstbaus zum Rat des Bezirkes Dresden bestehen.70
Die Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden bewirkte, dass sich die lokalen Behörden, der VEB WAB Pirna und die VEG Obstbau Borthen nun wieder stärker um eine Lösung bemühten, wie ein Schreiben der Bezirksverwaltung an den Staatsrat veranschaulicht. Demnach nahm die Bezirkshygieneinspektion seit Mai 1983 nun wöchentlich Wasserproben in Gorknitz, um den Schadstoffgehalt zu überprüfen. Da für den Bau der Wasserleitung die notwendigen Mittel fehlten, sollte der Anschluss der Gemeinde an die zentrale Wasserversorgung im Rahmen des Programms »Leistungen der Bevölkerung zur Erweiterung der T rinkwasserversorgung 69 Eingabe vom 19. 02. 1979, Gorknitz, den 21. 04. 1979: BStU, MfS BV Dresden, Abt. IX – 30413, pag. 72 f. 70 Eingabe Betr.: Trinkwasserversorgung der Gemeinde Gorknitz, Gorknitz, den 18. 05. 1982: BStU, MfS BV Dresden, Abt. IX – 30413, pag. 62 – 6 4.
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und Abwasserbehandlung in ländlichen Gebieten ohne Inanspruchnahme staatlich bilanzierter Bauanteile« erfolgen – also durch Eigenleistungen des VEG Obstbau Borthen und der ortsansässigen Bevölkerung. Der erst für das darauffolgende Jahr anvisierte Baubeginn veranschaulicht aber, dass die Gorknitzer noch viel Geduld brauchten, um zum Ziel zu gelangen.71 Aufschlussreich an diesem Vorgang ist vor allen Dingen der unterschiedliche Wertmaßstab, den die Konfliktparteien an das vorhandene Problem anlegten. Während die Verwaltungen und auch die VEG Obstbau Borthen durchaus darum bemüht waren, eine Behebung der schlechten Trinkwasserversorgung auch ohne die Zuweisung von Plankennziffern mittels Eigenleistungen und durch den Einsatz von ›Feierabendbrigaden‹ voranzutreiben, wurde von diesen Akteuren eine zumindest zeitweise Einschränkung des Pestizideinsatzes zu keinem Zeitpunkt erwogen. Wirtschaftliche Aspekte hatten in Gorknitz wie auch andernorts in der DDR trotz aller umweltpolitischen Verlautbarungen von Staats- und Parteifunktionär*innen häufig den Vorrang vor Fragen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes. Die Eingaben veranschaulichen demgegenüber einen Bewusstseinswandel in Umweltfragen. Denn Plantagenobstanbau unter Einsatz von Pestiziden fand in Gorknitz und Umgebung bereits seit den 1950er Jahren statt, rief aber erst jetzt breiten Widerstand hervor. Die Eingaben aus Gorknitz wandten sich aber auch gegen die Praxis von Behörden und Betrieben, gegenüber der Bevölkerung möglichst lange Verschwiegenheit zu wahren und Informationen erst dann preiszugeben, wenn es unumgänglich war.72 Diese Entwicklung lässt sich auch andernorts in der DDR beobachten. Eine Bürgerin aus der Gemeinde Greppin im Bezirk Halle schrieb 1979 wegen der anhaltend hohen Umweltverschmutzung: Nebenbei möchte ich erwähnen, daß diese Woche nicht ausschlaggebend für diese Belästigung ist. Es geht schon jahrelang. Immer wurden uns Versprechungen gemacht. Leider bleibt es dabei. Wahrscheinlich nimmt man es nur zur Kenntnis.73
71 Niederschrift über die Beratung am 14. 04. 1983: BStU, MfS BV Dresden, Abt. IX – 30413, pag. 36; Umweltschutz und Wasserwirtschaft an Staatsrat der DDR, 01. 08. 1983: BStU, MfS BV Dresden, Abt. IX – 30413, pag. 37. 72 Der VEG Obstbau Borthen weigerte sich beispielsweise hartnäckig gegenüber einem durch Pestizideinsatz gesundheitlich geschädigten Anwohner, im Vorfeld die Sprühtermine anzukündigen und die Namen der eingesetzten Mittel zu benennen. Geschwärzt an Volkseigenes Gut Obstproduktion Borthen, Kreischa, am 15. 09. 1984: BStU, MfS BV Dresden, Abt. IX – 30413, pag. 86 f. 73 Eingabe an den Rat des Kreises, Abt. Umweltschutz, Bitterfeld, Greppin, den 17. 08. 1979: Studienarchiv Umweltgeschichte (StUg) 130 – 1, Inge Klein.
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Viele Bürger*innen waren nicht länger dazu bereit, diese Situation zu akzeptieren, und verlangten nach mehr Transparenz und einer stärkeren Einbeziehung in die Lösung vorhandener Umweltprobleme. Insofern bildete die gestörte Kommunikation in Eingaben das Gefühl vieler Petent*innen ab, von Seiten des Staates, entgegen allen politischen Verlautbarungen, nicht als mündige Bürger*innen wahrgenommen zu werden. In diesen Schreiben ist daher – sowohl bezogen auf soziale Handlungszusammenhänge als auch die Artikulation von Wünschen und Forderungen – die Wurzel für die sich bald darauf formierende kritische Umweltbewegung zu suchen. Die in den 1980er Jahren entstehenden Umweltgruppen unter den Dächern des Kulturbundes und der evangelischen Kirchen waren ein unmittelbarer Ausdruck dieser gestörten politischen Kommunikation. Doch anders, als von der Forschung bislang angenommen, lassen sich die unterschiedlichen Ausprägungen der ostdeutschen Umweltbewegungen nicht scharf voneinander trennen.74 Denn Eingaben stellten häufig die Initialzündung für die Gründung von Umweltgruppen dar.75 Die Eingabe blieb auch für den Protest der neuen Gruppen ein wichtiges Kommunikationsinstrument: Flugblätter und Samisdat-Schriften riefen regelmäßig dazu auf, in Briefen an die Staats- und Parteiführung, Behörden und Betrieben auf Umweltprobleme aufmerksam zu machen.76 Petent*innen berichteten darin von ihren Erfahrungen und versuchten anderen Lesern Mut zu machen, »ebenfalls hier und da den verantwortlichen Leitern auf die Finger zu sehen und zu klopfen«.77 Die Redaktionen der Samisdat-Schriften gaben zudem Tipps und 74 So kommt Tobias Huff beispielsweise zu dem Schluss: »Wer über den Zustand der Umwelt besorgt war, aber nicht mehr auf die Regelungskompetenz des Staates vertraute, der schrieb auch keine Eingaben mehr.« Und auch die von Ilko-Sascha Kowalczuk vertretene These, wonach Umweltprotest immer auch Widerstand gegen das politische System der DDR gewesen sei, erscheint aus dieser Sicht unzutreffend. Vgl. HUFF: Natur (wie Anm. 22), S. 313; IlkoSascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 762), Bonn 2009, S. 238 f. 75 Beispielhaft ist eine Eingabe zum Waldsterben im Erzgebirge aus dem Jahr 1983, die auf das beginnende Engagement der bekannten Umweltaktivisten Christian Halbrock und Carlo Jordan verweist: Die Unterzeichner an Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingabe, Betrifft: Waldsterben im Erzgebirge, Berlin, den 12. 10. 1983: SAPMO, DY 3023/1148, pag. 122 – 124. Vgl. dazu auch MÖLLER: Umwelt (wie Anm. 18), S. 316 f. 76 Die Zeitschrift Blattwerk verfügte daher über eine eigene Rubrik zur »Eingabenarbeit« und berichtete wie auch andere Samisdat-Schriften regelmäßig über d ieses Thema. Blattwerk 3/4 (1985) 3: Umweltbibliothek Großhennersdorf e. V. Abgerufen unter URL: www.ddr-samisdat. de, letzter Zugriff: 22. 07. 2022; für ein Flugblatt vgl. exemplarisch: Bürger von Hirschfelde: BStU, AKG PJ, 42186, pag. 4. 77 Eingabenarbeit – Eingabenarbeit – Eingabenarbeit – Eingabenarbeit. In: Blattwerk 6 (1985) 2: Umweltbibliothek Großhennersdorf e. V. Abgerufen unter URL : www.ddr-samisdat.de,
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Hinweise zum Verfassen von Eingaben und waren umgekehrt Adressaten für Leserbriefe, die sie regelmäßig veröffentlichten.78
4. Schlussbemerkung Die politische Kommunikation in Eingaben verweist auf eine Ebene des Mitmachens in der DDR, die angesichts der sich verschärfenden Umweltkrise einem starken Wandel unterlag, aber bis zum Niedergang der SED-Diktatur nicht abriss. Die Verfasser*innen von Eingaben formulierten lange vor der ›Wende‹ 1989/1990 neue Forderungen nach mehr politischer Teilhabe, suchten jedoch weiterhin das Gespräch mit Staat und Partei, die wiederum das in sie gesetzte Vertrauen zusehends verspielten. Der Aufkündigung des Konsenses im Umweltschutz, den die SED um 1970 erst auf Drängen umweltpolitischer Reformkräfte, wie den Naturschützer*innen, proklamiert hatte, folgte eine Phase der Neuaushandlung, die sich zunächst in Eingaben formierte. Die fehlende Bereitschaft und das Unvermögen der Staats- und Parteiorgane, dieser von immer mehr Bürger*innen erhobenen Forderung nachzukommen, trugen entscheidend zur inneren Erosion der DDR bei. Blickt man auf umweltorientierte Eingaben der 1980er Jahre, erscheinen die Ereignisse vom Herbst 1989 nicht mehr als ein spontaner Akt, sondern als Ergebnis einer langandauernden inneren Transformation.79
letzter Zugriff: 22. 07. 2022; vgl. auch Brundtland-Bericht öffentlich diskutieren! In: Umweltblätter 6 (1988), S. 27 f.: BStU, MfS, HA II, Nr. 30985, pag. 283 f.; eine Eingabe aus Stendal. In: Umweltblätter 8 (1988), S. 31 – 33: BStU, MfS, HA II, Nr. 30985, pag.195 ff.; Matthias Voigt: Giftschleuder Schöneiche. In: Arche Nova 2 (1988) 10, abgedruckt in: Jordan, Carlo u. a.: Arche Nova – Opposition in der DDR . Das ›Grün-ökologische Netzwerk Arche‹, Berlin 1995, S. 279 f. 78 Vgl. z. B. Aus dem Leserbriefkasten. In: Umweltblätter 7 (1987): BStU, BV Potsdam, AKG, 1351, pag. 42. 79 So bei Ilko-Sascha Kowalczuk, der die Annahme vertritt, die Bürger*innen der DDR hätten erst in den Wochen unmittelbar vor der ›Wende‹ in einem spontanen Akt das Demonstrieren erlernen müssen. Vgl. Kowalczuk: Endspiel (wie Anm. 74), S. 435.
Engagement für die Gesellschaft: Partizipation am Rande und jenseits des SED-Staats
Cornelia Bruhn
Die FDJ-Singebewegung – eine staatliche Veranstaltung? Engagement und Entfremdungsprozesse in der Sphäre staatssozialistischer Jugendkultur der DDR
Am 27. September 1989 schrieben die Mitglieder des Oktoberklubs Berlin einen Brief an das Politbüromitglied Egon Krenz: Lieber Egon! Normalerweise hast Du in den vergangenen Jahren unsere politischen Standpunkte zumeist in Liedform zur Kenntnis genommen, als häufiger Gast unserer Veranstaltungen, namentlich beim Festival des politischen Liedes. Insbesondere zu brisanten oder hochaktuellen Anlässen war der Oktoberklub auch nie verlegen, mit passenden Liedzeilen einzugreifen, sich zumindest bemerkbar zu machen. Genau vor zehn Jahren, zum 30. Geburtstag der DDR, sang sich ein Lied herum, welches vom damaligen Publikum noch enthusiastisch aufgenommen wurde: »Da sind wir aber immer noch«. Als wir vor fünf Jahren auf der volksbühne [sic] standen mit »35 Lichter brennen«, fanden wir damit noch wohlwollende Anteilnahme. Ein Lied des Oktoberklubs zum 40. Republikgeburtstag wird es aber nicht geben.1
Was war passiert, dass der Oktoberklub, das Aushängeschild einer staatssozialistischen Jugend, der SED ihre Loyalitätsbekundung zum Jahrestag der Republik verweigerte? War denn nicht gerade der Oktoberklub eine ›staatliche Veranstaltung‹ gewesen? Der vorliegende Beitrag diskutiert die Position der FDJ-Singebewegung, die Engagement für den Staatssozialismus, eigensinnige Aneignung und kritische Distanzierung umfasste. Das in der Forschung vorherrschende Bild insbesondere der späteren Singebewegung als »staatsfromm bis zur Peinlichkeit«2 oder Teil der »immer perfektere[n] Inszenierungen des Jugendlebens«3 soll dabei 1 Brief des Oktoberklubs an Egon Krenz vom 27. September 1989, 2 Bl., hier Bl. 1, Privatbesitz Jens Quandt. 2 Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Berlin 2008, S. 63. 3 Dorothee Wierling: »Die Jugend als innerer Feind: Konflikte in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre«. In: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr: Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 404 – 425, hier S. 419.
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hinterfragt und anhand von einschlägigen Quellen aufgebrochen werden. Zentral ist die gesellschaftliche Perspektive, die allen Beteiligten eine Handlungsmacht zuschreibt und sich am Konzept von ›Eigen-Sinn‹ und ›Herrschaft als soziale Praxis‹ nach Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger orientiert.4 Wie gezeigt werden wird, emanzipierten sich die Mitglieder der Singebewegung über die 25 Jahre des Bestehens hinweg immer mehr von den parteipolitischen Vorstellungen und Einhegungsversuchen. Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es, die Sphäre staatssozialistischer Jugendkultur am Beispiel der FDJ-Singebewegung als Teil einer Gesellschaftsgeschichte der DDR sichtbar werden zu lassen.
1. Selbstbestimmte Jugendkultur oder ›Staatsjugend‹? Die Singebewegung entstand zunächst weitgehend unabhängig von den FDJStrukturen. Auf der Welle des Folk-Revivals gründeten sich auf Anregung des linken kanadischen Liedermachers Perry Friedman in Berlin und Dresden 1966 so genannte Hootenanny Clubs. Diese Jam-Sessions des Folk-Revivals waren spontane Zusammenkünfte junger Menschen, zumeist Schüler*innen und Student*innen, die gern Musik machten und sich – politisch und unpolitisch motiviert – ausprobieren wollten. In den Hootenanny Clubs wurden Lieder des US-amerikanischen Folk-Revivals nachgespielt, aber auch deutsche und internationale Volkslieder, sowjetische Lieder, Liebes- und Scherzlieder sowie traditionelle deutsche Arbeiterlieder gesungen. Verbunden mit Elementen des Beat, Skiffle, Jazz und Blues begannen die Jugendlichen, ihre eigenen Lieder zu schreiben. Die Hootenannies 4 Zentral für diese Perspektive: Alf Lüdtke (Hrsg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt am Main 1989; ders.: »Helden der Arbeit« – Mühen beim Arbeiten. Zur missmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR . In: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR (wie Anm. 3), S. 188 – 213; Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis. In: ders. (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien (Veröffent lichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 91). Göttingen 1991, S. 9 – 63; Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR (Zeithistorische Studien 12,1). Köln/Weimar/Wien 1999, S. 13 – 4 4, besonders S. 19 f. sowie in einer überarbeiteten Fassung ders.: SED-Herrschaft als soziale Praxis, Herrschaft und »Eigen-Sinn«: Pro blemstellung und Begriffe. In: Jens Gieseke (Hrsg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 23 – 47. Lindenberger ergänzte damit den Ansatz von den »Grenzen der Diktatur« in gegenläufige Richtung, wie ihn Richard Bessel und Ralph Jessen formuliert hatten: dies.: Einleitung. Die Grenzen der Diktatur. In: dies. (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 7 – 22.
Die FDJ-Singebewegung – eine staatliche Veranstaltung? |
boten dafür eine ideale Bühne. Bald gaben die Jugendlichen ihren selbstgeschriebenen Liedern den Namen »DDR-konkrete« Lieder.5 Die FDJ stellte diese Bühne bereit. In Berlin traf sich der Hootenanny Club im Klub International im Kino International, in Dresden im Zentralen Klub der Jugend und Sportler (heute Veranstaltungsort: die Scheune in Dresden-Neustadt).6 Bald wurden auch höhere FDJ- und SED-Funktionär*innen auf dieses unkonventionelle Treiben aufmerksam. Lutz Kirchenwitz (*1945), Gründungsmitglied des Hootenanny Clubs Berlin und s päter langjähriger organisatorischer Leiter des Oktoberklubs, erinnert sich an den Moment, als der Hootenanny Club Berlin über die FDJ-Bezirksebene hinaus Aufmerksamkeit errang: Bei den ersten Hootenannies hat die FDJ-Bezirksleitung [Berlin] geholfen, Einladungen zu verschicken […]. Das war ein wirkliches Miteinander und das hätte auch so weitergehen können, wäre nicht die politische Großwetterlage eine andere geworden. Günther Jahn, ab ’67 1. Sekretär des FDJ-Zentralrates, forderte: »Singeklubs müssen politische Instrumente des Jugendverbandes sein!« Es fanden dermaßen blödsinnige Diskussionen statt, z. B. darüber, daß bei Auftritten jeder das Blauhemd zu tragen hat. Was haben wir nicht für Debatten geführt, um das wenigstens teilweise zu unterlaufen. So hat man damals seine Energien verbraucht. Z. B. mußte der Oktoberklub auf der ersten Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs vom damaligen Kulturminister, Klaus Gysi, verteidigt werden, weil er nicht geschlossen im Blauhemd aufgetreten war.7
Zugleich erinnert sich Lutz Kirchenwitz, dass ihm die FDJ als Partnerin durchaus recht und viel lieber gewesen sei als die Strukturen, in denen die ›Volkskunstinitia tiven‹ in der DDR größtenteils organisiert waren: 5 Der richtungsweisende Artikel für die »DDR -konkreten« Lieder war von Reinhold Andert: Jugendobjekt: Lieder von uns. Einige Gedanken zur Auswertung der Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs in Halle. In: Forum 22 (1967), S. 2. Das erste Mal wurde die Formulierung »DDR-konkret« als Beschreibung der Jugendlichen festgehalten worden von Gisela Steineckert: Stand der Singe. In: Forum 15 (1969), S. 12 f., hier S. 12. 6 Bernd Langnickel: Lebenslieder aus Dresden. In: Lutz Kirchenwitz: Lieder und Leute. Die Singebewegung der FDJ. Berlin 1982, S. 201 – 209, hier S. 202. 1967 nannte sich der Klub in Folkloregruppe der TU Dresden um und schloss sich dem Studentenklub der TU an, 1968 nannte sich die Gruppe pasaremos, aus welcher sich 1971 die Songgruppe der TU Dresden und aus dieser wiederum 1975 die Gruppe Schicht ausgründeten, ebd., S. 201 – 209. Zur Gründung des Dresdner Hootenanny Clubs siehe kurz auch Lutz Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker und Kaisergeburtstagssänger. Berlin 1993, S. 33. 7 Lutz Kirchenwitz in der Podiumsdiskussion am 9. Oktober 1993 in Berlin, Transkript veröffentlicht in Lied und soziale Bewegungen e. V. (Hrsg.): Zwischen Liebe und Zorn. Singebewegung und Liedermacher in der DDR . Berlin 1995, S. 20.
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Die FDJ hatte für den Aufbau der Singebewegung auch einen enormen Vorteil. Man war nicht an die verkrusteten Strukturen der traditionellen Volkskunstbewegung gebunden und konnte hier also leichter neue Wege gehen.8
Die FDJ vermochte es zu jener Zeit offenbar (noch), Gestaltungsvorschläge der Jugendlichen aufzunehmen und mit ihnen weiterzuentwickeln. Dies hing auch mit den Lockerungen der Jugendpolitik und insbesondere mit der Anerkennung der Jugendlichen als ernstzunehmende Personengruppe in der Zeit der Jugendkommuniqués von 1961 und 1963 zusammen. Damit lag die DDR im Trend der Zeit: Das Phänomen der Jugend und Jugendlichkeit erfuhr in den späten 1950er und 1960er Jahren in Ost wie West eine enorme Aufwertung und Sichtbarkeit durch die ›Entdeckung‹ der Jugendlichen als Konsumentengruppe mit eigenen Interessen, insbesondere in der Freizeitgestaltung.9 »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung«10 hieß es programmatisch im Titel des Jugendkommuniqués von 1963. Zwar wurden viele Zugeständnisse nach dem ›Kahlschlag-Plenum‹ von 1965 zurückgenommen und auch das versprochene Vertrauen durch Misstrauenspraktiken konterkariert,11 der Hauch des Progressiven hing der FDJ offenbar aber weiterhin an. So beschrieb beispielsweise Bernd Rump, ab 1967 Mitglied der Folkloregruppe der TU Dresden, die sich aus dem Hootenanny Club Dresden entwickelte, die mobilisierende Kraft des Jugendkommuniqués als seine persönliche Initialzündung für sein Engagement in der Singebewegung.12 Das von der FDJ ausgerichtete Deutschlandtreffen von 1964, auf welchem der Sender DT 64 gegründet worden war, trug ebenso zu dem positiven Image der Jugendorganisation bei.13 Nicht umsonst waren FDJ und DT 64 von Beginn an federführende 8 Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 44. 9 Bodo Mrozek: Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte. Berlin 2019, S. 48. 10 Ulrich Mählert/Gerd-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend. Opladen 1996, S. 150. 11 Siehe dazu die dichte Argumentation rund um die Jugendkommuniqués von 1961 und 1963 und das ›Kahlschlagplenum‹ 1965 bei Juliane Brauer: Zeitgefühle. Wie die DDR ihre Zukunft besang (Histoire, 180). Bielefeld 2020, S. 216 – 252. 12 Interview zwischen Stefan Körbel und Bernd Rump, Januar 2011. Archiv des Vereins Lied und soziale Bewegungen e. V., Berlin. Zur integrierenden Kraft des Jugendkommuniqués, des Deutschlandtreffens sowie zum Sender DT 64 siehe insbesondere Mrozek: Jugend – Pop – Kultur (wie Anm. 9), S. 589 – 595 und Mählert/Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen (wie Anm. 10), S. 150 – 159 sowie Heiner Stahl: Agit-Pop. Das Jugendstudio DT 64 in den swingenden 60er Jahren. In: Klaus Arnold/Christoph Classen (Hrsg.): Zwische Pop und Propaganda. Radio in der DDR. Berlin 2004, S. 229 – 247. 13 Zum Erfolg und zu den Möglichkeiten für die Jugend rund um das Deutschlandtreffen sowie zum Vorgehen der Parteiführung, die Emanzipationsprozesse wieder einzufangen, vgl. Mählert/
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Organisatorinnen bei wichtigen Formaten der FDJ-Singebewegung wie beispielsweise den Werkstattwochen der FDJ-Singeklubs. Das Einbeziehen der Hootenanny Clubs in die staatliche Jugendpolitik zeigte schon bald die ersten sichtbaren Folgen. Die englische Namensgebung wurde aufgrund der restriktiven Kehrtwende nach dem ›Kahlschlagplenum‹ politisch unhaltbar, was mit dem ›Schutz‹ der Jugendlichen vor westlichen Einflüssen begründet wurde.14 Dem Berliner Hootenanny Club wurde im Frühjahr 1967, ein Jahr nach seiner Gründung, durch den Mitarbeiter der FDJ-Bezirksleitung Berlin Siegfried Wein der Vorschlag unterbreitet, den Klub in Oktoberklub umzubenennen. Sollte der Klub mit einer Umbenennung nicht einverstanden sein, dürfe er fortan nicht mehr auftreten. Die Anweisung dazu hatte Siegfried Wein von hoher Stelle erhalten: von Siegfried Lorenz, dem Leiter der Abteilung Jugend des ZK der SED,15 Lothar Witt, dem Ersten Sekretär der FDJ-Bezirksleitung Berlin,16 und Harry Smettan, dem Leiter der Jugendkommission bei der SED-Bezirksleitung Berlin.17 Siegfried Wein erinnert sich an das Gespräch: Ich saß dann da oben in der [FDJ-]Bezirksleitung mutterseelenalleine, warum weiß ich auch nicht mehr, als jemand anrief: Komm mal sofort in den Ratskeller. Damals war der Ratskeller noch eine schöne Biergaststätte, jetzt ist es ja so ein hässlicher Angestelltenkeller geworden, und da saßen Siegfried Lorenz, Lothar Witt und Harry Smettan. Die sagten zu mir: Setz dich mal. Willst du ein Bier? Ich sagte: Ja. Und dann redeten sie auf mich ein: Also, du hast ja da deinen Klub, die wollen da in der Volksbühne auftreten, und wenn du den Klub retten willst, dann geht das nur so, dass du einen neuen Namen findest für die, und dann übernehmt ihr die Veranstaltung. Und dann konnte ich mein Bier austrinken und war entlassen. Ich ging nach Hause und dachte: Oh Scheiße, was jetzt? Entschuldigung, also so dachte ich wirklich.
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Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen (wie Anm. 10), S. 154 – 165 sowie Brauer: Zeitgefühle (wie Anm. 11), S. 225 – 245. Vgl. u. a. Mählert/Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen (wie Anm. 10), S. 169 – 172, hier S. 172. Siegfried Lorenz, Jahrgang 1930. In: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Berlin 52010 (= Artikel Andreas Herbst/Helmut Müller-Enbergs: Siegfried Lorenz). Abgerufen unter URL: https:// www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographischedatenbanken/siegfried-lorenz, letzter Zugriff: 03. 07. 2021. Gabriele Baumgartner/Dieter Hebig: Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945 – 1990. Bd. 2. München 1997 (= Artikel Lothar Witt), S. 1018. Interview Lutz Kirchenwitz mit Siegfried Wein, 31. Mai 2013 (Transkript), Archiv des Vereins Lied und soziale Bewegungen e. V., Berlin sowie Baumgartner/Hebig: Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945 – 1990. Bd. 1. München u. a. 1996 (= Artikel Harry Smettan), S. 869.
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Die waren ja fast alle im Probenlager, einer, der noch in Berlin geblieben war, war Volkmar Andrä, den habe ich angerufen: Volkmar, komm doch mal. Volkmar kam, und wir suchten einen Namen, da fiel mir dieser West-Berliner Klub ein: Ça ira, Französische Revolution. 1967 war ja das 50. Jahr der Oktoberrevolution. An die DDR-Gründung, an den 7. Oktober habe ich nicht gedacht, sondern nur an die Oktoberrevolution. Und ich weiß, dann sind wir da hin, und dann habe ich das vorgeschlagen, und Marianne [Oppel, von DT 64] war die erste und sagte: Ist doch nicht so schlecht. Und dann brachte ich ja den Bonbon mit: Ihr könnt in der Volksbühne auftreten.18
Die Umbenennung des Oktoberklubs war der erste politische Eingriff der SEDund FDJ-Leitungen, bei dem die Mitglieder des Oktoberklubs mit dem Herrschaftsanspruch der politisch Verantwortlichen konfrontiert waren und sich ihm gegenüber verhalten mussten.19 Anlass für die Umbenennung war eine Veranstaltung in der Volksbühne im März 1967, die zunächst unter dem Titel Jazz & Folksongs geplant war. Sie war die Fortsetzung der Veranstaltung Jazz und Lyrik/Jazz – Lyrik – Prosa von 1965, zu der Wolf Biermann der Zutritt verwehrt und verhaftet worden war. Die Mitwirkenden hatten daraufhin erst weitergespielt, als klar war, dass er freigelassen worden war. Eine Wiederholung oder Anknüpfung an d ieses Ereignis war von Seiten der SED -Führung nicht erwünscht und so wurde die Veranstaltung Jazz und Folksongs abgesagt. Sie fand dann in einem neuen Format und mit neuem Programm (unter anderem mit dem Erich-Weinert-Ensemble) mit dem nun neu benannten Oktoberklub unter dem Titel Kommt und singt! statt.20 Zwischen den damaligen Mitgliedern des Oktoberklubs wird der Moment der Umbenennung bis heute lebhaft diskutiert.21 Aus den Erinnerungen wird 18 Siegfried Wein auf dem Podium Hootenanny ’66, Festival Musik und Politik, Berlin 27. Februar 2016. Transkript abgerufen unter URL: https://www.musikundpolitik.de/archive/interviews/ hootenanny-66-podiumsgespraech/, letzter Zugriff: 03. 07. 2021. 19 Herrschaft wird hier nach Alf Lüdtke als soziale Praxis verstanden, welche nach Max Weber als »asymmetrisches Machtverhältnis, das institutionell gefaßt, durch Zwangsmittel gesichert und […] ideologisch legitimiert ist«. Dabei seien, über Weber hinaus, Herrschende und Beherrschte immer wechselseitig voneinander abhängig, d. h. Herrschaft sei immer auch Interaktion. Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen (wie Anm. 4), S. 21 – 23, hier S. 22, Fn. 24. 20 Die Abläufe rund um die Volksbühnen-Veranstaltung und Umbenennung des Oktoberklubs sind im Detail nachzulesen bei Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 38 – 43. 21 So beispielsweise auf zwei Podiumsdiskussionen von Beteiligten der Singebewegung am 9. Oktober 1993 und 27. Februar 2016, beide in Berlin. Das Transkript der Diskussionen von 1993 in: Lied und soziale Bewegungen e. V. (Hrsg.): Zwischen Liebe und Zorn (wie Anm. 7); Hootenanny ’66, Podiumsdiskussion vom 27. Februar 2016, Transkript (wie Anm. 18).
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deutlich, dass die Mehrheit den Eingriff nicht als Grenzübertritt seitens der FDJund Kulturfunktionär*innen empfand. Den vorgeschlagenen Namen Oktoberklub empfanden die meisten soweit annehmbar, so dass es nur zu wenigen Gegenreaktionen gegenüber Siegfried Wein kam. Neben Bettina Wegner stieß sich auch Jörn Fechner an der Namensgebung und erinnert sich an kontroverse Diskussionen. Doch auch er räumt ein, dass die Mehrheit in die Umbenennung »eingeschwenkt« sei, so dass auch er »klein beigegeben« habe.22 Lutz Kirchenwitz schreibt zur Umbenennung, der Klub sei zwar davon überrascht gewesen, habe sich aber einverstanden erklärt, »naiv darauf vertrauend, daß der dubiosen Aktion eine höhere politische Notwendigkeit zugrunde läge, und ohne die volle Tragweite dessen zu erahnen, was daraus folgen wird«.23 Auch Siegfried Wein erinnert sich an keinen nennenswerten Widerstand.24 Mit der Umbenennung und der Volksbühnen-Veranstaltung begannen eine breitangelegte Medienkampagne sowie die ideologische Aufwertung der nun Singeklub genannten Hootenanny Clubs als Vorreiter der FDJ-Singebewegung.25 Der Oktoberklub wurde zum Aushängeschild und Vorbild für viele Singeklubs im ganzen Land.26
22 Jörn Fechner auf der Podiumsdiskussion Hootenanny ’66, Festival Musik und Politik, Berlin 27. Februar 2016. In: Lied und soziale Bewegungen e. V. (Hrsg.): Zwischen Liebe und Zorn (wie Anm. 7); Hootenanny ’66, Podiumsdiskussion vom 27. Februar 2016, Transkript (wie Anm. 18). 23 Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 40. 24 Interview Lutz Kirchenwitz mit Siegfried Wein, 31. Mai 2013, Transkript, Archiv Lied und soziale Bewegungen e. V., Berlin. Zwar erinnert sich dort Siegfried Wein, dass ihm im Nachgang der Unwillen des Klubs über die Umbenennung zugetragen worden sei – in der Podiumsdiskussion Hootenanny ’66 von 2016 habe er sich verwundert über den Unmut Jörn Fechners gezeigt, während dieser darauf bestanden habe, nicht widerstandslos in die Umbenennung eingewilligt zu haben. Transkript der Podiumsdiskussion Hootenanny ’66, Festival Musik und Politik, Berlin 27. Februar 2016. In: Lied und soziale Bewegungen e. V. (Hrsg.): Zwischen Liebe und Zorn (wie Anm. 7); Hootenanny ’66, Podiumsdiskussion vom 27. Februar 2016, Transkript (wie Anm. 18). 25 Zeitlich und dokumentarisch exakt ist die Umbenennung der Aktivitäten der Hootenannies in Singeklubs und Singebewegung nicht mehr zu benennen. Lutz Kirchenwitz macht den März/April 1967 aus und vermutet eine mündliche Absprache zwischen den leitenden (Kultur-)Funktionär*innen: Lutz Kirchenwitz auf der Podiumsdiskussion in Berlin am 9. Oktober 1993. In: Lied und soziale Bewegungen e. V. (Hrsg.): Zwischen Liebe und Zorn (wie Anm. 7), S. 9 und S. 21. Juliane Brauer setzt früher, im Mai 1966, an: Brauer: Zeitgefühle (wie Anm. 11), S. 274. 26 Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 42 sowie Hagen Jahn: Jugend, Musik und Ideologie. Zur Geschichte der FDJ-Singebewegung in der DDR (Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, 12). Halle 2002, S. 5 – 28, hier S. 11.
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Die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Bewertungen der Umbenennung mochten verschiedene Ursachen gehabt haben. Sie waren durch unterschiedliche Prägungen in den Herkunftsfamilien und den unterschiedlich verteilten und zumeist nur selten vorhandenen Kontakten der Klubmitglieder zu oppositionellen Gruppen mitbestimmt. Deutlich wird, dass Bettina Wegner das Vorgehen der ZK- und der FDJ-Funktionär*innen bei der Umbenennung und der folgenden massenmedialen Inszenierung der FDJ-Singebewegung früher als andere als signifikante Wegmarke erkannte.27
2. Staatliche Rahmung und Eigen-Sinn in den 1960er Jahren Die Singebewegung gewann durch die institutionelle Unterstützung und ideologische Aufwertung durch die FDJ an Fahrt. Ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt wurden ab 1967 die von DT 64-Redakteurin Marianne Oppel ins Leben gerufenen jährlichen Werkstattwochen der FDJ-Singeklubs mit mehreren hundert Teilnehmer*innen.28 An ihnen wird von Beginn an das Doppelverhältnis von politischer Funktionalisierung durch SED und FDJ auf der einen und die eigen-sinnige (Rück-)Eroberung des Formats durch die Jugendlichen deutlich.29 Grundsätzlich hatten die Werkstattwochen, wie auch frühere bzw. andere Formate der ›sozialistischen Volkskunst‹, den Wettbewerbscharakter sozialistischer Kunstproduktion: Die besten Singeklubs aus den Kreisen durften in die Bezirkswerkstätten fahren, aus denen wiederum die Besten zur Zentralen Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs entsandt wurden. Betrachtet man allein die Konzeption der ersten Zentralen Werkstattwoche vom 24. September bis 1. Oktober 1967 in Halle, zeigt sich die rigorose ideologische und institutionelle Aufblähung des Formats: Diese erste Werkstattwoche war getragen vom Zentralrat der FDJ, der Bezirksleitung der FDJ Halle, dem Staatlichen Rundfunkkomitee mit dem 27 Siehe das Interview Lutz Kirchenwitz mit Bettina Wegner vom 1. Juli 2013, in dem sich Bettina Wegner erinnert, dass von Siegfried Wein um Handzeichen für oder gegen die Umbenennung gebeten worden sei. Ihr sei dies wie eine Formalie vorgekommen und sie habe die Hand nicht gehoben – sie habe allerdings auch nicht lautstark ihren Protest bekundet. Interview einsehbar im Archiv des Vereins Lied und soziale Bewegungen e. V., Berlin sowie Bettina Wegner auf der Podiumsdiskussion von 1993: Lied und soziale Bewegungen e. V. (Hrsg.): Zwischen Liebe und Zorn (wie Anm. 7), S. 22: »Im Klub selber wurde nicht diskutiert, ich weiß nicht, vielleicht mit euch, mit Jörn [Fechner] und dir [Ellen Brombacher, FDJ-Bezirksleitung]. Also ich kam hin und es hieß: ›Ab heute heißen wir Oktoberklub.‹ Und wer fehlte plötzlich? Perry!«. 28 Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 44. 29 Zum Eigen-Sinn vgl. Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen (wie Anm. 4), S. 23 – 26.
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J ugendstudio DT 64, dem Bundesvorstand des FDGB, dem Ministerium für Kultur, dem Ministerium für Volksbildung (von welchem zum großen Unverständnis der FDJ-Leitung und der Teilnehmer*innen jedoch kein offizielles Mitglied anreiste),30 dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen, dem Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler, dem Chorausschuss der DDR und dem Rat des Bezirks Halle. Das Programm umfasste neben der öffentlichen Aufführung der Liedprogramme der Singeklubs selbstverständlich die namensgebenden Werkstätten wie die Texterbude, die Komponisten- und die Interpretenwerkstatt, in denen die Singeklubmitglieder mit Expert*innen an ihren Liedern und Texten arbeiteten. Dazu kamen eine Gedenkveranstaltung, Diskussionsrunden, Ausstellungen und ein Liederbasar.31 Zentral für die Werkstattwochen wurden die so genannten Beratergruppen, insbesondere die Beratergruppe des FDJ-Zentralrats (auch Zentrale Beratergruppe). Auf der ersten Werkstattwoche noch als ›Jury‹ eingesetzt, wurde sie auf Initiative der Singebewegten in ›Beratergruppe‹ umbenannt, da diese den Wettbewerbscharakter des Formats nicht überbetonen wollten. Die Beratergruppen bestanden aus Vertreter*innen des Kulturbereichs, der FDJ und SED, Journalist*innen sowie Singeklubmitgliedern. Die Mitglieder der Zentralen Beratergruppe, unter diesen insbesondere die Lyrikerin und Schriftstellerin Gisela Steineckert, der Folksänger Perry Friedman und der Komponist Wolfram Heicking, wurden zu wichtigen und steten Begleiter*innen der Singebewegung.32 Auf der ersten Werkstattwoche traten 16 Singeklubs auf, welche 178 Lieder vortrugen, wovon immerhin 77 Neuschöpfungen waren. 15 Lieder wurden auf einer Langspielplatte veröffentlicht.33 War Marianne Oppels Idee vor allem gewesen, ein Format zu schaffen, wo sich die Singeklubs treffen, austauschen und an ihren Liedern arbeiten konnten,34 versuchten die SED- und FDJ-Funktionär*innen, die durch das Folk-Revival geweckte Euphorie der Jugendlichen für das politische Liedermachen in der Singebewegung 30 Bundesarchiv Berlin (BA rch), DY 24/20875, Einschätzung der Werkstattwoche der FDJ Singeklubs in Halle vom 24. 09. 1967 bis 01. 10. 1979, 11. 10. 1967, ausgearbeitet von Bernhard Powileit (Stellvertreter des Abteilungsleiters für Kultur im FDJ-Zentralrat) und Horst Jurczok, S. 6. 31 BArch, DR/2/23420, Beschluß des Sekretariats des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend vom 27. Juli 1967. Konzeption für die Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs der DDR vom 24. September bis 1. Oktober 1967 in Halle. 32 Zu den Werkstätten und Singezentren siehe insbesondere Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 44. 33 BArch, DY 24/6360, Fritz Bachmann: Eine Woche lang lernen – siegen – kämpfen! Gedanken zur Werkstattwoche der Singeklubs. Abschrift!, 7 Bl., hier Bl. 2 (unpag.). 34 Interview Lutz Kirchenwitz mit Marianne Oppel, Archiv des Vereins Lied und soziale Bewegungen e. V., Berlin, Transkript S. 10.
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in die von ihnen als richtig eingeschätzten politischen (und damit auch ästhetischen) Bahnen zu lenken und damit zur »Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur beizutragen«.35 Die Rechnung sowohl der SED- und FDJ-Funktionär*innen als auch der Singebewegten und der ihnen nahestehenden Organisator*innen ging auf: Die Jugendlichen füllten die Werkstattwochen mit Leben. Insbesondere die Zentralen Werkstattwochen wurden zum jährlichen Treffpunkt der Besten der Szene. An den Zentralen Werkstattwochen zeigte sich die weltanschauliche Übereinstimmung vieler Singeklubmitglieder mit der Parteilinie ebenso wie die zunehmende staatliche Rahmung und Kanonisierung, aber auch der Versuch, sich gegen die einengende Institutionalisierung zu wehren. Eine Teilnahme dort galt als Auszeichnung, gleichzeitig entstanden Freundschaften und Partnerschaften, die über das Musikmachen hinausgingen. Ein Beispiel dafür ist die 1969/1970 gegründete HOP-Koop, die (in ihrer Namensgebung durchaus selbstironischen) Kooperationsgemeinschaft der Singeklubs Hoyerswerda, des Oktoberklubs Berlin und pasaremos’ Dresden, deren reger persönlicher wie künstlerischer Austausch bis zum Ende der Singebewegung und darüber hinaus Bestand haben sollte.36 Die Position der Singebewegung z wischen Parteilinie und Selbstbestimmung wird deutlich an den Inhalten der Liedprogramme und deren Einschätzungen durch die hauptamtlichen FDJ-Funktionär*innen, an Resümees und Feedbacks aus den Reihen der Singeklubmitglieder, an vereinzelt überlieferten Erklärungen der Werkstattteilnehmer*innen zum Ende der Werkstattwoche,37 Evaluationen und deren Auswertungen,38 an Referaten und Diskussionen beispielsweise auf den FDJ-Kulturkonferenzen 39 oder dem Dresdner Werkstattformat Lieder und 35 BArch, DY 24/20875, Maßnahmen zur weiteren Entwicklung des Singens unter der Jugend und zur Förderung des neuen Liedschaffens bis zum XX. Jahrestag der DDR, 1966/67, S. 3. 36 Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 46. 37 Beispielsweise die Erklärung der Teilnehmer an der Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs sowie Disposition zum Auftreten im Form (beide zur 1. Zentralen Werkstattwoche 1967), BArch, DY 24/6346 (unpag.). 38 Beispielsweise die auf einer breiten Fragebogenumfrage basierende Arbeit: BArch, DY 24/20899 (unpag.), Modellfall Singeklubs. Die Formung sozialistischer Persönlichkeiten durch künstlerische Selbstbetätigung in Freizeitgruppen Jugendlicher (1. Stufe der Untersuchung), erstellt von der Praktikumsgruppe der Fachrichtung Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Herbst 1969; unter BArch, DY 24/20643 (unpag.) finden sich die Fragebögen dazu. 39 Wichtig für die Singebewegung waren unter anderem die Beschlüsse »Über die Entwicklung des Singens in der Freien Deutschen Jugend« (1966), »Kämpft und singt mit uns! Beschluß des Büros des Zentralrates der FDJ über die Weiterführung der Singebewegung der FDJ und der Pionierorganisation ›Ernst Thälmann‹« (1969) sowie die FDJ-Kulturkonferenzen 1975 und 1982. Dank gilt Lutz Kirchenwitz für Hinweise auf die wichtigsten Dokumente: Email Lutz Kirchenwitz an die Verfasserin, 27. Juni 2020.
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Theater in den 1980er Jahren.40 Eine erste selbstreflexive Standortbestimmung der Singebewegten ist das Papier Nach-Denken über Vor-Lauf von acht Mitgliedern des Oktoberklubs aus dem Jahr 1968.41 Es demonstriert zunächst die affirmative Haltung der Verfasser zum Staatssozialismus: »Den Sozialismus gestaltet der Oktoberklub mit«, heißt es gleich zu Beginn. Sozialistische Persönlichkeitsentwicklung, das Gefühl, zu den »Erbauern« des Sozialismus zu gehören, und die »Verdrängung des Klassengegners im Bereich der Unterhaltungsmusik« bildeten Ziel und weltanschauliche Grundlage. »Den Boden für solche Wünsche und Ziele [den Sozialismus durch die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten zu gestalten] sehen wir in der sozialistischen DDR«.42 Im weiteren Verlauf des Textes kristallisiert sich jedoch ein gegenläufiger Punkt heraus: Die Verfasser*innen kritisierten das Abschleifen der Spontaneität und des Improvisationselements der Singeklubs durch eine zunehmende institutionelle Rahmung. Dieser Effekt der staatlichen Vereinnahmung sollte zum beständigen Konfliktpunkt zwischen Singebewegten und leitenden Funktionär*innen werden. So heißt es in der Präambel: »Nicht alles, was im Oktober-Klub Spaß macht, ist organisiert. Gott sei Dank! Das wäre ja fürchterlich. Zum Klubleben gehören die vielfältigen Formen der gezielten Zusammenarbeit ebenso wie der ganz zufällige Kontakt zueinander.«43 Auf die Notwendigkeit des Improvisationselements geht das Papier insbesondere im Hinblick auf die Aufführungspraxis, in der Kommunikation zwischen Singeklub und Publikum, ein: Der Oktober-Klub strebt an, nicht in eine reine Vortragshaltung zu verfallen, sondern zu einem möglichst direkten Kontakt mit allen Mithörern und Mitdenkern zu gelangen. Der Improvisationscharakter seines Auftretens in Veranstaltungen hat den Sinn, alle Anwesenden in seine Unternehmungen einzubeziehen, indem er die Möglichkeit offen läßt, ihre Anregungen aufzunehmen. Die Mitglieder des Oktober-Klubs wollen alle Anwesenden gleichsam in ihre Gemeinschaft einbeziehen. Ihren Veranstaltungen geben sie darum den Diskussionscharakter eines Forums mit künstlerischen und anderen Mittels [sic], die Vergnügen bereiten.44 […]
40 Vier Werkstätten Lieder und Theater fanden von 1980 bis 1983 jährlich statt. Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 184. 41 Beispielsweise des Oktoberklubs: Nach-Denken über Vor-Lauf, BArch, DY 24/20875, 21 S eiten (unpag.), auch erschienen in: Forum 19 (1968). 42 BArch, DY 24/20875, Nach-Denken über Vor-Lauf, S. 2 (unpag.). 43 Ebd., S. 17 (unpag.). 44 Ebd., S. 12 (unpag.).
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Wesentlich für unsere Auftritte ist der Klubcharakter. Auch über die Massenmedien sollte er gewahrt bleiben. […] Auch Improvisation und Klubcharakter können bewußt arrangiert werden. So wären z. B. Produktionen mit Publikum möglich.45
Der »Klubcharakter«, so wie er hier beschrieben wird, ging bewusst über eine bloße ›Agitationsveranstaltung‹ hinaus, er wollte Ort des Austauschs über politisch-gesellschaftliche Themen sein und die Trennung zwischen Vortragenden und Rezipient*innen aufheben. Damit standen die Singebewegten ihrem Anspruch nach durchaus in der Tradition des epischen Theaters von Bertold Brecht und Erwin Piscator sowie der Agitprop-Bewegung der Weimarer Zeit.46 Insbesondere in der Darstellung des Oktoberklubs in den DDR-Medien sahen die Verfasser*innen diesen Anspruch – bereits zu diesem frühen Zeitpunkt – nur unzureichend dargestellt: Wenn sich der Oktober-Klub vornimmt, einzelne Titel besonders zu fördern, dann weiß er zugleich, daß seine Leistungen ihre charakteristische Wirkung vor allem dann haben, wenn ihr improvisatorischer Charakter erhalten bleibt, wenn die Gemeinschaft verschiedener Vortragender und origineller Beiträge als ein Gesamterlebnis wirken kann. Zu dieser Gemeinschaft gehört auch das singend oder anders beteiligte Publikum. Diesen Charakter eines gemeinsamen Forums mit den Mitteln der Musik, des gedichteten und persönlich improvisierten Wortes brauchen die Singeklubs, um ihre ›Nachdichtung‹ von sozialistischem Leben mitzuteilen. […] Sie [hier geht es primär um Funkredakteure] werden dann sehen, daß man die Titel des Oktober-Klubs nicht wie in einer Nummern-show aneinanderreihen kann und daß sie keine Einlage für alle möglichen wässrigen Suppen sind. Wer hat Angst vor Managern? Wir!47
Zwar richtete sich die Kritik vordergründig an die Redaktionen von Funk und Fernsehen, doch waren mit »Managern« auch die Jugend- und Kulturfunktionär*innen der SED und FDJ gemeint. Die Kritik der Klubmitglieder an der Darstellung des Oktoberklubs in den Medien kann also durchaus als umfassend verstanden werden. Gleichzeitig waren sich die Mitglieder des Oktoberklubs sehr wohl bewusst, wie wichtig das ihnen durch die Massenmedien geliehene Sprachrohr war: »Nur im Bewußtsein einer Verpflichtung können wir der Förderung 45 Ebd., S. 19 (unpag.). 46 Zu Letzterem vgl. Erika Funk-Hennings: Die Agitpropbewegung als Teil der Arbeiterkultur der Weimarer Republik. In: Arbeitskreis Studium Populärer Musik (Hrsg.): Beiträge zur Popularmusikforschung 15/16 (1995), S. 82 – 117. 47 BArch, DY 24/20875, Nach-Denken über Vor-Lauf, S. 6 (unpag.).
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gerecht werden, die uns öffentliches Wirken und Anerkennung in Veranstaltungen über große Kommunikationsmittel ermöglicht.«48 Hier wird neben einer gemeinschaftsbildenden Funktion auch eine gesellschaftliche Verantwortung für sich in Anspruch genommen. An einer anderen Stelle im Papier wird dieser Anspruch noch deutlicher formuliert: Er [der Oktoberklub] ist kein Firmenschild für bloße Auftrittsgruppen. Wenn in ihm Vorurteile Ausnahme sind, wenn kein wichtiges Anliegen verschwiegen oder undiskutiert bleibt, wenn gemeinsam an politischen, weltanschaulichen, menschlichen und künstlerischen Anregungen gearbeitet wird, – dann wird der Klub die persönliche Unmittelbarkeit seiner Wirkung und die Echtheit seines künstlerischen Ausdrucks nicht verlieren. […] So ist der Oktober-Klub wie ein Modell der großen sozialistischen Gemeinschaft, in dem sozialistische Haltungen in vergnügenbereitender Arbeit erprobt und eingenommen werden, wo sozialistischen Demokratie »geprobt« und durchgeführt wird.49
Das Papier Nach-Denken über Vor-Lauf ist ein eindrucksvolles und frühes Zeugnis der Widersprüchlichkeiten, welche die Singebewegung seit ihren Anfängen begleiteten und die bis heute zu einer gespaltenen Rezeption führen. Einerseits zeugt es von einer affirmativen Haltung zum Staatssozialismus und zu ihrem Anspruch, die »sozialistische Gemeinschaft« aktiv zu gestalten. Andererseits widersprechen ihr Dringen auf die notwendige Spontaneität des Klublebens und die Interaktion mit dem Publikum sowie die Kritik an der zusammenhangslosen Darstellung ihrer Lieder in Funk und Fernsehen dem Leitungsanspruch und den Funktionalisierungsversuchen der SED- und FDJ-Funktionär*innen sowie verantwortlicher Redakteur*innen. Tatsächlich taucht das Narrativ, im Singeklub demokratische, wenigstens aber neue (sozialistische) Gesellschaftsentwürfe diskutiert und erprobt zu haben, immer wieder in den Interviews mit ehemaligen Singeklubmitgliedern auf. So erinnert sich Ingo (Hugo) Dietrich von der Brigade Feuerstein, sie wollten »Bühne und Saal als gesellschaftliches Spielmodell benutzen«.50 Cornelia (Conny) Gundermann (ebenfalls Brigade Feuerstein) schätzte die Bedeutung des engagierten Liedes in der DDR und für sich so ein, »dass man selbst sein Leben verarbeitet hat, dass man selbst reflektiert hat, wo man sich befindet, dass man es formulieren konnte, wo man sich befindet, und damit sich selbst entwickelt hat, und dass man Modelle 48 Ebd., S. 16 (unpag.). 49 Ebd., S. 7 (unpag.) (Hervorhebungen durch die Verfasserin). 50 Interview der Verfasserin mit Ingo (Hugo) Dietrich am 14. November 2017 in Woltersdorf, Track 1, TC 00:15:39 – 00:15:43.
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Abb. 1 Der Oktoberklub zum Abschluss des Festes der Jugend und Sportler am 29. Juni 1968: in der Mitte, mit Mikrofon und Gitarre, Lutz Kirchenwitz, davor, im FDJ-Hemd und der Gruppe zugewandt, Siegfried Wein
entwickeln konnte, wie Gesellschaft funktionieren könnte«.51 Frank Wagner vom Singeklub Elan der Pädagogischen Hochschule Dresden erinnert sich ebenfalls an lebendige Diskussionen in den Proben als wichtigen Teil der Singeklubarbeit: »[D]ie Proben, das waren eigentlich Diskussionsrunden. Wir haben die ganze Zeit diskutiert, was denn eigentlich hier los ist [gemeint ist die Zeit Mitte der 1980er Jahre], in d iesem Land. Und haben dann versucht, das in Liedtexte einzubinden.«52 Der Anspruch, in und mit den Singeklubs einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, galt also keineswegs nur für die frühe Singebewegung. 51 Interview der Verfasserin mit Cornelia (Conny) Gundermann am 15. April 2018, Track 3, TC 00:23:4 4 – 00:24:02. 52 Interview der Verfasserin mit Frank Wagner am 24. März 2017, Dresden, Track 1, TC 00:17: 45 – 00:18:01.
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3. ›Vertrauen‹ als Bindemittel z wischen den Generationen Anlass zu Loyalitätskonflikten gab es für die Singebewegten von Anfang an. Auf eine erste Bewährungsprobe wurden die Mitglieder des Oktoberklubs durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag im Jahr 1968 gestellt. Für die meisten von ihnen war die Situation im tschechoslowakischen Nachbarstaat ein eindeutiger Fall: Ihr Vertrauen in die Parteiführung und in deren Bewertung der Situation veranlasste den Oktoberklub dazu, im FDJ-Lager Plau am See ein Plädoyer für die Niederschlagung der »Konterrevolution« zu verlesen. Regina Scheer dichtete zu diesem Anlass einen Liedtext, der – zwar nachdenklich gestimmt – für die militärische Intervention Partei ergriff.53 Auch der ›Singebewegungsklassiker‹ der ersten Jahre, Hartmut Königs Sag mir, wo du stehst, wurde dem Plädoyer des Oktoberklubs als politisch-musikalische Standortbeschreibung für den Einmarsch hinzugefügt. Nur einzelne Mitglieder des Klubs weigerten sich, das Statement mitzutragen, und gingen für die Erklärung nicht auf die Bühne.54 Es wäre leicht, die damalige Parteinahme des Großteils der Mitglieder des Oktoberklubs für den Einmarsch in Prag als unmündige Reaktion ideologisch beeinflusster junger Menschen zu werten – und damit abzutun. Sicher, eine gewisse 53 Das Lied heißt Ich bin wie alle blind geboren, vertont wurde es von Fred Krüger. In einer Dokumentation des niederländischen Senders VPRO von 1992 erinnert sich Regina Scheer an »Funktionäre aus Berlin«, w elche angereist und den Oktoberklub zu einer musikalischen Stellungnahme aufgefordert hätten. Regina Scheer war, so erinnerte sie sich, stolz über den Auftrag, weil sie damals aufgrund ihrer »Dummheit« als 18-Jährige die Bedeutung des Einmarsches nicht begriffen habe und daher für ihn gewesen sei, gern nachgekommen: Sag’ mir, wo du stehst. Aussagen über den Oktoberklub. NL 1992. TC 00:32:53 – 00:36:05. Anfang der 1970er Jahre zog sich Regina Scheer aus dem Oktoberklub zurück. 54 Der Auftrag für eine Stellungnahme in Form einer ganzen Veranstaltung sei direkt vom ZK der SED ausgegangen. Nach heftiger Diskussion im Klub hatten sich die meisten Klubmitglieder entschlossen, die Veranstaltung durchzuführen, einige lehnten ihre Mitwirkung ab: Lied und soziale Bewegungen e. V.: Und das war im … 30 Jahre Oktoberklub. Die wichtigsten Daten und Dokumente von 1966 – 1990. Berlin 1996, etwa S. 6; Interview der Verfasserin mit Lutz Kirchenwitz am 12. April 2017, Berlin, Track 1, TC 00:29:09 – 00:29:24 – auf Nachfrage am 27. Juni 2020 erinnerte sich Lutz Kirchenwitz insbesondere an eine Person aus dem Klub, welche bei der Veranstaltung nicht mitgemacht habe. Bettina Wegner, welche gegen den Einmarsch Flugblätter verteilte, soll hier etwas außen vor gelassen werden, da sie sich zu diesem Zeitpunkt – über ein Jahr nach der Umbenennung des Hootenanny Clubs in den Oktoberklub – aus diesem bereits zurückgezogen hatte und daher nur noch bedingt als aktives Mitglied des Oktoberklubs gezählt werden kann. Im Interview mit Lutz Kirchenwitz sprach sie davon, dass sie sich Ende 1967, Anfang 1968 aus dem Klub zurückgezogen habe. Interview Lutz Kirchenwitz mit Bettina Wegner, 1. Juli 2013, Archiv des Vereins Lied und soziale Bewegungen e. V., Berlin.
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politische Unbedarftheit durch ihre zumeist geschonten Lebenswelten sowie eine große Selbstsicherheit, auf der ›richtigen‹ Seite zu stehen, war vielen Singebewegten in den späten 1960er Jahren eigen. Das Schlüsselwort war jedoch Vertrauen – in die Entscheidungen der älteren Genoss*innen, in den (Staats-)Sozialismus im Allgemeinen und in die DDR im Speziellen. Dorothee Wierling hat das Mindset der zwischen 1945 bis 1955 Geborenen, zu denen die erste Alterskohorte 55 der Singebewegten gehörte, in ihrer Beschreibung des Jahrgangs 1949 eingefangen. Ihr zufolge waren diese in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass die führenden SED-Funktionär*innen die Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand oder im Lager überstanden hatten und dass deren Auftrag von der DDR als einer friedlichen (und besseren) sozialistischen Gesellschaft an sie als nachfolgende Generation weitergegeben wurde.56 Diese Beobachtungen stehen mit der Bewertung des Einmarschs durch den Oktoberklub insofern in Zusammenhang, dass Loyalitätskonflikte unter Singe55 Im Folgenden soll der Begriff der Generation nur im analytischen Sinne einer Selbstbeschreibung der Singebewegten verwendet werden. Diese findet sich, wie gezeigt werden wird, sowohl in Quellen der 1960er Jahre, spitzt sich jedoch in den 1980er Jahren zu und führt zu einem Schulterschluss der nach 1945 Geborenen gegenüber den zumeist älteren Jahrgängen der SED -Führung. Jenseits dieser Selbstpositionierungen und um die Geburtsjahre der Singebewegten zu fassen, verwende ich die neutraleren Begriffe Jahrgänge und Alterskohorten. In den von mir geführten narrativen Interviews lassen sich drei Kohorten von den jeweils älteren Alterskohorten sowohl stilistisch als auch inhaltlich in ihrem Selbstempfinden abgrenzen: erstens die 1945 – 1955 Geborenen (welche mit Dorothee Wierlings »Jahrgang 1949« deckungsgleich sind), zweitens die 1955 – 1965 Geborenen und drittens die um/nach 1965 Geborenen. Zur Problematisierung des Generationsbegriffs vgl. Ulrike Jureit: Generation, Generationalität, Generationenforschung. In: Docupedia- Zeitgeschichte, 03. 08. 2017, Version 2.0. Abgerufen unter URL : http://docupedia.de/zg/ Jureit_generation_v2_de_2017, letzter Zugriff: 03. 07. 2021 sowie Bernd Weisbrod: Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2005). Abgerufen unter URL : https://www.bpb.de/apuz/29215/generationund-enerationalitaet-in-der-neueren-geschichte?p=all, letzter Zugriff: 01. 07. 2021; zum »Jahrgang 1949« vgl. Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR . Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002; weiterhin zu den Generationen in der DDR : Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2009; Bernd Lindner: Zwischen Integration und Distanzierung: Jugendgenerationen in der DDR in den sechziger und siebziger Jahren. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B45 (2003), S. 33 – 39; Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR . Darmstadt 2008; Hartmut Zwahr: Umbruch durch Ausbruch und Aufbruch: Die DDR auf dem Hohepunkt der Staatskrise 1989. Mit Exkursen zu Ausreise und Flucht sowie einer ostdeutschen Generationenübersicht. In: ders. u. a. (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR (wie Anm. 3), S. 426 – 4 65, besonders S. 447 – 452. 56 Vgl. Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins (wie Anm. 55), S. 556.
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bewegten eher die Ausnahme waren:57 Partei, Staat und Gesellschaft befanden sich im Jahr 1968 für viele Singebewegte weitgehend im Einklang. Der beinahe ungebrochene Respekt und das Vertrauen des Oktoberklubs in die Lebenserfahrung und das Urteilsvermögen der älteren Genoss*innen stehen für die Haltung vieler Singeklubmitglieder dieser Zeit. Ende der 1980er Jahre hatte sich die außen- wie innenpolitische Situation, aber auch die innere Zusammensetzung der Singebewegung im Vergleich stark verändert. Es waren nun die Jahrgänge der nach 1955 Geborenen, die nachrückten, wobei insbesondere die 1955 bis nach 1965 Geborenen die spätere Singebewegung prägten. Sie waren in einer anderen, gefestigten DDR aufgewachsen und weniger durch die Kriegserfahrungen der älteren Generationen belastet. In den 1970er Jahren konsolidierte sich die DDR (1973 wurde sie offiziell von den Vereinten Nationen anerkannt). Dies wirkte auf das Selbstbewusstsein der Singebewegten zurück, zugleich setzte sich ein weniger enthusiastischer denn optimistisch-pragmatischer Ton in ihren Liedern durch. Ende der 1970er Jahre differenzierte sich die Singebewegung aus und mit der ästhetischen ging häufig auch eine politische Distanzierung zum »Ghetto der Singebewegung« einher.58 Noch deutlicher veränderte sich der Ton in den 1980er Jahren, zu deren Beginn unter anderem der Gruppe Schicht (ursprünglich und in mehreren Ausgründungen hervorgegangen aus dem Hootenanny Club Dresden) die Auslandsauftritte verwehrt wurden und Gerhard Gundermann 1984 aus der SED ausgeschlossen wurde.59 Den Wendepunkt stellte der Amtsantritt Michail Gorbatschows dar. In fast allen von mir geführten Interviews, vom Mitglied des kleinsten Singeklubs bis hin zu Hartmut König richteten sich alle Hoffnungen auf die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im Land des ›großen Bruders‹. Ab Mitte der 1980er Jahre traten jüngere Singebewegte in die SED 57 Dieser Beobachtung liegen insgesamt 10 von mir (5) und dem Verein Lied und soziale Bewegungen e. V. (5) geführte Interviews mit Protagonist*innen der erste Jahrgänge der Singebewegung sowie die in dem vorliegenden Beitrag aufgeführten Transkripte der Podiumsdiskussionen zugrunde. In ihren Erinnerungen sprachen außer Bettina Wegner und Jörn Fechner auch Bernd Rump (damals Gruppe pasaremos Dresden) und Georg Bach (Oktoberklub) über eine zwiespältige Haltung zum Einmarsch in Prag. Interview Stefan Körbel mit Bernd Rump, Januar 2011. Archiv des Vereins Lied und soziale Bewegungen e. V., Berlin, sowie Georg Bach in der Dokumentation des VPRO: Sag’ mir, wo du stehst. Aussagen über den Oktoberklub. NL 1992. 58 Hans-Eckardt Wenzel zu den Folgen der Biermann-Ausbürgerung, zit. nach: Kirchenwitz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR (wie Anm. 6), S. 116. 59 Interview der Verfasserin mit Jürgen Magister am 5. Februar 2019, Dresden; Andreas Leusink: Gundermann und seine Partei. Ein Zwischenruf. In: ders. (Hrsg.): Gundermann. Von jedem Tag will ich was haben, was ich nicht vergesse … Briefe, Dokumente, Interviews, Erinnerungen. Berlin 32018, S. 91 f., hier S. 92.
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ein, in der Hoffnung, jetzt wirklich etwas verändern zu können und ›denen da oben‹ mal zu erklären, wie die Dinge an der Basis wirklich standen.60 Sehr stark schwang hier die Hoffnung mit, als jüngere Generation Gehör zu finden.61 Der anfänglichen Euphorie folgte jedoch das erneute und durch die enttäuschten Hoffnungen beinahe übermächtige Gefühl von Ohnmacht und Frustration, das sich im Verhalten und den Programmen der Singebewegten immer deutlicher zeigte. Das Vertrauen in führende SED- und FDJ-Funktionär*innen schwand zusehends und wurde durch die immer offener zu Tage tretenden Misstrauenspraktiken der Parteiführung, auch gegen die Singebewegten, verstärkt.62 Diese Erfahrung schien ältere wie jüngere Singebewegte geeint zu haben, weshalb ich in diesem Zusammenhang spätestens ab Mitte der 1980er Jahre von einer Frontstellung der nach 1945 Geborenen gegenüber der Generation der SED-Führung um Erich Honecker sprechen würde.
4. Verantwortung in der Singebewegung der späten 1980er Jahre Durch die Reformunwilligkeit der SED-Führung sowie deren Unnachgiebigkeit, die Jüngeren in politisch verantwortliche Positionen zu bringen, rieb sich gegen Ende der 1980er Jahre auch der Oktoberklub zunehmend an den politischen Funktionsträgern auf. Auch hier ist wieder ein Blick auf die Zentralen Werkstattwochen der Singeklubs aufschlussreich: Das Verhalten der Singebewegten wurde im Bericht über die 19. Zentrale Werkstattwoche 1988 vom Abteilungsleiter für Kultur des Zentralrats der FDJ als eine »bis zur politischen Sturheit reichende 60 Diese Argumentation findet sich sowohl in den Erinnerungen von Jens Quandt, dem letzten Leiter des Oktoberklubs, sowie Frank Wagner aus dem Singeklub Elan der PH Dresden. Beide traten 1986 (Quandt *1964) und zwischen 1986 – 1988 (Wagner *1961) in die SED ein – Jens Quandt dann 1989 wieder aus. Interview der Verfasserin mit Jens Quandt, 25. Juli 2017, Berlin und Dr. Frank Wagner, 24. März 2017, Dresden. 61 Den hier beobachteten Konflikt zwischen den Generationen hat Dorothee Wierling für den ›Jahrgang 49‹ auf den Punkt gebracht, wobei in meinen Beobachtungen Ende der 1980er Jahre auch die nach 1955 Geborenen in diesen Konflikt mit einbezogen sind. Dorothee Wierling: How Do the 1929ers and the 1949ers Differ? In: Mary Fulbrook (Hrsg.): Power and Society in the GDR, 1961 – 1979. The ›Normalisation of Rule‹? New York/Oxford 2009, S. 204 – 219. 62 Anschaulich diskutiert Juliane Brauer das Wechselspiel von Vertrauen und Misstrauenspraktiken für die Mitte der 1960er Jahre: Brauer: Zeitgefühle (wie Anm. 11), S. 209 – 252. Ein Zeichen dafür war auch die steigende Anzahl von Inoffiziellen und Gesellschaftlichen Mitarbeitern unter den Singebewegten ab Mitte der 1970er Jahre.
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Widerspruchshaltung gegenüber den Entscheidungen des Jugendverbandes«63 beschrieben. Protesthaltung, deutliche Liedtexte und die wachsende Beobachtung sowie ansteigende gelungene Anwerbungen wie Anwerbungsversuche innerhalb der Szene durch das Ministerium für Staatssicherheit waren Symptome der misstrauischen Beziehung zwischen Machthabenden und Singebewegten sowie der Singebewegten untereinander. Ein Dreh- und Angelpunkt d ieses grundsätzlichen Streits, der auch das Politbüro erreichen sollte, war das Lied Verantwortung. Das Lied war Teil eines Programms gleichen Namens, das Martin Miersch, Gerd Eggers und Udo Magister 1987 gemeinsam mit dem Singeklub Sturmvögel Schwerin erarbeitet hatten.64 Der Konflikt entzündete sich mit jener 19. Zentralen Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs im Juli 1988 in Erfurt. Der dortige Erste Sekretär der SEDBezirksleitung, Gerhard Müller, schrieb am 25. Juli, kaum eine Woche nach dem Ende der Werkstattwoche, einen entrüsteten Brief an das Politbüromitglied Egon Krenz. Gerhard Müller schienen die Texte auf der Werkstattwoche und das Auftreten der Singebewegten derart erbost zu haben, dass er die betreffenden Singegruppen und mit ihnen die ganze Singebewegung als politisch »feindlich« stigmatisierte und sich politisch entschieden von ihr distanzierte. So schloss Müller, die Werkstattwochen s eien dem Zentralrat der FDJ aus den Händen geglitten, sogar in der Beratergruppe hätten sich »viele politisch verworrene und offensichtlich auch negative, um nicht zu sagen, feindliche Kräfte gesammelt, die nichts mehr mit der Singebewegung der FDJ zu tun haben«.65 In der Information der Abteilung Kultur des Zentralrats der FDJ über die 19. Zentrale Werkstattwoche heißt es zudem: Vor allem in der Diskussion um das Lied »Verantwortung« wurde deutlich, daß viele der aufgeworfenen Fragen verstärkt unter dem Generationsaspekt betrachtet werden. […] Heftige und von Ungeduld gekennzeichnete Diskussionen gingen einher mit einer deutlich rückläufigen Kooperationsbereitschaft auch gegenüber dem Zentralrat der FDJ, so daß es aus der sensibilisierten Situation während der Werkstatt heraus nicht gelang, alle Elemente bestimmter Auffassungen aus dem Abschlußprogramm, das ja traditionell aus den Ergebnissen der Werkstattarbeit zusammengestellt wird, herauszuhalten.
63 BArch, DY 24/21105, Information über die 19. Zentrale Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs 1988 in Erfurt, 9 Bl., hier Bl. 4 (unpag.). 64 BA rch, DY 24/20646, Programm Verantwortung des Schweriner Singeklubs Sturmvögel (unpag.). 65 BArch, DY 24/23624, Brief Gerhard Müller an Egon Krenz, 25. Juli 1988, 2 Bl., hier Bl. 2 (unpag.).
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Eine Reihe von politisch fragwürdigen Liedern, wie »Verantwortung«, konnten aus dem Abschlußprogramm gestrichen werden. Andere Lieder (z. B. »… [Unmut wächst] trotz aller Mühe«) wurden bei z. T. scharfen Auseinandersetzungen in letzter Minute in das Programm hineingedrückt. Die argumentative Begründung administrativer Eingriffe in das Eröffnungsprogramm und Abschlußprogramm wurde von vielen Werkstatteilnehmern und z. T. auch Mitgliedern der Beratergruppe abgelehnt, eine gewisse, bis zur politischen Sturheit reichende Widerspruchshaltung gegenüber den Entscheidungen des Jugendverbandes war deutlicher spürbar als zuvor. […] Die offenbar gewachsenen grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten z wischen Zentralrat der FDJ und einigen Mitgliedern der Zentralen Beratergruppe erfordern eine noch stärkere personelle Neuformierung und die Wiederherstellung einer gemeinsamen politischen und künstlerischen Handlungsbasis.66
Folgt man der Schilderung Gerhard Müllers, dann war es nicht nur zu einem eklatanten Temperaturunterschied in der Haltung der Singebewegten, sondern auch zur Solidarisierung zwischen Singebewegten und der Beratergruppe gegenüber hauptamtlichen Funktionär*innen gekommen. Die 19. Zentrale Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs im Jahr 1988 war dann auch die letzte. Tatsächlich hatte sich der Tonfall der Singebewegten deutlich verändert. Was Gerhard Müller als »negative Kräfte« bezeichnete, kann ganz wörtlich genommen werden: Von dem enthusiastischen Optimismus der ersten Singebewegten in den 1960er Jahren war kaum etwas übriggeblieben. Einige der auf der Werkstattwoche angemahnten Texte (Wasserproben, Stahlhelm – beide aus der Feder Gerd Eggers) behandelten stattdessen in düsterer Klarheit Tabus, die normalerweise von Gruppen jenseits des staatskulturellen Spektrums thematisiert wurden: hier die Umweltverschmutzung und die NVA.67 Eine positiv-affirmative Haltung ist in diesen Liedern nicht mehr zu erkennen. Optimismus jedoch war und blieb eine zentrale politisch-ästhetische Maxime sozialistisch-realistischer Kunst, welche die Bevölkerung mobilisieren sollte, das Projekt Sozialismus mitzugestalten. Zu offenherzige Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ohne konstruktive Verbesserungsvorschläge dagegen spiele, so häufig die offizielle Argumentation, dem Klassenfeind in die Hände. Das Lied Verantwortung erregte Aufsehen, obwohl es sich auf den ersten Blick versöhnlich ausnimmt: 66 BArch, DY 24/21105, Information über die 19. Zentrale Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs 1988 in Erfurt, 9 Bl., hier Bl. 3 ff. (unpag.). 67 BArch DY 24/21105, Information über die 19. Zentrale Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs 1988 in Erfurt, Bl. 8 f. (Anhang).
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Verantwortung Es könnte sein, ihr habt noch immer Sorgen, wie es nach euerm Tode weitergeht. Wir waren nicht im Lager, und wir haben uns niemals eingepißt im Schützengraben, wir kennen nicht die Illegalität. [Text auf der Aufnahme: Uns fremd die Angst der Illegalität.] Es könnte sein, wir werden was verändern und weisen Fehler nach, die euch geschehn. Was ihr als Lebenswerk verteidigt, halten wir in Ehren, doch es wird veralten, auch wenn es weh tut, was wir schon verstehn. Es könnte sein auf eure alten Tage, daß ihr das alles selber noch erlebt. Wir hofften lange nur im Stillen, Leisen, [Aufnahme: Wir hofften viel zu lange nur im Leisen,] wir könnten es euch selber noch beweisen, daß ihr den Stab in gute Hände gebt. Es könnte sein, wir können drüber reden, auch wenn ihr uns vielleicht respektlos nennt. Wir müssen endlich lernen, uns zu streiten, [Aufnahme: Wir müssen wieder lernen, uns zu streiten,] gerade jetzt, in so bewegten Zeiten, und weil man für die gleiche Sache brennt.68
Hier tritt die jüngere Generation gegenüber den ›Gründungsvätern und -müttern‹ der DDR geschlossen auf. Deren Erlebnisse von Krieg und Verfolgung werden anerkannt, gleichzeitig wird mit ihrer Unantastbarkeit gebrochen. Deutlich artikuliert wird eine Schieflage z wischen den Generationen: Die Jüngeren hätten vergebens »im Stillen« gehofft, von den Älteren als würdige Nachfolger*innen 68 Reine Textfassung: BArch, DY 24/21105, Information über die 19. Zentrale Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs 1988 in Erfurt, 9 Bl., hier Bl. 6. Transkript der Aufnahme von: Die Verantwortung. Text: Martin Miersch. Musik: Udo Magister. In: CD Oktoberklub – life. Nebelhorn Musik (033). 1996, Nr. 15.
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mit eigenen Ideen ernst genommen und in Ämter und Funktionen gelassen zu werden, um politisch gestalten zu können. Es fehle an einer produktiven Streitkultur. Man habe dasselbe Ziel, dennoch würden die Jüngeren von den Älteren als respektlos empfunden. Der Generationenvertrag scheint gebrochen: So wie die Jüngeren das Erbe der Älteren verantwortungsvoll behandeln, liegt es in der Verantwortung der älteren Generation, den Jüngeren politische Gestaltungsmacht zu geben. Wie Juliane Brauer herausgearbeitet hat, kann Vertrauen nur als Vorschuss (gesellschaftliche und hier: intergenerationelle) Bindung erzeugen – nicht als Belohnung.69 Dies war den älteren Genoss*innen aufgrund ihrer eigenen, oft traumatischen Erlebnisse von Verfolgung und Exil jedoch kaum möglich. Das Lied Verantwortung klingt in seiner Zurückhaltung für heutige Ohren vielleicht eher wie eine Bitte. Dennoch wurde es von leitenden Funktionär*innen offenbar als derartiger Angriff gewertet, dass es aus dem Abschlussprogramm der 19. Zentralen Werkstattwoche 1988 in Erfurt aus dem Programm gestrichen wurde. Es war auf der Werkstattwoche von den Sturmvögeln vorgetragen worden.70 Die beteiligten Singebewegten wollten dies aber nicht auf sich beruhen lassen, und so geriet der Fall in den Blick des Ministeriums für Staatssicherheit, dessen Mitarbeitenden das Lied im November 1988 wie folgt interpretierten: »Dieses Lied beinhaltet, daß die junge Generation der DDR zwar das bisher in der Gesellschaft Vorgefundene entgegennimmt, aber die Jugend aufgerufen wird, in Zukunft alles ganz anders zu machen, da die Verantwortlichen in der Vergangenheit alles falsch gemacht hätten.« Weiterhin ist in dem Bericht zu lesen, dass der Autor Martin Miersch trotz »vieler mehrstündiger Diskussionen« dabei geblieben sei, das Lied zur Aufführung bringen zu wollen. Zudem hätten sich »[v]erschiedene Kräfte in der FDJ-Singebewegung« mit Martin Miersch und dem Lied solidarisiert und wollten die Aufführung »einige[r] andere[r] problembeladene[r] Lieder« zum nächsten Festival des politischen Liedes unterstützen.71 Die involvierten Akteure wollten sich offenbar von den Einschüchterungsversuchen nicht beeindrucken lassen. Am 13. Dezember 1988 gab es im Kulturhaus Peter Edel in Berlin-Weißensee eine Gedenkveranstaltung zum 70. Gründungs jubiläum der KPD. Der Oktoberklub trat unter anderem mit dem Lied Der Landarbeiter (Text: Heinz Kahlau) auf – und wurde von einem aufgebrachten Ersten 69 Brauer: Zeitgefühle (wie Anm. 11), S. 209 – 252, hier S. 220. 70 BArch, MfS, HA XX, Nr. 8512, Information. Probleme im Bereich des Festivals des politischen Liedes der FDJ vom 1. November 1988, 3 Bl., hier Bl. 1; BArch, DY 24/21105, Information über die 19. Zentrale Werkstattwoche der FDJ-Singeklubs 1988 in Erfurt, 9 Bl., hier Bl. 4 (unpag). 71 BArch, MfS, HA XX, Nr. 8512, Information. Probleme im Bereich des Festivals des politischen Liedes der FDJ vom 1. November 1988, 3 Bl., hier Bl. 1.
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SED-Kreissekretär, Arno Wendel, von der Bühne geholt.72 Im Landarbeiter wird
ein älterer Parteigenosse porträtiert. Zum Schluss heißt es: Im März wird er Rentner, sein Nachfolger steht seit zwei Jahren ganz sicher fest. Doch das sagt ihm keiner, man ist überzeugt, daß er sich nicht ablösen lässt.73
Auch die Leitung des Festivals des politischen Liedes zeigte sich uneinsichtig gegenüber politischen Beeinflussungsversuchen. In einem MfS-Bericht ist der Konflikt aus der Sicht der Staatssicherheit zusammengefasst: Schon im Oktober 1988 sei es in der Festivalleitung zu Auseinandersetzungen gekommen, ob die Sturmvögel das Lied Verantwortung auf dem Festival im Februar 1989 singen sollten. Der FDJ-Zentralrat habe zunächst durchgesetzt, dass das Lied nicht gesungen werde, woraufhin Karin Wolf (Akademie der Künste Berlin) und Tanja Braumann (DT 64) aufgrund der sich »entzündenden Diskussionen und der prinzipiellen Haltung des Zentralrates der FDJ« die Festivalleitung verlassen hätten.74 Es sei vom Zentralrat der FDJ eine »kontinuierliche politische Beeinflussung« veranlasst worden, indem Eberhard Aurich (Erster Sekretär des Zentralrats der FDJ) und Philipp Dyck (Sekretär für Kultur des Zentralrats der FDJ) mit den Liedermachern Arno Schmidt, Gerhard Gundermann und Stefan Körbel Gespräche geführt hätten. Es kam dennoch zum Eklat: So trat der Oktoberklub entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Genossen Eberhard Aurich am 14. 2. 1989 in der Volksbühne im Rahmen seines Programms »Was tun« mit dem obengenannten Lied »Verantwortung« des Schweriner Singeklubs »Sturmvögel« auf. Am 13. 1. 1989 wurde bekannt, daß im Programm des Stefan Körbel […] ein Lied enthalten ist, das die Tätigkeit des MfS verunglimpft. – »Uwe das Beuteltier«. […]
72 Brief des Oktoberklubs an Arno Wendel über die Festveranstaltung am 13. Dezember 1988, 1. Januar 1989. Privatbesitz Jens Quandt (Abschrift). 73 Der Landarbeiter. In: Heinz Kahlau. Fundsachen. Gedichte, hrsg. vom Aufbau-Verlag. Berlin/ Weimar 31988, S. 22 und S. 24. 74 In einem anderen MfS-Bericht vom November 1988 heißt es, dass Karin Wolf und Tanja Braumann aus der Festivalleitung ausgeschlossen worden seien, weil insbesondere Karin Wolf eine Dokumentation über die Zensurversuche des FDJ-Zentralrats habe anlegen wollen bzw. mit Hilfe anderer Singeklubs wie etwa der Sturmvögel bereits angelegt habe. BArch, MfS, HA XX, Nr. 8512, Information. Probleme im Bereich des Festivals des politischen Liedes der FDJ vom 1. November 1988, 3 Bl., hier Bl. 1 f.
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Abb. 2 Der Oktoberklub in den 1980er Jahren Im Ergebnis unserer konsequenten operativen Einflußnahme auf die verantwortlichen Funktionäre des ZR [Zentralrats] der FDJ und den Stellvertretenden Minister für Kultur, Genossen Hartmut KÖNIG , wurde erreicht, daß KÖRBEL Abstand von der Aufführung seines Programms am 17. 2. 1989 nahm. […] Am 15. 2. 1989 fand im Großen Saal der Kongreßhalle die Veranstaltung »Wann wir streiten Seit’ an Seit’« vor ca. 600 Anwesenden statt. Im Verlauf des Abends wurde wiederum das Lied »Verantwortung« durch den Oktoberklub aufgeführt und es kam durch die DDR-Liedermacher Udo MAGISTER [… und] Gerd EGGERS […] zu teilweise provokatorischen Auftritten. […] Während seines Auftrittes verunglimpfte der EGGERS die Kulturpolitik der Partei und die Auszeichnungspraxis des Staates zu feierlichen Anlässen. Auch hier war zu verzeichnen, daß das Publikum in der Kongreßhalle die provokatorischen bzw[.] politisch problematischen Passagen des Programms mit besonderem Beifall bedachte.75
75 Alle Zitate dieses Abschnitts: BA rch, MfS, HA XX , Nr. 15680, Bemerkungen zu Pro blemen über den Verlauf des 19. Festivals des politischen Liedes vom 11.02. – 19. 02. 1989, Bl. 107 – 110.
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Diese Beispiele zeigen, wie sich Singebewegte genauso wie Texter bzw. Liedermacher und die Mitglieder der Zentrale Beratergruppe und der Festivalleitung sich in ihrem Wunsch nach freier Rede und gesellschaftspolitischer Entwicklung zunehmend von den Einhegungsbemühungen und Zensurversuchen insbesondere durch den FDJ-Zentralrat befreiten und das intergenerationelle Verhältnis zur Diskussion stellten. Maßregelungen der FDJ- und SED-Funktionär*innen provozierten zunehmend die Solidarisierung untereinander. Die nächste Stufe der Solidarisierung unter den Kulturschaffenden wurde im Spätsommer 1989 erreicht. Hatten sich die Konflikte der 1960er Jahre zwischen Singebewegten mit den FDJ- und SED-Leitungsebenen überwiegend um den Funktionalisierungs- und Institutionalisierungsdrang der verantwortlichen Funktionär*innen gedreht,76 schlug der eingangs zitierte Brief an Egon Krenz zum 40. Jahrestag der DDR grundsätzlichere Töne an: Nicht, daß wir nicht stolz wären auf sichtbare und weniger sichtbare Errungenschaften der letzten Fünfjahrplan-Etappe oder daß wir nicht satirisch die eine oder andere Scharte auswetzen könnten, damit also die DDR ehrend, indem wir uns nützen. Es geht aber nicht mehr darum, über kleine Fehler zu lachen, sondern es gilt auf ein Klima im Lande künstlerisch und politisch zu reagieren, um überhaupt eine feierliche Atmosphäre am 7. 10. 1989 möglich zu machen. Es sind nicht Scharten, sondern Breschen geschlagen worden. Durch diese freilich sendet der Gegner seine Pfeile, wer will es ihm verdenken! Wenn nicht bald eine Diskussion in Gang kommt, egal ob auf einem alten oder neuen Forum, zumindest schleunigst in der Partei, dann wird jenen Kräften Vorschub geleistet, die sich nicht wie mancher gute Genosse vor den Kopf gestoßen fühlen, sondern die sich zum Systemkampf im eigenen Land herausgefordert fühlen. Es gibt wohl kaum einen Kulturschaffenden, der nicht in letzter Zeit mittels seines Parteikollektivs oder mittels anderer Kollektive auf seinen tiefen Konflikt z wischen seinem Schaffenswillen zum Wohle dieses Landes und verschiedenen, den Schaffenswillen lähmenden Erscheinungen aufmerksam gemacht hat […]. Die Lage ist ernster, als man an der Spitze der Pyramide des demokratischen Zentralismus vermuten mag. […] Dies[,] lieber Egon, war ein Brief von der Basis, und zwar ein zutiefst besorgter.
76 Zum Fall des Liedes Wenn der Heinrich aber nun nicht mitsingt, in dem die von der SED gewünschte Durchherrschung der Singebewegung auf die Spitze getrieben wurde: Cornelia Bruhn: Singing for Socialism. The FDJ-Singing Movement in Late-1960s German Democratic Republic (GDR). In: Jan Blüml/Yvetta Kajanová/Rüdiger Ritter (Hrsg.): Popular Music in Communist and Post-Communist Europe ( Jazz under State Socialism, 6). Berlin 2019, S. 151 – 162.
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Wir haben unsere Loyalität gegenüber unserer Republik im In- und Ausland hoffentlich genug unter Beweis gestellt, um nicht mißverstanden zu werden.77
Das Besondere an d iesem Brief des Oktoberklubs war das Auftreten seiner Mitglieder. Sie hatten von Beginn an den Anspruch gehabt, durch das von ihnen gewählte Medium des politischen Liedes Diskussionen anzuregen, um eine Verbesserung der Gesellschaft zu erzielen, die ›Überlegenheit des Sozialismus und der DDR‹ im Ost-West-Konflikt agitatorisch zu verbreiten und auch, die sozialistische Gesellschaft humorvoll zu spiegeln und zu reflektieren. Im Herbst 1989 gingen sie darüber hinaus. Die Mitglieder des Oktoberklubs versuchten das kulturpolitische Kapital der Singebewegung einzusetzen, um über Egon Krenz das Politbüro zum Handeln zu bewegen. Durch ihre Weigerung versuchten sie, der SED-Führung deren Abhängigkeit von »der Basis« zu spiegeln, und brachten sich stärker noch als bisher als gesellschaftliche Akteure ein. Ihr Verweis auf ihre grundlegende Loyalität zeigt, dass sie sich den Repressionsmechanismen des SED-Staates durchaus bewusst waren.78 Auch der Zeitpunkt des Briefes, der 27. September 1989, mochte zu solchen Worten gedrängt haben. Die individuellen Sinnkrisen der Mitglieder des Oktoberklubs sind in der Beschreibung der »tiefen Konflikte« der Kulturschaffenden zwischen eigenem »Schaffenswillen« und dessen Lähmung, so scheint es, mitbenannt. Der Aufruf zur Diskussion in »alten und neuen Foren« ist am 27. September brisant: Am 4. September fand in Leipzig die erste Montagsdemonstration statt, wenige Tage s päter bildete sich das Neue Forum. Dessen Gründungsaufruf vom 9./10. September konstatierte eine »gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft« und rief zu einem »demokratische[n] Dialog« auf.79 Nachdem der Antrag des Neuen Forums vom 19. September, als Vereinigung zugelassen zu werden, abgelehnt worden war, protestierten am 25. September in Leipzig ca. 5.000 Menschen unter anderem gegen dieses faktische Verbot.80 Das beinahe 77 Brief des Oktoberklubs an Egon Krenz vom 27. September 1989 (wie Anm. 1), S. 1 f. 78 Zur wechselseitigen Abhängigkeit von Herrschenden und Beherrschten vgl. Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen (wie Anm. 4), S. 21 ff., besonders S. 22. 79 »Aufbruch ’89 – Neues Forum«, Dokument und Transkript in: Lebendiges Museum Online (LeMO). Abgerufen unter URL: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/dokument-aufbruch-89.html, letzter Zugriff: 18. 06. 2021. 80 LeMO (= Artikel Irmgard Zündorf/Claudia Wagner/Regina Haunhorst: Jahreschronik 1989). Abgerufen unter URL: https://www.hdg.de/lemo/jahreschronik/1989#jptojuni, letzter Zugriff: 06. 08. 2021; LeMO (= Dokument »Aufbruch ’89 – Neues Forum«). Abgerufen unter URL: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/dokument-aufbruch-89. html, letzter Zugriff: 06. 08. 2021; Chronik der Mauer, ein gemeinsames Projekt des ZZF Potsdam, der Bundeszentrale für politische Bildung und des Deutschlandradios (= Gründungsaufruf
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ngebrochene Vertrauen, das der Klub 20 Jahre zuvor der SED -Führung entu gegengebracht hatte, schien weitgehend aufgebraucht. Der Brief scheint der letzte Versuch gewesen zu sein, miteinander ins Gespräch zu kommen:81 Er war keine öffentliche Positionierung des Oktoberklubs für das Neue Forum – wie es scheint, hatte der Oktoberklub den Aufruf des Neuen Forums und auch die Resolutionen nie vor den Konzerten verlesen 82 –, sondern der Versuch, hinter den Kulissen Einfluss zu nehmen und Veränderung zu bewirken. Eine, wenn auch nur vorsichtige, da kleingeschriebene, Solidarisierung mit dem Neuen Forum war zu d iesem Zeitpunkt provokant. Am 18. September schlossen sich die DDR-Liedermacher und Rockmusiker in einer Resolution den Zielen des Neuen Forums an. Unter den Erstunterzeichner*innen war auch Kurt Demmler, Liedermacher und Mitglied des frühen Oktoberklubs. Er durfte, weil er darauf bestand, die Resolution weiter vorzulesen, nur noch in K irchen auftreten.83 Die Situation war angespannt, und so war der Brief des Oktoberklubs auch ein Versuch, eine gewaltvolle Eskalation wie im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu vermeiden, zu der sich die SED-Führung inklusive Egon Krenz solidarisch erklärt hatte.84 Doch die Einladung des Klubs zum Gespräch blieb unerhört und stand damit symptomatisch für die weitreichende Entfremdung von Singebewegten und Parteiführung.85 In der Folge traten auch führende Mitglieder des Oktoberklubs, darunter Jens Quandt, Ende der 1980er Jahre künstlerischer und organisatorischer Leiter des Klubs, mit öffentlichen Statements auf. Am 16. Oktober veröffentlichte die Sektion Rock beim Komitee für Unterhaltungskunst eine zweite Resolution, in der es vorwiegend um die Rücknahme von Repressalien gegen Kulturschaffende ging.86
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des Neuen Forums, 10. September 1989). Abgerufen unter URL: https://www.chronik-dermauer.de/material/180971/gruendungsaufruf-des-neuen-forum-10-september-1989, letzter Zugriff: 06. 08. 2021. Brief des Oktoberklubs an Egon Krenz vom 27. September 1989 (wie Anm. 1), Bl. 2. Zumindest erinnert sich Jens Quandt nicht daran, dass dies auf einem (der wenigen) Oktoberklubauftritte in dieser Zeit der Fall gewesen wäre. Telefonat Jens Quandt mit der Verfasserin, 20. Juli 2021. Das Dokument ist einsehbar über die Webseite der Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., Berlin. Abgerufen unter URL: https://www.havemann-gesellschaft.de/18091989-die-zeit-ist-reifresolution-von-ddr-musikern/, letzter Zugriff: 06. 08. 2021. Bernd Lindner: DDR Rock & Pop. Köln 2008, S. 201 f., hier S. 202. Bernd Schäfer: Die DDR und die »chinesische Lösung«. Gewalt in der Volksrepublik China im Sommer 1989. In: Martin Sabrow (Hrsg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen 2012, S. 153 – 172. Interview der Verfasserin mit Jens Quandt, 25. September 2017, Berlin, Track 6, TC 00:10:04 – 00:10:07. Zweite Resolution der Rockmusiker und Liedermacher, veröffentlicht von der Rosa Luxemburg Stiftung. Abgerufen unter URL: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/
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Am 18. Oktober erklärte Erich Honecker seinen Rücktritt und Egon Krenz wurde Generalsekretär des ZK der SED. Am 19. Oktober schloss sich die Sektion Lied und Kleinkunst im Komitee für Unterhaltungskunst dieser zweiten Resolution der Rockmusiker inklusive einer Zusatzerklärung, die die Forderung nach der Rücknahme von Repressionen bekräftigte, an.87 Jens Quandt erinnert sich, dass die Resolution der Sektion Lied von Gina Pietsch, Gerhard Gundermann, HansEckardt Wenzel und Steffen Mensching auf der Veranstaltung Oktober-Rummel am 21. Oktober 1989 in der Akademie der Künste verlesen worden sei,88 er selbst hängte sie in seinem Studienbereich Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin aus.89 Gerhard Gundermann spielte an d iesem Tag in der Akademie der Künste zusammen mit Jens Quandt das Programm Erinnerung an die Zukunft. Ein MfS-Mitarbeiter berichtete von der Veranstaltung, dass sich in der ausgelegten Liste des Neuen Forums niemand eingetragen habe.90 Am 9. November fiel die Mauer und bald darauf schwanden die Hoffnungen vieler Kulturschaffender, den Staatssozialismus in der DDR zu reformieren.
5. Fazit Gesellschaftliches Engagement und staatliche FDJ -Singebewegung, so mag es zunächst scheinen, waren unvereinbare Gegensätze. Die Hootenanny Clubs fanden von Beginn an ihren Raum unter dem Dach der FDJ, die eigentliche Initialzündung der ›Singebewegung‹ fand mit der Veranstaltung Kommt und singt! in der Volksbühne im März 1967 statt. Mit dem Übergang in die Strukturen der FDJ begann eine Zeit parteipolitischer Führung der Singebewegung. Zugleich zeigten sich früh die Konflikte zwischen den kulturpolitischen Ansprüchen der SED- und FDJ-Leitungsebenen und dem Bestreben nach Selbstbestimmung und Spontaneität der Singebewegten.
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Veranstaltungen/2014/2.resolution_liedermacher_89.pdf, letzter Zugriff: 06. 08. 2021. Quelle: Charles Schüddekopf (Hrsg.): »Wir sind das Volk!« Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Hamburg 1990, S. 142 f. Text der Resolution mit handschriftlichem Vermerk »Zur Kenntnis ausgehängt von: Jens Quandt MW IV«. Privatarchiv Jens Quandt. Im Archiv der Akademie der Künste Berlin gibt es eine Filmaufzeichnung des Oktober-Rummels vom 21. 10. 1989, auf dem die vier beim Verlesen der Resolution festgehalten wurden. Akademie der Künste (AdK), Berlin, Liedertheater-Sammlung, Signatur: AVM-33 5022. E‑Mail von Jens Quandt vom 8. Juli 2021 und Telefonate mit der Verfasserin vom 23. Juni und 20. Juli 2021. Christiane Baumann: Die sieben Jahre als Genosse »Grigori«. Akten, Einsichten und Fragen. In: Andreas Leusink (Hrsg.): Gundermann (wie Anm. 59), S. 83 – 89, hier S. 88.
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Dieser Konflikt war in den 1960er Jahren weitgehend in ein grundsätzliches Vertrauen in die Parteipolitik der älteren Genoss*innen eingebettet. Für die Singebewegten waren parteistaatliche und gesellschaftliche Ziele noch weitgehend deckungsgleich. Die ersten Jahre waren geprägt von einem überschwänglichen Enthusiasmus für den Aufbau des Sozialismus, der sich auch in der weitgehend einhelligen Befürwortung des Einmarschs der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 niederschlug. Dies änderte sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte. In den 1970er Jahren wurde die erste Alterskohorte der Singebewegten (geboren 1945 – 1955) erwachsen, die zweite (geboren 1955 – 1965) und dritte Kohorte (geboren um 1965) rückte in die Klubs nach. Die DDR etablierte sich international und so wurde für die jüngeren Jahrgänge die DDR selbstverständlicher, sie waren insgesamt unbefangener und kritischer in ihren Haltungen und Ausdrucksformen. Die Singebewegung differenzierte sich stilistisch aus, einzelne Gruppen versuchten sich grundsätzlich vom Label ›Singebewegung‹ zu emanzipieren. Dennoch blieb auch in den 1970er Jahren unter den Singebewegten eine grundsätzlich affirmative Haltung zum Staatssozialismus der DDR neben einem eher pragmatischeren Umgang zur Lösung alltäglicher Probleme bestehen. Der Tonfall veränderte sich jedoch im Verlauf der 1980er Jahre, in der die dritte Kohorte (geboren um 1965) in die Klubs eintrat. Michail Gorbatschow und seine Reformen waren für viele Singebewegte Hoffnungsträger und Motivation, sich noch intensiver und in deutlicheren Worten um gesellschaftliche Veränderung zu bemühen. Denn die Notwendigkeit von Reformen sahen viele von ihnen inzwischen in aller Deutlichkeit. Durch die Verweigerungshaltung der SED-Führung gegenüber Reformen oder wenigstens ehrlichen Diskussionen bekam das Vertrauen der Singebewegten in die politische Gestaltungskraft und das politische Urteilsvermögen der SED-Führung – hier am Beispiel des Oktoberklubs ausgeführt – deutliche Risse. Ende der 1980er Jahre wurden insbesondere die Zensur und das intergenerationelle Verhältnis z wischen Singebewegten und SED-Führung zum neuralgischen Punkt und entzündete sich unter anderem an Liedern wie Verantwortung, Der Landarbeiter, Wasserproben oder Stahlhelm. Trotz mehrfacher Verbote und versuchter Einflussnahme nach der Präsentation des Liedes Verantwortung auf der 19. Zentralen Werkstattwoche der FDJSingebewegung im Sommer 1988, wo es im Abschlussprogramm verboten wurde, sangen die Singebewegten das Lied demonstrativ weiter: so der Oktoberklub auf dem Festival des politischen Liedes im Februar 1989. Für ihren Einsatz gegen die Zensurmaßnahmen in der Programmplanung des Festivals wurden Karin Wolf und Tanja Braumann aus der Festivalleitung ausgeschlossen. Im Dezember 1988
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sang der Oktoberklub das Lied Der Landarbeiter auf einer Veranstaltung der
SED-Kreisleitung Weißensee – das Konzert wurde abgebrochen.
Die Entfremdung von Machthabenden und Singebewegten gipfelte in der Weigerung des Oktoberklubs im September 1989, ein Lied zum 40. Jubiläum der DDR beizusteuern, wie dies für gewöhnlich üblich gewesen war. Durch diese Protesthaltung versuchte der Oktoberklub sein über 25 Jahre Singebewegung hinweg erarbeitetes kulturpolitisches Kapital einzusetzen, um die für sie notwendigen Diskussionen in Gang zu setzen. Damit trat er aus der Rolle der »Kaisergeburtstagssänger« (Wolf Biermann) heraus und ermächtigte sich jenseits seiner kulturpolitischen Funktion zum gesellschaftlichen Akteur. Dass auf d ieses Signal und das damit verbundene Gesprächsangebot seitens der SED-Führung nicht eingegangen wurde, zeigt, wie weit sich Singebewegte und Partei voneinander entfernt hatten. Gleichzeitig zeigen der Brief und die Zurückhaltung des Oktoberklub im Verlesen von Protestresolutionen eine geringe Bereitschaft zu einem offenen Konflikt mit der SED-Führung an, wie sie von oppositionellen Kreisen forciert wurde. Hier zeigen sich letztlich der Willen und das weiterhin nicht unerhebliche Restvertrauen, innerhalb der staatlichen Strukturen etwas zu verändern. Hinter der Zurückhaltung lag meines Erachtens auch, wie der Verweis auf die ›Pfeile des Feindes‹ zeigt, das polare Weltbild des Systemkampfes von (sozialistischen) Freunden und (›imperialistischen‹) Feinden, w elchen in der stalinistischen Paranoia durch zu starke Kritik – das heißt verletzte Parteidisziplin – Vorschub geleistet werden könne. Dieser konzentrierte Einblick in das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der DDR am Beispiel des Oktoberklubs zeigt, dass die Sphäre staatlicher Jugendkultur belebter und bewegter war, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und sich über die 25 Jahre ihres Bestehens deutlich veränderte. Die FDJ-Singebewegung war, institutionell betrachtet, eine ›staatliche Veranstaltung‹, auch blieben die Singebewegten vom Sozialismus und der DDR überzeugt – nicht umsonst hatten sie den Singeklub als ihr Mittel des künstlerisch-politischen Ausdrucks gewählt. Zugleich zeigt sich jedoch, dass sie ihre Selbstbestimmung bewahren wollten und für diese auch eintraten. Dies gilt nicht nur für den Oktoberklub, sondern lässt sich in ähnlicher Weise für die Singebewegung insgesamt beobachten: In den 1960er Jahren lagen die Konfliktpunkte eher bei Fragen der institutionellen Überformung und stilistischen Einhegung. Im Verlauf der 1980er Jahren verschoben sich die neuralgischen Punkte in eine grundsätzlichere Richtung, in der die Freiheit des Wortes, der Zustand der Gesellschaft, Reformen und intergenerationelle Konflikte mit den führenden Parteigenoss*innen verhandelt wurden. War das Vertrauen der Singebewegten in die SED-Führung in den 1960er Jahren noch weitgehend ungebrochen gewesen, forderten sie in den 1980er Jahren politische
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Mitbestimmung und Veränderung. Ihrem Selbstverständnis nach engagierten sich die Singebewegten aller Jahrgänge für eine sozialistische Gesellschaft, deren Vorstellung sich in großen Teilen mit jener der SED-Führung deckte, jedoch auch kritische (Selbst-)Reflexionen des politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse und Entfremdungsprozesse miteinschloss.
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»Uns eint ein neues Heimatgefühl«. Heimatdiskurs und Heimatmuseen in der frühen DDR
Im Jahr 1978 erschien im populärwissenschaftlichen Urania-Verlag Leipzig der erste Band einer Reihe Historischer Führer, der – wie der Untertitel verriet – Stätten und Denkmäler der Geschichte in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl vorstellte und inhaltlich einen geographischen Raum erfasste, der sich unschwer als Thüringen zu erkennen gab.1 In den nachfolgenden Jahren kamen weitere vier Bände hinzu, 1981/1982 ein Doppelband für die sächsisch-lausitzischen Bezirke Leipzig und Karl-Marx-Stadt sowie Dresden und Cottbus, 1987 ein Band für die brandenburgischen Bezirke Potsdam und Frankfurt/Oder und schließlich 1990 ein Band, der nur den Bezirk Leipzig behandelte. Der politische Umbruch in der DDR und die sich anbahnende Vereinigung der beiden deutschen Staaten besiegelten das Ende d ieses engagierten Buchprojektes; die geplanten Folgebände zu den drei Nordbezirken Schwerin, Neubrandenburg und Rostock, zu den Bezirken Halle und Magdeburg sowie ein Sonderband für den Hauptstadtbezirk Berlin erschienen nicht mehr.2 Im Vorwort des ersten Bandes schrieben die Herausgeber mit Blick auf die drei thüringischen DDR-Bezirke: Wir wohnen, arbeiten und erholen uns in einer historischen Kulturlandschaft, ohne immer schon in einem lebendigen Verhältnis zur Geschichte zu stehen. Erbe setzt Aneignung, Aneignung von Wissen voraus. Dafür will d ieses Buch einen Beitrag leisten. […] Begegnung mit der Geschichte ist zu einem starken Bedürfnis geworden. Dafür sprechen 30 Millionen Museumsbesucher pro Jahr ebenso wie der nicht abreißende Touristenstrom zu Burgen, Schlössern, technischen Denkmalen, historischen Stadtkernen, Kunstsammlungen, Gedenkund Erinnerungsstätten.3
1 Vgl. Historischer Führer. Stätten und Denkmale der Geschichte in den Bezirken Erfurt, Gera, Suhl. Hrsg. von Lutz Heydick/Günther Hoppe und Jürgen John. Leipzig u. a. 1978. 2 Vgl. Lutz Heydick: Geschichte vor Ort. In: Monika Gibas u. a. (Hrsg.): Couragierte Wissenschaft. Eine Festschrift für Jürgen John zum 65. Geburtstag. Jena 2007, S. 304 – 313. 3 Historischer Führer (wie Anm. 1), S. 10, 12.
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Die Wiederentdeckung regionaler »Kulturlandschaften« und deren Popularisierung resultierten aus der am Beginn der Honecker-Ära angestoßenen ›Erbe-undTradition‹-Debatte, zu deren Ausläufern in den 1980er Jahren unter anderem auch die auf eine breitere historische Legitimation der DDR angelegte Preußen- und Luther-Renaissance zählten.4 Die Neubestimmung des Verhältnisses von ›Erbe‹ und ›Tradition‹ war jedoch auch Ausdruck eines gestiegenen geschichtlichen Interesses breiter Bevölkerungsschichten, etwa an aristokratischen, bürgerlichen und proletarischen Lebensweisen. Es war offensichtlich, dass Akteure der öffentlichen Geschichtsvermittlung nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 an der mit dem Begriffspaar »Weite und Vielfalt« verbundenen Ausdehnung der »Traditionsbereiche« mitwirkten, um mit alltags- und kulturgeschichtlichen Ansätzen auf den von »individuellen Interessen« geleiteten Bedarf nach »Unvermitteltheit, Sinnfälligkeit, Originalität und Authentizität« zu reagieren.5 Selbst Burgen und herrschaftliche Schlösser, die lange Zeit als Symbole feudaler Macht galten, entwickelten sich zu wahren Tourismusmagneten, wie das einstige Schloss der Fürsten zu Stolberg-Wernigerode, das als ›Feudalmuseum‹ z wischen 1970 und 1980 einen Anstieg der jährlichen Besucherzahlen von 244.000 auf 366.000 verzeichnete.6 Die Gründung der Gesellschaft für Heimatgeschichte innerhalb des Kulturbundes im Januar 1979 markierte in der Spätphase der DDR schließlich den Versuch, diese ›von unten‹ angetriebene Geschichtskonjunktur aufzufangen. Und so ließe sich mit Matthias Steinbach fragen, inwieweit die staatlicherseits geförderte Hinwendung zur Heimat- und Regionalgeschichte nicht nur dem offiziösen, auf ›revolutionär-klassenkämpferische‹ Momente fixierten marxistisch-leninistischen Geschichtsbild zu begegnen suchte, sondern überhaupt auch als ein um neue Identitäten bemühter Reflex auf die Zumutungen des sozialistischen Alltags zu verstehen ist.7 Wendet man den Blick von hier in die Sowjetische Besatzungszone und die frühe DDR, so erscheint ›Heimat‹, insbesondere ihre Deutung, historische Erfor4 Vgl. Günther Heydemann: Geschichtsbild und Geschichtspropaganda in der Ära Honecker. Die »Erbe-und-Tradition«-Konzeption der DDR . In: Ute Daniel/Wolfram Siemann (Hrsg.): Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789 – 1989. Frankfurt am Main 1994, S. 161 – 171. 5 Harri Olschewski/Hans Müller/Ernst Hofmann: 40 Jahre DDR – Vier Jahrzehnte Aufbau des sozialistischen Museumswesens. In: Neue Museumskunde 32 (1989) 3, S. 164 – 169, hier S. 164 f. 6 Vgl. Andrea Heinrich: 40 Jahre Feudalmuseum Schloß Wernigerode (Forschungsberichte des Feudalmuseum Schloß Wernigerode, 4). Wernigerode 1989, S. 44. 7 Vgl. Matthias Steinbach: »Thüringen« in der DDR-Erbe- und Traditionsdebatte der 1970er- und 1980er Jahre. In: ZfG 29 (2002) 2, S. 537 – 554, hier S. 538.
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schung und museale Präsentation, als ein konfliktreiches Terrain. Das im Titel des vorliegenden Aufsatzes verwendete Zitat überschrieb in der Zeitschrift Natur und Heimat einen Bericht, der eine im Januar 1953 in Ost-Berlin veranstaltete Tagung mit dem Titel Deutsche Geschichte und demokratischer Patriotismus zum Gegenstand hatte. In der Entschließung dieser Tagung hieß es mit gesamtdeutscher Betonung: »Uns eint ein neues Heimatgefühl, das sich nicht landschaftlich abschließt, das seine Wurzeln in der Liebe zum ganzen Vaterland hat. […] Deshalb ist unser Wirken fest verbunden mit dem Kampf für die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik«.8 Angesprochen waren insbesondere die innerhalb des Kulturbundes organisierten Natur- und Heimatfreunde, die sich auf dem gesamten Gebiet der DDR unter anderem dem lokalen Denkmalschutz, der Erforschung der heimatlichen Geschichte, dem Verfassen von Ortschroniken oder der Pflege von Heimatmuseen widmeten. Der Anspruch der Staats- und Parteiführung der DDR, aus Geschichte Herrschaft zu legitimieren und politische Handlungsweisen zu begründen, traf hier auf Heimatbewegte, ja zu großen Teilen ›bürgerliche‹ Traditionalisten, die sich d iesem Ansinnen mit ihrem Festhalten an althergebrachten Heimatpraktiken entzogen. Dem dadurch erzeugten Spannungsfeld wird im Folgenden nachgegangen, wobei der ›natürlichen Beharrungskraft der Provinz‹ Aufmerksamkeit geschenkt werde soll.9
1. Heimatbewegung und Vereinskultur nach 1945 »Was uns Deutsche in dieser so harten Zeit außer unermüdlicher Arbeit bleibt«, erklärte Studienassessor Heinrich Kresse im Januar 1946 dem Eisenacher Oberbürgermeister, »sind die unvergänglichen Werte unserer Kultur und Naturschönheiten unserer Heimat. Es ist schwierig, die Menschen zu den Kraftquellen zu
8 Uns eint ein neues Heimatgefühl. Kurzer Bericht über die Tagung der Natur- und Heimatfreunde am 10. und 11. Januar 1953. In: Natur und Heimat 2 (1953) 3, S. 69. 9 Grundlegend für das Forschungsfeld sind: Thomas Schaarschmidt: Regionalkultur und Diktatur. Sächsische Heimatbewegung und Heimat-Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ/DDR (Geschichte und Politik in Sachsen, 19). Köln 2003; Willi Oberkrome: »Deutsche Heimat«. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900 – 1960) (Forschungen zur Regionalgeschichte, 47). Paderborn 2004 sowie Jan Palmowski: Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag (Kommunismus und Gesellschaft, 14). Berlin 2016. Zur Museumsgeschichte der DDR vgl. Jan Scheunemann: »Gegenwartsbezogenheit und Parteinahme für den Sozialismus«. Geschichtspolitik und regionale Museumsarbeit in der SBZ/DDR 1945 – 1971. Berlin 2009.
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führen, während sie die simpelsten Existenzfragen erfüllen.«10 Ähnliches schrieb der im November 1945 zum Direktor des Rostocker Museums und Stadtarchivs berufene Lehrer Ludolf Fiesel: »Die alte gute Art ist hierzulande trotz aller schweren Erlebnisse lebendig geblieben, sie läßt sich durch nichts niederbeugen. Gerade im Elend erkennt sie ihren wahren Beruf, besinnt sich auf die Wurzeln ihrer Kraft: Heimatboden und echtes Volkstum.«11 Dass ›Heimat‹ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem attraktiven Fluchtpunkt avancierte, hatte zwei Gründe: Nach den von Zeitgenossen mehrheitlich als Katastrophe wahrgenommenen Ereignissen des Jahres 1945 versprach ›Heimat‹ angesichts der materiellen und ideellen Verluste ein hohes Maß an Stabilität und privater Sicherheit. Ihr kam außerdem die Bedeutung eines »Identifikationsarsenals« zu, das soziale Brüche und Verwerfungen überdauerte und Traditionen festigte. Gerade aus dem vertrauten heimatlichen Raum erwuchsen Wahrnehmungs- und Sinngebungsmuster, die emotionale Bindung garantierten.12 Allerdings wurde der Heimatbegriff nach der Epochenzäsur des Jahres 1945 in mehrfacher Hinsicht diskreditiert und in Frage gestellt. Als konservatives, modernisierungskritisches Kulturkonzept und identitätspolitische Kategorie hatte ›Heimat‹ um 1900 Konjunktur gehabt. Die Heimatbewegung, die mit Heimat-, Altertums-, Geschichts-, Museums- und Naturschutzvereinen eine kulturelle Organisationsstruktur ausgeprägt hatte und in der vor allem akademische Mittelschichten, Justiz-, Verwaltungs- und Postbeamte, aber auch Lehrer oder Pfarrer organisiert waren, widmete sich der Erhaltung und Bewahrung all dessen, was man damals ›deutsche Kulturwerte‹ nannte. In ihr verbanden sich verschiedenste Bereiche wie Naturkunde, Archäologie, Denkmalschutz, Bauund Kunstgeschichte, Volkskunde, Sprach- und Geschichtsforschung sowie die Sammlung von ›Altertümern‹ und die Pflege lokaler Bräuche. Im Nationalsozialismus erfuhr die Heimatbewegung unter völkischen Vorzeichen nicht nur einen bedeutsamen Aufschwung, sondern in der ›Blut-und-Boden‹-Ideologie 10 Stadtarchiv Eisenach, Abt. Allgemeine Volksbildung, Nr. 3101/2, zitiert bei Sabine Hahnel: Die Heimatbewegung in Thüringen zwischen 1945 und 1961. Unveröffentlichtes Manuskript. Erfurt 2003, S. 1. 11 Ludolf Fiesel: Unser Heimatland Mecklenburg, undat. (1945/46). Stadtarchiv Rostock, Bestand 2.1.13. Museen, Nr. 1. 12 Vgl. Willi Oberkrome: »Durchherrschte« Heimat? Zentralismus und Regionalismus im organisierten Heimatschutz der frühen DDR. Das Beispiel Thüringens. In: Habbo Knoch (Hrsg.): Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945. Göttingen 2001, S. 252 – 274; Everhard Holtmann: Heimatbedarf in der Nachkriegszeit. In: Bernd Weisbrod (Hrsg.): Von der Währungsunion zum Wirtschaftswunder. Wiederaufbau in Niedersachsen (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsen nach 1945, 13). Hannover 1998, S. 31 – 45.
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auch eine rassistische Zuspitzung.13 Nach dem Zusammenbruch des ›Dritten Reiches‹ versuchten die Mitglieder der Vereine, ihre nationalsozialistische Vergangenheit schnell abzustreifen und an die Arbeitspraktiken in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Das Ende des Krieges hatte keineswegs das Ende aller Heimatvereine bedeutet. Vielmehr waren die ersten Initiativen zum Neuaufbau heimatbezogener Aktivitäten von einer reaktivierten Vereinstätigkeit bestimmt. Überschaut man die Situation des Vereinswesens in der SBZ in den Jahren 1945/1946, ergibt sich ein uneinheitliches Bild. Deutlich wird, dass Verbot, Fortbestand oder Wieder zulassung von Vereinen von zahlreichen Faktoren abhängig waren. Allein die abweichende Handhabung und Regelung der Vereinsproblematik durch die einzelnen Landesregierungen der SBZ führten aufgrund von Unklarheiten über die Rechtslage zu unterschiedlichen Lösungen bei der Überwindung der ›Vereinsmeierei‹. Während beispielsweise die sächsische Landesverwaltung rechtlich nicht abgesicherte Bestimmungen zur Vereinsauflösung erließ und der Dresdner Polizeipräsident eigenständig Vereine verbot, wurden andere von den örtlichen sowjetischen Kommandanturen großzügig genehmigt.14 In Rostock beschloss das kommunale Volksbildungsamt im Juli 1945, den 1841 gegründeten Rostocker Kunstverein und den 1883 gegründeten Verein für Rostocks Altertümer unter Ausschluss der ehemaligen NSDAP-Mitglieder im 1945 neu gegründeten Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands als Arbeitsgemeinschaft für Kunst und Altertümer weiterleben zu lassen.15 Ähnliches lässt sich auch aus der thüringischen Stadt Altenburg berichten. Hier war die Existenz der traditionsreichen, 1817 gegründeten Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes sowie der 1838 gegründeten Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes nach Einspruch der örtlichen sowjetischen Kommandantur ebenfalls nur unter dem Dach des Kulturbundes möglich, in dem dann zwei Arbeitsgemeinschaften für Natur- bzw. Heimatforschung gegründet wurden.16 Ein generelles Verbot der Vereine durch die sowjetische Besatzungsmacht gab es indes nicht. Einzig die Gebirgs- und Wandervereine wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Reichsbund für Leibesübungen als militärische Organisationen betrachtet und durch eine Direktive des Alliierten Kontrollrates im 13 Vgl. Habbo Knoch: »Heimat«. Konjunkturen eines politischen Konzepts. In: Indes 4 (2018), S. 19 – 34, hier S. 19 – 22. 14 Vgl. Thomas Schaarschmidt: Regionalkultur und Diktatur (wie Anm. 9), S. 282 – 284, 292. 15 Protokoll der 1. Sitzung des beratenden Ausschusses beim Kultur- und Volksbildungsamt R ostock am 28. 07. 1945. Stadtarchiv Rostock, 2.1.0 Rat der Stadt, Nr. 438, Bl. 2 f. 16 Vgl. Hahnel: Die Heimatbewegung in Thüringen (wie Anm. 10), S. 4.
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Dezember 1945 verboten. Ausschlaggebend für ein Verbot war zuvorderst die nationalsozialistische Ausrichtung vieler Vereine.17 Und auch wenn die meisten Vereinigungen und Körperschaften nur noch innerhalb des Kulturbundes arbeiten konnten, nahmen doch viele ehemalige Vereinsmitglieder ihre Tätigkeit wieder auf und besetzten die entsprechenden Positionen. Die Möglichkeit, ihre Arbeit überhaupt fortführen zu können, war dabei für viele wichtiger als der Umstand, dass dies nun unter reglementierender Anpassung innerhalb einer so genannten Massenorganisation geschah; dies umso mehr, als man anfänglich auch weiterhin einen bildungsbürgerlichen Anspruch in bester Vereinstradition pflegen konnte, den man mit den Aufgaben der Gegenwart zu verbinden verstand: »Die liebevolle Versenkung in die Vergangenheit soll nicht nur zur Belehrung und Vertiefung des Weltbildes führen, sondern auch Gedanken, Anregungen, Mut und Willen zum Wiederaufbau wecken.«18 Eine wesentliche inhaltliche Herausforderung an die heimatkundlichen Aktivitäten bestand in der hohen Zahl von mehr als vier Millionen ›Umsiedlern‹, die nach ihrer Flucht oder Vertreibung aus den Ostgebieten einen nicht geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung in der Sowjetischen Besatzungszone ausmachten. Die Integration der ›Neubürger‹ konnte nur durch eine enge Bindung an die neue Umgebung gelingen. Deshalb gab es vielfach Überlegungen, inwieweit und in welcher Form Heimatarbeit und -pflege hierzu einen Beitrag leisten könne. Exemplarisch sei auf die Gedanken von Richard Kieser Zum Neuaufbau der speziell landeskundlichen Heimatarbeit in der Provinz Mark Brandenburg vom April 1946 verwiesen.19 Der Lehrer, Archivpfleger und selbsternannte »Träger der gesamten Heimatarbeit im Kreis Teltow« hatte bis 1939 das Kreisheimatmuseum in Zossen geleitet. In Anknüpfung an die deutsche Heimatbewegung und ihren Kampf gegen eine »Verstädterung« zog Kieser Parallelen zur gegenwärtigen Situation. Er formulierte einerseits ein majoratives Heimatverständnis der alteingesessenen Bevölkerung, das sich dezidiert von jenen »ortsfremden M enschen« zu 17 Vgl. Thomas Schaarschmidt: Zwischen verordnetem Geschichtsbild und regionaler Identität. Heimatgedanke und Kulturbund im thüringischen Vogtland 1949 – 1990. In: M atthias Werner (Hrsg.): Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, 13). Köln/Weimar/Wien 2005, S. 191 – 217, hier S. 202 – 205. 18 Überblick über die Arbeitsgemeinschaft »Kunst- und Altertümer« im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands vom 26. 07. 1947. Stadtarchiv Rostock, 2.1.13 Museen, Nr. 8. 19 Richard Kieser: Zum Neuaufbau der speziell landeskundlichen Heimatarbeit, 24. 04. 1946 [Abschrift]. Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 205 A, Nr. 644, Bl. 19 – 24, hier Bl. 21 – 24.
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distanzieren suchte. Andererseits hob er die integrativen Momente der »neuen Heimat« als emotionales Kompensationsmedium für den erlittenen Heimatverlust hervor. Mit dem Zuzug hunderttausender »ländlicher Menschen aus dem Osten« in die »ihnen wesensfremden Landschaften« ergab sich für ihn geradezu ein »soziologische[r] Zwang« zu verstärkter Heimatarbeit. Die aus ihren Lebenskreisen entwurzelten »Fremdlinge« stifteten Kieser zufolge nicht nur durch den Verlust der alten Heimat, mit dem ihnen jeder »seelische Rückhalt« abhandengekommen sei, auf Jahre hinaus Unruhe unter den Einheimischen. Vielmehr begründeten sie durch ihre häufigen Wohnortwechsel ein neuerliches »Nomadentum«. Verschlimmert habe sich die Situation zusätzlich dadurch, dass die Dörfer als organisch geschlossene Einheiten im Zuge der Bodenreform aufgespalten worden seien, einer Aufsiedlung durch Neubauern unterlegen und damit ihre äußere Gestalt zusehends verloren hätten. All dies bedeutete für Kieser eine »Abwertung der für den Aufbau unentbehrlichen kulturellen und zivilisatorischen Werte«, die nur noch durch eine Intensivierung heimatkundlicher Forschung aufzuhalten sei. Flankiert wurden diese Überlegungen von der Forderung nach »lebendiger Arbeit«, die sich von der rein »historische[n] Betrachtung der Landschaft«, jener »trockene[n] Deutung des alten Kulturgutes« und einer »antiquierend-sentimentalen« Museumspraxis abheben sollte. Anzustreben sei eine »universale und gegenwartsnahe Schau« heimatlicher Kultur, die neben statistischen Angaben zu Bodennutzung und Ernteerträgen auch sozialtopographische Auskünfte über die Siedlungsdichte vor und nach dem »Einströmen« der Flüchtlinge und Vertriebenen geben müsse.20 Eine selbstständige kulturelle Organisation zur Pflege »ihrer besonderen Eigenarten« wollte man den Flüchtlingen und Vertriebenen freilich nicht zugestehen. Im Land Thüringen, das rund 700.000 »Umsiedler« (23 Prozent der Gesamtbevölkerung) aufgenommen hatte, sollten sie vielmehr »eingegliedert werden in das kulturelle Leben der neuen Heimat und [sie] sollen an der Ausgestaltung dieses kulturellen Lebens mitwirken«.21 Ansätze, die weitverbreiteten »Widerstände gegen die Einschmelzung der Umsiedler« abzubauen und das oft konfliktreiche Nebeneinander von »Altbürgern« und »Neubürgern« durch einen kulturellen Brückenschlag auszugleichen,22 gab es auf lokaler Ebene, etwa 20 Ebd. 21 Protokoll zur 2. Sitzung der Landeskommission für Neubürger in Weimar am 28. 02. 1946. Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, Nr. 3761, Bl. 53 – 81, hier Bl. 54 – 59. Zitiert bei: Uta Bretschneider: Neue Heimat Thüringen? Flüchtlinge und Vertriebene um 1945. Erfurt 2017, S. 42. 22 Einiges zur Situation der Umsiedler in Thüringen, 15. 02. 1949. SAPMO-Bundesarchiv Berlin DY 30/IV 2/5/243, Bl. 87 – 90, hier Bl. 87.
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die 1947 im Museum für Glaskunst im südthüringischen Lauscha gezeigte Ausstellung Die neue Glasindustrie der Neubürger, die sich anhand der Schmuckfertigung den aus dem böhmischen Gablonz neu eingeführten Handwerks- und Industriezweigen widmete.23
2. Heimatmuseen zwischen Tradition und volkspädagogischen Ansätzen Die Arbeit der Museen wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit von der Instandsetzung der Gebäude und der Rückführung ausgelagerter Museums bestände bestimmt. Das Ausmaß der Kriegsschäden war beträchtlich. Im Jahr 1947 hatte von den einst 381 auf dem Gebiet der SBZ vorhandenen Museen nicht einmal die Hälfte, nämlich nur 154, ihre Arbeit wieder aufgenommen. 66 Museen waren völlig zerstört.24 Die Wiedereröffnung heimatkundlicher Museen bzw. die Kontrolle bereits eröffneter Einrichtungen geschah ab Oktober 1945 aufgrund von Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD). Die Museumsaktivitäten standen in engem Zusammenhang mit der Reorganisation des Bildungswesens und wurden von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DVV) verantwortet. Die den Museen zugedachte Funktion bei der »demokratischen Umerziehung des deutschen Volkes« verlangte nach »politisch progressive Kräfte[n]«.25 Dies erwies sich als schwierig, denn der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder war unter den Museumsleitern sehr hoch. Im Jahr 1947 waren in den 103 thüringischen Museen lediglich 28 Museumsleiter im Amt verblieben. In 62 Museen hatte man politisch belastete Leiter durch neue Kräfte ersetzt, für 13 in Planung befindliche Einrichtungen war man auf der Suche nach geeigneten Personen.26 Neben der NSBelastung boten auch die Alters-, Sozial- und Beschäftigungsstruktur schlechte Ausgangsbedingungen für den Wiederaufbau der Museen. Betrachtet man die Situation in Sachsen-Anhalt, wird dieses Problem sofort deutlich. Dort waren im 23 Bericht der Landesmuseumspflegerin Dr. Hofmann-Stirnemann über die Museumsarbeit in Thüringen seit Kriegsende 1945 bis 1. Oktober 1947 vom 09. 10. 1947. Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Volksbildung, Nr. 4145, Bl. 206 f. 24 Die Museen in der Sowjetzone. Bericht der DVV, Referat Statistik, Stand Mai 1947. Bundesarchiv Berlin DR 2/863, Bl. 20. 25 Schreiben von G. Strauss (DVV) an die Landesverwaltungen der SBZ, betr.: Organisation der Museumsarbeit vom 25. 11. 1946. Landeshauptarchiv Schwerin, 6.11 – 21, Nr. 2904. 26 Bericht der Landesmuseumspflegerin (wie Anm. 23).
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Abb. 1 Altersstatistik der Museumsleiter in Sachsen-Anhalt 1948/1949
Jahr 1948 von 59 Museumsleitern gerade einmal 17 hauptamtlich beschäftigt, die sich vornehmlich aus bürgerlichen Bildungsschichten rekrutierten. Die nebenamtlich Tätigen waren ehemalige Lehrer, Archivare und Beamte. Im Altersspektrum überwogen die 50- bis 69-Jährigen mit fast 70 Prozent. Selbst Museumsleiter im Alter z wischen 70 und 80 Jahren waren noch mit 10 Prozent vertreten. Dazu kamen die 30- bis 49-Jährigen mit 20 Prozent. Das Durchschnittsalter lag demnach bei 58 Jahren.27 »Das Fehlen geeigneter Leiter« hatte Gerhard Strauss als für die Museen zuständiger Referent der DVV schon Anfang 1946 moniert, »erschwert sowohl die geordnete Denazisierung [sic!] wie einen Einbau der Museen in die gegenwärtigen kulturpolitischen Aufgaben«. Eine Rehabilitierung und Weiterbeschäftigung »alter Kräfte« waren deshalb unter Umständen nötig, auch wenn dies die kulturpolitischen Intentionen der DVV gefährden konnte. Den örtlichen Behörden riet man, eine »halbwegs brauchbare Kraft« mit der Leitung des Museums zu beauftragen. Keinesfalls dürfe die Wahl jedoch auf einen »trockenen Historiker 27 Altersstatistik der Museumsleiter im Lande Sachsen-Anhalt, Stand 1948. SAPMO-Bundes archiv Berlin DY 30/IV2/9.06/180, Bl. 15.
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als Museumsleiter« fallen, da man hierin die »Gefahr einer Anhäufung von militaristischen Erinnerungsdaten usw.« erblickte.28 In ihren Ausstellungen boten die Museen auch nach 1945 lokal- und regionalhistorische Darbietungen traditionellen Zuschnitts, die an die Gründungszeit der Einrichtungen erinnerten. Die Sammlungen spiegelten das Interesse des jeweiligen Vereins und stellten sich oft als eine Mixtur aus Gebrauchsgegenständen, Möbeln oder alten Waffen dar. Häufig spielten die manchmal sehr abwegigen privaten Vorlieben der Betreuer eine große Rolle, in deren Arbeit sich häufig emotionale Begeisterung für ihr Steckenpferd mit einer romantischen Verklärung der heimatlichen Vergangenheit verband. Insbesondere die überlieferte regionale Begrenztheit der historischen Ausstellungen, die sich vor allem in vermeintlich lokalpatriotischen Vorstellungen zeigte, stand dann auch wiederholt in der Kritik. Man halte in den Museen an einem überkommenen Heimatbegriff fest, der »etwas sich kaum oder überhaupt nicht Veränderndes« zu konservieren suche, urteilte Gerhard Strauss. Ein solcher Ansatz versperre den Weg zur Neubestimmung von »Heimat« als einem gegenwartsbezogenen »Feld der großen geschichtlichen Auseinandersetzungen« und einem »Lebensraum«, den es vor Ort neu zu gestalten gelte. Für Strauss erwiesen sich derartige Museumsmethoden in dreifacher Hinsicht als »reaktionär«: »Erstens wurden nationalistische Tendenzen gefördert, zweitens verlieh man überholten gesellschaftlichen Zuständen den Schein der bleibenden Gültigkeit und drittens erzeugte man durch den Verzicht auf Stellungnahmen zur Gegenwart im Betrachter das Gefühl von Stillstand der Zeit überhaupt.«29 Die Orientierung der musealen Arbeit am aktuellen Zeitgeschehen steckte nunmehr die Arbeitsfelder ab. Denn um das Leitbild der ›führenden Rolle der Partei‹ auch in den letzten Winkel der DDR zu tragen, waren auch solche Felder und Institutionen geschichtspolitisch zu erobern, die scheinbar nur wenig oder gar nichts mit der Herrschaftsdurchsetzung zu tun hatten. So äußerte sich der umfassende Machtanspruch der SED auch darin, den öffentlichen Raum mit Denk mälern, Symbolen und Begriffen zu besetzen, um so die Interpretationshegemonie über die Vergangenheit zu erlangen. Das Ziel der Einheitspartei bestand nicht nur darin, die politischen Herrschaftsverhältnisse öffentlich zu kommunizieren und die neuen Ordnungsvorstellungen abzubilden, sondern diese zugleich kulturell und sozial zu legitimieren. 28 Bericht von G. Strauss (DVV) vom 11. 01. 1946. Bundesarchiv Berlin DR 2/629, Bl. 88 – 92, hier Bl. 89. 29 Gerhard Strauss: Heimatmuseen. In: Demokratischer Aufbau 4 (1949) 1, S. 20 f., hier S. 20.
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Es war vor allem Heinz Arno Knorr, der ausgehend von Sachsen-Anhalt und ab 1954 als Leiter der dem Ministerium für Kultur der DDR (MfK) unterstellten und in Halle (Saale) ansässigen Fachstelle für Heimatmuseen dem Museumswesen in der SBZ und späteren DDR entscheidende Impulse verlieh. Knorr, 1909 in eine Bremer Beamtenfamilie geboren, hatte z wischen 1929 und 1934 in Berlin und Prag die Fächer Ur- und Frühgeschichte, Historische Geographie, Geologie und Philosophie studiert. Ausgestattet mit einem Forschungsstipendium der DFG, beschäftigte er sich z wischen 1935 bis 1937 im Auftrag des Historisch-Geografischen Instituts der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin mit der slawischen Besiedlung östlich der Elbe. Seine 1936 unter dem einflussreichen Prähistoriker und Direktor des Berliner Museums für Ur- und Frühgeschichte Wilhelm Unverzagt entstandene Dissertation widmete sich der slawischen Keramik. 1937 trat Knorr in die NSDAP ein. Im April 1940 wechselte Knorr zum Landesamt für Vor- und Frühgeschichte der Provinz Mark Brandenburg, wo er als Assistent des Denkmalpflegers die wissenschaftliche Bestandsaufnahme vorgeschichtlicher Funde in den Museen besorgte. Im August 1940 zur Wehrmacht eingezogen, war Knorr am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligt, 1945 kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung trat Knorr Ende 1945 in ein Dienstverhältnis beim Provinzialkonservator der preußischen Provinz Sachsen in Halle (Saale).30 Seit 1947 Mitglied der SED, verfasste Knorr als Museumsreferent beim Landesamt für Naturschutz und Kulturpflege in Halle (Saale) im April 1948 richtungsweisende Vorschläge zur Erneuerung des Museumsgedankens, die als Bestandsaufnahme und zugleich als Programm für seine geplante Museumsreform zu lesen sind. Zukünftig, so schrieb Knorr, müsse das Museum vor allem eine »Bildungsstätte« sein. Aufgabe sei es, die Museumsstücke nicht nur auszustellen, sondern die Inhalte neu zu erschließen und dem Besucher zeitgemäß zu erklären. Im Zentrum seiner Argumentation standen die »neuzeitlichen Abteilungen«. Mit der Verankerung der musealen Präsentation im »Heimatboden« bei gleichzeitiger Verzahnung mit den aktuellen politischen und wirtschaftlichen Ereignisläufen erhalte das vermittelte Bild des Landschaftsbezirkes erst seinen tieferen Sinn,31 meinte Knorr zu einer Zeit, als sich der Ost-West-Konflikt verschärfte und die Spaltung Deutschlands absehbar wurde. 30 Zur Biographie Knorrs vgl. Scheunemann: »Gegenwartsbezogenheit« (wie Anm. 9), S. 92 – 94. 31 Heinz A. Knorr: Das Heimatmuseum als Volksbildungsstätte. Vorschläge zur Erneuerung des Museumsgedankens, 13. 04. 1948. Privatarchiv Scheunemann, Nachlass Knorr, Ordner Nr. 1, Bl. 1 – 7.
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Abb. 2 Blick in den Rittersaal der Burg Mildenstein mit der Sammlung des 1866 gegründeten Geschichts- und Altertumsvereins zu Leisnig, 1910. Auch in den 1950er Jahren entsprachen die heimatgeschichtlichen Präsentationen in vielen Museen noch dem Zustand des späten 19. bzw. des frühen 20. Jahrhunderts.
Die Realität heimatmusealen Schaffens sah im Jahr 1948 bekanntlich anders aus. Die Spanne z wischen intendierter Aufgabenstellung und dem tatsächlichen Zustand war beträchtlich. In »beängstigender Fülle« waren in den Museen nicht selten historische Gegenstände neben- und übereinander aufgereiht, noch der dunkelste Winkel mit heimatkundlichem Material aus Ortsgeschichte und Volkskunde vollgestopft. Allein der Umstand, dass niemand Anstoß an den überkommenen Formen nahm, markierte für Knorr die »kümmerliche Stellung«, die das Heimatmuseum in der Öffentlichkeit innehatte.32 Dabei war die Gleichgültigkeit gegenüber den Museen in Anbetracht der gesellschaftlichen Umbruchsituation nur drei Jahre nach dem Ende des Krieges durchaus nachvollziehbar. Wer, außer dem lokalen Heimatforscher, dem heimatkundlich interessierten Lehrer oder dem Gründer des Museums, konnte schon Interesse für die Museumsarbeit aufbringen, standen jetzt doch ganz andere Fragen im Zentrum des alltäglichen Lebens. So blieb die Arbeit zunächst in den Händen derer, die sich oft schon seit Jahrzehnten um das Museum gekümmert hatten. 32 Ebd.
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Für Knorr stand deshalb außer Frage, dass der Gestaltung der Museen »eine einheitliche Linie zu Grunde liegen muß«. Eine »zentrale Lenkung« mittels verbindlicher Richtlinien sollte den an der Heimatpflege Interessierten als Arbeitsgrundlage dienen. Knorr nahm besonders die alten Vereine in den Blick, deren Arbeit zu reaktivieren war, hatten sich diese doch in der Vergangenheit um die Bewahrung der heimatlichen Kultur verdient gemacht: »Denn es soll nicht verkannt werden, welchen hervorragenden Anteil die Heimatvereine und Gesellschaften in den letzten hundert Jahren an der Förderung unseres kulturellen Lebens hatten, was sie für die Wissenschaft geleistet haben.«33 Der schließlich im Januar 1949 per Gesetz herbeigeführte Zusammenschluss aller ehemals in Vereinen organisierten Heimatforscher innerhalb des Kulturbundes oder einer anderen Massenorganisation bot die Möglichkeit, deren Tätigkeit für den geplanten Museumsumbau zu nutzen.34 Auf einer Konferenz im November 1950 in Dresden gegründet, war es insbesondere die Zentrale Kommission der Natur- und Heimatfreunde innerhalb des Kulturbundes, die sich die Sammlung und Pflege heimatlicher Zeugnisse auf die Fahne schrieb. Ein Großteil der Museumsleiter war bei den Natur- und Heimatfreunden organisiert, und vor allem Karl Kneschke betrieb als natur- und heimatbewegter Bundessekretär des Kulturbundes deren Ausrichtung an den offiziellen kulturpolitischen Leitlinien. Kneschke, der aus dem böhmischen Kratzau/Chrastava stammte, war 1938 als Kommunist ins Exil nach Großbritannien gezwungen worden, wo er als Kulturredakteur tätig war. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging er 1946 nach Dresden, um hier als sächsischer Landessekretär am Aufbau des Kulturbundes mitzuwirken. 1950 wurde er zum Bundessekretär des Kulturbundes berufen.35 In dieser Funktion nahm er immer wieder kritisch zur Arbeit der Natur- und Heimatfreunde Stellung. Diese müssten sich, so Kneschke, um die »Befreiung der Museen von Staub und Spinnweben« sowie um die Ablösung jener Schloss- und Museumsführer kümmern, »die ein mittelalterliches Gehirn unter einem Ritterhelm spazieren führen«.36 In diesem Sinne äußerte sich auch Knorr: »Wir wollen 33 Ebd. 34 Vgl. Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden Massenorganisationen. Verordnung der Deutschen Verwaltung des Inneren und der Deutschen Verwaltung für Volksbildung vom 12. 01. 1949. In: Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Dokumente zur Kulturpolitik 1945 – 1949, zusammengestellt und eingeleitet von Gerd D ietrich. Berlin (Ost) 1983, S. 341 – 343, 35 Vgl. Ulrike Köpp: Karl Kneschke und die Beweggründe zum Kulturbund für demokratische Erneuerung Deutschlands. In: Weimarer Beiträge 60 (2014), S. 245 – 265. 36 Referat von Karl Kneschke auf der 4. Landesdelegiertenkonferenz am 24./25. 04. 1951 in Dresden, zit. bei Thomas Schaarschmidt: Regionalkultur und Diktatur (wie Anm. 9), S. 367.
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keine Raritätenkabinette mehr, keine Einrichtungen privilegierter Klassen, keine traditionsgebundenen Vereine mit veralteten Arbeitsmethoden!«37 Gestützt wurde eine derartige Polemik von parteipolitischen Entscheidungen. Mit dem auf der II . Parteikonferenz der SED im Juli 1952 beschlossenen Zwickauer Plan unterfütterte die Staatspartei nicht nur den von Walter Ulbricht proklamierten ›Aufbau des Sozialismus‹ in kulturpolitischer Hinsicht. Sie stellte vielmehr Heimatgeschichte und regionale Volkskultur als funktionale Arbeitsfelder der Natur- und Heimatfreunde in den Dienst der Politik, drang auf die Etablierung eines neuen Heimatverständnisses und flankierte damit zugleich die willkürlich festgelegte administrative Neuordnung der DDR in 14 Bezirke, die als künstliche Gebilde allerdings nie eine identitätsstiftende Wirkung auszustrahlen vermochten. Das Hauptanliegen des Zwickauer Planes bestand darin, »vor Ort« alle »progressiven« Traditionen aufzuspüren und in das Bewusstsein der Bürger zu heben. Die Vergangenheit müsse erschlossen und »gestützt auf sie, die Entfaltung eines echten schöpferischen Lebens auf allen Gebieten der Kultur« vorangetrieben werden, um »in der Bevölkerung […] die Liebe zur Heimatgeschichte zu wecken«. Durch die Pflege der »freiheitlichen Traditionen« der Geschichte und des »Volkskampfes« sollte schließlich die »gesamtnationale historische Mission« der DDR herausgestellt werden, die als erster deutscher Staat »die Lehren aus der deutschen Geschichte […] gezogen« habe.38
3. Heimatstuben als museumspolitisches Problem Die Gründung des MfK und der offensiv propagierte Aufbau einer »nationalen Volkskultur« in der DDR verwiesen 1954 auf die neuerlich identitätspolitischen Initiativen der SED.39 Für die lokal- und regionalgeschichtlichen Museen verband sich damit eine konkrete Aufgabenstellung: »Die wirklich guten Heimatmuseen erziehen die Menschen zu echter Heimatliebe, zu einem Patriotismus, der die eigene Nation liebt«. Vorbei war die Zeit, in der man in den Heimatmuseen »irgendwelche Histörchen und Anekdötchen« zum Besten gab oder der Kurzweiligkeit frönte. »Wo kommen wir hin«, hieß es auf einer vom MfK und der Fachstelle für Heimatmuseen im November 1954 veranstalteten Museumsleitertagung in S tralsund, 37 Heinz A. Knorr: Unsere Heimatmuseen. In: Natur und Heimat. Ein Jahrbuch für 1951. Berlin (Ost) 1950, S. 71 – 73, hier S. 72. 38 Karl Kneschke: Der Kulturbund beim Aufbau des Sozialismus. In: Die Aussprache 7 (1952) 7, S. 7 f. 39 Vgl. Über den Aufbau einer Volkskultur in der Deutschen Demokratischen Republik. Programmerklärung des Ministeriums für Kultur der DDR, o. O. 1954.
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»wenn wir in der Form Rücksicht auf die Besucher nehmen, daß wir sagen: der Besucher soll sich im Museum erholen«.40 »Nur wenn sich die Museumsleiter in offener Parteilichkeit zu den Gegenwartsaufgaben bekennen«, so lautete die Forderung, »kann das Heimatmuseum die Geschichte richtig darstellen […] und die großen revolutionären und freiheitlichen Traditionen des Volkes durch konkrete Beispiele aufzeigen.«41 Wie wenig die heimatbewegten Akteure vor Ort diesem historischen Legitimationsanspruch des Staates folgten, zeigte sich vor allem in den Heimatstuben, die sich unterhalb der geschichtspolitischen Observanz als Formen eines ehrenamtlichen Heimatengagements etablierten. Die Zahl dieser Einrichtungen hatte sich seit Mitte der 1950er Jahre kontinuierlich erhöht. Allerdings war der »Heimatstubeninflation« mit Überzeugungsarbeit kaum beizukommen, weshalb sich vielfach der Ruf für ein »generelles Verbot« von Neugründungen erhob.42 Tatsächlich hatte es bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der SBZ und s päter in der DDR zahlreiche Neugründungen von Museen gegeben, die sich außerhalb des Blickfelds administrativer Kontrollinstanzen vollzogen. Es schien gerade so, als ob die heimatbewegten Museumsenthusiasten nach Überwindung der kriegsbedingten Widrigkeiten wie entfesselt eine Gründungswelle auslösten, die es freilich von der Warte der Volksbildungsadministration in der SBZ zu verhindern galt. »Eine Lenkung in dieser Richtung von oben erweist sich als unumgänglich«, betonte beispielsweise die dem sachsen-anhaltischen Ministerium für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft unterstellte Landes museumspflege im Oktober 1947: »Eine Überfülle von Museen ist kein Gewinn, vor allem nicht auf weite Sicht, da sie meist, sofern an kleinen Orten gelegen, nach dem Tode des Gründers verwaisen.«43 Heinz A. Knorr waren die Heimatstuben von Beginn an ein Dorn im Auge. Er ging nie zimperlich mit den ihm nutzlos erscheinenden Kleinstmuseen um und ließ entsprechende Einrichtungen schließen, wenn es sich hierbei aus seiner Sicht lediglich um eine »wertlose kleine Sammlung von belanglosen Gegenständen« handelte.44 40 Stenografisches Protokoll der Diskussion auf der 1. Zentralen Tagung über Fragen der Arbeit in den Heimatmuseen der DDR in Stralsund, 05. – 07. 11. 1954. Bundesarchiv Berlin, DR 141/1, Bl. 1 – 197, Beiträge von Liselotte Kramer-Kaske., hier Bl. 13, 17, 73. 41 Heinz A. Knorr: Die Heimatmuseen als Volksbildungsstätte. In: Heimatkundliche Blätter. Aus Geschichte und Natur Ostsachsens 1 (1954), S. 31 – 4 0, hier S. 35 f. 42 Niederschrift über die Sitzung der Bezirksfachkommission Museen in Dresden am 20. 07. 1959. Bundesarchiv Berlin DR 141/1, Nr. 50. 43 Bericht über die Museumslage und -arbeit im Landes Sachsen-Anhalt für die Jahre 1945 – 1947 vom 15. 10. 1947. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Magdeburg, K 10, Nr. 1482, Bl. 708 – 710. 44 Tätigkeitsbericht des Referates Museen im Landesamt für Naturschutz und Kulturpflege (01.07. – 30. 09. 1948) vom 27. 09. 1948. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Magdeburg, K 10, Nr. 8, Bl. 414.
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Abb. 3 Verteilung der Heimatmuseen in den Bezirken der DDR, Stand 1959
Von den 448 Museen, die es 1958 in der DDR gab, waren 73 nach 1954 entstanden, ein Großteil davon als Heimatstuben. Die Dunkelziffer, das wusste auch Knorr, dürfte wesentlich höher gewesen sein. Noch im Mai 1961 sprach er von einer »kaum zu erfassende[n] Zahl von unkontrolliert entstehenden Heimatstuben in allen Bezirken«.45 Die Gründungsmotive waren vielschichtig, schwankten aber stets zwischen dem Versuch, »die letzten Dinge vor der Vernichtung zu retten«, den Schulen Anschauungsmaterial zur Verfügung zu stellen und der Heimatforschung einen Raum zu bieten.46 Gegründet, getragen 45 Vgl. Heinz A. Knorr: Ortsmuseen und Heimatstuben. Eine Betrachtung über das Netz der heimatkundlichen Museen, insbesondere über die Situation in den Ortsmuseen und Heimatstuben. In: Neue Museumskunde 2 (1959) 2, S. 105 – 131, hier S. 107; ders.: Heimatstuben. In: Neue Museumskunde 2 (1959) 3, S. 193 – 206, hier S. 193. Bemerkungen der Fachstelle für Heimatmuseen zur Verbesserung des Museumswesen in der DDR vom 09. 05. 1961. Bundesarchiv Berlin, DR 141/72. 46 Schreiben von Heinz A. Knorr an A. Bernstein vom 16. 05. 1957. Bundesarchiv Berlin DR 141/91; vgl. Heinz A. Knorr: Die Heimatmuseen, ihre Bedeutung für das Studium und
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und finanziert wurden derartige Heimatstuben vorrangig von Mitgliedern der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund, die sich teilweise einen seit mehreren Jahrzehnten gehegten Traum erfüllten.47 Beflügelt wurden die Initiativen einmal durch die Programmerklärung des MfK vom Oktober 1954, die in jedem Kreis der DDR ein Heimatmuseum forderte.48 Stimulierend wirkten ferner das Wiederaufkeimen der heimatkundlichen Forschung und die Reaktivierung des ›Heimatlichen‹ überhaupt. Auch die zu dieser Zeit anlaufende Diskussion um den sozialistischen Heimatbegriff, vor allem aber die Einführung des heimatkundlichen Unterrichts in den Schulen im Mai 1955 erwiesen sich als begünstigende Faktoren.49 Allerdings war den Heimatmuseen mit dem am 5. Juli 1955 vom Politbüro des ZK der SED erlassenen »Geschichtsbeschluss« auch die Aufgabe erteilt worden, unter Anleitung des MfK und mit Unterstützung der Natur- und Heimatfreunde »die Geschichte der engeren Heimat in unlösbarer Verbindung mit der Geschichte des ganzen deutschen Volkes zu zeigen« und dabei »der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Entwicklung nach 1945 größere Aufmerksamkeit zu[zu]wenden«.50 Vor dem Hintergrund dieser geschichtspolitischen Inanspruchnahme wird klar, warum die Heimatstuben nun in den Fokus museumspolitischer Reglementierungsabsichten gerieten. Ihre Gründung und Entwicklung müssten »sinnvoll gelenkt« werden, meinte Knorr.51 Voraussetzung zur Einrichtung einer Heimatstube seien ein »reales Bedürfnis« sowie die entsprechenden räumlichen und monetären Voraussetzungen. Der Bedarf müsse strengstens geprüft werden, da ein »lawinenhaftes Anwachsen dieser Bestrebungen zur Zeit durchaus nicht von Nutzen ist«, forderte beispielsweise die Fachstelle für Heimatmuseen gegenüber dem Rat des Bezirks Leipzig im Februar 1956. Gerade in diesem Bezirk, in dem die Museumssituation »im großen und ganzen ein wenig erfreuliches Bild« die Erforschung der Heimatgeschichte. In: Hubert Mohr/Erik Hühns: Einführung in die Heimatgeschichte. Berlin (Ost) 1959, S. 218 – 247. 47 Schreiben von H. Seidel (Oderberg) an die Zentrale Fachkommission Heimatmuseen vom 08. 07. 1954. Bundesarchiv Berlin DR 141/52. 48 Vgl. Über den Aufbau einer Volkskultur (wie Anm. 39), S. 55. 49 Vgl. Dieter Riesenberger: Heimatgedanke und Heimatgeschichte in der DDR . In: E deltraut Klueting (Hrsg.): Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991, S. 320 – 343, hier S. 327; Anordnung über die Arbeit in den Heimatmuseen der Deutschen Demokratischen Republik vom 03. 07. 1955. In: Gesetzblatt der DDR, Teil II, Nr. 41 vom 05. 08. 1955, S. 269 – 271. 50 Die Verbesserung der Forschung und Lehre in der Geschichtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik. In: ZfG 3 (1955) 4, S. 507 – 527, hier S. 525. 51 Schreiben von Heinz A. Knorr an die Räte der Bezirke, undat. (1955). Bundesarchiv Berlin DR 141/6.
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biete, war das auf die »Vielzahl der nicht lebensfähigen Museen und Heimatstuben« zurückzuführen.52 Die überall in der DDR entstehenden musealen Kleinstformen mussten auf die Kulturadministration, aber auch auf die Leiter etablierter Häuser wie eine Bedrohung gewirkt haben. Käthe Rieck vom Kulturhistorischen Museum Stralsund hob 1958 zwar den quantitativen Zuwachs von Museen im Bezirk Rostock zustimmend hervor, mahnte zugleich aber an, dass bei »aller Anerkennung der aus Heimatgefühl entsprungenen Initiative […] nicht jede Neugründung als ein Gewinn für das Museumswesen zu werten« sei. Man habe sich die Aufgabenstellung eines Museums oft zu einfach vorgestellt und angenommen, mit der Zurschaustellung von »mehr oder weniger heimatbezogenen Gegenständen« ein Museum geschaffen zu haben, verfehle dabei jedoch die »angestrebten Erziehungs- und Bildungsziel[e]«.53 Trotz der staatlichen Eingriffe setzten sich die »eigenwillige[n] Gründungen« von Heimatstuben in »zügellose[r] Romantik« ungebremst fort.54 Worin bestand aber das Problem der Heimatstuben? Knorr brachte es in einem Vortrag im Oktober 1958 in Weimar auf den Punkt. Programmatisch hatte er seine Ausführungen unter den Titel Wie schaffen wir das sozialistische Museum? gestellt.55 Über die Heimatstuben dozierte er: »Hier entsteht unmittelbar vor unseren Augen das typische alte Heimatmuseum, das sich zusammensetzt aus Heimattümelei, Individualismus und Materialverzettelung.« Im Geiste einer »altherkömmlichen Heimatgeschichtsbetrachtung« zeigten sich für Knorr in den Heimatstuben Museumsformen einer überwunden geglaubten Gesellschaftsordnung, die in bester bürgerlicher Tradition und in geradezu unbefangener Handhabung historischer Themen das Deutungsmonopol der Partei- und Staatsmacht über Geschichte zu unterminieren drohten: »[D]as alte Bewußtsein schafft nach alten Vorbildern sogar neue Museen dieser überholten Epoche!«56 In der Tat boten diese kleinsten musealen Orte ein Einfallstor für Vorstellungen von Heimat und Heimatpflege, die der seit 1955 in der DDR laufenden 52 Schreiben von H. Müller an den Rat des Bezirkes Leipzig vom 18. 02. 1956, betr. Charakteristik kleiner und kleinster Museen. Bundesarchiv Berlin DR 141/71. 53 Bezirksanalyse des Bezirkes Rostock, 13. – 18. 05. 1956. Bundesarchiv Berlin DR 141/116; vgl. Käthe Rieck: Die Entwicklung des Museumswesens im Bezirk Rostock von 1945 – 1957. In: Neue Museumskunde 1 (1958) 1, S. 6 – 14, hier S. 10. 54 Schreiben von Heinz A. Knorr an den Rat des Kreises Schönbeck vom 12. 07. 1958. Bundesarchiv Berlin DR 141/82. 55 Vgl. Martin Schumacher: »Wie schaffen wir das sozialistische Museums?« Ein Referat von Heinz A. Knorr aus dem Jahre 1958. In: Neue Museumskunde 32 (1989) 3, S. 199 – 204. 56 Zitiert ebd., S. 202 – 204.
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Diskussion über ein neues Heimatverständnis diametral entgegengesetzt waren. Der »neue Inhalt« des Heimatbegriffs war in der DDR von den »veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen« gekennzeichnet.57 »Der Begriff Heimat ist klassengebunden«, hieß es beispielsweise in einem vom Kulturbund für das ZK der SED ausgearbeiteten Grundsatzpapier, das »Heimat« als Mittel des Bürgertums zur Unterdrückung der Arbeiterklasse entsprechend negativ konnotierte: a) Heimat = Geburtsort. Sehr gefühlsbetonte Abkapselung von der Politik, Kirchturmshorizont – oder aggressiv chauvinistisch, z. B. zur Aufhetzung der Umsiedler als ›Heimatvertriebene‹, statt ihnen wie in der DDR eine neue Heimat zu geben. b) Heimat = Kraftquell zur Erholung. Intellektuell passiver Begriff, der das Ich von der Heimat trennt, die Heimat als etwas Gegebenes hinnimmt, das mögliches nicht verändert werden soll, um romantische Gefühle nicht zu verletzen. Also stark reaktionär. c) Heimat als Gefühl im Menschen. Idealistischer Begriff, der die Heimat als objektive Wirklichkeit leugnet.58
Gegenüber diesen ›bürgerlichen‹ Heimatvarianten galt es sich abzugrenzen. In der DDR war »Heimat« demnach dort, »wo der Sozialismus aufgebaut und der Frieden verteidigt wird«.59 So hatte es Karl Kneschke als Bundessekretär des Kulturbundes und Meinungsführer der Heimatdiskussion für die Natur- und Heimatfreunde formuliert, die antraten, »das Wesen unserer sozialistischen Heimat zu erfassen und zu erklären«, um die DDR »zur wirklichen Heimat der Werktätigen« werden zu lassen.60 In der Zentralen Kommission der Natur- und Heimatfreunde herrschte 1958 Klarheit, w elchen Zweck man mit der Diskussion um den neuen Heimatbegriff verfolgte: »Die Bedeutung der begonnenen Diskussion liegt vor allen Dingen darin, daß […] endlich auch in unserer gesamten Organisation eine kämpferische, klar marxistisch-leninistische und daher offen parteilich-ideologische Diskussion geführt wird, mit dem Ergebnis, überall und durchgängig mit dem ganzen romantisch bourgeoisen Zopf von Heimattümelei, Vereinsmeierei und privater Steckenpferdreiterei aufzuräumen und die Natur- und Heimatfreunde […] 57 Anweisung zur Einführung des Faches Heimatkunde in der deutschen demokratischen Schule vom 30. 06. 1955. In: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung der DDR, Nr. 16/1955 vom 20. 07. 1955. 58 Schreiben von L. Noack (Zentrale Kommission der Natur- und Heimatfreunde) an R. Wagner (ZK der SED, Abt. Wissenschaft) vom 10. 06. 1958, betr.: Gedanken zum sozialistischen Heimat begriff. SAPMO-Bundesarchiv Berlin DY 30/IV 2/9.04/115, Bl. 94 – 99, hier Bl. 96. 59 Karl Kneschke: Über den Heimatbegriff. In: Natur und Heimat 7 (1958) 1, S. 1 – 4, hier S. 4. 60 Arbeitsplan der Zentralen Kommission der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund. Berlin (Ost) 1958, S. 2.
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zu aktiven Sozialisten werden zu lassen.«61 Fortan sprach man von einer ›engeren Heimat‹ und meinte den unmittelbaren Lebensbereich des Einzelnen, wobei man unter der ›weiteren Heimat‹ das Vaterland und damit die DDR verstand. Von diesem sozialistischen Heimatparadigma weit entfernt bewegten sich die Schöpfer von Heimatstuben wie etwa Max Stecher, der versuchte, die Einrichtung eines »Heimatzimmers« zu begründen: Er [der Heimatkundler] sieht die Stube nicht von den berechtigten Belangen des Museums aus, sondern er beurteilt sie nach seiner Einstellung zu dem für ihn wichtigen Problem Heimat. Dabei vertritt er eine neue Heimatauffassung. Heimat ist ihm nicht die gewohnte geographisch fundierte Erläuterung […]. Sondern ihm ist die Heimat in einer mehr verinnerlichten Fassung mit vordringlicher Betonung des seine Heimat erlebenden Menschen, die allgemein menschliche Erfahrung des Geborgenseins in der erlebten Umwelt; und diese Umwelt wird von ihm nicht in erster Linie geographisch gesehen als der uns umgebende sacherfüllte Raum. Vielmehr sind ihm Heimat zunächst die ihm nahestehenden Menschen, der Familienkreis, der größere Gemeindekreis usw., kurz alle die bekannten natürlichen Lebensgemeinschaften […]. Diese seine Heimat ist für jeden ein Geschenk des Schicksals, das ihm vielseitig bereichert, ohne daß er sich darum müht.62
Da d ieses von Stecher dargelegte Heimatverständnis wenngleich nicht immanenter Bestandteil, so doch weitverbreiteter Inhalt der Heimatstuben gewesen sein dürfte, wird klar, warum Knorr diese Einrichtungen als unzeitgemäße Inseln in einer Museumslandschaft betrachtete, die sich zusehends in seinem Sinn zu wandeln begann: »Heimatstuben im üblichen Sinne wie früher mit dem romantischheimattümelnden Einschlag können wir uns heute nicht mehr erlauben.«63 In ihrer »Eigenbrötelei« und »engstirnigen, lokalpatriotischen« Sicht auf die Dinge waren die Heimatstuben »alles andere als ein Aushängeschild musealer Arbeit«. Sie trügen zu einer Zersplitterung des historischen Materials bei, so Knorr, und ließen auch in Fragen der Präsentation sehr zu wünschen übrig. Heimatkund liche Dokumente wurden »unsachgemäß behandelt, falsch ausgestellt und letzten Endes nicht im Sinn unserer Weltanschauung aufgestellt«, kritisierte Knorr.64 61 Bemerkungen von Daniel Hoffmann-Ostwald zur Diskussion über den Begriff »Heimat«, undat. (1958). Bundesarchiv Berlin, DR 141/1. 62 Max Stecher: Von der Heimat»stube« zum Heimat»zimmer«. Ein Vorschlag, das heimatliche Werken zu intensivieren, undat. (1960). Bundesarchiv Berlin, DR 141/100. 63 Schreiben von Heinz A. Knorr an den Rat der Stadt Doberlugk-Kirchhain vom 02. 12. 1958. Bundesarchiv Berlin DR 141/26. 64 Schreiben von Heinz A. Knorr an den Rat der Stadt Zeulenroda vom 29. 07. 1958. Bundesarchiv Berlin DR 141/94; Schreiben von Heinz A. Knorr an den Rat des Kreises Zeitz vom 25. 10. 1958. Bundesarchiv Berlin DR 141/36; Heinz A. Knorr: Heimatstuben (wie Anm. 45), S. 202.
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Mitunter muteten die Heimatstuben geradezu subversiv an. »Ihre Schau lässt die Besucher nur in die Vergangenheit versinken und falsche Vorstellungen über die Heimat und ihre Geschichte aufkommen.«65 Auf diese Art entzogen sie sich einerseits erfolgreich den gültigen geschichts- und kulturpolitischen Leitlinien, andererseits waren sie kaum mit einem kollektivistischen Verständnis »kultureller Bedürfnisse« in Einklang zu bringen: Hinter der Einrichtung von Heimatstuben verbirgt sich ganz offensichtlich eine Art kulturelle Selbstbetätigung, allerdings nur eines kleinen Teils der Bevölkerung, vornehmlich der älteren Generation. Diese will im Bewußtsein ehrlicher Überzeugung der Heimatpflege dienen, und sie läßt sich dabei von Erinnerungen leiten. Bezeichnend ist die Tatsache, daß die Heimatstube, einmal auf die Welt gekommen, ehrfürchtig wie ein Methusalem betrachtet wird.66
Als die Zahl der Heimatstuben allen Unkenrufen zum Trotz weiter anstieg, versuchte Knorr, diesen Einrichtungen den Garaus zu machen. In den von ihm 1960 verfassten Grundsätzen über die sozialistische Umgestaltung der Heimatmuseen findet sich die Festlegung, das unterhalb der Kreismuseen liegende »Netz von Ortsmuseen und Heimatstuben zu überprüfen und zu korrigieren«.67 Tatsächlich lässt sich danach mehrfach die Aufforderung der Fachstelle an die Räte der Kreise belegen, Heimatstuben zu schließen, stets begleitet von dem Argument, in der Bevölkerung keine falschen Vorstellungen über Rolle und Bedeutung der Heimatmuseen aufkommen zu lassen.68 Durch die Stärkung der Kreismuseen sollten die Heimatstuben schließlich überflüssig gemacht werden oder, sofern sie wirkliches Potenzial besaßen, als Dependancen größerer Häuser die Kulturarbeit auf dem Lande beleben.69 Im Zuge der am Beginn der 1960er Jahre angeschobenen ›Profilierung des Museumsnetzes‹ – deren Ziel darin bestand, die Museumslandschaft der DDR den ›gesellschaftlichen Bedürfnissen‹ anzupassen – wurden mehrfach Heimatstuben und kleine Heimatmusen ›liquidiert‹. Sammlungsauflösungen waren die Folge. 65 Heinz A. Knorr: Heimatstuben (wie Anm. 45), S. 199. 66 Heinz A. Knorr: Die Aufgaben der Heimatmuseen im Jahre 1960 auf der Grundlage des Siebenjahrplanes. Referat auf der Tagung der ZFK am 08. und 09. 12. 1959 in Leipzig, zitiert bei Martin Schumacher: »Der Klang des Wortes Heimatmuseum wird ein anderer!« Zum Referat von Heinz A. Knorr am 9. Dezember 1959 in Leipzig. In: Neue Museumskunde 32 (1989) 4, S. 268 – 275, hier S. 273 – 275. 67 Grundsätze über die sozialistische Umgestaltung der Heimatmuseen, S. 19. 68 Schreiben von H. A. Knorr an den Rat des Kreises Zeulenroda vom 03. 10. 1960. Bundesarchiv Berlin DR 141/31. 69 Heinz A. Knorr: Heimatstuben (wie Anm. 45), S. 204.
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Auch Stimmen, die ein solches Vorgehen als »undemokratisch« kritisierten, konnten Museumsschließungen nicht immer verhindern.70 Mit Vehemenz machte Josef Horschik als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR in einer 1965 verfassten Denkschrift auf den Zustand von Orts- und Heimatmuseen aufmerksam und zeigte sich schockiert über den zum Teil erschreckenden Umgang mit kulturellen Werten. Die immer wieder anzutreffende Absicht, kleinere Heimatmuseen und Heimatstuben aufzulösen, habe den ehrenamtlichen Kräften die Freude und Sicherheit genommen, ohne jemals Verständnis, geschweige denn Anerkennung für ihre volkskundliche Arbeit gefunden zu haben. Horschik schrieb: »In solchen Museen wird gearbeitet und gesammelt, dort wird mit dem Handwagen der letzte Webstuhl vom Nachbarort geholt, Bauernschränke vor dem Zerhacken gerettet, dort besteht auch eine enge Verbindung zur Bevölkerung.«71 Geradezu tragisch gestaltete sich die Situation des Museums in Niesky (Bezirk Dresden), das auf Beschluss des Rates des Kreises »wegprofiliert« wurde, um darin Schulzimmer einzurichten. Der Museumsleiter war bei der Räumung nicht anwesend. »Hier wurde in wenigen Stunden«, so schrieb Horschik, »die Arbeit eines Jahrzehnts zerstört. Dem Museumsleiter, einem alten Schulrektor, war es gelungen, mit bescheidenen Mitteln kulturelle und informative Ausstellungsstücke zusammenzutragen und die Bevölkerung zu Schenkungen zu bewegen. Er ließ es sich nicht nehmen, mit 77 Jahren jede Schulklasse selbst zu führen. […] Das Museum war Lebensinhalt eines verdienten Schulmannes, der jetzt verstört vor den wüst durcheinander liegenden Stücken seiner Sammlung steht.«72
4. Fazit und Ausblick In Heimatmuseen und Heimatstuben in der DDR traf der geschichtspolitische Gestaltungsanspruch der SED auf ein tradiertes und vor 1945 in Strukturen traditioneller Heimat-, Geschichts- und Museumsvereine sozialisiertes Fachpersonal, das die staatlichen Absichten, den öffentlichen Raum bis hinunter auf die lokale Ebene mit einer klassenkämpferischen Geschichtserzählung und einem sozialis tischen Heimatverständnis zu besetzen, in Frage stellte. Das eigene Umfeld wurde mit Hilfe von Sachüberlieferungen örtlicher Provenienz und unverfänglichen 70 Schreiben von S. Sieber (Aue) an E. Bartke (MfK) vom 02. 11. 1964, betr. Stellungnahme eines alterfahrenen Fachmanns zur Schließung von Museen in der DDR. Bundesarchiv Berlin DR 1/7477, Bd. 2. 71 Josef Horschik: Die Heimatmuseen der DDR und ihre jetzige Situation, 20. 05. 1965. Bundesarchiv Berlin DR 141/32. 72 Edb.
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historischen Th emen museal präsentiert. Die von den Museumsleitern ausgehende Beharrungskraft und eigensinnige Verweigerungshaltung waren jedoch keine politische Opposition; sie speisten sich vielmehr aus einem methodisch in der Heimatgeschichtsforschung des 19. Jahrhunderts wurzelnden Vergangenheitszugriff und stellten sich in diesem Sinne eher als stille Resistenz gegenüber der sozialistischen Kulturpolitik dar. Das heimatmuseale Sammlungs- und Präsentationsinteresse ließ sich allein schon aufgrund des beachtlichen ehrenamtlichen Engagements unzähliger Heimatenthusiasten nicht hinreichend kontrollieren, geschweige denn unterdrücken. Ein Beispiel für diese Geschichtskonjunktur ›von unten‹ ist der Aufbau des Thünen-Museums in Tellow (Mecklenburg-Vorpommern). Hier begann 1969 unter Anleitung eines Lehrers eine Schülerarbeitsgemeinschaft ›Natur- und Heimatforscher‹ damit, den ehemaligen Gutshof des Sozialreformers sowie Agrar- und Wirtschaftswissenschaftlers Johann Heinrich von Thünen (1783 – 1850) vor dem Verfall zu retten und museal auszubauen. Im März 1972 erfolgte die Eröffnung des Museums, das 1988 in die Trägerschaft des Kreises Teterow übernommen wurde. Eine am Beginn der 1970er Jahre im MfK erstellte Statistik weist für die DDR insgesamt 377 Heimatmuseen aus, 88 davon wurden ehrenamtlich betreut – das waren immerhin 23 Prozent.73 Zu beobachten ist also eine Entwicklung, die am Beginn der 1950er Jahre einsetzte, sich mit unterschiedlicher Intensität fortsetzte und auch in der Ära Honecker noch nicht zu einem Abschluss gekommen war – nun allerdings nicht mehr mit der Forderung, dem Museumsboom energisch entgegenzutreten, sondern ganz im Gegenteil mit der Warnung, das ehrenamtliche Heimatengagement der Bevölkerung nicht herabzusetzen: »Sie [die Heimatstuben] entstehen teilweise zu spontan, und man ist als Museumsleiter oft überrascht. Natürlich müssen die staatlichen Lenkungsmaßnahmen behutsam sein, um die Begeisterung der Bürger, das kulturelle Erbe zu pflegen, nicht abzubremsen.«74
73 Ehrenamtlich geleitete Museen, undat. (ca. 1970). Bundesarchiv Berlin, DR 141/Rat für Museums wesen 109. 74 Vgl. Joachim Voigtmann: Über Leitungsmethoden bei der Entwicklung des Museumswesen im Bezirk Karl-Marx-Stadt. In: Konferenz der Museumsdirektoren der DDR am 17. und 18. November 1976. Protokollband, Teil II (Schriftenreihe des Instituts für Museumswesen, 9, Teil 2). Berlin (Ost) 1977, S. 179 – 184, hier S. 183.
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Wider die atomisierte Gesellschaft Lokales Umweltengagement und der Kampf um die Öffentlichkeit
Ein junger Mann nahm im Mai 1983 an einem Treffen kirchlicher Umweltgruppen in Potsdam-Hermannswerder teil und hörte dort von den zunehmenden Waldschäden im Erzgebirge. Er fasste den Entschluss, mehr Menschen über d ieses Umweltproblem zu informieren. Weihnachten schien dafür ein geeigneter Zeitpunkt, da an den Festtagen mehr Menschen als üblich in die K irchen strömten. Sein Plan war es, abgestorbene Fichten aus dem Erzgebirge in Potsdamer Kirchen aufzustellen und mittels Wandzeitungen über die Luftverschmutzung und die damit verbundenen Waldschäden zu berichten. Er konnte schließlich sechs Pfarrer von seiner Idee überzeugen. Im Dezember 1983 reiste er mit zwei weiteren Aktivisten in den Kirchenforst Schellerhau in der Nähe von Zinnwald im Osterzgebirge und schlug dort fünf rauchgeschädigte Fichten ein. In Potsdam wurde die Gruppe am Bahnsteig von MfS-Einheiten erwartet und in das Untersuchungsgefängnis der Bezirksverwaltung Potsdam verbracht. Es folgte eine Woche strikter Isolation und intensiver Befragung. Am 23. Dezember drohte der Generalsuperintendant von Potsdam dem Rat des Bezirkes Potsdam damit, in seiner Weihnachtspredigt das Thema anzusprechen, sollten die drei Aktivisten noch länger inhaftiert bleiben. Damit hätte der Pfarrer die Öffentlichkeit hergestellt, deren Wirksamkeit das MfS mit seinen Verhaftungen zu verhindern versucht hatte. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Die drei jungen Männer wurden freigelassen und wegen ›Rowdytums‹ zu 750 Mark Geldstrafe verurteilt. Dafür mussten sie auf ihre Bäume verzichten und der Pastor versprach, das Thema nicht in der Predigt anzusprechen. Das Beispiel ist gut geeignet, die wesentlichen Grundzüge herauszuarbeiten, wie und nach welchen Regeln in der DDR Umweltprobleme thematisiert werden konnten. Das Regime war bestrebt, den öffentlichen Raum zu kontrollieren und in diesem nur Meinungsäußerungen zu dulden, die von ihm sanktioniert waren. Um dieses Monopol durchzusetzen, scheute es auch in den 1980er Jahren nicht davor zurück, junge Menschen für eine vergleichsweise harmlose Aktion zu inhaftieren und massiv unter Druck zu setzen. Dem vorgeschaltet steht aber die Frage, warum das Regime bemüht war, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Umweltzustand zu unterbinden.
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Die Antwort darauf findet sich in dem latenten Legitimationsdefizit der SEDHerrschaft. Der antifaschistische Grundkonsens der unmittelbaren Nachkriegsjahre war schnell zu einer hohlen Phrase verkommen.1 Der immer deutlicher zu Tage tretende Widerspruch z wischen demokratischem Anspruch und diktatorischer Erfahrung – kulminierend in den Ereignissen im Juni 1953 – wirkte latent destabilisierend, und die SED war bemüht, ihre Herrschaft dahingehend zu legitimieren und zu stabilisieren, indem sie konsensuale Elemente z wischen Herrschenden und Beherrschten betonte.2 Die ›Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik‹ unter Erich Honecker ist das bekannteste Beispiel, die Bevölkerung mit der diktatorischen Herrschaft der SED zu versöhnen. Die Segnungen des Konsumsozialismus zielten darauf ab, die Bevölkerung zu befrieden und von den politischen Machtverhältnissen abzulenken. Kritische Stimmen, die den Herrschaftsanspruch der Partei zu hinterfragen gewagt hätten oder auch nur die offiziösen Darstellungen der Leistungen des Regimes angezweifelt hätten, galt es darum zu unterbinden. Jede unabhängige Interessenartikulation war prinzipiell geeignet, die etablierten Macht- und Entscheidungsstrukturen zu schwächen.3 Das ist unmittelbar einsichtig, wenn es um die zentralen Fragen der Herrschaftssicherung und Machtverteilung geht. Warum jedoch unterdrückte das Regime auch Äußerungen zum Umweltzustand derart radikal und sperrte Jugendliche wochenlang in Unter suchungshaftanstalten? Eine Antwort auf diese Frage ist in den späten 1960er Jahren zu suchen, als das Regime begann, den Umweltschutz als eine Legitimationsquelle aufzubauen. Das Versprechen war, dass die sozialistische Gesellschaft ein tragfähigeres Mensch-Natur-Verhältnis erreichen könne als der Kapitalismus, der nicht nur die Menschen, sondern in letzter Konsequenz auch die Umwelt ausbeute. Die eigenen Fehlleistungen und – schlimmer noch – das deutliche und zunehmende Zurückbleiben hinter den Erfolgen des feindlichen Kapitalismus auf diesem Gebiet galt es zu verschleiern, um die Legitimationsgrundlage zu erhalten und letztendlich das Stellen der Machtfrage zu unterdrücken. Bevor der Frage nachgegangen wird, warum das Regime Umweltdiskussionen konsequent zu unterbinden suchte, muss zunächst ein Blick darauf geworfen werden, wie es der SED gelang, die Öffentlichkeit effektiv zu kontrollieren. Ein Charakteristikum dieser Kontrolle war es, die öffentliche Kommunikation zu steuern und zu überwachen und damit zu verhindern, dass sich Personen mit 1 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte: Fünfter Band. München 2008, S. 342. 2 Vgl. Hedwig Richter: Die DDR. Stuttgart 2009, S. 13. 3 Hubertus Knabe: Umweltkonflikte im Sozialismus: Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Problemartikulation in sozialistischen Systemen. Eine vergleichende Analyse der Umweltdiskussion in der DDR und Ungarn. Köln 1993, S. 71.
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regimekritischen Einstellungen zusammenschließen und gemeinsam artikulieren konnten, ja im Idealfall diese Personen noch nicht einmal wussten, dass es andere Menschen mit derselben Einstellung gab. Dieser theoretische Zustand des vollständig vereinzelten Individuums, das sich zur Kontaktaufnahme mit anderen Individuen nur auf vom Regime bereitgestellte und überwachte Kanäle stützen kann, hat Hannah Arendt als atomisierte Gesellschaft bezeichnet. Im Anschluss soll die Frage diskutiert werden, warum es ausgerechnet der aus lokalem Umweltengagement erwachsenen unabhängigen Umweltbewegung gelang, diese Atomisierung zu überwinden, sich zu vernetzen, tragfähige Organisationsstrukturen abseits der Massenorganisationen zu schaffen und eine immer deutlicher zu vernehmende Gegenöffentlichkeit zu etablieren.
1. Die Struktur der Öffentlichkeit Atomisierte Gesellschaften galten lange Zeit als ein Kennzeichen totalitärer Systeme.4 Folgt man den Grundannahmen der – mittlerweile relativierten – Totalitarismustheorie, dann bestimmt allein eine staatstragende Partei über Aufbau und Verfassung der Gesellschaft. Auch wenn die SED im Besitz der wesentlichen Machtmittel war, über den von ihr kontrollierten Staatsapparat verfügte, das Wissenschaftssystem nach ihren Vorstellungen gestaltete, die Wirtschaft steuerte, die Gesellschaft in Massenorganisationen organisierte und eine gesellschaftliche Selbstorganisation verhinderte, so ging die soziale Realität nicht in diesem Modell auf. Zahlreiche empirische Studien haben inzwischen die Begrenztheit des staatlichen Steuerungsanspruchs verdeutlicht und den Eigensinn der Bürger aufgezeigt. Dennoch ist es auch wenig hilfreich, das analytische Instrument des Totalitarismus gänzlich zu verwerfen, wie es in jüngeren Arbeiten zur Umweltgeschichte der DDR angemahnt worden ist.5 Der Ausgestaltung im Einzelnen unbeachtet, beharrte die SED grundsätzlich auf dem Anspruch, die »gesamte gesellschaftliche Entwicklung in allen ihren Aspekten zu planen und zu steuern«.6 Es steht 4 Vgl. Helmut Fehr: Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen: Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR. Opladen 1996, S. 54 und Peter Steinbach: Diktaturerfahrung und Widerstand. In: Klaus-Dietmar Henke/Peter Steinbach/ Johannes Tuchel (Hrsg.): Diktaturerfahrung und Widerstand. Köln u. a. 1999, S. 57 – 84, hier S. 62 f. 5 Christian Möller: Umwelt und Herrschaft in der DDR: Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur. Göttingen 2020. 6 Sigrid Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 5 – 15, hier S. 5.
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jedoch außer Frage, dass die ostdeutsche Gesellschaft bei der Machtübernahme der SED bereits zu stark ausdifferenziert war, um eine ›totale‹ »Verstaatlichung der Gesellschaft« auch tatsächlich zu verwirklichen.7 Die zu komplexe gesellschaftliche Realität ließ also trotz des starken Steuerungsanspruches der SED ohne Zweifel Reste von gesellschaftlicher Eigendynamik zu. Es ist das erste Kernanliegen des vorliegenden Beitrags, diesen Resten nachzuspüren, Kommunikations- und Handlungsspielräume aufzuzeigen und auszuloten, wie die SED-Diktatur infolge der Etablierung von gesellschaftlichen Kommunikationssträngen am Regime vorbei erodierte. Dazu sind methodische Überlegungen nötig, die zwar am Totalitarismus als Herrschaftsanspruch der SED festhalten, aber die vielen Graubereiche der gesellschaftlichen Realität ernst nehmen. Jürgen Kocka hat die DDR als »durchherrschte Gesellschaft« interpretiert, in der die gesellschaftliche Entwicklung untrennbar mit der staatlich-parteilichen Herrschaft verzahnt gewesen sei. Der »Durchherrschung« seien allerdings auch deutliche Grenzen gesetzt gewesen, etwa durch Funktionsdefizite des Apparats oder die Fortexistenz bzw. Neuentstehung »informeller Strukturen, inoffizieller Beziehungsgeflechte und Problemlösungsmuster«.8 Den von der SED geschaffenen Institutionen und den einzelnen Akteuren verblieb ein Restmaß an Selbstständigkeit, die es ermöglichte, Th emen auch ›von unten‹ auf die politische Agenda zu setzen. Für Konrad Jarausch war die Gesellschaft hingegen kein »Objekt der SEDPolitik«. Er hat lediglich eine »hochgradig politisch determinierte Gesellschaft« erkannt, die er in Anlehnung an Sigrid Meuschel als »stillgelegt« beschrieben hat.9 Die Gründe für das Stillgelegtsein seien dabei variabel und reichten von direkter physischer Bedrohung bis hin zu einer impliziten Zustimmung mit den herrschenden Verhältnissen. Allerdings behalte die Gesellschaft grundsätzlich ihre Fähigkeit zu eigendynamischer Entwicklung, sie mache lediglich auf Zeit keinen Gebrauch davon. Es s eien demnach Konstellationen denkbar, in denen die Zeit des Stillhaltens ende. Der Journalist und Politiker Günter Gaus schließlich hat die DDR-Gesellschaft, die er als atomisiert ansieht, in einen öffentlichen und einen privaten Bereich getrennt. Der öffentliche Teil sei vollständig der Kontrolle des Regimes unterworfen gewesen, in der privaten Nische jedoch s eien durchaus 7 Detlef Pollack: Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen? In: Geschichte und Gesellschaft 24 (1997), S. 110 – 131, hier S. 116. 8 Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft. In: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 547 – 553, hier S. 551. 9 Konrad Hugo Jarausch: Die gescheiterte Gegengesellschaft: Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der DDR. In: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 1 – 17, hier S. 2.
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»Freiräume von der herrschenden Lehre« zu erkennen gewesen.10 Wichtig ist zu betonen, dass Gaus diese Nischen nicht mit Widerstand und Opposition in Verbindung bringt, sondern als Rückzug ins Private definiert. Nur wer sich mit dem Staat habe überwerfen wollen, sei aus der Nische herausgetreten und habe den Konflikt gesucht. Der vorliegend zum Tragen kommende Ansatz greift Elemente all dieser Deutungen auf. Schematische Vereinfachungen gesellschaftlicher Realitäten können immer nur ein Hilfsmittel sein, um einzelne Prozesse besser nachvollziehen zu können. Die DDR-Gesellschaft soll hier als System konzentrischer Kreise gedacht werden, die um ein gemeinsames Forum angeordnet sind. Das Forum selbst steht unter der weitgehend vollständigen Kontrolle der SED und der von ihr gelenkten Massenorganisationen. Meinungsäußerungen in Fernsehen, Rundfunk und Presse unterlagen der direkten und in ihrer Umsetzung effektivsten Kontrolle des Regimes, den öffentlichen Raum überwachte es engmaschig und unterdrückte spontane Versammlungen, entfernte missliebige Plakate oder Transparente, überstrich Graffiti mit kritischen Aussagen. Es ist leicht zu erkennen, dass unter diesen Umständen von kontrollierter und damit konstruierter Öffentlichkeit nicht jeder Sprechwillige – vor allem, wenn er sich regimekritisch äußern wollte – auch sprechfähig war. Das Besondere an den konzentrischen Kreisen, die sich um das Forum herumlegen, ist, dass diese nicht durchgängig, sondern segmentiert sind – und zwar umso stärker, je weiter sie vom Forum entfernt sind. Auf den mittleren Ringen liegen Betriebe, Sportvereine oder Kleingartenvereine. Den äußersten Ring bilden dann sinngemäß die privaten Nischen. Je weiter man sich vom Forum entfernt, desto schwächer fällt der Grad der ›Durchherrschung‹ aus, die Varianz des Sagbaren sowie die Sendefähigkeit des Einzelnen nehmen zu und der Konformitätsdruck ab. Die Segmentierung verhindert aber, dass das in der einen Nische Gedachte und Gesagte ungehindert in eine andere Nische eindringen kann. Natürlich sind dabei Individuen immer in einer Vielzahl von Segmenten als Betriebsangehörige, Familien- oder Kirchenmitglieder verortet und können so Vorstellungen und Überzeugungen in begrenztem Umfang z wischen den Segmenten kommunizieren. Eine überpersönliche, stabile und eine Vielzahl von gesellschaftlichen Segmenten einbeziehende Kontaktaufnahme war im vorgestellten Ausgangszustand jedoch nur über das Forum möglich. Zudem sind Rückkopplungseffekte zu beachten. Die auf dem Forum dominanten Deutungen strahlen in die Segmente aus und beeinflussen auch dort die Wahrnehmung und Deutung von Th emen. Es war nicht so, dass die DDR-Bürgerin oder der DDR-Bürger nach der D emonstration zum 10 Günter Gaus: Wo Deutschland liegt: Eine Ortsbestimmung. Hamburg 1983.
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rsten Mai ihr oder sein FDJ-Hemd auszog und in der privaten Nische dachte E und agierte wie gleichaltrige Jugendliche aus dem Westen. Die auf dem Forum omnipräsenten Argumente, Weltanschauungen und Wertvorstellungen prägten – in unterschiedlicher Weise – die Wahrnehmungen und Überzeugungen in den einzelnen Segmenten. Diese Prägung kann für sozialistisch strukturierte Gesellschaften als stärker angenommen werden, da auf dem Forum keine »Argumentationsturniere« ausgetragen wurden, die dem Einzelnen alternierende Deutungsangebote gemacht hätten.11 Eine Gegenöffentlichkeit kann in diesem theoretischen Modell auf zwei Weisen hergestellt werden. Die erste Möglichkeit besteht darin, das existierende Forum mit eigenen Themen und Deutungen zu besetzen und so Zugang zu anderen Nischen und Segmenten zu finden. Dazu ist es notwendig, dem Regime die wesentlichen Machtmittel zu entwinden, mit denen es das Forum kontrolliert. Die zweite Möglichkeit besteht darin, das Forum zu erweitern, indem sich einzelne Teilsegmente vereinen und Informationen am Forum vorbei einem größeren Personenkreis zur Verfügung stehen. Strenggenommen handelt es sich hier um eine Teilöffentlichkeit, die aber, wenn sie eine hinreichend große Gruppe erreicht und ihren diskontinuierlichen Charakter verliert, als Gegenöffentlichkeit interpretiert werden kann. Hier werden die dynamischen Elemente von Jarauschs Überlegungen aufgegriffen, denn um die zweite Möglichkeit denkbar zu machen, darf die Anordnung von Forum und konzentrischen Kreisen nicht statisch gedacht werden. Neue Themen können neue Segmente schaffen oder die Anordnung der bereits bestehenden verändern. Es entstehen neue Kontaktzonen, wo bisher keine bestanden, und Menschen mit ähnlichen Einstellungen kommen über das neue Thema miteinander in Kontakt. Um besser verstehen zu können, wie Menschen unter den Bedingungen einer gelenkten und kontrollierten Öffentlichkeit, in einen ›spontanen‹ Austausch miteinander treten können, ist es hilfreich, den Begriff der Öffentlichkeit stärker zu gliedern und zu strukturieren. Das hier angewandte Arenamodell unterteilt Öffentlichkeit in drei Arenen, die sich in Bezug auf Akteure und Publikum, anhand der Zahl der Sprechfähigen und der Zahl der Zuhörerinnen und Zuhörer unterscheiden: massenmediale Öffentlichkeit, Versammlungsöffentlichkeit und Encounter-Öffentlichkeit.12 11 Jürgen Gerhards/Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze. In: Stefan Müller-Doohm/Klaus Neumann-Braun (Hrsg.): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie. Oldenburg 1991, S. 31 – 89, hier S. 58. 12 Gerhards/Neidhardt: Moderne Öffentlichkeit (wie Anm. 11), hier S. 50 – 56.
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Die Anleitung der SED-Massenmedien durch den Sekretär für Agitation und Propaganda des ZK der SED ist hinlänglich beschrieben worden, ebenso die Überwachung der Blockparteienpresse und die Vorzensur der Kirchenzeitungen durch das Presseamt beim Ministerpräsidenten.13 Für Journalistinnen und Journalisten ließ das enggefasste Korsett wenig individuellen Spielraum bei der Themenwahl. Die immer mal wieder aufkommende dezente Kritik der Verhältnisse war kein Anzeichen für journalistischen Spielraum, sondern Ergebnis politischer Steuerung, um den Anschein einer objektiven Berichterstattung zu erwecken. Journalistinnen und Journalisten, die gegen Vorgaben verstießen, konnten zu einer Betriebszeitung strafversetzt werden oder mussten sich gar »in der Produktion bewähren«.14 Die Arena der massenmedialen Öffentlichkeit war fest im Griff des Regimes, das hier weitgehend frei die Themen setzen konnte. Die damit verbundene Eintönigkeit und Langeweile des massenmedialen Angebots sind ebenso hinreichend beschrieben worden wie das damit einhergehende Funktionsdefizit der auf diese Weise kontrollierten Öffentlichkeit. Das Geschriebene und Gesendete gaben die Einstellung der Herrschenden wieder, aber was die Beherrschten dachten, konnte auf d iesem Wege nicht ermittelt werden. Um der ›öffentlichen‹ Meinung, also der Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zu einer speziellen Frage, nachzuspüren, war das Regime daher auf geheimdienstliche Mittel, die Stimmungsberichte der Parteien und Massenorganisationen und das Eingabewesen angewiesen. Zudem wirken die Mechanismen der Schweigespirale in einer derart strukturierten Öffentlichkeit stärker als in freiheitlich strukturierten. Auch wenn die Menschen den Meldungen der Regimepresse nicht vollständig glauben mögen, wirken diese so dominant, dass die Bereitschaft, sich gegen diese antizipierte Mehrheitsmeinung zu stellen, stark abnimmt, da niemand sich gerne zu etwas bekennt, das gesellschaftlich nicht sanktioniert ist.15 Dies wirkt sich auch auf die Meinungsäußerungen im Rahmen der Versammlungsöffentlichkeit aus. Eine legale Form von Versammlungsöffentlichkeit außer13 Vgl. Gunter Holzweissig: Die schärfste Waffe der Partei: Eine Mediengeschichte der DDR . Köln u. a. 2002; ders.: Zensur ohne Zensor: Die SED -Informationsdiktatur. Bonn 1997; Karl Heinz Arnold/Otfrid Arnold: Herrschaft über die Medien: Die Gleichschaltung von Presse, Rundfunk und Fernsehen durch die SED. In: Hans Modrow/Karl Heinz Arnold (Hrsg.): Herrschaft über die Medien: Insider berichten aus dem ZK der SED. Berlin 1995, S. 97 – 115 und Peter Hoff: »Vertrauensmann des Volkes«: Das Berufsbild des »sozialistischen Journalisten« und die »Kaderforderungen« des Fernsehens der DDR. In: Rundfunk und Fernsehen 38 (1990) 3, S. 385 – 399. 14 Holzweissig: Zensur ohne Zensor (wie Anm. 13), S. 31. 15 Elisabeth Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung: Die Entdeckung der Schweigespirale. Frankfurt/Main/Berlin 1989.
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halb der vom Regime sanktionierten und strukturierten Organisationen gab es nur sehr begrenzt und ephemer. Jede Zusammenkunft ohne Erlaubnis, Mitwirkung, Gestaltung und Leitung des Regimes war illegal. Der kirchliche Bereich bildete hier eine Ausnahme. Nach der Veranstaltungsordnung von 1970 waren Veranstaltungen mit gottesdienstlichem Charakter genehmigungsfrei. Hier versuchte die SED mit Hilfe des MfS und dessen ›Inoffiziellen Mitarbeitern‹ konspirativ und steuernd einzugreifen. Gezielt wurden auch Kirchenfunktionäre in leitender Funktion dazu aufgefordert, allzu öffentlichkeitswirksame Aktionen einzelner Pfarrer oder Arbeitskreise zu unterbinden. Die Regimeferne oder -nähe der jeweiligen Kirchenleitung war daher ein wichtiges Kriterium, in welchen der evangelischen Landeskirchen sich kritische Umweltgruppen entfalten konnten. Auch die in den Augen der SED illegalen Treffen und Veranstaltungen von Künstlern ab Mitte der 1970er Jahre und wenig später auch von Friedens- und Umweltgruppen wurden größtenteils geheimdienstlich unterwandert, teilweise mitgesteuert und in einige Fällen ›zersetzt‹. Das Ergebnis war eine stark formalisierte, legalistische Sprechweise, in der Kritik hinter Formeln des Marxismus-Leninismus versteckt wurde. Der Zustand eines Gewässers war etwa nicht einfach nur ›schlecht‹, weil ein Kombinat seine ungeklärten Abwasser abgelassen hatte, sondern man betonte die Leistungen des sozialistischen Umweltschutzes und drückte die Hoffnung aus, dass die gesetz lichen Regelungen noch besser umgesetzt würden und im kommenden Plan mehr Mittel für die Abwasserreinigung bereitgestellt würden, um das Erholungsbedürfnis der werktätigen Bevölkerung zu befriedigen. Nicht alle hielten sich an diese Grenzen des Sagbaren. Anwohnerinnen und Anwohner, die häufig von Havarien großer Industriekombinate betroffen waren, benannten auf Einwohnerversammlungen offen bestehende Missstände und taten ihren Unmut deutlich kund. Hierbei handelte es sich jedoch um eine sehr spezielle Form der Versammlungsöffentlichkeit, die vom Regime inszeniert, geduldet und als Ventil eingesetzt wurde. Hätten Bürgerinnen und Bürger vergleichbare Äußerungen bei einer spontanen Versammlung auf der Straße getätigt, wäre die Reaktion des Regimes eine andere gewesen.16
16 Möller hat in seiner Dissertation diese Anwohnerproteste, die sich zuerst in Form von Eingaben manifestierten, als wesentlichen Entwicklungsstrang der unabhängigen Umweltgruppen herausgearbeitet. Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass einzelne Gruppen sich aus dem gemeinsamen Verfassen von Eingaben heraus entwickelten. Viele Gruppen wurzelten jedoch in kirchlicher Umweltarbeit und hatten bewusst andere, ›öffentlichkeitswirksamere‹ Kommunikationsforen mit dem Regime gesucht als das Eingabewesen. Möller: Umwelt und Herrschaft (wie Anm. 5), S. 344.
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Äußerungen auf Versammlungen wurden bereits im Kopf gefiltert. Die Grenzen des Sagbaren waren dabei fluide und variierten je nach politischer Großwetterlage, Veranstaltungsanlass und Segment, in dem man sich gerade bewegte. Dennoch war allen Beteiligten die Existenz dieser unsichtbaren, inneren Zensur bewusst, die bestimmte Th emen – oder bestimmte Deutungen zu diesen Themen – an den Rand drängte und nach den Wirkweisen der Schweigespirale weiter marginalisierte. Das Regime seinerseits befeuerte diese Prozesse mittels einer Kriminalisierung des gesprochenen Wortes, in dem das MfS im Rahmen von ›Operativen Personenkontrollen‹ Äußerungen als ›staatsfeindliche Hetze‹ (§ 106 StGB) oder ›öffentliche Herabwürdigung‹ (§ 220 StGB) wertete. Die dritte Arena, die Encounter-Öffentlichkeit, ist mit geschichtswissenschaftlichen Methoden kaum zu erfassen, da die Ebene der persönlichen Kommunikation zu flüchtig ist. Erschwerend kommt hinzu, dass regimekritische Personen häufig konspirativ vorgingen und bewusst auf eine Verschriftlichung von Gesprächen oder Diskussionen im kleineren Kreis verzichteten. Aber auch ›unverdächtige‹ DDR-Bürgerinnen und Bürger filterten ihre Äußerungen im öffentlichen Raum und passten ihre Sprechweise dem jeweiligen Gegenüber an, häufig danach, wie regimenah sie das jeweilige Gegenüber einschätzten.17 Die Konsequenz, nämlich das gezielte Aussuchen der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auf der Encounter-Ebene bezeichnen Gerhards und Neidhardt als »Halböffentlichkeit«, in der das eigentlich Gemeinte hinter Ironie und Witz versteckt werde.18 Wer in der DDR über Umweltprobleme bzw. -schäden reden wollte, sah sich also vor große Schwierigkeiten gestellt. Die massenmediale Öffentlichkeit war versperrt, die Versammlungsöffentlichkeit kontrolliert und auf der Ebene der persönlichen Kontakte herrschte Unsicherheit bezüglich der Einstellung des Gegenübers zu einem heiklen Thema. Dennoch gelang es der unabhängigen Umweltbewegung in den 1980er Jahren, eine markante Form von Gegenöffentlichkeit zu entwickeln. Durch diesen Prozess wurde offenbar, dass das nicht durch Wahlen legitimierte Regime in einer zentralen gesellschaftlichen Frage nicht im Sinne eines großen Teils der Bevölkerung agierte. Es sollen daher die wesentlichen Schritte dieser Entwicklung vorgestellt werden, an der das Regime nicht gänzlich unbeteiligt war, deren Ursprünge aber zum großen Teil im lokalen Umweltengage ment zu suchen sind. 17 Aus diesem Grund sind auch die Berichte des MfS über die Stimmung in der Bevölkerung kein vollständiger Ersatz, da die Zuträger lediglich gefilterte Äußerungen wiedergeben konnten. Vgl. zum Quellenwert der MfS-Berichte Christiane Reinecke: Fragen an die sozialistische Lebensweise: Empirische Sozialforschung und soziales Wissen in der SED-»Fürsorgediktatur«. In: Archiv für Sozialgeschichte (2010), S. 311 – 334. 18 Gerhards/Neidhardt: Moderne Öffentlichkeit (wie Anm. 11), hier 51.
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2. Der Begriff des Umweltengagements Die ökologische Aufladung des Lexems Umwelt verfestigte sich im deutschsprachigen Raum seit etwa dem Ende der 1960er Jahre. Dazu traten die flankierenden Komposita Umweltschutz, Umweltbewusstsein und Umweltengagement. Natürlich lassen sich die damit verbundenen Einstellungen und Handlungsmuster auch avant la lettre nachweisen, doch ist es notwendig, diese Begriffe inhaltlich zu schärfen. Das Verfassen einer Eingabe zur Luftbelastung belegt ein Umweltbewusstsein des Verfassers, ist aber noch kein Umweltengagement. Es ist grundsätzlich sinnvoll, breit nach Spuren von möglicherweise verborgenem Umweltbewusstsein zu fahnden, doch ein zu weites, bis ins Diffuse abgleitende Verständnis von Engagement verstellt den Blick auf die systemsprengende Kraft eines kritischen Umweltengagements, wie es sich ab Mitte der 1970er in der DDR zu entwickeln begann. Grundvoraussetzung für Umweltengagement ist ein entsprechendes Umweltbewusstsein. Der Historiker Franz-Josef Brüggemeier unterteilte den Begriff in drei aufeinander aufbauende Aspekte: grundsätzliche Wertvorstellungen, die Einstellung zu einzelnen Fragen und die Bereitschaft, entsprechend den Wertvorstellungen zu handeln. Die grundsätzlichen Wertvorstellungen lassen sich mit der Definition von Umweltbewusstsein fassen, wie sie 1978 der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen beim Bundesministerium des Innern vorgeschlagen hat: »Einsicht in die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen durch diesen selbst, verbunden mit der Bereitschaft zur Abhilfe«.19 Eine wichtige Wurzel für die Entwicklung der Einsicht bildeten die Diskussionen um die Belastung der Luft mit Schadstoffen seit dem 19. Jahrhundert. Allerdings ist gerade für die Luftverschmutzungsdebatte zu betonen, dass sie lange nicht auf einen abstrakten Umweltschutz hin ausgerichtet war, sondern eng entlang der Fragen des Gesundheitsschutzes geführt wurde. Nicht die Natur an sich galt es vor den Industrieabgasen zu schützen, sondern den Menschen. Gerade in der DDR war die Umweltpolitik stark davon geprägt, zunächst die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern, dann Gesundheitsschäden zu vermeiden und schließlich Schäden innerhalb der Volkswirtschaft vorzubeugen.20 Auch die in Eingaben vorgebrachte Kritik an den Belastungen der Umweltmedien war noch stark auf das Verschmutzungsgeschehen im individuellen Umfeld fokussiert und trug den Charakter von Betroffenenprotesten. 19 Vgl. dazu Martin Bemmann: Beschädigte Vegetation und sterbender Wald: Zur Entstehung eines Umweltproblems in Deutschland 1893 – 1970. Göttingen 2012, S. 8. 20 Vgl. Martin Stief: »Stellt die Bürger ruhig«: Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld. Göttingen/Ann Arbor, Michigan 2019, S. 37.
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Ausgehend vom Bericht Die Grenzen des Wachstums an den Club of Rome 1972 hat Edda Müller für die Bundesrepublik einen Qualitätssprung im Umweltschutz Anfang der 1980er Jahre festgestellt. Es habe sich ein »altruistisches« Verständnis von Umweltschutz durchgesetzt. In der westdeutschen Bevölkerung fanden sich nun breite Mehrheiten für Umweltschutzmaßnahmen, obwohl der Großteil der Unterstützerinnen und Unterstützer persönlich nicht von den Emissionen betroffen war.21 Möglich war dies, weil ein allgemeines Unbehagen vor einer »unsichtbaren« Gefährdung in den Vordergrund rückte und das Gefühl dominierte, die Kontrolle verloren zu haben, was der Soziologe Ulrich Beck im Begriff der »Risikogesellschaft« zusammengefasst hat.22 Diese Feststellungen beziehen sich zwar auf Westdeutschland, jedoch haben Umfragen ergeben, dass Umweltbewusstsein kein Privileg der reichen westlichen Industriestaaten war und ist. Allerdings steigt die Bereitschaft, etwas gegen die Umweltprobleme zu unternehmen mit dem Wohlstandsniveau an, wie es auch die grundsätzlichen Annahmen der Environmental Kuznets Curve (EKC) nahelegen.23 Die damit in Verbindung stehende Low-Cost-These bezeichnet die Bereitschaft, sich auch entsprechend umweltbewusst zu verhalten, je niedriger die Kosten für dieses Verhalten wahrgenommen werden. Dies greift den dritten von Brüggemeier genannten Aspekt auf, denn ein etwaiges vorhandenes Umweltbewusstsein muss auch in der Bereitschaft münden, entsprechend zu agieren. Umweltschutz kostet zunächst Geld und ist kurzfristig mit Wohlstandsverlusten verbunden.24 Waren es zunächst Betriebe, die sich gegen zusätzliche Kosten wehrten, die mit Kläranlagen und Filteranlagen verbunden waren, trifft die Internalisierung externer Umweltkosten im weiteren Verlauf die gesamte Gesellschaft, wenn Produkte teurer werden und bestimmte Verhaltensweisen nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Im Vergleich zu den übrigen Ländern des Ostblocks war der Lebensstandard in der DDR vergleichsweise hoch. Jedoch richtete sich der Blick weniger in den Osten als in den Westen und im Vergleich zur Referenzgesellschaft der Bundesrepublik fühlte man sich vergleichsweise arm. Die individuelle Bereitschaft, diese Lücke zugunsten des Umweltschutzes weiter anwachsen zu lassen, war gering. Oder, um auf die EKC zurückzukommen, der oder die durchschnittliche DDR-Bürgerin 21 Edda Müller: Innenwelt der Umweltpolitik: Sozial-liberale Umweltpolitik – (Ohn)macht durch Organisation? Opladen 1995, S. 118. 22 Ulrich Beck: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main 2007. 23 Andreas Diekmann/Peter Preisendörfer: Umweltsoziologie: Eine Einführung. Reinbek 2001. 24 Vgl. Kai F. Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950 – 1973). Stuttgart 2004, S. 33.
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bzw. DDR-Bürger war noch nicht bereit, auf einen Zuwachs an Pro-Kopf-Einkommen zugunsten des immateriellen Gutes einer intakten Umwelt zu verzichten. Dies deckt sich mit dem wenigen Umfragenmaterial, das zu d iesem Thema vorhanden ist. Aus d iesem lässt sich schließen, dass die Entwicklung des zugrunde liegenden Umweltbewusstseins der DDR-Bürger etwa 10 bis 15 Jahre hinter dem in entwickelten, kapitalistischen Ländern zurückgeblieben war.25 Zu beachten ist dabei auch, dass Umweltengagement in der DDR nicht nur ökonomische Kosten nach sich ziehen konnte, sondern auch Einschränkungen und Repressalien im persönlichen Bereich. Trotz dieser Einschränkungen und zeitlich verzögerten Entwicklungen gab es in der DDR Einstellungen, die als Umweltbewusstsein bezeichnet werden, und Handlungen, die als Umweltengagement interpretiert werden können. Im weiteren Verlauf soll jedoch nur diese Form von Umweltengagement als solches bezeichnet werden, das aus gemeinschaftlichem Handeln bestand. Der Einfachheit halber soll diese Form des Engagements regimekritisches Umweltengagement genannt und damit vom systemkonformen Engagement abgegrenzt werden. Es sei dabei betont, dass der Übergang z wischen beiden Formen fließend war und das regimekritische Engagement nicht von Anfang an auf eine Überwindung des Systems ausgerichtet war. Vielmehr war es so, dass Gruppen oder Individuen, die zunächst im Rahmen eines systemkonformen Engagements Verbesserungen anstrebten, im Laufe der Zeit erkannten, dass ein »eigenständiges und fundiertes Umweltengagement einen politischen und gesellschaftlichen Wandel, eine Demokratisierung in der DDR voraussetzt«.26 Die »Nichtübereinstimmung« ihrer Auffassung von Umweltschutz mit dem staatlichen Handeln wurde in den 1980er Jahren immer deutlicher.27 25 Helmut Schieferdecker: Konzepte, Erfolge und Defizite bisheriger Umweltpolitik in der DDR. In: Arnim Bechmann (Hrsg.): Konzepte, Erfolge und Defizite bisheriger Umweltpolitik in der DDR: Dokumente des Umbruchs. Berlin 1991, S. 25 – 34, hier S. 29; ein bekanntes Beispiel für ein wenig ausgeprägtes Umweltbewusstsein waren die in der DDR übliche Praxis der illegalen Müllablagerung und die geringe Bereitschaft, solches Verhalten anzuzeigen. Vgl. Hansjörg F. Buck: Umweltbelastung durch Müllentsorgung und Industrieabfälle in der DDR. In: Eberhard Kuhrt (Hrsg.): Umweltbelastung durch Müllentsorgung und Industrieabfälle in der DDR: Analysen zur Wirtschafts- Sozial- und Umweltpolitik. Opladen 1999, S. 455 – 497, hier S. 460. 26 Carola Becker: Umweltgruppen in der DDR. In: Barbara Hille/Walter Jaide (Hrsg.): Umweltgruppen in der DDR : Politisches Bewußtsein und Lebensalltag. Opladen 1990, S. 216 – 247, hier S. 242. 27 Hans-Peter Gensichen: Kritisches Umweltengagement in den K irchen. In: Jürgen Israel (Hrsg.): Kritisches Umweltengagement in den Kirchen: Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981 – 1989. Berlin 1991, S. 146 – 184, hier S. 146.
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3. Wurzeln des Umweltengagements Im Juni 1971 sprach Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED davon, den Umweltschutz auszubauen und die Belastung der Luft und des Wassers mit Schadstoffen zu senken. In der Wahrnehmung war daher der umweltpolitische Aufbruch der DDR Anfang der 1970er Jahre mit der Person Honecker verknüpft und in der Forschung hat lange die These dominiert, Honecker habe diesen Aufbruch inszeniert, um die außenpolitische Reputation der DDR zu verbessern und die internationale Anerkennung zu erreichen. Beide Punkte haben neuere Arbeiten erheblich differenziert.28 Den umweltpolitischen Aufbruch, der sich im Landeskulturgesetz vom Mai 1971, der Gründung des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft 1972 sowie den Wochen der sozialistischen Landeskultur 1971 bis 1973 manifestierte, hatte Honecker von seinem Vorgänger Walter Ulbricht geerbt. Dieser wurzelte in der Reformperiode des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖSPL). Die an Rohstoffen und Wasser arme DDR war gezwungen, Umweltmedien möglichst effizient zu nutzen. Gleichzeitig erschwerte aber die auf die Bruttoproduktion fixierte Logik der Planwirtschaft Umweltinvestitionen auf der Ebene der Betriebe. Diese Form der Investitionen war nicht produktiv wirksam und die Abwasserreinigung beispielsweise war nicht Aufgabe des Verschmutzers, sondern des Unterliegers, der Wasser für seine Produktion nutzen wollte und je nach Verschmutzungsgrad zuvor aufbereiten musste. Zudem musste die Mehrzahl der privaten Verbraucher keine Gebühren für Wasser bezahlen, was zu verschwenderischem Umgang einlud. So wurde etwa in heißen Nächten die Wohnung dadurch abgekühlt, dass die kalte Dusche lief. In Bezug auf die Wirtschaft bemühte sich das Regime ab Mitte der 1960er Jahre darum, Umweltmedien einen Preis zu geben, um die Betriebe für einen sparsameren Einsatz zu sensibilisieren. Allerdings wurden diese Versuche nicht mit der letzten Konsequenz betrieben und die Gebühren und Strafzahlungen waren im Verhältnis zu den Investitionskosten für Reinigungsanlagen zu niedrig. Die mit den Emissionsgrenzwertbescheiden festgelegten Staub- und Abgasgelder als Strafzahlungen beliefen sich 1986 für die gesamt DDR auf etwa 47 Millionen Mark. Die Kosten für eine moderne Rauchgasentschwefelungsanlage in Leuna wurde Mitte der 1980er Jahre auf 1,9 Milliarden Mark taxiert.29 28 Tobias Huff: Natur und Industrie im Sozialismus: Eine Umweltgeschichte der DDR. Göttingen 2015, S. 168 – 186; Stief: Staatsicherheit und Umweltzerstörung (wie Anm. 20) und Möller: Umwelt und Herrschaft (wie Anm. 5), S. 193 – 208. 29 Huff: Natur und Industrie (Anm. 28), S. 198.
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In Bezug auf die Bürgerinnen und Bürger waren die Wochen der sozialistischen Landeskultur dazu gedacht, ökologische Grundkenntnisse zu vermitteln. Das Motto der ersten Woche im August 1971 lautete: »Sozialistische Landeskultur zur Gestaltung unserer natürlichen Umwelt – Gemeinschaftsaufgabe aller«.30 Im privaten Bereich wollte das Regime nicht über Preise einen sparsameren Wasserund Stromverbrauch erreichen, sondern über Aufklärung und Einsicht. Der Staat arbeitete daran, bei seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Umweltbewusstsein zu entwickeln, das sich dann auch in einem entsprechenden Verhalten nieder schlagen sollte. Sowohl die Bepreisung von Umweltmedien als auch die Organisation der Wochen der sozialistischen Landeskultur trugen noch stark die Handschrift Walter Ulbrichts. Erich Honecker übernahm diese Initiativen nach seiner Machtübernahme im Mai 1971, da sie dem internationalen Renommee der DDR dienlich waren. Im Umfeld der UN-Umweltkonferenz in Stockholm und des Berichts an den Club of Rome über die Grenzen des Wachstums 1972 konnte die DDR mit ihren starken umweltpolitischen Aktionen an Reputation gewinnen. Nach der internationalen Anerkennung der DDR 1973 verlor Honecker allerdings rasch das Interesse daran. Die Wochen der sozialistischen Landeskultur wurden eingestellt und das Berichtswesen zum Umweltzustand zur Verschlusssache. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Neujustierung im Inneren, die Investitionsmittel zugunsten des Konsums im Rahmen der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik umschichtete. Honecker traf in jenen Jahren die Grundsatzentscheidung, das Konsuminteresse der Bevölkerung höher einzuschätzen als deren – zumindest kurzfristiges – Interesse an einer sauberen und intakten Umwelt. Das Regime konnte aber nicht hinter die Aussagen des VIII. Parteitages zurück, und die Linie, dass der Sozialismus grundsätzlich zu einem harmonischeren Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt in der Lage sei als der Kapitalismus, blieb offiziell bestehen. Die Sorge um die Umwelt bzw. der Umweltschutz waren daher grundsätzlich ein legales Betätigungsfeld in der DDR und boten einen legalen Gesprächsanlass. Das Regime konnte s olche Anliegen nicht vollständig untersagen, da es sonst diese Legitimationsstütze zu offensichtlich preisgegeben und ihr eigenes Scheitern eingestanden hätte. Auch die Behelfsargumentation, dass die größten Umweltschäden das Erbe des kapitalistischen Ausbeuterregimes seien, an dessen Überwindung man konsequent arbeite, verlor in dem Maße an Überzeugungskraft, wie es eben jenem Kapitalismus ab Ende der 1970er Jahre 30 BA rch DC 20-I/4/2410, Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik: Beschluss über Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der »Woche der sozialistischen Landeskultur« 1971 vom 10. 02. 1971, pag. 108.
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gelang, den Umweltzustand wesentlich zu verbessern. Hier lagen von Anfang an die Gefahr und die Sprengkraft unabhängigen Umweltengagements, denn Kritik am Umweltzustand wurde damit schnell zur Systemkritik. Dass es mit dem Umweltschutz in der DDR nicht zum Besten stand, war in den Industrieregionen nicht zu übersehen. Es waren keine sensiblen Messgeräte notwendig, um die Belastung von Luft, Boden und Wasser wahrzunehmen. Schaumkronen auf Flüssen, zentimeterdicke Ascheschichten in Vorgärten oder übelriechende Abgase aus Fabrikschloten erforderten von den Menschen ein hohes Maß an kognitiver Dissonanz, da sie gleichzeitig in den Medien davon hörten und lasen, wie erfolgreich der sozialistische Umweltschutz voranschreite. Die zunehmende Unzufriedenheit der Anwohnerinnen und Anwohner großer Industriekombinate schlug sich in einer wachsenden Zahl von Eingaben nieder. Eingaben sollen als Form des systemkonformen Engagements aufgefasst werden, da sie bewusst auf das Herstellen einer Öffentlichkeit verzichteten und die Ausein andersetzung auf eine direkte Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschtem reduzierten. Christian Möller hat unlängst betont, wie groß der Einfluss der Verfasserinnen und Verfasser von Eingaben auf die staatliche Umweltpolitik gewesen sei.31 Dem ist entgegenzuhalten, dass es zwar massive Proteste über Eingaben gab, die auch im Einzelfall zu einer punktuellen Verbesserung führten, aber nicht die grundsätzliche Ausrichtung des staatlichen Umwelthandelns beeinflussten. Als ein Beispiel seien hier die Eingaben aus dem Jahr 1981 gegen den geplanten Einsatz eines DDT-haltigen Insektizids in rauchgeschädigten Waldgebieten im Erzgebirge genannt, in denen auch mit einem Fernbleiben von den anstehenden Volkskammerwahlen gedroht wurde. Das Forstministerium führte mit den Verfasserinnen und Verfassern der Eingaben persönliche Aussprachen und verschob den Einsatz auf die Zeit nach den Volkskammerwahlen.32 Man kam den Petentinnen und Petenten etwas entgegen, ohne den Einsatz von DDT generell zu verbieten oder an den Ursachen der Rauchschäden zu rühren. Obwohl es zu keiner grundlegenden Veränderung kam, vertrauten die Verfasserinnen und Verfasser von Eingaben weiter auf die Lösungskompetenz der staatlichen Organe. Es ist aber auffällig, dass im Zeitverlauf die Eingaben tendenziell an höhere Ebenen adressiert wurden. Sie wurden nicht mehr an den Rat des Kreises oder des Bezirkes geschickt, sondern direkt an das Umweltministerium oder den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Dahinter stand die Vorstellung der Verfasserinnen und Verfasser, dass ihnen geholfen werde, wenn die Staatsführung von 31 Vgl. Möller: Umwelt und Herrschaft (wie Anm. 5), S. 23 und 344. 32 SAPMO DY 30/118 Werner Felfe, Information über Bekämpfung von Forstschadinsekten. 20. 08. 1981, Brief Kuhrigs an Felfe vom 11. 06. 1981.
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ihrem Problem Kenntnis erhalte. Diese Hoffnungen wurden jedoch weitgehend enttäuscht, und das Regime blieb bis auf punktuelle Verbesserungen untätig. Es wäre intuitiv anzunehmen, dass sich nun im Umfeld der ›klassischen‹ Eingabeschwerpunkten rund um die großen Kombinate wie Buna und Leuna die ersten unabhängigen Umweltgruppen bildeten und sich die Proteste radikalisierten.33 Es waren aber gerade industrieferne Regionen wie das Erzgebirge, denen hier eine große Bedeutung zukam.
4. Entgrenzung, Umweltbewusstsein und Bewahrung der Schöpfung Die Umwelt- und Gesundheitsbelastungen im Umfeld von Fabriken waren seit der Industrialisierung bekannt und weitgehend akzeptiert, da die Anwohnerinnen und Anwohner auch von dem damit einhergehenden Wohlstand profitierten. Im Falle des Erzgebirges war die Konstellation eine andere, denn diese Region, die die Menschen aus den Industriegebieten zur Erholung aufsuchten, stand für eine intakte Natur. Die Wälder des Erzgebirges litten seit den späten 1960er Jahren allerdings unter Rauchschäden, die zunehmend auch für den forstlichen Laien sichtbar wurden. Ursache der Schäden waren die hohen Schwefeldioxidemissionen der ostdeutschen und tschechischen Industrie beiderseits des Erzgebirges. Ab 1975 verschärfte sich die Situation, da im tschechischen Sokolov ein neues Druckgaswerk in Betrieb ging. In der Folge kam es immer wieder zu Geruchsbelästigungen, die die Anwohnerinnen und Anwohner zu Eingaben provozierten. So schrieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dreier lokaler Betriebe 1977, dass »der katzenkotähnliche Gestank zu starken Kopf- und Halsschmerzen führe und eine eigenartige Hautstraffheit hervorruft«.34 Das Hygieneinstitut Zwickau identifizierte ungefährliche Methylmercaptane als Ursache, die aber in hoher Konzentration zu »Übelkeit, Schlaflosigkeit, allgemeiner körperlicher Schwäche, Bronchitis, Laryngitis und Konjunktivitis« führen könnten.35 Die SED registrierte in den Jahren 1976 bis 1978 eine »zunehmende Unruhe der Bevölkerung« in der Region, die noch dadurch weiter gesteigert wurde, dass die Menschen die sichtbar 33 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der so genannten Problemdruckthese Jens Ivo Engels: Naturpolitik in der Bundesrepublik: Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950 – 1980. Paderborn u. a. 2006, S. 13. 34 BArch DK 5/71 Abteilung Umweltschutz Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Abteilung Umweltschutz. Eingaben der Bevölkerung, o. pag. 35 BArch DQ 1/24326 K.-H. Heft, Gaschromatographische Analyse von schwefelorganischen Geruchsstoffen in einem belasteten Gebiet – Gesundheitsrelevanz. 01. 11. 1986, pag. 3.
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werdenden Waldschäden mit den Geruchsbelästigungen verknüpften.36 So hieß es in einer Eingabe aus dem Jahr 1980, dass ein Wind aus südwestlicher Richtung zum »Brechreiz« führe, und »[v]iele Fichten unserer Wälder sind dadurch schon stark in Mitleidenschaft gezogen worden«.37 Die Bewohnerinnen und Bewohner der Region profitierten zudem nicht monetär von der Industrieproduktion, die für den Niedergang der Wälder verantwortlich war. Sie hatten im Gegenteil einen potenziellen Schaden, da der bedeutende Erwerbszweig Tourismus bedroht war. Das MfS bemerkte unter »der Bevölkerung in den betreffenden Schadgebieten« eine »verstärkt negative Diskussion«.38 Allerdings dürfe man sich nicht auf eine Senkung der Energieerzeugung einlassen. Die aufzubauende »Öffentlichkeitsarbeit« sei differenziert zu gestalten: Es müsse auf die »volkswirtschaftliche Notwendigkeit der ständigen Steigerung des Energieaufkommens« verwiesen werden. Energie sei das »Blut der Wirtschaft«, ohne das »höhere volkwirtschaftliche Effektivität und die Nutzbarmachung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts« nicht möglich seien. Den Bewohnerinnen und Bewohnern des Erzgebirges müsse klar gemacht werden, dass auch sie von der Energieerzeugung in der ČSSR profitierten, da diese teilweise in das Verbundnetz ›Frieden‹ eingespeist wurde. Das Regime trat also in eine Art Dialog mit seinen Bürgerinnen und Bürgern ein und stellte diese vor die Wahl zwischen Wohlstand und Fortschritt versus saubere Luft und intakte Natur. Das Problem war, dass man solch eine Wahl für die industrialisierten Gebiete gewohnt war, jedoch nicht im Erzgebirge. Die Waldschäden im Erzgebirge hoben damit die Diskussion über Umweltschäden in der DDR gleich zweifach auf ein neues Niveau. Erstens machten die dortigen Einwohnerinnen und Einwohner eine Entgrenzungserfahrung. War den Menschen in den ›klassischen‹ Industrieregionen der Emittent bekannt und direkt ansichtig, kannten und sahen die Menschen im Erzgebirge die Fabriken nicht, die für die Waldschäden verantwortlichen waren. War den Bewohnerinnen und Bewohnern von Bitterfeld klar, dass der Einbau von Staubfiltern ihre Belastungssituation unmittelbar und drastisch verbessern würde, schwang im Erzgebirge ein großer Anteil Unsicherheit mit. Zweitens gelang es der SED nicht, die Diskussion um die Waldschäden lokal einzudämmen. Davon zeugen die zahlreichen Eingaben von Urlaubern. 1980 schrieb ein Bürger an die Zeitschrift Urania: »Als ein Besucher des F ichtelberges 36 SAPMO DY 30/2835 Günter Mittag, Ergebnisse der Untersuchung über Luftverunreinigung im Erzgebirge. 11. 05. 1978, pag. 61. 37 BArch DK 5/72 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevölkerung 1980 – 1982, o. pag. 38 BStU BV KMSt. 2928 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltbelastung Bezirk Karl-MarxStadt, pag. 104 – 109.
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bot sich mir ein sehr trauriger Anblick. Alle Bäume, ob Nadel- oder Laubbäume auf dem Kamm des Berges sind abgestorben, tot.«39 1983 wandte sich ein Urlauber aus Gera mit den Worten »[d]er Anblick des Kammwaldes des Erzgebirges läßt apokalyptische Visionen aufkommen« an das Umweltministerium.40 Die Regierung antwortete auf solche Fragen meist jedoch in einem technizistischen Duktus, referierte über geplante Entschwefelungsbemühungen, machte teils sogar Angaben zu Umfang und Schwere der Waldschäden, verdeutlichte jedoch, dass bis zum Ende des Braunkohleabbaus nicht dauerhaft mit Besserung zu rechnen sei. ›Besorgte‹ Bürgerinnen oder Bürger, die die vom Regime bereitgestellten Kommunikationskanäle in einem sachlichen, von ehrlichem Interesse geprägten Ton nutzten, wurden von offiziellen Stellen mit Informationen versorgt, die über diejenigen hinausgingen, die die offiziellen Medien verbreiteten. Die dahinter stehende Überlegung war das Bemühen um Beruhigung, man könnte auch sagen Sedierung. Das Individuum fühlte sich ernst genommen, hatte den Eindruck, die staatlichen Institutionen hätten die Sache im Griff, und bekam einen Informationsvorsprung. Man hoffte damit die Gefahr zu verringern, dass die Beschwerdeführerin oder der Beschwerdeführer sich über Gebühr mit Mitbürgerinnen und Mitbürger über den Umweltzustand austauschte und er oder sie diesen Austausch auch noch zu institutionalisieren versuchte. Im Erzgebirge selbst wäre ein Leugnen des Problems zwecklos gewesen und auch die Urlauberinnen und Urlauber erhielten auf ihre Eingaben relativ ausführliche Antworten. Von sich aus thematisierte das Regime die Schäden aber nicht, und niemand, der nicht aus eigener Anschauung oder durch Mund-zuMund-Propaganda davon erfuhr, sollte von staatlicher Seite darauf aufmerksam gemacht werden. Ganz im Gegenteil, das Regime bemühte sich weiterhin nach Kräften, das entsprechende Wissen so gut es ging lokal zu begrenzen. Im August 1983 etwa mussten Bilder vom Erzgebirge in einer Ausstellung im Fernsehturm in Berlin entfernt werden, da diese die Erzgebirgswälder so darstellten, »wie sie in der Propaganda der BRD […] bekannt sind« und eine »pessimistische Aussage« erkennbar sei.41 Das Thema Waldschäden sollte nicht auf dem öffentlichen Forum diskutiert werden. Das eingangs geschilderte Beispiel der inhaftierten jungen Männer 39 BArch DK 5/72 Ministerium fur Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevolkerung 1980 – 1982, Eingabe vom 01. 08. 1980. 40 BArch DK 5/4462 Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Eingaben der Bevölkerung 1984, Eingabe vom 08. 03. 1983. 41 BStU MfS HA XVIII 18635 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu Rudolf R üthnick, pag. 233 f.
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zeigt, wie rigoros das Regime dabei vorging, dieses Ziel auch zu erreichen. Dabei handelte es sich nicht um einen Einzelfall, wie das Schicksal einer jungen Frau aus dem Erzgebirge verdeutlicht, deren Umweltengagement dramatische persönliche Konsequenzen hatte. Frau X. hatte bereits 1981 eine Eingabe an das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft verfasst und kurze Zeit später einen Haus- und Familienkreis gegründet, der sich mit den Umweltbelastungen im Erzgebirge befasste. 1983 geriet sie dann ins Visier der Staatssicherheit, da sie in den Briefen des Kirchlichen Forschungsheimes – dieses Medium wird später noch vorgestellt – einen Beitrag mit dem Titel Stirbt der Wald im Erzgebirge? veröffentlichte. Im Rahmen eines Operativen Vorgangs sollten mittels ›Zersetzung‹ weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen von Frau X. unterbunden werden, zunächst die geplante Exkursion in geschädigte Waldgebiete. Allen Förstern wurde die Kooperation verboten und das Lebensumfeld sondiert. Der Bürgermeister gab zu Protokoll, dass die Familie aufgrund ihres »schmuddeligen« Auftretens nie richtig Fuß gefasst habe, die Mitglieder nachlässig gekleidet seien, bei der Wäsche auf der Leine würden »viele Wünsche offen bleiben« und der Garten des Hauses sei nicht richtig gepflegt. Im Zuge der Post- und Telefonüberwachung glaubte das MfS Indizien für eheliche Untreue zu erkennen und bauschte diese geschickt auf. Es fertigte eine Skizze von Herrn X. als gehörntem Ehemann an und verteilte diese im Dorf und schickte sie an dessen Arbeitgeber. Herr X. reichte die Scheidung ein, und das MfS griff noch in den Scheidungsprozess ein. Am Ende der Akte verzeichnete der Mitarbeiter zufrieden: »Die Zielstellung der Zersetzung des Arbeitskreises […] wurde dadurch operativ erreicht und von der X. gehen keinerlei […] Aktivitäten mehr aus.«42 Erheblich weniger persönliche Konsequenzen hatte eine Aktion des Dresdner Künstlers Eberhart Göschel, der im August 1985 in einem Talkessel nahe Zinnwald im Erzgebirge abgestorbene Baumstämme türkis anstrich, um auf die Waldschäden aufmerksam zu machen. Die Aktion dauerte zwei Tage und es waren etwa 20 Personen daran beteiligt, darunter auch Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern.43 Am 23. September 1985 erfolgte dann die unweigerliche Vorladung zur Volkspolizei, juristisch endete die Aktion mit einer Strafanzeige des Staatlichen Forstwirtschaftsbetriebs Tharandt, der Göschel eine Rechnung über 430,44 Mark für die »Wiederherstellung der Ordnungsmäßigkeit im Waldteil Fürstenau« schickte – sprich das Verbrennen 42 BStU BV Ddn. AOP 2834/86 Ministerium für Staatssicherheit, Operativer Vorgang zur Familie GESCHWÄRZT in GESCHWÄRZT, pag. 324. 43 Eberhard Göschel: Bilder aus den Jahren 1986 – 1990. Berlin 1990.
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der Installation.44 Da sich Göschel freiwillig in der DDR aufhielt und jederzeit ausreisen konnte, reagierte das Regime weniger scharf.45 Das MfS wollte den Fall mit einer Ordnungswidrigkeit im Sande verlaufen lassen. Die lokalen Behörden der Staatssicherheit störten sich aber am selbstsicheren Auftreten Göschels. So gab er zu Protokoll, keine Genehmigung für seine Kunstaktion beantragt zu haben, da er diese sowieso nicht bekommen hätte. Offiziere der Bezirksverwaltung Dresden verwüsteten daraufhin das Ferienhaus im Erzgebirge, knüpften eine lebensgroße Holzskulptur im Treppenaufgang und schmierten die Parolen »Du nicht« und »Stadtgesindel« an die Wand. Es sollte der Eindruck erweckt werden, lokale Anwohnerinnen und Anwohner seien für die Schmierereien verantwortlich, die Göschel für seine ›Tat‹ bestrafen wollten. Dahinter stand das Bestreben, bei Umweltaktivisten das Gefühl zu vermitteln, sie stünden mit ihren Ansichten allein und abseits der Mehrheit. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Eberhart Göschel für den Kirchentag der sächsischen Landeskirche im Juli 1983 als Symbol das grüne Kreuz kreiert. Es hing aus vielen Salatköpfen zusammengesetzt im Mittelschiff der Dresdner Kreuzkirche. Erste Hilfe für die Umwelt sollte so ausgedrückt werden, und die Besucherinnen und Besucher bekamen ein grünes Tonkreuz für das Revers geschenkt. Das MfS registrierte zwei Jahre später, dass sich das Grüne Kreuz als Erkennungszeichen und Symbol für die kirchliche Umweltbewegung etabliert hatte.46 Das Grüne Kreuz war die augenfälligste Verschmelzung von christlichem Glauben und ökologischem Engagement. Das Interesse der K irchen am Umweltschutz geht unter anderem auf den Bericht Die Grenzen des Wachstums zurück, in dessen Folge der Ökumenische Rat der Weltkirchen sich der Thematik annahm. Aus dem Bibelwort »Macht euch die Erde untertan!« wurde eine christliche Mitschuld an der Umweltzerstörung abgeleitet. Auf der Ökumenischen Weltkonferenz 1979 in Boston fand dann die Definition eines neuen biblischen Auftrags statt, namentlich die »Bewahrung der Schöpfung«. Für die kirchliche Umweltbewegung hatte dieser Richtungswechsel eine große Bedeutung, denn das Arrangement zwischen K irche und Staat in der DDR beschränkte die Entfaltungsmöglichkeiten der K irche auf seelsorgerische und theologische Aufgaben. Die Losung von der Bewahrung der Schöpfung machte nun die Beschäftigung mit Umweltschutzfragen zu einem theologischen Auftrag. 44 BStU MfS HA XXII 933 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen über OV-Vorgänge im Zeitraum 1980 – 1985, pag. 43. 45 BStU MfS HA XX/9 1717 Ministerium für Staatssicherheit, Unterlagen zu den Operativen Vorgängen im Bezirk Dresden, pag. 76 – 81. 46 BStU MfS HA XX 1174 Ministerium für Staatssicherheit, Einschätzung der kirchlichen Umweltarbeit 1985, pag. 14.
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Am schnellsten reagierte das Kirchliche Forschungsheim in Wittenberg (KFH) unter seinem Leiter Hans-Peter Gensichen auf die geänderten Rahmenbedingungen. Noch 1979 entstand die Wanderausstellung Mensch und natürliche Umwelt, die in Kirchen in der gesamten DDR gezeigt wurde. In Dresden war die Ausstellung der Anstoß für die Gründung des Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke (ÖAK), der sich zur größten und aktivsten Umweltgruppe der DDR entwickelte und auch das Grüne Kreuz initiierte. Gemäß des vorgestellten Öffentlichkeitsmodells war mit solchen Ausstellungen nur ein innerkirchliches Publikum zu erreichen. Es war jedoch das erklärte Ziel des KFH, möglichst große Bevölkerungskreise anzusprechen. 1980 entstand die Schrift Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten, deren alleinige Existenz der SED ein Dorn im Auge war. Ein Analyst des MfS erkannte den Versuch der K irchen, ihre gesellschaftliche Ausstrahlung dadurch zu erhöhen, dass über das Thema Umwelt junge Menschen an die K irchen gebunden werden sollten. Natürlich erreichte die Schrift nicht die g leiche Verbreitung wie offizielle Medien, aber Schätzungen zufolge wurden 5.500 Exemplare hergestellt. Weil solche Schriften in der DDR privat weitergereicht und abgeschrieben wurden, ist die Zahl der Leserinnen und Leser jedoch als wesentlich höher einzuschätzen.47 So tauchten Zahlen und Argumentationsmuster der Schrift in Eingaben an das Forst- und das Umweltministerium auf. Umwelt minister Hans Reichelt informierte Erich Honecker, dass die »Bürger […] sich dabei auf ein durch das kirchliche Forschungsheim Wittenberg 1980 erarbeitetes Papier für Gemeindeseminare ›Die Erde ist noch zu retten‹« stützten.48 Von noch größerer Breitenwirkung waren die Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch-Erde, die das KFH ab Januar 1980 herausgab. Strenggenommen handelte es sich dabei nicht um ein Periodikum, sondern um Briefe identischen Inhalts, die an Gemeindemitglieder verschickt wurden, womit des KFH innerhalb des Graubereichs des kirchlichen Veröffentlichungsrechtes blieb. Neben der Herstellung von Publikationen sollte mittels sichtbarer Aktionen der öffentliche Raum einbezogen werden. In 25 Städten fand am 30. und 31. Mai 1981 die Radfahraktion Mobil ohne Auto statt, die vom KFH koordiniert wurde. In Leipzig führte diese Aktion zur Gründung der Arbeitsgruppe Umweltschutz, die dann ab 47 So erwähnte Bastian, dass die Dresdner Umweltgruppe 1983 die 73 Seiten auf eine Blauma trize getippt und etwa 100 Abzüge hergestellt habe. Uwe Bastian: Zur Genesis ostdeutscher Umweltbewegung unter den Bedingungen eines totalitären Herrschaftssystems. In: ders. (Hrsg.): Zur Genesis ostdeutscher Umweltbewegung unter den Bedingungen eines totalitären Herrschaftssystems: Erinnerungsberichte, Interviews und Dokumente. Berlin 1996, S. 58 – 94, hier S. 84. 48 SAPMO DY 30/118 Werner Felfe, Information über die gegenwärtige Lage im Forstschutz des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, 25. 06. 1981.
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November 1981 mit den Streiflichtern eine der bekanntesten Samisdat-Zeitschriften produzierte. In den folgenden Jahren stiegen die Teilnehmerzahlen der Radfahrerdemonstrationen bis auf mehrere tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer an. 1983 folgte eine Radsternfahrt nach Potsdam-Hermannswerder, wo sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von mittlerweile entstandenen Umweltgruppen zum Austausch und zur Vernetzung trafen. Hier wurde auch der bereits erwähnte Beschluss gefasst, abgestorbene Fichten in Potsdamer Kirchen aufzustellen. Diese Treffen dienten als Marktplatz, um die lokalen Umweltprobleme aus ihrem regionalen Kontext zu lösen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Denn den Leipzigerinnen und Leipzigern war der Zustand ihres Flusses, der Pleiße, bekannt, in der Umgebung der großen Tiermastanlagen im Norden der DDR wusste man um die Ammoniakbelastung, und die Nachbarinnen und Nachbarn großer Fabriken und Kraftwerke litten offensichtlich unter den Staubbelastungen. Eine Gesamtschau all dieser Verfehlungen, die das Versagen des Regimes auf dem Gebiet des Umweltschutzes offensichtlich gemacht hätte, gab es jedoch nicht. Die kirchlichen Umweltgruppen, die in ihrer regionalen Nische agierten, traten über die Vertretertreffen in einen Austausch untereinander und schufen sich Kommunikationskanäle am vom Regime kontrollierten Forum vorbei. Das Regime reagierte auf diese Besetzung des öffentlichen Raumes mit zweierlei Maßnahmen. Erstens beschnitt es die Sichtbarkeit der Aktionen so gut es ging. So wurden in Bezug auf die Aktion ›Mobil ohne Auto‹ Fahrradwege am Tag der Demonstrationen gesperrt oder die einzelnen Räder bis ins Detail einer Verkehrstüchtigkeitsüberprüfung unterzogen, um die Teilnehmenden zu entnerven. Zweitens bot das Regime umweltinteressierten Bürgerinnen und Bürgern als legale Alternative eine Betätigungsmöglichkeit im Rahmen der von ihm kontrollierten Massenorganisationen an. Die SED war in Ansätzen dazu in der Lage, auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren und entsprechende Angebote zu machen. Die 1980 gegründete Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) unter dem Dach des Kulturbundes war ein Gesprächsangebot an ökologisch interessierte Bürgerinnen und Bürger, die ihr Anliegen in den bisherigen gesellschaftlichen Organisationen nicht gespiegelt fanden. Gleichzeitig sollten die moderaten ›Elemente‹ in staatlich bereitgestellte und kontrollierte Strukturen eingebunden werden und nur der harte, systemkritische Rest in den unabhängigen Umweltgruppen verbleiben, so dass diese einfacher zu überwachen, zu unterwandern und zu ›zersetzen‹ waren. Man sollte den Erfolg der GNU nicht unterschätzen, da diese vielen am Zustand ihrer Natur und Umwelt Interessierten ein legales Betätigungsfeld bot. Hier wurden Wanderwege beschildert, Dorfplätze gestaltet und Fassaden begrünt und teilweise auch brisante Informationen geteilt, etwa zum exakten Umfang der Waldschäden im Erzgebirge.
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Gleichzeitig wurden scheinbar harmlose Baumpflanzaktionen vom Regime kriminalisiert. Am Anfang dieser Entwicklung stand eine Baumpflanzaktion 1979 in Schwerin. Entlang einer neuen Straßenbahntrasse pflanzten Jugendliche in Eigenregie Bäume. Die lokale Presse berichtete lobend über die zupackende Tat. Die sich entwickelnde Eigendynamik war aber nicht im Interesse des Regimes. Es gab Nachahmungen in zahlreichen Städten, und der zweite Baumpflanztag in Schwerin 1980 zog über 100 Jugendliche zu einem christlich geprägten Rahmenprogramm an. Das Regime reagierte auf diese Besetzung des öffentlichen Forums, kriminalisierte entsprechende Aktionen, und die Baumpflanzaktionen fanden fortan unter dem Dach der FDJ statt. Eine zunehmende Selbstorganisation der Gruppen sollte im Keim erstickt werden.
5. Zunehmende Vernetzung Je offensichtlicher die Umweltschäden in der DDR in den 1980er Jahren zu Tage traten – gerade auch im Hinblick auf die Fortschritte beim Umweltschutz im westlichen Ausland – und das Regime das Offensichtliche negierte, desto größer wurde der gesellschaftliche Resonanzraum der unabhängigen Umweltgruppen. Die GNU operierte weitgehend mit den Mitteln des klassischen Naturschutzes. Die Zahl der Menschen aber, die im gegenwärtigen Wirtschaftssystem die Ursache für die Umweltzerstörung sahen, denen mit diesen Mitteln nicht mehr beizukommen war, nahm zu. Rolf Caspar, der Sekretär des Kulturbundes für Natur und Umwelt, fragte im Januar 1988 die Bezirksvorstände der GNU, wie es die Kirche schaffe, solche Massen anzuziehen, warum sei die Umweltbibliothek so voll und die eigenen Landeskulturkabinette so leer?49 Die kirchlichen Umweltgruppen entlarvten in den 1980er Jahren das staatliche Versagen auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Eine Gruppe oder ein engagiertes Individuum allein hätte dies nicht bewerkstelligen können. Es war das dichter werdende Netz, innerhalb dessen Informationen geteilt und Aktionen abgesprochen werden konnten. Eine herausragende Stellung nahm dabei der bereits erwähnte Kirchentag der sächsischen Landeskirche im Juli 1983 ein, der stark vom Umweltthema dominiert war. Der Bericht einer Erzgebirgsbewohnerin zur Lage der Wälder auf dem Kirchentag wurde auf Tonband aufgenommen und in der Folge in zahlreichen Umweltgruppen als Tonspur zu einer Diaserie abgespielt. Als nachhaltiger Impuls wirkte auf dem Dresdner Kirchentag der Bericht eines Einwohners von Mölbis, einem kleinen Ort direkt in der Abluftfahne des 49 Gespräch mit Rolf Caspar am 08. 03. 2010.
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Abb. 1 Die staatlichen Organisationen wie Kulturbund oder GNU hielten ein romantisierendes Natur- und Heimatbild aufrecht. Von einer Bedrohung oder gar Zerstörung der Umwelt war auf den entsprechenden Veranstaltungen nicht oder nur am Rande die Rede.
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Braunkohlschwelwerks Espenhain bei Leipzig.50 Mölbis und Espenhain wurden zu zentralen Symbolen einer nun DDR -weiten Umweltbewegung. Dresdner Umweltgruppen organisierten die Aktion Saubere Luft für Ferienkinder, in der Kinder bei Familien an der Ostsee untergebracht werden sollten. Das MfS sabotierte mit Hilfe ihrer Postkontrolle die Aktion, so gut es konnte, doch von Jahr zu Jahr konnten mehr Kinder und begleitende Elternteile in den Norden reisen – und dort von den Zuständen in der Heimat berichten.51 Ein echter Öffentlichkeitscoup war die Aktion Eine Mark für Espenhain. Das ab 1965 auf Verschleiß gefahrene Braunkohleschwelwerk Espenhain war die Industrieanlage, die mit ihren Emissionen die größte Zahl an Menschen beeinträchtigte, nämlich 450.000, die teilweise unter Belastungen zu leiden hatten, die um den Faktor 1.000 über dem zulässigen Grenzwert lagen. Örtliche Umweltgruppen, vor allem das Christliche Umweltseminar Rötha, und die Kirchen suchten immer wieder das Gespräch mit staatlichen Stellen. 1986 erklärte das Umweltministerium, dass man nichts tun könne und das Problem werde in zehn Jahren noch bestehen, da das Geld für eine Ertüchtigung fehle. Offener konnte das Regime seinen eigenen Bankrott kaum erklären. 1987 fasste die Landeskirche Sachsen den Beschluss, selbst die Rekonstruktion Espenhains anzugehen und 1988 startete die Aktion Eine Mark für Espenhain. Unterschriftenlisten waren in der DDR verboten, aber hier half eine kreative Auslegung der Gesetzeslage. Die Kirche sammelte das Geld als Spende ein und sammelte die Quittungsdurchschläge. Innerhalb kürzester Zeit kamen 100.000 Mark zusammen. Nahezu alle Samisdat-Blätter berichteten davon, das MfS registrierte das Umhergehen von Sammellisten in Betrieben und LPGs. Es ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit der DDR-Bürgerinnen und Bürger Ende 1988 von der Aktion und dem Versagen der staatlichen Organe mitbekommen hatte.52 Neben der Organisation von Einzelaktionen arbeiteten die kirchlichen Umweltgruppen auch gezielt und strategisch an ihrer Konfliktfähigkeit gegenüber dem Regime. Dazu erarbeiteten sie Grundsätze für die Vorbereitung und Durchführung von Umweltschutzaktionen: Vermeidung von Konfrontationen 50 Siegfried Rüffert/Dorothea Kutter: Zwei Betroffene berichten: Auf dem UmweltForum des Dresdner Kirchentages 1983 berichteten unter anderem Siegfried Rüffert aus 7201 Mölbis und Dorothea Kutter aus 9341 Satzung. In: Briefe 9 (1984), S. 4 – 7. Vgl. auch A nonymus: Angst im Wald. In: Spiegel 30 (1983), S. 71 f. Im Spiegel-Beitrag findet sich auf S. 72 ein Bild des originalen ›Grünen Kreuzes‹. 51 Maria Jacobi/Uta Jelitto (Hrsg.): Das Grüne Kreuz: Die Geschichte des Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke. Dresden 1998, S. 24. 52 Zur Aktion ›Eine Mark für Espenhain‹ vgl. Huff: Natur und Industrie (wie Anm. 28), S. 403 – 4 08.
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Abb. 2 Die unabhängigen Umweltgruppen setzten im Gegensatz zu den staatlichen Organisationen auf eine möglichst drastische Bildsprache, um Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen.
mit staatlichen Organen, gedeckte Vorbereitungen, Fragen an staatliche Stellen nicht aggressiv formulieren, sondern individuelle Sinneseindrücke beschreiben, offensivere Aktionen von Rentnerinnen und Rentnern oder Personen in exponierter Stellung durchführen lassen, um berufliche Konsequenzen zu vermeiden. Dennoch blieb die gesellschaftliche Reichweite der Umweltgruppen lange Zeit begrenzt. Die Verteidigungsmechanismen des Regimes wirkten vielfach, und die ostdeutsche Umweltbewegung war wesentlich stärker als jene in der Bundesrepublik im Westen vom Verzichtsgedanken durchzogen. Die Umweltbelastung sollte weniger durch technische Maßnahmen als durch eine Beschränkung der eigenen Bedürfnisse gesenkt werden. Diese Haltung war in der Mehrheitsgesellschaft, die sich am westlichen Konsumvorbild orientierte, wenig anschlussfähig. Hinzu kam, dass die Umweltgruppen zunächst auf kein Expertenwissen zurückgreifen konnten. Machte eine Umweltgruppe auf ein Problem aufmerksam, war es Taktik des Regimes, eine/einen Ingenieur/in oder Chemiker/in zu Wort kommen zu lassen, die oder der mit Hilfe von Fachtermini erläuterte, dass überhaupt keine Gefährdung vorliege und die staatlichen Institutionen die Sache im Griff hätten. In der Gesellschaft sollte so das Bild erzeugt werden, die Umweltgruppen agierten laienhaft und kennten sich in der Materie nicht aus.
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Es engagierten sich jedoch zunehmend auch naturwissenschaftlich ausgebildete Menschen in den Umweltgruppen, die mit den staatlichen Experten auf Augenhöhe diskutieren konnten und in der Lage waren, Messergebnisse zu interpretieren. Infolge eines ›Geheimhaltungsbeschlusses‹ der Regierung von 1982 war die Erhebung von Umweltmessdaten in der DDR zwar weitgehend verboten, aber die Gruppen behalfen sich mit selbstgebauten Geräten oder griffen auf eingeschmuggelte Analysegeräte aus dem Westen zurück. So übergab Greenpeace einen Koffer mit Messinstrumenten zur Wasseranalyse an den ÖAK Dresden, der daraufhin das Trinkwasser auf Schadstoffe überprüfen konnte.53 Auch über kirchliche Verbindungen oder über westliche Umweltgruppen in die DDR geschmuggelte Fachliteratur verbreiterte das Fachwissen der Gruppen erheblich. Das MfS bestätigte diese Einschätzung: »Bei den Eingaben müssen solche von kirchlichen Kreisen besonders beachtet werden. Es zeigt sich, daß kirchlich gebundene Personen teilweise über umfangreiche Kenntnisse zum Umweltschutz und der Wasserwirtschaft verfügen.«54 Dabei war besonders der ÖAK Dresden dem MfS ein Dorn im Auge, denn »[i]nfolge der sozialen und beruflichen Zusammensetzung der einzelnen Umweltgruppen, insbesondere derjenigen, welche sich dem technischen Umweltschutz widmen, verfügt der ÖAK Dresden über umfangreiches Faktenwissen über die reale Situation der Umwelt im Verantwortungsbereich«.55 Das MfS erkannte richtig, dass sich die Gruppen »erhoffen […], ihre Angriffe auf die staatliche Umweltschutzpolitik mit sogenannten Fachkenntnissen unterlegen zu können«.56 Die Besetzung des öffentlichen Raumes, das Brechen des Informationsmonopols und die Schaffung eines Gegenexpertentums waren wichtige Bausteine, die tendenzielle Atomisierung der Bevölkerung zu überwinden. Bis Ende 1987 gelang es den Umweltgruppen jedoch nicht, in die Mitte der massenmedialen Öffentlichkeit auf das Forum vorzudringen. Um das Forum herum vergrößerten sich die Segmente und Nischen und begannen, miteinander zu verschmelzen. Die Sorge um den Umweltzustand und das offensichtliche Versagen des Regimes führte Menschen zusammen, die ihr Wissen teilten und so weiterverbreiteten. Den medialen Durchbruch markierte jedoch die westliche Berichterstattung über den Überfall auf die Umweltbibliothek im November 1987 sowie die Ausstrahlung des Filmes 53 Jacobi/Jelitto: Das Grüne Kreuz (wie Anm. 51), S. 67. 54 BStU BV DDn. XVIII 14663 Ministerium für Staatssicherheit, Umweltbelastung in Dresden/ Pirna und Einschätzung von Umweltgruppen, pag. 8. 55 BS tU BV DD n. AOP 451/90 Bd.1 Ministerium für Staatssicherheit, Operativer Vorgang »Kreuz« Ökologischer Arbeitskreis Dresden, pag. 88. 56 BStU BV KMSt. AKG 3243 Ministerium für Staatssicherheit, Informationen an die SEDKreisleitung Flöha 1986, pag. 34 – 39.
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Bitteres aus Bitterfeld am 28. September 1988 im ARD-Magazin Kontraste. Zahlreichen DDR-Bürgerinnen und Bürgern wurde erst durch diese Berichte bewusst, dass es im Land Umweltgruppen gab, die gegen die Zustände ankämpften. Zu etwa der gleichen Zeit öffneten sich Teile der Umweltbewegung für Ausreisewillige. Die ›ältere‹ Umweltbewegung, die noch stärker theologisch ausgerichtet war, wollte zwar auch die Öffentlichkeit erreichen, strebte jedoch einen Dialog mit dem Regime an, um die Verhältnisse im Inland zu verbessern – auch weil sie sich ein Ende der SED -Herrschaft nicht vorstellen konnte. Jüngere Gruppen, allen voran die Anfang 1988 gegründete Arche, waren stärker politisiert und agierten gezielt gegen das Regime. Ausreisewillige, die ja bereits mit den DDRVerhältnissen gebrochen hatten, strebten daher danach, über öffentlichkeitswirksame Aktionen ihre Abschiebung zu erzwingen. Dies führte zwar innerhalb der Umweltbewegung zu Diskussionen, erhöhte aber die gesellschaftliche Sichtbarkeit der Umweltbewegung insgesamt. Und es zeigte einmal mehr, dass das Regime nicht mehr willens oder in der Lage war, seinen jüngeren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein integrierendes gesellschaftliches Angebot zu machen.
6. Fazit Warum gelang es dem Regime nicht mehr, die Umweltgruppen in ähnlicher Weise einzudämmen, wie es noch Anfang der 1980er Jahre mit der Friedensbewegung möglich gewesen war? Die Antwort auf diese Frage muss vielschichtig ausfallen. Wie beschrieben, schreckte das Regime auch in seiner späten Phase nicht vor physischer und psychischer Gewalt zurück, um das Forum zu kontrollieren. Natürlich agierte hier das Regime wesentlich zurückhaltender und verdeckter als in den 1940er und 1950er Jahren. Es hat jedoch den Anschein, dass sich die Menschen zunehmend weniger von den Machtmitteln abschrecken ließen. Die Ausreisewilligen kalkulierten diese Reaktion bewusst mit ein. Zudem wurde die Umweltzerstörung als direkte Bedrohung vor der eigenen Haustür erlebt und nicht nur als abstrakte Gefahr des nuklearen Vernichtungskrieges. Die Bereitschaft, etwas gegen die beobachtete Vernichtung der eigenen Heimat zu unternehmen, darf höher eingeschätzt werden. Und schließlich war es den Umweltgruppen geglückt, die Vereinzelung der Gesellschaft aufzuweichen und die Schweigespirale zu durchbrechen. Wer sich Ende der 1980er Jahre gegen die Umweltpolitik des Regimes engagieren wollte, der wusste, dass er nicht alleine stand, sondern viele Gesinnungsgenossinnen und -genossen hatte. Die persönlichen Kosten für ein systemkritisches Umweltengagement sanken. An diesem Erfolg hatte auch die westliche Ökologiebewegung ihren Anteil, die dafür sorgte, dass der o stdeutsche
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Umweltzustand auch in den Westmedien präsent war und so in den Osten zurückwirkte. Dieses Gruppengefühl, gepaart mit dem schleichenden Autoritätsverlust des Regimes und den schwindenden Möglichkeiten der ›Durchherrschung‹ stärkten die Konfliktbereitschaft und -fähigkeit der Umweltgruppen. Ein kleines Beispiel dafür ist die Ausgabe der evangelischen Kirchenzeitung Die Kirche vom 3. April 1988. Auf Anweisung des Presseamtes durften die Kirchen zeitungen nicht über die Themen Ausbürgerung, Umweltschutz, Wehrdienst, Schule und Erziehung sowie Menschenrechte berichten. Als Die Kirche dies trotzdem wollte, strich das Presseamt die entsprechenden Artikel aus der Ausgabe. Entgegen der bisherigen Praxis füllte die Redaktion die Stellen nicht mit ›harmlosen‹ Berichten, sondern erschien mit weißen Flecken und Auslassungen.57 Derart öffentlich hatte noch niemand den staatlichen Eingriff in die Pressefreiheit, den es ja offiziell nicht gab, gezeigt. Mit solchen Aktionen war das Forum zwar nicht zu besetzen, aber es wurde offensichtlich, dass d ieses Forum kein Ort des wirklich freien Austauschs war. Das Agieren der Umweltgruppen war ein zähes: Sie unterminierten, sie demaskierten, sie legten offen. Sie zeigten die Schwachstellen und das Versagen des Regimes und schwächten dessen Legitimität und machten es so verwundbarer. Die Nischen und Segmente, in denen die unabhängigen und kirchlichen Umweltgruppen ihre Anliegen vorbringen konnten, wurden immer größer und verschmolzen zu stabilen Einheiten, die sich immer dichter um das Forum legten. Sie nutzten das Potenzial des Themas, um die Gesellschaft zu aktivieren, und legten so den Grundstein für deren dynamische Neuordnung. Den Umweltgruppen war die Etablierung einer in ökologischen Fragen glaubhaften Nebenöffentlichkeit gelungen, während die staatlichen Organe selbst massiv an Glaubwürdigkeit in diesem Bereich verloren hatten. Was folgte, ist bekannt: Es kam zur weiteren Radikalisierung und Politisierung der Gruppen, einer Emanzipation über ihren ursprünglichen engen Themenkanon hinaus und zunehmende Tendenzen, die bestehende politische Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Das weitere Geschehen soll hier nicht weiter ausgeführt werden, aber es waren die ökologisch motivierten Gruppen, die am frühesten und am konsequentesten mit dem Aufbau alternativer Kommunikationsstrukturen begannen und mit ihren Anliegen auf das Forum drängten und im Herbst 1989 am schnellsten artikulieren konnten.58 57 Reinhard Henky: Kirchliche Medienarbeit. In: Horst Dähn (Hrsg.): Kirchliche Medienarbeit. München 1993, S. 213 – 223, hier S. 222 f. 58 Vgl. hierzu Tobias Huff: Environmental Policy in the GDR: Principles, Restrictions, Failure, and Legacy. In: Sabine Mödersheim/Scott Moranda/Eli Rubin (Hrsg.):
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Hinzu kam, dass das Regime mit seinem über viele Jahre wirksamsten Integrationsangebot zusehends scheiterte. Die ›Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‹ verschlang Milliarden an Subventionen für günstige Strom- und Wasserpreise, für günstigen Wohnraum und Güter des täglichen Bedarfs. Dennoch gelang es ab Mitte der 1980er Jahre immer weniger, das Konsumniveau des Westens auch nur annähernd zu erreichen. Gleichzeitig fehlte das Geld an anderer Stelle für dringend benötigte Umweltschutzinvestitionen. Das SED-Regime agierte hier mit einer Legitimationshierarchie: Die Befriedung der Konsumwünsche wurde für die Stabilität der eigenen Herrschaft stets als relevanter eingeschätzt als das Umweltversprechen. Eine gesellschaftliche Umweltbewegung musste sich somit notgedrungen jenseits des Staates organisieren.
nvironmental Policy in the GDR: Germany, Nature, and the Left in History, Politics, and E Culture. Oxford 2019, S. 53 – 80, hier S. 54 – 59.
Von der staatlichen Veranstaltung zur gesellschaftlichen Selbstorganisation: Die Kontinuitäten des Umbruchs 1989/1990
Anja Schröter
Ein ostdeutscher Marsch durch die Institutionen? Politische Partizipation vom Spät- zum Postsozialismus
Ist in der Rückschau auf die DDR von Engagement der Bürger*innen die Rede, richtet sich der Blick vornehmlich auf das ›Mitmachen‹ im Sinne des Regimes oder aber – besonders für die letzten Jahre der DDR – auf die unter dem Dach der Kirche engagierten Akteur*innen. Doch auch im Umfeld staatlicher Organisationen, so die These des vorliegenden Beitrags, zeigte sich im Laufe der 1980er Jahre bereits dialog- und partizipationsorientiertes Handeln, das von den Vorstellungen des Regimes abwich.1 Um dieses Engagement in der Grauzone zu untersuchen, fokussiert sich die Analyse auf stadtentwicklungspolitische Initiativen. Am Fallbeispiel der Interessengemeinschaft Stadtgestaltung (IGS)2 in Dessau wird beleuchtet, wie die Engagierten die Grenzen des Sag- und Machbaren ausweiteten und ihre politische Teilhabe in der revolutionären Phase und unter postsozialistischen Bedingungen weiterverfolgten. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit bereits vor 1989 »gesellschaftliche Sphären«3 entstanden, in denen sich zivilgesellschaftliche Diskurse und Partizipationsformen entwickeln konnten. Die Analyse dieser Prozesse weitet auch den Blick auf die gesellschaftlichen Dynamiken und Bedingungen des Wandels in der DDR. Der vorliegende Beitrag steht damit im Kontext eines breiter angelegten Forschungsprojektes zur »langen Geschichte der ›Wende‹«.4 Als in den 1980er Jahren ganze Altbauviertel der neubauorientierten DDRBaupolitik weichen sollten, organisierten und engagierten sich Bürger*innen an der Basis der offiziellen Organisationswelt des SED-Regimes gegen den Verfall 1 Erstveröffentlichung des Beitrags in geringfügig veränderter Form: Anja Schröter: Ein ostdeutscher Marsch durch die Institutionen? Politische Partizipation vom Spät- zum Postsozialismus. In: WerkstattGeschichte 81 (2020) 1, S. 73 – 84. 2 Die Bezeichnung variiert. Im Sinne der Einheitlichkeit wird die Bezeichnung IGS verwendet. 3 Nada Boškovska, Daniel Ursprung und Angelika Strobel im Hinblick auf den Öffentlichkeitsbegriff im osteuropäischen Kontext, vgl. dies.: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): »Entwickelter Sozialismus« in Osteuropa. Arbeit, Konsum und Öffentlichkeit. Berlin 2016, S. 13 f. 4 Der Begriff geht auf Jens Gieseke und den damit verbundenen Forschungsschwerpunkt am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung zurück, aus dem auch das von Kerstin Brückweh geleitete Projekt Die lange Geschichte der ›Wende‹. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989 hervorging.
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und den Abriss der Häuser. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die sogenannten
WBA ler (Mitglieder im Wohnbezirksausschuss) im Prenzlauer Berg, die den
Flächenabriss rund um die Oderberger Straße und s päter die Rykestraße verhinderten. Die Anwohner*innen hatten sich bereits seit Anfang der 1980er Jahre zusammengefunden und nutzten den örtlichen Wohnbezirksausschuss (WBA) ab 1986, um eine Öffentlichkeit für ihre lokalpolitischen Interessen herzustellen und sie durchzusetzen. Ausweislich der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sagte der WBA -Vorsitzende Bernd Holtfreter 1986, er habe dort »seine Nische auf dem langen Weg durch die Institutionen gefunden«.5 Anlässlich der Kommunalwahl 1989 machten die WBA-Mitglieder einen weiteren Schritt in Richtung politischer Partizipation: Sie stellten zwei eigene Kandidaten für die Liste der Nationalen Front auf, beobachteten die Wahl und legten Einspruch gegen die Wahlfälschung ein. Nach 1990 stand erneut der Erhalt des lokalen Lebensumfelds zur Debatte. Die ehemaligen WBA-Akteur*innen organisierten sich bewusst unter dem WBA-Kürzel und leiteten daraus den Namen für das Aktionsbündnis ›Wir Bleiben Alle!‹ (W. B. A.) ab, das sich gegen Mieterhöhungen und die Veränderungen der Sozialstruktur im Prenzlauer Berg wandte. Die Akteur*innen mobilisierten wiederum breitere Bevölkerungsschichten – mitunter nun mit Demonstrationen von bis zu 20.000 Menschen.6 Der stadtentwicklungspolitischen Initiative gelang es, sich unabhängig vom kirchlichen Schutzraum zu organisieren, indem sie sich staatliche Strukturen zu eigen machte. Die Initiator*innen schufen »über die privaten ›Nischen‹ […] hinaus einen kleinen öffentlichen Raum«.7 Der Prenzlauer Berg, der häufig als spezielles Beispiel gilt, ist kein Einzelphänomen. Auch in anderen Städten der DDR gab es Engagierte, die sich gegen den Abriss historischer Substanz in Altbauvierteln organisierten. Parallel zu den Entwicklungen im Prenzlauer Berg entstanden zum Beispiel in Schwerin, Erfurt oder Dessau in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ähnliche Initiativen. 5 OPK »Hirschhof«, Operative Information, Berlin, 01. 10. 1986, Robert-Havemann-Gesellschaft (RHG)/BHo 05 (Kopie aus BArch, MfS, BV Berlin, KD Prenzlauer Berg XX/2042/86, mit Notizen von B. Holtfreter, 1986 – 1988). 6 Siehe u. a. Bernd Holtfreter: Die ganze Oderberger in einem Hochhaus der Michel angelostraße. In: Barbara Felsmann/Annett Gröschner (Hrsg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Die Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften. Berlin 1999, S. 170 – 178; Matthias Bernt/Andrej Holm: Wir bleiben Alle? Berlin-Prenzlauer Berg. Betroffenenmobilisierung unter Verdrängungsbedingungen. In: StadtRat (Hrsg.): Umkämpfte Räume. Hamburg u. a. 1998, S. 155. 7 Hans M. Kloth: Vom »Zettelfalten« zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die »Wahlfrage«. Berlin 2000, S. 258.
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Die räumliche Bandbreite des Phänomens zeigt etwa die Überlieferung des Informations- und Beratungszentrums für bürgernahe Stadterneuerung (IBIS) im Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin. Das IBIS wurde am Runden Tisch des DDR-Bauministeriums initiiert und 1990 in Berlin gegründet. Die IBIS-Mitglieder hatten im Rahmen einer stadtsoziologischen Studie Anfang der 1990er Jahre über 50 vor und nach 1989 entstandene Initiativen befragt.8 Das Engagement reichte weit über die bekannten Beispiele in Berlin oder Potsdam 9 hinaus. Es handelt sich somit um eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahren der DDR an den verschiedensten Orten zeigte. Im Folgenden wird exemplarisch die Initiative in Dessau in den Blick genommen.
1. Die IGS Dessau im Jugendklub In Dessau war im Zweiten Weltkrieg fast die gesamte Innenstadt zerstört worden. In der Zeit danach wurde Dessau zur sozialistischen ›Aufbaustadt‹, neue Wohnsiedlungen wurden gebaut. 1972 wurde Dessau aufgrund der gestiegenen Bevölkerungszahl zur Großstadt, in den 1980er Jahren zählte sie über 100.000 Einwohner*innen.10 Im April 1987 gründete sich dort die Interessengemeinschaft Stadtgestaltung mit rund 30 Mitgliedern. Als Initialzündung für einen zunächst lockeren Zusammenschluss, der sich dem Thema Stadtgestaltung widmete, beschreibt der Mitbegründer Burghard Duhm eine private Fahrradtour ins nahe gelegene Wörlitz. Dabei diskutierten die Teilnehmer*innen über die häufig verfallende Bausubstanz und die Probleme des Denkmal- und Umweltschutzes.11 8 Siehe auch Anja Schröter/Clemens Villinger: Anpassen, aneignen, abgrenzen: Interdisziplinäre Arbeiten zur langen Geschichte der Wende. In: Zeitgeschichte-online, März 2019. Abgerufen unter URL: https://zeitgeschichteonline.de/thema/anpassen-aneignenabgrenzeninterdisziplinaerearbeiten-zur-langen-geschichte-derwende, letzter Zugriff: 26. 04. 2019. 9 Bekannte Beispiele finden sich in Potsdam mit der als ARGUS bekannt gewordenen Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung (vgl. Anne Steinmetz: Mit ARGUSAugen. Politisch-alternativer Umweltschutz im DDR-Kulturbund am Beispiel Potsdams. In: Jutta Braun/Peter Ulrich Weiss (Hrsg.): Agonie und Aufbruch. Das Ende der SED-Herrschaft und die Friedliche Revolution in Brandenburg. Potsdam 2014, S. 212 – 231) und der AG Pfingstberg (vgl. Ruth Wunnicke: »Wir wollten einfach etwas machen«. Bürgerschaftliches Engagement in der DDR am Beispiel der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft Pfingstberg. In: Braun/Weiss: Agonie, S. 232 – 257). 10 Vgl. Wendelin Strubelt: Jena. Dessau. Weimar – Städtebilder in der Transformation 1988 – 1990. 1995 – 1996. Opladen 1997, S. 193 – 196. 11 Vgl. Gespräch mit B. Duhm am 12. 11. 2018, Privatarchiv Schröter; Burghard Duhm: Interessengemeinschaft Stadtgestaltung. In: Projektgesellschaft mbH am Bauhaus Dessau (Hrsg.): I. Bauhausbrief. Alheim 1991, o. P.
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Der gebürtige Dessauer Burghard Duhm arbeitete seit 1987 als stellvertretender Leiter im Dessauer Kreuzberg-Jugendklub. ›Der Kreuzer‹ war 1987 im Wohngebiet Kreuzberge im südlichen Teil der Stadt entstanden. Er war rechtlich der Abteilung Kultur beim Rat der Stadt unterstellt, wurde politisch und fachlich aber von der FDJ-Kreisleitung angeleitet.12 Der Stadtgestaltungsgruppe bot sich hier die Möglichkeit einer institutionellen Anbindung. Denn Duhm griff nach eigener Aussage im Gegensatz zu den üblichen Zirkeln, die sich etwa der Handarbeit widmeten, lieber Th emen wie Jazz oder eben Denkmalpflege bzw. 13 Stadtgestaltung auf. Dass sich die Gruppe im Jugendklub traf, blieb auch der Staatssicherheit nicht verborgen. In einem Bericht der Kreisdienstelle Dessau heißt es, Duhm habe sich um Arbeitsgruppen »als Möglichkeit zur Zusammenführung von intellektuellen sowie der Parteipolitik kritisch gegenüberstehenden Personenkreisen« bemüht.14 Die Kulturabteilung und FDJ-Kreisleitung seien ihrer Verantwortung »nur unzureichend« nachgekommen. Jugendklubs wie der ›Kreuzer‹ s eien in »Ausrichtung und Gestaltung ihrer Aktivitäten […] weitgehendst auf eigene […] Initiativen angewiesen«.15 Im Kreuzberg-Jugendklub seien deshalb Voraussetzungen geschaffen worden, dass »negative und politisch-indifferente Personen […] Handlungs- und Entscheidungsbefugnis erhalten, die zum Mißbrauch der Jugendarbeit« geführt hätten.16 Burghard Duhm beschreibt das Klientel des Jugendklubs und damit auch einen Teil der IGS-Mitglieder hingegen als »bunten Haufen«: kirchliche und nichtkirchliche Ausreiseantragsteller*innen, Punks, Handwerker*innen, s päter auch Architekt*innen und Stadtplaner*innen.17 Aktiv wurde die IGS in verschiedener Hinsicht, etwa als sie dem Friedhofsverwalter Volker Wotzlaw seit Mai 1988 mit regelmäßigen Arbeitseinsätzen bei der Pflege des denkmalgeschützten israelitischen Friedhofs in Dessau-Süd half und diesen samt Stadtmauer
12 Vgl. Einschätzung der politisch-operativen Lage im Jugendklub der FDJ »Am Kreuzberg«, Dessau 05. 04. 1989, Bundesarchiv, MfS, BV Halle, KD Dessau, Nr. 234, Bl. 15 f. 13 Vgl. Gespräch mit B. Duhm; Schlagsahne 2/1987, Privatarchiv Duhm/G., o. P. 14 Einschätzung der politisch-operativen Lage im Jugendklub der FDJ »Am Kreuzberg«, Dessau 05. 04. 1989, BArch, MfS, BV Halle, Abt. XX, Nr. 567, Bl. 4. 15 Einschätzung der politisch-operativen Lage im Jugendklub der FDJ »Am Kreuzberg«, Dessau 05. 04. 1989, BArch, MfS, BV Halle, KD Dessau, Nr. 234, Bl. 16. 16 Einschätzung der politisch-operativen Lage im Jugendklub der FDJ »Am Kreuzberg« (wie Anm. 14), Bl. 2. 17 Gespräch mit B. Duhm. Auch wenn sich bisher nur Männer zum Oral-History-Interview bereit erklärten, geht aus seinen Erzählungen und verschiedenen Dokumenten hervor, dass auch Frauen beteiligt waren.
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restaurierte.18 Zudem initiierte die IGS im November 1988 eine Ausstellung mit dem Titel Schemah Jisrael – Juden in Anhalt, mit der sie »zum Nachdenken und zur Diskussion anregen«,19 Kritik am Umgang mit der eigenen Geschichte üben und auf die Vernachlässigung der jüdischen Geschichte in der DDR hinweisen wollten.20 Wotzlaw meint rückblickend, die IGS-Mitglieder hätten etwas gesucht, um sich frei entfalten zu können. Mit dem Engagement rund um den jüdischen Friedhof hätten sie einen konkreten Gegenstand gefunden, an dem sie sich hätten abarbeiten können.21 Laut Duhm wollten sie nicht nur rummeckern, sondern »eigeninitiativ nicht verordnete« Arbeit leisten.22 Dieses Engagement fand nicht jenseits des Staates statt, denn die IGS war im Jugendklub an der Basis der staatlichen Organisationswelt des SED-Regimes angebunden. Die IGS änderte jedoch nicht nur die institutionelle Anbindung, sondern erweiterte auch ihren räumlichen Fokus.
2. Vom ›Kreuzer‹ zum Bauhaus – von Süd nach Nord Die Geschichte der Stadt Dessau war in der DDR-Zeit auch mit einem wechselhaften Umgang mit dem Bauhaus-Erbe verknüpft. Hatte das SED -Regime besonders in den 1950er Jahren mit der Bauhaus-Tradition gehadert, integrierte es in den 1970er Jahren angesichts des staatlichen Wohnungsbauprogramms nützliche Perspektiven dieser Schule. Entsprechend wurde erst 1976 das historische Bauhaus-Gebäude rekonstruiert und 1986 das Zentrum für Gestaltung der DDR angesiedelt.23 Im Frühjahr 1988 wurde zur Förderung der Bauhaus-Idee der Freundeskreis Bauhaus (FKB) als eine Interessengemeinschaft des Kulturbundes gegründet.24 Zunächst existierten im FKB fünf Interessenkreise zu Th emen wie der Bauhaus-Geschichte. Duhm wechselte mit Beginn des Jahres 1989 in die 18 Vgl. Initiative im Klub. In: Mitteldeutsche Neuste Nachrichten, 19. Mai 1988, o. P.; Schlagsahne 2/1988, PrivArch Duhm/G., o. P. 19 Schlagsahne 6/1988, PrivArch Duhm/G., o. P. 20 Vgl. Gespräch mit B. Duhm. 21 Vgl. Interview mit V. Wotzlaw am 19. 11. 2018, PrivArch Schröter. 22 Gespräch mit B. Duhm. 23 Vgl. Harald Kegler: Das Bauhaus – eine Annäherung. In: Torsten Blume/Heike Brückner/Jens Köster (Hrsg.): Vom Bauhaus nach Bitterfeld. Reise zu den Ursprüngen des modernen Lebens, Berlin 1998, S. 19. Siehe auch Wolfgang Thöner: Rezeption Ost. Unbequemes Erbe. In: Bauhaus. Vorschau 100, Henselmann Beiträge zur Stadtpolitik 1/2018, S. 22 f. 24 Vgl. Einladung zur Gründungsveranstaltung des Freundeskreis Bauhaus am 20. 08. 1988, P rivArch Schröter, o. P.; Arbeitsprogramm, 20. 03. 1988, PrivArch Schröter, o. P.
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Öffentlichkeitsarbeit des Bauhauses und übernahm auch die Leitung des im FKB angebundenen Jugendklubs.25 Mit ihm fand auch die IGS im FKB eine inhaltliche und institutionelle Anbindung. Wie das MfS feststellte, habe Duhm mindestens im ersten Halbjahr mangels eines Funktionsplans für seine Arbeit »relativ große Freiräume bei der Festlegung von Schwerpunkten und Zielrichtungen seiner Tätigkeit« genossen und diese genutzt, um »die Tätigkeit der [IGS] des Freundeskreises Bauhaus weiter zu intensivieren«.26 Dies zeigt auch ein zu Beginn des Jahres 1989 gefertigter IGS-Arbeitsplan. Das Programm umfasste weiterhin regelmäßige Friedhofseinsätze, sah aber auch monatlich eine städtebauliche Fachveranstaltung vor. Die Themen reichten von Projektierung, Soziologie, Gebäudewirtschaft über Altbau und Modernisierung bis zur Nutzerbeteiligung und Demokratisierung im Städtebau.27 Herr J., selbst IGS-Beteiligter und als Architekt Mitarbeiter im Bauhaus, hatte bereits 1988 im 2. Forschungskolloquium am Bauhaus Dessau erklärt, die Nutzer*innen von Räumen, Gebäuden bzw. der Stadt s eien nicht mehr nur über Veränderungen zu informieren, sondern als kompetente Partner*innen in die Entscheidungsfindung und Planung einzubeziehen. Herr J. empfahl dies besonders in Hinblick auf die Eigeninitiative bei der Rekonstruktion, Modernisierung und Instandsetzung der Altbausubstanz. Er schlug vor, langfristig ein Rekonstruktionsbüro einzurichten, in dem die aktuellen und künftigen Bewohner*innen Beratung zur Nutzung erhalten sollten.28 Die IGS konzentrierte sich auf die Stadtgestaltung und speziell die Zukunft des Altbauviertels Dessau-Nord. Im Gegensatz zu anderen Initiativen verlagerte sie also ihren Aktionsraum in einen anderen Stadtteil bzw. weitete ihn aus. Lediglich in Dessau-Nord waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch große Teile des Altbaubestandes mit Fachwerk- und Gründerzeithäusern erhalten.29 Wie auch andernorts in der DDR verwahrlosten die Altbauten, während das SED-Regime in Neubausiedlungen investierte. In Dessau-Nord lebten häufig Studierende, angebliche ›Asoziale‹ und ›Querulanten‹, aber auch Angehörige der Arbeiterschaft sowie ältere Menschen und Großfamilien.30 25 Vgl. Birgit Pappe: Erste Lebenszeichen vom neuen Bauhaus-Jugendklub. In: Freiheit, 23. Dezember 1988, S. 8. 26 Sachstandbericht, Dessau 22. 06. 1989, BArch, MfS, BV Halle, AKG ZMA, Nr. 2116, Bl. 5. 27 Vgl. Freundeskreis Bauhaus: Arbeitsplan der IG Stadtgestaltung 1989, o. D., PrivArch Duhm/G. 28 Vgl. Beitrag zum 2. Forschungskolloquium Nutzerbeteiligung bei der Stadtgestaltung, Bauhaus Dessau Oktober 1988, PrivArch Duhm/G., Bl. 1 – 4. 29 Vgl. Duhm: Dessau-Nord, o. D., PrivArch Duhm/G., o. P.; Strubelt: Jena. Dessau (wie Anm. 10), S. 194. 30 Vgl. Jens Fischer: Vom Untergang. In: KIEZ e. V. (Hrsg.): Dokument KIEZ, 1995, S. 20; Burghard Duhm: Das Nordquartier. In: Blume/Brückner/Köster (Hrsg.): B auhaus
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Bereits im März 1988 wurde die Fotoausstellung Dessauer Bilder eines IGSMitglieds im Kreuzberg-Jugendklub gezeigt. Die Bilder dokumentierten den Verfall der Altbauten und setzten sich nach eigener Aussage »mit unserer Wohnumwelt auseinander«.31 Über ihre Motivation sagen die Beteiligten, sie seien unzufrieden gewesen – unzufrieden mit dem Verfall historischer Bausubstanz, aber auch insgesamt.32 Letzteres präzisieren die Interviewpartner*innen nicht. Ihre Äußerungen verweisen aber auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit der gesellschaftspolitischen Gemengelage. Das Feld der Stadtentwicklung bot jedoch ein konkretes Betätigungsfeld. Als große Teile Dessau-Nords abgerissen und durch Plattenbauten ersetzt werden sollten, protestierte die IGS besonders ab Ende 1988 massiv dagegen. Das MfS notierte über die IGS-Aktivitäten: »In Eingaben an den Rat der Stadt sowie bei den durch Vertreter der öffentlichen Staatsorgane durchgeführten Beratungen, an denen mehrere Mitglieder der [IGS] teilnahmen, wurden die vorgesehenen baulichen Maßnahmen in Dessau-Nord kritisiert und Mitbestimmung an Entscheidungen zum komplexen Wohnungsbau gefordert.«33 So beklagte ein IGS-Mitglied etwa in einer »Beschwerde wegen Umgang mit Bau- und Wohnsubstanz«34 im Januar 1989 gegenüber der Dessauer Oberbürgermeisterin den ruinösen Zustand zweier Häuser: »Ich frage sie hiermit, ist das in Bezug auf die Lösung des Wohnungsproblems bis 1990 und der neuen städtebaulichen Konzeptionen in der DDR noch zu verantworten?« Das Initiativ-Mitglied nutzte hier die Instrumente des »gelernten DDR-Bürger[s]«.35 Denn die Eingabe galt als probates Mittel, mit den Herrschenden in Kontakt zu treten und Anliegen zu kommunizieren. Sie war zudem mit einer eigenen Kultur des Eingabenschreibens verbunden.36 So richteten die Verfasser*innen ihre Eingaben häufig auch an höhere Instanzen, um Handlungsdruck zu erzeugen, und rekurrierten etwa auf öffentliche Verlautbarungen. Entsprechend richtete sich die Dessauer Beschwerde nicht etwa an das zuständige Büro für Städtebau (wie Anm. 23), S. 82; Regina Bittner: Bauhausstadt Dessau. Identitätssuche auf den Spuren der Moderne. Frankfurt a. M. 2010, S. 110. 31 Schlagsahne 2/1988, PrivArch Duhm/G., o. P. 32 Vgl. Gespräch mit B. Duhm; Interview mit V. Wotzlaw. 33 Sachstandbericht, Dessau 22. 06. 1989, BArch, MfS, BV Halle, AKG ZMA, Nr. 2116, Bl. 6. 34 Beschwerde wegen Umgang mit Bau- und Wohnsubstanz, Dessau 07. 01. 1989, PrivArch Duhm/G., o. P. 35 Steffen H. Elsner: Zur praktischen Bedeutung von Eingaben in der DDR. In: Reinhard Bockhofer (Hrsg.): Mit Petitionen Politik verändern. Baden-Baden 1999, S. 49. 36 Weiterführend zur Eingaben-Rhetorik siehe u. a. Felix Mühlberg: Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin 2004.
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bzw. den Stadtarchitekten, sondern an die kommunal höchste Ebene, die Oberbürgermeisterin. Das IGS-Mitglied appellierte außerdem an vom Regime propagierte Ziele in der Wohnungsfrage und kontrastierte sie mit den vorhandenen Defiziten. Darüber hinaus wurde ein Mindestmaß an Bausicherung eingefordert und gefragt: »Soll gewartet werden, bis auch dort die Feuchtigkeit im ganzen Haus ist, so dass ein Abriss notwendig scheint?« Dies spielt auf eine Praxis der kommunalen Verantwortlichen an, von der auch damalige Vertreter*innen anderer Altstadtinitiativen in der DDR erzählen. Die Strategie sei gewesen, die Häuser verfallen zu lassen, bis sie nur noch abgerissen werden konnten, bzw. sie als abbruchreif einzustufen, obwohl dies nicht notwendig gewesen sei, um einen Neubau zu rechtfertigen.37 Das IGS-Mitglied verstand die Eingabe außerdem im Sinne der »Veröffent lichung im Neuen Deutschland […] als Möglichkeit des Dialogs und zur Auf deckung von Reserven und zur Einbeziehung der Bürger in den Stadtplanungs- und Stadtgestaltungsprozess«. Der Bezug auf eine offizielle Verlautbarung im Zentralorgan der SED sollte auch die Forderung einer Einbeziehung der Bürger*innen in den Willensbildungsprozess legitimieren. Jenseits solcher Eingaben erstellten die IGSler*innen heimlich Gebäudeanalysen. Nach einem simplen Raster erfassten sie den Zustand der Häuser und wiesen nach, dass weniger Gebäude abbruchreif waren, als von den Verantwortlichen der Stadt behauptet. Sie erarbeiteten zudem konkrete Vorschläge, wie die Bauten erhalten werden könnten.38 Ihre Ergebnisse legten sie dem lokalen Büro für Stadtplanung 39 vor und erreichten, dass die Pläne für Dessau-Nord öffentlich ausgelegt wurden.40 Im Frühjahr 1989 war »für jeden einsehbar«, dass rund 600 Wohnungen abgerissen und 800 neu gebaut werden sollten. An vier M ittwochen 37 Vgl. u. a. Guido Berg: 1986 starb die DDR. In: Potsdamer Neuste Nachrichten, 8. September 2009. Abgerufen unter URL: https://www.pnn.de/potsdam/von-guido-berg-1986-starb-dieddr/22219062.html, letzter Zugriff: 12. 09. 2018. 38 Vgl. Freundeskreis Bauhaus: Gruppe Stadtgestaltung: Anlage 2, Dessau 02. 02. 1989, PrivArch Duhm/G., Bl. 133 f. 39 Allgemein als Büros für Stadtplanung bezeichnete Stellen hatten in den Städten der DDR unterschiedliche Benennungen. Sie waren vor allem beim Rat des Bezirkes bzw. Rat der Bezirkshauptstadt, aber auch einigen Stadtkreisen wie in Dessau angesiedelt und unterstanden dem Bauamt. Andernorts hießen sie etwa ›Büro des Chefarchitekten‹ oder ›Büro des Stadtarchitekten‹, vgl. Frank Betker: »Einsicht in die Notwendigkeit«. Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945 – 1994). Stuttgart 2005, S. 85 und 181. 40 Vgl. Duhm: Interessengemeinschaft; Einschätzung zur Persönlichkeit der Zielperson der OPK »Bauhaus«, Dessau 19. 06. 1989, BArch, MfS, BV Halle, Abt. XX ZMA Nr. 7534, Bl. 14; Sachstandbericht, Dessau 22. 06. 1989, BArch, MfS, BV Halle, AKG ZMA, Nr. 2116, Bl. 7; Gespräch mit B. Duhm.
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kamen jeweils rund 150 Interessierte und konnten ihre Meinung in einem Besucherbuch äußern. Der offiziellen Tagespresse zufolge bekundeten sie sowohl Zustimmung als auch Kritik am Abriss. Burkhard Duhm hebt rückblickend hingegen die Ablehnung der Besucher*innen hervor. Nach dieser Aktion der IGS distanzierte sich die Stadt von den Abrissplänen.41 Dennoch konnten nicht alle Gebäude gerettet werden. Lokal bekannt sind die kleinen ein- bis zweistöckigen so genannten Fischerhäuser in der Angerstraße, von denen heute nur noch vier erhalten sind und unter Denkmalschutz stehen. Ähnlich wie die Mitglieder des WBA im Prenzlauer Berg beobachteten auch die der IGS die Kommunalwahl im Mai 1989 und protestierten mittels Eingabe gegen die Wahlfälschung.42 In einer Eingabe listeten sie Mängel und Manipulationen wie die Einsehbarkeit von Kabinen und die Umwertung von Streichungen in Ja-Stimmen auf. Allein die von ihnen in nur zwölf Wahllokalen gezählten Nein-Stimmen übertrafen die offiziellen Verlautbarungen für das gesamte Gebiet Dessau.43 Mit der Wahlkontrolle und der Forderung nach Neuwahlen gingen sie – wenn auch nicht mit eigenen Kandidat*innen – ebenfalls einen weiteren Schritt in Richtung einer politischen Partizipation, losgelöst von einem spezifischen Thema wie der Gestaltung der Stadt und des eigenen Lebensumfelds. Die führenden Protagonist*innen wiesen laut MfS-Berichten 44 auch konkrete Schnittmengen mit kirchlichen Kreisen auf, in deren Umfeld in der Wahlfrage besonders kritisch agiert worden war.45 Es ist noch zu klären, ob und wie verbreitet das regimekritische Wahlengagement bei Initiativ-Mitgliedern in Dessau und anderen Städten war – insbesondere auch bei jenen, die keine direkten Kontakte zu Kirchenkreisen hatten. Zudem sollte ergründet werden, woraus sich ihre Motivation speiste. Trugen die Erfahrungen bei der Arbeit der Initiative zu diesem Schritt bei? Auch nach der Kommunalwahl war die IGS bestrebt, ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen und weitere Teile der Bevölkerung zu aktivieren. Als die Initiative im Sommer 1989 ein Wohngebietsfest im Altbauviertel DessauNord plante, sah das MfS darin die »Aktivierung der Bewohner zur Erhaltung der ›städtebaulichen Spezifik der Altbausubstanz dieses Wohngebietes‹«. Die Presseankündigung des Festes sollte dabei »offenbar staatlichen Maßnahmen zur 41 Vgl. ebd.; Duhm: Interessengemeinschaft (wie Anm. 11); Bildunterschrift. In: Freiheit, 19. Januar 1989, S. 8; Konsultationsstützpunkt für Nord wurde geschaffen. In: Freiheit, 14. März 1989, S. 8; Baupläne sind für jeden einsehbar. In: Freiheit, 29. März 1989, S. 8. 42 Vgl. Operative Information zu einer Eingabe über die Durchführung der Kommunalwahl am 07. 05. 1989 in Dessau, 05. 06. 1989, BArch, MfS, BV Halle, Abt. XX ZMA Nr. 6455, Bl. 2. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Sachstandbericht, Dessau 22. 06. 1989, BArch, MfS, BV Halle, AKG ZMA, Nr. 2116, Bl. 5 f. 45 Siehe u. a. Kloth: »Zettelfalten« (wie Anm. 7).
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Unterbindung bzw. Einschränkung dieser Aktivitäten entgegenwirken«.46 Das Fest wurde frühzeitig von den Sicherheitsorganen beendet.47
3. Die IGS im KIEZ Im Sommer 1989 dezimierte sich das Umfeld der IGS im Zuge der Ausreisewelle stark. Der Freundeskreis Bauhaus musste die IGS im September auf Druck ›von oben‹ ausschließen. Die Räumlichkeiten des Kulturbundes nutzte die IGS trotzdem, und die Verbindung zum Bauhaus blieb ebenfalls bestehen.48 Schon seit Anfang 1989 hatte die Initiative gemeinsam mit dem in der IGS engagierten Architekten Herrn J. ein altes Gebäude gesucht, in dem sie das Nutzerbeteiligungsprojekt verwirklichen konnten – der Grundstein für das Kommunale Einwohner- und Informationszentrum (KIEZ). Wie die DDR befand sich aber auch die IGS im Umbruch. Die Interessen der Mitglieder begannen, sich zu verzweigen. Nach dem Mauerfall trieben Herr J. und einige andere das KIEZ-Projekt weiter voran und instand(be)setzten Anfang 1990 das ausgesuchte Haus im Altbauviertel. Anders als etwa die Potsdamer Hausbesetzer*innen gehörten die IGSler/ KIEZ ler jedoch nicht der mit klassischen Vorstellungen verknüpften Hausbesetzer*innenszene im Umfeld der sogenannten Antifa an.49 So antworteten Herr J. und andere KIEZ-Mitglieder 1991 auf die Frage des IBIS nach einer örtlichen 46 Information Nr. 1058/89: Geplante öffentlichkeitswirksame Aktivitäten durch die Arbeitsgruppe Stadtgestaltung des Freundeskreises Bauhaus, Dessau 05. 06. 1989, BArch, MfS, BV Halle, Abt. XX ZMA, Nr. 7534, Bl. 9 f. 47 Vgl. BI KIEZ: IBIS-Fragebogen, Dessau 09. 03. 1991, RHG/IBIS 25; Duhm: Interessengemeinschaft (wie Anm. 11); Thomas Steinberg: »Es war ein Sommer der Depression«. In: Mitteldeutsche Zeitung, 25./26. Oktober 2014; Gespräch mit B. Duhm. 48 Vgl. u. a. Gespräch mit B. Duhm. 49 Vgl. zur Entwicklung in Potsdam: Jakob Warnecke: Wir können auch anders. Entstehung, Wandel und Niedergang der Hausbesetzungen in Potsdam in den 1980er und 1990er Jahren. Berlin 2019. Darüber hinaus können auch die unterschiedlichen Entwicklungen und Praktiken in Bezug auf diese Szene interessant sein, wenn etwa Jacob Nuhn für Dresden u. a. einen generationellen Unterschied und unterschiedlichen politischen Kontext aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen z wischen den originären Schwarzwohner*innen und Hausbesetzer*innen ausmacht. Siehe dazu sein Projekt zu Räume und Raumpraktiken der alternativen Szene(n) in Dresden und Wrocław 1987 – 2000. Agerufen unter URL: https://www.uni-bremen.de/ institut-fuer-geschichtswissenschaft?page_id=398, letzter Zugriff: 13. 09. 2018. In d iesem Zusammenhang wären auch potenzielle Parallelen bzw. verzögert einsetzende Effekte in Hinblick auf den naheliegenden Vergleich z wischen Ost- und West-Berlin sowie generell mit der westdeutschen Hausbesetzerszene in den Blick zu nehmen. Dieses Projekt untersucht jedoch Formen politischer Partizipation anhand der Altstadtinitiativen als institutionell angebundene
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Hausbesetzerszene: »In Dessau gibt es keine ›Szene‹.«50 Erst 1992/1993 entstand in Dessau-Nord ein Alternatives Jugendzentrum (AJZ), welches sich als »Ort des Widerstands gegen rechte Gewalt, Ausländerfeindlichkeit und Neofaschismus«51 verstand. Herr J. sagt im Interview, die Initiator*innen des AJZ seien erst später gekommen. Sie hätten vielleicht vorher mal im KIEZ »reingeschnuppert« und somit nicht aktiv mitgestaltet.52 Spätere Aktionen von IGS /KIEZ konzentrierten sich vor allem auf Straßenfeste, die mit Titeln wie Wüstenfest im Stadtteilrest 53 auf die Situation in der »Wüste« aus abgerissenen und verfallenen Häusern verwiesen. Das KIEZ existiert bis heute, seit 1991 als Verein. Selbsterklärtes Ziel war es in den 1990er Jahren unter anderem, das Stadtgebiet Dessau-Nord in seinen »baulichen und sozialen Strukturen« zu erhalten.54 Außerdem galt es, die Desinformation der Bürger*innen und den Ausschluss der Öffentlichkeit zu überwinden. Die Engagierten organisierten darüber hinaus Beratungen und eine Betroffenenvertretung und zielten auf Genossenschaftsmodelle, die Förderung der Sozialplanung und die Identifikation mit der Stadt.55 Entsprechend des mannigfaltigen Beteiligungsangebotes heißt es in den fünf KIEZ-Thesen 56 unter anderem, es gehe um das »Erlernen eigener Ansprüche und deren wirksame Umsetzung. Bewohner sollten eine Stimme bekommen«.57 Die IGS verlor sich laut Burghard Duhm »in unendlichen Satzungsdiskussionen und Wahlkämpfen grün-bürgerlich bewegter Gruppen und Parteien«, und ihre Akteur*innen gingen im neuen Parteienspektrum auf.58 Was er hier eher lakonisch beschreibt, zeigt vor allem die neuen vielfältigen Optionen der Vergemeinschaftungsformen. Da die Frage dabei lediglich einen Nebenschauplatz darstellt, wird dies hier nicht vertiefend thematisiert. 50 BI KIEZ: IBIS-Fragebogen, Dessau 09. 03. 1991, RHG/IBIS 25. 51 Duhm: Nordquartier (wie Anm. 30), S. 85. 52 Interview mit Herrn J. am 20. 11. 2018, PrivArch Schröter. 53 Bauhaus Dessau (Hrsg.): Projektbericht 1989/90. Industrielles Gartenreich. Zukunft für die alte Industrieregion Mulde/Mittelelbe. Dessau 1990, S. 14. 54 BI KIEZ: IBIS-Fragebogen (wie Anm. 50). 55 Vgl. ebd. 56 Die Angaben, wann die Thesen aufgestellt wurden, variieren. Laut einer Angabe entstanden sie bereits im Herbst 1989 im instand(be)setzten KIEZ-Haus und wurden bereits zu diesem Zeitpunkt bei einem der Straßenfeste verlesen. Vgl. Jens Fischer: Vom Untergang (wie Anm. 30), S. 22 f. Überschriften wie Was die aus dem Osten wieder kosten weisen jedoch auf die im I. Bauhausbrief datierte Veröffentlichung der Thesen im Juni 1990 hin, als auch das oben genannte Wüstenfest im Stadtteilrest stattfand. Vgl. Fünf K. I. E. Z.-Thesen Juni 1990. In: Projektgesellschaft mbH am Bauhaus Dessau, I. Bauhausbrief. 57 Fischer: Vom Untergang (wie Anm. 30), S. 23. 58 Vgl. Duhm: Nordquartier (wie Anm. 30), S. 86; Duhm: Interessengemeinschaft (wie Anm. 11).
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postsozialistischen Gesellschaft, sich politisch zu engagieren. 1991 bestand die
IGS noch. Gleichzeitig fungierten aus der IGS heraus Herr J., Duhm und ein
weiterer Engagierter, der zu dieser Zeit beim städtischen Kulturamt und somit auf Verwaltungsebene tätig war, als Ansprechpartner für das KIEZ. Duhm war zu diesem Zeitpunkt auch schon Mitglied der Ost-Grünen. Dies traf auch auf das IGS-Mitglied Herrn G. zu. Er sagt rückblickend, die Hauptwurzel der Dessauer Grünen liege in der IGS. Gleichzeitig engagierten sich beispielsweise Herr J. und Herr G. in einer Bürgerinitiative, die sich über Jahre mit der Verkehrsplanung zulasten der Gründerzeitbebauung in Dessau-Nord beschäftigte. Allein anhand dieser drei Protagonisten wird deutlich, wie vielfältig IGS-Mitglieder durch weiteres Engagement und Partizipation in Initiativen, Projekten und Parteien lokal in das politische Leben hineinwirkten. Sie verfolgten als gesellschaftliche Interessenvertreter, die ihr politisches Engagement zunächst unter den spezifischen Bedingungen der DDR entwickelt hatten, ihre Anliegen auch unter veränderten Rahmenbedingungen in demokratischen Verhältnissen weiter.
4. Fazit Die IGS bot durch ihre Anbindung an staatliche Organisationsformen wie Jugendklubs bzw. den Kulturbund jeweils einen Raum der Vergemeinschaftung. Unter diesem Label konnte die Initiative mit Ausstellungen oder Festen öffentlichkeitswirksam agieren und das SED-Regime zu Reaktionen und Zugeständnissen drängen. Das MfS interpretierte die IGS-Aktionen 1989 als Aktivitäten »feindl.negat. Personen«, die bemüht seien, »mit legalen Mitteln«59 im Rahmen der IGS-Öffentlichkeitsarbeit »den gebotenen Handlungsraum auszutesten und für die Propagierung ihrer oppositionellen Ansichten zu missbrauchen«.60 Das Vorgehen der IGS in Dessau weist neben der Eingabentätigkeit weitere Parallelen zu anderen, ebenfalls vor dem Herbst 1989 entstandenen Initiativen auf. Im Prenzlauer Berg führten die Aktivist*innen der Oderberger- bzw. Rykestraße ähnliche Zustandsanalysen an Häusern durch und konfrontierten die lokalpolitischen Entscheidungsträger*innen mit ihren Anliegen. Auch in Schwerin 61 59 Einschätzung zur operativen Lage unter jungen bzw. jungerwachsenen Personenkreisen, Dessau 01. 11. 1989, BArch, MfS, BV Halle, KD Dessau, Nr. 234, Bl. 21 – 28. 60 Vortrag zur KEL -Sitzung am 28. 09. 1989, Dessau 27. 09. 1989, BA rch, MfS, BV Halle, KD Dessau, Nr. 240, Bl. 384 – 389. 61 Vgl. Anja Schröter: Politisches Engagement in der Stadt vor, während und nach 1989. In: Kerstin Brückweh/Clemens Villinger/Kathrin Zöller (Hrsg.): Die lange Geschichte der »Wende«. Geschichtswissenschaft im Dialog. Berlin 2020, S. 92 f.
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wurde der Verfall der historischen Altstadt durch eine Ausstellung dokumentiert und die Bevölkerung durch eine öffentliche Bekanntmachung der Abrisspläne informiert. Dies geschah auch in Erfurt, wo 1987 im Rahmen einer Ausstellung in der Michaeliskirche ebenfalls in einem Gästebuch Meinungsäußerungen von Anwohner*innen gesammelt und 1989 ein Abrissstopp erreicht wurde.62 Der Diplomjurist Ulf Heitmann war in den 1990er Jahren Vorstandsmitglied des IBIS. Aus seiner Sicht war die 8. Baukonferenz in der DDR 63 1985, bei der man vermehrt über den Abriss von Altbauten diskutiert habe, der Anstoß für viele stadtentwicklungspolitische Initiativen.64 Diese Beobachtungen markieren somit einen deutlich früheren Anfangspunkt politischer Partizipation in lokalen Räumen in Ostdeutschland als das Jahr 1989. Die Akteur*innen der verschiedenen Initiativen gingen im Zuge des politischen Umbruchs häufig aktiv in die lokale (Stadtentwicklungs-)Politik oder entsprechende Verwaltungsämter. Sie setzten also ihr politisches Engagement fort und gestalteten den unmittelbaren politischen Umbruch mit ihren Erfahrungen mit. Heitmann hat außerdem darauf hingewiesen, dass die frühen ostdeutschen Initiativen über den Abrissstopp und alternative Planungs-Angebote hinaus »gesamtpolitisch« agiert hätten. Wie die WBA-Initiative und auch die IGS/KIEZ-Initiative hätten sie dabei »den Stadtraum« und »die Quartiersentwicklung im Ganzen« im Blick gehabt.65 Ihnen sei es im Vergleich zu später entstandenen Initiativen nicht nur um Einzelprojekte, »sondern eben auch soziale Zusammenhänge im Ganzen und eben nicht bloß irgendwie so ein Grundstück« gegangen.66 Die partizipatorisch und auf die soziale Gestaltung ausgerichteten Politikvorstellungen, die sich seit Mitte der 1980er Jahre herauskristallisiert hatten, blieben prägend für die politische Ausrichtung in den 1990er Jahren. Die stadtentwicklungspolitischen Gruppierungen wie in Dessau organisierten sich gegen den Abriss in den Städten. Sie agierten oft explizit systemimmanent, 62 Vgl. Überlieferung der Bürgerinitiative »Altstadtentwicklung e. V.«, RHG/IBIS 58; Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Herrschaft und Alltag in der DDR 1971 – 1989. Berlin 2013; Matthias Sengewald: Bürgerengagement und Zivilcourage – die Bürgerinitiative Altstadtentwicklung oder wie das Andreasviertel gerettet wurde. Abgerufen unter URL: http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/geschichte/offene-arbeit-erfurt/, letzter Zugriff: 27. 04. 2018; Anja Schröeter: Frühe Partizipation in Erfurt. In: Stefanie Eisenhuth (Hrsg.): Die DDR im Jahr 1987 Mangel und Größenwahn, Verheißung und Verfall. Erfurt 2018, S. 57 – 6 4. 63 8. Baukonferenz des Zentralkomitees der SED und des Ministerrates der DDR, Berlin 13. und 14. Juni 1985. 64 Vgl. Interview mit U. Heitmann am 11. 07. 2018, PrivArch Schröter. 65 Vgl. ebd.; Heitmann, Manuskript, 1991, RHG/IBIS 23, Bl. 20. 66 Interview mit U. Heitmann (wie Anm. 64).
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weiteten dabei jedoch in Aushandlungsprozessen mit den Herrschenden die Grenzen des Sag- und Machbaren aus. Sie durchbrachen den vom Regime markierten Manövrierrahmen für eine rituelle Beteiligung der Bevölkerung und griffen in den politischen Willensbildungsprozess ein. Nicht etwa im gesellschaftlichen Abseits, sondern im Rahmen einer offiziell legitimierten Teilöffentlichkeit trugen sie Informationen zusammen und nutzten die jeweilige staatliche Organisation, um Öffentlichkeit herzustellen und aktiv am politischen Diskussionsprozess teilzunehmen. Sie informierten und mobilisierten Teile der Bevölkerung, erzwangen den Dialog mit kommunalen Vertreter*innen und griffen erfolgreich in den Planungsprozess ein. Sie agierten und partizipierten im Spannungsfeld der vorherrschenden Doppelkultur,67 aber auch im unmittelbaren politischen Umbruch 1989/1990 und teilweise darüber hinaus. Wenn auch mit modifizierten Ausrichtungen blieb ihr grundsätzliches Engagement auch unter den gesamtdeutschen Bedingungen erhalten. Es zog sich als ein zivilgesellschaftlicher Faktor durch die lange Geschichte der ›Wende‹ in Ostdeutschland. Gruppierungen wie die IGS in Dessau zeigen, dass Einwohner*innen der DDR bereits im Laufe der 1980er Jahre als Bürger*innen mit bürgerlichen Rechten im Schatten der offiziellen Zielkultur auftraten. Im Rahmen der zeithistorischen Erforschung des Transformationsprozesses über die Zäsur 1989/1990 hinweg entstehen vermehrt Diskussionen um die Verwendung von Begriffen wie Zivilgesellschaft, Demokratie und auch Partizipation, die von den analytischen und idealtypischen Maßstäben westlicher Definitionen geprägt sind.68 Die Historikerin Nada Boškovska plädiert in Hinblick auf das Thema Öffentlichkeit dafür, »den Begriff seiner normativen Konnotation zu entkleiden und ein dynamisches Begriffsverständnis zu Grunde zu legen«.69 Übertragen auf den Begriff Partizipation bedeutet das, zunächst allgemeine Merkmale zugrunde zu legen. Als Partizipation wird insofern die »aktive Beteiligung« von Bürger*innen, häufig in Organisationen, Gruppen, Vereinen etc. »an der Erledigung der gemeinsamen (politischen) Angelegenheiten«, speziell »die Teilhabe der Bevölkerung an politischen Willensbildungsprozessen«70 verstanden. Im Sinne 67 Vgl. Wolfgang Bergem: Die Vergangenheitsprägung deutscher politischer Kultur und Identität. In: Gotthard Breit (Hrsg.): Politische Kultur in Deutschland. Eine Einführung. Schwalbach 2004, S. 47. 68 Rege diskutiert wurde dies u. a. im Rahmen des Workshops ›Aufbruch in die Zivilgesellschaft? Formen lokaler politischer Partizipation in Ostdeutschland vor, während und nach der Friedlichen Revolution‹, 4. – 5. April 2019 in Berlin. 69 Boškovska/Strobel/Ursprung: Einleitung (wie Anm. 3), S. 13. 70 Klaus Schubert/Martina Klein: Das Politiklexikon. Bonn 2006, S. 210; vgl. auch Bernhard Frevel: Demokratie: Entwicklung – Gestaltung – Problematisierung.
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eines dynamischen Begriffsverständnisses erweist sich die Verwendung auch vor dem Hintergrund, dass nicht nur die letzten Jahre unter dem SED-Regime, sondern auch eine Phase unter demokratischen Bedingungen untersucht wird, als konstruktiv. Initiativen wie die IGS agierten in einer Grauzone unter nichtdemokratischen Bedingungen, legten aber bereits hier partizipatives Verhalten an den Tag, welches demokratische Ansprüche markierte, und setzten ihr Engagement auch nach 1989/1990 häufig fort. Verweisen diese Entwicklungen nicht auch auf Elemente des zivilgesellschaftlichen Engagements? Schließlich gilt dies als freiwillige, über private Interessen hinaus, (teil-)öffentlich wirksame und selbstorganisierte Vergemeinschaftung mit partizipatorischen Tendenzen. Im Sinne Konrad H. Jarauschs umfasst es zudem die Entstehung »gesellschaft licher Räume, in denen sich Gruppen bilden konnten, um in Teilöffentlichkeiten eigenständige Politikalternativen zu entwickeln«.71 Ob und inwiefern ihnen ihr Engagement Ende der 1980er Jahre etwa einen ›Demokratisierungsvorsprung‹ brachte, beispielsweise in Hinblick auf eigeninitiativ organisiertes politisches Handeln, bereits bestehende Netzwerke, erprobte Strategien oder eine gewisse Erfolgserfahrung, wird im Rahmen weiterer Forschung noch zu klären sein. Um sich den Phänomenen jedoch nähern zu können, sind die verwendeten Termini in dem Bewusstsein ihrer tradierten Implikationen als Werkstattbegriffe dienlich. Sie gilt es weiterhin kritisch zu befragen und mit Blick auf die Entwicklungen in (post-)sozialistischen Gesellschaften auszudifferenzieren, um sie für eine langfristige und systemübergreifende Analyse nutzbar zu machen.
iesbaden 2009, S. 64 – 66. Partizipation knüpft hier somit auch nicht an Marys Fulbrooks W Label der »partizipatorischen Diktatur« an (dies.: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR . Darmstadt 2008), da Fulbrooks Interpretation den Eigen-Sinn der Akteure vernachlässigt (vgl. Thomas Lindenberger: SED -Herrschaft als soziale Praxis – Herrschaft und »Eigen-Sinn«. Problemstellung und Begriffe. In: Jens Gieseke (Hrsg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR . Göttingen 2007, S. 23 – 47). 71 Konrad H. Jarausch: Aufbruch der Zivilgesellschaft: zur Einordnung der friedlichen Revolution von 1989. In: Totalitarismus und Demokratie 3 (2006) 1, S. 25 – 4 6, hier S. 31.
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Die »Köpfe von gestern«: Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse im Zuge des Systemwechsels im Thüringer Raum 1989/1990
»Der Neuanfang in unserer Stadt kann nicht mit den Köpfen von gestern gestaltet werden«, erklärte der Bürgermeister von Erfurt dem neuen Stadtrat in seiner Eingangsrede am 30. Mai 1990.1 Dabei saßen in seinem neu gewählten Parlament sowohl Vertreter*innen der neuen Parteien und Gruppierungen wie die der ehemaligen Blockparteien, zu denen auch er gehörte, und der PDS, der Nachfolgerin der SED. Doch mit »Köpfen« schien er nicht von Personen zu sprechen, sondern von einer gewissen Denk- und Handlungsweise. »Der ›Sozialismus‹ muss aus den Amtsstuben des Rates der Stadt entfernt werden«, erklärte er weiter. »Die politisch-Verantwortlichen sollen Repräsentanten des Volkes und nicht die einer Ideologie sein.« Die Vision des CDU-Politikers für das zukünftige politische Geschehen in der Kreisstadt – bald Landeshauptstadt – Erfurt war ein eindeutiges Plädoyer für die repräsentative Demokratie. Gleichzeitig war seine Aussage eine starke Abgrenzung zum Führungspersonal der SED. Dennoch erinnert die Sprache des »Entfernens« an die alte »Politik der Exklusion«2 statt an neue Formen des friedlichen Miteinanders. Wie fand der Systemwechsel in Ostdeutschland auf lokaler Ebene statt, und inwieweit ließen sich alte, eingeübte Denk- und Handlungsmuster wie diese tatsächlich aufbrechen? Konnte sich im Zuge des Umbruchs durch die Einführung neuer Strukturen tatsächlich eine neue Gesellschaft mit neuen Akteur*innen und Praktiken herausbilden, oder handelte es sich hier hauptsächlich um eine Neukonfigurierung der bestehenden Gesellschaft? Im Sommer und Herbst 1989 hatten die öffentlichen Auseinandersetzungen und Proteste gegen die SED-Herrschaft dazu geführt, dass die DDR-Regierung schließlich am 7. November 1989 zurückgetreten war. Und auch auf lokaler Ebene 1 Stadtarchiv Erfurt: 1 – 7 Stadtverwaltung Erfurt ab 1990. Protokoll der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 30. 05. 1990 der Stadt Erfurt. Anlage, 30. Mai 1990. 2 Adelheid von Saldern: Alltag und Öffentlichkeiten in DDR-Städten. In: Christoph Bernhardt/Heinz Reif (Hrsg.): Sozialistische Städte z wischen Herrschaft und Selbstbehauptung. Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR. Stuttgart 2009, S. 228.
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kam es vor allem in dieser Zeit zu Rücktritten der Kommunalvertreter*innen. Nun mussten trotz der immer steigenden Anzahl an Ausreisenden neue Personen gefunden werden, die sich den häufenden ›Aufgaben‹ stellen konnten. Zusätzlich brauchte es neue Strukturen, um das Vertrauensverhältnis z wischen Bürger*innen und der politischen Vertretung wiederherzustellen. Doch wie wird ein solcher Übergang gestaltet, und wo findet man politisch ›unbelastete‹ Personen in einem schrumpfenden Land, dessen vorheriges System weitgehend von der Bevölkerung mitgetragen wurde? In vielen Städten arbeiteten die existierenden Stadtverordnetenversammlungen in Zusammenarbeit mit den örtlichen Runden Tischen und Bürgerkomitees bis zur Kommunalwahl weiter.3 In Erfurt, wo im Mai 1989 die Fälschung der Kommunalwahl statistisch bewiesen worden war, verlangten die neuen Parteien und Gruppierungen allerdings, dass schon im Vorfeld 70 ihrer Mitglieder als Abgeordnete in die Stadtverordnetenversammlung aufgenommen werden sollten.4 Da die Stadtführung nur bereit war, 40 Sitze abzugeben, wurde die Versammlung aufgelöst und ein paritätisches Interimsparlament gebildet, in dem alle Parteien und neue Gruppierungen gleichermaßen vertreten waren.5 Dieses tagte bis zur Kommunalwahl im Mai 1990, bei der diejenigen gewählt wurden, die anschließend den Systemwechsel auf der lokalen Ebene umsetzen sollten. Das letzte Jahr der DDR wird weitgehend als eines der demokratischen Erneuerung, der Revolution und der Selbstbestimmung beschrieben.6 Die Einführung freier Wahlen, die Etablierung einer freien Presse und die lang ersehnte Reisefreiheit gewährleisteten neue, demokratische Rechte für die Bürger*innen Ostdeutschlands.7 Dennoch weiß man immer noch sehr wenig darüber, wie der Systemwechsel in der politischen Praxis umgesetzt wurde. In ihrer anthropologischen Studie zum Grenzort Kella hat Daphne Berdahl gezeigt, dass ein Systemwechsel eine soziale Seite habe, die mit politischen, wirtschaftlichen und 3 Siehe Francesca Weil: Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR. Göttingen 2011; Cornelia Liebold: Zwischen zentralistischer Abhängigkeit und demokratischem Neubeginn. Leipziger Kommunalpolitik in der Wende 1989/90. In: Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hrsg.): Die politische »Wende« 1989 in Sachsen. Rückblick und Zwischenbilanz. Weimar 1995, S. 71 – 116. 4 Stadtarchiv Erfurt: 1 – 5/1000/69 Stadtverordnetenversammlung und Rat der Stadt 1945 – 1990. Niederschrift der Stadtverordnetenversammlung am 11. Januar 1990. 5 Ebd. 6 Siehe Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989 – 1990. Berlin 2009; Nicole Völtz: Staatsjubiläum und Friedliche Revolution. Planung und Scheitern des 40. Jahrestags der DDR 1989. Altenburg 2009. 7 Der Begriff ›Ostdeutschland‹ wird in diesem Beitrag auch für die Übergangszeit 1990 genutzt, direkt bevor und nachdem das Gebiet der DDR der Bundesrepublik Deutschland beitrat.
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identitätsstiftenden Entwicklungen interagiere.8 Neue Regeln, Strukturen und Praktiken müssen nicht nur eingeführt, sondern auch von und in der Gesellschaft ausgehandelt und angewendet werden. Denn auch Institutionen seien »soziale Räume«, in denen Machtverhältnisse wirken und sich untersuchen lassen, betont Sandrine Kott.9 Der Blick auf die Akteure des Systemwechsels zeigt also, wie verschiedene eigensinnige Handlungen in Wechselwirkung miteinander politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen beeinflussten. Der Begriff Eigensinn bezieht sich auf eine Alltagspraxis und »umreißt die Gleichzeitigkeit von Handlungsmöglichkeiten: Mitmachen, Zustimmen, Ausweichen, Zurückziehen, Durchkommen, Solidarität, Zulassen, Sich-Distanzieren, Hilfe verweigern, Sich-Widersetzen«.10 Der Blick auf d ieses oft widersprüchliche Verhalten verdeutlicht wiederum, wie sich Machtverhältnisse in Umbruchszeiten wandeln und inwieweit soziale Praktiken weitergeführt oder geändert werden. Schon in den 1990er Jahren haben Soziolog*innen und Psychoanalytiker*innen begonnen, sich mit den sozialen Aspekten des Umbruchs in Ostdeutschland wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Annette Simon hat prophezeit, dass die Menschen in beiden Teilen Deutschlands viel Zeit bräuchten, um einander kennen zu lernen und sich auf eine neue gemeinsame Kultur zu verständigen.11 Sigrid Meuschel hat hingegen argumentiert, dass die neuen politischen Strukturen in der DDR nicht rechtzeitig genug entstanden s eien, dass sich »die Gesellschaft im Umbruch über ihre künftige Gestalt […] hätte auseinandersetzen können«.12 Innerhalb eines k urzen Jahres war das Gebiet der DDR schon der B undesrepublik beigetreten und hatte somit auch deren föderale Struktur übernommen. Die Weichen für das neue Miteinander waren durch die neuen politischen Strukturen maßgeblich vorgeprägt. Dennoch zeigt Valérie Lozac’h in ihrer Untersuchung des Verwaltungsumbaus in Eisenhüttenstadt, wie die »Alten« im Verwaltungsapparat importierte Bürokratiemodelle aus dem Westen abgelehnt und dafür eigene Methoden und 8 Daphne Berdahl: Where the World Ended: Re-Unification and Identity in the German Borderland. New York 1999. 9 Sandrine Kott: Der Beitrag der französischen Sozialwissenschaften zur Erforschung der ostdeutschen Gesellschaft. In: Sandrine Kott/Emmanuel Droit (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Berlin 2006, S. 22. 10 Belinda Davis/ Thomas Lindenberger/Michael Wildt (Hrsg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen. Frankfurt am Main 2008, S. 18. 11 Annette Simon: Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu erklären. Gießen 1995, S. 15. 12 Siegrid Meuschel: Revolution in der DDR. Versuch einer sozialwissenschaftlichen Interpretation. In: Hans Joas/Martin Kohli (Hrsg.): Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen. Frankfurt am Main 1993, S. 114.
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Arbeitsstrukturen im Systemwechsel beibehalten hätten.13 Die Auseinandersetzung um die Verwaltungspraxis habe ihnen gedient als »Instrument, mit dem die eigene Position gegenüber ›Newcomern‹ und Westdeutschen gerechtfertigt und gestärkt wurde«.14 Dadurch wird deutlich, dass die neuen Strukturen nicht einfach übergestülpt werden konnten, sondern von Akteur*innen auf der lokalen Ebene umgesetzt werden mussten. Die Form der neuen Gesellschaft stand 1990 noch nicht fest und wurde sozial verhandelt. Dass die Akteur*innen auf der lokalen Ebene den Systemwechsel mitgestalteten, steht daher außer Frage. Offen bleibt, wie viel Handlungsspielraum sie dabei hatten und wie sie diesen nutzten. 30 Jahre nach dem Umbruch von 1989/1990 wird in der historischen Forschung mit neuen Fragen auf diese Zeit zurückgeblickt. Was geschah mit der Gesellschaft im Umbruch? In den Geschichtsbüchern zu 1989 und 1990 wird der Fokus oft auf die neu entstandenen Bürgerbewegungen gelegt, die trotz ihrer bedeutenden Rolle nur einen Bruchteil der Gesellschaft darstellten und keineswegs auf eine Machtübernahme vorbereitet waren.15 Wer waren also die Akteur*innen, die im letzten Jahr der DDR die Verantwortung für ihre Kommunen übernahmen, und woher kam ihr Engagement? Inwieweit konnten sich im Rahmen der Veränderungen tatsächlich ›neue‹ Akteur*innen etablieren, und wie wurden Entscheidungen zur Neu- und Umbesetzung von Stellen in der Kommunalpolitik und -verwaltung unter den neuen Bedingungen getroffen? Welche Rolle spielten ›alte‹ Protagonist*innen in dieser Zeit, und wie wurde ein neues Miteinander geschaffen? Wo entstanden Konflikte, und was geschah im Nachhinein mit den ›Köpfen von gestern‹? Diese Fragen beleuchtet der vorliegende Beitrag anhand des politischen Umbruchs 1989/1990 in den Städten Eisenach und Erfurt.16 Um näher auf soziale Beziehungen und Interaktionen einzugehen, wird der Blick auf den Raum z wischen Akteur*innen in der Stadtverwaltung, der Presse, der Wirtschaft und der Bevölkerung geworfen. Diese alltäglichen Konfliktpunkte weisen auf den Eigensinn der Bürger*innen hin und zeigen, wie der Systemwechsel in Ostdeutschland von den Menschen vor Ort erfahren, ausgehandelt und mitgestaltet wurde. 13 Valérie Lozac’h: Das Erbe der Vergangenheit als Strategie. Die »Alten« und der Verwaltungsumbau in den ostdeutschen Kommunen. In: Kott/Droit (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft (wie Anm. 8), S. 215 f. 14 Ebd., S. 229 f. 15 Catherine Perron: Die Neuerfindung einer Tradition? Entstehungsanalyse des liberalen und konservativen politischen Lagers in der DDR und den ostdeutschen Ländern nach 1989. In: Kott/Droit (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft (wie Anm. 8), S. 253 f. 16 Der Beitrag beruht auf Archivquellen und Gesprächen, die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit »Ost Voices. Local Practices of the Transformation in Eastern Germany, 1989 – 1994« (University of Warwick, 2020) gesammelt habe.
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1. Die ›Neuen‹ Nur wenige Tage nach dem Mauerfall und der Öffnung der innerdeutschen Grenze fuhr ein Pfarrer aus dem Kreis Eisenach zu einem Arbeitstreffen nach Leipzig.17 Laut seinen Aussagen war die Spur Richtung Gotha und Erfurt auf der Hinfahrt komplett frei, während die Autos in der entgegengesetzten Richtung im Stau standen und nur schrittweise vorwärtskamen. Bei der Rückfahrt am Sonntagabend tröpfelten dieselben Autos dann langsam wieder zurück. Doch in Erinnerung geblieben ist nicht nur die freie Fahrbahn, sondern ein Transparent, das an der Brücke Hörselgau bei Eisenach hing und den Aufdruck trug: Kommt bitte wieder
Der Spruch, der für alle gedacht war, die Richtung Westen fuhren, verdeutlichte mit nur drei Wörtern die Stimmung im Lande zu dieser Zeit. Es war ein Aufruf derer, die in der DDR geblieben waren, und er richtete sich an diejenigen, die überlegten zu gehen. Die schwierige Lage des Landes, der Wunsch nach besseren Lebensverhältnissen und die Sorge, dass andere dem Land rasch den Rücken zukehren würden, bewegte viele dazu, in ihren Kommunen aktiv zu werden. Es existiert kein einheitliches Narrativ der Umbruchszeit in Ostdeutschland. Die Motivation der vielen Menschen, die sich in dieser Zeit lokal engagierten, war von Person zu Person unterschiedlich. Gleichermaßen machten die Bürger*innen in Ostdeutschland im Zuge des Umbruchs unterschiedliche, aber auch sich ähnelnde Erfahrungen. Von denen, die vorher nicht politisch aktiv gewesen waren, hatten sich einige unter dem Dach der Kirche in Frauen- oder Interessensgruppen engagiert. Andere wiederum fanden sich über einen Aufruf in der Zeitung zum Thema des Altstadtverfalls mit Gleichgesinnten zusammen und entschieden »spontan«, sich zu kümmern, um »so viel wie möglich [zu] retten von dieser alten Stadt«.18 Bei manchen waren es persönliche Familiengeschichten, die sie dazu führten, sich für Veränderungen einzusetzen, in anderen Fällen waren es die Gegebenheiten im Betrieb und der gefühlte Stillstand der Entwicklung, die sie dazu brachten, neue Gruppierungen und Parteien zu bilden. Oftmals hieß es, dass man etwas verändern wolle, dass es so einfach nicht mehr weitergegangen wäre. Die Schnittpunkte schienen eine starke Perspektivlosigkeit und eine tief empfundene Notwendigkeit zum Handeln gewesen zu sein, angetrieben durch die steigende Ausreisewelle Mitte der 1980er Jahre und die damit verknüpfte 17 Zeitzeugengespräch mit Christian Köckert. Stedtfeld, 5. Oktober 2018. 18 Zeitzeugengespräch mit Ingrid Pfeiffer. Eisenach, 12. September 2018.
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Frage: Geht man, oder bleibt man und setzt sich dann aktiv für Reformen ein? In dieser Zeit, in der man auf einmal die Möglichkeit hatte, das Land zu verlassen, war der Entschluss zu bleiben somit auch eine bewusste Entscheidung, aus der ein Verantwortungsbewusstsein für die herrschenden Verhältnisse erwachsen konnte. Die Unterstützung der Bevölkerung wurde dringend gebraucht, um die vielen neuen Probleme, die tagtäglich durch die neuen Gegebenheiten entstanden, zu lösen. Doch die Notwendigkeit, unter anderem freie Stellen umgehend zu besetzen, geriet schnell in Konflikt mit dem zeitgleichen Verlangen nach demokratischer Kontrolle und Mitspracherecht. So erschien zum Beispiel in der Eisenacher Ausgabe der Tageszeitung Das Volk im Januar 1990 ein Artikel eines Mitglieds des lokalen Neuen Forums, der die Entscheidung des Bürgermeisters von Eisenach, den ehemaligen Direktor der Handelsorganisation auf Honorarbasis einzustellen, um die vielen Anfragen von westdeutschen Firmen zu bearbeiten, kritisierte.19 Unter dem Titel Gegen einen Ausverkauf. Fragen zu zweifelhaften Verhandlungspraktiken des Rates der Wartburgstadt mit Firmen aus der Bundesrepublik wurde dem Bürgermeister vorgeworfen, er handle aus persönlichem Interesse heraus. Zusätzlich wurde hinterfragt, warum es Gelder für »sehr undurchsichtige Manipulationen« gebe, aber nicht für die Öffnung des Museums oder der Eisenach-Information. Der Artikel endete mit der Stellungnahme: Wir sind gegen einen Ausverkauf der DDR und unserer Heimatstadt Eisenach. Dieser Ausverkauf muß sofort durch die Kontrolle des Bürgermeisters und den Rat der Stadt gestoppt werden. Auch ein Rat der Stadt hat ohne Zustimmung des Runden Tisch keine Entscheidungen, die gegen die Interessen der Bürger Eisenachs sind, zu treffen.
Der Begriff des »Ausverkaufs« suggeriert ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Stadtrat und erste Sorgen um die zukünftige Eigenständigkeit der DDR. Der Rat der Stadt und die Bundesrepublik werden im Brief als Komplizen dargestellt, die gemeinsam das Volkseigentum der DDR-Bürger*innen zu versteigern versuchten. Der Runde Tisch in Eisenach wird hingegen zur neuen Hoheitsmacht ernannt, obwohl dieser nicht demokratisch legitimiert war.20 Die lokalen Gremien wirkten während der Umbruchszeit zwar erfolgreich als Kontrollorgane und enthielten auch basisdemokratische Elemente, waren allerdings als Übergangslösung bis zu den ersten freien Wahlen gedacht und funktionierten 19 Stadtarchiv Eisenach: 12 – 2298 Städtische Akten bis 1990; Neuverteilung von Gebäuden. Gegen einen Ausverkauf. Fragen zu zweifelhaften Verhandlungspraktiken des Rates der Wartburgstadt mit Firmen aus der Bundesrepublik. In: Das Volk, 4. Januar 1990. 20 Francesca Weil: Verhandelte Demokratisierung (wie Anm. 3), S. 224.
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in Zusammenarbeit mit den Stadtratsmitgliedern und Bürgerkomitees hauptsächlich zur Verständigung.21 Indem im Brief von »unserer Heimatstadt« gesprochen wird, werden die genannten Akteur*innen in Opposition zueinander aufgestellt und stilisiert: Das Neue Forum fungiere demnach als Sprechrohr der Bürger*innen, das ausschließlich in deren Interesse handle. Ihm gegenüber stehen der Stadtrat und die Bundesrepublik, die der Argumentation folgend nur Eigeninteressen verträten und somit zum Gegner würden. Dieser Freund-Feind-Diskurs sollte sich in den folgenden Monaten mit Hilfe der lokalen Presse in der Öffentlichkeit verfestigen, vor allem auch in Bezug auf die Ansiedlung westdeutscher Betriebe in der Region. In einigen Fällen konnte somit tatsächlich auf Regelverstöße der bundesdeutschen Firmen in der DDR und auf fehlende Transparenz aufmerksam gemacht werden. Gleichzeitig aber dienten die im Brief vertretenen Anschuldigungen auch dazu, die Legitimität der leitenden Akteur*innen zu untergraben. Vier Tage später schickte auch der örtliche Bürgermeister einen Brief an die Lokalredaktion mit der Bitte um eine ungekürzte Veröffentlichung. Was soll da ausverkauft werden?, fragte der Bürgermeister.22 Soll ausverkauft werden das desolate und teilweise nicht mehr funktionstüchtige Abwasserungssystem [sic] unserer Stadt, […] oder das gleichfalls in Rechtsträgerschaft des VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung befindliche Wassergewinnungs-, -aufbereitungs – und -leitungssystem, das als [sic] und damit störanfällig ist, so daß die Arbeiter d ieses Betriebes von den Rohrbrüchen gejagt werden, ohne mit ihnen jemals fertig zu werden? Soll [sic] ausverkauft werden unsere Gaststätten und Hotelkapazität, über deren Zustand bereits geschrieben wurde? […] Ausverkaufen die Krankenhäuser [sic], Kliniken, Arztpraxen, die sich doch wohl zum erheblichen Teil in einem schlechten baulichen Zustand befinden […]? Ausverkauf unserer Industriebetriebe, in denen teilweise in Gebäuden aus dem Jahrhundertbeginn […] mit jahrzehntealter Technik produziert wird? Sollen die Eisenacher Straßen ausverkauft werden, die teilweise die Bezeichnung Straßen nicht mehr verdienen, die Busse des Kraftverkehrs, die Veteranenalter erreicht haben?23
Indem er die schlechte Lage der städtischen Infrastruktur beschrieb, versuchte der Bürgermeister, Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), der Vorstellung eines Ausverkaufs zu widersprechen. Die Stadt sei vielmehr auf 21 Ebd., S. 231. 22 Stadtarchiv Eisenach: 12 – 2298 Städtische Akten bis 1990; Neuverteilung von Gebäuden. Brief vom Bürgermeister an den Kreisredakteur. In: Das Volk, Kreisredaktion Eisenach, 8. Januar 1990. 23 Ebd.
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jegliche finanzielle Hilfe und fachliche Expertise angewiesen. Um die vielen neuen Kontakte, die in dieser Zeit entstanden, zu pflegen und zu sortieren, »werden Menschen gebraucht, die Ökonomen sind, die kaufmännisches Verständnis haben«,24 so der Bürgermeister. In einem früheren Gespräch hatte die Stadtverwaltung zugegeben: »Wir bekommen so viele Anfragen über Aufträge und Verträge von bundesdeutschen Firmen, daß wir nicht in der Lage sind, sie abzuarbeiten. Wir wissen nicht, wie wir es schaffen sollen, und haben niemand, der Verhandlungen mit diesen Firmen führen kann.«25 Der Bürgermeister stellte klar, dass der ehemalige Direktor der Handelsorganisation nicht freie Hand über die Entscheidungen habe, sondern jeden Punkt mit ihm absprechen müsse. Aufgrund der Anschuldigungen in der Presse habe der ehemalige Handelsdirektor aber nun entschieden, seine Tätigkeit aufzugeben. In einem Zeitungsartikel, der von der Thüringer Landeszeitung die Überschrift Sensible Reaktion in sensiblen Zeiten bekam, erörterte er, er sei nicht »Koordinator für die Zusammenarbeit mit der BRD« gewesen, und dass die Presse »in dieser sensiblen Zeit bei Veröffentlichungen Mißdeutungen auszuschließen« habe.26 Aufgrund der schlechten Presse werde er sich »zukünftig nur dort engagieren, wo fachliche Kompetenz ohne Voreingenommenheit gefragt ist«.27 Die Kommunen in Ostdeutschland standen also Anfang 1990 vor der schwierigen Aufgabe, schnelle Lösungen zu finden und gleichzeitig Personal zu engagieren, das dazu sowohl bereit als auch fähig war und zusätzlich mit der ungewohnten Prüfung und Kritik in der Öffentlichkeit auskam. Ein Gesprächspartner bezeichnete seine Aufgabe im Stadtrat in Eisenach im Jahr 1990 folglich nicht als Arbeit, sondern als »eine Berufung«.28 Diejenigen, die Verantwortung übernahmen, taten das laut ihren Ausführungen aufgrund der besonderen historischen Situation, aus einer Art ›Bürgerpflicht‹ für ihr Land und ihre Mitmenschen heraus. Dabei zeigten nicht alle, die letztendlich die höchsten Stellen auf kommunaler Ebene übernahmen, anfangs Interesse daran, politische Ämter zu übernehmen. Doch die Dringlichkeit, diese Stellen mit ›neuen Köpfen‹ zu besetzen, führte dazu, dass sie angesprochen und überredet wurden. Ein Zeitzeuge gab an, er habe sich von der CDU »breitschlagen lassen«,29 ein anderer erzählte: »Ich wollte erst nicht, aber dann ist mir inniglich zugeredet worden«.30 24 Ebd. 25 Stadtarchiv Eisenach: 12 – 2298 (wie Anm. 16). 26 Stadtarchiv Eisenach: 12 – 2298 Städtische Akten bis 1990; Neuverteilung von Gebäuden. Sensible Reaktion in sensiblen Zeiten. In: Thüringer Landeszeitung, 9. Januar 1990. 27 Ebd. 28 Zeitzeugengespräch mit Eckard Lindner. Eisenach, 3. März 2017. 29 Zeitzeugengespräch mit Anonym. Eisenach, 24. Oktober 2018. 30 Zeitzeugengespräch mit Johannes Wallbrecht. Berlin, 9. Februar 2018.
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Die Angst davor, dass die alten Eliten die Führung der Parteien und die Entscheidungsmacht übernehmen könnten, drängte vor allem junge Menschen, oft erst Anfang 30, dazu, trotz fehlender Erfahrung in ihren Kommunen Verantwortung und Führungsstellen zu übernehmen. »Nicht, dass die Alten plötzlich wieder drankamen«, sagte ein späterer stellvertretender Bürgermeister.31 »Und da dachte ich: ›Du musst jetzt.‹ Da haben sie mir damals Zeit gelassen ungefähr zehn Minuten in einer Fraktionssitzung. Einer von uns musste jetzt hauptamtlich das machen. Hatte ich zehn Minuten Zeit zu überlegen.«32 In einem kleineren Ort bei Eisenach wird diese Problematik nochmals sehr deutlich. Dort hatte die Gemeindevertretung in Stedtfeld im Jahr 1990 entschieden, die hauptamtliche Stelle der Bürgermeisterin aus finanziellen Gründen zu streichen. Da die Inhaberin nicht bereit war, wie vorgeschlagen ihre Funktion ehrenamtlich weiterzuführen, gab es in der Gemeinde fortan keine*n Bürgermeister*in. Stellvertretend sollte der örtliche Pfarrer, als Vorsitzender der Gemeindevertretung, die Geschäfte führen, doch auch ihm wurde die Aufgabe nebenberuflich bald zu viel. Da die ehemalige Bürgermeisterin inzwischen eine neue Arbeitsstelle im Versicherungswesen gefunden hatte, wurde der Posten ausgeschrieben: Und dann kamen vier Bewerbungen. Und die spiegelten auch so ein bisschen das Dilemma des Jahres 1990 wider. […] Also die erste Bewerbung war der Chef, der ehemalige Chef der […] Wohnungsverwaltung, dem gekündigt worden war, weil er KWV 33-Wohnungen gegen Wartburgs verschoben hat. […] Die zweite Bewerbung war eine […] entlassene Stellvertreterin des Rates des Kreises, zuständig für Handel und Versorgung. Die war aus denselben Gründen entlassen worden. […] Die dritte Bewerbung war ein durch die Auflösung der Grenztruppen arbeitslos gewordener Politoffizier der Grenztruppen, zuständig für Agitation und Propaganda. Und die vierte Bewerbung war ein arbeitslos gewordener ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter […], von dem man wusste, dass er wissenschaftlicher Mitarbeiter war, weil er hauptamtlicher Stasimann war. […] Alles durch die Wende freigesetzte Leute. […] Und da haben sich die Gemeindevertreter alle tief in die Augen geguckt und haben gesagt: ›Das geht nicht. Das können wir nicht machen‹. Und da haben sie mich gefragt in der Sitzung: ›Warum machst du das eigentlich nicht?‹.34
In beiden hier gezeigten Fällen waren Menschen, die sich sonst vielleicht anderweitig engagiert hätten, durch Zeitdruck in politische Ämter gekommen, um die 31 Zeitzeugengespräch mit Matthias Doht. Eisenach, 18. Dezember 2017. 32 Ebd. 33 Kommunale Wohnungsverwaltung. 34 Zeitzeugengespräch mit Christian Köckert. Stedtfeld, 5. Oktober 2018.
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alten Systemträger*innen von den Leitungspositionen fernzuhalten. Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen und die zunehmend kritische Öffentlichkeit war es offensichtlich geworden, dass die Parteien ihr Image ändern mussten und neue Gesichter brauchten. Das gestörte Vertrauensverhältnis z wischen Bürger*innen und Stadt und auch innerhalb der Stadträte selbst führte dazu, dass in Erfurt der SED-Oberbürgermeister Mitte Januar 1990 einen Brief an den Präsidenten der Volkskammer schrieb, in dem er aufgrund der »angespannten Lage« dringend um das Vorziehen der Wahlen bat.35 In seinem Stadtrat war die CDU in die Opposition gegangen, und es war unmöglich geworden, für die Kommunalarbeit wichtige Beschlüsse zu verabschieden. Auch in Eisenach suchte man daher verzweifelt nach lokalen Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen. Doch dort spielte noch eine andere Sorge eine Rolle. Der spätere Bürgermeister, der bis dahin nur einfaches Mitglied der CDU gewesen war, bekam einen Anruf von der Geschäftsführerin der Kreis-CDU, die mahnte: »Wenn du das nicht machst, dann nehmen wir jemand aus dem Westen, weil du bist der siebte, den wir jetzt fragen.«36 Die anderen Parteimitglieder, die gefragt worden waren und die über mehr Erfahrung in der Kommunalpolitik verfügten, wollten sich lieber auf höhere Stellen im Landtag bewerben. Die Angst, »dass dann jemand aus den alten Ländern zu uns kommt und in das Rathaus geht und die Kommunalpolitik bestimmt«, reichte schließlich aus, um das junge CDU-Mitglied zu überzeugen, für seine Partei als Bürgermeister zu kandidieren.37 Begleitet von einem öffentlichen Diskurs, der Akteur*innen aus der Bundesrepublik und der ehemaligen Stadtleitung stark in Frage stellte, und vorangetrieben von der Unsicherheit des Umbruchs, stiegen junge DDR-Bürger*innen ohne Erfahrung in der Politik schnell in die obersten Ränge der Parteienverbände und Stadtleitungen auf. Somit erschienen die Strukturen wenigstens von außen neu besetzt zu sein und schafften dementsprechend neues Vertrauen in die zukünftigen Entscheidungsträger*innen. Doch wie würden die ›Neuen‹ ohne Erfahrung die kommunalpolitischen Hürden des Systemwechsels überwinden, und wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit ›alten‹ Akteur*innen im Hintergrund? In den bevorstehenden Wahlen wurde schnell deutlich, dass das Personal nur in geringem Maße zu ersetzen war. 35 Stadtarchiv Erfurt: 1 – 5/1000/69 Stadtverordnetenversammlung und Rat der Stadt 1945 – 1990. Brief vom Oberbürgermeister von Erfurt an den Präsidenten der Volkskammer. Erfurt, 16. Januar 1990. 36 Zeitzeugengespräch mit Hans-Peter Brodhun. Eisenach, 11. Oktober 2018. 37 Ebd.
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2. Die ›Alten‹ »Neue Demokratien beginnen nicht mit neuen Menschen«, heißt es im Einstieg zu Anna Sa’adahs Buch zum Demokratisierungsprozess in Deutschland nach 1945.38 Dies gilt genauso für die Situation in der DDR im Herbst 1989. Es wäre schlicht unmöglich gewesen, in jedem Gesellschaftsbereich alle Mitarbeiter*innen mit jüngeren Personen austauschen. Meistens waren es daher, wie in der Politik, nur die Leitungspositionen, die neu besetzt wurden. So geschah es auch bei der Organisation der ersten freien Wahlen in der DDR im Jahr 1990. Da die für Mai geplante Volkskammerwahl im Februar aufgrund der wachsenden Unruhe kurzfristig auf März vorverlegt wurde, bedurfte es für die fristgerechte Durchführung der Wahl einer hohen Beteiligung aller Mitmenschen. Am Wahlablauf wurde nichts geändert, außer dass neue Wahlleiter*innen, die in Erfurt auf bezirklicher Ebene geschult worden waren, eingestellt wurden. Diese wurden nun Vorgesetzte der örtlichen Wahlgruppen, die sich aus Mitarbeiter*innen der ›alten‹ Verwaltung zusammensetzen, die über die Jahre immer wieder für die Vorbereitung der Wahlen zusammengekommen waren. Gemeinsam organisiert werden mussten unter anderem die Logistik – Fahr- und Routenpläne – und das Drucken von Stimmzetteln. »Wenn die ihre Schreibtische zugemacht hätten und gegangen wären«, erzählte der Wahlleiter für Eisenach im Zeitzeugengespräch, ohne den Satz zu beenden.39 Dabei wird deutlich, wie sehr die ›neuen‹ Akteur*innen auf die Kooperation und Hilfeleistung der ›alten‹ Verwaltung angewiesen waren. Dennoch waren nicht alle Mitarbeiter*innen den neuen Wahlleitern gut gesinnt. Die offenkundige Fälschung der Kommunalwahl im Mai 1989 hatte stark zum Vertrauensverlust innerhalb der Bevölkerung beigetragen und die öffentliche Kritik hatte sich auch gegen die Wahlorganisator*innen gerichtet. Die Prüfung der Wahlvorgänge durch die neuen Wahlleiter sowie der Einsatz von »Vertrauens personen«40 in den Wahllokalen selbst waren ein Zeichen dieses Misstrauens und deuteten darauf hin, dass es für viele der Verwaltungsmitarbeiter*innen beruflich nicht weitergehen werde. »Und wir beide […] und die Jungspunde, die da noch so mit bei der Wahl rumsaßen, wir waren die Vollstrecker«, formulierte es der 38 Anna Sa’adah: Germany’s Second Chance. Trust, Justice, and Democratization. London 1998, S. 1. 39 Zeitzeugengespräch mit Johannes Wallbrecht (wie Anm. 27). 40 LATh – HStA Weimar: 6 – 62 – 0001 – 302 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt; Wahlkommission des Wahlkreises 4 – Bezirk Erfurt (Volkskammerwahl: 18. März 1990). Protokoll über die Sitzung der Wahlkommission am 12. 03. 1990. Wahlkommission des Wahlkreises Bezirk Erfurt. Erfurt, 14. März 1990.
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neue Wahlleiter im übertragenen Sinne, um die Schwierigkeit der Situation zu beschreiben.41 Trotzdem habe ihm die ehemalige Wahlleiterin in seinem Kreis vieles zum Kommunikationsnetzwerk und zum Ablauf der Wahl erklärt. Um die umstrittene Vergangenheit nicht zum Thema zu machen, hätten sie »nie rückwärts gesprochen« und sich stattdessen voll auf die Aufgabe konzentriert.42 Der gelernte Maschinenbauingenieur musste sich erst einmal damit auseinandersetzen, was ein Wählerverzeichnis war, und anschließend den Bürger*innen erklären, wie die neue Wahl ablaufen solle, wo man das Wählerverzeichnis einsehen könne oder wie der Stimmzettel und das Wahllokal aussehen werde. In Bezug auf die Wahllokale begannen bereits die ersten Probleme. Gaststätten und Jugendklubs in Erfurt und Eisenach weigerten sich, ihre Räume für die neuen Wahlen weiterhin zur Verfügung zu stellen.43 Zusätzlich fehlte es an Wahlkabinen, denn die Stadträt*innen wollten die Neuanfertigung von Kabinen nicht finanzieren.44 Viele Ortschaften schlossen daraufhin Abmachungen mit Partnerstädten und Parteien im Westen ab, um sich deren Wahlkabinen für die Volkskammerwahl ausleihen zu können, oder einigten sich darauf, leerstehende Räume als Wahlkabinen zu nutzen.45 Das größte Problem war jedoch, rechtzeitig genug Wahlvorstände zu bilden und Wahlhelfer*innen für die Wahllokale und den Stimmzetteltransport zu finden. Bis dahin hatten das die örtlichen Bürgermeister mitorganisiert, nun aber weigerten sie sich, die anstehenden Wahlen zu unterstützen. »Es gibt Widerspruch von Seiten der Bürgermeister«, schrieb der Wahlleiter Eisenachs Ende Februar, »die Aufgaben zu übernehmen, für die laut Wahlgesetz und Wahlordnung die Wahlkommission verantwortlich ist, z. B. für die Bildung der Wahlvorstände. Wir haben in Absprache mit den Vertretern des runden Tisches deshalb eine Aufforderung in der Tagespresse an alle Bürger, Parteien und politischen Organisationen veröffentlicht, sich zur Mitarbeit in den Wahlvorständen zu melden.«46 41 Zeitzeugengespräch mit Johannes Wallbrecht (wie Anm. 27). 42 Ebd. 43 Stadtarchiv Erfurt: 1 – 5/1000 Stadtverordnetenversammlung und Rat der Stadt 1945 – 1990. Protokoll der 1. Sitzung der örtlichen Volksvertretung vom 21. 02. 1990 der Stadt Erfurt, Anlage. Bericht des Rates zur Lage in der Stadt Erfurt. Erfurt, 21. Februar 1990. 44 Ebd. 45 LATh – HStA Weimar: 6 – 62 – 0001 – 302 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt; Wahlkommission des Wahlkreises 4 – Bezirk Erfurt (Volkskammerwahl: 18. März 1990). Protokoll über die Sitzung der Wahlkommission am 06. 03. 1990. Wahlkommission des Wahlkreises Bezirk Erfurt, 7. März 1990. 46 LATh – HStA Weimar: 6 – 62 – 0001 – 302 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt; Wahlkommission des Wahlkreises 4 – Bezirk Erfurt (Volkskammerwahl: 18. März 1990). Fernschreiben Rat des Kreises Eisenach, Wahlstützpunkt, an den Rat des Bezirkes Erfurt, Wahlkommission des Wahlkreises Bezirk Erfurt. 26. Februar 1990.
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Auch in Erfurt berichtete die Sekretärin der Wahlkommission: »Die Bereitschaft vieler Bürgermeister, sich für die Vorbereitung und Durchführung der Wahl verantwortlich zu fühlen, ist nicht mehr gegeben, da sie für sich keine Perspektive sehen, ihre künftige Arbeit bzw. berufliche Entwicklung völlig ungeklärt ist.«47 Am 9. März schrieb die Sekretärin der Wahlkommission in Erfurt nach Berlin: »In 62 Stimmbezirken sind die Wahlvorstände noch nicht vollständig besetzt und gebildet.«48 Drei Tage später – nur sechs Tage vor der Wahl – erklärte der Wahlleiter des Bezirks, dass die Berichterstattung zum Thema der Wahl »spärlich« sei.49 Auch die Presse war nicht mehr bereit, als Sprachrohr für die ›Neuen‹ bei der Organisation der Wahl zu fungieren. In Eisenach schaffte es der Wahlleiter noch mit einer späten Telefonaktion, genug Wahlhelfer*innen zu organisieren. In anderen Lokalen musste man versuchen, Wahlhelfer*innen aus den ersten Reihen der Wähler*innen zu rekrutieren. Nach der Volkskammerwahl, bei der die Allianz für Deutschland, das Wahlbündnis aus der CDU in der DDR, dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU), die meisten Stimmen bekommen hatte, wurde es immer schwieriger, Bürger*innen für die Mitarbeit für die Kommunalwahlen im Jahr 1989 zu animieren. Ende April wurden die Bürgermeister im Wahlkreis Eisenach zu einer Arbeitsberatung eingeladen. Während die Wahlleiter noch freundlich für ein Pressefoto posierten, spielte sich hinter den Kulissen eine andere Geschichte ab. Die Bürgermeister im Wahlkreis Eisenach weigerten sich, an den Kommunalwahlen teilzunehmen, aus Angst, sie würden ihre Stellen verlieren.50 »Warum sollen wir denn da mitmachen?«, fragten sie. »Wir schaffen uns doch selber ab. Wenn ihr schon alles anders machen wollt, dann macht es doch selber.« Obwohl der Wahlleiter verstand, warum sie sich Sorgen machten, fiel ihm dazu nichts mehr ein. Er erklärte wie geplant die Vorgänge, aber es änderte nichts an der Situation. Erst als sein Vorgesetzter vom Rat des Kreises 47 LATh – HStA Weimar: 6 – 62 – 0001 – 302 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt; Wahlkommission des Wahlkreises 4 – Bezirk Erfurt (Volkskammerwahl: 18. März 1990). Fernschreiben Rat des Bezirkes Erfurt, an das Ministerium für innere Angelegenheiten, Wahlbüro der DDR Berlin. Erfurt. 27. Februar 1990. 48 LATh – HStA Weimar: 6 – 62 – 0001 – 302 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt; Wahlkommission des Wahlkreises 4 – Bezirk Erfurt (Volkskammerwahl: 18. März 1990). Fernschreiben Wahlkommission des Wahlkreises 4 – Bezirk Erfurt – an das Wahlbüro der DDR in Berlin. Erfurt. 9. März 1990. 49 LATh – HStA Weimar: 6 – 62 – 0001 – 302 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt; Wahlkommission des Wahlkreises 4 – Bezirk Erfurt (Volkskammerwahl: 18. März 1990). Protokoll über die Sitzung der Wahlkommission am 12. 03. 1990. Wahlkommission des Wahlkreises Bezirk Erfurt. Erfurt. 14. März 1990. 50 Zeitzeugengespräch mit Johannes Wallbrecht (wie Anm. 27).
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mit den Bürgermeistern sprach, schaffte er es, sie doch zur Mitarbeit zu animieren. Der ältere SED-Mann verfügte nicht nur über persönliche Beziehungen zu den örtlichen Bürgermeistern und deren Respekt, sondern in diesem Fall auch über die besseren Argumente. Mit dem Hinweis, dass die Bürgermeister ihre Gemeinden doch besser kennen würden als alle anderen und dass der Wahlkampf noch nicht entschieden sei, soll er ihnen Mut gemacht haben. Obwohl es zu vielen Neubesetzungen kam, wurden zahlreiche Amtsinhaber aus genau diesen Gründen von ihren Gemeinden auch wiedergewählt. Der Protest der Bürgermeister in Eisenach dauerte nur eine knappe halbe Stunde, aber er machte deutlich, wie sehr die Durchführung der Wahlen von ihrer Mitarbeit abhing. Trotzdem fehlte es an Wahlhelfer*innen, da viele, die in der DDR Funktionen innehatten und zur Volkskammerwahl noch ausgeholfen hatten, infolge der Wahlergebnisse nicht mehr zur Mitarbeit bereit waren. Als der Wahltermin vom 6. Mai immer näher rückte, musste der Wahlleiter in Eisenach schnell handeln. Da sich ein Mitarbeiter aus dem Wahlorganisationsgremium bei der PDS, die aus der SED hervorgegangen war, engagierte, bat ihn der Wahlleiter um zehn Minuten Redezeit bei der nächsten öffentlichen Kundgebung.51 Zum ›Kampf- und Feiertag der Werktätigen‹ am E rsten Mai hielt die PDS eine Kundgebung auf dem Marktplatz in Eisenach ab. Der Wahlleiter, der sich sonst aus dem Wahlkampf herausgehalten hatte, stieg auf die alte Tribüne und forderte die Zuschauer*innen auf, bei den bevorstehenden Wahlen als Wahlhelfer*innen mitzumachen. Viele von ihnen waren SED-Mitglieder*innen gewesen oder geblieben, doch die direkte, respektvolle Ansprache reichte aus, um sie wieder zur Mitarbeit zu bewegen und genug Wahlhelfer*innen zu gewinnen. »Demokratie lebt vom Mitmachen und nicht vom Ausgrenzen oder Sich-Ausgrenzen«, sagte der ehemalige Wahlleiter im Zeitzeugengespräch.52 Durch mehrfache Protestaktionen hatten verschiedene ›alte‹ Akteur*innen die Vorbereitung der Wahlen ins Wanken gebracht, indem sie 1990 ihre finanzielle, materielle oder personelle Unterstützung entzogen. Dies kann als Versuch interpretiert werden, die neuen Wahlen zu verhindern und wieder in eine Machtposition zu gelangen. Allerdings weist es auch auf einen gesellschaftlichen Riss hin, der nur durch gegenseitigen Respekt überwunden werden konnte. Durch kleine, lautlose Aktionen brachten die Akteur*innen die empfundene Abwertung ihres gesellschaftlichen Beitrags zum Ausdruck und machten somit auf ihre Rolle aufmerksam. Denn ohne die Unterstützung der ›alten Köpfe‹ in der Verwaltung und in der PDS hätten die Wahlen 1990, zumindest in diesen Ortschaften, vermutlich nicht stattfinden können. 51 Zeitzeugengespräch mit Johannes Wallbrecht (wie Anm. 27). 52 Ebd.
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3. Die ›Ehemaligen‹ »Rote raus!«, tönte es aus der Menge auf den Marktplätzen.53 Die Wahlkampfkundgebungen, geschmückt mit hochrangigen Politiker*innen aus dem Westen, hatten ab Februar 1990 die Herbstdemonstrationen ersetzt. Trotz der Abhängigkeit der Wahlen von der Mitwirkung der alten Akteur*innen setzten die Parteien im Wahlkampf stark auf eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Herrschaftssystem der SED und seinen Funktionsträger*innen. Die CDU nutzte Werbematerialien, die die neu gegründete SDP – spätere SPD – mit der SED gleichsetzte,54 während diese wiederum die CDU als ›Blockflöte‹, die die SED unterstützt hatte, ablehnte.55 Auch die Frage nach einer Mitarbeit bei der Staatssicherheit wurde stark thematisiert, womit die Kommunalpolitiker*innen versuchten, der Wahl und ihren Kandidat*innen Legitimität zu verleihen. »Liebe Erfurter«, antwortete Helmut Kohl bei der Kundgebung der Allianz für Deutschland am 20. Februar 1990 auf dem Domplatz in Erfurt auf die Rufe. Die [Roten] sind doch schon gar nicht mehr da. Ihre Farben in den Fahnen wird das Entscheidende sein. Die Schwarz-Rot-Goldene Fahne wird unsere Fahne für ganz Deutschland sein.56
Begleitet wurde der westdeutsche Kanzler von Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch sowie Lothar de Maizière und Martin Kirchner von der ostdeutschen CDU, die später alle der Inoffiziellen Mitarbeit bei dem Ministerium für Staatssicherheit beschuldigt wurden.57 Im Herbst 1989 hatte man auf den Marktplätzen im Bezirk Erfurt noch Transparente mit den Sprüchen »Stasi in die Volkswirtschaft« oder »Stasi in die Müllabfuhr« getragen. Das Ministerium – nun Amt für Nationale Sicherheit – sollte aufgelöst werden und die ehemaligen Mitarbeiter*innen des MfS hatten nicht wieder Leitungspositionen zu übernehmen, sondern sollten in die u ntersten 53 Stadtarchiv Erfurt: 6 – 7 Tonbandaufnahmen. Die Wende in Erfurt 1989/90. Eine Tonbanddokumentation von Manfred Boettger. CD Reihe 1 – 22. 54 Stadtarchiv Erfurt: 5/5 Parteien. Mit dem Teufel marschiert. In: Der Spiegel, 5. März 1990. 55 Stadtarchiv Eisenach: 40.7/110 Sammlung Wende. SPD – Wir informieren: Die neuen Lügen einer alten Blockpartei. 56 Stadtarchiv Erfurt: 6 – 7 Tonbandaufnahmen (wie Anm. 50). 57 Wie einige andere Politiker in der DDR wurden Wolfgang Schnur und Martin Kirchner nur wenige Tage vor der Volkskammerwahl und Lothar de Maizière im Nachhinein der IM -Tätigkeit beschuldigt. Laut Aktenlage wurden sie alle mit Decknamen von der Staatssicherheit als Inoffizielle Mitarbeiter geführt, wobei der Fall von Lothar de Maizière nicht restlos geklärt ist.
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Ränge der ›Arbeiterschichten‹ versetzt werden. In den Betrieben wurden Informant*innen des MfS von der Belegschaft in der Kantine verhört und ein Handzeichen genügte, um zu entscheiden, inwieweit sie im Betrieb weiterarbeiten durften. Ohne legitimierte Regierung wurde es den Bürger*innen selbst überlassen, Strafen zu verhängen, obschon es weitgehend noch an Beweisen fehlte. »Eine gewisse Sünde ist begangen worden, von beiden Herren, wo wir im Einzelnen nicht wissen, was das war«, hieß es zum Beispiel bei einem Betriebsverhör in der Ziegelei in Eisenach.58 Es galt auf einmal die Schuld, bis die Unschuld bewiesen werden konnte. Im Nachhinein berichteten Zuschauer*innen einem Fernsehteam aus der Bundesrepublik von ihren Erfahrungen bei dem Verhör in Eisenach. »Und da darf es auch jetzt nicht wieder sein, wie ich das auch in der Versammlung erlebt habe, dass es eine neue Angst gibt. Eine neue Angst der Jetzt-Andersdenkenden«, erklärte ein selbsternannter Sozialist, der wegen Staatshetze im Gefängnis in der DDR gesessen hatte.59 Wenige Sätze s päter gab er zu, seit kurzem wieder Angst zu haben. »Wenn jetzt jeder meint, hier, weil der nur bei der Staatssicherheit oder wo gearbeitet hat, deswegen müsste man ihn am Baum aufhängen, also das ist mit Sicherheit nicht der richtige Weg«, ergänzte seine Freundin. »Ich meine, wir haben das ja alle mitgemacht in der Vergangenheit und haben dieses System alle mitgeschaffen.«60 Dennoch unterstützten die Massen auf den Straßen und Plätzen lautstark die öffentliche Enttarnung und Bestrafung ehemaliger Informant*innen der Staatssicherheit. Ende Januar 1990 hatte Wolf Biermann auf dem Podium in Erfurt seine Meinung dazu verkündet. »Natürlich war ich dreizehn Jahre weg, und ich bin nicht in der Lage, euch hier irgendwelche onkelhaften Ratschläge zu geben, wie es hier in der DDR weitergehen soll«, scherzte er zu Beginn. Das weiß ich noch weniger als ihr, denn ihr lebt ja hier. Aber wenn ich hier eben höre das jemand dafür wirbt, dass die Stasi wieder eingebaut wird in das normale Menschenleben, dann will ich euch ganz offen sagen: ich bin kein Herzjesulein! Ich bin kein Pastor! Ich liebe auch die Menschen! Aber ich hasse diese Leute! Sie haben uns viel zu viel Leid angetan. Sie haben uns gedemütigt!
Seine Rede wurde von lautem Geschrei unterbrochen. »Nein«, antwortete er, 58 Stadtarchiv Eisenach: 41.9/315 Filmaufnahmen. Das Ende der Geschichte. Fünf Tage in Eisenach – ein deutsches Tagebuch. Hessischer Rundfunk, 18. März 1990. 59 Ebd. 60 Ebd.
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das gibt kein Pogrom. Man muss aber die Wahrheit sagen. Und ich würde mir jedenfalls nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie man sie möglichst elegant wieder jetzt in das normale Menschenleben einfädelt. Ich denke, diese Leute sind jetzt in Schwierigkeiten. Ich gönne ihnen diese Schwierigkeiten. Die haben sie sich verdient. Ehrlich verdient, in langen Jahren.
Die Antwort auf Wolf Biermanns Aussagen zum Umgang mit ehemaligen MfSMitarbeiter*innen deutet auf die Schwierigkeit einiger Bürger*innen hin, in einer sich wandelnden Öffentlichkeit gesellschaftliche Kritik von Hetze und Gewalt zu unterscheiden. Mit dem Umbruch und dem Vertrauensverlust in die Regierung waren sämtliche rechtliche Strukturen – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – weggebrochen und das Sagbare nahm unbegrenzte Dimensionen an. Rechtsextreme Äußerungen hatten sich allerdings schon in der DDR besonders unter Jugendlichen als Widerstand gegen den ›antifaschistischen‹ SED-Staat herausgebildet.61 Noch vor der Grenzöffnung hatte Hetze in der Öffentlichkeit zugenommen und nationalistische Losungen wurden mit steigender Anzahl bei den Massendemonstrationen im Winter 1989 genutzt.62 Die Feindseligkeiten richteten sich folglich nicht ausschließlich gegen ehemalige Staatsicherheitsmitarbeiter*innen, sondern wiesen auf einen allgemeinen Anstieg von Exklusionspraktiken in der Gesellschaft hin. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit unterschied sich in Ausmaß und Form zwar deutlich von Praktiken der rassistischen Gewalt, die Minderheiten in der Umbruchszeit in hohen Maßen erleben mussten,63 dennoch deutet die sprachliche Überschneidung von Kritik und Hetze in d iesem Beispiel auf eine diskursive Verbindung z wischen politischer und gesellschaftlicher Umstrukturierung, Ausgrenzung und rassistischen Angriffen hin. Zwei Tage vor der Volkskammerwahl erklärte das Bürgerkomitee in Erfurt, dass einige der lokalen Kandidat*innen laut ihren Recherchen für die Staatssicherheit gearbeitet hätten. Da aufgrund der »Schweigepflicht« keine Namen genannt werden konnten, gerieten somit gleich alle Kandidat*innen unter Verdacht.64 Das Komitee, das sich aus Aktiven der Bürgerbewegungen, neuen Parteien und 61 Steffi Lehmann: Rechtsextremismus in der DDR. In: Sebastian Liebold u. a.: Demokratie in unruhigen Zeiten. Festschrift für Eckhard Jesse. Baden-Baden 2018, S. 99. 62 Ebd., S. 104 f. 63 Siehe Heike Kleffner: Hoyerswerda, Rostock, Cottbus. Rassistische Mobilisierung und Gewalt seit 1989/90. In: Christoph Kopke (Hrsg.): Angriffe auf die Erinnerung. Rechtsextremismus in Brandenburg und die Gedenkstätte Sachsenhausen. Berlin 2014, S. 79 – 96. 64 Stadtarchiv Erfurt: 5/783/G-7 Bürgerbewegung Sammlung. Schreiben in Zusammenhang mit den Wahlen, 17. März 1990.
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Gruppierungen zusammensetzte, hatte seit der Besetzung des MfS-Gebäudes im Dezember 1989 versucht, das Wirken der Staatssicherheit in ihrer Stadt anhand von MfS-Akten und Berichten der Bürger*innen aufzuarbeiten.65 Täglich gingen anonyme Anrufe und Post ein, Hinweise auf vorherige konspirative Wohnungen und auf verdächtige Nachbar*innen und Mitarbeiter*innen, die gesammelt und geprüft wurden.66 In manchen Fällen hatten Bürger*innen selbst ihre Nachbar*innen zur Rede gestellt. Andere Bürger*innen baten dringend um Hilfe dabei, ihre Unschuld zu beweisen.67 Für die Kommunalwahl im Mai sollten alle Kandidat*innen nun einer Überprüfung ihrer Akten von dem Komitee schriftlich zustimmen, um so aus dem Verdacht einer Inoffiziellen Mitarbeit zu geraten.68 Doch die Auseinandersetzungen mit ehemaligen Stasimitarbeiter*innen weiteten sich schnell auf alle »Ehemaligen«, »Privilegierten« oder staatsnahen Personen aus.69 Vor allem im Bildungsbereich wurde Wert darauf gelegt, dass unter den Lehrer*innen und Direktor*innen keine »Ehemaligen« saßen. Um dies sicherzustellen, sollten auch hier Bereitschaftserklärungen eingeholt und Überprüfungsmaßnahmen durchgeführt werden. Diese Kontrollvorgänge, die sich aufgrund des unvollständigen Aktenbestands als äußerst problematisch erwiesen, schienen allerdings mehr Ängste zu schüren, als dass sie tatsächlich Vertrauen wiederherstellen konnten. Einen Monat nach der Kommunalwahl versammelte sich in Eisenach der neu gewählte Stadtrat, der nun mit neuen Strukturen und Diskussionsregeln fungierte. Die SPD-Fraktion begründete mündlich ihren Antrag, den Stadtchronisten umgehend aus seiner Position zu entfernen, da sein »Anteil an einer Verfälschung der Geschichte der Stadt Eisenach […] nicht mehr tragbar« sei.70 Der Chronist, der vorher als Staatsbürgerkundelehrer gearbeitet hatte, habe christliche Schüler in seinen Beurteilungen benachteiligt, wie anhand eines Zeugnisses des Kindes einer Politikerin eindeutig zu belegen sei. Noch am gleichen Tag wurde der Beschluss gefasst, die Stelle des Stadtchronisten neu auszuschreiben.71 65 Stadtarchiv Erfurt: 5/783/G-3 Bürgerbewegung Sammlung. Informationen zu MfS-Objekten und konspirativen Wohnungen 1990. 66 Ebd. 67 Stadtarchiv Erfurt: 5/783/G-5 Bürgerbewegung Sammlung. Rehabilitierungsgesuche von Bürgern, März 1990. 68 Stadtarchiv Erfurt: 1 – 5 Stadtverordnetenversammlung und Rat der Stadt 1945 – 1990. Information zum Stand der Vorbereitung der Kommunalwahlen am 6. Mai 1990. Erfurt, 4. April 1990. 69 Stadtarchiv Erfurt: 5/783/G-3 Bürgerbewegung Sammlung (wie Anm. 62). 70 Stadtarchiv Eisenach: 21.2 – 247 Protokollbücher; Stadtverordnetenversammlung 1989 – 1990. Niederschrift über die 2. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 28. 06. 1990. Büro des Stadtverordnetenvorstehers. Eisenach 3. Juli 1990. 71 Ebd.
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Der Stadtchronist, der bis zur Pause in der Sitzung präsent gewesen war, erfuhr von seiner Abberufung drei Tage später aus der Zeitung.72 In einer öffentlichen Erklärung hinterfragte er die Anschuldigungen gegen ihn und den Zusammenhang seiner ehemaligen Funktion als Staatsbürgerkundelehrer mit seiner späteren Tätigkeit als Stadtchronist, obwohl er längst aus der SED ausgetreten war. Er führte aus, wie es zu seiner Entlassung gekommen sei. Die Stadtverordnetenversammlung habe die Entscheidung gefasst, ihn von seiner Position abzuberufen, obwohl seine Stelle nicht bei der Stadt, sondern beim Rat des Kreises angesiedelt gewesen sei. Die Publikation zur Arbeiterbewegung, die als zusätzliche Begründung genannt wurde, sei nicht von ihm herausgebracht worden.73 Sein »Lebenswerk« sei es lediglich gewesen, eine Chronik der Stadtgeschichte zu erstellen und diese zukünftigen Historiker*innen zugänglich zu machen.74 Immerhin handele es sich dabei um die größte Sammlung in der DDR.75 Während der Diskussion im Rahmen der Stadtverordnetenversammlung hatte nur eine Person vorgeschlagen, erst ein Gespräch mit dem Chronisten zu suchen, ehe die Entscheidung gefällt werden sollte, ihn seines Amtes zu entheben. Doch dies wurde von der Versammlung, die der Abberufung dann mehrheitlich zustimmte, abgelehnt. Eine emotionale Argumentation ohne Beweismaterial oder Zeug*innenaussagen war ausreichend, um ein neu gewähltes Gremium mit 59 Abgeordneten, von denen 55 an dem Tag anwesend waren, und die Zuhörer*innen im Saal zu überzeugen.76 Wie kam es, dass sich aus der noch größeren Versammlung der Zuschauer*innen nur eine Person für ein demokratisches Verfahren aussprach? In seiner Erklärung, die mit der Überschrift SED-Vergangenheit kostet Stadtchronisten den Job verkürzt in der Zeitung gedruckt wurde, schrieb der ehemalige Stadtchronist, es gehe ihm um Wahrheit, menschlichen Umgang mit betroffenen Bürgern, Achtung vor der Würde des Menschen, sein Recht auf Anhörung und Verteidigung, um Anerkennung der fachlichen Kompetenz ohne politische Verunglimpfung und nicht zuletzt um echte parlamentarische Demokratie mit ihrer Rechtsstaatlichkeit, alles versprochene Menschenrechte unserer neuen Ordnung, die in Zusammenhang mit meiner Abberufung mißachtet wurden.77 72 Stadtarchiv Eisenach: 40.7/97 Sammlung Wende. Öffentliche Erklärung zu Form und Inhalt meiner Abberufung als Stadtchronist. Stadtchronist s. D. Eisenach, 11. Juli 1990. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Stadtarchiv Eisenach: 21.2 – 247 Protokollbücher; Stadtverordnetenversammlung 1989 – 1990. Niederschrift über die 2. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 28. 06. 1990. Büro des Stadtverordnetenvorstehers, Eisenach 3. Juli 1990. 77 Stadtarchiv Eisenach: 40.7/97 Sammlung Wende (wie Anm. 69).
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Die Entscheidung, wer in der neuen Gesellschaft in welcher Position zu bleiben hatte, wurde von den neuen Vertreter*innen in diesen Fällen anhand emotionaler Begründungen getroffen und ohne Vorschriften zu folgen. Ein stellvertretender Bürgermeister erklärte, dass die Entscheidungen, wer in seiner Verwaltung weiterzuarbeiten hatte, oft »völlig aus dem Bauch raus« gemacht worden seien, wobei es natürlich zu einigen »Fehlentscheidungen« gekommen sei.78 Die öffentlichen Anschuldigungen führten bei vielen ›Ehemaligen‹ zur sozialen Ausgrenzung und zu einem Rückzug aus der Gesellschaft. Dennoch ging es für viele auch beruflich weiter, wenngleich in anderen Bereichen. Im Herbst 1989 wurde für die hauptamtlichen Mitarbeiter*innen der Stadtbezirksleitung und der Stadtleitung in Erfurt eine Kommission gebildet, die dafür sorgte, dass sie nach ihrer Entlassung eine neue Arbeitsstelle fanden.79 Bis Ende des Jahres hatte der ehemalige Sekretär für Agitation und Propaganda, der die Kommission leitete, seine Mitarbeiter*innen in der Industrie oder bei anderen Institutionen und Einrichtungen untergebracht.80 Nur er war zum Jahresanfang 1990 arbeitslos, fand aber bald über Beziehungen eine Tätigkeit an der neu gegründeten Berufsschule.81 Ähnlich lief es im Amt für Nationale Sicherheit, dem Nachfolger des Ministeriums für Staatssicherheit. Dort fing man frühzeitig an, nach neuen Stellen für jüngere Mitarbeiter*innen zu suchen sowie Übergangsunterstützung und Dienstbeschädigungsvollrente anzubieten.82 In einem Schreiben des Kollegiums des MfS an alle Angehörigen des Ministeriums versprach das Amt schon im November 1989 »die größtmöglichste Unterstützung bei der Lösung solcher Probleme wie Arbeitsplatzbeschaffung, notwendige fachliche Weiterbildung und Umschulung, Studienplatzvermittlung bzw. -umlenkung sowie anderer Qualifizierungsmöglichkeiten«.83 Diese Optionen würden »mit den entsprechenden Diensteinheiten, mit den Kollektiven und unter Einbeziehung der Angehörigen beraten« werden. Das Kollegium versicherte zusätzlich »allen betreffenden Genossinnen und Genossen […], daß sie in Ehren ausscheiden und wir ihre bisherige Tätigkeit und Einsatzbereitschaft immer zu würdigen wissen«.84 78 Zeitzeugengespräch mit Matthias Doht. Eisenach, 18. Dezember 2017. 79 Zeitzeugengespräch mit Wolfgang Mühle. Erfurt, 13. August 2018. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 BStU: KD EIS 622, Schreiben zu Maßnahmen der sozialen Sicherstellung vom 15. 11. 1989. Siehe auch Jens Gieseke: Die Stasi, 1945 – 1990. München 2011. 83 BStU: KD EIS 622 (wie Anm. 79). 84 Ebd.
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Solche Unterstützung erfuhren nicht alle im gleichen Maße, auch wenn die Arbeitslosigkeit bald breite Gesellschaftsgruppen erreichte. Doch die Beispiele zeigen, wie unterschiedlich mit der Situation umgegangen wurde und wie brenzlig das Thema der bisherigen Tätigkeit und der sozialen Ausgrenzung war. Innerhalb weniger Wochen hatte sich das, was man in der Öffentlichkeit sagen konnte, stark geändert. Nun scheuten sowohl die einstigen Systemträger*innen wie auch einige ehemals Verfolgte, ihre Ansichten über Gegenwart und Vergangenheit öffentlich kundzutun.85
4. Die ›Arbeitslosen‹ Zwei Wochen vor der Währungsunion im Juli 1990 herrschte in Eisenach Chaos. Die Läden waren »wie leergefegt«,86 Fleisch und Käse waren kaum noch zu bekommen, während andere Waren um 90 Prozent reduziert worden waren. Inzwischen konnte man aber schon westdeutsche Produkte wie haltbare Milch im Tetrapack kaufen. In der Zeitung berichtete man von der »dramatischen Versorgungslage« und von wachsender »Unruhe unter den Bürgern«.87 Zeitgenössische Fotografien zeigen leere Kaufhallen, in denen nur noch Schilder an die Waren erinnerten, die es längst nicht mehr gab.88 Die Lage hatte sich seit Anfang des Jahres zunehmend verschlechtert. Im Januar 1990 bat der Bürgermeister Eisenachs die DDR-Regierung um Unterstützung, da es in der grenznahen Stadt, in die täglich rund 8.000 westdeutsche Tourist*innen reisten, immer schwieriger wurde, die lokale Bevölkerung zu versorgen.89 Um die Versorgungslage in den letzten Wochen vor der Währungsunion zu sichern und die Bürger*innen davon abzuhalten, in den Westen zu ziehen, wurde den örtlichen Bürgermeister*innen zusätzliche Entscheidungsmacht übertragen.90 Sie fingen somit an, ein reiches Sortiment an Westprodukten 85 Vgl. Ilona Wuschig: Anspruch ohne Wirklichkeit. 15 Jahre Medien in Ostdeutschland. Münster 2005, S. 172. 86 Zeitzeugengespräch mit Carola Herbst/Christian Herbst. Eisenach, 4. Juli 2018. 87 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Dramatische Versorgungslage im Kreis Eisenach. In: Eisenacher Presse, 22. Juli 1990. 88 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Gähnende Leere in der Kaufhalle an der Stedtfelder Straße. In: Eisenacher Presse, 22. Juli 1990. 89 Stadtarchiv Eisenach: 12 – 2203 Städtische Akten bis 1990; Allgemeiner Schriftverkehr des Bürgermeister 1989 – 1990. Brief vom Bürgermeister an den Ministerpräsidenten, Eisenach, 11. Januar 1990. 90 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Landrat greift hart durch. Chaos vor 1. Juli verhindern. In: Eisenacher Presse, 22. Juli 1990.
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in den Läden zu verkaufen. Nach den Erfahrungen der Versorgungskrise im Juni und der finanziellen U nsicherheit wählten die DDR-Bürger*innen immer häufiger die neuen, haltbaren und günstigeren Produkte und Verpackungen aus dem Westen. Kurz nach dem 1. Juli wurde ein Journalist in Eisenach zur Molkerei im Ostteil der Stadt gerufen. »Die schlagen hier alles kaputt«, erklärte man ihm am Telefon.91 Als er dort ankam, stand ein Lastwagen mit einem riesigen Container vor dem Betrieb. Die Beschäftigten waren dabei, ihre Milchflaschen massenweise in den Container zu schmeißen und mit Metallstangen kaputtzuschlagen. »Kein Mensch kauft mehr unsere Milch«, habe ihm der Chef der Molkerei erklärt. Das ist unhygienisch, gilt als unhygienisch, diese Aludeckel. Die Leute kaufen das nicht mehr. Wir werden vielleicht, wenn wir Glück haben, hier umstellen. Aber wir müssen die ganzen Maschinen, die müssen alle raus. Wir brauchen völlig neue Maschinen. Und ob das funktioniert, das wissen wir nicht. Aber wir müssen d ieses Glas wegschaffen, denn wir brauchen es nicht mehr.92
In den Brauereien stapelten sich die unbenutzbaren braunen Bierflaschen aus dem Westen, die schlecht gereinigt werden konnten, sowie die alten grünen Bierflaschen aus der DDR, die nicht mehr gewollt waren, auf einem »Flaschenfriedhof«.93 Auf den Plätzen der Stadt häuften sich alte Wartburgs und Trabis, die keiner mehr wollte. Da die lokalen Betriebe mit den Preisangeboten der westdeutschen Firmen nicht mithalten konnten, wurden die Beschäftigten dazu gezwungen, ihre frischen Produkte im Hochsommer auf den Straßen und Marktplätzen selbst zu verkaufen. Arbeiter*innen versuchten mit selbstgemachten Schildern auf ihre Situation aufmerksam zu machen: wir kämpfen um unsere arbeitsplätze. DESHALB! VERKAUFEN WIR UNSERE PRODUKTE S E L B S T 94
Die Stadt Eisenach führte besondere Genehmigungen ein, die den Direktverkauf ermöglichen und regeln sollten, waren aber nicht in der Lage, gegen den 91 Zeitzeugengespräch mit Klaus Wuggazer. Eisenach, 10. Februar 2018. 92 Ebd. 93 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Dank neuer Hefe sind Hopf und Malz noch nicht verloren. In: Eisenacher Stadtanzeiger, 27. Juli 1990. 94 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Recht zufrieden sind die Brauereimitarbeiter mit den Ergebnissen ihrer Selbsthilfeaktion. Der Verkauf eigener Produkte geht weiter. In: Thüringer Landeszeitung, 25. Juli 1990.
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Wettbewerb in den Supermärkten anzugehen.95 In Südthüringen versuchten Bäuerinnen und Bauern mit Protestaktionen, bei denen sie ihre Milch vor den neuen Supermärkten in den Gully kippten, auf die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Kaufentscheidungen ihrer Mitbürger*innen aufmerksam zu machen.96 In der Presse wurde den Kund*innen die Verantwortung für den Stillstand der ostdeutschen Produktion gegeben, obwohl die Lokalpresse wochenlang von »unsauberen Flaschen, schiefen oder gar keinen Etiketten sowie der geringen Haltbarkeitsdauer« berichtet und somit die ostdeutschen Waren als minderwertig stilisiert hatte.97 Auch die für den Einzelhandel zuständige Handelsorganisation versteckte sich hinter solchen Aussagen wie: »Fortan wird nicht die Plankommission, sondern der Kunde entscheiden, welches Erzeugnis sich durchsetzt«98 oder »Wir suchen uns Partner von drüben, um unsere Kunden zufrieden zu stellen«99. Der Kunde sei der neue König und habe Vorrang über die Industrie, »auch wenn das zum Teil die Arbeitsplätze gefährde«.100 Doch die ostdeutschen Kund*innen waren nicht von der volkseigenen Industrie zu trennen. Bald würde der Wettbewerb auch weitere Teile des ›Arbeiter- und Bauernstaates‹ auf die Straße zwingen. Auch in Erfurt wurde nur eine Woche nach der Währungsunion eine außerordentliche Sitzung mit Landwirtschaftsbetrieben, Handelsunternehmen und Großhändlern abgehalten, um nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.101 Es wurden Discounter-Läden eingeführt, um den ostdeutschen Bürger*innen preiswertere Produkte anbieten zu können, obwohl der Bürgermeister zugab, dass diese Firmen ihre Waren von »Billiganbietern« bestellten.102 DDR-Betriebe waren gezwungen, ihre Preise noch weiter zu senken. Bei einer Krisensitzung im Landratsamt Ende Juli willigten die Großhändler ein, ostdeutsche Waren zu verkaufen, solange diese ihren Preis- und Qualitäts95 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Bauern und Bäcker können jetzt auf den Straßen verkaufen. In: Eisenacher Bürgerblatt, 2. August 1990. 96 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Vernichtung von DDR-Landwirtschaftsprodukten ist keine Lösung. Thüringer Milch ohne Chance? In: Thüringer Landeszeitung, 21. Juli 1990. 97 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. HO Pläne/Schwierigkeiten bei Start in die Marktwirtschaft. In: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 5. Juli 1990. 98 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Harte Konkurrenz im Kaufhallenregal. HO aufgelöst – Thüringer Handelsgesellschaft mbH Eisenach. In: Eisenacher Stadtanzeiger, 7./8. Juli 1990. 99 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen, HO Pläne/Schwierigkeiten bei Start in die Marktwirtschaft (wie Anm. 94). 100 Ebd. 101 Stadtarchiv Erfurt: 1 – 7 Stadtverwaltung Erfurt ab 1990. Protokoll der 4. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 18. 07. 1990. 102 Ebd.
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erwartungen entsprachen.103 Lokale Betriebe bemühten sich um Übergangsfinanzierung, um ihre Produktionstechnik zu erneuern, wobei ihre einzige »Chance zu überleben«, oft darin bestand, Vereinbarungen mit Firmen aus dem Westen einzugehen.104 Im Laufe des Jahres 1990 mussten sich dann auch andere Produktionszweige inmitten des Wettbewerbs den neuen marktwirtschaftlichen Strukturen anpassen. Es wurde schnell deutlich, dass dies zu Kürzungen und zur Reduzierung des Personals führen musste. Als Erstes wurde den Vertragsarbeiter*innen gekündigt, die somit, da sie meist über den Arbeitsvertrag einen Platz im Wohnheim bekommen hatten, gleichzeitig obdachlos wurden. Als Nächstes wurden ältere Mitarbeiter*innen in den Vorruhestand geschickt und Frauen gekündigt. Schon im Mai 1990 hatten Arbeiter*innen vom Automobilwerk in Eisenach (AWE) an den Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, geschrieben. »Die Situa tion im Betrieb ist deprimierend«, erklärten sie. Den älteren Kolleginnen und Kollegen bricht eine Welt zusammen, wenn das Automobilwerk stirbt. Mütter und Väter läßt die Existenzangst nicht mehr zur Ruhe kommen. Die Studenten und Lehrlinge, die nicht übernommen werden, fangen an zu resignieren. Ausländische Arbeitskräfte werden als Konkurrenten um Arbeitsplätze gesehen, dies heizt die Stimmung im Betrieb noch mehr an.
Arbeiter*innen aus dem Automobilwerk Eisenach setzten alle Hoffnungen auf eine Investition durch einen westdeutschen Großbetrieb. Doch vier Wochen nach der Währungsunion wurde schon für 2.500 Mitarbeiter Kurzarbeit eingeführt.105 Dies war zwar Teil des ausgearbeiteten Sozialplans im AWE, bedurfte allerdings eine Übergangsfinanzierung von der Treuhandanstalt, die noch ausstand.106
103 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Lebensmittelbranche: Lage dramatisch. Stadt fördert Direktverkauf. In: Oberhessische Presse, 27. Juli 1990. 104 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Betrieb, Stadt und Kreis sind sich einig: Brauerei Eisenach wird aufgeteilt. In: Oberhessische Presse, 27./28. Juli 1990. 105 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Ab August müssen 2500 bei AWE kurzarbeiten. Eisenach: Warten auf Millionen-Hilfe. In: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 25. Juli 1990. 106 Ebd. – Für mehr zur Arbeit der Treuhand und den Entlassungen am Automobilwerk Eisenach siehe Jessica Elsner: Enttäuschte Hoffnung? Soziale Ungleichheit im Automobilwerk Eisenach in der Transformationszeit (1989 – 91). In: Dierk Hoffmann (Hrsg.): Transformation einer Volkswirtschaft. Neue Forschungen zur Geschichte der Treuhandanstalt (Zeitgeschichte im Gespräch, 31). Berlin 2020.
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Am 23. Juli 1990 erhielt das Automobilwerk einen Besuch des Bundeswirtschaftsministers Helmut Hausmann. »Von einem Bundeswirtschaftsminister kann niemand hier erwarten, daß er der Weihnachtsmann mit den Milliarden im Sacke ist, der über Nacht aus der lahmen Planwirtschaft eine dynamische Marktwirtschaft macht«, erklärte er den Eisenacher*innen.107 »Wer gutes Geld will, muß gut dafür arbeiten«, fügte er hinzu. Die erniedrigenden Worte des westdeutschen Politikers, die das Klischee vom faulen und gierigen Ostdeutschen aufgriffen, führten nur zu weiterer Verzweiflung in der AWE-Belegschaft. »Arbeiten möchten alle hier«, antwortete man ihm aus der Menge.108 Die prekäre Situation in den Betrieben führte zu weiteren Rissen in der Gesellschaft und schürte Ängste. Von der Protestbereitschaft des Herbstes 1989 war nicht mehr viel übriggeblieben. Die Gewerkschaften riefen immer weiter zu Demonstrationen auf, aber immer weniger Arbeiter*innen folgten den Aufrufen aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Mit stillen Protestaktionen hatten sie stattdessen die Entwertung ihrer Produktion und somit auch ihres eigenen Wertes als Arbeiter*in ausgedrückt.
5. Die ›Öffentlichkeit‹ Kurz vor der Wiedervereinigung, am 14. September 1990, fand in Erfurt eine »Informationsveranstaltung des Rates der Stadt Erfurt zur Kommunalverfassung« statt.109 Das Treffen war aus Anlass der Gründung der Landesregierungen und der damit einhergehenden Angst, dass diese neuen Strukturen die Entscheidungsmächte der Stadträt*innen beeinträchtigen würden, organisiert worden. Eingeladen worden waren alle Stadtverordnetenvorsteher*innen in der DDR, mit Zusagen aus Suhl, Gera, Magdeburg, Rostock, Frankfurt an der Oder, Cottbus, Potsdam, Chemnitz, Leipzig und Dresden. Am zweiten Tag des Treffens wandte sich die Versammlung eines der Haupttagesordnungspunkten zu: »Wie kommt die Ratsversammlung an die Öffentlichkeit, in den einzelnen Städten?«, fragte der Vertreter aus Erfurt. »Wir in Erfurt haben Folgendes gemacht. Ab Ende August veröffentlichen wir 14-tägig ein 107 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. Spruch des Tages. In: Thüringer Allgemeine, 24. Juli 1990. 108 Stadtarchiv Eisenach: 50.3 Zeitungen. TLZ-Kommentar zum Haussmann-Besuch im Gries. »Arbeiten möchten alle hier«. In: Thüringer Landeszeitung, 26. Juli 1990. 109 Stadtarchiv Erfurt: 6 – 7/A11. Versammlung des Rates der Stadt am 14./15. September 1990 – Tagung bzw. Informationsveranstaltung des Rates der Stadt Erfurt zur Kommunalverfassung. 14. – 15. September 1990. Die folgenden Zitate stammen alle aus d iesem Dokument.
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Amtsblatt, und in diesem Amtsblatt veröffentlicht der Präsident alle im Parlament befassten Beschlüsse.« Dieses Amtsblatt sollte kostenlos an alle Bürger*innen der Stadt versandt werden. Ein großes Staunen verbreitete sich im Saal, während die anderen Delegationen nach der Finanzierung fragten. Der Präsident des Stadtrates in Magdeburg erklärte, dass er auch gern solch ein Amtsblatt herausbringen würde, aber »es ist einfach kein Geld da«. Aus Rostock kamen Zweifel, ob sich ein auflagenstarkes Amtsblatt überhaupt lohne. »Mir gefällt die Idee, wenn Leute Informationen haben wollen, dass sie selber einen Schritt machen dabei. Dass sie sich das holen dann.« »Wir sind der Meinung«, sagten die Erfurter, »das muss es uns wert sein. Wir wollen hier unbedingt unsere Arbeit transparent machen.« Der eigentliche Grund war aber, dass die Kommunikation mit der lokalen Presse nicht funktionierte. Leider, und das muss ich ehrlich sagen, klappt es mit der Allgemeinpresse in Erfurt nicht besonders gut. Es wird sehr wenig über das Parlament berichtet und dann meistens auch ein bisschen sehr tendenziös und in eine Gegenrichtung, die uns gar nicht gefällt. Und aus diesem Grunde heraus haben wir eben dann gesagt, also wenn die Presse nicht will, dann machen wir das selber, und so ist letzten Endes dieses Amtsblatt erschienen, oder erscheint. 14-tägig.110
Zur Umbenennung der Stadtverordnetenversammlung in Stadtrat habe die Zeitung nämlich »überhaupt keinen Text verfasst. Gar nichts.« Andere stimmten zu, »dass jetzt nicht unbedingt Stadtverordnetenfreundlich berichtet wird«, aber »man kann’s ja jetzt nicht in der Hand haben, es ist ja diese Pressefreiheit gegeben«. Probleme und Lösungsvorschläge wurden ausgetauscht. Vorgebrachte Konfliktpunkte waren Falschaussagen in der Presse, weil Journalist*innen vor Ende der Veranstaltung schon gegangen waren oder einfach angenommen hatten, die Beschlussvorlagen würden bestätigt werden. »Ich muss ihnen dauernd sagen«, berichtet einer, »das, was wir Ihnen nun vorlegen, das war der Vorschlag. Das war früher so, dass das auch so durchging. Bei uns geht das nicht mehr durch, ne«. Die meisten Stadträt*innen versuchten durch regelmäßige Pressegespräche Falschmeldungen zu verhindern, andere sammelten täglich Artikel und reagierten so schnell wie möglich darauf. Nun verlangten Journalist*innen, dass die Stadt ihnen Vorlagen bereitstellte, um so Fehler zu vermeiden. Manche taten es auch – »da können sie sie nicht entstellen«. Andere weigerten sich: »Ist ja auch eine Marktwirtschaft«, sagte die Vertreterin aus Chemnitz. »Also wenn jemand was veröf110 Stadtarchiv Erfurt: 6 – 7/A11. Versammlung des Rates der Stadt am 14./15. September 1990 – Tagung bzw. Informationsveranstaltung des Rates der Stadt Erfurt zur Kommunalverfassung. 14. – 15. September 1990. Die folgenden Zitate stammen alle aus d iesem Dokument.
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fentlichen will und eben seinen Umsatz seines Blatts steigern will, dann muss er auch kommen und muss sich selber um Information kümmern.« Auch in Magde burg wurden die Vorlagen verweigert: »Das hat ein bisschen Streit gegeben, sie sind da nicht in der Lage nachzukommen, ich habe dann gesagt, wer nicht in der Lage ist nachzukommen in der Sitzung selber, der ist für mich nicht Journalist.«111 Die Tonbandaufnahme der Tagung in Erfurt und die lebhafte Diskussion zum Thema Öffentlichkeit zeigen auf, wie die Mitarbeiter*innen der Stadt auf die freie Presse reagierten. Konflikte führten dazu, dass die Stadträte eigene Zeitungen druckten, zusätzliche Gespräche einführten, Pressereferent*innen einstellten und die Zeiten der Versammlungen den Redaktionszeiten anpassten. Aber auch die Presse musste sich an die Einstellungen der einzelnen Stadträt*innen und die neuen Vorgehensweisen anpassen. Dies bewirkte eine Veränderung der Arbeitsweise, da sich Journalist*innen nicht mehr darauf verlassen konnten, dass alle Vorlagen gleich auch beschlossen wurden, und auch selbst Informationen aufsuchen mussten. Bei den Stadträt*innen wirkten sich die Erfahrungen mit der freien Presse direkt auf die eigene Arbeitsweise aus, auch wenn nicht alle gleichgestimmt waren. Manche konnten sich mit der kritischen Berichterstattung der freien Presse abfinden, andere ärgerten sich über die falsche oder fehlende Berichterstattung und erwarteten weiterhin, dass die Presse die Arbeit des Stadtrates unterstütze. Wie schon bei dem Angestellten der Stadt Eisenach, der Anfang des Jahres 1990 aufgrund der schlechten Presse zurückgetreten war, war die Konflikt- und Diskussionsbereitschaft der Stadträte begrenzt. Letztendlich entwickelten die städtischen Einrichtungen als Reaktion auf Missverständnisse in der Presse eigene Plattformen, über die sie ihre Arbeit der Öffentlichkeit präsentierten. Über die Monate wurden die Stadtverordneten- und Stadtratsversammlungen immer reglementierter. Sie dienten nur noch dazu, Beschlüssen zuzustimmen. Nicht einmal die Stimmen wurden laut ausgezählt, in den Protokollen ist lediglich ›abgelehnt‹ oder ›angenommen‹ nachzulesen. Redezeiten wurden stark begrenzt, und Sachdiskussionen wurden in die Ausschüsse verlagert, die nicht öffentlich waren.
6. Fazit Als der Bürgermeister von Erfurt im Mai 1990 von ›Köpfen von gestern‹ sprach, meinte er wohl die veralteten Denk- und Handlungsmuster, die in der DDR zu Diskriminierung und Ausgrenzung geführt hatten. Jedoch richteten sich die 111 Ebd.
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aßnahmen ab 1989/1990 hauptsächlich gegen Personen, die aufgrund ihrer M bisherigen Tätigkeit aus ihrem Amt schnellstens entlassen werden sollten. Statt gemeinsam neue Praktiken einzuüben, sprachen die Verantwortlichen unter anderem von den ›Alten‹, den ›Ehemaligen‹, den ›Roten‹, und den ›Privilegierten‹, die ›entfernt‹ werden sollten. Bürger*innen, die jahrelang von der Staatssicherheit überwacht worden waren, schrieben nun selbst Berichte über die Handlungen ihrer Nachbar*innen, die sie der Inoffiziellen Mitarbeit verdächtigten. Mit der Wahlkampagne und der Einführung von Überprüfungsmaßnahmen verschärften sich die Anschuldigungen, die inzwischen auch an SED-Mitglieder*innen gerichtet wurden. Dabei spielten die angeklagten Funktionsträger*innen bei der Demokratisierung der DDR eine wichtige Rolle. An der Organisation der Wahl wurde deutlich, wie sehr der Neuanfang in der DDR auf die Bereitschaft und Mitwirkung aller Akteur*innen beruhte, auch die der ›Alten‹. Ohne deren Unterstützung, Wissen und Expertise wäre es nicht möglich gewesen, in kürzester Zeit Wahlen auf die Beine zu stellen. Einerseits wurden die DDR-Führung und Verwaltung in der Öffentlichkeit kritisiert, andererseits aber erwartete man von ihr, dass sie den Systemwechsel unterstützte. Entscheidungen zu Berufungen und Entlassungen wurden mit einer gewissen Willkür getroffen, die vor allem auf eine starke Emotionalisierung des Themas zurückzuführen war. Selbst nach den Kommunalwahlen im Mai 1990 setzten sich diese Praktiken in den neu gewählten Parlamenten weiter durch und sind auch noch in späteren Jahren nachweisbar. Am Ende schafften es die hier beschriebenen Bürger*innen, die bis zum Herbst 1989 Leitungs- oder staatsnahe Positionen innegehabt hatten, sich auch nach ihrer Entlassung über ihre Netzwerke schnell zu organisieren und neue Stellen zu sichern. Die Erfahrungen und Kenntnisse, die sie in ihren ehemaligen Positionen gesammelt hatten, sollten auch in der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung von Vorteil sein. Bis zur Phase der Massenentlassungen waren die ›Ehemaligen‹ also schon weitestgehend in neue Positionen gewechselt. So kam es, dass die Arbeitslosen in der Stadt Erfurt ab 1990 an der neuen Berufsschule vom ehemaligen Sekretär für Agitation und Propaganda unterrichtet wurden. Daran lässt sich auch erkennen, dass sich nicht nur alte Praktiken fortsetzten, sondern dass auch die sozialen Strukturen und Netzwerke der DDR in der Umbruchszeit erhalten blieben. Wenn wir die DDR und die Umbruchszeit aus historischem Blickwinkel verstehen wollen, müssen wir auch auf die persönlichen Erfahrungen, Empfindungen und Praktiken schauen, die das soziale Verhalten der Menschen strukturierten. Trotz unterschiedlicher Lebenswege von Bürger*innen während des letzten Jahres der DDR und des ersten Jahres des Umbruchs weisen ihre Erfahrungen
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einige Gemeinsamkeiten auf. In vielen Fällen führten Konflikte in der Öffentlichkeit und existenzielle Ängste zu einem Rückzug in geschützte Räume. Auch die Art und Weise, wie Bürger*innen ihre Enttäuschung und Ausgrenzung zum Ausdruck brachten, ähnelt der stillen Form des Protests; vom Widerruf der Unterstützung bei der Volkskammer- und Kommunalwahl zur schweigenden Zerstörung der Milchflaschen. Diese stillen Protestaktionen setzten sich in den Folgejahren fort und sprachen für Bürger*innen, die das Gefühl hatten, ihre Stimme zähle nicht mehr.
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Autorinnen und Autoren
Bruhn, Cornelia; geb. 1990 in Löbau, Studium der Geschichte und Musikwissenschaft (Bachelor) und der Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts (Master) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU Jena), der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und der Staatlichen Universität St. Petersburg; 2016 – 2018 Stipendiatin eines Landesgraduiertenstipendiums des Landes Thüringen für das Promotionsprojekt Lieder für den Sozialismus. Akteure, Alltag und Utopie der FDJ -Singebewegung (1966 – 1990) sowie assoziiertes Mitglied der Doktorandenschule des Imre Kertész Kollegs an der FSU Jena; 2019 – 2022 Wissenschaft liche Mitarbeiterin der Stiftung Ettersberg Weimar; seit Juni 2022 Referentin für Zeitzeugenarbeit, Schicksalsklärung und Dauerausstellung an der Gedenkstätte Bautzen / Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Publikationen: Singing for Socialism. The FDJ-Singing Movement in Late-1960s German Democratic Republic (GDR ). In: Jan Blüml/Yvetta Kajanová/Rüdiger Ritter (Hrsg.): Popular Music in Communist and Post-Communist Europe ( Jazz under State Socialism, 6). Berlin 2019, S. 151 – 162; mit Samuel Kunze: Zwischen Pilgerfahrt und Bildungsreise – Israelisches Gedenken an den ehemaligen national sozialistischen Tötungsorten der Shoah. In: Jörg Ganzenmüller/Raphael Utz (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 22). Köln/Weimar/ Wien 2016, S. 303 – 328. Ganzenmüller, Jörg, Prof. Dr. phil.; geb. 1969 in Augsburg, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Osteuropäischen Geschichte und Wissenschaftlichen Politik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg; 2000 – 2001 und 2002 – 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg; 2003 Promotion an der Universität Freiburg mit einer Studie zum belagerten Leningrad; 2004 – 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2008 – 2009 Stipendiat des Historischen Kollegs in München; 2010 Habilitation an der Universität Jena mit einer Studie zum polnischen Adel in den westlichen Provinzen des russischen Zarenreichs; 2010 – 2014 Vertreter des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Jena; seit 2014 Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar, seit 2017 zudem Inhaber der Professur für Europäischen Diktaturenvergleich am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Publikationen
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| Autorinnen und Autoren
(Auswahl): (Hrsg.): Die revolutionären Umbrüche in Europa 1989/91. Deutungen und Repräsentationen (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 28). Köln/Wien 2021, darin: ›Freiheit‹ und ›Nation‹. Zwei Meistererzählungen von ›1989/91‹ in europäisch-vergleichender Perspektive, S. 9 – 30; Die Ostdeutsche Erfahrung. Auswege aus einem polarisierenden Deutungskampf über unsere Geschichte vor und nach 1989. In: Jahrbuch Deutsche Einheit 2020, Berlin 2020, S. 95 – 119 (gemeinsam mit Anke John und Christiane Kuller); Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches 1772 – 1850 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 46) Köln/Weimar/Wien 2013; Das belagerte Leningrad 1941 bis 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern (Krieg in der Geschichte, 22). Paderborn u. a. 2005, 22007. Huff, Tobias, Dr. phil.; geb. 1980 in Mainz; 2001 – 2007 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft in Mainz, Zürich und Gävle (Schweden); 2008 – 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 2012 Promotion in Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Freiburg mit einem Werk über die Umweltpolitik der DDR; 2012 – 2013 PR-Redakteur in einer auf erneuerbare Energien spezialisierten Agentur in Freiburg; 2013 – 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter an J ohannes Gutenberg-Universität Mainz; seit 2018 Geschäftsführer des Fachbereichs 07 Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Mainz. Publikationen (Auswahl): »Besser wenig als nichts«. Risiko in der Vormoderne am Beispiel der Landwirtschaft. In: Contzen/Huff/Itzen (Hrsg.): Risikogesellschaften. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2018, S. 69 – 94; Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR (Umwelt und Gesellschaft, 13). Göttingen 2015; Über die Umweltpolitik der DDR. Konzepte, Strukturen, Versagen. In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 523 – 554; Im Osten nichts Neues? Das Waldsterben in gesamtdeutscher Perspektive. In: Roderich v. Detten (Hrsg.): Das Waldsterben. Rückblick auf einen Ausnahmezustand. München 2013, S. 106 – 119. Möller, Christian, Dr. phil.; geb. 1984 in Ostercappeln; 2003 – 2010 Studium der Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld; 2011 – 2018 Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology; 2011 – 2014 Stipendiat der Johannes-Rau-Gesellschaft e. V.; 2014 – 2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Wirtschaftsgeschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 2018 Promotion mit einer Arbeit zur Geschichte von Umweltpolitik und Umweltbewegung in der DDR an der
Autorinnen und Autoren |
niversität Bielefeld; 2019 – 2020 Wissenschaftlicher Referent in der PlanungsU gruppe ›Geschichte, Politik und Demokratie Nordrhein-Westfalens‹, Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen; seit 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen. Publikationen (Auswahl): Umwelt und Herrschaft in der DDR. Politik, Protest und die Grenzen der Partizipation in der Diktatur (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 234). Göttingen 2019; Wissen und Umwelt in der ›partizipatorischen Diktatur‹. Wissenschaftliche Umweltkonzepte und der umweltpolitische Aufbruch in der DDR. In: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 26 (2018), 4, S. 367 – 403; Zwischen Gestaltungseuphorie, Versagen und Ohnmacht: Umwelt, Staat und volkseigene Wirtschaft in der DDR (1967 – 1990). In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 60 (2015), 2, S. 141 – 167; Der Traum vom ewigen Kreislauf ? Abprodukte, Sekundärrohstoffe und Stoffkreisläufe im ›Abfall-Regime‹ der DDR (1945 – 1990). In: Technikgeschichte 81 (2014) 1, S. 61 – 89. Pannen, Sabine, Dr. phil., studierte Neuere und Neueste Geschichte und Kunstgeschichte in Berlin und Kapstadt. Nach dem Magisterstudium arbeitete sie beim SPD-Parteivorstand. Zwischen 2010 und 2013 war sie Stipendiatin der Bundesstiftung Aufarbeitung sowie Doktorandin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. 2017 promovierte sie zur Geschichte der SED an der Humboldt-Universität zu Berlin und war anschließend für verschiedene Museen tätig. Publikationen (Auswahl): SED-Genossen in der Krise. Die 1980er Jahre in der DDR, Erfurt 2020; »Wo ein Genosse ist, da ist die Partei!« Der Innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979 – 1989. Berlin 22019. Price, Jenny, Dr. phil.; geb. 1987 in Halle/Saale; 2006 – 2010 Integriertes Bachelor- und Masterstudium moderner Fremdsprachen an der University of Manchester; Masterarbeit zum Thema Paradigms of Difference: East-German and Turkish-German Perspectives on Post-Unification Identities; 2010 – 2015 Leitung internationaler Sprach- und Austauschprogramme u. a. an der Aston University, Birmingham; 2015 – 2016 Masterstudium der Globalgeschichte an der University of Warwick mit einer Arbeit zur Thematik der Bürgerbewegungen in Erfurt, 1983 – 1993; 2015 – 2019 Promotionsstipendiatin des Economic and Social Research Council in Großbritannien; 2020 Abschlussstipendiatin der Stiftung Ettersberg und Promotion an der University of Warwick zur Alltagsgeschichte der Transformation in Ostdeutschland, 1989 – 1991; 2020 – 2021 Wissenschaftliche Geschäftsführung am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts der Friedrich-SchillerUniversität Jena; 2021 Privatdozentin für deutsche Kulturwissenschaften an der
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University of Manchester; seit Juni 2021 Wissenschaftliche Geschäftsführung am Internationalen Heritage-Zentrum der Bauhaus-Universität Weimar. Publikationen: Ost Voices. Local Practices of the Transformation in Eastern Germany, 1989 – 1991. Dissertation/University of Warwick 2020. Rau, Christian, Dr. phil.; geb. 1984 in Gera; 2004 – 2010 Studium der Geschichte, Politik- und Erziehungswissenschaft in Leipzig; 2011 – 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Leipzig; 2014 Promotion an der Universität Leipzig zur Herrschafts- und Verwaltungsgeschichte der Stadt Leipzig in der DDR; seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Abteilung Berlin; Postdoc-Projekte zur Geschichte der Deutschen Nationalbibliothek während der deutschen Teilung sowie zur Geschichte von Gewerkschaften und Protest im ostdeutschen Transformationsprozess seit 1990. Publikationen (Auswahl): Die DDR als Teil eines alternativen Europas? Die Fédération mondiale des villes jumelées (FMVJ) und die kommunale Außenpolitik Ostdeutschlands in den 1960er Jahren. In: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 51 (2019) 1, S. 7 – 19; ›Nationalbibliothek‹ im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945 – 1990. Göttingen 2018; Stadtverwaltung im Staatssozialismus. Kommunalpolitik und Wohnungswesen in der DDR am Beispiel Leipzigs (1957 – 1989). Stuttgart 2017. Scheunemann, Jan, Dr. phil.; geb. 1973 in Sömmerda, 1995 – 2000 Studium der Museologie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig; 2001 – 2003 Aufbaustudium in den Fächern Neueste Geschichte/Zeitgeschichte an der Universität Rostock und der McGill University Montreal; 2004 – 2007 Doktorand an der Universität Rostock; 2008 Promotion zur Museumspolitik in der SBZ/DDR; 2008 – 2012 Mitarbeiter bei der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt; 2014 – 2017 Mitarbeiter beim Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt; seit 2018 Mitarbeiter im Referat Zentrale Aufgaben Restitution bei der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt. Publikationen (Auswahl): Luther und Müntzer im Museum. Deutsch-deutsche Rezeptionsgeschichten (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 20). Leipzig 2015; »Gegenwartsbezogenheit und Parteinahme für den Sozialismus«. Geschichtspolitik und regionale Museumsarbeit in der SBZ/DDR 1945 – 1971. Berlin 2009. Schröter, Anja, Dr. phil.; geb. 1983 in Schlema; 2011 Magistra Artium in den Fächern Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Potsdam; 2012 – 2016 Assoziierte Doktorandin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) mit einem Stipendium der
Autorinnen und Autoren |
riedrich Naumann Stiftung für die Freiheit im Walther Rathenau Kolleg und F einem Abschlussstipendium des ZZF; 2016 – 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung I des ZZF im Projekt Die lange Geschichte der ›Wende‹. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989; seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin. Publi kationen (Auswahl): Hrsg. zus. mit Frank Ebert: Gegenentwurf. Ausschnitte deutscher Demokratiegeschichte. Berlin 2020; Hrsg. mit Clemens Villinger: Anpassen, aneignen, abgrenzen: Interdisziplinäre Arbeiten zur langen Geschichte der Wende. In: Zeitgeschichte-online, März 2019. Abgerufen unter URL: https:// zeitgeschichte-online.de/thema/anpassen-aneignen-abgrenzen-interdisziplinaerearbeiten-zur-langen-geschichte-der-wende, letzter Zugriff: 12. 05. 2022; Ostdeutsche Ehen vor Gericht. Scheidungspraxis im Umbruch 1980 – 2000. Berlin 2018. Triebel, Bertram, Dr. phil.; geb. 1982 in Eisenach; 2002 – 2009 Studium der Geschichte, Politikwissenschaften und Journalistik in Leipzig und Nancy; 2009 – 2012 Doktorand im Graduiertenkolleg zur Geschichte der Bergakademie Freiberg im 20. Jahrhundert an der TU Bergakademie Freiberg und Mitglied der Doktorandenschule des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts (2010 – 2012); 2013 Promotion zur Geschichte der SED an der Bergakademie Freiberg; 2013 – 2015 wissenschaftlicher Volontär im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik, 2015 – 2018 freiberuflicher Historiker, tätig u. a. für das Museum für Kommunikation in Frankfurt/Main und im Rahmen des Forschungsprojekts zur Geschichte der Thüringer CDU in der SBZ / DDR; 2019 – 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; seit 2021 Referent u. a. für Gedenkstätten und Erinnerungskultur in der Thüringer Staatskanzlei. Publikationen (Auswahl): Die Thüringer CDU in der SBZ/DDR – Blockpartei mit Eigeninteresse. Sankt Augustin/Berlin 22020; Die Partei und die Hochschule. Eine Geschichte der SED an der Bergakademie Freiberg. Leipzig 2015; Der integrierte Souverän – Die SED an der Bergakademie Freiberg in der Ära Honecker. In: Norman Pohl/Michael Farrenkopf/ Friederike Hansell (Hrsg.): Lebenswerk Welterbe. Aspekte von Indus triekultur und Industriearchäologie, von Wissenschafts- und Technikgeschichte (Festschrift für Helmuth Albrecht zum 65. Geburtstag). Berlin/Diepholz 2020, S. 343 – 350.
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Abbildungsverzeichnis
Pannen, Parteileben im Betriebsalltag Abb. 1 © Für Dich (1960er Jahre); Fotograf: Peter Leske Abb. 2 © Neue Berliner Illustrierte (NBI) 1984; Fotograf: Peter Leske Rau, Städtische Partizipationsräume und der Wandel der Diktatur Abb. 1 © BArch, Bild 183 – 1985 – 0205 – 306/Gahlbeck, Friedrich Abb. 2 © BArch, Bild 183 – 1983 – 0208 – 300/Gahlbeck, Friedrich Möller, Umweltschutz und Herrschaft in der DDR Abb. 1 © Studienarchiv Umweltgeschichte Neubrandenburg, Sammlungen, Plakat P 025, Ministerium für Landwirtschaft, Erfassung und Forstwirtschaft, Zentrale Naturschutzverwaltung 1961: Naturschutzwoche 1961 vom 7. bis 14. Mai, Grafiker: ZE (Zimmermann, Engemann), Druck: C. G. Röder Leipzig Abb. 2 © Studienarchiv Umweltgeschichte Neubrandenburg, Sammlungen, Plakate, Plakat P 033, Deine Umwelt – Deine Gesundheit. Woche der sozialistischen Landeskultur 1971, Autorenschaft und Druck unbekannt Abb. 3 © BArch, DK 5/68 Bruhn, FDJ-Singebewegung Abb. 1 © BArch, BildY 3 – 907 – 1753 – 00/Bernd-Horst Sefzik Abb. 2 © BArch, BildY 3 – 907 – 02/Fotograf unbekannt Scheunemann, Heimatdiskurs und Heimatmuseen Abb. 1 © Landesarchiv Sachsen-Anhalt, K10 Ministerium für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft, Nr. 7448, Bl. 162 Abb. 2 © Staatl. SBG Sachsen gGmbH / Fotosammlung Burg Mildenstein Abb. 3 © Neue Museumskunde 2 (1959) 2, S. 110 Huff, Lokales Umweltengagement Abb. 1 © SächsStA-D, Signatur 12485, Nr. 447 Abb. 2 © Robert-Havemann-Gesellschaft/Roland Hensel/RHG_Fo_RHe_D09 – 035
Personenregister
A Abusch, Alexander 134 Aurich, Eberhard 173
Holtfreter, Bernd 240 Honecker, Erich 14, 33, 57, 81, 97, 178, 219, 220, 221, 227
B
J
Bessel, Richard 121 Biermann, Wolf 156, 180
Jarausch, Konrad H. 119, 210, 212 Jessen, Ralph 19, 121
C
K
Caspar, Rolf 229 Conwentz, Hugo 130
Eggers, Gerd 169, 170, 174
Kahlau, Heinz 172 Kirchenwitz, Lutz 153, 157, 164 Kirchner, Martin 269 Kneschke, Karl 195 Knorr, Heinz Arno 193, 195, 198, 199, 200, 202 Kocka, Jürgen 119, 210 Kohl, Helmut 269 König, Hartmut 167 Körbel, Stefan 173 Kresse, Walter 105
F
L
Freyberg, Alfred 99 Friedman, Perry 152, 159 Fulbrook, Mary 119, 121, 127
Lindenberger, Thomas 10, 19, 29, 35, 71, 77, 119, 121, 152 Lüdtke, Alf 21, 70, 152
G
M
Gensichen, Hans-Peter 227 Gilsenbach, Reimar 131 Göschel, Eberhart 225 Gundermann, Cornelia (Conny) 163 Gundermann, Gerhard 167, 173, 178
Magister, Udo 169, 174 Mensching, Steffen 178 Miersch, Martin 169, 172 Möller, Horst 119 Mühlberg, Felix 139 Müller, Gerhard 169, 170
D de Maizière, Lothar 269 Demmler, Kurt 177 Dietrich, Ingo (Hugo) 163 Duhm, Burghard 241
E
H Haake, Rudolf 99 Hausmann, Helmut 279 Heicking, Wolfram 159 Heitmann, Ulf 251
N Nesmejanow, Alexander Nikolajewitsch 132
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| Personenregister
O P
Steineckert, Gisela 159 Stoph, Willi 134 Strauss, Gerhard 191, 192 Stubbe, Hans 129
Pietsch, Gina 178 Pniower, Georg 130
T
Oppel, Marianne 158, 159
Q Quandt, Jens 168, 177, 178
R Reichelt, Hans 136, 227 Roesler, Jörg 133 Rump, Bernd 154, 167
S Sabrow, Martin 119, 121 Schnur, Wolfgang 269 Siegel, Horst 100
Titel, Werner 136
U Ulbricht, Walter 81, 100, 136, 196, 219, 220
W Wagner, Frank 164, 168 Weinitschke, Hugo 134 Wein, Siegfried 155, 157, 158, 164 Weiz, Herbert 134 Wendel, Arno 173 Wenzel, Hans-Eckardt 178 Wittstock, Hans-Ulrich 105