Platons Schauspiel der Ideen: Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater [1. Aufl.] 9783839404614

Als Platon das Theater aus seinem idealen Philosophenstaat ausweisen wollte, verurteilte er nicht einfach eine bestimmte

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German Pages 446 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Platons Gesichter
Sehen und Wissen
Da-Sehen: Platons Theorie des Gesichts
Die Funktion der opsis
Die logoi in der opsis
Die ent-setzende Logoskopie: skopeô
Sagen und Zeigen: deixis
Der suchende Ausblick: blepô
Das ver-rückte Sehen: theoreô
Analogien – sehen: nous
Arbeiten am Phantasma
Theatralität, Schrift, „Theatralität“
Theatralität der Schrift
Aristoteles: Wahrnehmung, Phantasma, Intellekt
Politisches Theater
Zeit-Imagination-Stimme
Exkurs I: Phonographologien
Laut-Bilder und Laut-Lese
Schizophonien: Die abwesend-anwesende Stimme
Teichographie: Absenz-Metaphysik und Vergegenwärtigung
Exkurs II: Geister-Metaphysik
Somatographie: Totenschrift
Kenographie: Lesen als anamnêsis und Inszenierung
Bibliographie
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Platons Schauspiel der Ideen: Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater [1. Aufl.]
 9783839404614

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Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen

Ulf Schmidt (Dr. phil.) studierte Theaterwissenschaft in München, Paris und Frankfurt am Main. Als Theaterautor arbeitete er zunächst für freie Gruppen, wurde mit seinen Texten an das Hamburger Thalia Theater, zu den Berliner Festspielen und zu den Schillertagen in Mannheim eingeladen. Seine Theaterstücke erscheinen im Verlag der Autoren, Frankfurt am Main.

Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen. Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-461-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorwort Einleitung

7 11

Platons Gesichter Sehen und Wissen Da-Sehen: Platons Theorie des Gesichts Die Funktion der opsis Die logoi in der opsis Die ent-setzende Logoskopie: skopeô Sagen und Zeigen: deixis Der suchende Ausblick: blepô Das ver-rückte Sehen: theoreô Analogien – sehen: nous

31 32 49 69 79 94 121 140 167 181

Arbeiten am Phantasma Theatralität, Schrift, „Theatralität“ Theatralität der Schrift Aristoteles: Wahrnehmung, Phantasma, Intellekt Politisches Theater

201 218 241 263 281

Zeit-Imagination-Stimme Exkurs I: Phonographologien Laut-Bilder und Laut-Lese Schizophonien: Die abwesend-anwesende Stimme Teichographie: Absenz-Metaphysik und Vergegenwärtigung Exkurs II: Geister-Metaphysik Somatographie: Totenschrift Kenographie: Lesen als anamnêsis und Inszenierung

295 305 317 330 341 357 377 399

Bibliographie

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VORWORT Platon schreibt gelegentlich über das „Theatron“ und verurteilt diesen Schauraum, empfiehlt die Ausweisung der Tragöden aus der Stadt. Zugleich öffnet er in seinen Schriften die „Schau“ in zwei andere, jenseitige Räume: den Raum der eidê im räumlichen Jenseits und den Raum der idealen Stadt im zeitlichen Jenseits der Zukunft. Und all dieses vollzieht sich in einem Raum, der für den schreibenden Platon Vergangenheit ist: dem Raum beziehungsweise den Räumen der sokratischen Gespräche. Ein kompliziertes Geflecht von Schauräumen mithin, das sich aus den logoi Platons erhebt. Seine Verurteilung der Tragödie ist hinlänglich bekannt. Sie muß nicht erneut dargestellt werden. Auch ist es wenig sinnvoll, Platon lediglich nachzuweisen, daß er sich mit der Verurteilung des Theaters selbst trifft. Ziel dieser Untersuchung ist vielmehr, eine grundlegende Problematik bei Platon darzustellen: die Problematik der Darstellung – angesiedelt zwischen Szene und Schrift, zwischen Wahrheit, Lüge und Phantasmatik. Dabei richtet sich das Augenmerk dieser Untersuchung zunächst auf das Sehen in Platons Dialogen. Es wird also die Frage zu stellen sein, was Platon überhaupt unter „sehen“ versteht. Es wird zu fragen sein, welchen Status das sinnliche Sehen bei Platon hat. Und es wird zu untersuchen sein, was „sehen“ für Platon – neben der sinnlichen Wahrnehmung – für Funktionen hat. Verkürzt gesagt: Das „Auge der psuchê“, von dem Platon gelegentlich spricht, ein geistiges Auge mit Einblick in eine nichtsinnliche Dimension, wird in den Blick zu nehmen sein. Ohne dabei aus den Augen zu verlieren, daß es hier nicht nur um zwei Anschauungen geht. Denn zwischen diesen beiden nistet sich ein Drittes ein, das phantasma: halb Erscheinung des Erscheinenden oder gespenstische Erscheinung von Abwesendem, halb aber auch Schein des Nichtseienden, Täuschung, Lüge, Fiktion. Gerade die Rolle des phantasma kann nicht ausgeblendet werden, wenn das Interesse dem Theatron gilt – ist doch das Theatron genau im Reich des phantasma angesiedelt und entzieht sich deswegen der angestrebten Zweiteilung in Sinnlichkeit und Intellekt. Es ist ein Mittleres, ein „Medium“ in durchaus weiterem Sinne, Ansatzpunkt für eine noch zu schreibende, vielversprechende platonische Medientheorie. Eine besondere Funktion übernimmt in diesem komplizierten Geflecht die Stimme – selbst wiederum gespalten in die verlautbarende Stimme des Sprechenden und das stumme Selbstgespräch des Denkenden. Ihre Dimension, der logos, trennt gleich einem Mäuerchen die Schauräume des Noetischen und des Ästhetischen. Und das Verhältnis von Jenseitigkeit, von Abund Anwesenheit stellt sich auch in dieser Dimension wieder ein – ist es doch ein Toter, Sokrates, dessen laute oder leise Stimme aus den Dialogen gespenstisch wiederhallt. Sokrates und seine Gesprächspartner geistern um die leeren Gräber platonischer Dialoge, halb ehemalige und vergängliche Bewohner des ästhetischen Diesseits, halb unvergängliche und ewige Bewohner eines noetischen Geisterreichs. Oder eben lesbare phantasmata, Sprecher auf einer phantasmatischen Bühne, die der Tragödiendichter Platon als seine zukünftige oder ewige ideale Stadt entworfen hat, während er zugleich die phantasmata dem Theater zuschlug und versuchte, beide aus der idealen

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Stadt zu verbannen, sowie die Abkehr vom Sinnlichen zugunsten des Blicks ins Noetische empfahl – und zwar schwarz auf weiß, sinnlich wahrnehmbar und lesbar. Diese Auseinandersetzung mit Platon hat zum Ziel, den Ort der Augen und Ohren in der noetischen Einsicht zu bestimmen. Zugleich aber sind auch die Untiefen des wissenschaftlichen Umgangs mit Theater auszuloten – auch hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen ästhetischer Präsenz und scripturaler Absenz, zwischen sinnlicher und „intellektueller“ Anschauung einerseits, der Schrift andererseits. Und der Blick zurück in die vorsokratische Zeit und ihr Verständnis von Sehen, Verstehen und Einsicht findet eine ganz andere epistêmê als diejenige Platons. Mit aller Vorsicht gesprochen: eine theatrale epistêmê, die für das Verständnis von Theater ebenso fruchtbar gemacht werden kann, wie für das Verständnis vom Verstehen des Theaters. Mit gelegentlichen Ausblicken vor allem auf Aristoteles und Kant konzentriert sich diese Arbeit auf Platon, den scheinbar schärfsten Kritiker des Theaters, der dabei das Theater ernst genommen hat. So ernst sogar, daß er befürchtete, der ganze Entwurf seiner idealen Stadt stehe bei der Frage nach dem Theater auf dem Spiel. Und gerade dieser Ernst ist es, der eine Auseinandersetzung mit Platon für ein ernsthaftes Interesse am Theater so eminent wertvoll macht. Diese Auseinandersetzung kann hier nicht abschließend sein. Ziel ist vielmehr, sie ernsthaft zu eröffnen. Mein Dank gilt der Hans-Böckler-Stiftung, die diese Arbeit mit einem Promotionsstipendium ermöglicht hat, und den Mitgliedern des Graduiertenkollegs „Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung“ an der Universität Frankfurt für viele intensive Diskussionen.

[I]hr trefflichsten Fremdlinge, wir selbst sind Dichter einer Tragödie (tragôdias poiêtai), welche, soweit wir vermögen, die schönste und beste werden soll. Unsere ganze Staatsverfassung (politeia) besteht nämlich in der Nachahmung (mimêsis) des schönsten und besten Lebens, und eine solche soll eben nach unsern Begriffen die wahrhafteste Tragödie (tragôdian alêthêstatên) sein. Dichter (poiêtai) seid ihr nun, Dichter (poiêtai) sind auch wir der selben Dinge (tôn autôn), und ihr habt uns als Nebenbuhler (antitechnoi) in der Kunst und als Mitbewerber (antagônistai) um den Preis des schönsten Dramas (dramatos) anzusehen. Ein solches ist nämlich allein eine wahrhafte Gesetzgebung (nomos alêthês) ins Werk zu setzen (apotelein) geeignet, und wir sind der Hoffnung, daß sie uns dies leisten werde. Wähnet daher nicht, daß wir es euch je ohne weiteres gestatten werden, eure Schaubühnen (skênas) auf unserem Markte aufzuschlagen und eure Schauspieler, die mit ihren schönen Stimmen die unsrigen übertönen würden, auftreten und öffentlich zu Knaben und Weibern und zum ganzen Volke reden und über dieselben Einrichtungen nicht die gleiche Ansicht wie wir verkündigen zu lassen, sondern meistens und in den meisten Dingen das gerade Gegenteil (enantia). Platon, Nomoi, 7. Buch

EINLEITUNG

I. Der Widerstreit Es besteht ein Hader, ein Zwist, eine Differenz zwischen Philosophie und Tragödie, die bereits für Platon palaia diaphora war, ein alter Hader, wie es im 10. Buch der Politeia heißt. Die mimetischen Poieten, zu denen Maler und Tragödiendichter gehören, verdoppeln die Dinge, deswegen dürfen sie keinesfalls in die ideale Platopolis aufgenommen werden. An diesen Poieten scheint die ideale Stadt scheitern zu können – eine hohe Erwartung an diese Künstler, weit höher etwa als diejenige des Aristoteles, für den die Tragödie letztlich nicht viel mehr war, als ein Abführmittel für pathetische Befleckungen, ein kathartikon. Bei Platon steht das Scheitern der idealen Stadt auf dem Spiel. Der Grund ist in einer eigenartigen Verdoppelung zu finden, die die Mimeten bewirken, einer Verdoppelung, die aus einem Tisch einen gemalten Tisch, aus einem Bett ein gemaltes Bett, aus der Sonne eine gemalte Sonne macht. Die Tragödie kommt in der Politeia zweimal in den Blick, nicht nur im 10. Buch, in ihrer Verwandtschaft mit dem Maler und dem Spiegel, die alle Dinge verdoppeln, sondern auch im 3. Buch in Zusammenhang mit der Frage nach der Dichtung. Sie steht auf der Grenze zwischen (malerischer) opsis und dichterischem logos – oder sie steht auf zwei ganz verschiedenen Gebieten, die sie miteinander vereint im Zeichen der mimêsis. Es ist davon auszugehen, daß gerade die Vereinigung von logos und opsis der Tragödie die Gegnerschaft Platons einträgt, dem selber daran gelegen ist, eine Koordination von logos und opsis herzustellen, die mit der tragischen Koordination in Konflikt steht. Tragödie und Philosophie begegnen sich bei Platon in der palaia diaphora auf gleicher Augenhöhe, es handelt sich nicht um die Debatte über einen beliebigen Gegenstand oder einen beliebigen Angeklagten, den Platon seinem Richter Sokrates zur Beurteilung anheimstellt, sondern es handelt sich um einen Widerstreit ohne Richter.

II. Politische Tragödien Der Hader zwischen dem Philosophen und der Tragödie zeigt sich als Streit um die polis. Explizit ausgetragen wird dieser Streit erst bei Augustinus, in De Civitate Dei, wo Platons Verurteilung der Tragödiendichter aufgenommen wird, um den Streit zwischen der Theaterstadt und der Gottesstadt vorzustellen. Die Stadt, die Platon vorfindet, hat Sokrates zu Tode gebracht, sich dabei aber selbst durch ihr Unrechtsurteil ihrer Legitimierung beraubt, auf der Gerechtigkeit aufzuruhen. Diese Stadt kümmert sich um den Anschein (doxa) der Gerechtigkeit, nicht darum, ob jemand wirklich in einem solchen Maße gerecht ist, daß er nicht einmal den Versuch unternimmt, als gerecht zu erscheinen, als gerecht in Erscheinung zu treten. Die ungerechte Stadt verurteilt Sokrates, auf dem Schein gründend. Daher wird aus der wirklich gerechten Stadt die Tragödie eliminiert werden müssen, die der Inbegriff des Scheins und des Erscheinenden ist. Sokrates hat in der Theaterstadt keinen Ort, das

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Theater hat in der Philosophenstadt keinen Ort. Dabei ist die Philosophenstadt, die Platopolis, selbst eine Art Theater. Das Feld, auf dem Platon auf die Tragödie trifft, ist die mimêsis, und das heißt hier: die Darstellung. Die Frage, die es immer wieder zu entscheiden gilt, seit Platon, vorausgesetzt man setzt Ideen voraus, lautet: Mimt der mimêtês die eidê oder mimt er die wirklichen Gegenstände, die selbst die eidê mimen sollen/können/müssen? Die fatale Antwort, die sich im 10. Buch findet, lautet, daß der Mimet phantasmata nachbildet, die Erscheinung und nicht das Sein der Dinge. Aber was mimt Platon in seinen Schriften? Mimt er den erscheinenden, das heißt den erschienenen und nicht wieder erscheinenden Sokrates? Oder mimt er einen idealen Sokrates, das Wesen, das sich einst verkörperte, nunmehr sich verschriftet? Sind der Körper des Sokrates und seine körperliche Stimme der Bezugspunkt der platonischen mimêsis? Oder findet sich die psuchê des Sokrates, nachdem sie ihren Körper verlassen hat, bewirkt durch das Schierlings-pharmakon, nunmehr in der Schrift verkörpert? War im Blick auf die Maler für die Herstellung noch einigermaßen leicht ein Unterschied zu machen, so stellt sich die Frage dort, wo es um Tragödiendichter insofern geht, als sie sich auf Tugend und Schlechtigkeit, auf das Menschliche und Göttliche verstehen sollen, umso schärfer. Tragödiendichter können keine Menschen machen, wie ein Handwerker ein Bett oder einen Tisch herstellt. Sie können, so wird in der Politeia geurteilt, nicht einmal Kranke heilen, wo sie doch über Heilkunde ihre mimêseis verfertigen. Die poietische Technik trägt nur Namen und Verben auf wie Farben, versteht aber nichts anderes als bloße Mimerei. Die Poieten gleichen den Malern darin, daß sie die politeia in der psuchê selbst ruinieren – nicht die psuchê der Politeia (diese auch), aber vor allem die Stadt in der psuchê eines jeden Einzelnen: Können wir ihn also nicht jetzt mit vollem Recht angreifen, und ihn als ein Seitenstück zu dem Maler aufstellen? Denn darin, daß er Schlechtes hervorbringt, wenn man auf die Wahrheit sieht, gleicht er ihm; und daß er sich an ebensolches in der Seele wendet und nicht an das Beste, auch darin sind sie einander ähnlich. Und so sind wir wohl schon gerechtfertigt, wenn wir ihn nicht aufnehmen in eine Stadt (polin), die eine untadelige Verfassung haben soll, weil er jenes in der Seele aufregt und nährt, und indem er es kräftig macht, das Vernünftige verdirbt, wie im Staat, wenn einer dem Schlechten die Gewalt verschaffend den Staat verrät und die Besseren herunterbringt, ebenso werden wir sagen, daß der nachbildende Dichter jedem eine schlechte Verfassung (kakên politeian) in seiner Seele aufrichtet, indem er dem Unvernünftigen darin, welches nicht einmal Großes und Kleines unterscheidet, sondern dasselbe bald für groß hält, bald für klein, sich gefällig beweiset und ihm Schattenbilder hervorruft, von der Wahrheit aber ganz weit entfernt bleibt. Allerdings. (Rep. X, 605aff.)1 1

Platons Dialoge werden – wo nicht anders angegeben – in der Übersetzung Friedrich Schleiermachers mit der Stephanus-Paginierung zitiert, gegebenenfalls erweitert um Korrekturen des Herausgebers Gunther Eigler. Die Dialoge Timaios, Kritias und Nomoi werden in der Übersetzung Franz Susemihls, die Briefe in der Übersetzung Hieronymus Müllers wiedergegeben. Ausdrücke und Wendungen aus dem griechischen Originaltext sind direkt nach der deutschen

EINLEITUNG | 13

Die Poieten errichten eine schlechte politeia in den Hörern. Es geht um die Stadt in den Hörern, nicht um die Hörer in der Stadt, schon gar nicht um die Stadt, in der sich die Hörer befinden. In der Politeia Platons wird über die politeia verhandelt, die die Poieten in den Hörern produzieren – eine politeia, die von der politeia der Platopolis durchaus verschieden ist. In der polis Platons hat die Tragödie nichts zu suchen, so heißt es in der Politeia. Die Tragödie wird in die Politeia aufgenommen, um sie aus der polis auszuschließen – das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Buch über die Gründung einer idealen Stadt, daß den Poieten, Malern und Tragödiendichtern in der Politeia ein so großer Raum eingeräumt wird, um ihnen den Raum in der polis zu bestreiten. Neben einer Erörterung über im weitesten Sinne politische Themen, die insbesondere die poiêsis einer idealen Stadt durch den logos zum Ziel haben, ist die Politeia selbst eine „Poietik“, allerdings eine anti-poietische Poietik, eine Poietik gegen die poiêtai. In den Nomoi wird die ideale Stadt Schritt für Schritt gegründet, bis seltsame Fremdlinge Einlaß begehren, die Tragödiendichter. Der Gesprächsführer, der nun nicht mehr Sokrates heißt, sondern einfach nur noch Athenaios Xenos, der fremde Athener, der sich mit einem Spartaner und einem Kreter unterhält, politai dreierlei poleis also, wird an dieser Stelle vorschlagen, den Einlaß begehrenden Tragöden folgendes zu entgegnen: Wenn aber von den Dichtern der Tragödie in unseren Landen, die man ja als ernste Dichtung zu bezeichnen pflegt, irgendwelche in unsere Stadt kommen und die Anfrage an uns richten sollten: liebe Fremdlinge, dürfen wir eure Stadt (polin) und euer Gebiet (chôran) betreten oder nicht? und dürfen wir unsere Dichtungen einbringen und euch vorführen? oder wie habt ihr bei dergleichen zu verfahren beschlossen? — was würden wir darauf wohl diesen gottbegeisterten Männern richtig erwidern? Mir scheint, folgendes: ihr trefflichsten Fremdlinge, wir selbst sind Dichter einer Tragödie (tragôdias poiêtai), welche, soweit wir vermögen, die schönste und beste werden soll. Unsere ganze Staatsverfassung (politeia) besteht nämlich in der Nachahmung (mimêsis) des schönsten und besten Lebens, und eine solche soll eben nach unsern Begriffen die wahrhafteste Tragödie (tragôdian alêthêstatên) sein. Dichter (poiêtai)seid ihr nun, Dichter (poiêtai) sind auch wir der selben Dinge (tôn autôn), und ihr habt uns als Nebenbuhler (antitechnoi) in der Kunst und als Mitbewerber (antagônistai) um den Preis des schönsten Dramas (dramatos) anzusehen. Ein solches ist nämlich allein eine wahrhafte Gesetzgebung (nomos alêthês) ins Werk zu setzen (apotelein) geeignet, und wir sind der Hoffnung, daß sie uns dies leisten werde. Wähnet daher nicht, daß wir es euch je ohne weiteres gestatten werden, eure Schaubühnen (skênas)auf unserem Markte aufzuschlagen und eure Schauspieler, die mit ihren schönen Stimmen die unsrigen übertönen würden, auftreten und öffentlich zu Knaben und Weibern und zum ganzen Volke reden und über dieselben Einrichtungen nicht die gleiche Ansicht wie wir verkündigen zu lassen, sondern meistens und in den meisten Dingen das gerade Gegenteil (enantia). (Nom. VII, 817aff.)

Entsprechung in runden Klammern im Text eingefügt, sofern sie für den Gang der Argumentation relevant und wichtig sind. Statistische Angaben zu einzelnen Vokabeln stützen sich auf Recherchen in The Perseus Project (http:// www.perseus.tufts.edu), die zwischen Oktober 1997 und Juli 1998 erstellt wurden.

14 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Der Philosoph ist der Antagonist des Tragödiendichters. Er kämpft mit ihm um denselben Preis. Die palaia diaphora ist tatsächlich auch für Platon selbst ein Hader oder Streit auf gleicher Augenhöhe. Die Gefahr besteht für den Philosophen nunmehr darin, übertönt zu werden von den schönen Stimmen der Dichter bei der Rede über dieselben Dinge, über die der Philosoph allerdings zumeist das gerade Gegenteil von dem behauptet, was die Tragödiendichter zu sagen haben. Das Drama des Philosophen ist die politeia. Der Streit geht um Aufführungen: Soll der Tragödiendichter sein Drama in der Stadt zur Aufführung bringen dürfen, oder bringt der Philosoph das seine als Stadt zur Aufführung? Die Aufführung des Philosophen ist die ideale Stadt, in der die Aufführung von Dramen keinen Platz mehr haben darf. Vielleicht deswegen, weil sie die Städter der Platopolis daran erinnern würde, daß sie sich selbst in einer mimêsis befinden, daß sie sich in einem Theater befinden, dessen Spielleiter Platon ist. Der Streit zwischen politeia und politeia, der in der Politeia stattfindet, ist ein politischer Streit. Dabei heißt politisch: auf die Zukunft gerichtet, geht es doch um eine zukünftige polis, nicht um die Reform dieser polis hier, in der der Leser sitzt, sondern um eine polis, die als eine Lektüre gegründet wird. Am Ausgangspunkt dieser Gründungserzählung einer zukünftigen Stadt, nachdem Sokrates in die Aporie geraten ist beim Versuch zu erläutern, warum es besser sei, in jedem Falle gerecht zu sein, auch um den Preis des Ungerecht-Scheinens dabei, als ungerecht zu sein, heißt es: Ich sagte also, wie ich dachte, daß die Untersuchung, die wir unternehmen, nichts geringes wäre, sondern ein sehr Scharfsichtiger (oxu blepontos) dazu gehöre wie mir scheint. Da wir nun dazu nicht tüchtig genug sind, dünkt es mich gut, sprach ich, die Untersuchung darüber so anzustellen, wie wenn uns jemand befohlen hätte, sehr kleine Buchstaben (grammata) von weitem zu lesen, da wir nicht eben sehr scharf sehen (oxu blepousin), und dann einer gewahr würde, daß dieselben Buchstaben (grammata) auch anderwärts größer und an größerem zu schauen wären, es uns offenbar, denke ich, ein großer Fund sein würde, nachdem wir diese zuerst gelesen, dann erst die kleineren zu betrachten, ob sie wirklich dieselben sind. Allerdings wohl, sagte Adeimantos. Aber was siehst du ähnliches, o Sokrates, bei der Untersuchung über das Gerechte? Das will ich dir sagen, sprach ich. Gerechtigkeit sagen wir doch, findet sich an einem einzelnen Manne, findet sich aber auch an einer ganzen Stadt. Freilich, sagte er. Und größer ist doch die Stadt als der einzelne Mann? Größer, sagte er. Vielleicht also ist wohl mehr Gerechtigkeit in dem Größeren und leichter zu erkennen. Wenn ihr also wollt, so untersuchen wir zuerst an den Staaten, was sie wohl ist und dann wollen wir sie so auch an den Einzelnen betrachten, indem wir an der Gestalt des Kleineren die Ähnlichkeit mit dem Größeren aufsuchen. Das dünkt mich sehr richtig gesagt, sprach er. Und nicht wahr, sagte ich, wenn wir in Gedanken (logô) eine Stadt entstehen sehen (theasaimetha), so würden wir dann auch ihre Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit mit entstehen sehen (idoimen)? Vielleicht wohl, sagte er.

EINLEITUNG | 15 Und wenn nun dies geschehen ist, dürfen wir wohl erwarten das bequemer zu sehen (idein) was wir suchen? Bei weitem. (Rep. II, 368cff.)

Die Ideen treten hier als grammata auf, die das Vor-Bild einer Lektüre liefern sollen, aus der die ideale Platopolis sich ansehen läßt: theasaimetha von theaomai teilt die Wurzel thea mit dem theatron. Die ideale Stadt ist eine Schrift-Stadt, der ideale Mensch ein Schriftmensch – nicht zu vergessen, daß der gute Philosoph Einschreibungen in die Reden seiner Zuhörer vornimmt, wie es im Phaidros anläßlich der Schrift-„Kritik“ heißt, die niemals wirklich Kritik war, sondern eher eine Gebrauchsanweisung. Buchstaben sollen in den Blick genommen werden. Aus diesen Buchstaben soll ein ideales Stadttheater durch den logos entstehen, sofern tô logô instrumental verstanden wird, und nicht – was auch möglich wäre – lokal. Dann wäre es ein Stadt-Theater im logos. Die ideale Stadt soll sich ansehen lassen, wiewohl sie nicht anwesend ist. Sie ist vielleicht noch nicht anwesend, sie ist vielleicht – eine Spekulation – nicht mehr anwesend, sie ist, war und wird vielleicht nie anwesend sein und läßt sich trotzdem ansehen. Sie ist eben deswegen auch niemals gänzlich abwesend. Trotzdem wird sich Sokrates, oder Platon, damit in einen Verdacht bringen, denjenigen nämlich, selbst phantasmata zu produzieren aus den logoi heraus, die Sokrates gesagt hat oder: gesagt haben soll; oder sagen wird; oder immer wieder sagt. Sokrates selbst existiert nur tô logô, im logos oder durch den logos, und seine Anwesend-Abwesenheit entspricht derjenigen der idealen Platopolis recht genau. Der Unterschied, soweit er auf den ersten Blick auszumachen ist: Sokrates war und die Stadt wird sein. Der Ort des Sokrates und der Stadt bleibt heikel, nicht nur, weil es sich um eine doppelte Stadt handelt: einerseits die Stadt, in der die Gespräche stattfinden, daneben die andere Stadt, die durch die Gespräche zur Betrachtung ansteht. Durch den oder im geschriebenen und wiedergelesenen logos erscheint Sokrates, in dessen logoi oder durch welche die ideale Stadt entsteht. Sie entsteht zunächst vor den Augen der Betrachter, ohne sich doch zu materialisieren, zu verkörpern oder einen Ort zu finden. Es geht um Schrift und ihre Bilder, um die Schrift als das Bild der Rede – so von Platon bestimmt – und um Bilder, die in diesem Schrift-Stimm-Bild entstehen oder aus ihm entstehen. Das Verhältnis zur Schrift und zum Bild ist erheblich ambiger, als es eine Diagnose der „Schriftkritik“ oder „Mimesiskritik“ treffen könnte. In einer Diskussionsbemerkung hat Bernhard Waldenfels pointiert: „Platon muß als jemand vorgestellt werden, der sagt: ich schreibe auch, aber besser. Ich male auch, aber besser […]“2 Es fehlt nur der dritte Bestandteil dieser Reihe, der lautet: Ich mache auch Tragödien, aber besser.

III. Erinnerungen und Erfindungen Die Geschichte der Philosophie und der Metaphysik beginnt mit der Abwesenheit: mit dem Nicht-Wissen des Sokrates, mit der Depräsentierung des Wissens durch den Hinweis, daß das, was bisher als Wissen akzeptiert wurde, lediglich Scheinwissen war. Auf der einen Seite stehen Schein-Wissende, die 2

Vgl. Ruth Sonderegger: Diskussionsbericht. Literatur – Philosophie – Lektüre, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Neumann, Stuttgart/Weimar 1997, 449-458, hier 452.

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zu wissen meinen, ohne doch tatsächlich zu wissen, das heißt vor allem: ohne ihr „Wissen“ in Worte fassen zu können oder ohne zeigen zu können, daß in ihren Worten ein Wissen ist. Den Handwerkern, die nicht antworten können, stehen die Sophisten gegenüber, die auf alles eine Antwort haben, ohne dabei wirklich zu wissen. Auf der anderen Seite stehen die Dinge, die scheinen, ohne zu sein, oder die doch anders sind als sie scheinen. Die Philosophie beginnt mit dem Entzug des Wissens und der Sicherheit. Die Geschichte beginnt mit einem Toten namens Sokrates: Sokrates ist tot, so kann in Anlehnung an Nietzsches Nachricht vom Tod Gottes formuliert werden. Der Tod des Sokrates aber ist kein Ende. Seine Reden unter anderem schreibt Platon auf, vielleicht als Erinnerungen oder Erinnerungshilfen. Seinen eigenen (Sokrates’ oder Platons?) Ausführungen zufolge helfen die Gedächtnisstützen, die geschriebene logoi sind, nur denen, die bereits zuvor ein Gedächtnis haben, das gestützt werden kann. Wie verhält es sich, wenn das Gedächtnis nicht mehr vorliegen kann? Etwa weil der Leser ein viel zu spät geborener ist, der die Gesprächs-Aufführungen des Sokrates nicht miterlebt hat? Woran erinnern die Schriften dann? Es sind Schriften, die an etwas und jemanden erinnern, an den es kein Gedächtnis geben kann – Schriften, die als Gedächtnis setzen, was aus der Position einer gedächtnislosen Lektüre sich als eine Fiktion darstellte, könnte man diesen Begriff der Fiktion einfach und harmlos in Gebrauch nehmen. Wenn einmal von der Fiktionalität oder der „dichterischen“ Qualität der Dialoge ausgegangen wird, ist kaum mehr festzustellen, wo die Fiktion endet, wo die Fiktion umschlägt in die Wahrheit, sei es als wahrer Diskurs, sei es als Diskurs über die Wahrheit – was bei Platon zweierlei ist, einen doppelten Begriff der Wahrheit impliziert, als Aussagewahrheit der adaequatio rei et verbi und als die Wahrheit selbst, auf die der Diskurs referieren muß, um Anteil an der Wahrheit zu haben, ohne sie doch geben zu können. Der Grund des logos, auf dem aufbauend er sich zur sonnenhaften Wahrheit erheben kann, liegt nicht im logos selbst. Dieser gelangt bestenfalls zu einem hupotheton, zu einer heiklen Annahme, zu einer doxa (Meinung oder Vorstellung), die noch immer wahr oder falsch sein kann. Nur die Wahrheit selbst kann nicht falsch sein, die eidê können nicht falsch sein, der nous, der die eidê in den Blick nimmt, ist untrügerisch. Aber noch immer besteht die Gefahr, daß nicht noêsis ist, was sich für eine noêsis hält. Die Wahrheit kann nicht falsch sein, aber es kann sein, daß für Wahrheit gehalten wird, was nicht Wahrheit ist. Die Wahrheit, auf die der logos zu rekurrieren hat, zumal als dianoia, die am ehesten noch als „Denken“ zu übersetzen ist, ist nicht im logos zu finden. Auch nicht – oder schon gar nicht – im geschriebenen logos. Auch nicht im geschriebenen logos Platons. Schon gar nicht, wenn der Fiktionsverdacht die Dialoge Platons so weit infiltriert, daß es keinen Punkt mehr gibt, an dem dieser Verdacht sistiert und abgewiesen werden kann. Man könnte auf die Idee verfallen, die Wahrheit im logos anwesend zu machen. Dieses Bemühen wird scheitern – noch jede Aussage über den logos der Wahrheit wird sich daraufhin überprüfen lassen müssen, ob sie den Anforderungen an einen wahren Diskurs, an eine wahre Erkenntnis genügt. Platons Strategie ist eine andere, es ist die Strategie der Abwesenheit. Sokrates sagt, er wisse, daß er nichts wisse. Der Platz des Wissens wird als leer gesetzt, nicht aber als Platz, Ort, Raum aufgegeben. Es wird der Ort des Gedächtnisses sein, in dem sich die eidê eingeschrieben haben, wo sie aber als

EINLEITUNG | 17

ursprünglich Vergessene weder anwesend, im Sinne voller oder erfüllter Präsenz, noch auch vollkommen abwesend sind, da sie im Gedächtnis ihre Spuren hinterlassen haben, die keine reine Abwesenheit zu behaupten zulassen. Dieses Gedächtnis wird nicht zufälligerweise in den Dialogen mit einer Schrift verglichen. Daß das Schrift-Gedächtnis möglicherweise lügenhaft ist, ist ein Gedanke, der schon Diogenes Laertios dazu brachte, einen Aufstand des Sokrates gegen Platons „Lügen“ zu erzählen: Man erzählt auch, Sokrates habe nach Vorlesung des Platonischen Lysis gesagt: ‚Beim Herakles, was der junge Mensch doch alles über mich zusammenlügt.ü Der Verfasser nämlich hat mancherlei zu Papier gebracht, was Sokrates nie gesagt hat.3

IV. Zwischen Anwesenheit und Abwesenheit Platons Schreiben steht unter der Prämisse einer Abwesenheit des Wahrnehmbaren. Der Inbegriff der Abwesenheit ist Sokrates selbst, der Tote. Es ist keine vollkommene, absolute und reine Abwesenheit, unvermischt mit der Anwesenheit. Es ist eine Abwesenheit, die auf vormalige Anwesenheit verweist, um überhaupt eine Abwesenheit setzen zu können, eine Abwesenheit, die sich als Nicht-Anwesenheit zeigt, keine einfache Absenz, sondern eher eine Apräsenz. Eine vergangene Anwesenheit steht im Mittelpunkt, nämlich die Vergangenheit, die Sokrates ist, wenn Sokrates derjenige sein sollte, der einst anwesend war, als er durch Athen strich und seine Mitbürger ins Gespräch verstrickte. Dieses Schreiben wäre ein Gedächtnis-Schreiben, Schreiben gegen das Vergessen. Was dieses Schreiben aber nicht sicherstellen kann, ist, daß es tatsächlich an eine ehemalige Anwesenheit gebunden bleibt, auch bei denen, die neben den Schriften kein Gedächtnis haben an die vormalige Anwesenheit, denen Sokrates nicht abwesend präsent ist, da er ihnen niemals anwesend präsent war, da sie nicht anwesend waren, als er präsent war. Der Status der Schriften Platons schwankt zwischen dem Gedächtnis an einen vergangenen und dem Gedächtnis an einen Sokrates, der niemals da gewesen ist, der nicht anwesend war, bevor über ihn als Abwesenden geschrieben wird. Das Schreiben kann nicht sicherstellen, daß es eine Präsenz gab, bevor das Gedächtnis als Schrift ihn als abwesend präsentiert. Es ist nicht sicherzustellen, ob der Sokrates, den die Dialoge geben, wiedergegeben wird, ob er gelebt hat, oder ob er ursprünglich tot ist, ob seine Anwesenheit als Abwesender der Anwesenheit vorausgeht oder folgt. Diese Frage läßt sich als diejenige nach dem Referenten der Schrift stellen: Geht der Referent der Schrift voraus oder entsteht er aus der Schrift? Für die letztere Möglichkeit könnte man die Fiktionalität oder ursprüngliche poiêsis in den Raum stellen. Dies wäre vorschnell, weil die Unterscheidung zwischen „Fiktion“ oder poiêsis als Gegensatz zum Tatsachenbericht oder mimêsis sich alles andere als einfach treffen läßt. Gerade bei Platon lassen sich diese Zuschreibungen deswegen schwer durchführen, weil in beiden Varianten eine Gefahr lauert, die Platon mit den Lehren in Konflikt bringt, die in seinen Schriften ausgeteilt werden. Ist er ein 3

Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. von Otto Apelt, unter Mitarb. von Hans Günter Zekl neu hg. sowie mit Vorw., Einl. und neuen Anm. zu Text und Übers. vers. von Klaus Reich, 3. Aufl. mit neuem Vorw. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1990, 166.

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poiêtês, der sich der logoi bedient, um daraus etwas entstehen zu lassen – etwa die „Figuren“ seiner Dialoge – so unterliegt er den eigenen Urteilen über die Dichter und die Sophisten, die ihre Zuhörer ver-rücken, Phantasmen aus ihren logoi entstehen lassen, indem sie machen, was nicht ist, ursprünglich daran arbeiten, Täuschungen oder gar Lügen zu verbreiten. Ist er ein mimêtês, wird er dem Urteil anheimfallen, das die Maler und Tragödiendichter im 10. Buch der Politeia verurteilt. Dann gehört er zu denen, die die Dinge verdoppeln, zum Beispiel die Sonne, von der es dort heißt, daß sie von solchen Künstlern verdoppelt werden könne wie durch einen Spiegel, der herumgetragen wird. Gerade Platon ist es natürlich selbst, der die Sonne verdoppelt, nicht nur indem er aus der Sonne, die das Papier erhellt, auf dem er schreibt, die Sonne der Referenz macht, die diese Sonne durch das onoma nachahmt, der Beschreibung im Kratylos folgend, sondern vor allem durch das Sonnen- und Höhlengleichnis, in der die höchste Lehre, das megiston mathêma, als ein Double der Sonne vorgestellt wird, die Idee des Guten (idea tou agathou), die jenseits des Seins (epekeina tês ousias) leuchtet. Diese doppelte Sonne kann als Inbegriff für eine Bewegung bei Platon stehen, die nicht aufhört zu verdoppeln, doppelte Szenen im Sinne Derridas herzustellen, auf denen sich Doubles finden, bis sich kaum mehr entscheiden läßt, was das Double ist und was das Gedoubelte, was das Original ist und was die Nachahmung. Die Bewegung, die Derrida in La double séance zeigt, die das Original dem Abbild folgen läßt, durchzieht Platons Schriften im ganzen. Nicht nur das Verhältnis einer Schrift im eigentlichen Sinne, einer für Platon schlechten oder schlimmen Schrift, zu einer Schrift im uneigentlichen Sinne, einem „Schrift“-Gedächtnis in der psuchê, folgt dieser Bewegung. Immer wieder findet sich der Vorgang, daß etwas als Grundlage einer Analogie für höchste Lehren dient, um im Anschluß der Verurteilung zu unterliegen. Es ist ein Prozeß, der sich zwischen Bild und „Bild“ abspielt, zwischen Körper und psuchê, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Sehen und „Sehen“, zwischen Tod und „Tod“, zwischen eidos und „eidos“ – und nicht zuletzt zwischen Tragödie und „Tragödie“. Platon wirft den poiêtês mimêtai vor, die onta zu verdoppeln: aus der Sonne wie durch einen Spiegel eine zweite Sonne, aus einem Bett ein unwahres Bett zu machen und so weiter. Des Schreibers Platon Verdoppelung hingegen bezieht sich auf das Gedächtnis. Wo das Gedächtnis (mnêmê) eine Art Schrift ist, da ist die Schrift eine Art Gedächtnis, eine hupo-mnêmê, ein Unter-Gedächtnis. Dort verdoppelte Dinge, hier verdoppeltes Gedächtnis, beide mit Risiken verbunden: Das eine double – so Platon – droht denjenigen Teil der psuchê anzusprechen und in eine herrschende Position zwischen den Teilen der psuchê zu versetzen, der täuschungsanfällig ist, der sich überhaupt in der Täuschung befindet. Die Gedächtnis-Schrift hingegen droht ein Schein-Wissen zu produzieren bei denen, die unwissend lesen und die lesende Aufnahme für den Erwerb von Wissen halten. Also bedient sich Platon einer Methode, die dieses abzuschwächen versucht, indem er nicht auf das Vorliegen eines aktuellen Gedächtnisses bei den Lesern referiert, sondern sie in einen Raum schickt, der selbst – wiewohl sich als mimêsis ausgebend – eine poiêsis ist. Platon erinnert nicht an Sokrates, er macht ihn. Platon erinnert nicht an die Sonne, er macht eine zweite Sonne, die idea tou agathou der Politeia. Und er bedient sich dazu einer dritten Sonne, nämlich des graphischen Signifikanten hêlios. Dieser graphische Signifikant hat nunmehr die Eigenschaft,

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sowohl auf die Sonne zu verweisen als auch auf die „Sonne“ der idea tou agathou. Die Spaltung in zwei Welten verläuft mitten durch den graphischen Signifikanten. Wobei „graphisch“ beim Signifikanten bereits selbst wieder in sich gespalten ist, da es sowohl die geschriebene Schrift als auch die Schrift im Gedächtnis bezeichnet, ebenso wie „Signifikant“, da nunmehr sowohl der geschriebene Signifikant auf dem Papier als auch die an den eidê durch methexis oder mimêsis teilhabenden Einzeldinge zu Signifikanten der eidê werden. Einer dieser Signifikanten wird bei Platon sogar benannt: der Körper (sôma), der das Zeichen (sêma) für die psuchê sein soll (vergleiche Gorg. 493a). Der Abwesenheit des scheinbaren „Nicht-Mehr“, die Sokrates als Toten charakterisiert, entspricht ein „Nicht-Mehr“ der Präsenz der eidê, die beim Eintritt der psuchê in den Körper ursprünglich vergessen worden sind. Der Abwesenheit eines „Noch-Nicht“ der idealen Platopolis entspricht eine Abwesenheit des „Noch-Nicht“ der Wiedererinnerung der eidê. Der Abwesenheit des Schreibers als ein „Nicht hier, sondern anderswo, dort aber immer“ entspricht die Abwesenheit der eidê, die sich im Jenseits befinden, getrennt von den Einzeldingen, die mehr oder weniger Anteil haben an diesen eidê. Diese eidê sind zwar nicht zeitlich abwesend, aber sie sind örtlich, topologisch abwesend, von ihnen ist die Herkunft, zu ihnen geht der Weg, die Abkehr ist die Geburt, die Rückkunft der Tod. Keine dieser Abwesenheiten ist eine „reine“ Abwesenheit. Der Gang zu den eidê ist in den Dialogen (im Theaitetos) mit dem Bild der Geburtshilfe versehen worden Dort ist es ein selbst unfruchtbarer Sokrates, der bei seinen Hörern die Niederkunft der Erkenntnisse zu bewirken vorgibt: ein Schrift-Sokrates wohlgemerkt.

V. Apräsenz: Anwesenheit anderswo Grundthese dieser Arbeit ist, daß ein Schreiben über Theater, über eine Aufführung, die zu einem gewissen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort stattgefunden hat, und das metaphysische Schreiben oder das Schreiben der Metaphysik Platons sich darin treffen, daß beide Schriften mit einer unhintergehbaren Abwesenheit als Nachträglichkeit zu tun haben. Die Abwesenheit der Aufführung, die nicht wieder zur Anwesenheit kommen wird, trifft sich mit der Abwesenheit von Wahrgenommenem, über das Platon zu schreiben vorgibt. Der Ort der Schrift ist ein anderer Ort, an dem sich die ebenfalls anderen Orte des Theaters, der Physis und der Metaphysis nicht befinden. Über eine gesehene Aufführung zu schreiben heißt, im Bewußtsein zu schreiben, daß diese Aufführung nicht wieder vor Augen stehen wird. Es heißt auch, unter der Prämisse zu schreiben, daß ein Leser der Schrift über eine Aufführung diese möglicherweise niemals gesehen hat und nichts anderes haben wird als eine Vorstellung davon, wie die Vorstellung des Theaters ausgesehen haben könnte. Dabei ist eine einfache Gegenübersetzung von Anwesenheit und Abwesenheit nicht durchzuhalten, bedarf es vielmehr eines dritten, das weder anwesend noch abwesend ist, einer Apräsenz oder Anwesend-Abwesenheit. Um festzustellen, daß etwas abwesend ist, muß das Etwas hinreichend präsent sein, muß einst präsent gewesen sein oder präsent werden können. Die Abwesenheit ist ein Nicht-Mehr (etwa des Toten) oder ein Noch-Nicht (um das sich der Geburtshelfer Sokrates bekümmern wird). Diese Abwesenheit ist diejenige des Verschwindens und des künftigen Erscheinens, der zugleich

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noch die Abwesenheit des Nicht-Hier zuzuordnen ist, die Nachricht aus der Ferne. Von diesen drei Anwesend-Abwesenheiten zu unterscheiden ist diejenige, die die metaphysische Ontologie Platons verkündet: die Abwesenheit der eidê im Hades, die weder hier waren, noch hier sind, noch jemals hier sein werden. Sie sind immer, aber nicht hier. Zugänglich werden sie nur auf zweierlei Weise: sie selbst werden erfahrbar nach dem Tod, wenn die unsterbliche psuchê sich ins Jenseits begibt; ihre Nachbilder werden erfahrbar durch das Gedächtnis, in dem sich die Spuren der eidê eingezeichnet finden. Anlaß, dieses latente Gedächtnis zu aktualisieren, ist ein zweifacher: Zunächst (vor allem im Menon) ist es die aporia, die Sackgasse, in die eine Erörterung führt. Aus dieser Sackgasse heraus, aus dieser Stillstellung, beginnt der Blick sich in eine andere Dimension zu öffnen und zu erhellen. Der ratlose Blick auf sinnliche Gegebenheiten führt dazu, den Blick vom Sinnlichen abzuwenden und dem Noetischen zuzuwenden – das Höhlengleichnis der Politeia zeigt diesen Umwendungsprozeß im Bild an. Der zweite Weg, der später beschritten werden wird (vor allem im Timaios), besteht darin, die vorliegende sinnliche Wirklichkeit als Gleichnis für das Unvergängliche zu betrachten, als Gleichnis für die Dimension der eidê. Der Blick hat sich zu wenden, sich abzuwenden vom Sinnlichen hin auf dasjenige, wovon das Sinnliche eine mimêsis ist. Daß bei Platon selbst Hinweise zu finden sind, die es erlauben, von einer Theatralität zu sprechen, soll den Blick darauf richten, um was für eine Theatralität es sich handelt – eine Theatralität des Theaters ist es nicht in dieser Philosophie, die gerade das Theater ausgeschlossen hat. Es handelt sich vielmehr um die „Theatralität“ der Schrift, deren Voraussetzung die Abkehr von der aisthêsis ist. Auf der Grundlage der Abwesenheit, auf einer leergeräumten Bühne, führt Platon ein Schauspiel auf, das zwar mit dem Vokabular des Schauens und Sehens recht gut beschrieben werden kann und von Platon auch so beschrieben wird, zugleich aber den vermutlich schärfsten Gegensatz zum sinnlichen Schauen und Sehen darstellt, der sich denken läßt. Die Betrachtung des optischen Vokabulars, dessen Platon sich bedient, zeigt zweierlei: Erstens ist dieses Vokabular in verblüffender Konstanz und Frequenz in den Dialogen zu finden, auch und vor allem dort, wo der Zugang zur Wahrheit und den eidê als eine Art Methode vorgestellt wird. Der Weg zu den eidê, so kann zunächst gesagt werden, ist ein Seh-Weg. Zweitens ist das optische Vokabular von einer Spaltung durchzogen, die mitten durch die Vokabeln selbst geht, diese verdoppelt in ein sinnliches Sehen und eine Funktion des Intellektes, die nicht wirklich ein Sehen ist, sondern eher ein „Sehen“, eine Übertragung des Sehens oder eine Metapher. Dafür ist es wichtig, die Metaphorizität nicht einfach für eine Funktion der lexis zu halten, der Wortwahl also, sondern Metaphern auch als Übertragungen im Sinne von Analogien zu verstehen. Der nous ist kein Sehen, aber er ist analog zum Sehen verfaßt, ist damit behelfsweise als „Sehen“ gut zu charakterisieren. Daß der nous als ein solches „Sehen“ durch die Analogie Elemente des Sehens in sich aufnimmt, führt weiter dazu, daß das sinnliche Sehen, das gerade noch als Vor-Bild diente, im zweiten Schritt der Verurteilung und der Zurückweisung als Erkenntnismethode unterliegt. Dieser Doppelschritt von analogischer Aufnahme und nachheriger Verurteilung des Analogisierten findet sich durchgängig bei Platon, als Analogie von Schrift und „Schrift“, Körper und psuchê, Sehen und „Sehen“. Es ist eine Bewegung, die sich mit-

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ten durch die Vokabel eidos zieht, die zunächst nur die Form oder Gestalt des sinnlichen Körpers bezeichnet, später abgelöst (chôris) vom Körper in einer eigenen Dimension angesiedelt wird und die Ablehnung der körperlichen Dimension nach sich zieht. Genau diese Bewegung ist zu beachten, wenn von einer Theatralität der Schriften Platons gesprochen wird. Ist das Theater Vorbild und Modell seiner Lehre, so wird es doch die Verurteilung auf sich ziehen. Kaum eine andere Ablehnung ist schärfer als diejenige des Theaters – zumindest die Hypothese darf daran angeschlossen werden, daß diese Härte des Urteils als Hinweis verstanden werden kann, wie tief im Innern des platonischen Schreibens das Theater eingerichtet wurde. Dabei gibt es wahrscheinlich keinen schärferen Gegensatz als denjenigen zwischen der „Theatralität“ des platonischen Schreibens und dem Theater. Das Theater hat in der idealen Platopolis keinen Platz, weil es als Modell herhalten muß, ohne in seiner Modellhaftigkeit aufzufallen. Die Abwesenheit, mit der die Schrift zu kämpfen hat, als die Abwesenheit des Schreibers von seinen Schriften, des Lesers vom Schreiber, der jenem doch eigentlich lieber seine Reden in die psuchê „schreiben“ will (Phaidros), die Abwesenheit der Dinge, von denen die Rede ist, der Referenten also, wird durch die „Theatralität“ zu heilen versucht. Auf der Schrift-Szene sind der Sprecher-Schreiber (Sokrates) und der (Papier-)Hörer gleichermaßen anwesend, unterhalten sich in Präsenz miteinander über Dinge, die ihnen präsent sind. Sokrates als Inbegriff dieser Szene aber ist der Schrift weder anwesend noch abwesend, ist vielmehr anwesendabwesend. Die Schrift Platons selbst übernimmt die Schauspiel-Funktion, die im Timaios der Dimension der aisthêta zugeschrieben wird, oder die Funktion der Höhlenwand im Gleichnis der Politeia, die durch die Brückenfunktion der mimêsis Anwesendes auf Abwesendes verweisen läßt. Es bleibt die Frage, ob es sich dabei um Abwesendes als Nicht-mehr, als Noch-nicht, als Nicht-hier oder um eine reine Abwesenheit des Nie-und-Nirgends (und damit: Immer-und-Überall) handelt, um ein Theater, das der Vergänglichkeit nicht unterliegt, ein ewiges Theater also.

VI. Schrift und Theater Es ist nicht die Tragödie allein, mit der sich Platon kritisch bis ablehnend befaßt, sondern dies geschieht etwa auch mit der – im weitesten Sinne – philosophischen Konkurrenz, den Sophisten, über die hier und da Hohn und Spott ausgegossen wird. Dennoch ist die Konsequenz der Auseinandersetzung mit der Sophistik eine weit weniger radikale als diejenige der Auseinandersetzung mit der Tragödie. Nur für diese gilt explizit die Ausweisung aus der idealen Stadt, ihre Auslöschung in einem Raum, der von der philosophischen Erkenntnis organisiert wird. Daß diese palaia diaphora nicht in erster Linie aus dem von der platonischen Philosophie abweichenden Gehalt der Tragödiendichtungen entspringt, wird schon daraus ersichtlich, daß in den Dialogen gelegentlich Zitate von Tragödiendichtern als ernstzunehmende Sätze diskutiert werden, ähnlich wie Sätze Homers oder anderer Dichter – wobei Homer den Ausführungen in der Politeia zufolge selbst zu den Tragödiendichtern zu rechnen ist. Es sind also nicht unbedingt die falschen Lehren der Tragödiendichter, die Platon angreift, sondern der Zwist ergibt sich vor allem als ein Methodenstreit. Es ist vornehmlich die Art und Weise der Darstellung der Tragödie, in der Politeia unter dem Begriff der mimêsis gefaßt, der den Philosophen der Tragödie

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feindlich gegenüberstehen läßt – den Philosophen wohlgemerkt, der von seiner Philosophie sagt, daß sie die schönere und bessere Tragödie hervorbringe. Zugespitzt kann der Punkt, an dem sich bei Platon Tragödie und Philosophie unversöhnlich im Zwist gegenüberstehen, mit einem Namen benannt werden, der bereits in der mimêsis anklingt: Darstellung. Die Frage der Darstellung des Wissens – das Wissen spricht Platon den Tragödiendichtern, anders als einigen Sophisten, nicht grundsätzlich ab – läßt die Brüder aneinandergeraten, läßt den schreibenden Philosophen und den zeigenden Tragöden in die palaia diaphora gelangen. Das führt unmittelbar auf die Frage nach der Schrift bei Platon, die Frage nach der Beurteilung der Schrift zunächst, die zu dem wohlbekannten, nichtsdestotrotz aber ebenfalls hochgradig befremdlichen Urteil Platons über die Schrift im Verhältnis zur Philosophie führt. Dieses Urteil findet sich im Phaidros und im 7. Brief – und es steht der Schärfe des Urteils, das über die Tragödie verhängt wird, nur wenig nach. Die schriftliche Darstellung findet ebenso ihre Aburteilung, wie die tragische Darstellung – wenn auch aus anderen Gründen. Während aber Platon vermutlich keine Tragödien schrieb – jedenfalls keine Tragödien Platons erhalten sind oder irgendwo konkret erwähnt werden4 –, läßt sich doch eines schwerlich bestreiten: Platon schrieb, benutzte die Schrift zur Darstellung – vorausgesetzt, der Begriff der Darstellung wird nicht vorschnell mit dem der Repräsentation in eins gesetzt, was Platon in keiner Weise gerecht würde. Der alte Hader bahnt sich an als Zwist zwischen graphê und mimêsis – letztere ebensowenig einfach als Repräsentation oder „Nachahmung“ verstanden. Dabei ist allerdings zwischen den beiden Seiten der Demarkationslinie keine scharfe Ausschließlichkeit anzusetzen – es ist ebensowenig bestreitbar, daß der Tragödiendichter sich der graphê bedient, wie die Tatsache der Mimetik in Platons Schreiben zu übersehen wäre –, zeigt sich doch eben diese Mimetik in der Behandlung der verschiedenen Formen der mimêsis im dritten Buch der Politeia als durchaus selbstreferentiell, trifft den Schreiber Platon selbst. Platon, der Schreiber, der sowohl die Schrift als auch die mimêsis verurteilt, ist selbst nicht frei von der mimêsis in seinen Dialogen. Dabei scheint es allerdings, daß dieser mimetische Charakter seiner Schriften, seiner „Dialoge“ also, ein durchaus frei gewählter war, daß es eine freie Wahl war, etwa redende Figuren in den Schriften auftreten zu lassen, ihre Reden in einer Weise vor- oder darzustellen, die seiner eigenen Definition der mimêsis unterliegt, die darüber hinaus letztlich gar derjenigen Definition der mimêsis unterliegt, die gerade auf die Tragödie zutrifft und die mimêsis ausschließlich als Wiedergabe, Darstellung, Nachahmung der Reden der Figuren versteht. Das sollte allerdings nicht dazu führen, Platon vorschnell zum Tragöden oder Dramatiker zu erklären.

VII. Opsis und Logos Zu fragen ist nach dem Status des Wissens im Theater und dem Status des Theaters im Wissen an einem Punkt, wo sich dieses Verhältnis in einer grundlegenden Spannung darstellt, bei Platon nämlich. Der alte Hader ist der Streit zwischen opsis und logos, zwischen Sehen und Sagen. Daß Metaphysik 4

Ein Hinweis auf dementsprechende Ambitionen Platons findet sich bei Diogenes Laertios: „Auch mit Malerei gab er sich ab und mit dichterischen Versuchen, zuerst mit Dithyramben, dann auch mit Liedern und Tragödien.“ (Leben und Meinungen III, 5, 150)

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und Theater eine lange Verwandtschaft unterhalten, die insbesondere mit dem Verhältnis zum Sehen zu tun hat, hat Derrida betont: La philosophie et le théâtre sont liés dans une affinité turbulente et insistente: ces deux expériences ne privilégient-elles pas une certaine autorité de la présence et de la visibilité? Autorité du regard, autorité de l'optique, autorité de l'eidétique, du theôrein, du théorétique. Ce privilège de la théorie auquel on associe régulièrement, à tort ou à raison, la philosophie, c'est le voir, le contempler, le regarder. Depuis l'eidos platonicien jusqu'a l'objet ou l'objectivité moderne, la philosophie peut être lue – non seulement mais facilement – comme une histoire de la visibilité, de l'interprétation du visible. Voilà donc une destinée que la philosophie partage depuis son origine, de façon parfois très conflictuelle, avec les arts du visible et avec un certain théâtre. Mais si, depuis toujours l'invisible travaille le visible, si par exemple la visibilité du visible – ce qui rend visible la chose visible – n'est pas visible, alors une certaine nuit vient creuser d'abîme la présentation même du visible. Elle vient laisser place, dans la représentation de soi, dans la répétition de soi, à cette parole par essence invisible, venue du dessous du visible, comme le juif de Marie Tudor dans la mise en scène de Daniel Mesguich, qui, à la place du prompteur, venait souffler pour mettre le feu au visible. Il s'agirait donc de laisser la place à l'invisible au cœur du visible, au non théorisable au cœur du théorique, au non théâtral – comme au coup de théâtre – au cœur du théâtre. A partir de cette autorité du regard, de ce qu'elle sous-tend, nous pourrions suivre une série d'analogies entre théâtre et philosophie.5

Die Analogie zwischen Theater und Philosophie durch das Sehen zu verfolgen, ist das Ziel dieser Arbeit. Zugleich ist zu sagen, daß die Analogie und die affinité der Ursprung der palaia diaphora sind. Die Privilegierung der Präsenz, die Derrida der Metaphysik zuschreibt, ist der Ursprung der Theatralität des metaphysischen Schreibens Platons. Es ist der Versuch, die Abwesenheit, derer er sich nur allzu bewußt war, durch diese Theatralität zu überwinden. Die Geschichte der Philosophie kann, anders als die Geschichte des Theaters, gelesen werden, weil sie schriftlich verfaßt ist. Ein Stück weit soll die nach Derrida ‚facilement‘ zu bewerkstelligende Lektüre der Philosophie als Geschichte und Interpretation des Optischen hier geleistet werden – wobei die Sichtbarkeit der Schrift zu dieser Geschichte gehört. Im Zentrum der folgenden Untersuchung wird vor allem das Feld der opsis bei Platon stehen, hier verstanden als „Gesicht“, womit nicht die gegenwärtig überwiegende Bedeutung des Antlitzes (facies) gemeint ist, sondern dasjenige, was sich im Begriff des Gesichtssinnes (visus) noch erhalten hat aus der alten Bedeutung dieser Vokabel, das optische Vermögen mithin, wie das Gehör das akustische Vermögen benennt. Das Verhältnis der opsis zum Wissen steht auf dem Spiel und im Mittelpunkt. Hier finden die wesentlichen Operationen Platons statt, die wesentlichen Neuerungen, die ihn zum Begründer nicht nur der Metaphysik machen, sondern zum Begründer auch eines Verständnisses von Wissen, das im wesentlichen noch fortwirkt, sofern es ergänzt wird durch das Feld des logos als gesprochene oder – allerdings in 5

Jacques Derrida: Le sacrifice, in: La Métaphore (Revue) 1, printemps 1993, 53f.

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zweiter Linie – geschriebene Sprache. Inwieweit also – um eine Ausgangsfrage zu formulieren – hängt das Wissen damit zusammen, daß etwas gesehen wurde, daß sich etwas dem Auge dargeboten hat, daß es eine Erfahrung von etwas gibt? Wo hat der logos einzusetzen im Verhältnis zu dem Gesehenen, zur Erfahrung und inwieweit läßt sich ein Wissen konzipieren, das nur auf den logos aufbaut unter Ausschluß der opsis, ein – im weitesten Sinne – „rein logisches“ Wissen?

VIII. Opsis und Nous Eine sich aus dem Interesse am Theater herleitende Beschäftigung mit Platon trifft auf Bestandteile seiner Schriften, die im Wesentlichen mit dem Sehen verbunden sind, mit dem Sehen und seinem Verhältnis zum Intellekt im allerweitesten Sinne, darunter auch dem Sehen und der Schrift als wesentlichen Bestandteilen des Intellektes in diesem weiten Sinne. Es steht also das Verhältnis des Intellektes zur Wahrnehmung in Platons Interpretation zur Debatte, das Verhältnis, das im Blick auf das Theater als die Frage reformuliert werden könnte, ob das Verstehen dessen, was szenisch vorgeführt wird, im Blick, in der Wahrnehmung liegt, oder erst nachträglich durch intellektuelle Operationen geleistet wird. Als Ausgangspunkt dieser Überlegung dient die von Kurt von Fritz vorgestellte Formation aus Sehen (idein) und Intellekt (nous) bei Homer. Wie sehr diese Darstellung auch bestreitbar sein mag, und gelegentlich in Teilen bestritten wurde, kann sie doch in ihrer Pointierung als Bild dienen, die dem anderen Bild kontrastierend gegenübersteht, das sich bei Platon ergibt. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Bildern ist, daß bei Homer, und in der Folge in der vorsokratischen Philosophie, der nous in der anschauenden Wahrnehmung aktiv ist, während bei Platon eine strenge und unüberwindliche Grenze zwischen nous und wahrnehmender Anschauung besteht. Die Grenze, die sich bei Platon zwischen nous und opsis eingezogen findet, ist der logos, in dem der Philosoph sich einrichtet, aus dem heraus (topologisch verstanden) er hinabblickt auf die Dimension der optischen aisthêta und hinauf zu den „optischen“ noêmata. Die opsis ist nicht in der anschauenden Wahrnehmung aktiv, sondern benutzt letztere höchstens als (durch die Sinnlichkeit stark korrumpiertes) Gleichnis oder Analogon für den nous. Daß der nous bei Homer in der wahrnehmenden Anschauung enthalten ist, bedeutet allerdings dreierlei: Zunächst heißt dies, daß der nous nicht mit der Wahrnehmung identisch, noch auch eine Form von Wahrnehmung ist. Der nous ist mit der Wahrnehmung zusammen an der Erkenntnis gegenwärtig vor den Sinnen stehender Gegenstände beteiligt. Zweitens aber ist der nous nicht beschränkt auf die Wahrnehmung gegenwärtig vor den Sinnen stehender Gegenstände, vielmehr ist in ihm auch die vergangene Wahrnehmung aktiv, ist er der Ort, der die notwendigen Kenntnisse aus vergangenen Anschauungen bereithält, um sich mit ihnen auf eine gegenwärtige Wahrnehmung wiedererkennend zu beziehen. Der nous ist damit der Ort des Apräsenten, der sich vor allem auch (planend) auf Zukünftiges zu beziehen vermag, ist das Vermögen, im Anwesenden das Abwesende zu erkennen, wie Thomas Schirren über den nous bei Parmenides formuliert.6 Drittens läßt sich der 6

Vgl. Thomas Schirren: Aisthesis vor Platon. Eine semantisch-systematische Untersuchung zum Problem der Wahrnehmung, Stuttgart/Leipzig 1998.

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nous weder auf ein spontanes Intellektsvermögen eines („denkenden“) Subjektes festlegen, noch auch auf eine bloße Rezeptivität oder „intellektuelle Anschauung“. Der nous ist weder bloß rezeptiv, noch auch bloß spontan – das macht ihn so außerordentlich schwer begreifbar für ein neuzeitliches Verständnis. Noch bei Aristoteles ist die Rede von diesem Intellekt, der auch ein nous pathêtikos ist, ein „erleidender“ Intellekt, der in der Wahrnehmung Wissen wahr-nimmt. Die Hypothese, die an die Ausführungen zum vorplatonischen Verständnis des nous anschließen kann, ist die, daß dieses Konzept des Intellektes, des Wissens oder Erkennens mit der „szenischen Vernunft“ aufs engste verbunden ist, daß das Theater herrührt aus dieser epistemischen Formation, die Platon überwinden wollte. Theater ist der übriggebliebene Rest dieser vorplatonischen Koordination aus Intellekt/Vernunft und Wahrnehmung/Sinnlichkeit, aus Spontaneität und Rezeptivität, aus Aktivität und Passivität, aus aisthêsis und noêsis, aus Sehen, Verstehen und Erkennen, richtet sich gerade an das Vermögen, das Abwesende im Anwesenden zu erkennen, ohne den platonischen chôrismos zu fordern. Dabei ist die Bindung des nous an die optische Wahrnehmung auch Anlaß, letztere in ihrer Interpretation bei Platon in den Blick zu nehmen. Eine Korrelation aus opsis und nous findet sich auch bei Platon, allerdings eine von der Homerischen, wie sie von Fritz darstellt, wesentlich unterschiedene. Platon trennt diese Dimensionen streng durch den logos. In bildhafter Raffung (mit all den Schwierigkeiten, die dadurch überdeckt werden) lassen sich die Verhältnisse bei Homer und Platon folgendermaßen gegenüberstellen: Homer: idein ĺ gignôskein ĺ noein = idein Platon: idein || logos || noein Bei Homer läßt sich der Aufstieg vom Sehen (idein) über das differenzierende Erkennen (gignôskein) zum erkennenden und interpretierenden Verstehen (noein) insgesamt unter die Vokabel idein einbegreifen, wie von Fritz ausführt. Bei Platon ist der Prozeß nicht bruchlos und konkret. Der Philosoph, der sich „in die logoi“ (Phaidon) geflüchtet hat, betrachtet von dort aus die aisthêta und die noêmata. Die Gegenstände in der Dimension der aisthêta tragen dabei allerdings zumeist dieselben Namen, wie diejenigen in der Dimension des nous – was nicht verwunderlich ist, da die Einzeldinge an den wahren eidê teilhaben, sich nur dadurch unterscheiden, daß das eidos das „Ding an sich“ (autos) ist, zu dem sich die Einzeldinge als mimêseis verhalten. Dieses mimêsis-Verhältnis trifft aber auch auf die Vermögen zu, die sich auf die betreffenden Dinge richten: der nous ist eine mimêsis oder eine Analogie zur opsis. Dabei zeigt sich auch bei Platon, daß beide (nous und opsis) keine einfach rezeptiven Vermögen sind, sondern daß die opsis selbst, ganz anders als im neuzeitlichen Verständnis, eine Aktivität beinhaltet: das Auge sieht bei Platon nicht dadurch, daß von Gegenständen reflektiertes Licht einfällt, sondern indem das Auge einen Sehstrahl aussendet. Es ergibt sich für Platon aus der radikalen Trennung von opsis und nous die Schwierigkeit, diese zum Zwecke der Erkenntnis wieder zu überbrücken. Aus der Dimension der opsis im speziellen, der aisthêsis und der aisthêta, das körperhafte Diesseits zu machen, aus der Dimension des nous das körperlose, zeitlose Jenseits, in dem sich die reinen psuchai und die eidê befinden, macht den Tod zu einer absoluten Grenze. Die jeweils abwesende Dimension findet sich nurmehr als Spur anwesend, als Spuren des Körperlichen an der psuchê,

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die ins Jenseits kommt, als Spuren der eidê im Gedächtnis für die psuchê, die durch die Geburt in den Körper eingeschlossen wird und sich darum zu bemühen hat, diese Spuren der eidê durch anamnêsis wieder in ein präsentes Gedächtnis an die (weiterhin abwesenden) eidê zu überführen. Hier hat die Schrift Platons ihre Funktion, sofern es gelingt, auch diese Schrift zu entkörperlichen, aus der material-körperlichen Schrift, die vor Augen steht und der der Sinn abwesend ist, dessen Spuren sich nurmehr latent im Schriftkörper befinden, den Blick zu wenden hin auf den anderen Schauplatz, wo die Körper abwesend sind, dafür aber der Sinn sich präsent gibt. Der Sinn, als das eidos verstanden, ist der Schrift abwesend, sofern diese körperlich ist. Für die Schrift gilt dann, was für das Theater gilt, das für Platon allzusehr im Sinnlichen ist. Die Schrift ist für Platon so zu betrachten, wie die aisthêta, als Gleichnis einer anderen Schrift (des Gedächtnisses), an die diese Schrift erinnern soll. Nur aus der Gedächtnisschrift heraus können die eidê wieder in den Blick kommen, nur aus der Trennung des Gedächtnisses von allem Körperlichen kann das eidos als Sinn präsent werden – als etwas, das Platon selbst als Schauspiel beschreibt. Wenn es erlaubt ist, diese Korrelation aus Schrift und Gesicht, Herstellung einer opsis durch die Schrift als „Theatralität“ zu bezeichnen, dann nur unter der Voraussetzung, daß diese „Theatralität“ des platonischen Schreibens im speziellen und des Schreibens der Metaphysik im allgemeinen keinen größeren Gegensatz und Widersacher hat, als die körperhafte Theatralität des Theaters.

IX. Die körperlose Vernunft und das Haus des Seienden Die Schrift spielt im Zusammenhang von logos und opsis eine wesentliche Rolle, da auch sie sich dem Auge darbietet und ihm in der Wahrnehmung begegnet. So hat die Schrift eine Brückenfunktion zwischen der Dimension der optischen Wahrnehmung und der akustischen des Sprechens, sofern sie anschauliche Sprache wird. Sie wird eine Einschreibung des logos in die Dimension der optischen Wahrnehmung, scheint dabei den Graben zu überbrücken zwischen den horata und den noeta, den Gegenständen der aisthêsis und denen des Denkens, der Sinnlichkeit und dem Intellekt. Allerdings ist diese Brücke nicht unbedingt willkommen für die Philosophen, zumindest für den Philosophen Platon, dem es in die Augen sticht, daß die Schrift überhaupt noch zu den horata gehört, zu den sichtbaren Gegenständen. Eine weitere Brücke wölbt sich über den Graben, der sich zwischen sprachlich-schriftlicher und bildlich-graphischer Repräsentation oder Darstellung auftut, sofern die sprachliche Darstellung als die Benennung durch einen Namen verstanden wird, die bildliche als die Abbildung desselben Gegenstandes oder Referenten. Zwei Zeichen stehen nebeneinander, der Name und der Schattenriss. Die Schrift als „Bild“ des gesprochenen Namens ist kompatibel mit dem Schattenriss, kann auf der gleichen Seite Papier ihren Ort finden. In der graphê, in der Einritzung oder Gravur, die diese Vokabel bezeichnet, deutet sich eine überbrückende Supertheorie des Zeichens an, die ihre Möglichkeiten dann noch erweitert, wenn das Blatt Papier ersetzt wird durch einen anderen Träger der Schrift, einer anderen – nach Platon: besseren – Schrift, die durch die Stimme in die psuchê eingezeichnet wird. Diese Einschreibung in der psuchê schafft einen Text, der nicht prinzipiell verschieden ist von anderen Einschreibungen, etwa den Einschreibungen, die die Wahrnehmung in die psuchê vornimmt, in die Wachstafel der Erinnerung, von der im Theaitetos (191cff.) die Rede ist. Der logos und die opsis finden sich hier vereinigt in den

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Wachsabdrücken, auf einem gemeinsamen Träger aufgezeichnet. Nichts als graphai, Einschreibungen, Einzeichnungen oder Einritzungen finden sich im Gedächtnis der psuchê, wenn die Präsenz der Einzeichnenden vorbei ist, wenn die Stimme, die in die psuchê einzeichnete, nicht mehr tönt und das horaton nicht mehr sichtbar ist – weil es anderswo ist oder weil es nicht mehr ist, vorbei ist. Auch in der platonischen Grammatologie spielt die Absenz die zentrale Rolle – allerdings eine wesentlich metaphysische. Dem lesenden Auge bietet sich lediglich ein eintöniges Schwarz-aufWeiß dar, hier zum Beispiel, neuzeitlich reduziert gar noch auf sterile Drucktypen, eine aisthêsis, die auf ein Minimum reduziert ist, bestens geeignet, ein Denken zu fördern, das sich speist aus dem Traum von einer „reinen Vernunft“, einem „reinen Geist“, das also glaubt, ohne empirische Beimischungen auszukommen. Dem steht die aisthêsis im Theater – selbst wenn dieses nur Schwarz und Weiß ist – grundsätzlich gegenüber. Gerade diese aisthêsis von Theater war es, die dieses über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende immer wieder hat suspekt werden lassen, immer wieder auch zu Verboten des Theaters insgesamt, nicht etwa nur dieser oder jener Aufführung geführt hat, wie die Buchzensur dieses oder jenes Buch verboten hat. Oftmals im Mittelpunkt dieser Verbote oder zumal der Ablehnung von Theater steht der wahrnehmbare Körper, die Obszönität des Körpers, der nicht einmal obszönisiert werden muß, um obszön zu wirken, die Vertreter der Reinheit dabei daran erinnernd, daß auch sie selbst körperlich sind. Die Körper auf der Bühne sind von den Körpern im Zuschauerraum nicht grundsätzlich different – dennoch gelten die Körper auf der Bühne hier und da, dann und wann (und zu fragen, wann und wo genau, in welchem Zusammenhang also, wäre nötig, hier aber nicht zu leisten) bereits als obszön, wurden Frauen zeitweise nicht auf die Bühne – oder überhaupt nicht ins Theater – gelassen. Was genau sich der aisthêsis im Theater darbietet – so wesentlich es für Theater überhaupt ist, so wesentlich es also ist, daß nicht nur immer etwas, sondern immer anderes geschieht oder geschehen kann von Zeitalter zu Zeitalter, Jahr zu Jahr oder gar Abend zu Abend –, ist hier für die Benennung zunächst nachrangig. Das factum brutum der Ästhetizität, der ästhetischen Adresse nicht nur an den Gesichtssinn, den Gehörsinn, sondern überhaupt an die aisthêsis, reicht bereits aus, um die Gegenüberstellung in den Blick zu nehmen, die sich zwischen der platonischen Verfassung der Erkenntnis und der Tragödie entfaltet: theatron – der Schauplatz. Diese vereinfachende Einordnung reicht aus, um den Zwist zu entfesseln, in der Frage nach der Darstellung, im Unterschied zwischen dem Blatt Papier und der Szene, den Buchstaben und all dem, was auf der Szene stattfinden kann oder stattfindet. Es gilt, die Buchstaben im Blick zu behalten und das Blatt Papier, den Unterschied auch, der sich ergibt aus dem Verstehen eines Geschriebenen und eines Inszenierten, zwischen der Schreibschule und der école du spectateur. Eine Kritik der szenischen Vernunft läßt sich vermutlich nicht entwerfen, schon deswegen nicht, weil die Szene sich der „Reinheit“ entgegenstellt, die die Vernunft oder der Geist fordert, insofern also die Szene wesentlich „unrein“ ist, wenn sie auch – dem Diktum des Aristoteles gemäß – vielleicht als Abführmittel für das Unreine brauchbar sein soll. Was sich aber denken läßt, und wofür hier Vorarbeiten stattfinden sollen, wäre eine Kritik der Reinheit der Vernunft, die davon träumt, die aisthêsis aufgeben zu können, wie den Körper, dabei aber immer wieder eine Winzigkeit der aisthêsis zu unterschlagen tendiert: jene Schrift auf dem Blatt Papier, das Schwarz-auf-Weiß der

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minimierten aisthêsis, die nichtsdestotrotz aisthêsis bleibt.7 Diesen Gründungsakt des Denkens der Reinheit gilt es hier nachzuvollziehen und dabei den Blick wesentlich auf dasjenige zu richten, was in die Verbannung geschickt werden soll, wenn die ideale, das heißt mit dem Blick auf die Reinheit entworfene Stadt gegründet wird, die Tragödie: „Selbst also schlecht und mit Schlechtem sich verbindend erzeugt die Nachbildnerei auch Schlechtes.“ (Rep. X, 603b) Pointiert wäre zu sagen: Wenn die Sprache das Haus des Seins ist, dann wird das Theater schon immer das Haus des Seienden gewesen sein, das der Frage nach dem Sein des Seienden entgegengesetzt ist, sofern es die Präsentation des Seienden durchführt. Die Frage nach dem Denken des Reinen, das mit der Schwarz-auf-WeißSchrift vielleicht unauflösbar verknüpft ist, stellt sich vor allem dort um so schärfer, wo es darum geht, über das Unreine zu schreiben, als welches das Theater sich in dieser Beziehung präsentieren lassen muß. Wo es also darum geht, das Unreine zu „retten“ (ohne daß es gerettet werden müßte, es sei denn eben in dem Falle, daß darüber geschrieben werden soll), oder darauf zu reflektieren, was geschieht, wenn eine solche „reine“ Schwarz-auf-WeißSchrift in den Bereich des Unreinen eingeht; was geschieht, wenn die „reine“ Stimme, die schwarz auf weiß aufgezeichnet ist, plötzlich zur körperlichen Stimme wird, der Doppelpunkt, der den schwarz auf weiß geschriebenen Namen von der Aufzeichnung der „reinen“ Stimme trennt, verschwindet, der Name zu einem sprechenden Körper wird, der zitierbare Name zu einem gezeigten Körper wird, der spricht, der dann in der Beschreibung dieses Körpers wieder zu einem schwarz auf weiß geschriebenen Namen wird, schwankend zwischen einem Zitat des Schwarz-auf-Weiß des „Reinen“ und einer Beschreibung des Unreinen. Daß die Tragödie zwischen diesen beiden sehr vorläufig aufgezeigten Gebieten des Sprechens und der Bildermacherei angesiedelt ist, zeigen zwei Bemerkungen bei Platon. Zum einen gibt es im Gorgias (502b) einen sehr kurzen – wenn auch eigenartigen – Passus, der die Tragödie zum Gebiet der Rhetorik zählt. Zum anderen findet die Verurteilung der Tragödie in der Politeia auf einem sehr eigenen Herleitungsweg statt. Die Tragödie wird im 10. Buch nicht etwa direkt in den Blick genommen, sondern erst nach einer Herleitung, die ihren Anfang vom Spiegel her nimmt und über die Malerei fortfährt. Die Tragödie kommt hier also als primär optisches Phänomen vor, während sie im Gorgias als Phänomen der Reden im Blick war. Diese doppelte Behandlung der Tragödie deutet bereits ihre Funktion im platonischen Denken an, die Funktion der Brückenbildung zwischen der akustischen Dimension der Reden und der optischen Dimension. Eine ähnliche Stellung zwischen akustischem und optischem Bereich aber hat auch noch etwas ande7

In vielerlei Hinsicht bieten sich Verweise auf Kant an, an diesem Punkt insbesondere auf seine Behauptung, die Vernunftbegriffe korrespondierten keinerlei Anschauung. Es fragt sich also, ob das Lesen keine Anschauung darstellt, keine sinnliche Anschauung? Es wäre also zu fragen, was es mit den Begriffen auf sich hat, sofern sie in Schriftform begegnen. Das „Lesen“, befreit von jeder aisthetischen „Verunreinigung“, scheint sich hier zu transformieren zu einer reinen „intellektuellen Anschauung“ – die Kant in ihrer traditionellen Fassung selbstverständlich leugnet. Der Status des Buches als Ort des „Reinen“ wäre also im Zusammenhang mit der Metaphysik zu diskutieren, wobei nicht im Vordergrund steht, ob der Ort der Metaphysik das platonische Jenseits epekeina tês ousias ist oder schlicht und einfach die Bibliothek.

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res inne: die Schrift, wie sie Platon versteht, als ein „Bild der Rede“ (vergleiche Kratylos und Theaitetos). Die Brückenfunktion der Schrift stellt die vorläufige Gegenüberstellung zwischen akustischer und optischer Dimension sogleich wieder in Frage, da diese spezielle Schrift, die in aufgezeichneten Stimmen besteht, PhonoGraphie ist, in der Lektüre eine Eigenschaft aufweist, die man als phonogen bezeichnen könnte. Zugleich weist die phônê eine Eigenschaft auf, die eikonogen genannt werden könnte, eine bilderzeugende Funktion, die sich vor allem in der Auseinandersetzung mit der Dichtung, zumal im Ion bei Platon zeigt. Es wird um Reden gehen, die Anschauungen hervorbringen, wie um Anschauliches, das Reden entstehen läßt. Es gibt bei Platon offenbar so etwas wie eine inter-ästhetische mimêsis – ein seltsamer Begriff. Dies ist eine mimêsis, die vor Augen stellt, was nur gehört werden kann. Ungewöhnlich wird diese mimêsis, wenn sie nicht einzig und allein auf das spezielle Verhältnis von phônê und opsis gemünzt bleibt, wenn sich also denken läßt, daß sich mimêseis von nicht sichtbaren Gegenständen durch sichtbare Abbilder herstellen lassen. Das führt unmittelbar in den Bereich der metaphysischen Lehre Platons. Denn auch hier regiert eine solche eigenartige mimêsis, die Unsinnliches durch Sichtbares nachahmbar werden läßt – zum Beispiel eine wirkliche Stadt zur mimêsis einer idealen Stadt werden läßt. Genau diese mimêsis ist es, die Platon in den Nomoi als die Tragödie der Philosophen bezeichnet. Ähnlich ist auch der sinnlich wahrnehmbare kosmos eine mimetische Nachbildung des idealen kosmos, die der mythische Demiourgos ins Werk gesetzt hat. Vielleicht heißt es über das Ziel hinausschießen, zöge man daraus den Schluß, der platonische kosmos sei als eine Tragödie gedacht, denn dann würde letzten Endes die Tragödie – ausgeschlossen aus der idealen Stadt – zum universalen Prinzip erhoben. Das wäre zwar akzeptabel, da die Tragödie ihrer Sinnlichkeit wegen verurteilt wird – ähnlich wie die sinnlich wahrnehmbare Dimension als ganze – hätte aber dennoch zur Folge, daß der Philosoph, der die ideale Stadt oder gar den idealen kosmos entwirft, selbst nicht anders vorgehen könnte als ein Tragödiendichter und sich konsequenterweise selbst aus der idealen Stadt ausweisen müßte. Daß diese Konsequenz überspitzt formuliert ist, versteht sich von selbst. Es bleibt allerdings der Sachverhalt bestehen, daß die Tragödie in der idealen Stadt des Philosophen, die als Tragödie konzipiert ist, nichts zu suchen haben darf. Das formuliert Platon in den Nomoi unmißverständlich. Tatsächlich läßt sich denken, daß der Kosmopoiet außerhalb der Stadt seinen Ort hat – nicht in der Weise wie der ausgewiesene Tragödiendichter, sondern in einem Geheimraum der Stadt, in dem die zentrale Verfassung besprochen und gestaltet wird, worauf Szlezak hingewiesen hat: In den Nomoi ist bekanntlich nicht nur der Inhalt der Ausbildung der zur Herrschaft Berufenen vor der Kenntnisnahme durch die Unberufenen geschützt, sondern die bloße Tatsache des Ausschlusses muß den Ausgeschlossenen verborgen bleiben: hier fordert Platon, die klassentrennenden Strukturen gegenüber seinem ersten Staatsentwurf noch verschärfend, Geheimhaltung auch noch der Geheimhaltung. (Nomoi 961 b4-6 mit 952a7 und 968d e)8

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Thomas Alexander Szlezak: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin/New York 1985, 3.

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Das Verhältnis der Ausgeschlossenheit ist ein Doppeltes: die Wissenden schließen sich selbst aus der Gemeinschaft aus durch das Wissen, das sie besitzen, wie die Unwissenden aus dem Wissen ausgeschlossen sind. Wenn nun tatsächlich die ideale Stadt einer Tragödie, einer idealen Tragödie gleicht, die von Wenigen durch ein Geheimwissen regiert wird, so ließe sich konsequent auch die Forderung des Ausschlusses der Tragödie noch zu dieser Geheimhaltung der Geheimhaltung rechnen, von der Szlezak spricht: es darf dann den Regierten kein Hinweis auf die Tragödie gegeben werden, in der sie sich befinden, kein Hinweis auf die Spielleiter und kein Hinweis darauf, daß sie selbst lediglich Marionetten sind in diesem Stadt-Spiel. Seltsam genug, daß all dieses verraten wird in Platons Schrift, in den Nomoi.

PLATONS GESICHTER Eine Auseinandersetzung mit dem Sehen in den Dialogen Platons begibt sich auf ein vielschichtiges Feld. In den geschriebenen Dialogen läßt sich zunächst das Sehen ins Auge fassen, sofern es zitierbar ist. Es lassen sich die Textstellen auffinden, in denen dazu aufgefordert wird, etwas zu betrachten, ins Auge zu fassen, zu inspizieren, ebenso die Textstellen, in denen benannt wird, was gesehen wurde oder was zu sehen sein wird; und zuletzt lassen sich die Textstellen betrachten, die sich mit der Frage befassen, was denn das „Sehen“ eigentlich ist, wie es geschieht und wie es zu beurteilen ist. Bereits hier trifft die Suche auch auf eine Verwendung des Sehens, die man metaphorisch nennen könnte, die die Vokabeln aus dem Bereich der Sinnlichkeit in einen anderen Bereich überträgt, denjenigen des Noetischen. Es ist also aus den Fundstellen heraus zu unterscheiden, wie „Sehen“ im einzelnen verwendet wird, ohne daß dies immer genau zu klären ist. Die Schwierigkeit liegt darin, daß genau differenzierbar sein müßte, ob Platon an einer gegebenen Stelle unterscheidet zwischen einem Sehen mit körperlichen Augen und einem anderen Sehen, einem metaphorischen, analogen oder einfach nur homonymen Sehen, das mit anderen Organen in einer anderen Dimension – der noetischen – stattfindet; oder ob es sich um einerlei Sehen handelt, das lediglich von zwei verschiedenen Organen – dem Auge und dem nous – praktiziert wird; oder – drittens – ob es sich ganz und gar nicht um ein Sehen handelt, sondern lediglich um eine façon de parler, die keinen weiteren, tieferen Sinn hat, vergleichbar einer Redeweise im Deutschen, die sich „verblaßter“ Metaphern des Sehens bedient, um eine wissenschaftliche Betrachtung zu benennen, um die Formulierung von Ansichten im Sinne von Meinungen zu formulieren, um etwas ins Auge zu fassen, etwas einzusehen und so weiter. Ob das visuelle Vokabular als Visuelles für das Philosophieren Platons von Belang ist oder lediglich eine Verlegenheitslösung aus einem Mangel an geeigneten Ausdrücken, ist eine nicht eindeutig und abschließend zu entscheidende Frage. Ob Platon als ein „anschaulicher“ Denker und der Philosoph, der von Platon als Ideal vorgestellt wird, ein wesentlich Anschauender ist, oder ob es sich um ein in der Logik verankertes Denken handelt, das sich lediglich am Rande des optischen Vokabulars bedient, wird hier mit Präferenz für das Erstere behandelt. Im Wege einer Hypothese wird, aufbauend auf die überraschend hohe Frequenz von Ausdrücken aus dem Feld des Sehens, die Perspektive so gewählt, daß dieses Vokabular ernstgenommen wird.

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Sehen und Wissen Es besteht althergebracht eine enge sprachliche Verbindung zwischen Sehen (eidon – ich sah) und Wissen (eidô – ich weiß). Die griechischen Ausdrücke für Wissen und Sehen, eidenai und idein, sind abgeleitet von derselben Wurzel vid, die im Altindischen das Sehen bezeichnet, im Lateinischen zu videre und über das althochdeutsche wizzan zum Wissen wird.1 Die erste Person Singularis, oida, ließe sich sowohl als „ich weiß“ wie auch als „ich habe gesehen“ übersetzen. Bei Schleiermacher findet sich eidenai gelegentlich als „sehen“ übersetzt2, Bruno Snell formuliert knapp: „Das‚Wissen‘ (eidenai) ist ein Gesehen-haben.“3 Dieser Zusammenhang ist allerdings nicht nur sprachlich und durch verwandte Vokabeln begründet. Gérard Simon formuliert über das Verhältnis vom Sehen zum Wissen für die Erkenntnistheorie: „Die Geschichte des Sehens und die der Erkenntnis sind von sich aus miteinander verflochten.“4 Der enge Zusammenhang von Wissen und Sehen wird von Platon nicht einfach aus der Tradition übernommen, sondern seine Konzeption des Wissens führt einen bedeutsamen Unterschied ein. Zunächst unterscheidet Platon zwischen Sehen und „Sehen“, nämlich zwischen der sinnlichen Gesichtswahrnehmung und einer sozusagen wahrnehmungshaften Erkenntnis, die mit dem Sehen verwandt ist. Zudem wird, wie Wolfgang Wieland feststellt, im Übergang von der sinnlichen Wahrnehmung zur Erkenntnis und zum Wissen der logos eingeschaltet: Platon war […] der erste, der auf die Leistung aufmerksam gemacht hat, die man von einer Propositionalisierung erwarten darf. Jedenfalls ist man berechtigt, die

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2 3 4

Vgl. Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, 9., v. Karl Vretska durchges. u. erw. Aufl. mit einer Einl. zur Sprachgeschichte v. H. Kronasser, München/Wien 1954 (Nachdruck 1979), Eintrag eidô. eidon wird als Aorist von horaô (ich sehe) gebraucht, das wiederum in seinen Stammformen auch die Wurzel op-trägt, die sich nicht nur in opsis, sondern auch in omma (Auge/Augapfel) und ophthalmos (Auge/Augenhöhle) findet. Vgl. Charm. 173a: „[…] sage doch, damit auch wir sehen (eidômen), was du meinst.“; ähnlich Gorg. 497a: „damit du recht sehest (hina eidês)“. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 71993, 183. Gérard Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Mit einem Anhang: Die Wissenschaft vom Sehen und die Darstellung des Sichtbaren, übers. von Heinz Jatho, München 1992, 24. Ich werde mich besonders in diesem Kapitel eng an Simon anschließen, dessen Arbeit einen Durchbruch im Verständnis der antiken Theorien des Sehens bedeutet. Dabei soll das Verdienst David C. Lindbergs nicht geschmälert werden, allerdings zeigt sich Simons Kritik an ihm als berechtigt. An einigen Punkten gilt es auch, Simons Thesen zu korrigieren, so ist etwa die globale Behauptung, das Licht trete in antiken Theorien des Sehens „nie“ als Protagonist einer Theorie des Sehens auf (34) in dieser Form problematisch, da die Sonne bei Platon durchaus als Protagonist – besonders als Gleichnis der idea tou agathou – vorkommt. Zudem ist nicht immer ersichtlich, auf welchen der Theoretiker sich seine Thesen beziehen. Besonders Platons Theorie bedarf einer genaueren Auseinandersetzung.

PLATONS GESICHTER | 33 Zuflucht zu den Logoi im Sinne des „Phaidon“ (99e) als ältestes Dokument einer bewußt vollzogenen propositionalistischen Wende in Anspruch zu nehmen.5

Zu den Vorzügen der Propositionalisierung von Wissen, das einem nichtpropositionalen und eher „intuitiven“ Wissen gegenübersteht, zählt Wieland vor allem die Objektivierbarkeit, die den Träger des Wissens nicht zum Betrachtungsgegenstand einer Überprüfung des propositionalen Wissens werden läßt, und die „Bivalenz“ als die eindeutige Entscheidbarkeit zwischen Bejahung und Verneinung: Ist ein Satz als wahr identifiziert, so ist automatisch seine Negation als unzutreffend charakterisiert. Nur das propositionale Wissen sei des Irrtums fähig, während das nichtpropositionale Wissen mit der Abwesenheit von Wissen zu rechnen hat. Für das nichtpropositionale Wissen gilt: Ein solches Wissen kann nur präsent oder nicht präsent sein; wenn es aber präsent ist, dann hat es nicht die Gestalt einer Option für das Glied einer Alternative. […] Ein alternativloses Wissen ist […] nicht von der Art, daß es negiert werden könnte.6

Das nichtpropositionale Wissen ist in sich nicht homogen, läßt sich aber differenzieren unter den Schlagworten der „Evidenz“ oder „Intuition“ einerseits und dem „Können“ andererseits: In der Tradition wird häufig die Evidenz in Anspruch genommen, wenn es um Gestalten alternativlosen Wissens geht. In diesem Zusammenhang wird gerne die Metaphorik der Schau, der Erleuchtung und der Berührung verwendet, um die Irrtumsfreiheit des fraglichen Wissens zu kennzeichnen. Gewiß wird Evidenz bisweilen auch für die Gültigkeit bestimmter Sätze in Anspruch genommen. Doch ist das eher die Ausnahme. Der klassische Fall der Anwendung des Evidenzpostulats liegt jedenfalls vor, wenn Gestalten eines Wissens zur Debatte stehen, das nicht in Sätzen präsentiert und mitgeteilt werden kann. Jedem Evidenzpostulat folgt freilich der Vorwurf des Irrationalismus auf dem Fuße. Will man den Eigenarten nichtpropositionalen Wissens gerecht werden, empfiehlt es sich, vor allem diejenigen seiner Gestalten zu betrachten, die mit dem propositionalen Wissen weder die Bivalenz noch die Objektivierbarkeit noch die Gegenstandsbezogenheit gemeinsam haben. Dazu gehören beispielsweise Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kompetenzen und bewußtes Können, Urteilskraft, Gebrauchswissen und Erfahrung. Durch alle diese Gestalten des Wissens wird ihrem Inhaber Welt und Wirklichkeit erschlossen. Über alle kann mit Hilfe von Aussagen begründet geredet und argumentiert werden. Doch der Inhalt keiner dieser Wissensformen läßt sich in Gestalt von Aussagen präsentieren und einem anderen mitteilen.7

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6 7

Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, 2., durchges. und um einen Anhang und ein Nachw. erw. Aufl., Göttingen 1999, 228. Zur Differenzierung von propositionalem und nichtpropositionalem Wissen vgl. den §13 bei Wieland (224-236). Wieland: Platon, 229. Ebd., 229 und 230.

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Beide Formen nicht-propositionalen Wissens finden sich bei Platon, letztere unter den Resten von eidenai als Erfahrungswissen (auf die auch er nicht verzichten kann – versteckt etwa im Wissen des Sokrates über Handwerker, Ärzte, Maler und andere Künstler), sowie das Hervorscheinen und Lichten der Evidenz (etwa durch die idea tou agathou). Platon setzt nicht auf eine der beiden Alternativen von Propositionalität oder Nicht-Propositionalität, um die andere auszuschließen. Sein Unternehmen ist eher so zu verstehen, daß Formen des Nichtpropositionalen im Propositionalen aufgenommen werden. Das Sehen oder die Schau – von Wieland als ausgezeichnetes Beispiel der Metaphorik des Nichtpropositionalen angeführt – versieht er zwar nicht im Bereich der Sinnlichkeit mit methodischem Wert, wohl aber in metaphorisierender oder analogisierender Verdoppelung als omma tês psuchês. Zugleich erhält das propositionale Geben und Nehmen von logoi (dounai beziehungsweise dechomai logon) als dialektisches Gespräch seinen Wert. Besonders die Inanspruchnahme der Evidenz für die Gültigkeit von Sätzen deutet auf den Rest von Nichtpropositionalem, der auch im Propositionalen erhalten bleibt. Bei Platon ist das nicht zuletzt die Evidenz des szenischen Raumes, auf dem sich das Geben und Nehmen der logoi abspielt, wie die Evidenz des Raumes, der durch die logoi entworfen wird. Die „Anschaulichkeit“ der Dialoge ist der nichtpropositionale Anteil, der als nichtpropositional ernstgenommen werden sollte, anstatt ihn nur zum schmückenden Beiwerk zu erklären:8 Sokrates wird mit Hilfe der Techniken dramatischer Darstellung gezeigt und vorgeführt als jemand, der mehr als jeder andere über praktische Vertrauteit im Umgang mit Menschen und mit Reden verfügt, und der diese Vertrautheit im konkreten Fall immer wieder aufs neue durch die Tat bewährt.9

Ohne die Form des nichtpropositionalen Wissens einzuengen, kann doch das als „Gesehen haben“ verstandene Wissen in weiten Teilen mit diesem identifiziert werden, die „Evidenz“ als das „Herausscheinen“ (von e-videri), das enarges10 oder delos als Klarheit oder Durchsichtigkeit des logos, der sehen läßt.11 8

Die Propositionalität oder Nichtpropositionalität des Wissens im Theater in Betracht zu ziehen, ist eine Aufgabe, die erst nach der Auseinandersetzung mit Platon geleistet werden kann (wenn überhaupt propositional über nichtpropositionales Wissen geschrieben werden kann). In dieser Arbeit sollen dafür nur Voraussetzungen geschaffen werden. 9 Wieland: Platon, 236. 10 Nicht zu verwechseln, wiewohl es in der Tradition häufig geschehen ist, ist die enargeia (Deutlichkeit, Anschaulichkeit; von enargês: sichtbar, leibhaftig, anschaulich, deutlich, offenbar) mit der energeia (Wirksamkeit, Tätigkeit, Betätigung). Vgl. dazu Rüdiger Campe: Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Poststrukturalismus, hg. von Gerhard Neumann, 208225, insbes. 213. Zur Differenzierung zwischen energeia und enargeia und der Verwandtschaft zwischen enargeia und phantasia vgl. Alessandra Manieri: L’immagine poetica nella teoria degli antichi. Phantasia ed enargeia, Pisa/Rom 1998, bes. 97ff. Manieri stellt als Bedeutung der enargeia „illustratio, evidentia, ma con in più una qualità di animazione ed evidenza visiva, quasi di immagine in movimento“ (98f.) heraus. 11 Aus dieser Verflechtung kann allerdings nicht ohne weiteres auf ein generelles, zeitübergreifendes Fundierungsverhältnis geschlossen werden, denn das Sehen hat nach der Newton’schen Theorie des Netzhautbildes, der Theorie

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Bei Platon ist eidenai vor allem ein Kennen, in das das vergangene Sehen mündet. Was einmal gesehen wurde, ist bekannt.12 Es bezieht sich auf eine vergangene Erfahrung, eine Erfahrung in der Vergangenheit, die nicht vom Gedächtnis zu trennen ist.13 In dieser Bedeutung findet sich oida beispielsweise im Phaidon: „Du kennst (oistha) ja wohl den Mann [das ist Apollodoros; A.d.V.] und seine Weise.“ (59af.). Diese Form des Wissens ist kein logisches oder sprachliches Wissen, sondern eine Vertrautheit mit Dingen oder Menschen, eine gespeicherte Erfahrung, ein nichtpropositionales Wissen. Daß ein Wissen vorhanden ist, impliziert nicht notwendig, daß es sprachlich formuliert werden kann. Das ist der bedeutende Impuls der frühen Dialoge, insbesondere des Laches und der Apologia: diejenigen, die zu wissen glauben, sind nicht in der Lage, ihr „Wissen“ sprachlich zu formulieren. Die Feldherren Nikias und Laches wissen auf die Frage, was Tapferkeit sei, nicht zu antworten – ob sie über ein Wissen um die Tapferkeit verfügen, ist aus diesem Mangel aber nicht abzuleiten. Der Zwang des Sokrates gegenüber seinen Gesprächspartnern besteht in der Forderung, ihr scheinbares Wissen zu formulieren, und daran scheitern sie regelmäßig. So heißt es etwa von den Dichtern: Von ihren Gedichten also diejenigen vornehmend, welche sie mir am vorzüglichsten schienen ausgearbeitet zu haben, fragte ich sie aus, was sie wohl damit meinten, auf daß ich auch zugleich etwas lernte von ihnen. Schämen muß ich mich nun freilich, ihr Männer, euch die Wahrheit zu sagen: dennoch soll sie gesagt werden. Um es nämlich gerade heraus zu sagen, fast sprachen alle Anwesenden besser als sie selbst über das, was sie gedichtet hatten. (Apol. 22b.)

Die Dichter sind zwar in der Lage, Gedichte zu verfertigen, sind aber nicht in der Lage, über ihre Gedichte Auskunft zu geben, ein Charakteristikum, das Wieland für das nichtpropositionale Erfahrungswissen festhält: Erfahrung […] ist ein Wissen, das sich nicht objektivieren läßt. Der Erfahrene kann sich von seiner Erfahrung nicht distanzieren, und er kann nicht über sie verfügen. Er kann zu seiner Erfahrung niemals eine Einstellung einnehmen, die der Einstellung vergleichbar wäre, mit der sich der Inhaber propositionalen Wissens zu Sätzen und Aussagen verhält.14

der Lichtvermitteltheit des Sehens und der Frage nach der Natur des Lichtes selbst eine Reduktion auf einen anderen Sinn gefunden, nämlich auf das Hören und den Schall. Am deutlichsten findet sich diese Analogie aufgestellt bei Christian Huygens in seiner 1678 erschienenen Abhandlung über das Licht. 12 Vgl. auch Gemoll, Eintrag oida: „1.wissen, verstehen, kennen […] den Weg nach jeder Richtung kennen; […] eidôs mit legein, didaskein verbunden: mit Gewißheit sagen, zeigen können. 2. sich auf etw. verstehen, können […]. 3. gesinnt sein […]“. 13 Bekanntlich wird in den Dialogen diese Erinnerungs-Gebundenheit der Erkenntnis der Wahrheit wiederum, allerdings auf andere Weise, ins Spiel gebracht, im Begriff der anamnêsis, der Wiedererinnerung. Vgl. Menon und Phaidon. 14 Wieland: Platon, 230.

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Allerdings gelingt es auch Sokrates in den frühen Dialogen nicht, ein propositionales Wissen aufzustellen. Die Aporie der frühen Dialoge,15 die Niederlage sowohl der Gesprächspartner als auch des Sokrates vor der gestellten Formulierungsaufgabe, schafft damit – wie es der Menon lehrt – ein Problembewußtsein. Der Sokrates der frühen Dialoge wäre nicht schlecht charakterisiert als Philosoph, der auf der Suche nach Propositionen über das (nichtpropositionale) Erfahrungswissen ist, der die (erfahrenen) Feldherren nach der Tapferkeit befragt, die Freunde Lysis und Menexenos (im Lysis) nach der Freundschaft und den Sophisten Protagoras über die Sophistik.16 Beim Überblick über das Vokabular des Sokrates in den Dialogen zeigt sich, daß oida und eidenai in der Formation des platonischen Wissens keine terminologische Funktion zukommt.17 Es steht eher in Verbindung mit der doxa als mit einem strenggefaßten Begriff von Wissen, das einem Anspruch auf Wahrheit genügt. Eher wäre eidenai als mit der Meinung verwandt zu verstehen, wobei die Meinung (doxa) selbst wieder auf der Wahrnehmung gründet. So kann sich eidenai nicht nur aus dem falschen Schein speisen, das heißt ein vorgebliches Wissen von etwas sein, von dem es gar kein Wissen geben kann, sondern es gibt auch den Schein von Wissen, wie die sokratische Formel andeutet: Nichtwissend zu wissen meinen. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann [ein Staatsmann; A.d.V.] bin ich nun freilich weiser (sophôteros). Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches (kalon kagathon) wissen (eidenai); allein dieser doch meint zu wissen (oietai eidenai), da er nicht weiß (ouk eidôs), ich aber, wie ich eben nicht weiß (ouk oida), so meine ich es auch nicht (ouk oiomia). Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein (sophôteros einai) als er, daß ich, was ich nicht weiß (mê oida), auch nicht glaube zu wissen (oude oiomai eidenai). (Apol. 21d)18

Der Zusammenhang zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem Wissen (der Erkenntnis), das heißt dem Wissenscharakter des Gesehen-Habens, findet sich insbesondere im Theaitetos thematisiert, wo die Frage zur Debatte steht, ob epistêmê und Wahrnehmung einerlei seien (163aff.). Die erste Folgerung aus der Annahme der Einigkeit von epistêmê und Wahrnehmung wäre: „Wer nun etwas gesehen hat (idôn ti), der hat eine Erkenntnis (epistêmên) bekommen von dem, was er gesehen hat (eidon) […]“ (Theait. 163e). Daraus aber ist zu schließen, daß dasjenige, was gesehen wurde, nur noch im Erinnern (memnêmai) vorliegt, das heißt eben nicht mehr vor Augen steht: „Es folgt also, daß jemand das, wovon er Erkenntnis bekommen hat, indem er sich dessen erinnert (memnêmenon), doch nicht erkennt (epistasthai), weil er 15 Gemeint sind hier vor allem die Dialoge Charmides, Laches, Protagoras, Menon. 16 Erst am Ende des Menon, der „Flucht in die logoi“ im Phaidon und in der Politeia wird über das Charakteristikum der Hypothetik des logos, der nicht über den Charakter der Annahme und Bedingtheit hinauskommt, das Nichtpropositionale wieder zum Gegenstand der Suche, als das an-hupo-theton, das NichtBedingte. 17 Bei Platon-Sokrates findet sich statt dessen vor allem die technê oder das dunasthai, eine eher handwerkliche Fähigkeit oder Fertigkeit, die epistêmê als ein Vermögen oder auch das gignôskein als Erkenntniserwerb. 18 Die gleiche Formulierung findet sich im Charm. 166cf., wo Sokrates sagt, er habe davor Angst (phoboumens), daß ihm dieses selbst zustoßen könne.

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es nicht sieht […]“ (Theait. 164b). So wird die Verbindung von sinnlicher Wahrnehmung und Wissen problematisiert, wenn nicht gar gänzlich ad absurdum geführt. Um die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrnehmung und Erkenntnis oder Verstehen zu verschärfen bedient sich Sokrates auffallenderweise hier des Beispiels der Schrift: SOKRATES: Sollen wir also eingestehen, was wir durch Sehen wahrnehmen (tô horan aisthanometha) oder durch Hören (tô akouein), daß wir alles dieses auch zugleich verstehen (epistasthai)? Zum Beispiel, Ausländer, deren Sprache (phônên) wir noch nicht gelernt haben, sollen wir leugnen, daß wir die hören (akouein), wenn sie darin sprechen (phtheggôntai)? Oder sollen wir sagen, daß wir sie nicht nur hören (akouein), sondern auch das verstehen (epistasthai), was sie sagen? Ebenso, wenn wir Buchstaben (grammata) noch nicht kennen (epistamenoi), doch aber unsere Augen auf sie richten (blepontes), sollen wir behaupten, daß wir sie nicht sehen (ouch horan), oder daß wir sie auch verstehen (epistasthai), wenn wir sie doch sehen (horômen)? THEAITETOS: Dasselbige an ihnen, o Sokrates, was wir sehen (horômen) und hören (akouomen), werden wir auch zu verstehen (epistasthai) behaupten, daß wir nämlich von letzteren die Gestalt (schêma) und Farbe (chrôma) sehen (horan) und auch erkennen (epistasthai), von jenen aber die Höhe und Tiefe hören (akouein) und auch wissen (eidenai!!!); daß wir aber, was von beiden die Sprachlehrer (grammatistai) und Dolmetscher (hermenês) lehren, weder wahrnehmen (aisthanesthai) durch das Sehen (horan) und Hören (akouein), noch also auch verstehen (epistasthai). (Theait. 163bf.).

Gerade am Beispiel der Schrift und der gehörten Sprache läßt sich zeigen, daß Platon in keinem Falle auf nichtpropositionales Wissen verzichten kann. Das Verstehen der Sprache läßt sich schlechterdings nicht propositional lehren, ebensowenig wie das Lesen-Können einer Schrift einem propositionalen Wissen entspringt. Um eine gehörte Sprache verstehen zu lernen, bedarf es eines hermêneus, um eine Schrift lesen zu lernen eines grammatistês, eines Lehrers also, womit sich ein Hinweis auf Wielands Bestimmung findet, daß dieses Wissen als (Erfahrungswissen oder Können) eben nicht vom Träger des Wissens zu lösen ist – die Schrift ist, wenn sie überhaupt nütze ist, nur denjenigen hilfreich, die zuvor schon zu lesen wissen. Die Personengebundenheit des Wissens zeigt sich – wie auch Wieland betont19 – gerade in der Figur des Sokrates, an den Platon die Propositionen bindet: Sokrates ist nicht zuletzt ein „Könner“ in Sachen Gesprächsführung. Im Phaidon läßt sich auch der Grund erschließen, der einer Gründung der Lehre Platons auf dem Erfahrungswissen des eidenai entgegensteht: das eidenai des Wahren (und nicht nur des Sinnlichen) ist im Leben nicht möglich, hieße es doch, im Vollbesitz der Erkenntnis zu sein, die als Erfahrungsbesitz nicht von verschiedenen Lebensaltern abhängig ist, und diese nicht vergessen zu können. Platon sucht einen statischen Wissensbegriff, eine ktêsis (Besitz): Und daß wir, wenn wir sie nicht immer wieder vergäßen, nachdem wir sie bekommen, auch immer wissen (eidotas aei gignesthai) und uns ihrer das ganze Leben 19 Vgl. „§14: Das Wissen und der Wissende“ bei Wieland: Platon, 236-252.

38 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN hindurch bewußt (eidenai) sein würden. Denn das heißt ja wissen (eidenai): eine empfangene Erkenntnis besitzen (epistêmên echein) und nicht verloren haben? oder heißt das nicht vergessen, o Simmias: Verlust einer Erkenntnis? — Auf alle Weise, sagte er, o Sokrates. — Und wenn wir, meine ich, vor unserer Geburt sie besaßen und sie bei der Geburt verloren haben, hernach aber beim Gebrauch unserer Sinne an solchen Gegenständen eben jene Erkenntnisse wieder aufnahmen, die wir einmal schon vorher hatten, ist dann nicht, was wir lernen heißen, das Wiederaufnehmen einer uns schon angehörigen Erkenntnis? und wenn wir dies wiedererinnern nennen, werden wir es nicht richtig benennen? (Phd. 75df.)20

Dem Leben entspricht nur das Schwanken zwischen Erinnern und Vergessen, während das Wissen der vom Körper getrennten psuchê eignet. Hier deutet sich allerdings auch eine Ambiguität gegenüber eidenai bei Platon an: ist eidenai zwar selbst nicht von begrifflich grundlegender Funktion bei Platon, so ist es doch die grammatikalische Stammform für das eidos, die platonische Idee. Als eidos ist dem eidenai die Funktion keinesfalls abzusprechen, nur ist zweierlei dabei nicht außer acht zu lassen: zunächst die relative Isoliertheit vom eidenai in den Darlegungen über das eidos (das eidos korreliert dem noein und nicht dem eidenai) und zugleich die Verbindung, die es zum idein aufrechterhält, zum Sehen, nicht zuletzt durch die zu eidos synonym verwendete Form idea.

Das Sehen zwischen aisthêsis und nous Daß das Wissen von der Gesichtswahrnehmung nicht einfach getrennt werden kann, ein Wissen im Sehen präsent ist, hat Kurt von Fritz in seiner Untersuchung des nous in vorplatonischen Schriften gezeigt. Für Homers Verwendung schreibt von Fritz: Der Ausdruck idein bezeichnet all die Fälle, in denen etwas durch den Gesichtssinn zu unsrer Erkenntnis kommt, einschließlich den Fall, in dem dieser Gegenstand unbestimmt bleibt: z.B. ein grüner Fleck oder ein brauner Fleck, dessen Gestalt wir nicht recht unterscheiden können. Der Ausdruck gignôskein andererseits bezeichnet im besonderen die Erkenntnis dieses Gegenstandes als ein bestimmtes Etwas: etwa eine Staude oder ein Erdhügel oder ein Mensch. Die Erkenntnis schließt natürlich die Einordnung des Gegenstandes unter einen allgemeinen Begriff ein. […] Der Ausdruck noein bezeichnet dann einen weiteren Schritt in der Erkenntnis des Gegenstandes: etwa die Erkenntnis, daß dieser braune Fleck nicht nur ein Mensch ist, sondern ein im Hinterhalt liegender Feind. Verwenden wir unsere moderne Terminologie, so ist natürlich diese letztere Erkenntnis ein rein geistiger Akt und gehört nicht eigentlich der Sinneswahrnehmung an. Die homerischen Griechen dachten nicht in solch abstrakten Begriffen.21 20 Über die Erinnerung, die im Angesicht sinnlicher Gegenstände wieder aufzuscheinen beginnt, das heißt den Zusammenhang des Schauspiels am huperouranios topos mit seinem Abbild vgl. unten Kap. Theatralitäten der Schrift. 21 Kurt von Fritz: Die Rolle des NOUS, in: Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, hg. von Hans-Georg Gadamer, Darmstadt 1968, 265 f. Was hier unter einen Aufsatztitel zusammengefaßt wurde, ist von Kurt von Fritz 1943 und 1945 in drei Aufsätzen in englischer Sprache veröffentlicht worden. Der erste Teil heißt Nous und Noein in den Homerischen Gedichten, die anderen beiden Tei-

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Entscheidend an dieser Ausführung ist nicht allein die Stufung vom idein zum noein, die einen Aufstieg impliziert und – modern gesprochen – eine Interpretation einführt22, sondern vor allem auch die Bemerkung über die „moderne Terminologie“ – denn hier liegt der Unterschied zwischen der neuzeitlichen Fassung der Vernunft oder des Intellekts und der platonischen Fassung des nous: einen „rein geistigen Akt“ scheint es bei Platon eben gerade nicht zu geben oder jedenfalls nicht geben zu sollen.23 Der nous ist vielmehr in einer Art „Anschauung“ anwesend, zunächst nur in der sinnlichen Anschauung (aber nicht als sinnliche Anschauung), die im Akt der Identifizierung und Interpretation voranschreitet. Bruno Snell bezeichnet den nous als „Organ der Ein-Sicht“ und schreibt: „Nóos ist gleichsam ein geistiges Auge, das klar sieht“. 24 Bei Platon-Sokrates wird der nous zu einer eigenen Form von „Anschauung“ werden, getrennt von der Dimension der sinnlichen Anschauung – aber er wird die Struktur aus seiner optischen Herkunft übernehmen. Wenn der Wissensbegriff des eidenai als „gesehen haben“ interpretiert werden kann, dann wäre dem der neuzeitliche Begriff des Wissens entgegenzustellen, der in Anlehnung an den ersteren umformuliert werden könnte: Wissen heißt gelesen haben. Die Festigkeit, die die eidê bei Platon im Jenle NOUS, NOEIN und ihre Ableitungen in der Vorsokratischen Philosophie (Mit Ausschluß des Anaxagoras). 22 Naheliegend wäre hier eine Erinnerung an Erwin Panofskys Drei-StufenSchema aus Vor-ikonographischer Beschreibung, Ikonographischer Analyse und Ikonologischer Interpretation. Dabei ist die wahrscheinlich schwierigste Stufe die erste, die eben in einer jeden Beschreibung bereits über das „Indefinite“, von dem von Fritz spricht, hinaus sein muß, da sie es sonst nicht benennen könnte: „Grüßt mich ein Bekannter auf der Straße durch Hutziehen, ist das, was ich unter einem formalen Blickwinkel sehe, nichts als die Veränderung gewisser Einzelheiten innerhalb einer Konfiguration, die einen Teil des allgemeinen Farben-, Linien- und Körpermusters ausmacht, aus dem meine visuelle Welt besteht. Wenn ich, wie ich es automatisch tue, diese Konfiguration als ein Objekt (Herr) und die Detailveränderung als ein Ereignis (Hutabziehen) identifiziere, habe ich bereits die Grenzen der rein formalen Wahrnehmung überschritten und eine erste Sphäre des Sujethaften oder der Bedeutung betreten.“ (Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie (1939/1955), in: Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme, hg. von Ekkehard Kaemmerling, 6., überarb. Aufl., Köln 1994, 207) Aber genau in dem identifizierenden Automatismus, den Panofsky hier postuliert, liegt die Problematik – denn wenn in der ersten Stufe bereits ein unkontrollierbarer Automatismus oder Schematismus stattfindet, muß sich die Frage anschließen, wie hier Fehlschlüsse vermieden werden können, die als Folgefehler den Rest der Interpretation bedrohen. Noch deutlicher formuliert Wittkower diese Problemlage: „Ich muß wohl kaum betonen, daß jegliche Wahrnehmung Interpretation ist. Jede erste sinnliche Erfahrung beim geläufigen Sehakt und bei der Betrachtung eines Kunstwerkes ist selbstverständlich identisch. Ohne Interpretation erscheinen uns ebenso die uns umgebenden Gegenstände wie ein Bild an der Wand als unverständliche Umrisse und Farbkleckse.“ (Rudolf Wittkower: Die Interpretation visueller Symbole in der bildenden Kunst, in: Ikonographie und Ikonologie, hg. von E. Kaemmerling, 228.) Als petitio principii für die Bildinterpretation in der schreibenden Zunft mag diese Formulierung hingehen, ob sie aber zu einem Gesetz erhoben werden sollte, scheint doch mehr als problematisch. Denn es gäbe dann keinerlei Korrektiv der Interpretation. 23 Die sophistische Methodik des exelegchos weist noch am ehesten in die Richtung des modernen „rein geistigen Aktes“. Dieses Verfahren ist nicht auf Anschauung oder Evidenz, sondern lediglich auf logische Herleitungen und Widerlegungen gegründet, insofern eher „rein geistig“. 24 Snell: Entdeckung, 22f.

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seits haben, ihre „Ewigkeit“, wird von der fixierten Fassung des propositionalen Wissens abgelöst, das Wieland als die Form des neuzeitlichen Rationalismus identifiziert, demgegenüber das nichtpropositionale Wissen, das weder vom Träger des Wissens abstrahieren, noch aus dem räumlich-örtlichen Kontext ganz gelöst werden kann, als „Irrationalismus“ verworfen wird. Die neuzeitliche Funktion und der Ort der Schrift im Wissen oder des Wissens in der Schrift ist eine gänzlich andere als die Funktion und der Ort der Schrift im Verständnis des Wissens von Platon. Was mit wahrheitsfähigem „Wissen“ noch am ehesten zu identifizieren wäre, ist der Bereich, den Platon für den nous reserviert, das obere Erkenntnisvermögen, das sich im Wesentlichen dadurch auszeichnet, daß es eine Art Speicher ist und einen inerten Inhalt hat, der zwar veränderbar ist, etwa durch die anamnêsis (wieder-)erfüllt werden kann, der sich aber selbst nicht in Bewegung befindet, anders also als die dianoia, die als ein (leise)sprechendes, unterscheidendes und verbindendes Denken, als Vermögen der dihairesis und sunthesis zu bestimmen ist. Es ist ein neuzeitlicher Gegensatz, der Sinnlichkeit und Verstand zu zwei völlig getrennten Vermögen macht. Das aber reicht noch nicht, um die Differenz zu Platon zu markieren. In seiner Untersuchung der Theorie der psuchê bei Platon kommt Stefan Büttner zu dem Ergebnis, daß auch die Trennung von Affekt und Vernunft bei Platon nicht in der Weise vorliegt, wie sie seit dem 18. Jahrhundert im Sinne einer Opposition begriffen wurde. Die Unterstellung, es gebe bei Platon eine Spaltung der psuchê in einen „bewußten, kalt-rationalen und einen unbewußten, geistfrei-irrationalen Teil“ wird von Büttner zurückgewiesen.25 Die psuchê ist sehr wohl unterteilt in ein logistikon (Erkenntnis durch Wissen), ein epithumêtikon (Erkenntnis durch Wahrnehmung) und ein thumoeidês (Erkenntnis durch Meinung)26, ist also dreigeteilt. Keinem einzelnen dieser drei Teile aber würde die Zuweisung von Affekten gerecht werden, wenn sie dabei einem anderen der Teile abgesprochen würde. Vielmehr hat jeder der drei Teile der psuchê seine Affektivität: Jeder der drei Seelenteile ist auf seine Weise erkennend, fühlend und wollend tätig. Das Epithymetikon erstrebt körperbezogene Lüste, die Begleiter der durch den Körper vermittelten Erkenntnisse (Wahrnehmungen) sind; das Thymoeides erstrebt Lüste, die durch die Meinung entstehen, daß sich die Seelenteile untereinander gerecht verhalten bzw. daß der Staat gerecht geordnet ist, so daß die Bürger ihre spezifischen Fähigkeiten einsetzen können; das Logistikon erstrebt rein geistige Lüste, die aus der Kenntnis über Unveränderliches (Wissen) resultieren und in der Praxis den Maßstab für richtiges Handeln abgeben können.27

Büttner schränkt allerdings das Denken auf das krinein ein,28 auf das Unterscheiden, was so lange unproblematisch ist, wie das Denken als dianoia verstanden wird. Die dianoia ist selbst nicht komplett unsinnlich: Ihr Bereich ist die akoê, das Gehör, da die dianoia ein Gespräch der psuchê mit sich selbst ist, das sich in die phônê abbilden kann. Der dianoia kommt im Wesentlichen 25 Vgl. Stefan Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen/Basel 2000, 127. 26 Die deutschen Formulierungen nach Büttner: Literaturtheorie, 35. 27 Büttner: Literaturtheorie, 99. 28 Vgl. ebd., 128.

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das Unterscheidungsvermögen zu. Oberhalb der dianoia aber befindet sich ein weiteres Vermögen, wobei „Vermögen“ hier eher im Sinne eines Besitzes oder eines Reichtums zu verstehen ist: der nous als „Auge der psuchê“ (omma tês psuchês). Dabei allerdings stellt sich die Frage nach der Rationalität des nous: Dazu kommt, daß Platon selber, z.B. im Liniengleichnis, nicht nur zwischen den Unterscheidungsvermögen des Denkens und der Wahrnehmung differenziert, sondern auch innerhalb des Denkens nochmals das Vermögen des Intellektes (nous) von dem Vermögen der Ratio (dianoia) abgrenzt, wobei er den Intellekt der Ratio überordnet. Wenn Platon davon spricht, daß der Enthusiasmus ein nicht-rationales Phänomen ist, so ist damit also nicht notwendig ein Phänomen des sinnlichästhetischen Bereiches gemeint, sondern es könnte auch auf die über der Ratio gelegene Intellektivität hingewiesen sein.29

Läßt sich nun der nous in einen Begriff von „denken” einordnen, den er sich mit der dianoia teilen müßte? Oder verhalten sich dianoia und nous vielmehr zueinander wie Denken und Wissen/Erkenntnis? Als Leithypothese wird dies hier angenommen, ergänzt um die Hypothese, daß dieses Wissen des nous – als nichtpropositionales im Sinne Wielands – in der Struktur der Wahrnehmung, insbesondere der optischen Wahrnehmung, konzipiert ist, daß also die Benennung des nous als Auge der psuchê mehr ist als eine beiläufige Metapher. Über den nous im dreistufigen Modell bei Homer schreibt von Fritz: Hochinteressant […] ist der Bezug zwischen dem Begriff des noein und dem Begriff der Wahrnehmung. Snell, Krause und viele andere haben mit Recht die Tatsache betont, daß in der griechischen Sprache der Begriff des noein eine besonders enge Beziehung zum Begriff des Sehens hat.30

Der nous, so von Fritz, dringe unter die sichtbare Oberfläche in die wahre Essenz der beschauten Gegenstände vor. Die Betonung liege dabei immer auf der Visualisierung einer gegebenen, sinnlich vor Augen stehenden „Situation“ als eines Ganzen, nicht auf der graduellen Hinführung zu dieser Situation: „Jede volle Erkenntnis einer Situation schließt eine geistige Schau ein, die nicht nur tiefer dringt, sondern auch ‚weiter sieht‘, sowohl räumlich wie zeitlich, als unsere Augen.“31 Von Fritz erwägt, noein im Sinne von „planen“ zu übersetzen, den nous als „Plan“, der weiter in die Zeit und den Raum hineinsieht, als die körperliche Sicht. Von Fritz geht dem nous in der vorsokratischen Philosophie weiter nach. Die Verwendung bei Homer faßt er spezifizierend zusammen: Die Verwendung des Wortes idein ist so breit, daß es all die Fälle bezeichnen kann, in denen etwas durch den Gesichtssinn zu unserer Kenntnis kommt, ein29 Ebd., 11f. 30 Von Fritz: Die Rolle des NOUS, 265. 31 Ebd., 272. Von Fritz leitet nous und noein vom „Schnüffeln“ ab, eine Etymologie, die keine große Zustimmung in der Diskussion gefunden hat. Er betont aber zugleich, daß bei Homer zumeist noein mit dem Gesichtssinn verbunden ist.

42 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN schließlich (a) des Falles, in dem der gesehene Gegenstand unbestimmt bleibt […] (b) des Falles, in dem ein bestimmter Gegenstand gesehen und identifiziert wird; und (c) des Falles, in dem die Bedeutung eines Gegenstandes oder seines Tuns in einer gegebenen Situation erkannt wird. Das Wort gignôskein wird gebraucht, wo der Fall b klar vom Fall a unterschieden wird, d.h. wo die Tatsache betont wird, daß ein bestimmter Gegenstand erkannt und identifiziert wird (besonders nachdem er zuerst als unbestimmte Gestalt gesehen und nicht erkannt wurde). Der Ausdruck noein unterscheidet Fall c von den ersten beiden Fällen und wird vor allem dann verwendet, wo die Erkenntnis eines Gegenstandes zur Erkenntnis einer Situation führt, besonders einer Situation von großem Gefühlsgehalt und großer Gefühlsbedeutung. […] Aus dieser Grundbedeutung von noos und noein haben sich verschiedene abgeleitete Bedeutungen entwickelt, die sich bereits bei Homer beobachten lassen. 1.

Da dieselbe Situation verschiedene „Bedeutung„ für Personen verschiedenen Charakters oder verschiedener Lebensumstände haben kann, so entwickelt sich der Begriff, daß verschiedene Personen oder verschiedene Völker verschiedene nooi haben […]

2.

Eine gefährliche Situation oder eine Situation, die in anderer Weise die Person, die sie erfaßt, tief berührt, legt oft unmittelbar einen Plan nahe, ihr zu entrinnen oder der Situation zu begegnen. Dieser sich im Anschluß an die Situation im Geiste aufdrängende Plan [im englischen Text steht hier: „visualisation“; A.d.V.], der gewissermaßen die Entwicklung der Situation in die Zukunft erstreckt, läßt sich dann ebenfalls als Funktion des noos erklären, so daß die Begriffe noos und noein die Bedeutung des „Plans“ oder „Planens“ erhalten können. Mit dieser abgeleiteten Bedeutung der Wörter tritt ein willensmäßiges Element in den Begriff von noos und noein ein […]

3.

Eine andere Ableitung der ursprünglichen Bedeutung bleibt im rein geistigen Gebiet.[… Die] tiefere Einsicht wird dann ebenfalls als Funktion des noos empfunden. Ein anderes Beispiel dafür bildet der Fall, in dem eine Person z.B. plötzlich erkennt, daß schlechte Einsichten hinter einem anscheinend freundlichen Gesicht verborgen liegen usw.

4.

In den unter 3. beschriebenen Fällen ist üblicherweise vorausgesetzt, daß der noos, der hinter die Obenflächenerscheinung tritt, die wirkliche Wahrheit entdeckt. Es kann dann in dieser Situation keine verschiedenen nooi geben, sondern der noos ist in diesem Fall offensichtlich nur einer. Was aber wichtiger ist: mit dieser Bedeutung des Ausdrucks noos scheint in naiver Weise irgendwie die spätere Unterscheidung vorausgenommen zu sein, die so wichtig werden sollte in der präsokratischen Philosophie, zwischen einer Erscheinungswelt, die wir mit unseren Sinnen erfassen, die aber trügerisch sein kann, und einer wirklichen Welt, die sich hinter den Phänomenen verbirgt.

5.

Noch eine andere Ausweitung der Bedeutung von noos, die in enger Verbindung mit den unter 2. und 3. beschriebenen Fällen steht, ist der noos, der „ferne Dinge gegenwärtig macht“. In dieser Verbindung scheint noos die Vorstellung zu bezeichnen, durch die wir Situationen und Gegenstände uns vergegenwärtigen können, die räumlich und zeitlich entfernt liegen.

6.

Im Negativen ist es wichtig, die Tatsache zu betonen, daß noos und noein bei Homer niemals „Verstand“ oder „verstandesmäßiges Schließen“ bedeuten. […]

PLATONS GESICHTER | 43 Im Gegenteil kommt die Wahrheit immer als eine plötzliche Intuition. Die Wahrheit wird plötzlich „gesehen“.32

Es gibt also ein Inklusionsverhältnis von gignôskein und noein im idein. Die Vokabel für das Sehen impliziert die ersteren beiden, solange diese nicht dem ersten Eindruck widersprechen.33 Der nous ist keine Wahrnehmung im neuzeitlichen Verständnis von sinnlicher Wahrnehmung, oder von aisthêsis im Sinne Platons. Darauf weist schon die im Konzept des nous enthaltene „Vergegenwärtigung von Abwesendem“ hin. Dennoch weist er Verwandtschaftsbeziehungen zur aisthêsis auf, die mit seinem Charakter der Wahr-Nehmung zu tun haben. Der nous nimmt die Wahrheit hin, wie die aisthêsis die Gegenstände hinnimmt. Wie sich eine „Rezeptivität“ durch den nous im intellektuellen Bereich findet, so gibt es eine Spontaneität in der aisthêsis, die unterscheidend und kritisch zu Werke geht. Daran schließt sich die Frage nach dem Konzept von aisthêsis an, deren Wörterbucheintrag eine für das moderne Verständnis von Wahrnehmung eigenartige Doppeltheit umgreift: Aisthanomai 1. Mit den Sinnen wahrnehmen, empfinden, spüren […] 2. Übertr. mit dem Geiste wahrnehmen, beobachten, (be)merken […]34

In der aisthêsis ist die Verdoppelung, die Platon durch das Konzept des nous als „Auge der psuchê“ bewerkstelligen wird, bereits am Werke. In der aisthêsis liegt die Übertragung in den Bereich des nous schon vor. Handelt es sich dabei um eine Übertragung im Sinne eine Metapher – oder hat die aisthêsis selbst ein Erkenntnispotential? In einer Untersuchung zur Aisthesis vor Platon hat sich Thomas Schirren damit befaßt, wie sich das gesamte Feld der aisthêsis, vorsokratisch verstanden, zum Feld des Intellektes verhält, wie sich also die beiden differenten Einträge im Wörterbuch ins Verhältnis setzen. Er zeigt, daß der Kern von aisthanesthai vor Platon weniger in einer Gegenüberstellung zum Intellekt verstanden wird, sondern zunächst in der Verbundenheit mit der Anwesenheit. Zur aisthêsis bei Thukydides schreibt Schirren: Da Sehen zum Beweis der Gegenwart dient, indem, wer gesehen wird, da ist, und wer da ist, gesehen wird und sieht, bekundet sich in der Sinnesleistung die Gegenwart schlechthin. Insofern wird der Gegenwart durch die Sinne ein Beweis zuteil, der zwar zirkulär, aber eben deswegen auch nicht zu überbieten ist.35

32 Ebd., 277-281. 33 Dieses Verhältnis ist dem von phantasia und aisthêsis bei Aristoteles nicht unähnlich: Dort würde sich die anfängliche aisthêsis in ein phantasma verwandeln, wenn sich herausstellte, daß die aisthêsis falsch war. Was Aristoteles vom phantasma ausführt, ist dem sehr ähnlich, was von Fritz dem nous zuschreibt, nämlich die Vergegenwärtigung von Abwesendem (Punkt 5) im Sinne einer Imagination, den Ausschluß des schlußfolgernden logos und das Aufscheinen eines Plans im Sinne eines Ent-Wurfes für das Zukünftige. Zum phantasma bei Aristoteles s. u. Kap: Aristoteles: Wahrnehmung, Phantasma, Intellekt. 34 Gemoll: Eintrag aisthanomai. 35 Schirren: Aisthesis vor Platon, 22.

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Schirren betont die „Plötzlichkeit“ des Konstatierens, das mit dem Konzept von aisthanesthai verbunden ist.36 Dabei richtet es sich als sehende Wahrnehmung (opsis) nicht alleine auf sinnliche Gegenstände, sondern ist etwa bei Thukydides durchaus auf Gegenstände „nicht konkreter Natur“ bezogen.37 Für Thukydides lautet Schirrens Konklusion: „Wie gezeigt, verfehlt es das Bedeutungspotential von aisthanesthai, wenn man bloße Wahrnehmung von darauf aufbauendem Erkennen, zumal im Sinne der Reflexion scheiden möchte: der ‚wache Sinn‘ beinhaltet beides zusammen.“38 Die nahezu identische Konklusion für Herodot lautet: „Demgemäß liegt aisthanesthai das semantische Potential eines Die Wirklichkeit-mit-einem-wachen-Sinn-Erfassens zugrunde.“39 Interessant ist die Fortführung bei Parmenides, zu dem es bei Schirren heißt: „Noein wird oft mit ‚denken‘ wiedergegeben. Aus dem […] Ausgeführten ergibt sich, daß noein in Analogie zur Wahrnehmung einen Gegenstand hat; freilich ist sein Gegenstand besonderer Art: denn es ist sich zugleich sein eigener Gegenstand.“40 Das noein ist in Analogie zur Wahrnehmung konzipiert und daher – nach Schirren – weniger ein „Denken“ denn ein „Erkennen“ im Sinne eines ‚Ausmachens, was ist‘.41 Der nous – analog zur Wahrnehmung, aber keine auf die Gegenwart gerichtete Wahrnehmung – sieht Abwesendes als „das der oder durch Reflexion Anwesende […] So erkennt der noos im Anwesenden das Abwesende.“42 Nirgendwo in den vorplatonischen Entwürfen der Philosophie scheint die Trennung der aisthêsis von der Erkenntnis so streng, wie bei Platon als dessen „Leistung“ sich diese Trennung zeigt. Schirren schreibt in seiner Zusammenfassung: Da sich im Zuge der Untersuchung deutlich abzeichnete, daß aisthanesthai nirgends die generelle Bedeutung ‚wahrnehmen‘ im modernen Sinn aufweist, sondern entweder eine gewisse Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber den Dingen (die ihrerseits nicht darauf festlegbar ist, auf welchem Wege beachtet und bemerkt und vernommen wird) oder aber ein ‚elementar‘ zu verstehendes Affiziertwerden in fachwissenschaftlichen Schriften des [Corpus Hippocraticum], liegt in der Platonischen Interpretation der aisthêsis als ‚Wahrnehmung‘ im modernen Sinn offenbar Platons eigene Leistung.43

36 Ebd., 31 37 Ebd., 39. Als Beispiele gibt Schirren hier: „Die Menadier sehen (horôntes) die Entschlußkraft des Brasidas bereit.“ Und „die Spartaner sehen (horôntes) das Vernunftwidrige“. 38 Ebd., 63. 39 Ebd., 98 (Hervorhebung im Original). 40 Ebd., 194. 41 Ebd., 199. 42 Ebd., 207. 43 Ebd., 261. Der Bezug auf das Corpus Hippocraticum meint: „Es zeigt sich also aus diesen Theorien, daß zwar zwischen phronêsis und aisthêsis unterschieden wird, daß die Trennlinie aber nicht durch ‚Körperlichkeit‘ gegeben ist. Indem alles auf physiologische Prozesse zurückgeführt wird, unterscheidet sich ‚Denken‘ von ‚Wahrnehmen‘ nicht durch das Verhältnis zu den Dingen, sondern es scheint, als ob phronêsis ein Sinn unter anderen ist. Aisthanesthai figuriert hier als ein allgemeiner Begriff der Affizierung, die sowohl dem ‚Denken‘ als auch dem ‚Wahrnehmen‘ zugrunde liegt.“ (ebd., 109; Sperrung im Original).

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Die „Plötzlichkeit“ der aisthêsis findet Schirren bei Platon im megiston mathêma wieder, in der „Idee des Guten“, die er mit dem zentralen Anliegen der ungeschriebenen Lehren Platons identifiziert.44 Der logos spielt in den Konzeptionen des Erkenntnisprozesses oder der plötzlichen Einsicht offenbar keine Rolle. Den Umbruch markiert nach Schirrens Analyse Heraklit: Die Einführung des neuen Begriffs der psuchê in die Erklärung der Welt erlaubt es Heraklit, auch in seiner Epistemologie den Bezug zur Weltstruktur, wie sie durch den Logos geschaffen wird, direkt herzustellen. Der tiefe logos der Seele […] kann nicht ohne den Weltlogos gedacht werden.45

Zu klären bleibt nun das Verhältnis des obersten Erkenntnisvermögens, des nous, zur aisthêsis bei Platon und vor allem zur opsis. Dabei sind verschiedene Entwicklungsstufen in der Abfolge der Dialoge zu unterscheiden. In den frühen Dialogen kommt nous vornehmlich unterminologisch vor, begreift vor allem eine (geforderte) Aufmerksamkeit, eine Planung und eine Erinnerung.46 Für die spätere Verwendung, insbesondere in der Politeia und dem Sonnengleichnis schreibt Gerhard Jäger: [D]as horan steht nicht nur als sinnliche Wahrnehmung in einem scharfen Gegensatz zum noein, sondern es ist durch die Art und die Bedingung seines Vollzuges zugleich hervorragend geeignet, den Vorgang des noein in einer Analogie zu verdeutlichen. Wenn es im Phaidon heißt ho de autê hora, so ist damit der psuchê eine Art Sehen als Erkenntnistätigkeit zugesprochen, die aber nur im übertragenen Sinne verstanden werden kann, da sie sich ja auf ein noêton und aides richtet. Worin nun die unbeschadet des Gegensatzes bestehende wichtige Parallele zwischen horan und noein liegt, das wird im Sonnengleichnis im einzelnen ausgeführt. Wie wir beim Sehen den Eindruck einer unmittelbaren Begegnung mit dem Gegenstand haben, so handelt es sich auch bei dem erstmaligen Erfassen der ideai um eine momentane und unmittelbare Erkenntnis, um eine Art Erblicken auf geistiger Ebene.

Der nous als höchstes Erkenntnisvermögen steht in „scharfem Gegensatz“ zur opsis, läßt sich zugleich aber als „Analogie“ der opsis verdeutlichen. Ähnlich wie Schirren beschreibt Gerhard Jäger die Konsequenz für den Bildgeber der analogischen Übertragung: die aisthêsis hat den Preis zu zahlen. Sie wird nach dem Fungieren als Bildgeber verdammt und verurteilt. Der aisthêsis wird die Fehlerquelle der Erkenntnis zugeschrieben. Jäger bemerkt, es sei bei Parmenides für mögliche Fehlurteile der nous selber verantwortlich, bei Platon dagegen die aisthêsis die entscheidende Fehlerquelle. Mit dieser Ansicht freilich setzt Platon ebenfalls eine bereits bei den Vorsokratikern bestehende Tendenz fort: die immer schärfer werdende Trennung der Bereiche des aisthêton und des 44 Vgl. ebd., 266. 45 Ebd., 168; Sperrung im Original. 46 Vgl. Gerhard Jäger: „Nus“ in Platons Dialogen, Göttingen 1967 (Hypomnemata 17), 13f.; die beiden folgenden Zitate ebd., 13f. und 173f.

46 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN noêton. […] Die Trennung des aisthêton-Bereiches vom noêton-Bereich und die entsprechende Trennung der Erkenntnisweisen ist bei Platon viel radikaler vollzogen als jemals vorher.

Das double des Gesichts als opsis ist der nous, der in analoger Begriffskonstruktion im Deutschen vielleicht noch am ehesten (wenn auch eher schlecht heideggernd) als „Gewiss“ zu übersetzen wäre. Zur Dimension des „Gewiss“ gehören: eine Fähigkeit (noêsis), entsprechende Gegenstände (eidê oder ideai) und das zugrundeliegende intellektuelle Vermögen (nous). Es fehlt dabei allerdings noch das vierte Element: das Licht der idea tou agathou, die der Sonne nachgebildet wurde. Als Lichtmetaphysik hat dieses Modell eine lange Tradition, die etwa von Hans Blumenberg und Werner Beierwaltes beschrieben wurde.47 Dieser Tradition der Erleuchtung und Lichtung des Seins wäre aber eine Gesichts-Metaphysik beizuordnen.48 Der Bewegung der Verdoppelung eines Seienden zum Sein, die hier im Verhältnis von opsis und nous gezeigt wurde, ist bei Platon nahezu alles unterworfen. Die Übertragung von Charakteristiken, die an einem paradeigma aus dem Bereich des Erfahrungswissens gewonnen wurden, auf einen gesetzten Gegenstand aus dem noetischen Bereich ist eine Grundbewegung, die aus der Schrift die „Schrift“ des Gedächtnisses, aus der Stimme die „Stimme“ des Denkens macht, Ergebnisse aus der Diskussion der Behandlung des Körpers (nicht ausschließlich im medizinischen Sinne von „Behandlung“) auf die Behandlung der psuchê übertragen läßt. Am Ende solcher Übertragungen pflegt aber bei Platon verurteilt zu werden, was verdoppelt wurde, damit das aus der Übertragung gewonnene Nach-Bild in den gebührenden Glanz und auf den gebührenden Platz gestellt werden kann. Als einer dieser Bereiche der Verdoppelung soll in den folgenden Kapiteln die opsis betrachtet werden. Es soll gezeigt werden, wie das Vokabular des Sehens die Grenzen des Bereichs der aisthêsis überschreitet, die Grenzen zunächst erweitert werden in das Noetische hinein, bis – im Phaidon – die Grenze erneut streng gezogen wird, der nous die Charakteristiken der opsis übernimmt, zugleich aber die sinnlich-körperliche opsis der Verdammung anheimfällt. Dabei bleibt der Verdacht, daß diese Strategie der Verdoppelung des Seienden und ihrer Wahrnehmung letztlich dort endet, wo das Theater verurteilt wird: in der mimêsis, die alle Dinge verdoppelt, indem sie Bilder macht. Jedes Bild trägt bei Platon eine Differenz, die es von seinem Vorbild unterscheidet: SOKRATES: […] Wären dies wohl noch so zwei verschiedene Dinge wie Kratylos und des Kratylos Bild, wenn einer von den Göttern nicht nur deine Farbe und Gestalt nachbildete, wie der Maler, sondern auch alles Innere ebenso machte wie das deinige, mit denselben Abstufungen der Weichheit und der Wärme, und dann auch Bewegung, Seele und Vernunft, wie dies alles bei dir ist, hineinlegte und mit ei47 Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit, in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Ausw. und Nachw. von Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2001, 139-171. (Zuerst in: Studium Generale, 10 (1957), H. 7, 432-447) und Werner Beierwaltes: Lux Intelligibilis. Untersuchung zur Lichtmetaphysik der Griechen, München 1957. 48 Zu Heideggers Entwicklung des Begriffs der „Lichtung“ aus Platons Ideenlehre vgl. Martin Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, 2., durchges. Aufl., Frankfurt am Main 1997, 44-59.

PLATONS GESICHTER | 47 nem Worte alles, wie du es hast, noch einmal neben dir aufstellte; wären dies denn Kratylos und ein Bild des Kratylos oder zwei Kratylos? KRATYLOS: Das, dünkt mich, wären zwei Kratylos. SOKRATES: Du siehst also nun, Lieber, daß wir für das Bild sowohl eine andere Richtigkeit aufsuchen müssen als die der vorher erwähnten Dinge, als auch besonders, daß wir nicht darauf bestehen dürfen, daß, sobald etwas fehle oder hinzukomme, es gleich nicht mehr ein Bild sei. Oder merkst du nicht, wie viel den Bildern daran fehlt, dasselbe zu haben wie das, dessen Bilder sie sind? KRATYLOS: Das merke ich wohl. (Krat. 432bff.)

Es ist diese Differenz des Bildes, die die Erläuterungen zum nous und seinen Gegenständen (den eidê) bei Platon ausmacht. Die häufig konstatierte „Leere“ des eidos entsteht durch ihre Charakterisierung durch Negation. Es wird von ihnen fast nur gesagt, was sie unterscheidet von demjenigen, dem sie nachgebildet sind, dessen Analogien sie sind. Über die „Inhaltsarmut“ der Ideenlehre heißt es bei Wieland: Platon enthält sich […] nicht aller Aussagen über die Idee. Doch es sind immer Aussagen besonderer Art, die über die Ideen gemacht werden. Dazu gehört zunächst einmal alles das, was dazu dient, den Unterschied zwischen der Idee und den gewöhnlichen Dingen unserer Welt zu akzentuieren. Was die Idee im übrigen auch immer sein mag. Sie existiert jedenfalls außerhalb des Raumes und der Zeit; sie ist nicht dem Wandel und der Veränderung unterworfen; schließlich bietet sie sich nicht der sinnlichen Erfahrung, sondern nur dem Denken dar. Von dieser Art sind die Aussagen, die über die Idee dort gemacht werden, wo sie Zielpunkt einer thematischen Intention ist. Nimmt man zu diesen Bestimmungen noch die der Einheit – im Gegensatz zur Vielfältigkeit des an der Idee Teilhabenden – hinzu, so hat man die wesentlichen Merkmale der Idee bereits aufgezählt.49

Die wesentlichen Merkmale der Idee sind Verneinungen von Charakteristiken der Gegenstände der sinnlichen Erfahrung. Das Wesentliche an der Idee läßt sich dadurch bestimmen, daß aufgezählt wird, was sie nicht ist – nämlich ein Gegenstand der „sinnlichen Erfahrung“. Damit kommt die Idee zugleich von der sinnlichen Erfahrung nicht los, bedarf sie ihrer doch – verschärft man Wielands Darlegung –, um ihre eigene Charakteristik zu erläutern. Je schärfer versucht wird, die Idee vom Sinnlichen zu trennen, desto fester wird sie daran gebunden, da die Sinnlichkeit als Negativfolie eben der Idee fungiert. Diese übernimmt von diesem Negativ die Struktur, verhält sich wie ein Negativ zum Foto-Abzug: die Farben des Fotos sind nur als Gegenteil von Farbe darauf (als Farblosigkeit bei Platon). Gemeinsam ist beiden „Form“ und Struktur des Dargestellten. In seiner ausführlichen Untersuchung der Verwendung von eidos heißt es bei Constantin Ritter zusammenfassend: Suchen wir uns den Zusammenhang der verschiedenen Bedeutungen noch deutlicher zu machen. Es ist ausgemacht, daß die Bedeutung der augenfälligen Äußerlichkeit, des Aussehens, bei idea wie bei eidos das ursprüngliche ist. Die Übertragung vom sinnlichen Gebiet auf das geistige vollzieht sich jedenfalls früh und da-

49 Wieland: Platon, 141.

48 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN mit wird eidos geeignet, ein innerliches Verhältnis, die Verfassung, den Zustand anzudeuten, in dem ein Ding sich befindet […]50

Das Verhältnis zwischen sinnlichem Sehen und noêsis läßt sich als Analogie verstehen. Was die Grundlage und den Ausgangspunkt für die Analogie bildete, die Gegenstände der Wahrnehmung und die sinnliche Wahrnehmung selbst, wird hinterher zur mimêsis dessen erklärt, dem es zuvor als Vorbild hat dienen müssen. Es bleibt damit weiterhin die Frage offen, ob diese Analogie nur aus der Verlegenheit um eine angemessene Form der Darstellung der Idee herkommt, die Ausführungen über die Idee durch diese Analogie lediglich illustriert werden, oder ob diese Analogie nicht bereits in die Konstruktion der Idee selbst eingeschrieben ist.

50 Constantin Ritter: Neue Untersuchungen über Platon, München 1910, 323 (Hervorhebung im Original). Ritter geht in seiner Untersuchung jedem einzelnen Vorkommen von eidos und idea nach und bestimmt in großer Genauigkeit die verschiedenen Arten ihrer Verwendung, die er in einer Tabelle zu kartographieren versucht. Die Grenze dieses Unternehmens besteht allerdings darin, daß beide Bedeutungsdimensionen (sinnliches und geistiges Gebiet) nicht trennscharf sind, sondern sich in den Vokabeln überschneiden. Wolfgang Wieland schreibt, daß es einen Übergang von eidos vom sinnlichen auf das geistige Gebiet nicht gebe, sondern eine Verwendung im „vorphilosophischen Sinn“ bleibe noch erhalten, nachdem „mit Hilfe dieser Ausdrücke Knotenpunkte des philosophischen Denkens markiert werden“. Er führt Stellen an, an denen einer der Ausdrücke eidos oder idea die „Markierungsfunktion“ erfüllt und daneben in „demselben Kontext“ noch in der vorphilosophischen Bedeutung verwendet wird (seine Beispiele: Phd. 100bf., Rep VI, 507bf. und 508ef.): „Hinsichtlich einiger Stellen streitet man sich sogar darüber, ob der entsprechende Ausdruck ‚noch‘ in seinem vorphilosophischen Sinne verwendet wird oder ‚schon‘ die Idee im Sinne der Ideenlehre bezeichnet.“ (Wieland: Platon, 132f.)

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Da-Sehen: Platons Theorie des Gesichts Das Sehen ist für die sokratisch-platonische Verfassung des Wissens und des Intellektes alles andere als marginal, es stellt eine – wenn nicht gar die – Grundlage seines Denkens dar. Daher ist sinnvollerweise zu fragen, was Platon unter „Sehen“ verstand, das heißt wie er die visuelle Wahrnehmung begriff und welcher Theorie der opsis er folgte. Dieses „Sehen“ und die zugehörige Theorie haben mit dem modernen Verständnis so gut wie nichts gemein. Der Behauptung Gérard Simons ist voll zuzustimmen: Wir vertreten die These, daß keiner von unseren Begriffen – Strahl, Bild, Sichtbares, Blickfeld, binokulares Sehen, Objekt, Subjekt, etc. – ohne weiteres auf Texte der Antike und des Mittelalters übertragbar ist.51

Simon konzentriert sich in seinen Ausführungen auf die Theorie des Sehstrahls „der Alten“, was etwas ungenau ist, da es neben den SehstrahlTheorien andere gab, die ohne solche Strahlen auskamen, etwa die atomistische Theorie der fliegenden eidôla. Für Simon bleibt dennoch die Sehstrahltheorie die bedeutendste. Dem will ich mich hier anschließen, nicht so sehr, um eine Generalaussage über die Theorien des Sehens in der griechischen Antike zu treffen, sondern vor allem deshalb, weil die hier zur Betrachtung anstehende Theorie Platons eine Theorie des Sehstrahles ist.

Der Kopfstand der Welt im Auge Um die platonisch-sokratische Intellekts-, Wissens- und Philosophie-Theorie zu rekonstruieren, muß zunächst das neuzeitliche Wissen um das Sehen zurückgestellt werden. Dieses neuzeitliche Sehen ist ursprüngliches Bild-Sehen: das Sehen geschieht durch ein Bild auf der Netzhaut. Johannes Kepler entdeckt das Netzhautbild für die Theorie, allerdings mit nicht geringen theoretischen Schwierigkeiten in der Folge, die geeignet waren, einen erheblichen Vertrauensverlust zu provozieren: Entweder man folgt der Theorie des Netzhautbildes, die sich mathematisch-geometrisch herleiten läßt oder man folgt ihr nicht. Folgt man ihr, dann ist die Konsequenz, daß (durch die Kreuzung der Lichtstrahlen in der Pupille) dieses Bild auf der Netzhaut die Welt auf dem Kopf stehend zeigt. Die Erfahrung spricht allerdings dagegen, daß die Welt auf dem Kopf steht. Vertraut man der Erfahrung, schwindet die Überzeugungskraft der Theorie. Kepler „korrigiert“ diese Schwierigkeit, indem er der Umkehrung in der Pupille eine weitere Umkehrung im Glaskörper des Auges hinzufügt. Diese Umkehrung löst auch gleich noch das Problem der Seitenverkehrung, die durch die horizontale Schnittachse der Strahlen entsteht. Wichtig ist die dem Problem zugrundeliegende Annahme. Kepler schreibt: Das Sehen geschieht also durch das Gemälde des gesehenen Gegenstandes auf der weißen und hohlen Wand der Netzhaut, und was draußen rechts liegt, malt sich

51 Simon: Der Blick, 31.

50 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN auf der linken Seite der Wand ab, das links gelegene rechts, das obere unten, das untere oben ab […]52

Das Sehen geschieht durch ein Bild. Diese These kann nicht genug betont werden, zieht sie doch einen Umsturz nach sich. Die Einsicht war schwerwiegend genug, um das philosophische Welt- und Erkenntnisbild nachhaltig ins Wanken zu bringen, zog sie doch in Konsequenz den „Skandal der Philosophie“,53 den cartesischen Zweifel an der Existenz der Außenwelt überhaupt als Möglichkeit nach sich. Damit soll keine monokausale Simplifikation betrieben werden, auch wäre es übertrieben, den Umbruch an Kepler allein festzumachen. Allerdings ist die Funktion der Optik als Grundlagenwissenschaft herauszustellen, die sie über Jahrhunderte einnahm: Man kann die Optik ganz einfach als ein eng umgrenztes wissenschaftliches Spezialgebiet auffassen, das nur einen bescheidenen Platz in der Hierarchie der Wissenschaften einnimmt und nur für einen beschränkten Bereich der Naturerscheinungen zuständig ist. Für viele frühere Forscher auf diesem Gebiet scheint sie jedoch viel mehr als nur das gewesen zu sein – es hat ganz im Gegenteil den Anschein, als sei die Optik das grundlegendste Gebiet der Naturwissenschaften gewesen, gleichsam der Schlüssel, der die Tür zur Natur aufschließen kann und uns ihre tiefsten Geheimnisse zu offenbaren vermag.54

„Naturwissenschaft“ ist hier nicht im engeren neuzeitlichen Sinne zu verstehen sondern begreift auch die Philosophie ein, sofern sie Erkenntnis der Natur, also: Erkenntnis des Seienden sein soll. Das bringt die opsis in die Erkenntnistheorie hinein, nicht nur bei Aristoteles und Platon, sondern noch weit hinein in die Neuzeit. Bei einem ersten Überblick über die Geschichte der Optik läßt sich mit einiger Überraschung feststellen, daß die Namen der Theoretiker, die entscheidende Beiträge zu dieser Disziplin leisteten, auch in der Philosophie von bedeutendem Rang waren. Insbesondere die Namen Kepler, Descartes und Newton sind hier zu nennen. Ein Name aber, der an vorderster Stelle stehen müßte, ist seit etwa 200 Jahren (Goethe erwähnte ihn noch) nahezu in Vergessenheit geraten, wiewohl sein Buch über die Theorie des Lichtes über Jahrhunderte hinweg von allen Theoretikern des Sehens und des Lichtes gelesen wurde. Der Begründer einer neuen Sehtheorie mit umwälzenden Konsequenzen war der arabische Gelehrte Alhazen oder Ibn alHaytham (um 1000 n. Chr.). Er war es, der in seinem Traktat nicht nur die Theorie vortrug, daß das Sehen durch einen Lichtstrahl, der vom Gegenstand ins Auge dringt, geschehe. Er erkannte zudem auch die Physiologie des Au52 Kepler: Ad Vitellionem Paralipomena; zit. nach: David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, übers. von Matthias Althoff, Frankfurt am Main 1987, 346. 53 Kant erklärt, es bleibe „immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn her haben) bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können“. Immanuel Kant: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974. [Zitiert als WW mit Bandangabe] WW III, 38, Fußn. (KrV B XL Fußn.). Die Möglichkeit dieses Zweifels überhaupt ist aufs engste verbunden mit der Sehtheorie des Netzhautbildes, des ursprünglichen Bild-Sehens. 54 Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter, 9.

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ges als für das Sehen relevant und sorgte mit seiner Strahlentheorie des Lichtes dafür, daß das Sehen sich nach den Regeln der räumlichen Geometrie (mit Ein- und Ausfallswinkeln, Brechungswinkeln et cetera) abstrakt konstruieren ließ. Hier ist leider nicht der Raum, den Ausführungen Alhazens im Detail nachzugehen, noch die Konsequenzen im einzelnen zu untersuchen. Nur einige Punkte der weiteren, auf Alhazen Theorie aufbauenden Entwicklung seien mit ihren möglichen erkenntnistheoretischen Konsequenzen genannt:55 Bereits im Mittelalter wurde (unter anderem durch Robert Grosseteste, Witelo, John Pecham und Roger Bacon) in direkter Anknüpfung an Alhazen eine Theorie entwickelt, die das Licht in den Mittelpunkt der Theorie des Sehens rückte, die ein Interesse am Licht artikulierte, das sich gleichzeitig (und nicht gänzlich davon getrennt) in der Metaphysik des Lichtes insbesondere der französischen Mystik niederschlug.56 Diese neue Theorie des Sehens wurde mit dem Begriff „Perspectiva“ bezeichnet57 und zog unter diesem Titel auch in die Theorien der Malerei in der Renaissance ein, wo sie die geometrische Konstruktion virtueller Räume auf der Grundlage des Strahlenganges des Lichtes überhaupt erst ermöglichte. Die Geometrisierbarkeit der Optik schlug sich auch darin nieder, daß Dietrich von Freiberg um 1310 eine Berechnung vorlegen konnte, die das Winkelverhältnis bestimmt, in dem sich die Sonne und der Sehende zu dem Ort befinden müssen, an dem ein Regenbogen erscheint. Kepler führt das Netzhautbild in die Theorie ein. Das Sehen geschieht nicht mehr am Gegenstand, sondern im Auge. Der Blick dringt nicht mehr vor zu den Dingen, sondern das Licht, das von ihnen reflektiert wird, fällt ins Auge. Das Bild der Welt befindet sich auf einer Fläche projiziert, die zudem (durch die Rundung des Augenhintergrundes) noch verzerrt ist. Zu Beginn der Abhandlung Le monde ou traité de la lumière (1633) schreibt René Descartes:

55 Überblick über die Entwicklung der Optik gibt vor allem: David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter, das in vielerlei Hinsicht einen Meilenstein im Verständnis der Relevanz der Optik jenseits der naturwissenschaftlichen Physik der Neuzeit darstellt. Leider konzentriert er sich auf die Epoche zwischen Alkindi (ca. 801-866) und Kepler und streift die antike Tradition nur. Fast wie die geschichtliche Fortsetzung ergänzt A. I. Sabra: Theories of Light, from Descartes to Newton, New Edition, Cambridge u.a. 1981. Durch den Versuch, einen Gesamtüberblick von der Antike bis in das 20. Jh. hinein zu geben, etwas sehr kursorisch ist David Park: The Fire within the Eye. A Historical Essay on the Nature and Meaning of Light, Princeton/NJ 1997. 56 Die Lichtmetaphysik oder -mystik stützt sich vor allem auf die Schriften des Dionysios Areopagita, der (unter anderem) von Robert Grosseteste übersetzt und kommentiert wurde. Vgl. dazu Edgar de Bruyne: Études d’esthétique médiévale. Suivi de: L'Esthétique au Moyen Age. Postface de Michel Lemoine, 2 Bände, Paris 1998, hier: II (= Bd. 3 der ersten Auflage), 3-29. Einen umfassenden Überblick gibt Klaus Hedwig: Sphaera Lucis. Studien zur Intelligibilität des Seienden im Kontext mittelalterlicher Lichtspekulation, Münster 1980. 57 Der Traktat Roger Bacons (der auch als Erfinder der Brille gilt) trug den Titel Perspectiva (ca. 1267), ebenso der Traktat von Witelo (ca. 1275); John Pechams Traktat war überschrieben Perspectiva communis (ca. 1279). Sie waren – wie Alhazens Kitab al-manazir (lat. De aspectibus) – weit verbreitet, was sich an der Zahl der noch erhaltenen Exemplare belegen läßt. Vgl. dazu David C. Lindberg: A Catalogue of Medieval and Renaissance Optical Manuscripts, Toronto 1975.

52 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Da ich mir vornehme, hier das Licht zu behandeln, will ich Sie zuerst darüber unterrichten, daß es einen Unterschied (différence) geben kann zwischen der Empfindung (sentiment), die wir von ihm haben, d.h. der Idee, die sich davon mittels unserer Augen in unserer Einbildung (imagination) formt, und dem, was in den Gegenständen liegt und in uns diese Empfindung hervorruft, d.h. das, was sich in der Flamme oder Sonne befindet und Licht heißt. Denn obgleich gemeinhin ein jeder wähnt, daß die Ideen, die wir in unserem Denken besitzen, ganz und gar den Gegenständen entsprechen, von denen sie herrühren, sehe ich gleichwohl keinen Grund, der uns dessen wirklich versicherte; sondern ich stelle im Gegenteil verschiedene Erfahrungen fest, die uns daran zweifeln lassen. Sie wissen wohl, daß wir die Worte, die doch keine Ähnlichkeit mit den Dingen haben, die sie bezeichnen, durchaus verstehen (concevoir), und häufig sogar, ohne auf den Klang der Wörter oder Silben zu achten […] Wenn folglich die Wörter, die nur durch die Übereinkunft der Menschen (institution des hommes) etwas bedeuten, genügen, um uns die Dinge erfassen zu lassen, mit denen sie doch keine Ähnlichkeit besitzen: warum könnte die Natur nicht ebenfalls ein bestimmtes Zeichen eingerichtet haben, das uns die Empfindung des Lichts haben läßt, obgleich dieses Zeichen nichts an sich hat, was dieser Empfindung ähnlich ist.58

Nimmt man diese Ausführung ernst, so liegt Platons Ideenwelt nun nicht mehr in einem metaphysischen Jenseits, sondern im Kopf des Betrachters – und die Welt der aisthêta ist plötzlich ganz verschwunden, oder jedenfalls nicht mehr wahrnehmbar. Durch Descartes wird, über das Netzhautbild hinaus, das nicht mehr Dinge, sondern deren Bilder sehen läßt, der Zusammenhang zwischen Wahrgenommenem und seiner geistigen Repräsentation problematisiert.59 Zwischen dem „Gegenstand“, der sich außerhalb der Wahrnehmung befindet, und dem Wahrnehmungsgegenstand stellt sich ein Verhältnis ein, das nicht mehr als Vorbild-Abbild-Relation zu begreifen ist (wie noch bei Kepler). Die Relation ist vielmehr nahezu arbiträr, nämlich eine Signifikanz-Beziehung zwischen beiden, die eher derjenigen der Sprache zu den von ihr bezeichneten Gegenständen entspricht. Descartes integriert das neuronalcerebrale System in seine Theorie des Sehens, mit Konsequenzen, die durchaus niederschmetternd sein können: im Gehirn finden sich keine „Abbilder“ mehr, die einer irgendwie gearteten Forderung nach Ähnlichkeit der cerebralen Repräsentation mit dem gesehenen Gegenstand Genüge tun könnten. Mit Kepler ist das Bild zum ersten Weltbezug geworden, mit Descartes ist dieses Bild – vereinfacht gesagt – dem gesehenen Gegenstand nicht durch Ähnlichkeit, sondern auf arbiträre Weise verbunden. In der Dioptrik wird Descartes den Versuch unternehmen, die „Ähnlichkeit“ zu retten, nicht als BildÄhnlichkeit, sondern als eine Kraft-Wirkung. Er geht davon aus, daß aus dem Netzhautbild ein weiteres Bild entsteht, ein Kraftbild:

58 René Descartes: Le monde ou traité de la lumière/ Die Welt oder Abhandlung über das Licht, übers. und mit einem Nachw. vers. von G. Matthias Tripp, Weinheim 1989, 9. 59 Üblicherweise wird für die Entwicklung der geometrischen Optik die Leistung Descartes‘ in der exakten Berechnung der Lichtbrechung gesehen. Nachdrücklich hinzuweisen ist aber in dem hier relevanten Zusammenhang vor allem auf seine Auseinandersetzung mit der „neuronalen“ Verarbeitung des Netzhautbildes.

PLATONS GESICHTER | 53 Wenn nun auch dieses Bild, das auf diese Weise [nämlich durch die Netzhaut; A.d.V.] ins Innere unseres Kopfes gelangt, immer noch eine Ähnlichkeit mit den Gegenständen behält, von denen es ausgeht, so darf man sich doch […] die Sache nicht so vorstellen, als ob wir durch diese Ähnlichkeit eine Empfindung von ihnen bekommen, als ob es noch andere Augen in unserem Gehirn gäbe, durch die wir sie wahrnehmen könnten. Es sind vielmehr die Bewegungen, aus denen sich das Bild zusammensetzt, die unmittelbar auf unsere Seele wirken und, soweit sie eine Einheit mit dem Körper bildet, von der Natur dazu hergerichtet sind, in ihr solche Empfindungen hervorzurufen.60

Den nächsten Schritt dieses sehr groben Überblicks macht Newton mit seiner Theorie des Lichtes. Er entdeckt, daß sich weißes Licht aus dem Farbspektrum zusammensetzt, daß weißes Licht also nicht etwa ein „ungefärbtes“ und „reines“ Licht ist, sondern daß dieses vielmehr die Zusammensetzung aller Farben ist. Er stellt darauf die Theorie auf, daß die Farbigkeit der Gegenstände als Effekt einer selektiven Reflexion von Spektralanteilen des Lichtes eintritt: „Diese Farben rühren daher, dass von den natürlichen Körpern die einen diese, die andern jene Strahlenarten in grösserer Menge reflectieren als andere.“61 Konsequenz davon ist, daß die Farben den Gegenständen nicht als Eigenschaften zukommen. Die reflektierenden Körper haben lediglich eine Eigenschaft, die einen bestimmten Anteil aus dem Farbspektrum des Lichts reflektiert, was dazu führt, daß die Körper in der betreffenden Farbe erscheinen. Der Überblick ist außerordentlich grob. Sein Ziel ist lediglich, einige Punkte zu zeigen, die das neuzeitliche Verständnis des Sehens im Gegensatz zu demjenigen charakterisieren, das für Platon anzusetzen ist. Aus diesen Ausführungen zeigt sich, daß das Sehen von Gegenständen zu nachhaltigen Schwierigkeiten im Sinne einer „Objektivität“ der Wahrnehmung führt.62 Es ergibt sich überhaupt erst die Notwendigkeit, zwischen „subjektiven“ und „objektiven“ Anteilen des Sehens zu unterscheiden, um eine entsprechende Kritik von optischen Täuschungen zu entwerfen.

Das Leuchten in Platons Augen Diese Form des Zweifels gibt es in den Dialogen Platons nicht. Die Außenwelt ist als Faktum gegeben und optisch direkt wahrnehmbar. Allerdings bleibt zu fragen, wie die optische Wahrnehmung sich konkret in Platons The60 Gertrud Leisegang: Descartes Dioptrik, Meisenheim 1954. Darin findet sich auch die Übersetzung der Dioptrik. 61 Isaac Newton: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts, Buch I-III (1704),übers. u. hg. von W. Abendroth, Frankfurt am Main 1996 (Repr. d. Ausg. Leipzig 1898), 116. 62 Bei Kant heißt diese Schwierigkeit: „Wenn Empfindung, als das Reale der Wahrnehmung, auf Erkenntnis bezogen wird, so heißt sie Sinnenempfindung; und das Spezifische ihrer Qualität läßt sich nur als durchgängig auf jede Art mitteilbar vorstellen, wenn man annimmt, daß jedermann einen gleichen Sinn mit dem unsrigen habe: dieses läßt sich aber von einer Sinnesempfindung schlechterdings nicht voraussetzen. So kann dem, welchem der Sinn des Geruchs fehlt, diese Art der Empfindung nicht mitgeteilt werden; und, selbst wenn er ihm nicht mangelt, kann man doch nicht sicher sein, ob er gerade die nämliche Empfindung von einer Blume habe, die wir davon haben.“ (Kritik der Urtseilskraft, WW X, 222f. (B 153)).

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orie vollzieht, was nicht ganz einfach zu beantworten ist. Um allerdings jede Versuchung zu vermeiden, ein modernes Verständnis des Sehens in das Verständnis der Dialoge, der darin enthaltenen Theorien des Sehens und Wissens einzubringen, ist es sinnvoll, zu einem Begriff zu greifen, der zwar kein Neologismus ist, aber als Begriff für das Sehen hinreichend ungenutzt, um ihn für die Rekonstruktion dieser platonischen Theorie zum Begriff werden zu lassen: das Gesicht. Von diesem „Gesicht“ lassen sich mit Gérard Simon einige Charakteristika feststellen: anders als in der neuzeitlichen Theorie des Sehens gibt es bei Platon kein Licht, das von außen ins Auge fällt. Platons Gesicht ist eine Sendetheorie (Lindberg) des Lichtes. Ein Sehstrahl dringt aus dem Auge heraus zum Gegenstand. Dort am Gegenstand vollzieht sich der Sehakt und endet dort auch. Als Prinzipien dieser Theorie lassen sich mit Simon formulieren: 1. [D]ie Kontinuität zwischen der dinglichen und der gedanklichen Welt ist durch den direkten Kontakt zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen gesichert.63 2. Sicht und Sichtbares sind miteinander verwandt; es gibt keinen Schnitt zwischen ihnen.64 3. [D]as Sehen, wenn es unter guten Bedingungen stattfindet, liefert stets die Wahrheit des Sichtbaren. 4. Innerhalb der Optik besteht keinerlei Notwendigkeit, nach der Anatomie des Auges und der Funktion seiner Teile zu fragen. 5. [Für die Theorie des Ptolemaios:] Zwischen den Sinnen und dem Wahrnehmbaren fehlt der Raum des Körpers. Man hat es mit einer Perzeption ohne Empfangsorgan, ohne Nervensystem und ohne Gehirn zu tun. Und das heißt auch, daß weder […] die Opposition von Subjekt und Objekt, noch die Unterscheidung des Physikalischen, des Physiologischen und des Mentalen die Untersuchung strukturieren und ihre Analysefelder anbieten. 6. Die Alten machen keinen Unterschied, und können keinen machen, zwischen […] dem, was man gut sieht, aber falsch deutet, und dem, was man schlecht sieht, aber richtig deutet.65 7. Die Sehströmung wird nach dem Modell einer quasi-materiellen Realität konzipiert, die fern vom Körper die Einwirkung der Dinge erfährt: die Sensation entsteht aus einer qualitativen Kontamination, die davon dispensiert, die Frage nach dem Übergang vom physikalischen zum Bewußtseinsphänomen zu stellen. Zwischen der Farbe, die meinen Blick färbt, und derjenigen, die ich sehe, besteht kein Unterschied, denn sie ist zugleich das Gesehene und das, was sehen macht. […D]ie Kontinuität zwischen der dinglichen und der gedanklichen Welt ist durch den direk-

63 Simon: Der Blick, 109. Dies ist zwar zu Ptolemaios formuliert, trifft aber auf Platons Theorie genau so zu. 64 Die Zitate zu den Punkten 2–5 ebd., 42 (2), 120 (3), 204 (4) und 134 (5). 65 Ebd.: 211. Der zweite Teil der Aussage ist etwas mißverständlich – „richtig“ deuten heißt hier natürlich: dem (falschen) Seheindruck angemessen. Da der Seheindruck aber eine Täuschung ist, ist das Urteil dann richtig, wenn es ebenso falsch ist wie die Wahrnehmung. Es heißt also nicht etwa, durch die falsche Beurteilung einer falschen Wahrnehmung (durch doppelte Negation) zu einem Urteil zu kommen, die das richtig wahrgenommene Objekt richtig beschreibt.

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ten Kontakt zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen gesichert.66 Nicht alle dieser Thesen Simons sind auf Platon bezogen, überwiegend finden sie sich in den Ausführungen zu Ptolemaios und seiner sehr entwickelten Theorie des Gesichtes. Deswegen haben die Thesen für die folgende Betrachtung der Gesichtstheorie Platons den Zweck, Orientierungspunkte zu geben, die bei ausführlicher Beschäftigung zu differenzieren sind. Gerade zu Platon sind die Ausführungen Simons eher knapp gehalten. Der Begriff des Gesichts benennt – wie auch „Gehör“, „Geschmack“, „Geruch“ et cetera – zweierlei: die Fähigkeit zu einer gewissen Wahrnehmung, wie der des Sehens, Hörens et cetera, und das mit dieser sinnlichen Fähigkeit Wahrgenommene, die Eigenschaft von Gegenständen, wie insbesondere bei Geruch und Geschmack. Damit umfaßt er die beiden Bestandteile des griechischen Begriffes der opsis, der ihn für ein modernes Verständnis so schwierig macht, denn opsis benennt sowohl die Fähigkeit des Wahrnehmenden, als auch den Anblick, das Aussehen eines Gegenstandes.67 Ein Rest des hier verwendeten Begriffes von Gesicht, der eben nicht nur das Antlitz meint, zeigt sich noch in der Rede von einem „zweiten Gesicht“, das eben kein zweites, quasi-janusförmiges Antlitz bezeichnet, sondern die Fähigkeit, mit anderem Sehen einen Zugang zu anderem Gesehenen zu erhalten. Ausdrücke des Sehens ziehen sich konstant durch Platons Dialoge, erweisen sich als unverzichtbar für die Operationen in den Dialogen, für die setzenden wie für die ent-setzenden Operationen an Sätzen. Dabei sollte man nicht von vornherein davon ausgehen, daß es sich lediglich um eine verbildlichende Redeweise oder um Metaphern handelt,68 gar ausgebleichte Metaphern, deren sinnliche Komponente in der Redewendung bereits verschwunden ist, zumal die Übersetzung ins Deutsche mit den darin üblichen Redewendungen diese Gefahr bestärkt. „Etwas im Auge behalten“, eine „Betrachtung“ durchführen, eine „Hinsicht nehmen“ hat im Deutschen vielleicht nichts mehr mit dem Bereich des Sehens zu tun, aus denen diese Ausdrücke stammen. Daß sie allerdings auch im Deutschen vorliegen, zeugt auch noch als Rest von einer gewissen Notwendigkeit oder Verlegenheit, die intellektuellen Operationen zu benennen. Für Platon-Sokrates hingegen handelt es sich nicht nur um ein Benennungsproblem. Vielmehr haben die Ausdrücke des Sehens, die für das Intellektuelle verwendet werden, hier einen konkreten, mit dem Gesicht in Verbindung stehenden Sinn. Das wird für jeden einzelnen der betreffenden Ausdrücke zu zeigen sein: skopein, blepein, theôrein und horan. Zunächst aber soll die Theorie der opsis, des Gesichtes, die den Dialogen zugrunde liegt, rekonstruiert werden. 66 Ebd., 108f. 67 „Desgleichen bedeutet opsis den Anblick, gleichzeitig das Aussehen des Gesehenen, die Tatsache des Sehens, das Sehorgan und das Gespenst eines Toten oder die Erscheinung eines Gottes, der sich sehen läßt: die Ungeschiedenheit betrifft hier also das, was wir als objektiv und subjektiv voneinander trennen.“ (Ebd., 36). 68 Simon (ebd., 24) spricht von einem „metaphorischen Modell“, als das das Sehen im Wettstreit mit dem Berühren schon immer für das theoretische Wissen gedient habe. Was aber ein metaphorische Modell ist, erklärt er nicht, ebensowenig diskutiert er die Frage, ob es das „theoretische Wissen“ überhaupt außerhalb dieses metaphorischen Modells gibt, ob es „eigentlichere“ Begriffe gibt, die durch die Metaphern ersetzt werden.

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Eine solche Theorie der optischen Wahrnehmung findet sich erst spät explizit, nämlich im Timaios: Von den Werkzeugen aber verfertigten sie [die Götter; A.d.V.] zuerst die lichtspendenden (phôsphora) Augen (ommata), deren Einfügung sie folgendem Plane gemäß vollzogen. Dasjenige Feuer (puros), das nicht die Eigenschaft hat zu brennen sondern mildes Licht (phôs hêmeron) zu spenden, formten sie zu einem dem immer wiederkehrenden Tageslichte verwandten Körper (sôma). Sie ließen nämlich das in uns befindliche, mit dem Tageslicht verwandte Feuer (pûr) in voller Reinheit glatt und dicht durch die Augen (ommatôn) ausströmen (rhein), nachdem sie das ganze Gebilde der Augen (ommatôn), vor allem aber den mittleren Teil derselben so verdichtet hatten, daß es alles gröbere Licht zurückhält und nur das von dieser Art rein durchläßt. Wenn nun das vom Gesicht (opseôs) ausfließende (rheuma) Licht (phôs) vom Tageslicht aufgenommen wird, so stößt Gleichartiges auf Gleichartiges, und verschmilzt miteinander zu einem einzigen gleichartigen Körper in gerader Richtung vom Auge (ommatôn), wo nur immer das von innen ausströmende Feuer auf etwas stößt, was ihm von außen in den Weg tritt. Da nun dieser Stoff zufolge seiner Gleichartigkeit durchgängig die gleichen Einwirkungen erfährt, so teilt er alle Bewegungen, die er teils durch die eigene Berührung eines anderen, teils durch den Anstoß von Seiten eines anderen erhält, dem gesamten Körper (sôma) mit und läßt sie hindurchdringen bis zur Seele (psuchês): so entsteht jene Wahrnehmung (aisthêsin), welche wir „Sehen“ (horan) nennen. Hat sich aber das ihm verwandte Tageslicht nach der Seite der Nacht abgewandt, dann ist der Sehestrom abgeschnitten: denn da er nun bei seinem Austritt auf Ungleichartiges trifft, so verfällt er selbst der Veränderung und erlischt, denn er findet in der umgebenden Luft keine Unterstützung, da sie kein Feuer (pûr) hat. So hört denn das Sehen auf (pauetai horôn), und dies wird überdies ein Anreiz zum Schlaf. Denn die Götter haben zum Schutze des Gesichtes (sôterian opseôs) die Augenlider als eine natürliche Vorrichtung geschaffen; wenn nun diese sich schließen, so halten sie die Wirksamkeit des Feuers (puros) im Inneren zurück; dies zurückgehaltene Feuer aber löst und lindert die Bewegungen im Inneren, worauf dann Ruhe eintritt […] (Tim 45bff.)69

Platons Theorie des Gesichtes ist eine Sendetheorie (Lindberg). Das Auge sendet einen Sehstrahl aus, ein innen brennendes Feuer wird zu einem Strahl gebündelt, der den Gegenstand abtastet. Dieses „Tasten“ ist dabei durchaus konkret zu verstehen, als eine Analogie des Gesichtes zum Tastsinn. Um das Problem des unterschiedlichen Tag-Nacht-Sehens zu erklären, nimmt Platon die Notwendigkeit eines zweiten Feuers, der Sonne, an, die den schwachen Sehstrahl verstärke. Beide zusammen bilden einen Körper dort, wo sie auf etwas treffen, das ihnen in den Weg tritt.70 Dort erfährt es eine Bewegung, 69 Nach der Übersetzung von Apelt. Ich habe Apelts Übersetzung von „sôma“ mit „Stoff“ durch „Körper“ ersetzt. Die Tatsache, daß sich die Körperlichkeit dieses Sehstrahles schwer denken läßt, sollte nicht zur vereinfachenden Übersetzung führen. 70 Lindberg scheint davon auszugehen, daß der Sehkörper allein durch die beiden Lichter gebildet wird und sich vom Auge zum Gegenstand erstreckt (25). Das findet sich m. E. in dieser Stelle eben gerade nicht, ist vielmehr eine Interpolation Lindbergs, die eher aus der Aristotelischen Seh-Medientheorie stammt,

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einen Anstoß, der kommuniziert wird zurück nicht nur bis zum Körper, sondern sogar bis zur psuchê. Dabei schreibt Platon diesem Sehstrahl die Eigenschaft eines Körpers (sôma) zu, was später im Timaios ausgeführt wird bei der Erörterung, warum dieser feuerkörperliche Sehstrahl keinen Schmerz empfindet, wenn er geschnitten, gebrannt, verlängert oder verkürzt wird (Tim 64cf.). Der beste Vergleich für Platons Gesichtsmodell wäre der Tastsinn: wie der tastende Finger befindet sich auch der Sehstrahl-Körper mit seiner Spitze bei den Dingen. Dieses Sehen bei Platon ist ein ursprüngliches Immerschon-da-Sehen. Es ist also das Auge, das einen Strahl aussendet, der den Gegenstand abtastet und dabei unterstützt wird durch das ihm gleichartige Sonnenlicht.71 Es handelt sich nicht um Lichtstrahlen72, die in das Auge von außen eindringen, sondern ein Strahl dringt nach außen und trifft direkt auf den Gegenstand. Daraus folgt, daß das „Sehen“ sich dort ereignet, wo der Gegenstand ist und nicht im Auge! Auf dem Weg vom Ort des „Sehens“, dem Gegenstand, bis zur psuchê gibt es keinerlei Operationen, die mißlingen können. Das Gesehene muß nicht in neuronale Signale „übersetzt“ werden. Das Gehirn, der Verstand et cetera greift bei der Wahrnehmung nicht ein: die Wahrnehmung schafft die Täuschung, weil sie selbst nicht täuscht. Aus der „Wahrheit“ der Wahrnehmung entsteht die Lüge der Dinge. Damit fällt in Platons Theorie des Gesichtes die Möglichkeit der optischen Täuschung aus, die Möglichkeit also, daß etwas durch ein fehlerhaftes Sehen falsch wahrgenommen würde. An einem Beispiel kann der Unterschied zur modernen Theorie deutlich gemacht werden: das Bild im Spiegel ist kein optisches Phänomen, sondern ein ontologisches Problem. Der Spiegel ist nicht ein Umlenker von Strahlen, sondern ein Gegenstand der Täuschung. Der im Spiegel gesehene Gegenstand befindet sich genau dort, wo er gesehen wird, hinter oder auf dem Spiegel. Tatsächlich aber ist er dort natürlich nicht. Und das macht den Spiegel – wie auch das Gemälde – zu einem Täuschungsinstrument. Der Spiegel zeigt Dinge dort, wo sie nicht sind.73 Das macht die als aus dieser Stelle im Timaios. Platon sagt deutlich, daß sich der Körper bildet, wenn er auf etwas trifft, das in den Weg tritt. 71 In Anlehnung an Simon (Der Blick, 239) kann zur Plausibilisierung des Sehstrahles an den „bösen Blick“ erinnert werden, der nur von dieser Sehstrahltheorie verständlich wird: der Blick läßt etwas Materielles zum Gegenstand gelangen, das diesen potentiell affiziert, etwa wie ein „bohrender Blick“. Und die Sorge in der Legende vom „bösen Blick“ besteht darin, daß dasjenige, was den Gesehenen affiziert, diesen vielleicht schädigen möge. 72 Simon spitzt für die antike Optik im Ganzen zu, „[…] daß das Licht nie als der Protagonist einer Theorie des Sehens auftritt, selbst wenn es normalerweise (aber nicht immer) zu den notwendigen Bedingungen zählt, die gefordert sind, damit dieses sich aktualisiert.“ (Der Blick, 34) 73 Ebd., 213: „[W]as ein antiker Mensch in einem Spiegel sieht, ist die Sache selbst, aber dort, wo sie nicht ist und so, wie sie nicht ist.“ Diese Bemerkung bezieht sich zwar auf Ptolemaios, ist aber auch auf Platons Theorie zu übertragen. Eine Theorie des Spiegelbildes wird im Timaios 46aff. knapp umrissen. Da diese Stelle in ihrer Knappheit und mit ihren zu vermutenden impliziten Bezügen auf vor Platon bestehende Spiegeltheorien höchst komplex ist, daher einer intensiven Auseinandersetzung mit weiteren Theorien des Spiegelbildes bedürfte, um sie einordnen zu können, muß hier darauf verzichtet werden. Gerade diese Stelle würde auch eine Untersuchung erfordern, welche Art von Spiegeln hier überhaupt zur Debatte steht, ob es sich um polierte Oberflächen handelt, die ein räumliches Bild wiedergeben oder um eine matte Fläche, die lediglich ein flächiges Bild abspiegelt, daher keinen Raum „hinter“ dem Spie-

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Rede von der Verdoppelung der Welt durch den Spiegel in der Politeia deutlich: Wer einen Spiegel herumträgt, ist in der Lage, alle Dinge und Geräte zu machen (X, 596e). Eine Konsequenz der Wirklichkeit des Gesehenen ist die Wirklichkeit des phantasma, von dem Platon spricht, das den Bereich des – in modernem Sinne – Illusionären, Täuschenden, Nachahmenden, Abbildenden zusammenfaßt. Die „optischen Täuschungen“ sind keine optischen Täuschungen sondern Täuschungen der Wirklichkeit: die Dinge täuschen. Die Welt der Wahrnehmung besteht aus täuschenden, lügenhaften, unedlen Dingen, aber auch aus nichttäuschenden, wahrhaften, edlen Dingen. Für das Sehen sind beide allerdings ununterscheidbar – eine Kritik des Sehens hat hier keinen Raum, sondern nur eine Kritik der Wirklichkeit. Hier liegt eines der wesentlichen Grundprobleme Platons. Durch eine Theorie der optischen Täuschung lassen sich viele Probleme auflösen, die Platon noch unauflösbar erschienen, ohne zugleich die Wahrnehmung als ganze über Bord zu werfen. So wird im Theaitetos die Frage nach der phantasia und der aisthêsis gestellt: SOKRATES: Erscheinung (phantasia) also und Wahrnehmung (aisthêsis) ist dasselbe in Absicht auf das Warme und alles, was denn ähnlich ist? Denn wie ein jeder es wahrnimmt (aisthanetai), so scheint es für ihn auch zu sein (kinduneuei einai). THEAITETOS: Das leuchtet ein. SOKRATES: Wahrnehmung (aisthêsis) ist also wohl immer des Seienden (ontos) und untrüglich (apseudês), wenn sie ja Erkenntnis ist. THEAITETOS: So scheint es (phainetai). (Theait. 152c)

Von dieser Ausgangsthese werden Sokrates und Theaitetos bald abrücken müssen, denn es zeigt sich, daß die Wahrnehmung doch allzu trügerisch ist, zumal sich darin eben Phantasmen befinden: SOKRATES: Nicht wahr, jenes wahrzunehmen (asithanesthai), was irgend für Eindrücke (pathêmata) durch den Körper (sômatos) zur Seele (psuchên) gelangen, das eignet schon Menschen und Tieren von Natur, sobald sie geboren sind. Allein zu den Schlüssen hieraus auf das Sein und den Nutzen gelangen nur schwer mit der Zeit und durch viele Mühe und Unterricht die, welche überall dazu gelangen? THEAITETOS: So ist es allerdings. SOKRATES: Kann nun wohl dasjenige das wahre Wesen (alêtheias) von etwas erreichen, was nicht einmal sein Dasein (ousias) erreicht? THEAITETOS: Unmöglich. SOKRATES: Wovon man aber das wahre Wesen (alêtheias) nicht erreicht, kann man davon Erkenntnis (epistêmôn) haben? THEAITETOS: Wie könnte man doch, Sokrates. SOKRATES: In jenen Eindrücken (pathêmasin) also ist keine Erkenntnis (epistêmên), wohl aber in den Schlüssen (sullogismô) daraus. Denn das Sein und das wahre Wesen zu erreichen, ist, wie es scheint, nur durch diese möglich, durch jene aber unmöglich. THEAITETOS: Das leuchtet ein. gel zur Debatte stellt. Eine Diskussion dieser verschiedenen Spiegelarten findet sich auch bei Simon nicht.

PLATONS GESICHTER | 59 SOKRATES: Willst du nun jenes und dieses dasselbe nennen, da beides so große Verschiedenheiten zeigt? THEAITETOS: Das scheint wohl nicht billig. SOKRATES: Welchen Namen nun legst du jenen bei, dem Sehen, Hören, Riechen, Frieren, Warmsein? THEAITETOS: Wahrnehmen nenne ich es. Denn wie anders? SOKRATES: Insgesamt also nennst du dies Wahrnehmung. THEAITETOS: Natürlich. SOKRATES: Welcher, wie wir gesagt haben, nicht verliehen ist bis zum wahren Wesen zu gelangen, da sie ja auch nicht bis zum Sein gelangt? THEAITETOS: Nicht verliehen. SOKRATES: Also auch nicht zur Erkenntnis? THEAITETOS: Nicht füglich. SOKRATES: Auf keine Weise also, o Theaitetos, wäre Wahrnehmung und Erkenntnis dasselbe. THEAITETOS: Es scheint nicht; vielmehr ist es jetzt vollkommen deutlich geworden, daß die Erkenntnis etwas anderes ist als die Wahrnehmung. (Theait. 186b-e)

Die Wahrnehmung, die auch Dinge wahrnimmt, die zwar (er)scheinen, nicht aber sind, hat dieselbe Schwäche, wie der logos, der etwas sagen kann, aber dabei lügt. Darüber lehrt der Fremde im Sophistês: FREMDER: In Wahrheit, du Guter, wir befinden uns in einer höchst schwierigen Untersuchung. Denn dieses Erscheinen (phainesthai) und Scheinen (dokein) ohne zu sein (einai de mê) und dies Sagen (legein) zwar aber nicht Wahres (alêthê de mê), alles dieses ist immer voll Bedenklichkeiten (aporias) gewesen schon ehedem und auch jetzt. Denn auf welche Weise man sagen soll, es gebe wirklich ein falsch (pseudê) Reden (legein) oder Meinen (doxazein) ohne doch schon, indem man es nur ausspricht, auf alle Weise in Widersprüchen (enantiologia) befangen zu sein, dies, o Theaitetos, ist schwer zu begreifen. THEAITETOS: Wieso? FREMDER: Diese Rede untersteht sich ja vorauszusetzen, das Nichtseiende sei (to mê on einai). Denn sonst gäbe es auf keine Weise Falsches wirklich. (Soph. 236dff.)

Es handelt sich hier um die berühmte Passage der Diskussion über den parmenideischen Satz, das Nichtseiende sei nicht. Aus den Sinnes-„Täuschungen“, die in Platons Verständnis eigentlich aus täuschenden Gegenständen herrühren, muß der Satz, daß das Nichtseiende nicht sei, widerlegt werden. Die Wirklichkeit oder Exogenität des täuschenden Gegenstandes, des phantasma, sorgt dafür, daß angenommen werden muß, daß auch Nichtseiendes (aber Erscheinendes) ist. Über die Widerlegung des Satzes von Parmenides und das Zugeständnis, daß das Nichtseiende irgendwie doch ist, heißt es: FREMDER: […] Denn wenn jenes nicht widerlegt (elegchthentôn) und dies nicht zugestanden (homologêthentôn) wird, so wird im Leben niemand imstande sein, von falschen Reden (logôn pseudôn) und Vorstellungen (doxês) zu reden, es sei nun von Schatten (eidolôn) und Ebenbildern (eikonôn) und Nachahmungen (mi-

60 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN mêmatôn) und Truggestalten (phantasmatôn) selbst oder von den sich damit beschäftigenden Künsten, ohne sich lächerlich zu machen, indem er genötiget ist, sich selbst zu widersprechen. THEAITETOS: Vollkommen wahr. FREMDER: Darum nun müssen wir wagen, jenen väterlichen Satz anzugreifen, oder wir müssen die Sache gänzlich unterlassen, wenn uns irgendeine Bedenklichkeit hievon abhält. (Soph. 241dff.)

Wenn es richtig ist, daß es Irrtümer, Täuschungen und Lügen gibt, dann muß auch angenommen werden, daß es Phantasmen und Nichtseiendes gibt: FREMDER: […] Denn Nichtseiendes (mê onta) vorstellen (doxazein) oder reden (legein), das ist doch das Falsche (pseudos), was in Gedanken (dianoia) und Reden (logois) vorkommen kann. THEAITETOS: Allerdings. FREMDER: Und ist Falsches oder Irrtum (pseudous), so ist auch Täuschung (apatê). THEAITETOS: Ja. FREMDER: Und ist Täuschung (apatês ousês), dann ist doch gewiß notwendig alles voll (panta mesta) Schattengestalten (eidolôn) und Abbilder (eikonôn) und trüglichen Scheines (phantasias). THEAITETOS: Wie könnte es anders sein! (Soph. 260c)

Daß zwischen dem phantasma und der Lüge im Bereich des logos bei Platon eine Parallele besteht, die Scheinhaftigkeit der Argumentationen der Sophisten für Platon mit optischen Täuschungen vergleichbar sind, schreibt Simon: Die Schwierigkeiten eines Plato bei der Darstellung der mit der Person des Sophisten verbundenen logischen oder rhetorischen Illusion sind bekannt: der Denkirrtum ist nach dem Modell des Sehirrtums, als der Effekt konzipiert, der, wie den Blick, so den Geist in eine Falle lockt.74

Phänomene wie Lichtbrechung oder Beugung können bei Platon nicht vorkommen, da es keine Theorie des Lichtstrahles gibt. Ebensowenig aber kommen Beugungen und Brechungen des Sehstrahles in dieser Theorie vor: Der Sehstrahl wird durch den Spiegel nicht umgelenkt, sondern er sieht tatsächlich geradlinig das gespiegelte Objekt als ein Double in der Welt in oder hinter dem Spiegel. Dort aber ist es nicht, wie sich bei einem Gang hinter den Spiegel zeigt. Ein Griff nach dem gespiegelten Objekt findet an der Spiegelebene notwendig seine Grenze. Ein Stock, der ins Wasser gehalten wird, erscheint plötzlich krumm – ohne eine Theorie der Brechung oder Beugung läßt sich dieses Phänomen nicht zur hinreichenden Beruhigung erklären – die Lügenhaftigkeit der erscheinenden Dinge wird dafür sorgen, daß die Maler und Tragödiendichter aus der idealen Stadt zu verschwinden haben: Beim Zeus, sprach ich, dieses Nachbilden (mimeisthai) gehörte doch zu dem dritten von der Wahrheit ab. Nicht so? Ja.

74 Ebd., 238.

PLATONS GESICHTER | 61 Aber worauf im Menschen äußert es denn die Kraft, die es hat? Wovon meinst du denn? Nun hievon. Dieselbe Größe erscheint (phainetai) uns doch durch das Gesicht (opseôs) wahrgenommen von nahebei und von ferne nicht gleich? Nein freilich. Und dasselbige als krumm und gerade, je nachdem wir es im Wasser sehen oder außerhalb, und als ausgehöhlt und erhoben wegen der Täuschungen, die dem Auge durch die Farben entstehen. Und so ist dies insgesamt eine große Verwirrung in unserer Seele, auf welche Beschaffenheit unserer Natur dann die Schattierkunst lauert und keine Täuschung ungebraucht läßt, so auch die Kunst der Gaukler und viele andere dergleichen Handgriffe. Richtig. (Rep. X, 602cf.)

Die mimetischen Künstler richten sich mit ihren Artefakten an eben jenen Sinn, der für Täuschungen anfällig ist, nicht deswegen, weil in diesem Sinn selbst Fehlerquellen liegen, sondern weil das, was er wahrnimmt, bei Platon immer unter dem Verdacht des Truges steht, eines Truges aber, den die Masse der Menschen nicht zu durchschauen vermag. Für den Entwurf der Intellektstheorie, die sich aus diesen Täuschungen losreißen soll, ist ein anderer Zug der Gesichtstheorie weitreichender: die Koordination von, erstens, einem innen brennenden und nach außen dringenden Feuer mit, zweitens, einem außen brennenden Feuer und, drittens, dem Gegenstand selbst. Das Gesicht ist auf seiten der Augen nicht rein rezeptiv, sondern es findet sich dort eine Aktivität: die Emission des Sehstrahles. Diese ist auf ein gleichartiges Äußeres angewiesen, um ein weiteres gleichartiges Äußeres zu sichten. Nur Körperliches kann Körperliches sehen. Für das Sehen sind drei Bestandteile vonnöten: erstens die Sehfähigkeit – zweitens das Licht – drittens der gesehene Gegenstand: Wenn auch in den Augen (ommasin) Gesicht (opseôs) ist (enousês), und wer sie hat, versucht es zu gebrauchen, und wenn auch Farbe für sie da ist, so weißt du wohl, wenn nicht ein drittes Wesen (geos triton) hinzukommt (paragenêtai), welches eigens hierzu da ist seiner Natur nach, daß dann das Gesicht (opsis) doch nichts sehen wird (ouden opsetai), und die Farben werden unsichtbar bleiben. Welches ist denn dieses, was du meinst? fragte er. Was du, sprach ich, das Licht (phôs) nennst. Du hast recht, sagte er. Also sind durch eine nicht geringe Sache (ou smikra idea) der Sinn des Gesichts (horan aisthêsis) und das Vermögen des Gesehenwerdens (horasthai dunamis) mit einem köstlicheren Bande (timiôterô zugô) als die andern solchen Verknüpfungen aneinander gebunden, wenn doch das Licht nichts Unedles ist. (Rep. VI, 507dff.)

Gerade das Licht wird als die Bedingung der Möglichkeit zum Aufstieg über die aisthêsis hinaus fungieren. Das Licht ist nicht – wie in der neuzeitlichen Theorie des Sehens – der Träger der Sichtbarkeit, wie etwa die Stimme beim Hören. Das Licht ist vonnöten, den Sehstrahl zu verstärken. Ohne Licht gibt es kein Sehen, wenn auch das Sehen selbst nicht durch das Licht vollzogen wird, sondern von einem aus dem Auge brechenden körperlichen Strahl, einem Blick, der zu den Gegenständen dringt. Obwohl die Rolle des Lichtes zunächst geringer erscheint, als in der neuzeitlichen Theorie des Sehens nach

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Alhazen (was Simon dazu führt, die Rolle des Lichts im Sehakt zu marginalisieren), ist das Sehen doch vom Licht grundlegend abhängig. Ohne Licht sieht auch der mit Sehvermögen ausgestattete Mensch nur Dunkelheit. Das Seiende hat sich – um den treffenden Begriff Heideggers zu verwenden – zu lichten, um erkennbar zu werden. Dafür ist die Sehfähigkeit vor allem auf die „Gnade“ der Sonne und ihres Lichtes angewiesen – es sei denn, der Mensch kann die Welt durch das prometheische Feuer-Geschenk selber erhellen.75 In der opsis nach antikem Verständnis zu unterscheiden ist zweierlei: die Farbe und die Form oder Gestalt des Gesichteten. Würde die opsis allein als eine Analogie zum Tastsinn verstanden, so wäre nicht zu verstehen, wie eine Farb-Wahrnehmung zustande kommen soll.76 Die Farbe wird von Platon als ein „Ausfluß“ (aporroê) des Gegenstandes beschrieben, der in einer Weise wahrgenommen wird, die sie am ehesten mit dem Geschmack vergleichbar macht: Es bleibt nun noch ein viertes Gebiet des Wahrnehmbaren und Empfindbaren zu erörtern, das eine reiche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen umfaßt, die es richtig zu gruppieren gilt.77 Wir haben sie insgesamt mit dem Namen Farben und die Farbe hinwiederum als einen Lichtglanz (phloga) bezeichnet, der von dem jedesmal in Betracht kommenden Körper (sôma) ausgeht (aporreousan) und aus Teilchen besteht, die durch ihre Gleichartigkeit mit dem Sehstrahl (opsei) die Wahrnehmung (aisthêsin) herbeiführen. Der Vorgang des Sehens (opseôs) ist schon früher, was die Ursachen seiner Entstehung betrifft, erläutert worden. Über das Wesen der Farben dürfte also die treffendste Auskunft diejenige Ansicht geben, nach der die von anderen Körpern ausgehenden und mit dem Sehstrahl (opsin) zusammentreffenden Stoffteilchen (moria) teils kleiner teils größer teils von gleicher Größe sind, wie die des Sehstrahles (meresin opseôs). Die von gleicher Größe werden

75 Noch bis zu Nietzsche zeigt sich die Macht der Licht-Symbolik als Rivalität zwischen Abhängigkeit von Gott und eigenständiger Erhellung. In Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125 „Der Tolle Mensch“ läßt Nietzsche den „tollen Menschen“ am Mittag auf den Marktplatz springen und dort seine eigene Laterne anzünden, dem Licht, das den Menschen an Gott gekettet hat, das eigene Licht entgegenhalten. Nietzsches Pointe ist, daß der tolle Mensch sein Licht nicht in der Nacht entzündet, sondern am hellichten Tag, als Licht gegen ein anderes Licht. (Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, München 1988, 342-652, hier speziell 480ff.) 76 Das gleiche Problem, allerdings von der anderen Seite her, ergibt sich auch für eine rein mit der Akustik-Analogie (nach Christian Huygens: Abhandlung über das Licht. Worin die Ursachen der Vorgänge bei seiner Zurückwerfung und Brechung und besonders bei der eigentümlichen Brechung des Isländischen Spates dargelegt sind (1678), hg. und mit Anm. vers. von E. Lommel, in zweiter Aufl. durchges. und bericht. von A.J. von Oettingen, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1996 (Reprint). Zur Akustik-Analogie vgl. 11f.) operierende Optik. Diese ist zwar in der Lage, aus der Wellen-Natur des Lichtes die Wahrnehmung von Farben, als Licht von bestimmter Wellenlänge zu erklären, kaum aber die Gestalt-Wahrnehmung; denn wie sollte eine sich zirkulär ausbreitende Welle in der Lage sein, eine Gestalt-Information ins Auge zu kommunizieren? Selbst die Wellentheorie bedarf hier eines Rekurses auf die lineare Ausbreitung des Lichtes, sei es als Strahl, sei es als Teilchenstrom, um eine Punkt-auf-Punkt-Abbildung zu konstruieren. Die Phänomene erweisen sich bei genauer Betrachtung auch für die heutige Physik als noch immer nicht perfekt erklärt. 77 Zuvor waren Zunge, Nase und Ohr untersucht worden.

PLATONS GESICHTER | 63 nicht wahrgenommen (anaisthêta), wie wir sie denn auch durchsichtig nennen78, die größeren und kleineren dagegen haben, die einen durch Zusammenziehung, die anderen durch Ausdehnung des Sehstrahles, für diesen eine ganz ähnliche Bedeutung, wie die warmen und kalten Stoffteilchen für das Fleisch79 und wie die herben und alle von uns wegen ihrer erhitzenden Wirkung als ‚scharf‘ (beißend) bezeichneten für die Zunge; es sind dies (die Farben) Weiß und Schwarz, Erscheinungen, die einem anderen Gebiete angehören als jene, aber auf ihrem Gebiete die nämliche Bedeutung haben, nur daß sie eben aus den angeführten Gründen sich anders darstellen. (Tim. 67cf.)

Der Sehstrahl hat eine Art körperlicher Oberfläche, die aus Teilen besteht, durch die die Farbteilchen hindurchfließen können. Es ist auch im Weiteren keine Rede davon, daß diese Farbteilchen etwa in cerebrale oder neuronale Signale umgewandelt werden. Die Farbe scheint direkt der psuchê zu „Gesicht“ zu kommen. Der somatische Sehstrahl ist allerdings, wiewohl Bedingung der Möglichkeit des Sehens, selber nicht sichtbar, wie sich aus einem Vergleich mit der epistêmê zeigt, der ex negativo darauf deutet, daß der Sehstrahl (opsis) nicht sichtbar sein kann, daß der Sehstrahl den Sehstrahl nicht sehen können kann: Bedenke nur, ob du glauben kannst, es gebe ein Sehen (opsis tis), welches gar nicht ein Sehen derer Dinge ist, die anderes Sehen (opseis) sieht, sondern nur ein Sehen von sich selbst und anderem Sehen ( heautês kai tôn allôn opseôn opsis) und vom Nichtsehen (mê opseôn) ebenfalls, und welches keine Farbe (chrôma) sieht, ob es gleich ein Sehen ist, sich selbst aber und anderes Sehen (hautên kai tas allas opseis) sieht. Glaubst du, daß es ein solches gibt? Beim Zeus, ich nicht. (Charm.167bff.)

Eine Konsequenz aus der Gesichts-Theorie des Da-Sehens ist die Gefährdung des Betrachters, sein Eintauchen in eine Scheinwelt oder seine Beschmutzung durch den Anblick von Unreinem. Wer die Täuschung und die Trugbilder anschaut, befindet sich selbst in der Täuschung, in der Dimension der Täuschung, in der Lüge. Die neuzeitliche Trennung in Subjekt und Objekt, die potentiell dem Subjekt erlaubt, sich hinreichend vom Objekt zu distanzieren, besteht hier nicht. Der Da-Seher ist in der Dimension, in der er sieht.80 Diese Voraussetzung ist entscheidend für die im Phaidon entwickelte Lehre von der Dimension der eidê, die den Tod des Philosophen als Bedingung für die Einsicht in die Ideen voraussetzt. Es ist nicht allein das Erkenntnisobjekt, das sich verändern kann oder muß, sondern auch der Erkennende selbst muß sich verändern. Wer in die unkörperliche Welt der eidê Einsicht bekommen will, 78 Die eigenartige Behauptung, das den Teilen des Sehstrahles gleich Große werde nicht wahrgenommen, löst sich auf dem Umweg über die Unsichtbarkeit des Sehstrahles selbst auf: das Unsichtbare muß mit dem Sehstrahl verwandt sein, da der Sehstrahl selbst unsichtbar ist. Vgl. dazu Charm. 167cf. Dort diskutiert Sokrates die Frage, ob es ein Sehen (opsis) geben könne, das nur das Sehen sieht – mit der Antwort, daß die opsis nur Farbiges sieht, der Sehstrahl aber selbst farblos ist. 79 Platon denkt hier an die Poren der Haut, die sich bei Erwärmung vergrößern, bei Kälte zusammenziehen. 80 Vgl. dazu Phd. 109aff. das Meer-Luft-Himmel-Gleichnis.

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muß selbst seinen Körper verlassen. Wer sich aus der Welt der sinnlichen Wahrnehmung in das Reich des Geistigen bewegen will, muß die aisthêsis und die somatischen Bestandteile der aisthêsis aufgeben. Er wird dann – so das Versprechen – auf eine geistige Dimension treffen. Diese Dimension aber ist beschrieben und – so meine These – konstruiert als Abbild der aisthetischen. Das Auge der psuchê, das Zugang zur Erkenntnis hat, ist ein anderes Auge als dasjenige, das die sichtbaren Dinge wahrnimmt. Aber es ist ein Auge, nämlich das „Auge der psuchê“. Beide Augen, das Auge und das „Auge“ liegen nur einen Schritt weit voneinander entfernt, der vom sinnlichen Sehen zum un-sinnlichen „Sehen“ führt. Diese Lehre wird im Phaidon entwickelt. Hier wird gleichzeitig eine Lehre von körperlosen Gegenständen wie von einem körperlosen Sehen durch die unkörperliche psuchê gelehrt: Sollen wir also, sprach er, zwei Arten (duo eidê) der Dinge (ontôn) setzen (thômen), sichtbar (horaton) die eine und die andere unsichtbar (aides)? Das wollen wir, sprach er. Und die unsichtbare (aides), als immer (aei) auf gleiche Weise (kata tauta) sich verhaltend, die sichtbare (horaton) aber niemals (mêdepote) gleich? Auch das, sagte er, wollen wir setzen (thômen). Wohlan denn, sprach er, ist nicht von uns selbst das eine Leib (sôma) und das andere Seele (psuchê)? Allerdings. Welcher von jenen beiden Arten (eidei) nun wollen wir wohl sagen, daß der Leib (sôma) ähnlicher sei und verwandter? Das muß ja jedem deutlich sein: dem sichtbaren (horatô). Wie aber die Seele (psuchê), ist die unsichtbar (horaton) oder sichtbar (aeides)? Menschen wenigstens ist sie es nicht, o Sokrates, sagte er. Aber wir sprachen doch von dem Sichtbaren (horata) und Unsichtbaren (kai ta mê) für die Natur der Menschen, oder meinst du für irgendeine andere? Für die menschliche. Was sagen wir also von der Seele (peri psuchês), daß sie sichtbar (horaton) sei oder nicht sichtbar (aoraton)? Nicht sichtbar (ouch horaton). Also unsichtbar (aides). Ja. Ähnlicher (homoioteron) also als der Leib (sômatos) ist die Seele (psuchê) dem Unsichtbaren (aidei), er aber dem Sichtbaren (horatô). Ganz notwendig, o Sokrates. Und nicht wahr, auch das haben wir schon lange gesagt, daß die Seele (psuchê), wenn sie sich des Leibes (sômati) bedient, um etwas zu betrachten (skopein), es sei durch das Gesicht (horan) oder das Gehör (akouein) oder irgendeinen andern Sinn (aisthêseôs) — denn das heißt vermittelst des Leibes (sômatos), wenn man vermittelst eines Sinnes (aisthêseôs) etwas betrachtet (skopei) —, dann von dem Leibe (sômatos) gezogen wird zu dem, was sich niemals auf gleiche Weise verhält (oudepote kata tauta echonta), und daß sie dann selbst schwankt (planatai) und irrt (tarattetai) und wie trunken taumelt (eiliggia hôsper methuousa), weil sie ja eben solches berührt. Das haben wir gesagt.

PLATONS GESICHTER | 65 Wenn sie aber durch sich selbst (autê kat‘ autên) betrachtet (skopê), dann geht sie zu dem reinen (katharon) immer seienden (aei on) Unsterblichen (athanaton) und sich stets Gleichen (hôsautôs echon), und als diesem verwandt (suggenês) hält sie sich stets (aei) zu ihm, wenn sie für sich selbst ist und es ihr vergönnt wird, und dann hat sie Ruhe (pepautai) von ihrem Irren (planou) und ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich, weil sie eben solches berührt, und diesen ihren Zustand nennt man eben die Vernünftigkeit (phronêsis). Auf alle Weise, o Sokrates, sagte er, ist dies schön und wahr gesagt. Welcher von beiden Arten (eidei) also dünkt dich die Seele (psuchê) nach dem Vorherigen und dem jetzt Gesagten ähnlicher und verwandter zu sein? Jeder, sagte er, dünkt mich, o Sokrates, müßte nach dieser Darstellungsweise zugeben, auch der Ungelehrigste, daß doch in allem und jedem die Seele dem sich immer Gleichbleibenden (aei hôsautôs echonti) ähnlicher ist als dem nicht solchen. Und wie der Leib (sôma)? Dem anderen. (Phd. 79aff.)

Die psuchê kann sich nur in dem Maße mit dem unsichtbaren Immergleichen beschäftigen, wie sie selbst ein Unsichtbares ist. Sie kann korrumpiert werden, wenn sie sich des Körpers bedient, um Betrachtungen anzustellen, da der Körper sie in die Region des Schwankenden, Trügerischen und Falschen zieht. Wenn aber die psuchê sich dem Immergleichen zuwenden will, so muß sie auf die körperlichen Bestandteile verzichten. Sie muß sich eines „Auges der psuchê“ bedienen, des nous.

Der Schauraum im Körper Innerhalb des Körpers wird – so lehrt Platon im Timaios – ein eigenartiges Organ von den Göttern angebracht, das dafür zuständig ist, der Vernunft Bilder vorzuspiegeln, die diese darauf aufmerksam machen, daß es körperliche Bedürfnisse gibt. Mit diesen Bildern soll der Verstand dazu gebracht werden, zu begehren. Dieses Organ ist die Leber: Den Teil der Seele nun aber, welcher nach Speise (sitiôn) und Trank (potôn) begehrt (epithumêtikon) und nach allem, was ihm die Natur des Leibes (sômatos) zum Bedürfnisse macht, verlegten sie in den Raum zwischen dem Zwerchfell und der Nabelgegend, nachdem sie gleichsam eine Krippe in dieser ganzen Räumlichkeit für die Nahrung des Körpers angefertigt hatten, und banden denn jenes Wesen hier an, wie ein wildes Tier, das aber wegen der Verbindung, in welcher es mit dem Ganzen steht, notwendig ernährt werden mußte, wenn einmal ein Geschlecht sterblicher Wesen entstehen sollte. Damit es also immer an der Krippe weiden könne und so entfernt als möglich von dem beratenden Teile der Seele wohne und demzufolge möglichst wenig Lärm und Geschrei erhebe, vielmehr jenen edelsten Teil in Ruhe über das gemeinsame Wohl des Ganzen mit sich zu Rate gehen lasse, aus diesem Grunde wiesen sie ihm hier seine Stelle an. Weil sie [die Götter; A.d.V.] aber wußten, daß es die Vernunft nicht verstehen würde (logou sunêsein emellen) und daß, wenn es ja einmal von irgendwelchen vernünftigen Vorstellungen eine Art von Empfindung (aisthêseôs) bekäme, es doch

66 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN nicht in seiner Art liegen würde auf sie zu achten, sondern daß es von Schatten(eidôlôn) und Trugbildern (phantasmata) bei Tage und bei Nacht fortwährend verlockt werden würde (psuchagôgêsaito), so setzte Gott, indem er eben hierauf sein Absehen richtete, das Gebilde (idean) der Leber (hepatos) zusammen und fügte sie in die Behausung jenes Wesens ein, und zwar bildete er sie dicht, glatt, glänzend, süß und zugleich mit Bitterkeit versehen, damit in ihr wie in einem Spiegel (katoptrô), welcher Abdrücke (tupous) der Gegenstände aufnimmt und so deren Bilder (eidôla) dem Auge wiedergibt (katidein), die Macht der aus der Vernunft (ek tou nou) kommenden Gedanken (dianoêmatôn) sich abspiegle und so teils jenes Seelenwesen schrecke, so oft sie sich strenge und drohend naht, indem sie sich des derselben beigegebenen bitteren Teiles bedient, um denselben mit Heftigkeit durch die ganze Leber zu verbreiten, und so gallichte Farben in ihr zum Vorschein bringt und sie in allen ihren Teilen zusammendrängt und dadurch runzlig und rauh macht, teils dadurch, daß sie den Lappen derselben aus seiner geraden Lage umbiegt und zusammenzieht und ihre Gefäße und ihre Pforte verstopft und verschließt, ihm auch wirkliches Leiden und Unbehagen verursache, und damit ferner auch umgekehrt, wenn vielmehr ein milder Anhauch des Gedankens Bilder (phantasmata) der entgegengesetzten Art in ihr abspiegelt (apozôgraphoi), derselbe ihm vor der Bitterkeit Ruhe verschaffe, indem er diese seiner eignen Natur entgegengesetzte Substanz weder aufregen noch auch nur berühren mag, und vielmehr der Süßigkeit, welche der Leber eingepflanzt ist, sich bediene, um so auf letztere zu wirken, daß alle Teile derselben ihre gerade und regelmäßige Lage, ihre Glätte und Freiheit erhalten, und so jenem um sie herum wohnenden Teile der Seele Heiterkeit und Wohlbefinden und bei Nacht einen angemessenen Zeitvertreib, das Weissagen im Schlafe (manteia), verleihe, da er nun einmal an Vernunft (logou) und Einsicht (phronêseôs) keinen Teil erhielt. Denn eingedenk (memnêmenoi) jenes ihnen von ihrem Vater gewordenen Auftrags, dem Menschengeschlechte nach Kräften die möglichste Vollendung zu geben, strebten unsere Bildner demgemäß auch das Niedrige in uns zu heben und gründeten daher, um es doch wenigstens in gewisser Weise mit der Wahrheit in Berührung treten zu lassen, in ihm den Sitz der Weissagung (manteion). Einen hinlänglichen Beweis (sêmeion) aber dafür, daß Gott die Seherkunst (mantikên) wirklich mit dem bewußtlosen Teile (aphrosunê) der Menschenseele verknüpft hat, bietet der Umstand dar, daß keiner, der seines Bewußtseins mächtig (ennous), eines gottbegeisterten und wahren Seherspruchs fähig ist, sondern man zu dieser Befähigung nur entweder im Schlafe, wo also die Denkkraft gebunden ist, oder dann gelangt, wenn man durch Krankheit oder eine Art von Verzückung die Besinnung verloren hat, und daß sodann im Gegensatze dazu diese im Traum oder Wachen von der Seherkraft und verzückten Begeisterung eingegebnen Aussprüche aufzulassen, indem man sie sich in die Erinnerung (anamnêsthenta) zurückruft, und alle die in jenem Zustande wahrgenommenen Bilder (phantasmata ophthê) durch verständiges Nachdenken (logismô) zu zergliedern, um darnach zu entscheiden, inwieweit und für wen sie etwas zukünftiges (mellontos), vergangenes (parelthontos) oder gegenwärtiges (parontos) Gutes oder Schlimmes bedeuten, vielmehr die Sache eines seiner Besinnung Mächtigen (sôphroni) und dagegen die des in jenen wahnsinnartigen Zustand Geratenen und noch in ihm Befindlichen es nicht ist, die Erscheinungen (phanenta), welche er gehabt, und die Worte, welche er gesprochen hat (phônêthenta), zu deuten, sondern von alter Zeit her und mit Recht be-

PLATONS GESICHTER | 67 hauptet wird, daß nur im besonnenen Zustande der Mensch der Beurteiler seiner selbst und seiner Handlungen und der wirkliche Urheber der letzteren ist. Daher ist es denn auch Brauch, die sogenannten Propheten in den Orakelstätten als Deuter den gottbegeisterten Sehern beizuordnen, welche zwar von manchen selbst Seher genannt werden, aber nur von solchen, die ganz und gar nicht wissen, daß sie nur Ausleger der rätselhaften Aussprüche (phêmês) und Erscheinungen (phantaseôs) und keineswegs Wahrsager, mit vollem Rechte aber Propheten, d.h. Dolmetscher der Weissagenden, zu heißen verdienen. Die Leber hat also aus diesem Grunde eine solche Beschaffenheit und den angegebenen Ort empfangen, nämlich zum Zwecke der Weissagung. Und zwar gibt sie dieser ihrer Einrichtung gemäß nur in dem noch lebenden Körper deutlichere Anzeichen, des Lebens beraubt dagegen wird sie blind und gibt dunklere Weissagungen, als daß sie irgendetwas Deutliches durch sie anzeigen (semainein) könnte. (Tim. 71a-72c)

Es gibt einen Raum der Sichtbarkeit im Inneren des Körpers – der allerdings wiederum einem inneren Auge Bilder als Begegnende darstellt. Es handelt sich also nicht etwa um eine Selbstaffektion, sondern das Innere findet sich scheinbar gespalten in einen Bilder machenden und wiedergebenden Teil und einen Bilder wahrnehmenden, augenhaften Teil. Der logos malt auf die Leber entweder bittere Bilder, damit der begehrende Körperteil abgeschreckt werde und tatsächlich zu leiden beginnt, oder süßliche Bilder für das Begehrungsvermögen, damit dieses mit Heiterkeit und Wohlbefinden erfüllt werde. Es ist der logos, der phantasmata auf der Leber produziert, um das Begehrungsvermögen im Zaum zu halten. Zugleich aber produzieren auch die Götter auf der Leber ihre Bilder, wenn der Verstand schläft oder die ganze Person in Wahnsinn verfallen ist. Die Leber gibt mit ihren phantasmata Zeichen, die aber nicht von demjenigen zu deuten sind, in dem die mantische Leber sitzt. Vielmehr bedarf es eines Zweiten, eines Vernünftigen, diese Zeichen der Mantik, diese SeMantik zu deuten. Ihre Bilder erhält die SeMantik aber ebenso wie das Begehrungsvermögen von einem Ort der Vernunft aus. Der vernunftbegabte Mensch wird selbst Bilder auf die Leber malen, der vernunftlose Mensch läßt sich von einem Gott Bilder auf die Leber malen, um daraus Wissen für „Zukünftiges, Vergangenes und Gegenwärtiges“ abzuleiten. Um diese Verbindung des Sehens mit dem notwendigen Vorliegen eines Sichtbaren bei Platon zum Abschluß zu bringen, kann die Theorie des Traumes dienen, die Platon gibt – sofern es sich nicht um einen Wahrtraum der mantikê handelt, sondern um einen Traum aus der Produktion des Träumers. Auch hier findet eine Spaltung in Sehendes und Gesehenes statt. Der Tatsache des Sehens steht ein Bild gegenüber, das gesehen wird – und zwar außen gesehen: Sobald dagegen das ihm [dem Augen-Licht; A.d.V.] verwandte Feuer (puros) des Tages in Nacht dahingegangen, so wird und bleibt der Sehstrahl vom Auge abgeschnitten; denn da er nunmehr zu Unähnlichem heraustritt, so verändert er auch sich selber und erlischt, indem er nicht mehr mit der umgebenden Luft eine Verbindung eingeht, weil dieselbe kein Feuer hat. Er hört daher auf, eine Gesichtswahrnehmung (horôn) hervorzubringen und führt überdies auch den Schlaf herbei. Indem nämlich nun das, was die Götter zum Schutze des Gesichtes ins Leben gerufen haben, das Gebilde der Augenlider, indem, sage ich, diese sich schließen, so

68 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN halten sie die Gewalt (dunamin) des Feuers (puros) inwendig (entos) zurück, und dieses zerstreut und beschwichtigt sodann die Bewegungen im Inneren, so daß infolgedessen Ruhe eintritt. Ist nun diese Ruhe in einem hohen Grade vorhanden, so entsteht ein nur wenig von Träumen getrübter (brachuoneiros) Schlaf; sind aber einige stärkere Bewegungen zurückgeblieben, so bewirken diese, daß Traumerscheinungen (phantasmata), welche der eigenen Natur dieser Bewegungen, sowie der der Orte, an denen sie zurückgeblieben sind, an Art und Zahl entsprechen, sich im Inneren bilden (entos) und sodann nach dem Erwachen der Erinnerung (apomnêmoneuomena) auch äußerlich (exô) entgegentreten. (Tim. 45dff.)

Durchgängig läßt sich bei Platons Ausführungen zum Sehen feststellen: Es gibt keine Wahrnehmung ohne Wahrgenommenes – was zur Konsequenz hat, daß die Wahrnehmung nicht selbst einer Kritik zu unterziehen ist, sondern die Dimension des Wahrgenommenen zur Kritik steht. Das phantasma ist nicht generell unterscheidbar von Wahrnehmungen, da es ebenso Gegenstand einer Wahrnehmung ist wie die aisthêta, weil diese aisthêta selbst als phantasmata auftreten.

PLATONS GESICHTER | 69

Die Funktion der opsis Wie und wo setzt Platon nun die opsis ein, wie bringt er die spezielle Struktur seiner Gesichtstheorie terminologisch und strukturell zum Einsatz und macht sie für seine Dialoge fruchtbar? Der Begriff opsis bezeichnet zunächst die Sehfähigkeit des Sehenden und das Aussehen des Gesehenen, wie etwa die körperliche Gestalt.81 So heißt es im Phaidros über den Geliebten: „Und so kommen sie [die Liebhaber; A.d.V.] hin und schauen des Lieblings glänzende Gestalt (tên opsin).“ (254b)82 Daneben bezeichnet opsis aber auch noch den Akt des Sehens und vereinigt damit drei Bestandteile in einem Terminus. Charles Mugler gibt unter dem Eintrag opsis folgende Bedeutungen an, die hier von mir durch Beispiele aus Platons Dialogen ergänzt werden: 1. l’aspect offert par un objet à un spectateur: „Parmenides nun wäre damals schon hoch bejahrt gewesen, ganz weißhaarig, aber edlen Ansehens (kalon de kagathon tên opsin), wohl fünfundsechzig Jahre alt.“ (Parm. 127b)83 2. l’action de voir, la perception visuelle: „[Sokrates:] Womit nun an uns sehen (horômen) wir das Gesehene (ta horômena)? – Mit dem Gesicht (tê opsei) sagte er [d.i. Glaukon; A.d.V.].“ (Rep. VI, 507c) 3. l’organe de la vue, l’œil84 81 Dieses Verhältnis findet sich im Deutschen in Spuren, etwa im Zusammenhang von „anblicken“ und „Anblick“ oder im „sehen“ und „Aus-sehen“. 82 Eine ebensolche Stelle findet sich auch im Lysis, wo es heißt, der Knabe Lysis zeichne sich durch seine opsis vor seinen Altersgenossen aus (tên opsin diapherôn; 207a). 83 Dieselbe Verwendung findet sich auch Rep. V, 452b, wo von dem „gar nicht mehr erfreulichen Anblick (opsin)“ geredet wird, den für Sokrates ältere, runzlige Menschen beim Sport bieten, ebenso im Phaidros (240d) als „nicht mehr blühende Gestalt (opsin)“ des alternden Liebhabers. 84 Mugler verweist hier auf Men. 76d und Tim. 67c/d. Ich gebe diese Stellen hier nicht wieder, da sie als Beleg für die Verwendung von opsis für den Augapfel nicht überzeugend sind, setzen sie doch die – von Simon zurecht kritisierte – Annahme voraus, es dringe etwas vom gesehenen Gegenstand ins Auge, wie es die neuzeitliche Theorie des Sehens versteht. Das genau aber findet nicht statt, sondern der Ausfluß vom Gegenstand zur opsis, die diese Stellen beschreiben, erreicht den Sehstrahl oder Sehkegel, der am Gegenstand sieht, gerade ohne daß etwas in den Augapfel, in das physische Organ eindringt. In der deutschsprachigen Übersetzung von Hieronymus Müller, die die Schleiermacher-Übersetzung ergänzt, ist an dieser Stelle regelmäßig opsis mit „Sehstrahl“ übersetzt. An einer Stelle wird zudem gelehrt, daß – im Gegensatz zu Muglers Zitat – das Auge mit Sehfähigkeit eben nicht zur opsis wird: „Wenn nun ein Auge und ein solches anderes ihm Angemessenes zusammentreffen und die Röte erzeugen nebst der ihr mitgeborenen Wahrnehmung, was beides nicht wäre erzeugt worden, wenn eines von jenen beiden auf ein anderes getroffen hätte: dann wird […] auf der einen Seite das Auge (ophthalmos) erfüllt mit der Gesichtswahrnehmung (opseôs), und sieht (hora) alsdann, und ist geworden nicht eine Gesichtswahrnehmung (ou ti opsis), sondern ein sehendes Auge (ophthalmos horôn)“. (Theait. 156df.) Diese Stelle findet sich zwar im Referat der protagoräischen Wahrnehmungstheorie, der Sokrates insgesamt nicht zustimmt, die hier zitierte Stelle allerdings über das Auge und die opsis faßt eine Einstellung zusammen, die sich – wie im folgenden deutlicher werden wird insbesondere im Zusammenhang mit den Frühdialogen – auch in der platonisch-sokratischen Auffassung der opsis findet.

70 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN 4. le flux visuel rayonné par l’œil ou le rayon visuel isolé: „Sobald daher das Tageslicht diese Ausströmung des Sehstrahles (to tês opseôs rheuma) in sich aufnimmt, so strömt eben damit Gleichartiges zu Gleichartigem aus, und beides verschmilzt durch diese seine Verwandtschaft in gerader Richtung vom Auge zu einem einzigen Körper, wo nur immer das von innen ausströmende Feuer an demjenigen, welches von den äußeren Gegenständen her mit ihm zusammentrifft, im Gegenstoße einen Halt findet.“ (Tim. 45c) 5. une apparition, un fantôme, un spectre: „es ist mir oft derselbe Traum vorgekommen in dem nun vergangenen Leben, der mir bald in dieser, bald in jener Gestalt (opsei) erscheinend immer dasselbe sagte: O Sokrates, sprach er, mach und treibe Musik.“ (Phd. 60e)

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Opsis bezeichnet, entgegen der dritten von Mugler genannten Bedeutung, bei Platon nicht das Auge selbst, wie sich etwa im Laches (190a, siehe untenstehendes Zitat) zeigen läßt, wo Platon deutlich die opsis von den ophthalmoi unterscheidet. Auch bei Punkt 5 ist ein Vorbehalt zu äußern gegenüber Muglers Zuschreibung, bezeichnet doch diese opsis nicht das Schemenhafte oder Geisterhafte des Gesehenen, sondern zeigt lediglich, daß im Traum etwas vor Augen steht und gesichtet wird. Daß es sich dabei um etwas Geisterhaftes handelt, zumindest etwas, das nicht in derselben Weise ein erscheinendes Gesehenes ist, wie die erscheinenden Dinge der physischen Welt, gehört gerade zur Schwierigkeit im Umgang mit der opsis: die opsis bringt sowohl die verläßlichen als auch die unverläßlichen (das heißt Spiegel und Bilder) Dinge der physischen Welt, wie auch Dinge außerhalb der physischen Welt zu Gesicht. Sie liefert – ähnlich dem cartesischen Zweifel – kein sicheres Kriterium, Traum und Wachen, bloßes phantasma und aisthêsis eines wirklichen Dinges zu unterscheiden (vgl. Theait. 158b). Die opsis bedarf bei Platon keiner Verarbeitung auf neuronaler Ebene, wie das neuzeitliche Sehen, dennoch ist sie korrekturbedürftig. Und gerade diese Korrekturbedürftigkeit, diese Notwendigkeit, mit intellektuellen Verfahren in die opsis einzugreifen, und zugleich ihre Korrekturfähigkeit machen sie tauglich für eine Verwendung als Grundlage der Intellektstheorie Platons. Die scheinbar harsche Scheidung, die zwischen horaton und noeton im Phaidon (79f.) eingeführt und in der Politeia86 expliziert wird, läßt sich in einen Zusammenhang auflösen.

Die Opsis als Vorbild Zunächst ist die opsis in ihrem Zusammenhang mit dem Augapfel von Interesse, als notwendiger Zusammenhang eines physischen Gegenstandes mit einer Fähigkeit oder einem Vermögen, die zu diesem physischen Gegenstand hinzukommen, ohne doch etwas Sichtbares zu sein, als eine Eigenschaft, die den physischen Gegenstand „Augapfel“ überhaupt erst sehend macht: SOKRATES: Wenn wir […] von irgend etwas wissen, daß es einem anderen einwohnend dieses besser macht, dem es einwohnt, und zugleich imstande sind, zu be85 Charles Mugler: Dictionnaire historique de la terminologie optique des Grècs. Douze siècles de dialogues avec la lumière, Paris 1964, 290ff. 86 Vgl. insbesondere das Sonnen- und Liniengleichnis am Ende des VI. Buches.

PLATONS GESICHTER | 71 wirken, daß es jenem einwohne, so kennen wir doch offenbar eben dieses, worüber wir Rat geben sollen, wie jemand es am leichtesten und besten erwerben könne. Vielleicht indes versteht ihr noch nicht, was ich meine; so aber werdet ihr es besser verstehen. Wenn wir wissen, das Sehen (opsis), den Augen (ophthalmois) einwohnend, mache die besser, denen es einwohnt, und zugleich vermögen zu bewirken, daß es den Augen einwohne, so kennen wir doch offenbar das Sehen (opsin) selbst, was es ist, über welches wir Rat geben sollen, wie jemand es am leichtesten und besten erwerben möge. Denn wenn wir auch dieses nicht einmal wüßten, was das Sehen (opsis) ist oder das Hören (akoê), so hat es gute Wege, daß wir taugliche Ratgeber und Ärzte sein könnten für Augen (ophthalmôn) und Ohren (ôtôn), auf welche Weise jemand Gehör (akoên) und Gesicht (opsin) am besten erlangen könnte. LACHES: Richtig ist, was du sagst, o Sokrates. SOKRATES: Haben nun nicht, o Laches, auch jetzt diese beiden uns zur Beratung gerufen, auf welche Weise wohl den Seelen (psuchais) ihrer Söhne Tugend (aretê) beigebracht werden und sie besser machen möge? (Lach. 189ef.)

Das Verhältnis des Gesichtes zum Augapfel ist also analog dem Verhältnis der Tugend (aretê) zur psuchê. Diese potentielle Eigenschaft der Augäpfel, zu sehen, die deswegen nicht notwendig ist, da es auch blinde Augäpfel geben kann, eignet sich als Analogon für die Theorie der psuchê besonders, weil sie die Tugend als eine Gesichtsfähigkeit der psuchê, als eine Art Hellsichtigkeit zu konzipieren erlaubt. Anhand gerade dieses Vergleiches läßt sich zeigen, wie das zentrale Anliegen der Dialoge sich wandelt: Ist in den frühen Dialogen die aretê der opsis vergleichbar, so wird später die epistêmê in dieser Weise mit der opsis in Zusammenhang gebracht.87 In der Auslegung des Höhlengleichnisses führt Sokrates aus: Wir müssen daher, sprach ich, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Unterweisung (paideian) nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis (epistêmês) in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen (tuphlois ophthalmois) ein Gesicht (opsin) einsetzten. Das behaupten sie freilich, sagte er. Die jetzige Rede aber, sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele (psuchê) eines jeden einwohnende (enousan) Vermögen (dunamin) und das Organ (organon), womit jeder begreift (katamanthanei), wie das Auge (omma), nicht anders als mit dem gesamten Leibe (sômati) zugleich sich aus dem Finstern ans Helle (phanon) wenden konnte, so auch dieses nur mit der gesamten Seele (holê tê psuchê) zugleich von dem Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen (theômenê) des Seienden und des glänzendsten (phanotaton) unter den Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute; nicht wahr? Ja. (Rep. VII, 518bff.)

87 Die Wandlung des zentralen Interesses der Dialoge weg von der aretê hin zur epistêmê deutet sich bereits in der Integration der aretê in die epistêmê an; vgl. Charm. 165c; Lach. 199af.; Men. 88d.

72 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Die Stelle ist schwierig, da die Analogie kompliziert ist. Zurückgewiesen wird der Gedanke, die epistêmê wäre lehrbar in der Weise, daß jemand ganz ohne epistêmê diese bekommen könnte, als setzte man blinden Augen das Sehvermögen ein. Die Ausführung des Sokrates dagegen geht davon aus, daß das Vermögen bereits in der psuchê vorhanden ist, sich aber nicht auf die Gegenstände richtet, die durch dieses Vermögen wahrgenommen werden können. Nicht die psuchê ist ohne Sehfähigkeit, sondern die Gegenstände, die das Auge der psuchê sehen könnte, finden sich nicht dort, wo sie gegenwärtig hinschaut, nämlich im Dunkel der Höhle. Wie der körperliche Höhlenmensch sich aus dem Dunkel ins Helle zu wenden hat, so hat der Erkenntniswillige sich umzuwenden. Wie der Höhlenmensch seine Augen nicht ohne den ganzen Körper umwenden kann, so kann die opsis sich nicht ohne die ganze psuchê wenden. In der psuchê ist die opsis bereits vorhanden, sie kann aber nichts sehen, da sie auf für sie Unsichtbares (nämlich das Körperliche) blickt. In dieser Analogie ist die Lehre Platons einleuchtend – wie sie ohne diese Verbildlichung durchgeführt werden sollte, ist höchst fraglich. Nur der Vergleichsgrund aus Augen, Sehfähigkeit und Helligkeit liefert die Beweismittel für seine Argumentation. Den Schüler etwas „sehen“ zu lassen heißt also nicht, ihm die opsis einzupflanzen, sondern vielmehr, ihn dazu zu bringen, sich umzuwenden und die vorhandene Sehfähigkeit auf das für die psuchê Gelichtete zu richten. Hiervon nun eben, sprach ich, mag sie [die Unterweisung (paideia); A.d.V.] wohl die Kunst (technê) sein, die Kunst der Umlenkung, auf welche Weise wohl am leichtesten und wirksamsten dieses Vermögen kann umgewendet werden, nicht die Kunst, ihm das Sehen (horan) erst einzubilden (empiêsai), sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe (bleponti), wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern. Das leuchtet ein, sagte er. (Rep. VII, 518d)

In sehr ähnlicher Weise operiert Sokrates im Charmides mit der opsis als Analogie-Grundlage. Sokrates tritt als Arzt auf, und zwar als Augenarzt: Sie [die Kraft des pharmakon; A.d.V.] ist nämlich, o Charmides, von der Art, daß sie nicht nur den Kopf kann gesund machen, sondern, wie auch du vielleicht schon von guten Ärzten gehört hast, wenn etwa einer, der an den Augen (ophthalmous) leidet, zu ihnen kommt, daß sie sagen, es wäre unmöglich, die Heilung der Augen (ophthalmous) für sich allein zu unternehmen, sondern sie müßten zugleich auch den Kopf behandeln, wenn die Augen (ommatôn) sollten hergestellt werden; und wiederum zu glauben, man könnte den Kopf allein für sich behandeln ohne den ganzen Leib, wäre großer Unverstand. […] Dieser Thrakier nun sagte, in jenem, was ich eben gesagt habe, hätten die hellenischen Ärzte ganz recht; aber Zamolxis, unser König, sprach er, der ein Gott ist, sagt, so wie man nicht unternehmen dürfe, die Augen (ophthalmous) zu heilen ohne den Kopf (kephalên), noch den Kopf ohne den ganzen Leib (sômatos), so auch nicht den Leib ohne die Seele (psuchês); sondern dieses eben wäre auch die Ursache, weshalb bei den Hellenen die Ärzte den meisten Krankheiten noch nicht gewachsen wären, weil sie nämlich das Ganze verkennten, auf welches man seine Sorgfalt richten müßte, und bei dessen Übelbefinden sich unmöglich irgendein Teil wohlbefinden könnte. Denn

PLATONS GESICHTER | 73 alles, sagte er, entspränge aus der Seele, Böses und Gutes, dem Leibe und dem ganzen Menschen, und ströme ihm von dorther zu wie aus dem Kopfe den Augen. (Charm. 156b–157a)

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Von Charmides war zuvor gesagt worden, daß er häufig unter Kopfschmerzen litte, und Sokrates hatte zugestimmt, sich als Arzt auszugeben, um ihn in ein Gespräch verwickeln zu können. Zu diesem Zweck stellt er das geheimnisvolle pharmakon eines thrakischen Arztes vor, das aus einem Blatt (phullon) bestehe, das es dem Kopf aufzulegen gelte, und einer „Besprechung“ (epôdê), die der Psycho-Therapie diene. Sokrates gibt sich hier als psuchiatros aus, verkleidet sich, um die psuchê des Charmides zu entkleiden.89 Der Kopf wurde durch die Kopfschmerzen des Charmides zum Thema, woran sich die Verallgemeinerung auf den Körper (sôma) anschließt und von dort die notwendige Verbindung zur psuchê, die das eigentliche, kaschierte und verstellte Interesse des als Doktor Eisenbart auftretenden Sokrates darstellt. Daß aber in diese Reihe noch die Augen aufgenommen werden, ist nur durch ein besonderes Interesse des Sokrates an den Augen zu verstehen. So stellt es der Beginn des Dialoges vor, nämlich bei der Blendung des Sokrates im Anblick des eidos, der schönen Gestalt des Charmides. Zentral ist für dieses Feld der Zusammenhang zwischen etwas Körperlichem, Somatischem – dem Augapfel – und einem dieses Körperliche in Richtung auf die psuchê transzendierenden Vermögen, der opsis. Als Grundlage der Beweisführung wird die opsis im Charmides noch in anderer Weise herangezogen, um dort den Nachweis zu führen, daß die epistêmê sich nicht auf sich selbst beziehen kann. Konkret steht die Frage zur Debatte, ob die Besonnenheit als eine Erkenntnis (epistêmê) bezeichnet werden kann, eine solche nämlich, die aller anderen Erkenntnisse und Unkenntnisse Erkenntnis ist. Diese Behauptung greift Sokrates nicht direkt an, sondern auf dem Umweg über die opsis: Bedenke nur, ob du glauben kannst, es gebe ein Sehen (opsis), welches gar nicht ein Sehen (opsis) derer Dinge ist, die anderes Sehen (allai opseis) sieht, sondern nur ein Sehen (opsis) von sich selbst und anderem Sehen (tôn allôn opseôn) und vom Nichtsehen (mê opseôn) ebenfalls, und welches keine Farbe (chroma) sieht

88 Bereits in Lys. 209ef. verwendet Sokrates das Beispiel der Augenheilkunde, um sich selbst oder das Wirken eines Fachmannes überhaupt und das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird, zu bebildern: „Wie aber, wenn sein Sohn an den Augen litte, ließe er [d.i. der große König; A.d.V.] ihn wohl an seinen eigenen Augen etwas tun, wenn er ihn für keinen Arzt hält, oder verböte er es ihm? – Er verböte es gewiß. – Uns aber, wenn er uns für Arzneikundige hielte, wollten wir ihm auch die Augen aufreißen und mit Asche einstreuen, würde er doch, meine ich, nicht wehren, wenn er glaubte, daß wir es gründlich verständen. – Du hast recht. – Würde er nicht auch alles andere eher uns überlassen, als sich und seinem Sohne, worin nämlich wir ihm weiser zu sein schienen als sie beide? – Notwendig, o Sokrates.“ Ähnlich argumentiert Sokrates mit der Augenheilkunde in Lach. 185c: „SOKRATES: Allerdings freilich, o Nikias; aber wenn einer wegen eines Mittels für die Augen überlegt, ob er es aufstreichen soll oder nicht, glaubst du, seine Beratschlagung betreffe dann die Arznei oder die Augen? – NIKIAS: Die Augen.“ 89 Nachdem das körperliche eidos (!) des Charmides betrachtet wurde, will Sokrates ihm auch die psuchê entkleiden, vgl. 154df.

74 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN (hora), ob es gleich ein Sehen (opsis) ist, sich selbst aber und anderes Sehen (tas allas opseis) sieht. Glaubst du, daß es ein solches gibt? (Charm. 167cf.)

Kritias wird dadurch gezwungen, sich von seiner Behauptung zu distanzieren, die Besonnenheit sei die Erkenntnis aller Erkenntnisse (epistêmê epistêmôn), und Sokrates kann folgern, daß es unmöglich oder doch unglaublich ist, daß überhaupt etwas seine Eigenschaft als Beziehung auf sich selbst haben soll. Die zweite Phase des analogisch argumentierenden Umgangs mit der opsis ist ihre Korrekturbedürftigkeit und -fähigkeit, die im Protagoras explizit und strategisch eingeführt wird. Der Lehrer und Augenarzt Sokrates verwandelt sich in einen Meßkünstler: Erscheint (Phainetai) eurem Gesicht (opsei) dieselbe Größe von nahem größer, von weitem aber kleiner, oder nicht? Das werden sie bejahen. Und die Dicke und die Menge ebenso? Und derselbe Ton von nahem stärker, von weitem aber schwächer? Sie werden ja sagen. Wenn nun unser Wohlbefinden darauf beruhte, daß wir große Linien zögen und zu erlangen suchten, kleine aber vermieden und nicht zögen: was würde sich dann zeigen als das Heil unseres Lebens? Die Kunst zu messen (mêtrikê technê) oder die Gewalt des Scheins (phainomenou dunamis)? Oder würde nicht die letzte uns gewiß irre führen und machen, daß wir oft das unterste wieder zu oberst kehren müßten in derselben Sache und wieder andere Entschließungen fassen in unserer Hervorbringung und Auswahl des Großen und Kleinen? Die Meßkunst (mêtrêtikê) hingegen dieses Trugbild (phantasma) unwirksam machen, und durch Verdeutlichung des Wahren (to alêthes) der Seele (psuchên), welche dann bei der Wahrheit (tô alêthei) bliebe, Ruhe verschaffen und auf diese Art unserm Leben Heil bringen? Würden die Leute bekennen, daß in diesem Falle die Meßkunst (mêtrêtikên) uns Heil bringen müßte, oder würden sie eine andere nennen? Die Meßkunst, gestand er. (Prot. 356c ff.)90

Der hier eingeführte Zusammenhang, der die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend behandelte und in einem Widerspruch endete, der unauflösbar scheint, findet sich im Menon wieder aufgenommen. Die Verbindung des ethisch-moralischen Wissens mit der Meßkunst – dann vor allem der Geometrie – wird fortgesetzt: es ist ein geometrisches Beispiel, an dem Sokrates den Beweis führt, daß das Wissen immer schon in der psuchê vorhanden ist – zumal das Wissen in geometrischen Dingen. Damit ist aber auch, schließt Sokrates, das Wissen überhaupt und insbesondere das Wissen um ethischmoralische Dinge bereits in der psuchê enthalten – so wie in der Passage in der Politeia die Sehfähigkeit in der psuchê bereits vorhanden, aber nicht aktuell sehend ist. Ausgangspunkt der Untersuchung im Protagoras war das Verhältnis zwischen dem kleineren und größeren, näheren und ferneren Angenehmen. Hier ist die opsis tauglich, um die Perspektivik, die das Fernere kleiner, das 90 Eine sehr ähnliche Beweisführung, die die Messkunst gegen die Täuschungen der mimêtikê ins Feld führt, findet sich in Rep. X, 602df.

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Nähere größer erscheinen läßt, zu korrigieren – als Analogie allerdings. Die Meßkunst erweist sich als Möglichkeit, aus der Relativität des Raumes (der optischen Perspektivik) oder der Zeit (der moralischen Perspektivik von Ereignissen) auszubrechen. Die opsis hat ihre offenbare Schwäche im Zusammenhang mit der Raumperspektive, dem Sehen von entfernten Gegenständen.91 Immer wieder taucht in den Dialogen die Beobachtung auf, daß etwas, das aus der Ferne gesehen wird, kleiner ist, als etwas, das aus der Nähe gesehen wird. Hier bietet sich die Geometrie an, um in diese falsche opsis einzugreifen, sie zu korrigieren. Die opsis ist korrekturbedürftig, erweist aber auch, daß der messende Verstand hier einen Ansatzpunkt für den korrigierenden Eingriff findet. Der opsis eignet also in vorzüglicher Weise die Korrigierbarkeit. Die Notwendigkeit des messenden Eingreifens in die opsis zeigt sich im wahrsten Sinne des Wortes augenfällig. Die Geometrie des Menon, die aus dem sichtbar in den Staub gezeichneten Quadrat ein anderes Quadrat erzeugen soll, ist der Aufstieg von den zufälligen, auswischbaren sinnlichen Wahrnehmungen hin zu den ewigen Dingen – so führt es die Politeia vor: Also wenn die Meßkunst uns nötigt, das Sein (ousian) anzuschauen, so nutzt sie; wenn das Werden (genesin), so nutzt sie nicht. Das behaupten wir freilich. Und dieses, sprach ich, wird uns wohl niemand, wer nur ein weniges von Meßkunst (geômetrias) versteht, bestreiten, daß diese Wissenschaft (epistêmê) ganz anders ist als die, welche sie bearbeiten, darüber reden. Wieso? Sie reden nämlich gar lächerlich und notdürftig; denn es kommt heraus, als ob sie etwas ausrichteten, und als ob sie eines Geschäftes wegen ihren ganzen Vortrag machten, wenn sie quadrieren, verlängern, zusammennehmen und was sie sonst für Ausdrücke haben; die ganze Sache aber wird bloß der Erkenntnis wegen betrieben. Allerdings, sagte er. Und ist nicht auch noch dies einzuräumen? Was doch? Daß wegen der Erkenntnis des immer Seienden (aei ontos gnôseôs), nicht des bald Entstehenden bald Vergehenden? Leicht einzuräumen, sagte er. Denn offenbar ist die Meßkunst die Kenntnis des immer Seienden. Also, Bester, wäre sie auch eine Leitung der Seele zum Wesen hin und ein Bildungsmittel philosophischer Gesinnung, daß man nämlich oben habe, was wir jetzt gar nicht geziemend nach unten halten.

91 Von einem Begriff des „Raumes“ bei Platon zu sprechen scheint etwas schwierig, da der Raum bei ihm vornehmlich als eine metaphysische Größe gedacht ist, der nicht unbedingt mit dem dreidimensionalen Raum der Erscheinungswelt zu verbinden ist. Vgl. dazu den Abschnitt „Platons Raumauffassung“ bei Alexander Gosztonyi: Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, 2 Bände, Freiburg/München 1976, I, 77-89. Gosztonyi interpretiert die chôra im Timaios als Raum – wovor im Anschluß an Derrida allerdings zu warnen ist, da die chôra einen einfachen Raum-Begriff bei weitem übersteigt; vgl. Jacques Derrida: Chôra, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien 1990

76 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN So sehr als möglich tut sie das. So sehr als möglich müssen wir also, sprach ich, daraufhalten, daß dir die Leute in deinem Schönstaate der Geometrie nicht unkundig seien. (Rep. VII, 526eff.)

Aus dem geometrischen Blick heraus offenbaren sich die ewigen Dinge – sofern die Geometrie sich nicht darin versteigt, etwa nur angewandte Geometrie zu sein. Die optische Wahrnehmung selbst ist nicht vertrauenswürdig und genau genug. Aus der Verbindung aber, die eine geometrische Wahrnehmung mit Dingen hat, die nicht direkt in dieser Wahrnehmung zu finden sind, ist ein Aufstieg aus dem nur sichtbaren in eine Dimension möglich, die die sinnliche Dimension bereits übersteigt. Der Geometer verfügt über die Figuren der Geometrie unabhängig von den einzelnen gezeichneten Figuren im Sand. Im 7. Brief (342bff.) wird ausgeführt, welche Erkenntnismomente alle im Spiel sind, wenn es etwa um einen Kreis geht. Insgesamt werden es fünf Momente sein: (1.) Zunächst ist Kreis ein Name (onoma) für etwas. Von diesem Namen gibt es (2.) eine Definition (logos), die ihn abgrenzt gegenüber anderen Figuren und seine Eigenheiten benennt. Weiter gib es (3.) ein erscheinendes Bild des Kreises, das von einem Handwerker (einem Zeichner oder Drechsler) hergestellt werden kann und vergänglich oder zerstörbar ist. Wie (1.) der Name und (2.) der logos sich in der Stimme finden, so findet sich (3.) der erscheinende Kreis in einer der körperlichen Wahrnehmung zugänglichen Gestalt: der Kreis ist sichtbar. Weder in der Stimme noch in der opsis findet sich (4.) die Erkenntnis (epistêmê) des Kreises. Diese liegt vielmehr in der psuchê vor, ist die Kenntnis dieses Kreises, die der Geometer vom Kreis hat. Dies ist weder der sinnlich wahrnehmbare Kreis, noch das eidos des Kreises. Das eidos ist (5.) der „Kreis an sich“ (autos ho kuklos). Gerade die epistêmê steht in einem Zwischenbereich: sie ist unterschieden von den ersten drei Momenten, die sich im optischen oder akustischen Sinnlichen befinden, zugleich ist sie auch unterschieden von Punkt fünf, da diese Kreisidee sich dort befindet, wo die psuchê hinschaut, wenn sie die Wendung vollzogen hat, die das Höhlengleichnis fordert. Wird die Lehre der epistêmê als Sehfähigkeit ernst genommen, leuchtet die Darlegung im 7. Brief ein. Der Kreis, um dessentwillen alle anderen Momente der Erkenntnis da sind, ist die unter Punkt fünf genannte Kreisidee. Sie bleibt bestehen, wenn der hergestellte Kreis ausgewischt wird und bleibt unbeschädigt, wenn der logos falsch ist. Erst von diesem Kreis her kann überhaupt ein logos des Kreises hervorgebracht werden, der alle Kreise umfassen soll, die in den Sand gezeichnet wurden oder werden können. Die Kreisidee kann damit weder in der sinnlichen opsis liegen (dort wäre sie vergänglich), noch auch in den logoi, da die logoi falsch sein können: Nichts von diesen vier ist verläßlich genug. Nur wenn die ersten vier Momente aneinander reiben und geprüft werden, dann leuchten (exelampse; 344b) nous und phronêsis hervor. Die sinnliche opsis hat ihre Schwächen, in die die Geometrie mit ihren Meßkünsten korrigierend eingreifen kann. Sie ist sowohl korrekturbedürftig, als auch für den Geduldigen und Meßkundigen korrekturfähig. Aus der sich aufdrängenden Notwendigkeit heraus, die opsis zu korrigieren, aus der Unsicherheit, die die werdende und vergehende opsis ausmacht, beginnt an einem gewissen Punkt der nous hervorzuleuchten. Ist der nous das Auge der psuchê, so ist anzunehmen, daß es ein „Sehstrahl“ ist, der nun zu leuchten beginnt, nachdem sich der Erkenntniswillige sowohl vom Kreis im Sand, als auch von

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den Definitionen abgewendet hat. Aus der Korrekturbedürftigkeit, der Wechselhaftigkeit und Vergänglichkeit des sinnlichen Bildes, das dann nurmehr als Bild verstanden wird, bricht der Blick in die Dimension des autos ho kuklos heraus. Das Korrektiv, das in die schwankende Anschauung eingreift, die Meßkunst, ist selbst nur als auf das autos oder die eidê gegründet zu verstehen. So entsteht aus der Korrekturbedürftigkeit das Verlangen nach Sicherheit, das die Meßkunst als Korrekturfähigkeit erfüllen soll und damit auf eine Einsicht hinweist, die jenseits des Sinnlichen liegt, jenseits der logoi in einer Dimension, die der hell leuchtende „Sehstrahl“ des nous wahr-nimmt. Damit die Umwendung beginnen kann, muß erst der Punkt erreicht sein, an dem festgestellt werden kann, daß der bisherige Weg ein Tappen im Dunkeln war. Das Bild von der Erblindung, die durch die Betrachtung des Sinnlichen einzutreten droht, zieht sich seit dem Phaidon durch die Lehre Platons. Der allzu intensive Blick auf Sinnliches droht, die psuchê erblinden zu lassen. Deswegen rettet sich Sokrates – so erzählt er selbst im Phaidon – in die logoi. Der 7. Brief zeigt weiter, daß die Flucht in den logoi noch lange nicht zu Ende ist, sondern damit nur der erste Schritt getan wurde. Auch die logoi sind noch nicht sicher genug. Ob die Reihe der Dialoge einem festgelegten Plan entspricht, oder ob es sich um eine nachträgliche Interpretation der frühen Dialoge handelt, sei dahingestellt. Auffällig ist, daß hier die Aporetik der frühen Definitionsdialoge ihren Ort zugewiesen erhält. Auf der Suche nach Definitionen von sôphrosunê, andreia, hosiotês, philia und so weiter führten die frühen Dialoge regelmäßig in die Aporie. Ein haltbares Ergebnis, ein propositionales, formulierbares Wissen ergab sich nicht. Daß nun im Menon ausgerechnet an einer geometrischen Aufgabe der Schritt über die Aporie hinaus getan wird, der Knabe auf ein Quadrat im Sand sieht, um ein anderes Quadrat zu finden, das in den Sand gezeichnet werden kann, indem auf ein ganz anderes Quadrat rekurriert wird, das Quadrat im Allgemeinen und seine Gesetzmäßigkeiten, ist von der opsis her gut einsehbar. Erst die Verfinsterung, die die Aporie herbeiführt, läßt die Umwendung möglich werden, läßt den nous herausleuchten. Die Passage im 7. Brief ist darüber hinaus von Interesse, da sie sich im Kontext der Frage nach der philosophischen Schrift befindet. Platon will erklären, warum es für einen Philosophen geradezu schändlich wäre, wollte er seine Lehre in einer Schrift hinterlassen. In einer Schrift kann sie gar nicht hinterlassen werden, weil die Schrift zwei Nachteile in sich vereinigt: sie besteht aus logoi und ist trotzdem sinnlich sichtbar. Das gesuchte Quadrat des Menon und die Ideen-Lehre Platons haben eines gemeinsam: sie sind nicht sagbar (a-rrhêton). Das gesuchte Quadrat im Menon hat eine Seitenlänge, die sich nicht sagen, sondern nur sehen läßt. Das Ausgangsquadrat mit der Seitenlänge 2 hat einen Flächeninhalt von 22 = 4. Das gesuchte Quadrat soll den doppelten Flächeninhalt haben, also 8. Die Seitenlänge des gesuchten Quadrates ist demnach ¥8, eine „inkommensurable“ Zahl, die in der Mathematik zu Platons Zeit als arrhêton bezeichnet wird. Das Quadrat läßt sich zwar zeichnen, aber es läßt sich nicht arithmetisch benennen, es läßt sich sehen, aber nicht sagen.92 Ähnliches sagt Platon von seiner eigenen Lehre im 7. Brief: 92 Die Aufgabe, die Sokrates dem Hausknaben gibt, ist für die griechische Arithmetik unlösbar, sie ist nur geometrisch lösbar, da es sich um keinen ganzzahligen logos handelt. Dafür wird in der griechischen Mathematik der Begriff arrhêton gebraucht (vgl. Rep. XIII, 546c). Die Aufgabe ist nur an einem kon-

78 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Es gibt ja von mir einmal über jene Materien keine Schrift und wird auch keine geben. Denn in bestimmten sprachlichen Schulausdrücken darf man sich darüber wie über andre Lehrgegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben entspringt plötzlich jene Idee in der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht, und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn. (Ep. 7, 341bff.)

Es macht durchaus Sinn, die platonischen Schriften mit dem in den Sand gezeichneten Quadrat (oder Kreis) zu vergleichen. Wie sich dabei die Elemente onoma, logos, eidolon, epistêmê im einzelnen analogisch verteilen, sei dahingestellt – das Herausleuchten des fünften jedenfalls scheint sie zu vereinigen.

kret sichtbaren Viereck lösbar. Das Phänomen ist als „Inkommensurabilität“ bekannt und soll bereits berühmt-berüchtigte Auswirkungen auf die phythagoräische Lehre gehabt haben. Vgl. Jacob Klein: A Commentary on Plato’s Meno, Chicago/London 1989, 99: „Moreover, as we know from the very beginning and as Meno presumably has heard before, the given side and the side sought are ‚incommensurable magnitudes‘ and an answer in terms of the length of the given side is ‚impossible‘. At best, this side can only be drawn or ‚shown‘.“ Vgl. auch zu den Auswirkungen dieser Entdeckungen auf die pythagoräische Zahlenlehre Kurt von Fritz: Die Entdeckung der Inkommensurabilität durch Hippasos von Metapont, in: Zur Geschichte der griechischen Mathematik, hg. von Oskar Becker, Darmstadt 1965, 271-307. (Nachdruck aus Annals of Mathematics 46 (1945), 242-264).

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Die logoi in der opsis In den Dialogen Platons spielt die opsis eine sehr direkte und augenfällige Rolle, nämlich als „Szenerie“ der Dialoge. Räume umrahmen die Gespräche, die verschiedene, mehr oder weniger anschaulich beschriebene Figuren miteinander führen. Und gerade die eigene Anschauung der Figuren und ihre Erfahrung spielt eine wichtige Rolle darin. Einige der frühen Dialoge, insbesondere Lysis und Charmides, sind von einer so überbordenden Anschaulichkeit, daß das, was Sokrates zu Gesicht bekommt, ihn gar sprachlos macht: Hernach aber, als Kritias ihm [d.i. Charmides; A.d.V.] sagte, ich wäre der, welcher das Mittel wüßte, und er mich, ich kann gar nicht beschreiben wie, mit seinen Augen ansah und ansetzte, als wollte er fragen, und nun alle in der Palaistra uns ganz im Kreise umringten, da, du Herrlicher, sah ich ihm unter das Gewand und entbrannte, und war nicht mehr bei mir […] Dennoch als er mich fragte, ob ich das Mittel wider den Kopfschmerz wüßte, brachte ich, wiewohl mit Mühe und Not, die Antwort heraus, ich wüßte es. (Charm. 155cff.)

Über eine lange Passage werden zu Beginn des Charmides diese Anschaulichkeiten ausgebreitet. Die Rede, auf diese Anschaulichkeiten Bezug nehmend, ist eingebettet in die Anschaulichkeit der Gesprächssituation. Und als die Unterredung beginnt über die Besonnenheit, die verkleidet daherkommt als die Lehre des Sokrates vom thrakischen pharmakon, das den notorischen Kopfschmerz des Charmides heilen soll, beginnt diese Rede mit den Augen (vgl. 156b). Der ganze Dialog aber, der einen verkleideten Sokrates zeigt, einen solchen, der sich als Heilkundiger ausgibt, hat das Ziel einer Entkleidung, einer Anschauung des entkleideten Charmides, der nicht nur körperlich seiner Gewänder, sondern dessen psuchê zumal ihrer körperlichen Einkleidung entkleidet werden soll: Sogleich, sprach er, wirst du sehen (eisei), wie groß und wie schön er geworden ist. Und indem er dieses sagte, trat auch Charmides herein. Auf mich nun, Freund, ist freilich nicht viel zu geben, denn ich bin, wenn Schöne sollen bezeichnet werden, wie Kreide an der weißen Wand. Mir erscheinen eben alle schön, die in diesem Alter sind. Folglich erschien auch damals jener mir ganz bewundernswürdig von Wuchs und Schönheit. Aber auch die andern alle dünkten mich in ihn verliebt zu sein, so waren sie entzückt und verwirrt, als er hereinkam. Viele Liebhaber waren auch noch unter denen, die ihm folgten. Und daß es uns Männern so erging, war weniger zu verwundern; allein ich hatte auch auf die Knaben acht, daß keiner von ihnen anderwärts hinsah, auch nicht der kleinste, sondern alle betrachteten (etheônto) wie ein Götterbild nur ihn. Da rief Chairephon mich an und sagte: Nun, Sokrates, wie findest du den Jüngling? Nicht schön von Angesicht (euprosôpos)? – Über die Maßen, sagte ich. – Und doch, sprach er, wenn er sich entkleiden wollte, würdest du sagen, sein Gesicht (aprosôpos) sei nichts, so durchaus schön ist er von Gestalt (eidos). Auch die andern sagten alle dasselbe wie Chairephon. – Herakles, rief ich darauf, wie unwiderstehlich beschreibt ihr den Mann, wenn nur noch eine Kleinigkeit (smikron ti) sich bei ihm findet! – Welche doch? fragte Kritias. – Wenn er, sprach ich, auch der Seele (psuchên) nach wohlgebildet ist. Und es kommt ihm

80 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN wohl zu, ein solcher zu sein, Kritias, da er von eurem Hause ist. – Er ist, sagte der, sehr schön und gut auch hierin. – Warum nun, sprach ich, entkleiden wir ihm nicht eben diese und betrachten (etheasametha) sie eher noch als die Gestalt (eidos)? Denn da er schon in diesen Jahren ist, wird er sich ja wohl dem Gespräch hergeben. (Charm. 154bff.)

Diese Situation stellt die Grundlage dar, auf der sich das Gespräch oder die Gespräche im Charmides entwickeln. In dieser überflutenden Gesichtswelt, die den Sokrates mit ihrem Glanz zunächst verstummen läßt, erhebt sich die Rede. Das Ende des Dialoges aber ist nicht etwa, im Sinne einer Symmetrie, eine erneute sinnliche Anschaulichkeit. Vielmehr bricht der Dialog mit dem letzten gesprochenen Wort ab, ohne erneut zur Anschauung zu kommen. Diese Bewegung des Dialoges vom Anschaulichen zur Rede findet sich im Dialog selbst auch beschrieben, als die Methode der Untersuchung: Auf folgende Art also, sprach ich, wird, dünkt mich, die Untersuchung (skepsis) der Sache am besten fortgehen. Offenbar nämlich, wenn dir die Besonnenheit beiwohnt (parestin), mußt du auch etwas von ihr auszusagen (doxazein) wissen. Denn notwendig muß ihr Einwohnen (enousan), wenn sie dir einwohnt (enestin), eine Empfindung (aisthêsin) hervorbringen, auf welche dir dann irgendeine Vorstellung (doxa) von der Besonnenheit sich gründet, was sie wohl ist und worin sie besteht. Oder meinst du nicht so? – Das meine ich wohl, sprach er. – Und dieses, fuhr ich fort, was du meinst, mußt du doch, da du hellenisch reden kannst, auch zu sagen (eipois) wissen, was es dir erscheint (phainetai). (Charm. 158ef.)

Wie die plötzliche Anwesenheit des Charmides eine aisthêsis für Sokrates zur Folge hatte, die ihn sprachlos machte, so soll auch die Anwesenheit (parousia) der Besonnenheit eine aisthêsis in Charmides erzeugen. Beide aisthêseis müssen eine doxa, eine Meinung oder einen Eindruck hervorrufen.93 Und um diesen Eindruck formulieren zu können – so will es Sokrates, – bedarf es lediglich des hellenizein, der Beherrschung der griechischen Sprache. Wenn sich aber am Ende des Dialoges zeigt, daß Charmides die Frage nach der Besonnenheit (sôphrosunê) nicht beantworten kann, der Dialog also in der Aporie endet94 – bedeutet dies dann, daß dem Charmides die sôphrosunê doch nicht beiwohnt? Daß sie ihm zwar beiwohnt, aber keine aisthêsis erzeugt? Oder daß trotz Einwohnens und aisthêsis keine Formulierung erlangt werden kann, daß also die Anschauung eines Anwesenden noch nicht notwendig für die Benennbarkeit spricht? Ist die Sprachlosigkeit des Charmides ein Zeichen für sein Nichtwissen, oder ist es ein Zeichen für die Anwesenheit der Besonnenheit selbst – so wie die Sprachlosigkeit des Sokrates aus der Anwesenheit des schönen eidos des Charmides herrührte? 93 Es ist nicht ganz klar zu bestimmen, ob doxa hier als eine Wahrnehmung oder eine logische Funktion zu verstehen ist, wie es die Übersetzung Schleiermachers zeigt: übersetzt er einerseits doxazein als „aussagen“ und erhebt damit die doxa in die logische Dimension, so verweist seine Übersetzung von doxa selbst als „Vorstellung“ auf den Bereich der Wahrnehmung. 94 Die Aporie wird von Sokrates so formuliert: „Nun aber werden wir ja überall geschlagen und können nicht aufzeigen, was doch wohl dasjenige ist, dem der Wortbildner (onomatothetês) diesen Namen Besonnenheit beigelegt hat.“ (Charm. 175b).

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Der gesamte Dialog ist eine Erzählung in Vergangenheitsform. Etwas Vergangenes, eine vergangene Situation und ein vergangenes Gespräch werden berichtet, und der Erzähler ist Sokrates selbst, der nunmehr, in der Abwesenheit des Charmides, seine Sprache wiedergefunden hat, seine Sprache, die sogar die Sprachlosigkeit benennen kann, die ihn angesichts des schönen Charmides ergriff.95 Und so ist auch die Lösung des Problems, die Kritias, der Liebhaber des Charmides, am Ende formulieren wird, die logische Folge aus diesem Paradox der Sprachlosigkeit gegenüber Anwesendem: Darauf sagte Charmides: Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß ja nicht, ob ich sie [d.i. die Besonnenheit; A.d.V.] habe oder ob ich sie nicht habe. Wie sollte ich es auch wohl wissen, da ja nicht einmal ihr imstande seid, herauszufinden, was sie wohl ist, wie du sagst. Ich meinesteils jedoch glaube dir eben nicht sehr und meine von mir selbst, Sokrates, daß ich der Besprechung (epôdês) gar sehr bedarf; auch soll von meiner Seite nichts hindern, daß ich mich von dir besprechen (epadesthai) lasse alle Tage, bis du sagst, es sei genug. – Wohl, sagte Kritias, und wenn du dies tust, Charmides, das wird mir ein Beweis sein, daß du besonnen bist, wenn du dich dem Sokrates hingibst, um dich von ihm besprechen zu lassen, und nicht von ihm lässest, weder viel noch wenig. (Charm. 176af.)

Die Besprechung, die zu dem thrakischen pharmakon gehört, hat die Aufgabe, die sôphrosunê in der psuchê entstehen zu lassen. Nun aber, da sich nicht herausfinden läßt, ob Charmides die sôphrosunê besitzt oder nicht, wird allein die Tatsache, daß er willig ist, sich mit dem pharmakon behandeln zu lassen, zum Beweis dafür, daß er eben doch über sôphrosunê verfügt. Es verhält sich wie bei Sokrates mit der paradoxen Struktur des Wissens um das eigene Nichtwissen: die sôphrosunê zeigt sich als ein Streben nach ihr – wer von ihrer Anwesenheit ausgeht, dem ist sie abwesend, während derjenige, der ihr als abwesend nachstrebt, bereits in die Dimension ihrer Anwesenheit gelangen kann. Die sôphrosunê erweist sich als Suche nach der sôphrosunê, nur als Abwesende ist sie anwesend – apräsent. Und damit folgt die sôphrosunê der Anschaulichkeit des Dialoges selbst: nur als aus der Erinnerung herstammend und als vergangen läßt sie sich hier im Charmides beschreiben. Die aisthêsis und die Fähigkeit zur Benennung sind nicht deckungsgleich – die opsis kann die Sprache verschlagen oder sie kann gänzlich unbenennbar sein.

Der Schauraum der logoi In einer topischen Allegorie macht der Lysis bereits den notwendigen Zusammenhang von Anschaulichkeit und logoi deutlich. Sokrates ist zu Beginn des Dialoges auf dem Weg von der Akademie zum Lykeion und zwar „außerhalb der Mauer unter der Mauer (exô teichous hup‘ auto to teichos)“ (Lys. 203a).96 Er trifft auf Hippothales, der ihn zum Eintreten einlädt in eine ganz 95 Der erste Satz des Dialoges lautet: „Ich war nur am Abend zuvor von dem Heere vor Poteidaia zurückgekommen und ging nun nach so langer Abwesenheit mit großem Wohlbehagen wieder an die gewohnten Plätze.“ (Charm. 153a) 96 Diese dimensionalen Übertritte sind von kaum zu überschätzender Wichtigkeit, die Übertritte über Grenzen zwischen Räumlichkeiten, so etwa die Weigerung des Sokrates im Kriton, aus dem Gefängnis zu gehen, die Flucht in die

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neugebaute Palaistra gegenüber dem Mäuerchen, in der die Beschäftigung meistenteils in Reden (en logois) besteht. In diese neue Palaistra der logoi soll Sokrates eintreten durch die Türe. Sokrates fragt sehr genau danach, um was für einen Ort es sich handelt, an den er dort geladen wird: „Wohin eigentlich, fragte ich, meinst du? Und wer seid die ‚ihr‘?“. (Lys. 203b) Er fragt also nicht etwa, zu welchem Zweck oder welcher Beschäftigung er eingeladen wird, sondern besorgt sich in seiner Frage zunächst um den Ort, verschafft dem Ort Aufmerksamkeit. Und er läßt sich auch nicht leicht bewegen einzutreten, sondern will erst noch außerhalb der Palaistra hören, was ihm darin widerfahren werde (vgl. Lys. 204a ). Erst nach einer längeren Unterredung mit dem Hippothales und Ktesippos wird er die Palaistra der logoi betreten (Lys. 206e). Diese hat ihre Tür, ihre Öffnung nicht irgendwo, sondern – wie Sokrates gleich zu Beginn des Dialoges erzählt wird – sie liegt an der Quelle des Panops. Der panoptês ist der Allsehende, das panopsios ist das allen Sichtbare.97 Das Türchen liegt an der Quelle des Allsehens oder des Allsehenden. Der Durchtritt durch das Mäuerchen, der Eintritt in die Palaistra der logoi an der Quelle des panops ist der Einsatz des Sokrates-Mythos. Natürlich könnte die Quelle des Panops sich einfach nur auf „Panops“ beziehen – die eigenartige Ausführlichkeit der Einleitung aber, das Zögern vor dem Eintritt und die Betonung des Ortes, der aus Mauer, Palaistra der logoi, Tür und Quelle des Panops besteht, läßt diesen Ort als einen quasimythischen Ort verstehen und den Akt des Eintritts als eine Initiation. Der Raum der Palaistra wird als Um- und Entkleideraum spezifiziert.98 Und die Räume, in denen sich Sokrates in der Reihe der Dialoge aufhält, sind von nicht geringer Relevanz. In einem späteren Dialog, dem Gorgias, wird Sokrates gelegentlich darauf hinweisen, daß er sich nicht aus seinem Anwesen (ousia) vertreiben lassen wolle: „SOKRATES: […D]u beweist mir nichts; sondern nur durch Aufstellung vieler falscher Zeugen gegen mich versuchst du, mich aus meinem Gut und der Wahrheit (ek tês ousias kai tou alêthous) hinauszuwerfen.“ (Gorg. 472b) Nach dem Gorgias wandelt sich die Palaistra der logoi zum Gefängnis, das Sokrates – wie im Kriton ausgeführt – nicht verlassen will, auch wenn ihm die Möglichkeit dazu gegeben wird. Die Art und Weise, wie er diesen Raum verläßt, nämlich durch den Tod, der die psuchê vom Körper trennt, reproduziert in einer topologischen Allegorie den Übertritt in die Metaphysik. Die Flucht in die logoi, die im Phaidon exponiert wird, ist die Flucht in die Palaistra des Lysis – und der Ausweg ist nicht die Flucht aus dem Gefängnis der logoi, sondern der Übertritt in eine andere Dimension, die zugleich aus dieser Palaistra hinaus führt und doch in der Palaistra selbst liegt. logoi und der Übertritt von der Wasser-Welt der Fische in die Luft-Welt der Vögel im Phaidon, die Schwierigkeit, ihn aus der Stadt herauszulocken im Phaidros (230cf.). Die Mauern und Mäuerchen in den Dialogen sind von entscheidender Wichtigkeit, besonders natürlich im Höhlengleichnis der Politeia, wo das Mäuerchen den Höhlenraum von der wahren Welt der Ideen trennt. 97 Zu einer ähnlichen Konstruktion gibt es eine kurze Erklärung in Krat. 395c: „Ebenso angemessen scheint auch dem Pelops der seinige [d.i. der Name/ onoma; A.d.V.] beigelegt, denn er bezeichnet einen, der nur auf das Nahe sieht.“ (Korr. Übersetzung von Eigler; Schleiermacher fügt eine Anmerkung zu pelas und ops ein.) Der Verweis auf die Etymologien des Kratylos ist deswegen nicht ganz unproblematisch, da nicht wirklich davon auszugehen ist, daß diese Etymologien einen ernsthaften Hintergrund haben, daß Platon-Sokrates diese etymologische Methodik hier nicht der Lächerlichkeit anheimgeben wollen. 98 Apoduterion; vgl. Lys. 206e und Euthyd. 272e.

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Eine „Palaistra der logoi“ aber ist zugleich der Schrift-Raum Platons, in den hinein Sokrates vor dem Vergessen gerettet wurde und der sich nun zugleich als Gefängnis erweist. Durch die Aufgabe oder das Verlassen des Textes ist die Flucht daraus nicht möglich, sondern nur durch die Befreiung vom Text im Text, durch die Ent-Fesselung des Sinnes der logoi, durch Befreiung des noein vom Schrift-Körper, dem sêma-sôma. Das ist die Befreiung der psuchê aus ihren körperlichen Banden, die die Befreiung des nous nach sich zieht – auch des nous der logoi, wie es im Euthydemos heißt: [Dionysodoros:] Also was etwas sagen will (noei ta noounta), muß das eine Seele haben (psuchên echonta), oder will auch das Unbeseelte (apsucha) etwas sagen? — [Sokrates:] Es muß eine Seele haben (psuchên echonta). Kennst du also etwa, sprach er, eine Redensart (rhêma), die eine Seele hat (psuchên echon)? — Beim Zeus, ich nicht. — Wie konntest du also nur eben fragen, was mir wohl die Redensart sagen wollte (nooi)? — Wie anders, sprach ich, als daß ich gefehlt habe aus Dummheit! Oder habe ich nicht gefehlt, und war auch das recht gesagt, daß die Redensart etwas sagen wollte (noei ta rhêmata)? (Euthyd. 287df.)

Die Eigenartigkeit, daß über ein Dutzend Schüler und Freunde des Sokrates im Phaidon im Gefängnis versammelt sind, gerade Platon aber fehlt (Phd. 59b: „Platon, glaube ich, war krank.“), wäre so zu deuten: Platon kann nicht in dem Gefängnis sein, das er selber errichtet hat oder gar selbst ist. Platon hat Sokrates zur Schrift verurteilt und in ein Schriftgrab eingeschlossen, von dem Sokrates zu befreien ist durch Lösung vom Text. Die größten und wichtigsten Dinge nämlich – so heißt es im 7. Brief – finden sich ebensowenig in den Schriften, wie in der physischen Dimension, sondern in einem Jenseits, das das Jenseits der phusis ist wie das Jenseits der Schrift. Sokrates bekommt zu Beginn des Lysis das Angebot, daß ihm die logoi mitgeteilt oder übergeben (metadidoimen; Lys. 204a ) würden. Wenn er eintreten wird, wird Sokrates durch die Pforte an der Quelle des Allsehens in die Palaistra der logoi eintreten. Das ist die Urszene des sokratisch-platonischen Philosophierens: der Eintritt in ein Logotop, das zwar eine umgrenzte, abgegrenzte Räumlichkeit umreißt, aber den Eingang noch in dieser Welt hat, in der Welt der Anschauung. Ohne die Interpretation allzusehr zu forcieren, kann vielleicht der topos des Gesprächs in der Politeia einen Hinweis geben: das Haus des kephalos. Kephalos ist nicht nur ein Eigenname, sondern hat auch eine Bedeutung, diejenige von „Kopf“. Erlaubt man sich, auch die palaistra des Lysis als ein Kopf-Haus zu verstehen, wird die Palaistra, in der logoi gewechselt werden, als denkender Kopf, in dem die psuchê Gespräche mit sich selbst führt, einleuchtend: die palaistra aber hat einen Eingang, nämlich die Pforte am All-Sehen (pan-ops), wie ein Auge. Die Beschreibung eines solchen initiatorischen Überganges findet sich mit erstaunlich ähnlichen Elementen in der Erzählung von der „zweitbesten Fahrt“ wieder, die Sokrates im Phaidon gibt. Sokrates erzählt aus seiner Jugendzeit, berichtet, wie er zuerst durch die Betrachtung der phusis versuchte, die Ursachen des Werdenden und Vergehenden zu verstehen, bis er zu erblinden drohte. An diesem Punkt wird er sich in die logoi flüchten:

84 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN So höre denn, was ich sagen werde. In meiner Jugend nämlich, o Kebes, hatte ich ein wundergroßes Bestreben nach jener Weisheit, welche man die Naturkunde (peri phuseôs historian) nennt; (Phd. 96a) […] Und wenn ich wiederum das Vergehen von alle diesem betrachtete (skopôn) und die Veränderungen am Himmel und auf der Erde, so kam ich mir am Ende zu dieser ganzen Untersuchung (skepsin) so untauglich vor, daß gar nichts darübergeht. Und davon will ich dir hinreichenden Beweis geben. Nämlich was ich vorher auch ganz genau wußte, wie es mir und den andern vorkam, darüber erblindete (etuphlôthên) ich nun bei dieser Untersuchung (skepseôs) so gewaltig, daß ich auch das verlernte, was ich vorher zu wissen glaubte (ômên eidenai) von vielen andern Dingen […] (Phd. 96bf.) […] [W]illst du, daß ich dir von der zweitbesten Fahrt, wie ich sie durchgeführt habe zur Erforschung der Ursache, eine Beschreibung gebe, o Kebes? Ganz über die Maßen, sprach er, will ich das. Es bedünkte mich nämlich nach diesem, da ich aufgegeben, die Dinge zu betrachten (skopôn), ich müsse mich hüten, daß mir nicht begegne, was denen, welche die Sonnenfinsternis betrachten und anschauen (theôrountes kai skopoumenoi), begegnet. Viele nämlich verderben sich die Augen (ommata), wenn sie nicht im Wasser oder sonst worin nur das Bild der Sonne anschauen. So etwas merkte ich auch und befürchtete, ich möchte ganz und gar an der Seele (psuchên) geblendet werden (tuphlotheiên), wenn ich mit den Augen (ommasi) nach den Gegenständen sähe (blepôn) und mit jedem Sinne (aisthêseôn) versuchte, sie zu treffen. Sondern mich dünkt, ich müsse zu den Gedanken (eis tous logous) meine Zuflucht (kataphugonta) nehmen und in diesen das wahre Wesen (tên alêtheian) der Dinge (tôn ontôn) anschauen (skopein). (Phd. 99cff.)

Aus der sinnlichen opsis flüchtet Sokrates in die logoi. Vom Ort der logoi aus beginnt er eine neue Betrachtung (skepsis). Das beschreibt verblüffend genau den Weg, den er zu Beginn des Lysis geht: an der Quelle des Panops tritt er in die logoi ein, um dort mit Lysis und Menexenos eine neue skepsis zu unternehmen.99 Daß die Palaistra der logoi im Lysis eine Öffnung an der Quelle des Panops, des Allsehens, der pan-opsis hat, mag der Unterschied sein zu einer Beschäftigung in logoi, wie sie etwa im Euthydemos vorgestellt wird: der Raum der logoi der beiden Sophisten ist ein Raum ohne panoptische Öffnung. Es ist ein blinder Rederaum, in dem die logoi unendlich zirkulieren und sich gegenseitig widerlegen, ohne einen Außenbezug auf ein pragma zu haben. Der Initiations-Charakter bestimmt den Fortgang des Lysis. Das Gespräch mit dem jungen Lysis ist eine Vorführung des Sokrates, um die ihn Hippothales, der Liebhaber des Knaben, gebeten hatte.100 Zu dieser Vorfüh99 Nicht nur die Mauer und das Durchschreiten einer Öffnung lassen hier auch an das Höhlengleichnis denken, das später dieses Motiv wieder aufnehmen und verwandeln wird, sofern hier der Mythos den Eintritt in einen Raum zeigt, während das Höhlengleichnis den Ausgangscharakter der Öffnung betont. 100 Lys. 206c: „[…] rate mir, worüber man reden und was man tun muß, um dem Geliebten angenehm zu werden. – [Sokrates:] Nicht leicht, sprach ich, ist das

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rung scheint es keiner Aufforderung an den Lysis zu bedürfen, sondern die Rede, das Gespräch hat auf diesen eine seltsame, fast magisch zu nennende Anziehungskraft, wie es Hippothales beschreibt: „[W]enn du nur hier mit dem Ktesippos hineingehst und dich niedersetzest im Gespräch, so glaube ich, wird er [d.i. Lysis; A.d.V.] schon von selbst herzukommen; denn hörbegierig (philêkoos), o Sokrates, ist er vor allen (diapherontos).“ (Lys. 206cf.) Das Gespräch schafft Lysis herbei, und zwar auf zweierlei Weise: das Gespräch, das der Bericht des Sokrates wiedergibt, bringt den Lysis heran, wie auch der Bericht des Sokrates selbst den Lysis hervorbringt, durch die Beschreibung erscheinen läßt. Die Rede führt zur Anwesenheit des Lysis. Vor der Rede aber steht das Spiel der Sichtbarkeiten in dieser Palaistra der logoi, ein Spiel von Sehen, Gesehen-Werden, Aussehen und Verstecken: Als wir nun hineintraten, fanden wir dort die Knaben nach vollbrachtem Opfer und fast aller heiligen Dinge Vollendung, alle schön geschmückt, mit Knöcheln spielend. Die meisten nun spielten im Vorhofe draußen; einige aber auch in einem Winkel des Auskleidegemachs (apoduteriou), spielten gerade und ungerade mit gar vielen Knöcheln, die sie aus den Körbchen vorholten. Um diese her standen andere zusehend (theôrountes), deren einer dann auch Lysis war, welcher dastand unter den Knaben und Jünglingen, bekränzt und durch sein Ansehn (opsin) sich auszeichnend (diapherôn) vor allen, nicht etwa nur schön zu heißen verdienend, sondern schön und edel (kalos te kagathos). Wir nun bogen um und setzten uns gegenüber, denn dort war es ruhig, und redeten (dielegometha) etwas miteinander. Lysis aber sah (epeskopeito) sich häufig um nach uns und hatte offenbar große Lust, sich zu uns zu gesellen. Solange nun war er bedenklich und verlegen, allein heranzukommen; hernach kam Menexenos während des Spiels aus dem Vorhofe herein und als er mich und den Ktesippos gewahr ward (eiden), kam er, um sich zu uns zu setzen. Als das Lysis sah (idôn), folgte er ihm und setzte sich ebenfalls zu uns neben den Menexenos. Darauf nun traten auch die andern herzu, und auch Hippothales, da er mehrere herumstehen sah (heôra), versteckte sich hinter diesen und stellte sich, wo er glaubte, vom Lysis nicht gesehen (katopsesthai) zu werden, aus Furcht, es möchte ihm zuwider sein, und so ganz nahebei hörte er zu. (Lys. 206eff.)

Vom Lysis war zuvor schon seine Differenz ausgesagt worden, sein Unterschied, der in seiner Hörbegierde (philêkoos) besteht, nun kommt hinzu der Unterschied (diaphora) bezüglich seiner opsis, die ihn nicht nur schön sein läßt, sondern kalos kagathos, schön und gut. Ob sich aber die Differenz gegenüber den anderen Kindern allein auf sein schönes Äußeres bezieht, ob nicht die agathia über die bloße Attraktivität hinausweist, seine opsis sich also als eine gewisse Qualität seiner Sehfähigkeit herausstellt, das wäre hier zu fragen – immerhin sind die anderen Knaben lediglich theôrountes, Beschauer und Zuseher, wo der Lysis ein Späher ist (epeskopeito).101 Die Weise seines Sehens unterscheidet ihn von den anderen ebenso wie sein schönes Äußeres. Die opsis hebt ihn hervor aus der Gruppe, wie auch der andere knabenhafte Gesprächspartner – nämlich Menexenos – sich unterscheidet von zu sagen; wolltest du aber bewirken, daß er mir selbst zum Gespräch käme, so könnte ich dir vielleicht einen Versuch zeigen (epideixai), was mit ihm zu reden ist, anstatt dessen, was, wie diese sagen, du redest und singst.“ 101 Über skopein, skepsasthai und skepsis vgl. das folgende Kapitel.

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allen anderen, nicht aber durch seine opsis, sondern durch seine logischelegchischen Fähigkeiten.102 Der sich durch seine opsis auszeichnende Lysis soll gegen die elegchoi des eristischen und sprachgewaltigen (deinos) Menexenos dem Sokrates zu Hilfe kommen, die Differenz zwischen Lysis und Menexenos wird zur Differenz zwischen zwei Weisen der Gesprächsführung, die allerdings aufeinander verweisen, wenn nicht gar aufeinander angewiesen sind. Das Gespräch mit Lysis beginnt nach dem genannten stummen Spiel des Sehens und Gesehen-werdens, entwickelt sich aus einem Netz von Blicken und Betrachtungen in einer Dimension, die ganz in der persönlichen Erfahrung, der eigenen Anschauung des Lysis gegründet ist. Die Erfahrung damit, was seine Eltern dem Lysis zu tun zugestehen und nicht zugestehen, führt die Argumentation bis an denjenigen Punkt, wo Lysis eingesteht, daß er unwissend sei. Er wird von Sokrates gezielt gedemütigt, um damit dem Hippothales zu zeigen, wie mit einem Geliebten zu reden sei. (Lys. 210df.) Dabei entfaltet sich in diesem Gespräch die Spannung zwischen der erfahrungsabhängigen Kenntnis im Sinne von eidenai, die der Lysis von den Verboten der Eltern hat, und der lernabhängigen Kenntnis, dem Wissen (epistêmê), die ihm fehlt. Lysis sieht ein und weiß am Ende um die Begrenztheit seines Wissens. So ist die Unwissenheit selbst das als Wissen festzuhaltende Ergebnis des kurzen Gesprächs zwischen Lysis und Sokrates, dem sich das Gespräch mit Menexenos anschließt. Das Gespräch mit Menexenos beruht auf einem gänzlich anderen Verfahren, ausgehend nämlich nicht von Erfahrungen des Menexenos, sondern lediglich von den logisch-begrifflichen Fähigkeiten des Gesprächspartners. Die Grundlage dieser logisch-begrifflichen Fähigkeiten ist die doxa, die Meinung des Menexenos, wie sich in der konstanten Rede vom dokein in dieser Passage zeigt: [Sokrates:] Sage mir also, wenn einer einen liebt, welcher wird des andern Freund, der Liebende des Geliebten, oder der Geliebte des Liebenden? oder macht das keinen Unterschied? – [Menexenos:] Mir wenigstens, sagte er, scheint es (dokei) keinen Unterschied zu machen. – Wie sagst du? sprach ich, beide also werden einander freund, wenn auch nur der eine den andern liebt? – Mich wenigstens, sagt er, dünkt es (dokei) so. – Wie doch? geschieht es nicht, daß der Liebende nicht wieder geliebt wird, von dem den er liebt? – Es geschieht. – Und wie? geschieht es auch, daß der Liebende gehaßt wird? wie doch manchmal die Liebhaber mit den Lieblingen daran zu sein glauben (dokousi). Denn wiewohl liebend so sehr es nur irgend möglich ist, meinen doch einige, daß sie nicht wiedergeliebt, andere gar, 102 Lys. 211bf. : „[Lysis:] Aber sage ihm [d.i. Menexenos; A.d.V.] etwas anderes, damit ich auch zuhöre, bis es Zeit ist nach Hause zu gehen. – [Sokrates:] Ja, das muß ich wohl tun, sprach ich, zumal du es wünschest. Aber sieh (hora) auch zu, wie du mir helfen willst, wenn Menexenos drauf ausgeht mich zu widerlegen (elegchein). Oder weißt du nicht, daß er sehr streitbar (eristikos) ist? – Ja, beim Zeus, sagte er, gewaltig. Deshalb eben will ich, daß du dich mit ihm unterredest. – So, sprach ich, damit ich mich lächerlich mache? – Nein, beim Zeus, sondern damit du ihn etwas züchtigest. – Woher? sprach ich, das ist nicht leicht. Denn er ist ein gewaltiger Mensch (deinos anthropos), ein Schüler des Ktesippos“. – Die Bezeichnung deinos im Zusammenhang mit sprachlichen Kompetenzen wird in den Dialogen üblicherweise als Fähigkeit den Sophisten zugeschrieben, die entweder selbst als deinos bezeichnet werden (vgl. Euthyd. 271df.) oder über die Fähigkeit verfügen, ihre Schüler deinos im Reden zu machen (vgl. Prot. 312df.).

PLATONS GESICHTER | 87 daß sie gehaßt werden. Oder dünkt dich dieses nicht wahr zu sein (ouk alêthes dokei soi)? – Sehr wahr, sagte er. (Lys. 212bf.)103

Wo das Gespräch mit Lysis auf der anschaulichen Erfahrung aufbaute, um dem Lysis sein Unwissen (aphrôn) nachzuweisen, baut das Gespräch mit Menexenos auf der doxa als Grundlage des eristischen legein auf und endet in Verwirrung und Aporie. Beide Gespräche enden mit dem Unwissen, das Gespräch mit dem Menexenos aber in einem aporetischen Unwissen, das Gespräch mit dem Lysis im Wissen des Unwissens, gestützt auf die Anschauung. Es war die falsche Weise der Suche (zêtêsis), die Sokrates im Gespräch mit Menexenos gewählt hatte. Diese Bestätigung entschlüpft dem Lysis wider seinen Willen und läßt ihn erröten (vgl. Lys. 213c). Denn die Demütigung, die zunächst ihn selbst getroffen hatte, trifft nun auch den eristischen Menexenos. Beide Gespräche, das anschauliche wie das unanschaulich-logische, werden wiederum selbst zur Anschauung für einen Versteckten, nämlich Hippothales, dem beide Gesprächsweisen gezeigt werden. Und es folgt eine dritte Gesprächsweise, die Elemente der beiden ersten aufnimmt und verbindet, die eigentlich sokratische Gesprächsform, die die zweite Hälfte des Dialoges bestimmen wird104: die skepsis, die aufbaut auf einem gesetzten Satz, einem Dichterspruch: „[W]o wir abgelenkt haben, da, glaube ich, müssen wir weitergehen und nach den Dichtern untersuchen. Denn diese sind doch gleichsam unsere Väter und Führer in der Weisheit“. (Lys. 213ef.) Diese Art und Weise der Suche oder Untersuchung aber nimmt die beiden vorher gezeigten Weisen der Suche in sich auf, Lysis und Menexenos werden in die gemeinsame skepsis aufgenommen, beide Gesprächsweisen müssen sich miteinander verbinden für die Suche nach der richtigen Antwort. Die Frage, die zur Beantwortung ansteht, betrifft die Freundschaft, insbesondere die Freundschaft zwischen Lysis und Menexenos. Es ist aber nicht nur die Freundschaft zweier beliebiger Knaben, sondern zugleich die freundschaftliche Verbindung der beiden vorgestellten Argumentationsweisen, der anschaulichen Erfahrung und der logisch-elegchetischen Argumentation. Wie diese beiden erfolgversprechend zu koordinieren sind, das bleibt ebenso offen, wie die Frage nach dem Wesen der Freundschaft, die nur zu beantworten wäre, wenn eben die freundschaftliche Verbindung der beiden Untersuchungsweisen gegeben wäre.105 Das Scheitern liegt begründet in der Unfähigkeit zu finden, die wiederum in der problematischen Koordination des Erfahrungswissens und der logischen Argumentation begründet ist.

103 Die zitierte Passage ist der Beginn des Gesprächs mit Menexenos; dokein, alternativ eoike (es scheint), oimai (ich meine) und phainetai (es erscheint) ziehen sich konstant durch diese kurze Unterredung. 104 Angesichts der schwierigen Tradierungslage sei mit aller Vorsicht darauf hingewiesen, daß das Gespräch in der modernen Edition genau zweigeteilt ist, daß das in der modernen Ausgabe 20 Seiten (203-223) umfassende Gespräch genau in der Mitte (213) neu anhebt mit einem neuen Verfahren. 105 Die Verbindung der beiden Untersuchungsweisen wäre vermutlich die im Euthydemos gesuchte basilikê technê, die darin besteht, die Fähigkeit zum Hervorbringen von logoi mit dem Wissen um ihren rechten Gebrauch vereinen zu können, vgl. Euthyd. 289ff.

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Der Schauraum als Schutzraum der psuchê Bevor die Suche fortgesetzt werden kann, kommen die paidagôgoi der beiden Knaben herbei wie schlimme Geister: Dieses gesprochen, war ich im Begriff, einen anderen von den Älteren in Bewegung zu setzen. Da kamen aber eben wie schlimme Geister (hôsper daimones) die Knabenführer herbei, der des Menexenos sowohl, als der des Lysis mit deren Brüdern an der Hand, und riefen sie ab, sie sollten nach Hause gehen, denn es war schon spät. Zuerst zwar wollten wir und die Umstehenden sie forttreiben; da sie sich aber nichts um uns kümmerten, sondern in sehr schlechtem Hellenisch brummten und schalten und doch immer wieder riefen, so glaubten wir, zumal sie an den Hermaien ein wenig mochten getrunken haben, daß nichts mit ihnen würde auszurichten sein, und lösten, gezwungen von ihnen, die Gesellschaft auf (dialusamen tên sunousian). Doch sagte ich noch, als sie schon gingen: Diesmal, o Lysis und Menexenos, haben wir uns lächerlich gemacht, ich der alte Mann und ihr. Denn diese, wenn sie nun gehen, werden sagen, wir bildeten uns ein, Freunde zu sein, nämlich ich rechne auch mich mit zu euch; was aber ein Freund sei, hätten wir noch nicht vermocht auszufinden (exeurein). (Lys. 223af.)

Es ist nicht bedeutungslos, wenn in einem Dialog, dessen Hauptfigur Sokrates ist, von daimones die Rede ist – war doch der ständige Begleiter des Sokrates sein daimonion, diese mythische Stimme, die ihn anspricht und warnt.106 Dieses mit dem Namen des Sokrates intim verbundene daimonion hat in den Dialogen Platons nahezu keine Funktion, hat keinen Wert für die Entwicklung der Lehre. Hier gar ist das Daimonische dafür verantwortlich, daß das Gespräch beendet wird oder eigentlich die sunousia, die Gemeinschaft, die aufgelöst wird (dia-lusis). Der Dialog unter dem Titel Lysis endet durch eine dia-lusis, was den Blick hinlenkt auf den Namen „Lysis“, von dem es zu Beginn heißt, daß er nicht nur den Anwesenden die Ohren erfüllt durch die Lobgesänge des Hippothales, sie nicht nur beim Erwachen aus dem Schlafe den Namen/das Wort lusis zu hören glauben, sondern daß dieser Name dem Sokrates nicht bekannt vorkommt, da Lysis nicht mit seinem eigenen Namen, sondern dem des Vaters genannt wird: Das ist fein, Hippothales, daß du rot wirst und dich weigerst, dem Sokrates den Namen (tounoma) zu sagen, da er doch, wenn er nur kurze Zeit mit dir ist, sich fast tot wird daran hören müssen (paratathêsetai), wie oft du ihn nennst! Uns wenigstens, o Sokrates, hat er die Ohren (ôta) schon ganz betäubt und angefüllt mit dem Lysis. Und hat er gar ein wenig getrunken, so ist es uns ganz gewohnt,

106 Vgl. Euthyd. 272df.: „Nämlich gewiß durch eines Gottes Gunst saß ich noch da, wo du mich sahest, wo sie sich zu entkleiden pflegen, allein und war schon im Begriff gewesen aufzustehen; indem ich es aber tun wollte, kam mir das gewohnte Zeichen (sêmeion), das göttliche (daimonion).“ In der Apol. 31d findet sich die Beschreibung dieser Stimme: „Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet hat sie mir aber nie.“

PLATONS GESICHTER | 89 daß wir auch beim Erwachen aus dem Schlafe (ex hupnou egromenois) noch glauben den Namen (tounoma) des Lysis zu hören (akouein). Doch was er so gesprächsweise Arges vorbringt, ist noch nicht gar arg: aber wenn er erst anfängt, uns mit den Gedichten zu überschwemmen und mit den Reden (suggrammata)! Ja, was noch ärger ist als alles, so singt er auch auf seinen Geliebten mit wundervoller Stimme, die wir geduldig anhören müssen. Nun aber von dir befragt, errötet er nur. Dieser Lysis, sprach ich, ist also einer von den Heranwachsenden, wie es scheint. Ich schließe es nämlich nur, denn der Name (tounoma) fiel mir nicht auf als ein bekannter (egnôn), da ich ihn hörte (akousas). Sie nennen ihn eben nicht oft bei seinem Namen (autou tounoma legousin), antwortete er, sondern er wird noch nach dem Vater genannt (eponomazetai), weil sein Vater sehr bekannt (gignôskeshtai) ist. Auch bin ich gewiß, daß der Knabe dir keineswegs unbekannt (pollu dein agnoiein) ist von Gestalt (eidos), und an der allein kann man ihn genug wiedererkennen (gignôskesthai). (Lys. 204cff.)

Der Name/das Wort lusis kommt nur zu Gehör und läßt sich später sehen, erfüllt die Ohren bis zur Verstopfung, bis gar diejenigen, denen das Gehör damit erfüllt wurde, noch beim Erwachen (ex hupnou egromenois) meinen, dieses onoma zu hören. Das onoma des lusis ist mit dem Erwachen verbunden und zugleich mit suggrammata, mit Schriften, die über ihn verfasst werden. Unter dieser Erzählung findet sich ein weiteres Verhältnis zwischen opsis und logos, eines, das die opsis des Sokrates selbst betrifft, die opsis seines Körpers, die durch seinen Tod verschwunden ist, da Sokrates nunmehr selbst in die logoi eingetreten ist – nicht als ein Körper, der sich mit anderen Körpern unterhalten wird, sondern selbst als logos, der mit anderen logoi Umgang hat. Sokrates selbst hat seine opsis abgelegt und ist logos geworden, und zwar der logos graptos Platons. Sokrates tritt in die Palaistra der logoi ein an der Quelle des Panops und trifft dort auf das allgegenwärtige onoma des lusis; „lusis“ aber ist nicht nur ein Name, sondern auch ein Wort, das „Lösung, Auflösung, Errettung“ bedeutet.107 Beim Eintreten in die Palaistra der logoi – beim Eintritt in die Schrift Platons – wird er lusis erlangen, Lösung/Erlösung/Errettung. Das Ende des Gespräches ist die dia-lusis durch die beiden Daimonen, die sunousia wird aufgelöst. Auch Platons sunousia mit Sokrates wurde durch das daimonion aufgelöst, hatte dieses doch zu der Anklage geführt, daß Sokrates neue Götter verehre und lehre, die mit dem Todesurteil wegen asebie geendet hatte (vgl. Euthyph. 3b). Eine lusis trägt Ambiguität in sich, dem pharmakon als Gift und Heilmittel108 nicht unähnlich: Auflösung und Trennung einerseits, erlösende Befreiung und Errettung andererseits. Und im Lysis finden vielfache luseis statt. Platon trennt sich hier von seinem toten Lehrer und von wesentlichen Lehren seines Lehrers, zumal der daimonion-Lehre109, wie auch vom Begriff des

107 Vgl. Eintrag lusis in Gemoll. 108 Vgl. Jacques Derrida: La pharmacie de Platon, in: Ders.: La dissémination, Paris 1972, 69-198. 109 Man kann wohl vermuten, daß die Weiterverbreitung dieser verurteilten Lehre auch Platon selbst in Todesgefahr gebracht hätte, war doch im Todesurteil gegen Sokrates die Gottlosigkeit eben dieser Lehre festgestellt worden.

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eidos des Sokrates, der nicht mehr derjenige Platons sein wird.110 Zugleich aber bleibt Platon ihm verbunden, vor allem – aber nicht nur – weil die Hauptfigur der platonischen suggrammata den Namen des Lehrers trägt, sondern zugleich erlöst und errettet Platon den Sokrates seiner Dialoge vor dem Vorwurf der asebie, denn die Daimonen zersprengen sein Gespräch. Der Sokrates der suggrammata, der die Ohren der Hörer Platons anfüllen wird, trat ein durch die Tür an der Quelle des Panops, ist ein Allseher, der nicht mehr auf die göttliche Stimme zu rekurrieren braucht.111 Platon kann seinen Lehrer nicht vor dem Todesurteil retten, muß sich trennen von ihm – vermutlich ist der Lehrer bereits tot, als Platon den Lysis schrieb –, aber er kann ihn in die Palaistra der geschriebenen logoi eintreten lassen und dort sein Andenken bewahren. Wie das daimonion in Verbindung mit Sokrates eine eigentümliche Bedeutung erhält, geschieht es auch mit dem Begriff des eidos, der schon in der sokratischen Lehre vorkam, wenn auch in anderer Weise als bei Platon, wie es von Aristoteles bezeugt wird. Vom eidos ist die Rede, wenn Lysis dem Sokrates angekündigt wird, dessen eidos dem Sokrates – anders als sein Name – „keineswegs unbekannt (pollu deis to eidos agnoein)“, wie es in einer seltsam komplizierten Formulierung heißt. Das eidos des Knaben ist ihm bekannt, nicht aber sein Name, da er überwiegend noch unter dem Namen seines viel bekannteren Vaters genannt wird, der allerdings seine Bekanntheit als „Demokrates von Axione“112 nicht besonders in den Vordergrund stellt. Nun ist aber im Zusammenhang mit Sokrates im Dialog auch schon auf die Vaterschaft angespielt, trägt doch der andere Knabe, Menexenos, den Namen eines Sohnes von Sokrates.113 Vielleicht ist auch Lysis ein Sohn des Sokrates, nicht aber ein „natürlicher“ Sohn, sondern ein philosophischer – verfügt doch Sokrates offensichtlich über recht gute Kenntnisse darüber, wie die Eltern des Lysis mit ihm umgehen. Versteckt sich also hinter dem „Demokrates von Axione“ Sokrates selbst, wie er sich im Charmides im Gewand eines Arztes versteckte, wie sich Hippothales vor seinem Liebling im Lysis verbirgt? Kennt also Sokrates das eidos des Kindes, weil er sein (philosophischer) Vater ist, sich über das eidos mit seinem philosophischen Sohn ausgetauscht hat?114 110 Nach dem Bericht von Aristoteles (Metaphysik, gr./dt. Neubearb. der Übers. von Hermann Bonitz, mit Einl. und Kommentar hg. von Horst Seidl, 3., verb. Aufl., Hamburg 1989, Buch I, Kap. 6) unterscheidet sich Platon von Sokrates darin, daß Platon die eidê als getrennt (chôris) von den Sinnesdingen verstand – der chôrismos aber setzt eine lusis voraus, wie Platon Sokrates anläßlich der Frage ausführen läßt, was denn der Tod sei, wenn nicht eine Trennung (lusis) der psuchê vom Körper, wodurch letztere chôris des Körpers weiterlebe. Vgl. Phd. 64cff. und 67d: „Heißt aber dies nicht Tod, Erlösung (lusis) und Absonderung (chôrismos) der Seele (psuchês) von dem Leibe (sômatos).“ 111 Vielleicht als eine vorsichtige Anspielung auf das daimonion, auf einen kleinen Rest dieser Stimme zu verstehen ist eine Bemerkung des Sokrates: „Hernach aber kam mir, ich weiß nicht wo her, der seltsame Verdacht, daß wohl alles nicht wahr wäre, was wir zusammen ausgefunden hatten.“ (Lys. 218c). 112 Mit einer minimalen Verschiebung, einem buchstäblichen Iota, wird aus dem Demokrates von Axione der dêmokratos axiônos, „der würdige Demokrat“ (von axioô) oder „der die Demokratie bringen wird“ (part .fut. von agô). 113 Vgl. Georg Wissowa: Paulys Realencyclopaedie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, Stuttgart (1894) 1972, Eintrag Menexenos. 114 Noch ein zweiter Hinweis deutet aus dem Herkunftsort des „Demokrates“ auf die eigenartige Vater-Sohn-Beziehung in diesem Dialog. Der Namenspatron von Axione ist Axion, ein Sohn des Zeus und Stiefbruder des Herakles, von dem

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Es mag sein, daß der Dialog einfach einen bedeutungslosen, schön geschmückten Beginn hat, voller schöner Figuren, voller ironischer oder sarkastischer Reden und gewisser Informationen über die sprechenden Personen. Es ist aber auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen, daß der Lysis die lusis Platons von Sokrates, die Trennung und gleichzeitige Hinüberrettung in die logoi hintergründig darstellt, daß Platon seine Verehrung, seine Liebe gegenüber dem Lehrer zum Ausdruck bringt, wie denn auch der Hippothales seine Lobgesänge über den Lysis, die zu Beginn des Dialoges zur Diskussion stehen, für die Sokrates angibt, wie man denn einen Geliebten wirklich zu verehren habe, indem man ihn eine Niederlage erleiden läßt – genau wie sie Sokrates am Ende des Dialoges erleidet (vgl. Lys. 223b).115 Vor allem sei bei dieser Verehrung eines zu beachten, so trägt Sokrates vor: Sieh also zu, Hippothales, daß du dich nicht alles dessen schuldig machst durch dein Dichten. Denn ich glaube doch, demjenigen, der durch seine Dichtungen sich selbst schadet, wirst du nicht zugestehn wollen, daß er ein guter Dichter sei, da er sich selbst zum Schaden ist. Nein, beim Zeus, sagte er, daß wäre ja große Unvernunft. Aber deshalb eben, o Sokrates, vertraue ich mich dir, und hast du etwas anderes, so rate mir, worüber man denn reden und was man tun muß, um dem Geliebten angenehm zu werden. Nicht leicht, sprach ich, ist das zu sagen: wolltest du aber bewirken, daß er mir selbst zum Gespräch käme, so könnte ich dir vielleicht einen Versuch zeigen, was mit ihm zu reden ist, anstatt dessen, was, wie diese sagen, du redest und singst. (Lys. 206bf.)

Der Verehrer darf sich durch sein Dichten nicht selber schaden, wie es sicherlich Platon geschadet hätte, das daimonion in die Verehrung aufzunehmen. Sokrates tritt nach diesen Worten in die Palaistra der logoi ein, in die Palaistra, in die er allerdings mit dem ersten – geschriebenen – Wort bereits eingeschrieben wurde durch Platon. Der Dialog stellt also zugleich die Art und Weise aus, wie Platon sich die Verehrung des Sokrates vorstellt, mit dem er seinen Zuhörern künftig die Ohren anfüllen will, dem er singt und der in seinen suggrammata auftritt, der den Übergang zwischen Schlaf und Erwachen markieren wird, als die zweite Initiation nach dem Eintritt in die Palaistra. Das Reden, die Unterredung lockt diese Lösung und Rettung an, wie die Unterredung den hörbegierigen (philêkoos) Lysis herbeilockt, der sich durch seine opsis auszeichnet. Die Lösung und Errettung zeichnet sich aus durch die opsis, unterscheidet sich, ragt hervor (diapherei) durch die opsis. Nimmt man die Funktion der opsis ernst, fällt ein helles Licht auf einen kurzen Passus über die Augenheilkunde, vorgetragen von Sokrates: Wie aber, wenn sein Sohn an den Augen litte, ließe er ihn wohl an seinen eigenen Augen etwas tun, wenn er ihn für keinen Arzt hält, oder verböte er es ihm? – Er verböte es gewiß. – Uns aber, wenn er uns für Arzneikundige (iatrikous) hielte, wollten wir ihm auch die Augen aufreißen (dianoigontes) und mit Asche einstreukurz darauf die Rede ist (Lys. 205cf.). Findet sich also die Trias von Zeus und seinen Söhnen, den Stiefbrüdern Axion und Herakles, wieder in der Trias von Sokrates und seinen Söhnen Menexenos und Platon/Lysis, die Stiefbrüder sind insofern der eine sein leiblicher Sohn, der andere sein „geistiger“ Sohn ist? 115 Sokrates hat sich „lächerlich gemacht“, s.o. Zit.

92 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN en, würde er doch, meine ich, nicht wehren, wenn er glaubte, daß wir es gründlich verständen (phronein). (Lys. 209ef.)

Im Augen-Aufreißen (dianoigontes) klingt die dianoia, das logische Denkvermögen deutlich genug an, um erkennen zu lassen, welche Augen geöffnet werden müssen – mit Vorblick auf die „zweitbeste Fahrt“ des Phaidon: die Augen der skepsis nach der Flucht in die logoi, die Augen, die sich auf die dianoia der logoi richten, auf den Bedeutungsgehalt. Sokrates wird am Ende die Palaistra nicht verlassen, seinen Weg, den er scheinbar unterbrochen hatte, nicht fortsetzen, bleibt scheinbar alleine in der Palaistra, nachdem die paidagôgoi die Knaben hinweggeführt haben werden. Der Dialog wird nicht wieder in die Anschaulichkeit zurückkehren. Dem Gespräch folgt keine erneute „Szene“, sondern der anschauliche Gesprächsraum ist die Grundlage, von dem aus in die palaistra der logoi eingetreten wird – ohne sie wieder zu verlassen. Entworfen wird die Ausgangssituation, von der aus in die logoi ein-, auf- oder hinabgestiegen wird. Der „Ausgang“ aber ist nicht dieselbe Tür wie der Eingang – genau wie beim Gefängnis, in dem sich Sokrates im Kriton und Phaidon findet. Sokrates wird sich weigern, die Flucht „zurück“ anzutreten, zugunsten einer lusis in eine ganz andere Richtung, die die Befreiung der psuchê vom Körper ist und in einen ganz anderen Raum führen wird, in das Jenseits der eidê. Die Anschaulichkeit des Ortes wie der Figuren bestimmt den Beginn des Dialoges, ihre körperliche, wahrnehmbare Welt. Zugleich aber bringen die Reden die Anschauung auch hervor, locken das sichtbare eidos an, das lysis ist. Die Figuren kommen zum Vorschein und bringen ihre Reden vor, lassen die Rede selbst zum Vorschein kommen – selbst wenn sich die eine oder andere Figur dafür verstecken muß, wie der Hippothales. Darüber hinaus aber lassen auch die Reden selbst etwas zum Vorschein kommen, zum Beispiel eine dianoia, einen Redeinhalt, eine Bedeutung oder ein gewisses Denken: Darauf sagte ich, ich begehre ja o Hippothales, weder die Verse (ti tôn metrôn) zu hören (akousai), noch die Weise (melos), wenn du dergleichen gemacht hast auf den Knaben, sondern nur den Sinn (tês dianoias) davon, damit ich erfahre (hina eidô), auf welche Art du deinen Liebling behandelst. (Lys. 205af.)

In den frühen Dialogen, zumal im Lysis und im Charmides, ist die Rede eingebettet in Anschauungen, in optische Spiele von Sehen und Verstecken, in Blicke und Anblicke. Bereits im Laches kündigt sich der erste Umschlag an, im ersten Wort des Dialoges tetheaste oun (ihr habt nun gesehen). Die Vorführung der Waffenkämpfer liegt der Rede und dem Dialog voraus, wird nicht gegeben im Dialog. Später in der Folge der Dialoge wird es einen Umschlag geben, genauer gesagt: einen zweistufigen Umschlag des Verhältnisses zwischen Anschauung und Rede. Im Menon hat sich der Umschlag nahezu vollzogen: der Dialog fällt mit der Frage des Menon nach der Tugend (aretê) wie mit der Tür ins Haus und bettet die Anschauung, die die Anschauung des Hausknaben des Menon ist, die doppelte Anschauung des Knaben, der als ein Anschauender (eines in den Sand gezeichneten Quadrates) selbst angeschaut wird (von Menon, der hier eine Weise der Suche nach Wahrheit anschaut), in die Rede ein. Die „Szene“, auf der die Gespräche stattfinden, schwindet und wird zu einer „Szene“ in den Gesprächen, auf die

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sich der zum Tode verurteilte Sokrates vor dem Vergessen rettet. Zunächst wird es eine „Szene“ der deixis sein, vor allem im Menon, auf andere – und höchst raffinierte Weise – auch im Euthydemos. Hier liefert der logos die „Szene“ mit, auf die er sich bezieht. Während in den frühen, anschaulichen Dialogen Lysis und Charmides unsicher ist, ob das anwesend ist, wovon die Rede ist (philia beziehungsweise sôphrosunê), liefern die deiktischen Dialoge eine Szene mit, die als anwesend zeigt, wovon die Rede ist. Der logos produziert sich eine eigene Szene – bis hin zur Politeia und zu den Nomoi, wo diese „Szene“ als „ideale Stadt“ von den logoi hervorgebracht wird, zunächst nur als anschaulicher logos, mit dem Ziel aber, diesen anschaulichen logos auch zur sinnlichen Anschaulichkeit zu bringen, die ideale Platopolis zu gründen. So wie Platon versucht, die gefährliche Pharmazie der Schrift unter Kontrolle zu bringen, indem er seinen Schrift-Pharmaka den Arzt Sokrates „beilegt“, der den Gebrauch der Schriften (im Phaidros) lehrt, so bringt er aus der heiklen Frage der Anwesenheit der eidê in der sinnlichen Dimension, in der die Dialoge spielen, heraus eine eigene anschauliche Dimension aus dem logos hervor.

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Die ent-setzende Logoskopie: skopeô to men oun to hen kai tous arithmous para ta pragmata poiêsai […] kai hê tôn eidôn eisagogê dia tên en tois logois egeneto skepsin Aristoteles116 Glauben Sie? Seit Beginn dieser Untersuchung [entrevue] dürften Sie beobachtet haben, daß es mir schwerfällt, Ihnen zu folgen, ich bleibe skeptisch […] Aber gerade über Skeptizismus rede ich mit Ihnen, über den Unterschied zwischen glauben und sehen, sehen glauben und halb sehen [entrevoir] – oder nicht. Bevor der Zweifel zum System wird, ist die skepsis eine Sache der Augen, das Wort bezeichnet eine visuelle Wahrnehmung, die Beobachtung, die Wachsamkeit, die Aufmerksamkeit des Blicks im Verlauf einer Untersuchung. Man späht und schaut, man reflektiert über das, was man sieht, man reflektiert das, was man sieht, während man den Moment der Konklusion hinauszögert. Betrachtend behält man die Sache im Blick. Das Urteil bleibt in der Schwebe, hängt von der Hypothese ab. Jacques Derrida117

Sokrates oder gar Platon mit dem Begriff der Skepsis in Verbindung zu bringen, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Tatsache, daß die Platonische Akademie seit der Übernahme durch Arkesilaos bis zu ihrer Auflösung, das heißt von 273 bis in das erste Jahrhundert vor Christus, eine Form von Skeptizismus lehrte und praktizierte, wird von Julia Annas als „aberration“ betrachtet.118 Dabei diskutiert selbst Sextus Empiricus die Frage, ob Platon ein Skeptiker gewesen sei, wobei es weniger interessant ist, daß er zu dem Ergebnis kommt, Platon sei kein Skeptiker gewesen, als daß er diese Überlegung überhaupt anstellt.119 Das Desinteresse an dieser Fragestellung ist angesichts der Dialoge selbst höchst verwunderlich, ist doch dort skopein/skepsasthai das wohl konstanteste Verfahren von Platon-Sokrates.120 Es zieht sich durch vom Lysis bis zu den 116 Aristoteles, Metaphysik 987b: „Daß er nun das Eine und die Zahlen neben die Dinge setzte (als von diesen getrennt) […] und die Einführung der Ideen war begründet in der skepsis in den logoi.“ Übers. nach Hermann Bonitz und Horst Seidel in: Aristoteles: Metaphysik, 41. Bonitz und Seidel übersetzen skepsin als „fragendes Denken“, logoi als Begriffe. Dieses Kapitel soll zeigen, daß skepsis schwerlich mit „Denken“, logoi auch nicht einfach mit „Begriffen“ gleichgesetzt werden können. Der zitierte Satz referiert Platons Weg zur Ideenlehre. 117 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, hg. und mit einem Nachw. vers. von Michael Wetzel, übers. von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1997, 9. Die zitierte Passage ist der Beginn des Textes, der sich mit Blindheiten und Einsichten beschäftigt. Das Vokabular dieser Passage ist auf eine verblüffende Weise sokratisch. 118 Julia Annas: Plato the Sceptic, in: Methods of Interpreting Plato and his Dialogues, hg. von James C. Klagge und Nicholas D. Smith, Oxford 1992, 43. 119 Vgl. Sextus Empiricus: Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, eingel. und übers. von Malte Hossenfelder, Frankfurt am Main 21993, 148. 120 Inbegriffen sind alle abgeleiteten Formen wie anaskopeô, anaskopê, aposkopeô, diaskopeô, epanaskopeô, episkopeô, episkopê, episkopos, paraskopeô, periskopeô, skopê, skopos, sundiaskopeô, suskopeô, skepteos, askeptos, diaskepteon, diaskeptomai, episkepteos, episkeptomai, euskeptos, suskepteon. Zwar bringen diese Ableitungen gewisse Nuancen in die skepsis, von denen

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Nomoi. Zugleich ist das skopein aber auch das in der Literatur zu diesen Dialogen, wie auch in der Literatur zum Sehen wohl unbeachtetste Verfahren, führt es doch substantiviert in die skepsis.122 In den Verdacht, ein Skeptiker zu sein, scheint Sokrates-Platon nicht geraten zu sollen. Die metaphysische Ideenlehre, das wohl zumindest im mittleren und späteren Werk dogmatischste Lehrgebäude der Philosophie überhaupt, ist der extremste Gegensatz zur Skepsis im modernen Verständnis, der sich nur denken läßt. Das platonisch-sokratische skopein ist deutlich vom modernen Verständnis der Skepsis, als einer gewissen Zurück-Haltung, einer Distanz gegenüber einer Behauptung bis hin zu ihrer höflich verklausulierten Ablehnung, zu unterscheiden. Modern pflegt die Skepsis üblicherweise mit „Zweifel“ übersetzt zu werden. Die philosophische Skepsis ist insbesondere verbunden mit dem cartesianischen Zweifel an der Außenwelt, an der Existenz oder Erkennbarkeit der Außenwelt. Wenn Sokrates ein Skeptiker zu nennen ist, dann nicht in diesem cartesianischen Sinne. Die Existenz der Außenwelt ist unzweifelhaft gegeben – worauf sich der Zweifel vielmehr richtet, ist das Wissen, das Scheinwissen, das sich immer wieder als bloße unbegründete Meinung herausstellt. Die sokratische skepsis ist keine Haltung, sondern ein Verfahren, ein hodos (Weg) oder eine Methode.123 aber hier aus Platzgründen abgesehen werden muß, ebenso von der strengen Unterscheidung zwischen skopeô und skeptomai, die allerdings für Platon austauschbar zu sein scheinen. 121 Einzig im Kritias kommt skopein/skepsasthai nicht vor. 122 Nicht einmal in Muglers Dictionnaire taucht das skopein oder die skepsis auf, noch weniger in der Sekundärliteratur zu Platon als zentrales Verfahren, ganz anders als die zêtêsis (Suche) und der elegchos (Widerlegung), die in den Dialogen erheblich seltener vorkommen, dabei aber in enger Verbindung zum skopein stehen, gerät doch letzteres zeitweise sowohl in die Nähe des elegchein – zumal im Gorgias – und zum zêtein – zumal im Phaidon. 123 Eine deutliche Unterscheidung zwischen skepsis als Haltung – genannt: Skepticism – und skepsis als Verfahren oder Methode findet sich bei Kant, der die skeptische Methode, das Verfahren in die Transzendentalphilosophie integriert: „Diese Methode, einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht, um endlich zum Vorteile des einen oder des andern Teils zu entscheiden, sondern, um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei, wornach jeder vergeblich haschet, und bei welchem er nichts gewinnen kann, wenn ihm gleich gar nicht widerstanden würde, dieses Verfahren, sage ich, kann man die skeptische Methode nennen. Sie ist vom Skeptizismus gänzlich unterschieden, einem Grundsatze einer kunstmäßigen und scientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlagen aller Erkenntniß untergräbt, um, wo möglich, überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen. Denn die skeptische Methode geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie, in einem solchen, auf beiden Seiten redlich gemeinten und mit Verstande geführten Streite, den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um, wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung, von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen, zu ziehen. Die Antinomie, die sich in der Anwendung der Gesetze offenbaret, ist bei unserer eingeschränkten Weisheit der beste Prüfungsversuch der Nomothetik, um die Vernunft, die in abstrakter Spekulation ihre Fehltritte nicht leicht gewahr wird, dadurch auf die Momente in Bestimmung ihrer Grundsätze aufmerksam zu machen. Diese skeptische Methode ist aber nur der Transszendentalphilosophie allein wesentlich eigen, und kann allenfalls in jedem anderen Felde der Untersuchungen, nur in diesem nicht entbehrt werden.“ (Kritik der reinen Vernunft, WW IV, 411f. (B451f.)) Besonders festzuhalten ist die Bemerkung, die skeptische Methode habe die Aufgabe zu untersuchen, ob es sich beim Untersuchungsgegenstand um ein „Blendwerk“ handele – eine Bemer-

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Schleiermacher pflegt skopein/skepsasthai zu übersetzen mit „untersuchen“, „betrachten“, gelegentlich auch als „bezweifeln“ – das aber schafft nur vordergründig Klarheit. Denn wenn zur Frage steht, was es heißt, einen Satz, einen logos zu untersuchen, so ist diese Untersuchung keine grammatikalische Untersuchung, die sich etwa auf den Satz als Satz beziehen würde, sondern auf einen Sachverhalt, den der Satz ausstellt, vorstellt oder darstellt. Die Betrachtung oder Untersuchung des Satzes richtet sich also nicht auf den Satz selbst, sondern auf etwas daneben, dahinter, darunter, darüber, darin, eine Signifikanz oder Referenz. Es ist ein Verfahren, das unter die Oberfläche geht, die der Satz zunächst ist.124 Der Satz wird im dialegesthai, das Sokrates betreibt, akustisch gegeben, ist ein gesprochener und gehörter Satz, der in den Blick genommen wird, in die Betrachtung gezogen oder vor „Augen“ gestellt wird. Eigenartigerweise spielt das skopein/skepsasthai in der Literatur zu Platon keinerlei Rolle – eigenartigerweise deswegen, weil andere, verwandte Verfahren, insbesondere die zêtêsis125 (Suche) und der elegchos126 (logische Widerlegung) durchaus thematisiert, dem Sokrates gar als seine ureigensten Verfahren zugeschrieben werden, obwohl sie allein schon in der Frequenz ihres Vorkommens als Vokabeln durch skopein/skepsasthai bei weitem übertroffen werden.127 Selbst wenn also skepsis lediglich als Bezweifeln oder Untersuchen zu verstehen wäre und nicht etwa eine optische Bedeutung hätte,

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kung, die sehr nah an die Charakteristik der Sokratischen skepsis herankommt. Unterschieden allerdings ist die Abfolge von Skeptik und Dogmatik bei Kant und Platon: bei Kant gilt die Dogmatik als „Kindesalter“ der reinen Vernunft, dem die Skepsis als zweite Stufe folgt, um endlich im dritten Schritt der „gereiften und männlichen Urteilskraft“ in der Kritik zu münden (vgl. Kritik der reinen Vernunft, WW IV, 646 [B 788]) – bei Platon dagegen beginnt die Philosophie mit der Skepsis und mündet in der Dogmatik der Ideenlehre und der Gesetzgebung. Dieses Bild von Oberfläche und Tiefe, Medium und Inhalt ist ein platonisches Bild, das insbesondere im Zusammenhang mit Sophisten seine Wirkung entfaltet, da die Sophisten eben diejenigen sind, die sich nicht um die Tiefe oder den Inhalt kümmern, sondern reine Oberflächlichkeit produzieren. Vom Zusammenhang zwischen skepsis und zêtêsis schreibt Sextus Empiricus: „Die skeptische Schule wird auch die ‚suchende‘ (zêtêtikê) genannt nach ihrer Tätigkeit (energeias) im Suchen (zêtein) und Spähen (skeptesthai [sic]).“ (Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, 94). Noch immer wichtig für die sokratisch-platonische Methode ist Richard Robinson: Plato’s Earlier Dialectic, Oxford 21953. Sein erster Satz nach der Einleitung lautet: „The outstanding method in Plato’s earlier dialogues is the Socratic elenchus.“ (7). Diese Einstellung dominiert das Sokrates-Bild bis heute. Zur skepsis äußert sich Robinson nicht. – Gregory Vlastos schreibt über einen „standard elenchus, which I regard as Socrates’ main instrument of research“. (in: Ders.: Socratic Studies, hg. von Myles Burnyeat, Cambridge 1994, 12). Zwar erwähnt er (ebd., 4) zumindest skopô, diaskopô, skeptomai, diaskeptomai, die er allerdings dem elegchos subsumiert. – Auch Charles H. Kahn schließt sich der herrschenden Meinung an: „It is often assumed that the standard form of argumentation in Plato’s earlier dialogues is the Socratic elenchus.“ (in: Ders.: Plato and the Socratic Dialogue. The Philosophical Use of a Literary Form, Cambridge 1996, 110). – Ebenfalls in Anlehnung an Robinson schreibt Wolfgang Wieland vom „sokratischen Elenchos“ als der Methode (Platon, 78), wenn auch nur als dem ersten Schritt eines längeren Weges (ebd., 298). Perseus gibt für das gesamte Feld von elenchô 212 Stellen an, für das Feld von zêteô immerhin 396. Dagegen liegt das Vorkommen von skopeô/skeptomai/ skepsis mit allen Komposita bei knapp 1000 Stellen.

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wäre in jedem Falle die Tatsache in Betracht zu ziehen, daß skopein und skeptomai sokratische Verfahren sind, daß die skepsis also ein sokratisches Verfahren ist – oder eher noch: daß die skepsis das sokratische Verfahren schlechthin ist, denn bei genauer Betrachtung der Stellen zeigt sich, daß die Aufforderung zur skepsis fast ausschließlich aus dem Munde des Sokrates kommt!128 Die Übersetzung von skepsis als „Untersuchung“ verhüllt eher, daß sich dieses Verfahren aus einem sinnlichen Bereich ableitet, seine Bedeutung vor allem auf ein bestimmtes Gesicht bezieht. Ohne die Etymologie in diesem Zusammenhang über Gebühr in Rechnung zu stellen129, läßt sich doch absehen, daß die altindische Herkunft von skopein/skepsasthai pas ein „sehen“ bezeichnet130, wie auch die von skopein/skepsasthai abgeleiteten lateinischen Vokabeln der Gruppe um specio diese Bedeutung des sinnlichen Sehens im Vordergrund stehen haben.131 Für die griechische Vokabel findet sich die Bedeutung der sinnlichen optischen Wahrnehmung ebenfalls im Wörterbuch: 128 Soweit Sokrates überhaupt vorkommt – in den Nomoi ist es natürlich der Athener, der zur skepsis auffordert. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß in den Dialogen, die als nicht echt gelten, wie etwa Hipparchos oder Anterastai das skopein/skeptomai nicht vorkommt. Es gibt einige wenige Stellen in Sokrates-Dialogen, an denen die Vokabel von seinen Gesprächspartnern benutzt wird, so etwa im Laches von Lysimachos zu Beginn (179d), oder im Euthydemos, wo ihn Dionysodoros zur skepsis auffordert und die Entgegnung des Sokrates geradezu giftig klingt: „Bedenke (skopei) dir es wohl, Sokrates, daß du nicht hernach leugnen mußt, was du jetzt sagst. – Ich habe es schon bedacht (eskemmai), sprach ich, und es hat keine Not, daß ich es jemals ableugnen sollte.“ (283c). Verwandt damit etwa Charmides 165c: „[Sok.: …] gedulde dich, bis ich es untersucht (skepsômai) habe. – So untersuche es (skopei) denn, sagte er. – Ich tue es auch schon (skopô!), sagte ich.“ Die skepsis läßt sich Sokrates ungern aus dem Munde nehmen. Interessant ist Charm. 161bf., wo der knabenhafte Charmides dem Sokrates die Aufforderung zur skepsis angedeihen läßt, die Rollen sich für einen Moment vertauschen: „Dies scheint mir ganz richtig gesagt zu sein, Sokrates. Folgendes aber betrachte dir (skepsai), wie es dich dünken wird (dokei), von der Besonnenheit. […] Überlege also (skopei), ob dich der dünkt, richtig zu erklären, der dieses sagt.“ Und Sokrates kontert: „Du Schlauer, sagte ich darauf, das hast du vom Kritias gehört oder von einem anderen Weisen.“ Eine gewisse Verblüffung also bei Sokrates – vorwiegend über die von Charmides vorgebrachte Bestimmung der Besonnenheit, wohl aber auch über die kecke Aufforderung zur skepsis. 129 Die etymologische Herkunft und Weiterentwicklung von skopein/skepsasthai ist natürlich für das Verständnis von skopein/skepsasthai, das Platon-Sokrates haben, eher nachrangig. Ihre Betrachtung soll lediglich als Aufweis dienen für den Sachverhalt der Konstanz der sinnlich-optischen Dimension dieser Vokabeln sowohl vor als auch nach Platon-Sokrates. 130 Vgl. den Eintrag skepsasthai bei Hjalmar Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1960-1972. 131 Im Lateinischen wird das skeptomai zum specio, von dem sich unter anderem auch der Spiegel (speculum) herleitet, wie das conspicio, aspicio und der aspectus, zu specula (Wachturm und Lauer), species (Blick, Anblick, Gestalt, Äußeres, Schönheit, Traumbild, Schein; Vorstellung, Begriff, Idee, Musterbild, Ideal), spectrum (Schemen) und speculor (auskundschaften und belauern), im Intensivum zum specto (schauen, berücksichtigen, streben, an etwas denken, gerichtet sein), von dem sich nicht zuletzt das spectaculum herleitet (Tribüne, Bühne, Schauspiel). Anders als der Spiegel (speculum) scheint sich die Höhle (specus) sprachgeschichtlich nicht vom skeptomai/skopeô herzuleiten. Insbesondere die visuellen Bedeutungen von skeptomai haben sich also erhalten. Im Deutschen wandelt es sich über das althochdeutsche spëhon zum „spähen“. Daneben findet sich auch modern eine Verwendung dieses Stammes, im Mikro-skop, Tele-skop oder Horo-skop, die nichts mit einem Zweifel

98 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN skeptomai […] 1.nach etw. ausschauen, ausspähen, betrachten, beobachten, untersuchen, erkunden, aufklären, rekognoszieren […] 2. übertr. die Lage betrachten, prüfen, überlegen […] 3. beachten, berücksichtigen […] skopeô […] I. act. 1. aus der Ferne od. von einem hohen Orte aus sich umsehen, beobachten, ausspähen (…) 2. untersuchen, prüfen, ins Auge fassen, berücksichtigen, achtgeben, sorgen […] II. med. 1. ausspähen […] 2. bei sich überlegen, erwägen […] 3. fragen […] skopos 1. Späher, Kundschafter, Wächter, Aufseher […] 2. a. Ziel, nach dem man schießt […] 3. Zweck, Absicht. skopê […] 1. Umschau, das Ausschauen, Spähen […] 2. Ort zum Spähen, Anhöhe, Warte skepsis […] Betrachtung, Überlegung, Untersuchung132

Es ist auffällig, wie im Eintrag zur skepsis die sinnlich-optische Fundierung schwindet, der hier nachgegangen werden soll. Daß es gerade eine Vokabel aus dem Bereich der opsis ist, die zur Anwendung kommt, um logoi in den Blick zu nehmen und sie zu überprüfen, übersteigt den Bereich der bloßen Logik. Der konkrete, methodisch argumentative Zusammenhang von Sagen (legein) und betrachten (skopein) ist hier von Interesse. Skopein und skeptomai bezeichnen eine bestimmte Form der sinnlichen opsis. Das ist für das Verständnis entscheidend, und es schließt sich die Frage an: Läßt sich der Sachverhalt eines Satzes mit der skepsis ausspähen? Besonders in der skopê und im skopos fällt die Struktur auf, die sich im Zusammenhang mit der sinnlichen opsis gemäß der platonisch-sokratischen Sehtheorie ergeben hatte: die Bezeichnung des Zielenden und des Zieles durch die selbe Vokabel, Bezeichnung des Spähens und des Ortes zum Spähen. Wie die opsis in sich sowohl den Sehvorgang, als auch die GesichtsFähigkeit des Sehenden und das Aussehen des Gesehenen in einer Vokabel verbindet, verbinden sich hier Zielender und Ziel im skopos, der Späher und sein Ort in der skopê.133 So liegt die Hypothese nahe, daß sich skopein/ skepsasthai auf eine ganz bestimmte Form des Sehens bezieht. Der Blick der skepsis ist das gezielte Blicken auf einen genau festgelegten Ausschnitt des Gesichtsfeldes, auf ein Ziel hin, das in den Blick genommen wird. Dabei ist zugleich der Standpunkt herausgehoben, wie ein Wachturm, von dem her der Späher seinen Blick ausrichtet.

zu tun haben, sondern einer genauen Hinsichtnahme, sei es optisch oder auch akustisch, wie beim Stetho-skop. 132 Wiedergegeben nach Gemoll. 133 Interessanterweise hat der skopos als Terminus für die Interpretation und Kommentierung eine gewisse Bedeutung, als die Festlegung des Zieles des Textes, der zu kommentieren ist. Dieser skopos ist eine Voraussetzung für die Interpretation, die den zu kommentierenden Text im Kommentar zur Einheit verhält oder gar zur Vergleichbarkeit mit einem Lebewesen. Zum PhaidrosKommentar des Hermeias von Alexandrien schreibt Hildegund Bernard: „Seine [d.h. des Hermeias; A.d.V.] ganz zu Beginn gemachte Feststellung, daß es einen Skopos gibt, auf den hin der ganze Dialog konzipiert ist, damit die Schrift ‚wie ein Lebewesen‘ sei, bestimmt sein Vorgehen bei der Auslegung, denn jedes Detail wird im Lichte dieser Voraussetzung betrachtet.“ (Hildegund Bernard: Hermeias von Alexandrien. Kommentar zu Platos „Phaidros“, übers. und eingel. von Hildegund Bernard, Tübingen 1997, 23).

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In seiner Untersuchung zur aisthêsis vor Platon kommt Schirren kurz auf skopein bei Thukydides zu sprechen.134 Er stellt bei ihm nur ein einziges Mal eine Verwendung als ‚konkretes Sehen in eine Richtung‘ fest und findet ansonsten nur abstraktere Bedeutungen im Sinne von „Prüfen“ oder „Achten auf Gegebenheiten“. Was das skopein bei Thukydides von aisthanesthai unterscheidet, ist die genaue ziel- und standortorientierte Perspektivierung des Blickes, der beim letzteren einer eher ungerichtete Aufmerksamkeit gegenübersteht. Wenn auch die Dinge in der skepsis nicht unbedingt sichtbare Dinge seien – so Schirren –, so hebe diese Methode doch auf Evidenzen und manifeste Anhaltspunkte ab: Die Bedeutung ist nunmehr so zu umgrenzen, daß von einem gewissen Punkt aus die Dinge angesehen werden. Dabei ist mitunter schwer zu unterscheiden, ob dieses ‚Ansehen‘ ein abstraktes Schließen ist oder eine Voreinstellung des Sehenden auf etwas Bestimmtes gemeint ist. Wenn man danach sieht, ob alles in Ordnung ist […], ist dies ein Prüfen auf Tauglichkeit, indem man sich die Dinge ansieht.135

In den Dialogen Platons wird der Bezug des skopein auf das Sehen explizit deutlich gemacht: „hê dia tôn ommatôn skepsis“ – „Betrachtung durch die Augen“ (Phd. 83a). Der Punkt, an dem dies geschieht, ist für die Entwicklung der Lehre von den Ideen zentral, markiert den eigentlichen Überstieg in die Dimension der Ideen, die in einem Jenseits angesiedelt sind, das ebenfalls eine Gesichts-Dimension ist. Es handelt sich um den Phaidon und um denjenigen Punkt, wo entworfen wird, was hier später als das Zweite Gesicht in den Blick kommen soll. Hier gibt es die Passage über den Zugang zur Wahrheit, der als die Frage formuliert wird: Wann also trifft die Seele die Wahrheit? Denn wenn sie mit dem Leibe (meta tou sômatos) versucht etwas zu betrachten (skopein), dann offenbar wird sie von diesem hintergangen (exapatatai). (64b)

Es gibt also eine skepsis, die sich des Körpers bedient. Die anschließende Frage lautet, ob die skepsis immer durch ein körperliches Organon geschieht oder ob es auch eine skepsis ohne diese organische Beteiligung gibt. Welcher Organe genau sich die körperliche skepsis bedient, wird später im Phaidon gesagt: vornehmlich des Gesichtes und des Gehörs. Es könnte nun scheinen, als wäre die Begrenzung der skepsis auf das Gesicht eine unzulässige Einengung, da auch das Gehör zu den möglichen Organen der skepsis gehört. Gemeinsam ist beiden allerdings ihre Zugehörigkeit zur sinnlichen Dimension, ihre Ausrichtung auf aisthêta. Daß vom Gehör hier abgesehen und die skepsis als Gesicht betrachtet wird, hat den Grund, daß dieses auch das vorherrschende organische Gebiet in den Dialogen ist, die akustische skepsis eigentlich eher nicht zu finden ist – sie wäre ein genaueres Hinhören und Vernehmen. Im folgenden wird daher die skepsis weiterhin verstanden als „dia tôn ommatôn skepsis“ – „Betrachtung durch die Augen“.

134 Schirren: Aisthesis vor Platon, 45-48. 135 Ebd., 47 (Hervorhebung im Original).

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Skepsis als Methode Sokrates geht in der skepsis mit Sachverhalten um, wie der Späher oder auch der Schütze mit dem Ziel. Das Gemeinsame der beiden sind die Pfeile, die sie aussenden: der Späher sendet seine lichtförmigen Sehpfeile aus, um etwas zu treffen, wie der Schütze die Geschosse seines Bogens. Der Unterschied beider ist lediglich die Auswirkung auf das Ziel: der Schütze trifft sein Ziel und mag es damit verletzen, zerstören oder töten, der Späher dagegen nimmt es lediglich scharf in den Blick. Es läßt sich in den frühen Dialogen zeigen, daß die skepsis des Sokrates hier dem Bogenschützen gleicht, der einen Satz als Ziel aufstellt und ihn mit seinen Blicken zu durchbohren beginnt, bis nichts mehr übrigbleibt von seinem Inhalt, bis er eine leere, tote Hülle ist. Das skeptische Sehen des Sokrates ist keines, das das Gesehene sein läßt, sondern es durchdringt, durchschaut und sieht, daß es dort, wo es scheinbar etwas zu sehen gab, tatsächlich nichts zu sehen gibt. Was scheinbar zu sehen war, sind Setzungen, die gewisse Sätze bedeuteten. Diese Setzungen werden durch das Sehen der skepsis ent-setzt. Die skepsis ist ein ent-setzendes Sehen. Es richtet sich auf Phantasmen, die sich aus Sätzen erheben, ist eine spektro-skopie, eine Geistersicht auf unsichtbare Geister. Im Sophistês wird dieses Verfahren erläutert: FREMDER: Wie nun aber können wir nicht erwarten, daß es auch in Worten (logous) eine andere ähnliche Kunst (technên) gebe, vermöge deren es möglich wäre, Jünglinge und solche, die noch in weiter Ferne stehen, von dem wahren Wesen der Dinge durch die Ohren (ôtôn) mit Worten (logois) zu bezaubern (goêthein), indem man gesprochene Schattenbilder (eidôla legomena) von allem vorzeigt (deiknuntas), so daß man sie glauben macht, es sei etwas Wahres gesagt und der, welcher es sagt, der Weiseste unter allen in allen Dingen? THEAITETOS: Wie sollte es nicht eine andere solche Kunst geben? FREMDER: Werden aber nicht die meisten, o Theaitetos, von denen, welche dies einst hörten (akounontôn), wenn ihnen hinlängliche Zeit darüber vergangen ist und sie bei reiferem Alter in der Nähe mit den Dingen zusammentreffen, so daß sie durch unmittelbare Einwirkungen gezwungen werden, sich offenkundig in Berührung mit den Dingen zu setzen, alsdann notwendig alle ihre damals entstandenen Vorstellungen umwandeln (metaballein), so daß ihnen das Kleine groß und das Schwere leicht erscheint und überall jene Trugbilder aus Worten (en tois logois phantasmata) zerstört werden, wenn die Dinge (ergôn) selbst in den Geschäften (praxesin) herbeikommen? (Soph. 234cff.)

Es wird hier nicht erwähnt, daß das Verfahren, sich gegen phantasmata aus Worten zu wenden, die skepsis ist. Es handelt sich auch eher um eine Metaoder Archäo-Skepsis, die nicht die Trugbilder zerstört, sondern die Phantasmatik der sophistischen Trugbilder freilegt und aufdeckt. Eingeleitet wird diese Untersuchung folgendermaßen: FREMDER: So laß uns denn sehen (skopômen), worin denn solche Leute sich rühmen, andere streitbar zu machen im Gespräch. Unsere Untersuchung (skepsis) aber gehe von Anfang (ex archês) an so. (Soph. 232bf.)

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Das sokratische Verfahren des skopein ist vergleichbar der Fokussierung eines Mikroskops, das sich allerdings vor allem auf Sachverhalte hinter, unter, über oder in Sätzen richtet, sie in den Blick nimmt und analysiert – ein Mikroskop gemäß der platonisch-sokratischen Gesichtslehre, ein Mikroskop, das die Sehstrahlen des Spähers gebündelt auf den Gegenstand treffen läßt. Vielleicht ist es dem Verfahren des Chemikers vergleichbar, der einen gegebenen Stoff spektroskopisch auf die Anwesenheit einer gewissen Substanz hin prüft, wie Sokrates den sprachlichen Satz auf Anwesenheit der Wahrheit. Diese Substanz wäre, um bei einem Begriff Platons zu bleiben, dem Gold vergleichbar: basanizein ist der Begriff, der hierfür seit dem Laches zur Verfügung steht, das Benutzen eines Prüfsteines.136 Als Prüfstein oder Indikator dient der Gesprächspartner. Sokrates untersucht Sätze auf ihren WahrheitsGehalt hin – und wenn sich kein Wahrheitsgehalt darin befindet, lösen sie sich auf in Nichts. Wenn die skepsis in der Weise eines sinnlichen Sehens strukturiert ist, so stellt sich die Frage nach der Bedeutung von skepsis selbst, im Lichte der Analogie zur opsis.137 Die opsis bezeichnet sowohl den Sehvorgang, die Gesichtsfähigkeit des Sehenden und das Aussehen, das Angesicht des Gesehenen. Für die skepsis lassen sich die ersten beiden Bedeutungen analog fassen: skepsis ist sowohl einen Spähvorgang, wie auch die Spähfähigkeit des Spähenden. Aber handelt es sich daneben auch zugleich um das Erspähte? Ist die skepsis also zugleich auch das, was erspäht wird, die durch den logos gegebene Anschauung also, vergleichbar der sinnlichen opsis, die das Aussehen bezeichnet? Hat ein logos eine skepsis zur Folge, wie ein Ding der sinnlich wahrnehmbaren Welt eine opsis hat? Oder würde die skepsis einen jeden Gegenstand einfach zur skopê, zum Ziel machen – wäre also die skepsis die Welt-Anschauung des Bogenschützen, der statt Dingen nur Ziele sieht? Im Phaidon spricht Sokrates von einer skepsis, die durch Augen oder Ohren vollzogen wird im Gegensatz zu einer anderen skepsis, die die psuchê ohne die Einschaltung dieser körperlichen Instrumente vollzieht. Diese zweite skepsis wird das neue Verfahren des Sokrates sein, das mit dem Phaidon anhebt und aufs engste verbunden ist mit seiner meta-physischen Lehre. Bis hierher muß man davon ausgehen, daß das skopein/skepsasthai, also eine sinnlich-optische Aktivität, verwendet wird, auch wenn es sich um eine Aktivität handelt, die sich auf nicht sinnlich sichtbare Dinge bezieht, die durch den logos gegeben werden. Die skepsis ist – wie auch das blepein (siehe unten S. 140ff.) – eine Fähigkeit des sinnlichen Gesichtes, die nicht auf die engeren Grenzen der Sinnlichkeit eingeschränkt ist. Das skopein/skepsasthai erweitert die sinnlich wahrnehmbare Welt über die aktuelle opsis hinaus, hin zu Referenten und Signifikaten. Sie nimmt in den Blick, was ein Satz, der von einem Gesprächspartner vorgebracht wird, als Antwort auf eine Frage 136 Es ist Nikias im Laches (188af.), der Sokrates solches basanizein zuschreibt, wobei sich die Doppelbedeutung von „Prüfung auf Goldgehalt“ und „Folter“ dabei vermischt. Im Gorgias 486dff. erwähnt Sokrates die Prüfung der psuchê auf einen Goldgehalt als basanizein. Die Vokabel kommt eher selten vor, meint dann aber offenbar die gesteigerte Form der skepsis. 137 Ich habe in der etymologischen Literatur zur skepsis keinerlei Hinweis darauf gefunden, daß es sich dabei um eine (durch die als Präfix verwendete Intensivierung –sk–) erweiterte Form von opsis, also um eine sk-opsis, ein gesteigertes Sehen handeln könnte, wie sich aus der Form sk-opeô/sk-eptomai herleiten lassen könnte, die dann wiederum aus der Wurzel op- gebildet wäre. Daher werde ich auf diese Überlegung hier nicht weiter eingehen.

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des Sokrates zu sehen gibt, wiewohl es nicht sinnlich anwesend ist, sondern sich in einem Erfahrungsraum (wie die persönlichen Erfahrungen des Lysis) befindet oder in einem paradigmatischen Raum (wie die Handwerker, Künstler und Ärzte des Sokrates). Sie prüft, ob es überhaupt Referenten oder Signifikate der vorgebrachten logoi gibt, ob nicht die Rede vielmehr eine leere Rede ist. Wenn es Referenten und Signifikate gibt, dann prüft die skepsis, ob es sich dabei nicht um bloßen Schein handelt. Die skepsis zieht sich als Verfahren durch die Reihe der Dialoge, verändert sich aber im Lauf der Dialoge nachhaltig. Im Beginn ein ent-setzendes Sehen, verliert sie etwa seit dem Gorgias an Schärfe. Während zu Beginn ein jeder Satz, den Sokrates der skepsis unterwirft, der Ent-Setzung bereits anheimgegeben ist, entwickelt sich die skepsis in der Folge durchaus zu einem Problemlösungsverfahren, an dessen Ende ein Satz zu stehen kommt, und wird zu einem hinnehmenden Verfahren, einer Wahr-Nehmung.138 Daß die skepsis ein Verfahren, ein hodos (Weg) ist, läßt sich bereits im Lysis lesen, demjenigen Dialog, der die skepsis zum wesentlichen Inhalt hat. Es scheint sinnvoll, die „Reinform“ der skepsis im Lysis schrittweise zu verfolgen. Nach dem Abbruch des Gespräches mit dem eristischen Menexenos beginnt Sokrates: Ich also, teils weil ich den Menexenos ausruhen wollte, teils auch in der Freude über jene Nachdenklichkeit, wechselte um und die Rede an Lysis richtend, sagte ich: O Lysis, du scheinst mir richtig zu sprechen, denn wenn wir unsere Untersuchung (ei orthôs eskopoumen) recht angelegt hätten, so würden wir schwerlich so in die Irre (eplanômetha) geraten sein. Hier also laß uns nicht weitergehen, denn sie ist offenbar gar ein schwerer (chalepê; Schleiermacher übersetzt „schlimmer“) Weg (hodos), diese Untersuchung (skepsis); sondern wo wir abgelenkt haben, da, glaube ich, müssen wir weitergehen und nach den Dichtern untersuchen (skopountas). Denn diese sind doch gleichsam unsere Väter (pateres) und Führer (hêgemones) in der Weisheit. (Lys. 213dff.)139

Die skepsis ist ein beschwerlicher, schwieriger hodos, ein Weg, der Abzweigungen hat, die in die Irre führen, vermutlich aber auch eine Trasse enthält, die zum Ziel führt. Um auf diese Trasse zu gelangen, bedarf es der richtigen Anlage (ei orthôs eskopoumen) der skepsis. Das bedeutet, daß es eine richtige 138 Skepsis als Vokabel richtet sich dabei mit einer einzigen Ausnahme in den Frühdialogen niemals auf etwas, das problemlos als ein Bestandteil der sinnlich wahrnehmbaren Welt betrachtet werden könnte. Die eine Ausnahme findet sich beim ersten Vorkommen im ersten Dialog, dem Lysis: „Lysis aber sah sich häufig um nach uns (epeskopeito hêmas) und hatte offenbar große Lust, sich zu uns zu gesellen.“ (Lys. 207a) Hier ist es Sokrates, der in den Blick der skepsis gerät, später wird er selber der Skeptiker in diesem Dialog, nachdem er mit Lysis und Menexenos einen vergeblichen Versuch unternommen hatte, die Frage nach der philia zu beantworten. Diese Stelle, wo Sokrates zur skepsis aufruft, markiert die Mitte des Dialoges, wie ein Wendepunkt. 139 Schleiermachers Übersetzung von chalepê bringt eine Wertung in die Stelle, die nicht unbedingt mit chalepos verbunden ist, wie Sokrates im Prot. 340cff ausführt anläßlich eines Spruchs des Simonides. Dort zeigt Sokrates, daß chalepos nicht unbedingt eine negative Qualifizierung, ein „böse“ oder wie hier im Lysis ein „schlimm“ meint, sondern auch die Schwierigkeit bezeichnet – vgl. auch Krat. 384b chalepa ta kala – „das Schöne ist schwierig“, auch Hipp. mai. 304e, Rep. IV, 435c und 497d.

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und zumindest eine falsche Weise der skepsis gibt. Welche skepsis die richtige ist, weiß Sokrates nicht, wie sich zeigen wird. Das skeptische Experiment setzt hier zunächst die Dichter ein, um mit ihnen in die richtige skepsis zu gelangen, genauer gesagt: ein Dichter-Zitat, den logos eines Dichters, der in der Folge unter das Mikro-Skop des Sokrates geschoben werden wird. Die skepsis gibt dem zweiten Teil des Dialoges ihr Gerüst, immer wieder fordert Sokrates zum skopein/skepsasthai auf: 1. Der Satz der Dichter, das Gleiche sei dem Gleichen freund (214a), wird entsetzt (bis 215b). Sokrates schließt die Besichtigung des logos des Dichters: „Sieh also (athrei) zu, Lysis, wie wir übel ankommen.“140 2. Der Gegen-Satz, das Gleiche sei dem Gleichen am meisten feind (215c), wird ebenfalls entsetzt (216b). 3. Die nächste skepsis schließt sich an, ob nämlich vielleicht nur das Weder-Gut-noch-Böse dem Guten freund ist: „Laß uns aber auch dieses noch sehen (skepsômetha): […]“ (216c). Erst scheint es, als könne dieser logos standhalten, und Sokrates fordert Lysis und Menexenos auf, seinen Ausführungen mit skepsis zu folgen: „So erwäget (skepsasthe) denn, was ich sage (ho legô).“ (217c). 4. Am Ende steht der Satz: „Wir behaupten nämlich, sowohl in betreff der Seele (psuchên) als des Leibes (sôma) und überall sei nur das weder Gut noch Böse wegen Anhaftung eines Bösen freund dem Guten.“ (218bf.) 5. Der Freude über den scheinbaren Erfolg des Satzes mischt sich eine hupopsis, ein Verdacht oder eine Vermutung bei: „Hernach aber kam mir, ich weiß nicht woher, der seltsame Verdacht (hupopsia), daß wohl alles nicht wahr wäre, was wir zusammen ausgefunden hatten.“ (218c) 6. Der erneute Aufruf zur skepsis durch Sokrates folgt: „Laß es uns so betrachten (skopômen), sprach ich.“ (218d). 7. Der Satz aus (4) wird verschoben: „Freund ist man also, dem man freund ist um etwas willen, dem man freund ist wegen etwas, dem man feind ist.“ (219b)141 8. Sofort warnt Sokrates vor der Gefahr, getäuscht zu werden (exapatêthômen) und fordert wiederum zur skepsis auf: „Dieses aber laßt uns wenigstens erwägen (skepsômetha), damit nicht das jetzt Angenommene (legomenon) uns betrüge (exapatêsê).“ (219bf.) 9. Von dem bisherigen Umherwandern soll Abstand genommen werden, der Blick auf die archê der Freundschaft gerichtet werden, auf das prôton, 140 Lys. 215c. Die hier verwendete Vokabel athreô bezeichnet ein Sehen, wie auch eine Erwägung, in der bereits bekannten Bewegung der Verdoppelung des Sehens, bzw. der Fähigkeit, un-sinnlich zu sehen, Un-Sinnliches zu sehen. Eine ausführliche Erörterung der Vokabel scheint allerdings nicht notwendig, da diese bei Platon sehr selten vorkommt – Perseus gibt knapp über 20 Stellen an – und da sie keine wesentlichen Elemente zur Theorie des Gesichts beiträgt. 141 Eigler korrigiert Schleiermachers Übersetzung: „Um dessentwillen, was freund ist, ist also das, was freund ist, dem, was freund ist, freund und zwar dessentwillen, was feind ist.“ Diese Korrektur ist allerdings eher noch komplizierter als die Übersetzung Schleiermachers. Der Sachverhalt, der hier ausgedrückt werden soll, wird von Sokrates am medizinischen Beispiel eingeführt. Der kranke Körper als Weder-Gut-noch-Böse ist der Arzneikunst (als etwas Gutem) freund um der Krankheit (als etwas Bösem) willen und wird in der Folge also dem Arzt freund. Man könnte Eiglers Version also reformulieren: Um der Gesundheit willen ist der (kranke) Körper dem Arzt freund, und zwar der Krankheit wegen.

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das erste, dem man wahrhaft freund ist und um dessentwillen man überhaupt freund sein kann. (219cf.) Die Untersuchung beginnt von neuem mit der Aufforderung: ennoêsômen.142 10. Die vorher beglückt aufgenommene Lösung des Problems ist ent-setzt: man ist einem nicht wegen eines anderen freund. (220b) 11. Auch die Position des Bösen in der Freundschaft schwindet, wird durch das Begehren ersetzt, das die Liebe und die Freundschaft erzeugt. (221cf.) 12. Das Begehren richtet sich beim Begehrenden auf etwas, das ihm fehlt: „Wem also etwas fehlt, das ist dem freund, was ihm fehlt?“ (221df.) Und das Fehlende ist das von Natur angehörige: „Das von Natur Angehörige also müssen wir, wie sich zeigt, notwendig lieben?“ (222a) 13. Erneut beginnt Sokrates die skepsis: „Da sagte ich in der Absicht, den Satz (ton logon) noch näher zu betrachten (episkepsasthai) […]“ (222b) 14. Die Folge dieser skepsis ist die erneute Ent-Setzung: „Was haben wir also nun noch an dem Satz? offenbar wohl nichts. Ich bitte euch daher, wie vor Gericht die Redner pflegen, das Gesagt alles noch einmal zurückzurufen. Wenn nämlich weder die Geliebten noch die Liebenden, noch die Gleichen noch die Ungleichen, noch die Guten, noch die Angehörigen, noch was wir sonst durchgenommen haben – denn ich erinnere mich nicht mehr an alles vor der großen Menge –, wenn also nichts von allem diesem der Gegenstand der Freundschaft ist, so weiß ich meinesteils nicht mehr, was ich sagen soll (ti legô).“ (222e). Resümee des Sokrates: „Diesmal, o Lysis und Menexenos, haben wir uns lächerlich gemacht, ich, der alte Mann, und ihr. Denn diese, wenn sie nun gehen, werden sagen, wir bildeten uns ein Freunde zu sein, denn ich rechne auch mich mit zu euch; was aber ein Freund sei, hätten wir nicht vermocht herauszufinden (exeurein).“ (223b) Nichts entgeht der ent-setzenden skepsis, nichts bleibt mehr als Aussage über die Freundschaft bestehen – abgesehen von der Tatsache, daß es Freundschaft gibt und daß Sokrates, Lysis und Menexenos Freunde sind. Die Tatsache, daß die skepsis zu keiner Aussage über das Wesen der Freundschaft geführt hat, bedeutet also nicht, daß es keine Freundschaft gibt. Das Formulierungsproblem stellt hier eine Grundhaltung heraus, die besagt, daß die Tatsache, daß etwas nicht gesagt und als „propositionales“ Wissen (Wieland) formuliert werden kann, nicht notwendig die Folgerung nach sich zieht, daß das, was nicht gesagt werden kann, nicht existiert. Es sollen hier nur einige Grundzüge dieses Verfahrens unter dem Gesichtspunkt wiedergeben werden, daß die sokratische skepsis ein Verfahren ist, das in bestimmter und wesentlicher Weise mit der platonisch-sokratischen Gesichts-Lehre verknüpft ist. Um der skepsis präzise auf die Spur zu kommen, wäre die Abgrenzung von anderen Verfahren, vor allem natürlich dem elegchos, herzuleiten, würde die spezifische Eigenart der skepsis gegenüber anderen Untersuchungs- oder Argumentationsverfahren darzulegen sein, es wäre als Gegenstück zu den Sophistikoi elegchoi des Aristoteles eine Untersuchung zu den Sokratikoi skepseis anzustellen. Den Gegensatz zum elegchos, die Differenz, die beide Verfahren auszeichnet, zu bestimmen, fällt im Lysis nicht leicht, wenn sie denn überhaupt 142 Hier kommt die von Gerhard Jäger für die frühen Dialoge angegebene Deutung des nous in ennoein zum Tragen als Aufforderung zur Aufmerksamkeit.

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durchführbar ist, angesichts der Kürze des Gesprächs mit dem eristischen Menexenos143 und angesichts auch der Tatsache, daß Menexenos in dieser Passage nicht die Gesprächsführung übernehmen kann, seine Eristik oder Elenktik nicht zum Zuge kommt. Daß aber ein solches Spannungsverhältnis zur eristischen Elenktik besteht, das zumindest kann hier festgestellt werden, eine Konkurrenz zu einem vornehmlich logischen Verfahren. Am Ende der skepsis stellt Sokrates fest, daß man sich im gemeinsamen Gespräch selbst widerlegt habe.144 Etwas deutlicher hingegen ist der Unterschied der sokratischen Gesprächsführung in der Menexenos-Passage gegenüber dem Gespräch mit Lysis zuvor unter der Bedingung, daß auch die Passage vor Beginn der Unterhaltung in den Blick gerät, die Anschaulichkeit des Beginns, der Eintritt des Sokrates in die Palaistra der logoi, wie sie oben ausgeführt wurde. In einem Gesichtsraum erhebt sich die Debatte, die selbst eine Vorführung ist für den Liebhaber Hippothales, eine Vorführung, wie man sich mit einem Geliebten zu unterhalten habe. Das Gespräch mit Lysis ist gegründet auf einem ihm eigenen Erfahrungswissen, dem Wissen darum nämlich, wie seine eigenen Eltern mit ihm umgehen, was sie ihm zu tun gestatten und was sie ihm verbieten. Das Gespräch ist aus dem persönlichen Erfahrungsraum, der konkreten und wirklichen Existenz des Lysis gespeist, um daraus eine verallgemeinernde Konsequenz zu ziehen. Das Gespräch dreht sich vor allem hypothetisch darum, was die Eltern von Lysis ihm gestatten und nicht gestatten würden.145 Das Gespräch mit Menexenos dagegen entfaltet sich bereits in einem Raum der Allgemeinheit, dort also, wo das Gespräch mit Lysis sein Ende gehabt hatte: „Sage mir also, wenn einer einen liebt, welcher wird des andern Freund, der Liebende (ho philôn) des Geliebten (tou philoumenou), oder der Geliebte (ho philoumenos) des Liebenden (tou philountos)? oder macht das keinen Unterschied?“ (212af.) Die Rede von „dem Liebenden“ und „dem Geliebten“ ist nicht nur eine Rede vom Allgemeinen, von einem Abstraktum also, sondern weist bereits voraus auf ein Ideales. Dabei allerdings ist das Ideale hier unfraglich, die sokratische Frage ti estí, die Frage nach der Washeit der idealen Liebenden und Geliebten wird hier im Gespräch mit Menexenos nicht gestellt, sondern vorausgesetzt – beziehungsweise nachgestellt, denn die anschließende skepsis nimmt die Charakteristik der Freunde unter das Mikroskop. Daß diese skepsis nicht zum Erfolg wird, ebenso fehlschlägt wie die quasi-eristische Suche mit Menexenos, ist am Ende eher nachrangig 143 Vgl. Lys. 211b: „[Sok:] Aber sieh auch zu, wie du [d.i. Lysis; A.d.V.] mir helfen willst, wenn Menexenos darauf ausgeht, mich zu widerlegen (elegchein). Oder weißt du nicht, daß er sehr streitbar (eristikos) ist?“ Das Gespräch mit Menexenos hat den Umfang von zwei Seiten (212a-213c). Menexenos hat keine andere Aufgabe in dieser Passage, als den Ausführungen des Sokrates zuzustimmen. 144 „Exelegxai hêmas autous“ (Lys. 222d). 145 „So verhält es sich also, lieber Lysis, sagte ich. Darüber, wovon wir uns richtige Einsichten erworben, wird jedermann uns schalten lassen, Hellenen und Ausländer, Männer wie Frauen; wir werden darin tun, was wir nur wollen, und niemand wird uns gern hindern, sondern wir werden hierin ganz frei sein, und auch gebietend über andere, und dieses wird das Unsrige sein, denn wir werden Genuß davon haben. Wovon wir aber keinen Verstand erlangt haben, damit wird uns niemand verstatten zu tun was uns gut dünkt, sondern alle werden uns hinderlich sein, soviel sie können, nicht die Fremden allein, sondern Vater und Mutter, und wenn uns jemand noch näher verwandt sein könnte als sie.“ (Lys. 210af.)

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hinsichtlich der Feststellung der skeptischen Frage in der letzten Zeile des Dialoges: „[…] was aber ein Freund sei (ho ti estin ho philos), hätten wir noch nicht vermocht, herauszufinden (exeurein)“ (223b). Das Logoskop ist ein noch vollständig ent-setzendes Sehen, das sich auf solche logoi richtet, die nicht logoi des Sokrates sind. Hier liegt die Funktion des Dichterzitates: ein allogener logos wird importiert in das Gespräch, ein logos, der nicht abhängig ist vom Erfahrungswissen eines Gesprächspartners, sondern als Zitat frei zirkuliert, wird als eine Setzung, eine allogene Setzung vor Augen gesetzt, unter das Logoskop des Sokrates geschoben und untersucht. Zwar ist Sokrates noch nicht in der Lage, eine Antwort zu finden auf seine eigenen Fragen, wohl aber ist er in der Lage, zirkulierende Setzungen, Zitate und Gerüchte zu ent-setzen. Zu den Eigenheiten dieser zirkulierenden Setzungen gehört es im Verständnis des Sokrates, daß sie keine Wahrheit beanspruchen können, sondern lediglich in der Dimension des Meinens und Für-wahr-Haltens angesiedelt sind, die mit der Formel bezeichnet wird: „zu wissen meinen ohne zu wissen“. Es geht bei diesen frei zirkulierenden und aufgeschnappten Sätzen, die auf Befragen herausgegeben werden vom Befragten, um eine Redeweise, die derjenigen der Rhapsoden und Sophisten nicht fremd ist. Die skepsis richtet sich auf das Signifikat, überprüft, ob die Antwort lediglich eine image acoustique oder eidôlon legomenon war, das reproduziert wird, oder ob sich etwas Beachtenswertes darin findet. Im Euthyphron formuliert Sokrates genau im Zusammenhang mit diesen zirkulierenden Sätzen oder Setzungen die Notwendigkeit der skepsis, der genauen Hinsicht, der Logoskopie: SOKRATES: Wollen wir nun nicht wieder dieses in Betrachtung (episkopômen) ziehen, ob es gut gesagt (kalôs legetai) ist, Euthyphron? oder es lassen, und so leicht mit uns selbst und andern zufrieden sein, daß wenn nur jemand behauptet (phê), etwas verhalte sich so, wir es gleich einräumen und annehmen? oder muß man erst erwägen, was der wohl sagt, der etwas sagt (ê skepteon ti legei ho legôn)? EUTHYPHRON: Erwägen (skepteon) muß man es; ich jedoch glaube, dieses ist nun richtig gesagt. (Euthyphr. 9e)

Hier zeigt sich, daß es im Bereich des Gehörs, der akoê also, einen ähnlichen Sachverhalt gibt, wie in der Dimension des sinnlichen Gesichtes. Wie hier nämlich ein Erfahrungswissen besteht, das sich als eidenai ausgeben lassen soll, als ein Wissen also, wiewohl es doch nachweislich ein auf Glauben, Meinen und Für-wahr-Halten fußendes Wissen ist, gibt es auch in der akustischen Dimension eine Art Erfahrungswissen, gebildet durch die kritiklose Hinnahme zirkulierender Sätze und Setzungen, kritiklose Hinnahme von Vor-Urteilen, könnte man sagen, die in der Folge lediglich nachgeplappert werden. Bevor solche Sätze hingenommen werden dürfen – so wäre Sokrates zu verstehen – sind sie der skepsis zu unterziehen. Damit wird die skepsis selbst nicht zu der Form der Zurück-Haltung, von der oben die Rede war – diese Haltung ist vielmehr Voraussetzung für das skopein.146 Der Satz ist auf Distanz zu halten, damit das Logoskop seine gebündelten Strahlen darauf 146 Sextus Empiricus bezeichnet die Skepsis als eine dunamis; vgl. Sextus Empiricus: Outlines of Pyrrhonism, gr./engl., übers. von R. G. Bury, Cambridge/ London 1993, 6.

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richten kann, damit das Ziel als Ziel in den Blick kommt – und nicht etwa der Gesprächspartner zum Ziel wird, der den Satz gesagt hat.147 Sokrates prüft die Nahrungsmittel, von denen die psuchê sich nährt, die Kenntnisse, auf ihren Gesundheitsgehalt hin. Der Blick der skepsis richtet sich auf zirkulierende Gerüchte (phêmê) wie auf phantasmatische logoi. Es ist eine Jagd auf Gespenster, die frei zirkulieren. Die Funktion des Dichterzitates wird Sokrates später ex negativo bestimmen, dort, wo er diese Funktion des Zitates, die Vater- und Führerschaft der Dichter in Sachen der Weisheit, zumindest problematisiert, wenn nicht in Abrede stellt, im Protagoras, wo die Reden mit Worten anderer, insbesondere von Dichtern, mit dem Mieten von Flötenspielern verglichen wird, mangels eigener Gedanken. Über Gedichte zu sprechen habe allzuviel Ähnlichkeit mit den Symposien ungebildeter Menschen (Prot. 347bff.). Genau diese Rede mit einer fremden Stimme ist es, die im Lysis stattfindet, eine Stimme, die als Zitat eine frei zirkulierende ist. Tatsächlich ist die Setzung im Lysis das Dichterzitat, das unter das Logoskop genommen wird. Alle weiteren Sätze sind direkt aus dieser Setzung abgeleitet. Zunächst wird der Dichtersatz logoskopiert, daß das Gleiche dem Gleichen freund sei, hernach, daß das Gleiche dem Gleichen feind wäre – unter Verweis auf Hesiod. Die Fortsetzung erscheint wie eine fortschreitende Variierung der Ausgangs-Setzung: Ist das Weder-Gut-noch-Böse dem Guten freund (216c)? Ist es nur wegen Anhaftung des Bösen dem Guten freund (218bf.)? Ist man einem Guten freund, weil man einem Guten freund ist um etwas willen, dem man feind ist (219b)? Ist man dem Freund doch nicht um eines andern Guten willen freund (220b)? Ist das Begehren vielleicht die Ursache des Liebens (221d)? Ist das Geliebte das von Natur angehörige (222a)? Und nachdem auch dieser Satz ent-setzt ist durch die sokratische Logoskopie, bleibt nur mehr die Ratlosigkeit. Wichtig daran ist der allogene Charakter der Setzung. Es ist nicht eine These des Sokrates, die hier zur skepsis ansteht, ebensowenig aber auch eine These seiner Gesprächspartner, die eigentlich nirgendwo ein Niveau erreichen, auf dem sie Setzungen vornehmen könnten. Die skepsis im zweiten Teile und nahezu ebenso die beiden Gespräche des ersten Teils werden von Sokrates geführt, er ist der Leiter des Gespräches, das unter seiner Leitung in eine Sackgasse führt. Fast ist es ein Monolog des Sokrates, nur dürftig kaschiert durch die zustimmenden Einwürfe der beiden Knaben. Einen wirklichen Gegensatz zu seinen Gesprächspartnern gibt es ebensowenig wie Ansätze der Knaben, selbst in die Führung des Gesprächs einzugreifen, die Leitung mit einem eigenen Vortrag zu übernehmen. Das wird den Gesprächspartnern erst in den nächsten Dialogen gestattet werden, zumal natürlich den Sophisten im Euthydemos oder auch dem Charmides, der sich durch seine Knabenhaftigkeit in einer ähnlichen Situation dem älteren Sokrates gegenüber befindet wie Lysis und Menexenos. Gerade diese Quasi-Monologizität des Lysis aber macht einen Blick auf die skepsis möglich, da diese eben die sokratische skepsis ist, die er hier nahezu ungestört vorführen kann. Sokrates hatte Hip147 Hier liegt eine Leitdifferenz zum elegchos, darin nämlich, daß elegchein häufig verbunden ist mit einer Person: es ist die Person, die widerlegt wird, nicht der Satz, um den es geht. Genau darin unterscheidet sich die skepsis vom elegchos – und zumal vom exelegchos. Vgl. etwa Gorg. 462a: „[…] überführe mich (elegche) und laß dich überführen (elegchou).“ Noch deutlicher Gorg. 467b: „Widerlege mich (alla m‘ elegche).“

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pothales das Gespräch als Vorführung angekündigt und würde ihm am Ende des ersten Gesprächs mit Lysis gerne die Bestätigung geben, daß das durchgeführte Gespräch seiner eigenen Vorstellung davon, wie ein Gespräch geführt werden müsse, entspräche: Als ich dies von ihm [d.i. Lysis; A.d.V.] hörte, sah ich mich um (apeblepse) nach dem Hippothales, und beinahe hätte ich mich verredet. Denn ich war schon im Begriff ihm zu sagen: So, o Hippothales, muß man mit dem Liebling reden (dialegesthai), ihn demütigend und zur Ordnung bringend, nicht aber ihn aufblähend und verwöhnend. Da ich ihm aber ansah (katidôn), wie er ganz in Angst und Verwirrung war, über das Gesagte (legomenôn), erinnerte ich mich, daß er wollte, Lysis solle nicht einmal merken, daß er dabei stehe. Also begriff ich mich wieder, und hielt mit der Rede an mich […]. (Lys. 210e)

Hippothales hat sich versteckt und Sokrates blickt nach ihm, was hier bezeichnet wird mit apoblepein – einer Vokabel, von der gleich noch zu handeln sein wird, die jedenfalls eine spezifische Weise des Gesichts beschreibt, die üblicherweise einen gegebenen Rahmen überschreitet, über etwas hinausblickt, einen Ausblick nimmt auf etwas, das in der Situation nicht einfach dem Gesicht gegeben ist.148 Der Blick auf Hippothales greift insofern über den gegebenen Rahmen hinaus, als dieser versteckt ist, sich der opsis nicht darbieten will – insbesondere der opsis des Lysis, der nicht merken soll, daß Hippothales dabei steht, da ist, anwesend ist. Hippothales ist im Gespräch anwesend-abwesend, ist anwesend als derjenige, der das Gespräch wahrnimmt, nicht aber als einer der wahrgenommen wird – außer von Sokrates, der hinausblicken kann aus dem Gespräch. Und dieser Blick hinaus aus dem Gespräch trifft sowohl einen potentiellen Zuhörer – wie den Hippothales – als auch einen potentiellen Leser, dem der Satz, den Sokrates dem Hippothales sagen wollte, aber nicht konnte, damit Lysis dessen Anwesenheit nicht bemerkt, eben doch gesagt wird, geschrieben wird. Dem im Dialog Versteckten wird der Dialog vorgeführt, als der Dialog, wie er zu sein hat, als eine skepsis etwa, die zunächst vielleicht nicht richtig durchgeführt wird (Lys. 213e), am Ende aber lediglich als ein Verfahren bezeichnet wird, das nichts findet. Die Art und Weise der skepsis, die Sokrates im Lysis vorführt, läßt sich an zwei Charakteristika festmachen. Zunächst unterscheidet der Beginn seiner skepsis über den Bösen (ho ponêros; Lys. 214bff.) sich nicht von der Art des Gespräches mit dem eristischen Menexenos und der elegchtischen Methode. Am Ende ist es Sokrates selbst, der zusammenfaßt, daß man sich selbst widerlegt (exelegxai; Lys. 222d) habe. Die Trennung zum elegchos und zumal zum exelegchos ist nicht völlig vollzogen. Eine Stelle kurz nach Beginn der skepsis aber läßt den Ansatz zur Differenz erkennen: „Komm also, und um des Zeus willen, laß uns betrachten (idômen), was ich zu sehen glaube (hupopteuô)“ (Lys. 214e). Im Zentrum des Interesses steht die gemeinsame Betrachtung einer Art von opsis, wenn auch einer hup-opsis, einer Unter-Sicht, Anschauung von unten, eines Argwohns.149 Diese Unter-Sicht soll gemeinsam in den Blick genommen werden: idômen. 148 Vgl. Kapitel „Der suchende Ausblick: blepô“. 149 Gemoll: Eintrag hupoptos: „1.pass. von unten, d.h. übel angesehen.[…] 2. act. von unten, d.h. übel ansehend, befürchtend, argwöhnisch, mißtrauisch. […]“

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Ohne das hupo dieser hupopsis überzustrapazieren, weist es doch auf den Bereich hin, in dem sich die skepsis vollzieht, eine Betrachtung in einem Vorstellungsraum, der durch die logoi eröffnet wird, einem Raum, der sich aus Erinnerungen und/oder Imaginationen speist und konstituiert. Auf die Gesprächspartner trifft zu, was Lobsien über den Leser eines Romans ausführt: Es leuchtet […] ein, daß sich eine Illusion im Roman nur bilden kann, wenn der Leser [d.h. der zuhörende Gesprächspartner in diesem Falle; A.d.V.] sich ‚unter‘ einem Satz ‚etwas vorstellen‘ kann, wenn er ‚mit‘ einem Begriff ‚eine bestimmte Vorstellung verbindet‘. […] In der Lektüre werden einzelne Sätze nacheinander verstanden. Die ihnen entnommene Bedeutung aktiviert im Leser ein entsprechendes Wissen, was jedoch nicht bedeutet, daß die Wort- und Satzbedeutungen von ihm auf der Ebene logischer Begrifflichkeit eingeordnet würden, wodurch jeder Roman zu einem formalen Begriffsschema geriete. Vielmehr werden diese Bedeutungen als Repräsentanten der fiktiven, also nichtexistenten Objekte gesetzt und das Wissen kann in die Intention des Vorstellungsbewußtseins auf sein Objekt durch diese Inhalte hindurch eingehen. Erst dadurch, daß die Bedeutungen zu Repräsentanten des fiktiven Objekts werden, ist eine vorstellende Intention auf dieses Objekt möglich; denn so sind die Bedeutungen dem Wissen nicht als formale Abstraktionen verfügbar, sondern nur im Hinblick auf das Objekt aufzufassen, also gleichsam nur auf dieses hin auflösbar, denn dem Text gegenüber würde von vornherein eine andere Einstellung eingenommen als die einer schlichten Lektüre, in der der ‚Inhalt‘ des Romans kennengelernt werden soll (dann ist eine Illusionsbildung ohnehin zweifelhaft). Andererseits ist das Objekt überhaupt nur durch solche Wort- und Satzbedeutungen in der Vorstellung zu konstituieren; ohne sie wäre die vorstellende Intention ziellos und leer. Das Wissen also setzt die Textbedeutung als Repräsentanten der fiktiven Objekte und intendiert diese durch jene repräsentierenden Inhalte hindurch in der Vorstellung, indem es die Inhalte intuitiv interpretiert. Es fungiert in der Lektüre nicht als Abstraktionsvermögen, sondern als Intuition, die die Wörter und Sätze sogleich in Vorstellungen von Objekten verwandelt.150

Natürlich lassen sich die „Objekte“ der platonisch-sokratischen skepsis nicht einfach als „fiktiv“ qualifizieren. Die „Objekte“ der Vorstellungen im Gespräch des Sokrates sind Objekte, die gerade nicht fiktiv sein sollen. Was die Illusion der fiktiven Objekte mit den Objekten des Erfahrungswissens bei Sokrates verbindet, ist die Vorstellungsproduktion, eine gewisse hupopsis, die die Intention der Objekte, das gezielte und eindeutige Sprechen über die Objekte (etwa die Eltern des Lysis) überhaupt erst möglich macht und zudem den Raum eröffnet, auf den sich die skepsis beziehen und in dem sie agieren kann. Die skepsis richtet sich, so heißt es im Charmides, nicht auf die logoi, sondern auf dasjenige, was die logoi vor Augen stellen: Ich glaube wohl, sagte ich, daß ich fasele; aber doch muß man, was einem vorschwebt (prophainomenon), in Betrachtung (skopein) ziehen und nicht leichtsinnig

150 Eckhard Lobsien: Theorie literarischer Illusionsbildung, Stuttgart 1975, 28f.

110 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN vorübergehen, wenn einem auch nur im mindesten an sich selbst etwas gelegen ist. (Charm. 173a)

In der Folge des Lysis wandelt sich der Gleiche (ho homoios) zu „jedes Gleiche“ (hotioun homoion; Lys. 214e). Es findet eine winzige Verschiebung statt von der Diskussion eines Begriffes hin zu einer abstrahierenden, verallgemeinernden Erfahrungsbasis. Und diese führt hin auf das zweite Charakteristikum, das bereits im Lysis die skepsis auszeichnet und in den folgenden Dialogen erheblich an Raum gewinnen wird: die Argumentation mit Handwerkern, Ärzten und jedweden Technikern oder Künstlern im weitesten Sinne: „Wenn wir betrachten (ennoêsai) wollen den gesunden Leib, der bedarf weder der Arzneikunst noch Hilfe“. (Lys. 217a) Schleiermacher fügt in seiner Übersetzung ein „zum Beispiel“ ein: „Wenn wir zum Beispiel betrachten wollen […]“. Das genau bringt das Charakteristikum der skepsis zum Vorschein, indem darauf hingewiesen wird, daß Sokrates etwas Beispielhaftes vor Augen stellt, daß er die Frage nach der Freundschaft durch die Frage nach dem Arzt und dem Kranken zu lösen versuchen wird. Denn vom Arzt scheint ein Wissen vorzuliegen, das es den Unterrednern leichter machen wird, die Anhänglichkeiten zu klären, ihren Grund herauszufinden.151 Dabei ist es nicht selbstverständlich, daß die Frage nach der Freundschaft irgendetwas mit einer Frage nach der Krankheit zu tun haben könnte. Der skeptische Weg scheint vor allem ein Umweg zu sein – vielleicht gar ein Abweg, der nichts findet, der nur ent-setzen kann. Zugleich verschleiert Schleiermachers Rede vom „Beispiel“ aber auch die skepsis, denn der untersuchte Gegenstand ist mehr als ein Beispiel, hat eine andere Aufgabe als etwa diejenige einer Illustration. Die Aufgabe besteht darin, etwas vor Augen, vor die gemeinsame hup-opsis zu bringen, von dem in der Folge gesagt werden kann: skepsasthe (Lys. 217c). Die skepsis richtet sich zunächst auf den Körper (sôma), um dann erweitert zu werden auch auf die psuchê: „Wir behaupten nämlich, sowohl in betreff der Seele (psuchên) als des Leibes (sôma) und überall sei nur das weder Gut noch Böse wegen Anhaftung eines Bösen freund dem Guten“ (Lys. 218bf.). Der Weg vom Körper zu psuchê und „überall“ ist kurz: Von der Struktur der Heilkunde wird über einen Schluß auf Anhaftungen überhaupt auf die philosophoi geschlossen, und in den Abschluß dieser Schlüsse wird die psuchê eingetragen. Diese Wegführung ist ein Standardverfahren, der Schluß von Verhältnissen in der somatischen Dimension wird erweitert und von dort auf die psuchê geschlossen. Darin besteht sowohl die Gesichts-Dimension der skepsis, die sich auf Körperliches richtet, wie auch der Schritt über das bloß sinnliche Gesicht hinaus, hin etwa auf die psuchê. Das macht den Körper zu mehr als einem bloßen Beispiel. Das skeptische Verfahren beruht nicht genau auf einer Analogie. Körper und psuchê stehen nicht genau in einem analogischen Verhältnis, auch wenn Platon-Sokrates dies vielleicht nahelegen wollen, indem gesagt wird, daß das, 151 Es fehlt hier der Raum, um der sokratischen Beispiel-Argumentation nachzugehen, der Argumentation, die sich immer wieder um Ärzte, Handwerker, Maler, Musiker, Geometer etc. dreht. Von allen diesen hat Sokrates, der doch immer sein Nichtwissen in den Mittelpunkt stellt, sehr wohl ein Wissen und versteht es, daraus Kapital zu schlagen. Die Handwerker und Künstler, die grundsätzlich als „Abstracta“ auftreten, als Handwerker-an-sich, Maler-ansich etc. dürften sich vermutlich als Keimzelle der Ideenlehre erweisen.

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was für den Körper gilt, auch für die psuchê gilt. Tatsächlich entsteht das zweite Glied des Vergleiches, die psuchê, erst durch die Übertragung der Schlüsse aus der körperlich-sinnlichen Dimension, in der Weise einer Verdoppelung. Die psuchê, so ist aus der Argumentation im Phaidon zu entnehmen, ist nichts anderes als ein körperloser Körper. Es ist dasjenige, was übrigbleibt, wenn vom Menschen der Kadaver abgezogen wird.152 Die skepsis richtet sich auf logoi und unternimmt dabei den Versuch herauszufinden, ob der betrachtete, logoskopierte logos ein wahrer logos ist. Damit ist die skepsis in gewisser Weise ein inverses Verfahren zu dem Dreischritt, den von Fritz vorstellte, aus idein-gignôskein-noein.153 Er ist deswegen nur in gewisser Weise invers, da diese drei Stufen den logos nicht notwendig implizieren,154 während die skepsis durch ihren Ausgangspunkt im logos von diesem nicht zu trennen ist. Die skepsis ist ein Gesicht in der logischen Dimension, eine vom logos produzierte Anschauung, die in der Anschauung die Wahrheit des logos zu ergründen unternimmt: Du Schlauer, sagte ich darauf, das hast du vom Kritias gehört (akêkoas) oder von einem anderen Weisen. – So muß es wohl, sagte Kritias, von einem anderen sein, denn von mir wenigstens nicht. – Aber Sokrates, sagte Charmides wieder, was verschlägt es denn, von wem ich es gehört (êkousa) habe? – Nichts, sprach ich. Denn allewege ist nicht darauf zu sehen (skepteon), wer etwas gesagt hat, sondern ob es richtig (alêthes) gesagt (legetai) ist oder nicht. (Charm. 161bf.)

Der gesetzte Satz stammt aus dem Gehör, scheint ohne Sprecher, jedenfalls ohne identifizierbaren Sprecher zu zirkulieren – denn auf den Sprecher kommt es nicht an, sondern die skepsis untersucht lediglich die Frage, ob ein Satz wahr gesprochen ist. Wenn die Stufung idein-gignôskein-noein eine zunehmende Identifizierung des Gesichteten, eine zunehmende Interpretation beschreibt, so ist die 152 Es sei hier auch auf Snells Ausführungen über das Sehen und die psuchê bei Homer verwiesen: „Dieses Fortgehen der Seele aus dem Menschen malt Homer durch einige Züge aus: sie geht durch den Mund und wird ausgehaucht – oder auch durch die Wunde – und fliegt in den Hades. Dort führt sie als Totengespenst ein Schattendasein, ein ‚Abbild‘ (eidôlon) des Verstorbenen. Das Wort hängt mit psuchein, ‚hauchen‘, zusammen und bedeutet den Lebensodem, und so geht die Psyche aus dem Munde fort […]. Dieser Lebensodem ist gewissermaßen ein halb gegenständliches Organ, das, solange der Mensch lebt, in ihm ist.“ (Snell: Entdeckung, 19). Der Nachdruck in dieser Passage sei auf die Rede vom eidôlon, vom Abbild gelegt, denn das eidôlon verweist notwendig auf das, was es abbildet. 153 Gignôskein findet sich im Laches anfangs, um die Untersuchung zu bezeichnen, die im darauffolgenden Gespräch stattfinden soll, und wird in der erneuten Formulierung des Untersuchungs-Themas zu skopoumen (Lach. 178b und 179d). 154 Dazu formuliert Jäger: „Der enge Zusammenhang zwischen noein und legein (bzw. nous und logos), ihre bei aller geforderten Entsprechung unvollständige Deckung und die daraus hervorgehenden Probleme bilden später für Platon ein Hauptthema seiner Erörterungen. Die Problematik liegt darin begründet, daß im noein immer ein als einheitliches Ganzes gegebenes Etwas erfaßt wird, während das legein diese Einheit immer nur als eine entfaltete darstellen kann und nie die ganze Fülle des im noein Mitgemeinten sprachlich wiedergeben kann.“ (Jäger: Nus, 24). Dasselbe würde natürlich von der opsis gesagt werden können: die Fülle der Anschauung kann im logos nur „entfaltet“ dargestellt werden unter gewissem Verlust.

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skepsis eine Bedeutungs-Sichtung.155 Das spricht für den inversen Charakter des skeptischen Gesichtes im Vergleich zu dem Drei-Stufen-Schema. Das Ergebnis des dreistufigen Aufstieges zum nous muß hernach im logos dargestellt werden, wenn denn darüber geschrieben werden soll. Der logos wäre damit die vierte Stufe des Schemas. 156 Bei Platon-Sokrates aber ist der logos als Frage eher als die erste Stufe zu verstehen.157 Und die skepsis ist nunmehr der Versuch, in die visuelle Dimension einzutreten, den visuellen oder Erfahrungs-Bezug herzustellen. Genau darin liegt die Bedeutung der Reden über Handwerker, Ärzte et cetera. Im Gorgias, dort, wo die Sachauseinandersetzung heftiger ist als in allen vorherigen Dialogen, wirft Kallikles dem Sokrates genau diese Operation vor: KALLIKLES: Von Speisen sprichst du und Getränk und Ärzten und Possen, ich aber meine das gar nicht. (Gorg. 490cf.) KALLIKLES: Bei den Göttern, du hörst auch gar nicht auf, immer von Schustern und Gerbern und Köchen und Ärzten zu reden, als wenn davon die Rede wäre unter uns. (Gorg. 491a) KALLIKLES: Aber Sokrates ist immer so, Gorgias, daß er geringfügige und nichtswürdige Dinge ausfragt und widerlegt (exelegchei). GORGIAS: Aber was verschlägt dir das? Auf alle Weise kommt ja das nicht auf deine Rechnung, Kallikles; sondern laß du nur den Sokrates beweisen (exelegxai), wie er will. (Gorg. 497b) 158 Aber lächerlich machen wir uns, ich und du, in unseren Reden. Denn in der ganzen Zeit, seit wir miteinander sprechen, haben wir noch nicht aufgehört, immer auf dasselbe zurückzukommen und nicht zu wissen, was wir meinen. Ich nämlich denke, du hast oft genug zugestanden und eingesehen, daß es wirklich eine solche zwiefache Beschäftigung gibt um den Leib und um die Seele, deren die eine bloß eine dienstbare ist, daß einer imstande ist, wenn unsern Leib hungert, Speise herbeizuschaffen, wenn ihn durstet, Getränk, wenn er friert, Kleider, Decken, Schuhe und anderes, wozu sonst dem Leibe Lust ankommt. Und wohlbedacht erläutere ich es dir durch dieselben Bilder, damit du es leichter begreifst. Wer nun dies zu verschaffen weiß, als Krämer oder Kaufmann oder Verfertiger dieser Dinge, als Koch, Bäcker, Weber, Schuster, Gerber, kein Wunder, daß der sich selbst dünkt der Versorger des Leibes zu sein […]. (Gorg. 517cff.)159

155 An einer Stelle zu Beginn des Laches (178af.) kommt aus dem Munde des Lysimachos tatsächlich gignôskein als gnônai in einem Zusammenhang vor, der durchaus den Zusammenhang mit der skepsis nahelegt: Nachdem die Schaukämpfer betrachtet (theaomai) wurden, soll nun eine „Beurteilung“ (Schleiermachers Übersetzung) folgen, die als gnônai benannt wird und in gemeinsamer Beratung (sumboulê) erfolgen soll. 156 Vielleicht wäre er sogar nur die fünfte Stufe, wenn die dianoia als das dem nous im Bereich des logos entsprechende Verfahren noch interpoliert würde. 157 Die dialogoi Platons – darauf sei immer wieder hingewiesen – bestehen aus nichts anderem denn aus logoi, daher ist in bestimmter Weise der logos notgedrungen Ausgangspunkt. 158 Die skepsis ist hier eingeführt worden als die sokratische Form des elegchos. 159 Wenige Zeilen später findet sich wiederum der Schluß vom Körper auf die psuchê: „Daß ich nun meine, daß dasselbe ebenso in Beziehung auf die Seele (peri psuchên) stattfinde, dünkst du mich manchmal recht gut zu verstehen und gibst es zu, als wüßtest du, was ich meine“. (Gorg. 518a)

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Diese Stellen sind zusammengezogen aus verschiedenen Passagen, bringen aber genau das Verfahren der skepsis auf den Punkt, da der Gorgias vor allem ein Discours de la méthode ist. Die skepsis steht hier als Vorgehensweise zur Diskussion, aber auch mit ihren Konsequenzen, ihrer Unfähigkeit, einen Satz durchzusetzen, anstatt nur Sätze zu ent-setzen. Sokrates vermag es, die skepsis auf verschiedene Weisen zu betreiben, die den drei Stufen von idein-gignôskein-noein nicht ganz unähnlich sind. So gibt es etwa häufig die Diskussion um die Bösen und Guten et cetera, eine Debatte also auf einem so hohen Abstraktionsniveau, daß die Zuordnung zum noetischen Bereich nicht ganz fern liegt. Daneben gibt es die – eben dargestellte – Rede über Ärzte, Handwerker et cetera, die im Vergleich zur noetischen Ebene auf einer geringeren Abstraktionsebene angesiedelt sind, eher typologisch denn ideologisch gefasst sind, und damit vielleicht eher in die Stufe des gignôskein einzuordnen sind. Und es gibt auch die Stufe des idein, besonders im ersten Gespräch mit Lysis, dort wo es um seine eigenen Erfahrungen mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner Erziehung geht.

Sehen, daß nichts zu sehen ist Noch nachdrücklicher findet diese Form der skepsis, die sich auf die unmittelbare sinnliche Erfahrung stützt, im Charmides statt. Dem Charmides soll die sôphrosunê einwohnen. Wohnt sie ihm ein, muß sie eine aisthêsis bewirken, die Charmides benennen können muß, sofern er griechisch zu reden versteht. Auch im Charmides wird nach einer recht umfänglichen Einleitung und Hinführung der Beginn der skepsis als eine skepsis deutlich markiert: Mir scheint das ganz billig, was du sagst, Charmides, und mich dünkt daher, wir sollten gemeinschaftlich untersuchen (koinê skepteon), ob du das besitzest oder nicht, wonach ich frage, damit weder du genötiget werdest, etwas zu sagen, was du nicht willst, noch auch ich unüberlegt (askeptôs) mich an die Heilung mache. Ist es dir also recht, so will ich es wohl mit dir untersuchen (skopein meta sou), wo nicht, so lassen wir es. Auf alle Weise, sprach er, ist es mir recht; deswegen also untersuche (skopei) es, wie du selbst es am besten angreifen (skepsasthai) zu können meinst. Auf folgende Art also, sprach ich, wird, dünkt mich, die Untersuchung (skepsis) der Sache am besten fortgehen. (Charm. 158df.)

Nachdem aber Charmides seinen ersten Formulierungsversuch geliefert hat, die Besonnenheit bestehe in einer gewissen Bedächtigkeit, fordert Sokrates zur Betrachtung dieses Satzes nicht etwa mit skepsomen auf, sondern mit einer Vokabel, die noch eindeutiger auf den Bereich des sinnlichen Sehens zurückverweist: idômen von eidon (sehen). Charmides versucht, seine doxa über eine Wahrnehmung der ihm – fraglich! – einwohnenden Besonnenheit zu formulieren. Der wesentliche erste Schritt geht hier von einer Wahrnehmung zu einem Sagen. Und nach dem Sagen soll wiederum das Gesagte in den Blick genommen werden, angeschaut werden. Noch einmal also, Charmides, sprach ich, und genauer aufmerkend (prosechôn ton noun), schaue in dich selbst (eis seauton apoblepsas) und beobachte (ennoêsas),

114 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN wozu dich die dir einwohnende Besonnenheit macht, und was sie wohl sein muß, um dich hierzu zu machen, und dies alles zusammennehmend, sage dann gerade und dreist, als was sie dir erscheint. Hierauf hielt er an sich, und nachdem er sehr wacker die Sache bei sich überlegt hatte (diaskepsamenos), sagte er: […] (Charm. 160df.)

Nachdem das Gespräch mit Charmides gescheitert ist, dessen Versuch, durch die Wahrnehmung der als anwesend gesetzten Besonnenheit zu einer Aussage zu kommen, wechselt das Gespräch über zu Kritias. Ähnlich wie im Lysis wird wiederum mit zirkulierenden Setzungen umgegangen, hier allerdings nicht mit Dichter-Worten, sondern zunächst mit dem Satz, den Charmides irgendwo gehört hat, von Kritias oder einem anderen Weisen, sodann dem delphischen Imperativ „Erkenne dich selbst“ (Charm. 164ff.). Das Gespräch mit Kritias verschiebt den Bezugspunkt: Kritias wird nicht aufgefordert, in sich selbst hinein zu schauen, seine eigene Wahrnehmung oder doxa über eine anwesende Besonnenheit zu formulieren. Bereits seine Einbeziehung in das Gespräch erfolgt unter einem anderen Vorzeichen, dem des (ex)elegchos: „Charmides nun, der nicht Lust hatte, selbst die Antworten (logon) zu vertreten, sondern daß jener [d.i. Kritias; A.d.V.] es tun sollte, reizte nun selbst auf und deutete auf ihn hin (enedeiknuto), als wäre er widerlegt (exelêlegmenos)“ (Charm. 162cf.). Wie schon im Lysis steht die skepsis dem elegchos hier gegenüber, trifft das skeptische Verfahren des Sokrates auf das elegchtische Verfahren, und der Gegensatz wird in aller Deutlichkeit formuliert. Zunächst legt Sokrates eine Differenzierung im Umgang mit den Namen/Worten (onomata) fest, nämlich einerseits die sozusagen sprach-interne diairêsis, die Unterscheidung oder Differenzierung der onomata gegeneinander, andererseits die Frage nach dem eph‘ ho pherein, nach dem Referenten der Worte: O Kritias, sprach ich, gleich als du anfingst, habe ich wohl beinahe deine Erklärung (ton logon) verstanden (emanthanon), daß du unter dem einem jeden Gehörigen und Seinigen Gutes verständest (kaloiês von kaleuein-nennen, benennen), und unter den Handlungen was die Guten machten; denn auch vom Prodikos habe ich tausenderlei dergleichen gehört, wie er die Worte (peri onomatôn) unterscheidet (diairountos). Ich aber will dir gern gestatten, jedes Wort (tôn onomatôn… hekaston) zu nehmen, wie du willst; erkläre (dêlou) dich aber nur, worauf du jedes Wort beziehst (eph‘ ho ti an pheres tounoma), dessen du dich bedienst (legês). (Charm. 163c)

Hier liegt ein Hinweis auf den Raum, in dem sich die skepsis vollzieht, wenn Sokrates dazu auffordert anzugeben, worauf Kritias jedes Wort bezieht, nach der (Re-)Ferenz fragt und im Austausch von logoi das im Blick und in den Augen behalten will, wovon die logoi reden. Die opsis wird im weiteren Verlauf des Dialoges noch eine gewichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die Frage zu beantworten, ob die Besonnenheit die Erkenntnis aller Erkenntnisse ist und Sokrates diese Frage auf dem Umweg angeht, ob es denn wohl ein Sehen des Sehens geben könne. Zuvor aber prallen die beiden Verfahren der skepsis und des elegchos noch einmal explizit aufeinander, indem Sokrates zum Vorwurf gemacht wird, den elegchos zu betreiben:

PLATONS GESICHTER | 115 [Kritias:]: [I]ch glaube, was du vorher leugnetest, daß du es tätest, das tust du doch, nämlich du gehst nur darauf aus, mich zu widerlegen (eme…elegchein), und kümmerst dich wenig um das, wovon die Rede ist (peri hou ho logos estin). Was machst du doch, sprach ich, daß du denkst, wenn ich auch wirklich dich widerlege (elegchô), ich täte es (elegchein) um einer andern Ursache willen, als um derentwillen ich auch mich selbst ebenso ausfragen (diereunômên) würde, ob ich wohl etwas Rechtes sage, aus Besorgnis nämlich, daß ich unvermerkt mir einbilden möchte etwas zu wissen, was ich doch nicht weiß (oiomenos men ti eidenai, eidôs de mê). Und auch jetzt behaupte ich, daß ich nur dieses tue, die Erklärung nämlich untersuche (ton logon skopein) vorzüglich meiner selbst, vielleicht aber auch der andern guten Freunde wegen. Oder meinst du nicht, daß dieses ein gemeines Gut fast aller Menschen ist, wenn jegliches Ding offenbar (kataphanes) wird, wie es sich damit verhält? Gewiß, sagte er, glaube ich das, o Sokrates. Getrost also, du Trauter, sprach ich, beantworte das Gefragte, wie es dir erscheint (phainetai), und laß es dir einerlei sein, ob Kritias es ist oder Sokrates, der widerlegt (elegchomenos), sondern habe nur auf die Erklärung acht (skopei), wie die Untersuchung darüber ablaufen wird. (Charm. 166cff.)

Die skepsis ist in den frühen Dialogen zunächst das dem elegchos konkurrierende Verfahren, mit dem Unterschied, daß es nicht nur ein anti-legein bezeichnet, wie der elegchos speziell in der Form des exelegchos, sondern die Sichtbarkeit des im Sagen Gesagten einzubeziehen unternimmt. Was aber dieser skepsis als Mangel eignet, läßt sich als zêtêsis benennen, die Fähigkeit, etwas bestehen zu lassen, nicht alles zu ent-setzen. Die Sehstrahlen der sokratischen skepsis sind derart gebündelt und derart intensiv, daß sie notwendig verbrennen, worauf sie sich richten. Sokrates ist hier derjenige, der nicht finden, nichts herausfinden kann, außer: Nichts. Genau diese Schwierigkeit findet sich formuliert im Menon (80e), im berühmten Paradox über das Kennen, Suchen und Finden.160 Wie könnte sich die skepsis verwandeln, um fähig zu werden, etwas zu suchen, eine Antwort zu suchen und mehr noch: eine Antwort auch zu finden? Wie also kann die ent-setzende Kraft der skepsis domestiziert werden? Wo muß sie haltmachen, worauf muß sie den Sehstrahl ruhen lassen, ohne seine Strahlkraft weiter zu intensivieren, mit dem Ergebnis, zu verbrennen und zu ent-setzen, was ihr ins Gesichtsfeld kam? Und vor allem: wie kann diese Domestizierung der skepsis geschehen, ohne – um eine verbreitete Entgegensetzung zu verwenden – im Dogmatismus zu enden? Die Verwandtschaft der skepsis mit dem elegchos, der Widerlegung und Ent-Setzung, ist recht deutlich in ihrem Ergebnis: der gesetzte Satz hat keinen Bestand. Beiden mangelt die Fähigkeit etwas bestehen zu lassen, etwas, das durch die skepsis zu Gesicht kommt. Suchen kann die skepsis nicht, nicht jedenfalls ohne es sofort mit ihrem gebündelten Sehstrahl aufzulösen, dafür bedarf es einer neuen Justierung der skepsis oder eines ergänzenden Verfahrens, eines anderen Hin-Blicks. Schon im Charmides erhält Sokrates den Vorwurf, daß er nicht richtig suche: Aber Sokrates, sagte er [d.i. Kritias; A.d.V.], du untersuchst (zêteis) nicht richtig. Denn diese Erkenntnis ist ihrer Natur nach den übrigen nicht ähnlich, wie auch 160 Vgl. dazu unten im Kap. „Der suchende Ausblick: blepô“ S. 157f.

116 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN nicht die übrigen alle untereinander, du aber führst deine Untersuchung (zêtêsin), als wären sie einander ähnlich. Denn sage mir, sprach er, wo gibt es wohl von der Rechenkunst oder von der Meßkunst ein solches Werk, wie das Haus von der Baukunst oder das Kleid von der Webekunst oder andere dergleichen Werke, deren einer viele von vielen andern Künsten aufzeigen (deixai) könnte? Hast du mir etwa auch von diesen ein solches Werk zu zeigen (deixai)? Das wirst du gewiß nicht haben. Darauf sagte ich: Du hast recht. Aber das kann ich dir doch aufzeigen (deixai), wovon nun eine jede von diesen Erkenntnissen die Erkenntnis ist, was wieder etwas anderes ist als die Erkenntnis selbst. So ist die Rechenkunst die Erkenntnis des Geraden und Ungeraden, wie sie sich unter sich und gegeneinander in jeder Menge verhalten. Nicht wahr? Allerdings. Und ist nicht das Gerade und Ungerade etwas anderes als die Rechenkunst selbst? Wie sollte es nicht? Und die Statik ist doch die des schwereren und leichteren Gewichts; das Schwere und Leichte aber ist etwas anderes als die Statik selbst. Gibst du das zu? O ja. Sage also auch, wessen Erkenntnis denn die Besonnenheit ist, was etwas anderes ist als die Besonnenheit selbst. Das ist eben die Sache, Sokrates, sprach er, nun bist du dem auf die Spur gekommen, wodurch die Besonnenheit sich von allen Erkenntnissen unterscheidet, du aber suchst (zêteis) bei ihr eine Ähnlichkeit mit den übrigen. So ist es aber nicht, sondern die übrigen alle sind eines anderen Erkenntnisse, sie allein aber ist sowohl der andern Erkenntnisse Erkenntnis als auch ihrer selbst. Auch fehlt viel, daß dir das sollte entgangen sein. Aber ich glaube, was du vorher leugnetest, daß du es tätest, das tust du doch, nämlich du gehst nur darauf aus, mich zu widerlegen (elegchein), und kümmerst dich wenig um das, wovon die Rede ist. (Charm. 165eff.)

Der Vorwurf des Kritias ist hart, es gehe dem Sokrates nicht um das, was er sage, sondern lediglich darum, seinen Mitunterredner zu widerlegen. Genau das nämlich ist der Vorwurf, der den beiden Sophisten Euthydemos und Dionysodoros im Euthydemos gemacht wird.161 Es geht in diesem Vorwurf vor allem darum, etwas zu zeigen (deixai). Kritias fordert Sokrates auf, etwas zu zeigen, das ein Ergebnis der zêtêsis sein könnte. Damit übernimmt die deixis, das Zeigen, zunächst die Funktion, die skepsis zu ergänzen, als eine Weise des setzenden Sehens, des Vor-„Augen“-Stellens von etwas, das nicht unmittelbar wiederum ent-setzt würde durch die skepsis. Es ist Sokrates, der etwas zeigen soll, der etwas hervorbringen soll – anders als im Lysis, wo Sokrates seine Gesprächspartner vor allem Sätze vorbringen ließ. Am Ende wird trotzdem das Resümee des Sokrates stehen: Du siehst also, Kritias, wie sehr mit Recht ich schon lange Besorgnis hegte und wohl mit Grund mich selbst beschuldigte, daß ich gar nichts Nutzes von der Besonnenheit herausbrächte. Denn gewiß würde nicht, was einstimmig für das Vortrefflichste von allen gehalten wird, uns als etwas Unnützes erschienen sein, wenn ich 161 Vgl. Euthyd. 272a und bes. 305a durch den namenlosen Fremden.

PLATONS GESICHTER | 117 etwas nutz wäre, um eine Untersuchung gut zu führen (kalôs zêtein). (Charm. 175af.)

Vielleicht ist die Bemerkung bloße Ironie – sie trifft jedenfalls den Sachverhalt. Es gelang Sokrates nicht, eine Antwort auf die Frage nach der sôphrosunê, der Besonnenheit, zu finden. Die Suche schlägt fehl – und wiewohl Sokrates immer in der Lage ist, seinen Gesprächspartner und dessen Setzungen zu ent-setzen, ebenso wie die zirkulierenden logoi der Dichter, ist er doch nicht in der Lage, selbst eine Antwort hervorzubringen, die Bestand hätte. Allerdings unternimmt Sokrates im Charmides doch einen Versuch in dieser Absicht. Nicht durch die Setzung einer eignen Definition etwa – denn diese brächte ihn selbst in die Gefahr, etwas als Wissen anzunehmen, was doch nur Scheinwissen ist, gliche er doch damit zu sehr seinen Gesprächspartnern und wäre einem anderen Sokrates gegenüber mit seiner Setzung ebenso anfällig, wie es die Gesprächspartner des Sokrates diesem gegenüber sind: Was machst du doch, sprach ich, daß du denkst, wenn ich auch wirklich dich widerlege (elegchô), ich täte es um einer andern Ursache willen, als um derentwillen ich auch mich selbst ebenso ausfragen würde, ob ich wohl etwas Rechtes sage, aus Besorgnis (phoboumenos) nämlich, daß ich unvermerkt mir einbilden möchte etwas zu wissen, was ich doch nicht weiß (oiomenos ti eidenai, eidôs de mê). Und auch jetzt behaupte (phêmi) ich, daß ich nur dieses tue, die Erklärung (ton logon) nämlich untersuche (skopein) vorzüglich meiner selbst, vielleicht aber auch der andern guten Freunde wegen. Oder meinst du nicht, daß dieses ein gemeines Gut fast aller Menschen ist, wenn jegliches Ding offenbar (kataphanes) wird, wie es sich damit verhält? (Charm. 166cf.)

Sokrates wendet auf sich selbst die Diagnose zumindest als Gefahr an, die er bei anderen gestellt hatte: unwissend doch sich wissend zu glauben. Das macht ihm Angst (phoboumenos). Und noch eher, als eine falsche Setzung anzuerkennen, ist er bereit, nichts herauszufinden. Das Ziel aber wäre, daß der Sachverhalt in deutlicher Erscheinung hervortritt (kataphanes), daß er sich also zeigen läßt. Und eine Weise, diesen Sachverhalt sich zeigen zu lassen, wird Sokrates im Charmides zu nutzen versuchen: den Traum. Die als Besonnenheit gesuchte spezielle epistêmê hatte sich nicht gezeigt (pephantai; Charm. 172a). Und dann kommt der Verdacht auf, daß etwas allzu Großes von der Besonnenheit als Ergebnis erwartet wurde: Hat etwa, sprach ich, die Besonnenheit, wie wir sie jetzt gefunden haben, daß man nämlich durch sie die Erkenntnis erkennt oder die Unkenntnis, das Gute, daß wer sie besitzt, alles, was er sonst lernen will, leichter lernen, und daß ihm alles klarer erscheinen (phaneitai) wird, weil er neben jedem, was er lernt, auch noch die Erkenntnis dazu sieht (proskathorônti)? Und daß er auch andere besser beurteilen wird, in dem nämlich, was er selbst gelernt hat, die aber ohne dieses andere beurteilen wollen, werden es schlechter und ungründlicher tun? Ist es etwa dergleichen etwas, Freund, was wir noch von der Besonnenheit vorteilen werden? und wir haben nur etwas Größeres im Sinn (blepomen) und suchen (zêtoumen) etwas Größeres in ihr, als sie ist? Vielleicht, sagte er, verhält es sich so.

118 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Vielleicht, sprach ich; vielleicht aber auch haben wir etwas ganz Unnützes gesucht (ezêtêsamen). Ich denke nur so, weil mir allerlei wunderliche Dinge einfallen von der Besonnenheit, wenn sie so etwas ist. Laß uns doch sehen (idômen), wenn du willst. (Charm. 172bf.)

Die epistêmê wird hier zu einem Dazu-Gesehenen (pros-kat‘-horônti), einem Neben-Gesicht im Gesicht der sinnlichen Wahrnehmung. Die dazu-gesehene epistêmê erscheint hier als eine Sehweise, eine suchende Seh–Weise: blepein, ein Blicken.162 So lautet die Einleitung für die folgende Ausführung des Sokrates idômen – laß uns sehen. Und das, worauf sich das Sehen hier bezieht, wird kurz darauf gegeben: „So höre denn, sprach ich, meinen Traum (onar), ob er aus der Pforte von Horn kommt oder aus der von Elfenbein“. (Charm. 173a). Der Blick öffnet sich, dringt allmählich hinaus aus der Dimension der sinnlichen Wahrnehmung – womit nicht gesagt werden soll, daß für Platon der Traum (onar) etwas anderes als eine Wahrnehmung sei. Aber der Traum gibt potentiell Einblick in eine andere Dimension oder Region, eine solche, die mit geschlossenen Augenlidern gesichtet wird, zudem eine solche, die die Möglichkeit zum Einblick in eine höhere Stufe der Wahrheit mit sich bringt.163 Trotzdem wird am Ende keine Setzung mit Bestand stehen können, von derjenigen abgesehen, daß die Besprechungen weitergehen sollen. Sokrates ist nicht in der Lage, etwas zu finden, wiewohl er selbst davon ausgeht, bereits die Intensität der skepsis reduziert zu haben: Und dennoch hat die Untersuchung (zêtêsin), wie gutmütig (euêthikôn) und gar nicht hart (ou sklêrôn) wir auch gegen sie gewesen sind, die Wahrheit nicht finden können, sondern ihr dergestalt Hohn gesprochen, daß sie uns, was wir durch ewiges Zugeben und Zudichten als das Wesen der Besonnenheit aufgestellt hatten, dieses zuletzt höchst übermütig als etwas ganz Unnützes gezeigt (anephaine) hat. (Charm. 175cf.)

Es hatte sich also zwar etwas gezeigt am Ende von der Besonnenheit – das aber ließ sie als etwas Unnützes erscheinen – nicht obwohl, sondern wohl vielmehr weil Sokrates für seine Verhältnisse euêthikôs vorging, wohlwollend. Die zêtêsis schlägt noch immer fehl, denn diese bleibt – das hatte Sokrates in der Mitte des Dialoges bereits festgestellt – der skepsis untergeordnet: Aber Kritias, sprach ich, du handelst mit mir, als behauptete ich das zu wissen (eidenai), wonach ich frage, und als könnte ich also, wenn ich nur wollte, gleich dir beistimmen. So verhält es sich aber nicht, sondern ich suche (zêtô) erst mit dir, was wir uns aufgegeben haben, weil ich es eben selbst nicht weiß (mê autos eidenai). Habe ich es also untersucht (skepsamenos), dann will ich wohl sagen, ob ich es annehme oder nicht; aber gedulde dich, bis ich es untersucht (skepsômai) habe. 162 Vgl. Kap. „ Der suchende Ausblick: blepô“. 163 Handelt es sich um einen Traum, der von einem Gott auf die Leber gemalt wird, ist es ein Wahr-Traum; ist es aber ein solcher, der durch zu heftige Bewegungsreste des inneren Sehfeuers ausgelöst wird, ist es ein Gebilde aus bloßen Phantasmen.

PLATONS GESICHTER | 119 So untersuche (skopei) es denn, sagte er. Ich tue es auch schon (skopô !), sprach ich. (Charm. 165bf.)164

Mit dieser Ankündigung der skepsis ist wiederum – noch wie im Lysis – das Ende nahezu abzusehen. Es wird keine Setzung, kein Satz bestand haben. Dennoch geht der Charmides über den Lysis hinaus – nicht nur dadurch, daß Sokrates hier zu Beginn als Arzt auftritt, der sich auch um die Augen kümmert, ebensowenig nur dadurch, daß eine Nähe zwischen der epistêmê und der opsis hergestellt wird.165 Der wichtigere Schritt läßt sich in zwei Vokabeln zusammenfassen: deixis, blepein. Es wird zur Aufgabe, in den Dialogen etwas zu zeigen (deiknumi), eine Vorstellung zu geben, etwas erscheinen (phainetai) zu lassen. Und es wird eine Anstrengung unternommen, über den engeren Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, der sinnlichen GesichtsDimension hinauszugehen, benannt mit der Vokabel blepein. Damit wird ein Schritt zu der Möglichkeit eines setzenden Sehens unternommen. Für einen Schritt über das ent-setzende Sehen hinaus, das die skepsis ist, bedarf es aber einer gewissen Umgewichtung, muß die skepsis ihre Alleinherrschaft abgeben. Die skepsis bewegt sich in den frühen Dialogen, den – nach dem gewöhnlichen Ergebnis der skepsis – sogenannten aporetischen Dialogen in einem erweiterten Kenntnis-Raum. Die logoi, die zur Überprüfung anstehen, werden auf ein Wissen bezogen, das mit Wieland als „nichtpropositional“ zu benennen ist: im Lysis wird die Frage nach der Freundschaft behandelt mit Gesprächspartnern, die gegenseitig und zugleich mit Sokrates befreundet zu sein meinen; im Charmides wird die Frage nach der Besonnenheit am Charmides selbst, der für besonnen gehalten wird, untersucht. Die Frage nach der Tapferkeit zwischen den Feldherren Laches und Nikias und – dem wegen seiner Tapferkeit auf der Flucht gerühmten – Sokrates diskutiert, die Frömmigkeit mit Euthyphron, der von der Frömmigkeit genug Kenntnis zu haben meint, um seinen Vater zu verklagen. Dieser engere, persönliche Kenntnisraum wird von Sokrates ins Paradigmatische erweitert: die Argumentation enthält laufend Verweise auf Handwerker, Künstler, Mediziner et cetera, die nicht auf diesen oder jenen einzelnen Handwerker bezug nehmen, sondern auf „den“ Handwerker und Mediziner. Die skepsis von logoi nimmt auf solche Formen des Wissens bezug – und es zeigt sich, daß dennoch kein propositionales Wissen erzeugt werden kann. Es gibt keine Sätze in den frühen Dialogen, die der ent-setzlichen skepsis entgehen. Was immer mit dem Schein von propositionalem Wissen auftrat, wird als falsch entlarvt. Dies geschieht eben nicht auf logisch argumentierendem Weg, sondern auf dem Weg der Nichtübereinstimung mit Kenntnissen, die vorliegen. Durch eidenai wird kein Wissen begründet, ohne eidenai, ohne kenntnishaftes Vertrautsein wird es ebensowenig ein Wissen geben. Um zu einem Wissen zu kommen, wird allerdings der Raum der Kenntnis erweitert werden von Sokrates. Dieser Raum liegt jenseits des Lebens, im Jenseits, in dem vorgeburtliche Kenntnisse gesammelt wurden, die nunmehr latent vorliegen. Die Kenntnisse, auf de164 Die Stelle findet sich – unter der besagten Einschränkung des modernen Schriftbildes – genau in der Mitte des Dialoges. 165 Hier sei insbesondere an die oben zitierte Passage 167cf. erinnert, die Frage, ob die sôphrosunê vielleicht eine epistêmê epistêmôn, eine Erkenntnis der Erkenntnisse sei, durch die die Analogie geklärt wird, ob es denn möglich sei, daß es ein Sehen des Sehens (opsis opseôn) gebe.

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nen ein Wissen aufruhen könnte, liegen in einem anderen Raum, auf den nicht körperlich mit skepsis Bezug genommen werden kann. Beim Blick auf die eidê wird die skepsis nicht weiterführen, hier übernehmen blepein und theaomai ihre Aufgabe. Was der skepsis standhält, muß in der Lage sein, den Blick aus der Dimension des Aisthetischen – und das heißt zugleich: aus dem Bereich der Meinung, der doxa und dem oimai – hinaufzuziehen in eine andere Dimension, die Dimension des Absoluten, der Wahrheit. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der Kenntnisraum durch die Dialoge selbst erweitert wird: denn die Gespräche, die Sokrates führt, zeugen selbst vom Vorliegen einer kenntnishaften Vertrautheit, derjenigen des Gesprächs. Bezieht die skepsis sich in erster Linie auf etwas, was logoi zu sehen geben, so kann sie sich auch auf Redeweisen beziehen, indem sie auf sie zeigt, oder Bezug nimmt auf Reden, die sich zeigen. Der Lysis ist nicht nur ein Dialog über die Freundschaft, sondern auch ein Dialog, der dem Hippothales zeigt, wie man mit einem Geliebten spricht. Noch mehr ist der Euthydemos ein Dialog, der den Kampf von Arten der Gesprächsführung ausstellt, der sophistisch-eristischen Gesprächsführung und der sokratischen. Hier übernimmt die deixis die Funktion, etwas zu zeigen, worüber die Rede sein kann. Das ausgezeichnete Beispiel einer solchen deixis in den frühen Dialogen ist die geometrische Demonstration an dem namenlosen Knaben im Menon. Hier eröffnet der Dialog selbst einen Kenntnisraum, der den vorliegenden Raum übersteigt, in dem der Beweis geführt werden soll, daß es einen weiteren, jenseitigen Raum gibt, der sich spurenhaft im Gedächtnis findet und aus dem heraus Kenntnisse stammen, die sich nicht notwendig sagen lassen, wohl aber (zum Zwecke einer geometrischen Aufgabe) anwenden lassen. Der entsetzenden Logoskopie müssen dafür Formen des Sehens beigesellt werden, die über die skepsis hinausgehen.

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Sagen und Zeigen: deixis Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden. Ludwig Wittgenstein

Um sagen zu können, was genau es ist, das sich – nach Wittgenstein – nicht sagen, sondern nur zeigen läßt, müsste das Nur-Zeigbare sagbar sein. Was genau es auch immer sei, so läßt sich vom Zeigbaren doch sagen, daß es mit einer Präsenz oder Anwesenheit ausgezeichnet sein muß: das Zeigbare muß sich vor Augen bringen lassen oder bereits vor Augen stehen, augenfällig sein oder werden. Für Wittgensteins Tractatus heißt dies bezüglich der Sprache: „Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.“166 Ein solches Bedeuten oder Zeigen findet sich auch in den frühen Dialogen Platons, ein Bedeuten und Zeigen, das bewußt über die Grenzen des Sagbaren hinausgeht, diese Grenze erweitert.167 Es wird gesagt, daß gezeigt wird und wem etwas gezeigt wird – und es werden Folgerungen daraus abgeleitet. Die wesentliche Gemeinsamkeit, die augenfälligste wenn man so will, liegt im deiktischen Charakter, dem Vorführungs-Charakter der frühen Dialoge. Dabei wird vor allem zunächst einmal das Reden selbst gezeigt, die Art und Weise vorgestellt, wie zu reden ist. Und zugleich wird über die Redeund Argumentationsweisen reflektiert. Dieser zeigende Umgang mit dem argumentierenden Reden umfaßt die Dialoge insgesamt. Nicht nur Sokrates sagt innerhalb der Dialoge, daß er die Weise des Unterredens und philosophischen Disputierens zeigen will, oder fordert, daß ihm diese Weise gezeigt werde. Sondern Sokrates wird selbst gezeigt durch die Dialoge. Innerhalb der Dialoge findet sich zudem häufig ein Rahmen, der zeigt, wie der Text zu lesen ist. Es findet sich im Dialog das Gespräch über den Dialog. Besonders in den frühen Dialogen gibt es eine Reihe von Gesprächspartnern, die vorwiegend dafür ins Gespräch verwickelt werden, um anderen Gesprächspartnern zu zeigen, wie ein Gespräch stattzufinden habe. So bietet Sokrates dem verliebten Hippothales im Lysis an, ihm zu zeigen, wie man mit dem Geliebten (paidikos) reden muß, um ihm angenehm zu werden: Nein, beim Zeus, sagte er [d.i. Hippothales; A.d.V.], das wäre ja große Unvernunft. Aber deshalb eben, o Sokrates, vertraue ich mich dir, und hast du etwas anderes, so rate mir (sumbouleue), worüber man denn reden und was man tun muß, um dem Geliebten angenehm zu werden. – Nicht leicht, sprach ich, ist das zu sagen (eipein): wolltest du aber bewirken, daß er mir selbst zum Gespräch käme, so könnte ich dir vielleicht einen Versuch zeigen (epideixai), was mit ihm zu reden (dialegesthai) ist, anstatt dessen, was, wie diese sagen, du redest und singst. (Lys. 206bf.)

166 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 1963, Satz 4.1212 (Motto) und 4.115. 167 Daß es sich um eine gezielte, bewußte Operation handelt, das Zeigen in den Dialogen über die Grenzen des Sagbaren hinauszuführen, zeigt sich am deutlichsten im Menon an dem neukonstruierten Quadrat, dessen Seitenlänge in der griechischen Arithmetik unsagbar ist.

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Sokrates kann dem Hippothales nicht raten (sumbouleuein) oder sagen (eipein), wie er zu reden hat mit seinem Liebling, er kann es ihm aber wohl zeigen (epideiknumi). Damit wird das Gespräch, das im Anschluß mit dem jungen Lysis stattfindet, ein doppeltes Gespräch. Vordergründig findet die Bemühung um die Frage statt, ob der Knabe von Vater und Mutter geliebt werde – mit dem Ergebnis, daß ihn keiner liebt, da er noch unverständig (aphrôn) oder/und insofern unbrauchbar (achrêstos) ist (vgl. Lys. 210cf.). Tatsächlich aber ist dieses Gespräch nur eine Vorführung für einen Verborgenen, den Hippothales, der seinem Liebling Lysis nicht zu Gesicht kommen will und sich daher verbirgt.168 Gegen Ende des Dialoges, wenn Sokrates Lysis und Menexenos vorführt, daß notwendigerweise der echte Liebhaber vom Geliebten widergeliebt werden müsse, wechselt Hippothales im Hintergrund vor Freude die Farbe (Lys. 222af.).169

Die deixis als Entblößung: Euthydemos Im Euthydemos wird die Rahmung verwendet, um die beiden clownesk-aggressiven Sophisten in ihrer Lächerlichkeit zu zeigen.170 Sokrates widerlegt sie nicht etwa, weist ihnen ihr Unwissen nicht nach, im Gegenteil, es sind Euthydemos und Dionysodoros, die die verbalen Scharmützel für sich entscheiden können. Sokrates unterliegt den Streitkünsten der beiden Wortfechter. Dabei aber erweist es sich als weniger wichtig, daß er unterliegt, denn auf welche Weise er unterliegt – denn in dem Spiel, das die beiden Sophisten spielen171, zeigt sich ihre Kunst als Wortverdreherei, zeigt sich jedenfalls eines nicht: die Wahrheit. Und es mag als erneuter Hinweis auf die Relevanz der Szenerie dienen, daß das Gespräch, in dem die beiden Sophisten ihres Anscheines von Fähigkeit und Kunstfertigkeit entkleidet, der Lächerlichkeit 168 Lys. 207b: „[…] Hippothales, […], versteckte sich hinter diesen und stellte sich, wo er glaubte, vom Lysis nicht gesehen (katopsesthai) zu werden, aus Furcht, es möchte ihm zuwider sein, und so ganz nahebei hörte er zu.“ 169 Allerdings dürfte er die Farbe kurz darauf wiederum wechseln, da Sokrates auch diesen Satz mit seiner skepsis ent-setzt. 170 Szlezak hält den Euthydemos für ein „Meisterwerk platonischen Humors“ und wendet sich gegen dessen „übliche Vernachlässigung oder gar Abwertung“ (Schriftlichkeit, 49). Allerdings geht der Humor Platons noch über die Ironie hinaus, die Szlezak ihm gegenüber den Sophisten attestiert, denen von Sokrates die wichtigsten Lehren nicht anvertraut werden sollen. Insbesondere in der Karikatur, die die beiden Sophisten sind, in der Überzeichnung, die diese Reden und Argumentationen ausmacht, findet sich ein Grundproblem, mit dem sich die sokratisch-platonische Philosophie herumzuschlagen hat, das Problem der leeren Reden (kenoi logoi). 171 „Spiel“ ist die Bezeichnung des Sokrates für die Vorführung der Sophisten: „Dergleichen nun ist in der Beschäftigung mit Kenntnissen nur Spiel (paidia); darum sage ich auch, daß diese mit dir spielen (prospaidzein). Spiel (paidian) nenne ich es aber deshalb, weil, wenn einer auch vieles und alles dergleichen lernte, er doch von den Gegenständen selbst um nichts besser wüßte, wie sie sich verhalten; sondern nur geschickt sein würde, sein Spiel mit andern zu treiben, indem er ihnen durch die Vieldeutigkeit der Worte (onomatôn diaphoran) ein Bein unterschlagen und sie umwerfen könnte; wie wenn jemand einem, der sich setzen will, den Sessel unten wegzieht, und sich dann freut und lacht, wenn er ihn rücklings hinfallen sieht.“ (Euthyd. 278bf.) Es sei daran erinnert, daß Sokrates auch die Schrift als Spiel bezeichnen wird, daß die Sophisten zudem immer mit der Schrift und dem Spiel in Verbindung gebracht werden.

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preisgegeben und bloßgestellt werden, im apodutêrion (Euthyd. 272e) stattfindet: im Auskleideraum des Lykeion. Die initiale Aufforderung des Sokrates an Euthydemos und Dionysodoros lautet, ihre Kunst zu zeigen172, durch die Rede vor die Sinne zu bringen, damit sichtbar werde, ob sie die Wahrheit sagen: „Aber seht doch zu (horaton), Euthydemos und Dionysodoros, ob ihr auch wahr gesprochen (alêthê legeton) habt“. (Euthyd. 274a). Denn der Zweck der Anwesenheit der beiden Sophisten ist ein Zeigen, eine deixis: Dann preise ich euch glückselig wegen dieses Besitzes, weit mehr als den großen König wegen seiner Macht. Das aber sagt mir nur, ob ihr gesonnen seid, euch mit dieser Weisheit zu zeigen (epideiknunai), oder was ihr hierüber beschlossen habt? Eben dazu sind wir gekommen, o Sokrates, um sie zu zeigen (epideixonte) und zu lehren, wenn jemand lernen will. (ebd.)

Die komplizierte Verschachtelung von Gesprächen, die ineinander eingebettet sind, macht es dabei möglich, dieses Zeigen jeweils auf einer anderen Ebene zu kommentieren. Die Verschachtelung findet auf mehr als nur einer Rahmungsebene statt. Einen groben Überblick über die Rahmungen und Rahmensprünge gibt das folgende Schaubild:

172 Euthyd.274d: „Darauf sagte ich, o Euthydemos und Dionysodoros, auf alle Weise seid doch sowohl gegen diese gefällig, als auch mir zuliebe gebt uns eine Probe (epideixaton).“

124 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Die Rahmungen des Euthydemos: Ebene 1: Platons Schrift 271a-272e: Ebene 2, Sokrates-Kriton: was zu sehen war und wer wer war: ich will versuchen, Dir alles ex archês zu erzählen (diêgêsai). 272e: Wechsel zur Ebene 3: diêgêse: von Anfang an alles erzählen 274a: epideiknuntai tên sophian, horaton ei alêthê legeton(sehen, ob es wahr gesprochen ist) 274b: Euthydemos verschattet die theades Ktesippos auf Kleinias 274d: epideixis 275a: epideixis 275c: Sokrates: wie soll ich dir das folgende nur richtig erzählen (diêgêsai), Kriton 275 d: Ebene 4: Euthydemos und Kleinias 275e: Bemerkung des Dionysodoros zu Sokrates über exelegchos Fortsetzung 276b: Sokrates beschreibt den Jubel der Umstehenden 276c: Fortsetzung 276d: erneutes Gelächter der Umstehenden 276d: Fortsetzung: der zweite Gang 276d: zweite Bemerkung des Dionysodoros zu Sokrates über exelegchos 277d: als Euthydemos den dritten Gang beginnen will, fällt Sokrates ein 277d: Sokrates und Kleinias. Sokrates kommentiert, was Euthydemos gerade gezeigt hat 279e: Sokrates zeigt sein Geprächsmuster eingestreute Kommentare dazu 280b: Wiederaufnahme durch Sokrates: sein zweiter Gang 281b: skopei, vorher vor allem homologein 282a: der dritte Gang des Sokrates: episkepsômetha 282d: Sok.: Das also wäre mein paradeigma; Aufford. an Euthydemos und Dionysodoros zur erneuten epideixis 283a: Sok. zu Kriton: dies sagte ich zu den beiden und epeskopoun, auf welche Weise sie den logos angreifen würden 283b: Dionysodoros richtet sich an Sokrates und die anderen – aber auf welcher Ebene? Vermutlich doch auf Ebene 2! 283c: Dionysodoros an Sokrates: skopei (Betrachte!), Sokrates: eskemmai hikanos (ich habe hinreichend betrachtet) 283e: Euthydemos und Ktesippos: ist die Lüge möglich? 285a: Sokrates schaltet sich ein, weil der Streit eskaliert; Sokrates und Ktesippos 285d: Dionysodoros und Ktesippos: gibt es das antilegein? 286b: Sokrates und Dionysodoros:, dazu auch Euthydemos 288b: Ktesippos fällt ein, Sok. fordert Euthydemos und Dionysodoros auf, das erscheinen zu lassen (ekphanein), womit es ihnen ernst ist 288d: Sokrates und Kleinias. Wiederaufnahme von 282d 290e: Sokrates und Kriton: wer hat die klugen letzten Worte gesagt? ein ganz anderer, daimonischer? Frage nach der zêtêsis. Das Gespräch über die gute epistêmê wird mit Kriton nachgespielt 292e: Kriton stellt die Aporie fest. Sokrates will erneut epideixis von Euthydemos und Dionysodoros 293b: Euthydemos und Sokrates: soll ich dir die epistêmê lehren oder zeigen (epideixein), daß du sie schon hast? Sokrates: zeige mir 294b: Ktesippos fällt ein und fordert tekmêrion und epideixis 295d: Kommentar des Sok.: Euthyd. will ihn mit Worten umstellen und fangen, fühlt sich wiederum an Konnos erinnert 295e: Fortsetzung 296c: Sokrates weiß alles und wußte es schon immer – Paradoxie, 297a: Euthydemos und Dionysodoros geraten in Streit miteinander 297b: Euth. greift zu einem sophist. Kunststückchen; Sok. vergleicht Soph. mit der Hydra, der man die Wort-Köpfe abschlägt, die vielfach nachwachsen und dem Seekrebs

PLATONS GESICHTER | 125 297d: Dionysodoros übernimmt das Kunststück, Euthydemos steigt ein 298b: Ktesippos fällt ein 300a: Was sehen die Skythen, das Sichtbare oder das Unsichtbare? Kann man schweigend reden? 300d: kurzer Kommentar des Sokrates 300e: Sokrates und Dionysodoros: die Parousie des Schönen 301c: Proshekontos prattein (das Eigene tun) ist orthos prattein (richtig tun). 303a: Sokrates und Kriton, die sokratische Logoplegie, gelähmt vom Wortschlag; Sokrates gibt sich „geschlagen“ 303c: Sok. zieht die Bilanz aus dem Vorträgen der beiden Sophisten 304b: Sokrates und Kriton. Ende der Gespräche. Kriton will von den beiden nichts lernen 304d: Kriton erzählt vom Treffen mit dem geheimnisvollen Fremden. Das Urteil des Kriton und des Fremden über die Dialoge der Sophisten: Sich mit solchen Menschen (den Sophisten) einzulassen, schien der Fremde mit Recht zu mißbilligen 304b: Sokrates und Kriton. Das Urteil des Sokrates über den Fremden: dieser ist ein Staatsmann, der gerne die kritischen Philosophen los wäre. Denn deren Rede enthält mehr euprepeia als alêtheia. Mehr Wohlklang als Wahrheit. 306e: Kriton: Sooft ich auf sie (die Sophisten) hinsehe (apoblepô), werde ich ganz irre. 307bf.: Quintessenz des Sokrates

Nach dem umfassenden Schrift-Rahmen Platons bildet das Gespräch zwischen Sokrates und Kriton den zweiten Rahmen (Euthyd. 271a-272b): Kriton will das Gespräch, das er am Vortage gesehen, nicht aber gehört hatte, von Sokrates erzählt bekommen. Sokrates verspricht ihm die Erzählung (diêgêsis; Euthyd. 272d) des Dialoges von Anfang an (ex archês) – nicht allerdings, ohne zuvor bereits ein Bild von den Sophisten zu entwerfen, als Wortfechter, Künstler der Logomachie. Dann findet der Wechsel auf die Ebene des Vergangenen, die Dihegese des Dialoges statt. Die beiden Sophisten Dionysodoros und Euthydemos geben eine Probe ihrer Kunst, zeigen ihre Kunst, die angeblich darin besteht, die Tugend aufs beste und schnellste zu lehren. Diese Kunst wollen die beiden Sophisten vorführen. Sie wollen eine epideixis abgeben,173 daß sie die Tugend lehren können. Damit aber wird das folgende Gespräch mit Kleinias zu einem Menschenversuch auf der vierten Ebene, in dem es nicht vorrangig um die Frage gehen wird, die dem Kleinias gestellt wird, sondern um die Art und Weise des Gespräches. Bevor dieses Gespräch nun beginnt, springt Sokrates noch einmal kurz zurück auf die zweite Ebene und spricht den Kriton an mit der Frage, wie denn wohl das Folgende überhaupt erzählt (diêgêsai) werden könne. Der Sprung von der Ankündigungsebene, die das Gespräch zwischen Sokrates und den Sophisten ausmachte, hinein in die nächste Ebene, das Gespräch des Euthydemos mit Kleinias, wird durch eine Unterbrechung markiert, ebenso auf der vierten Ebene, gleich nach Beginn der Redevorführung des Euthydemos mit Kleinias (Euthyd. 275d-277c), wo Dionysodoros noch einmal auf die dritte Ebene springt, dem Sokrates ankündigt, daß der Kleinias auf jeden Fall und unabhängig von seinen Antworten widerlegt werde (Euthyd. 275e). In 173 Vgl. Euthyd. 275a: „Von allem übrigen also, sagte ich, mögt ihr uns ein andermal eine Probe (epideixin) ablegen; nur eben dies eine zeigt (epideixasthon) uns jetzt. Überzeugt uns diesen Jüngling hier, daß man die Weisheit suchen und Fleiß auf die Tugend wenden müsse, und werdet dadurch mir und allen diesen gefällig.“

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diese Vorführung streut aber Sokrates immer wieder dihegetische Kommentare ein, als gelte es, den zweiten Rahmen präsent zu halten (vgl. Euthyd. 276bf., 276d, 277a). Auch im zweiten Redegang des Euthydemos mit Kleinias fällt wiederum Dionysodoros zurück auf die Rahmenebene und flüstert Sokrates die Ankündigung der nahen Niederlage des Kleinias zu (Euthyd. 276df.). Als dann Euthydemos noch einen dritten Gang nachlegen will, unterbricht Sokrates ihn und zieht das Gespräch mit Kleinias auf die dritte Ebene hinauf (Euthyd. 277d-278e), indem er das vorgeführte Gespräch mit Euthydemos zum Thema der Erörterung mit Kleinias macht: Wundere dich nicht, Kleinias, wenn diese Reden dir ungewohnt scheinen. Denn du merkst vielleicht nicht, was eigentlich die Fremden mit dir vornehmen, dasselbe nämlich, was bei der Weihung der Korybanten geschieht, wenn sie die Einthronung mit demjenigen vornehmen, den sie einweihen wollen. (Euthyd. 277d)

Sokrates kommentiert, was sich gezeigt hat, und das waren Reden, Redeweisen. Dabei zieht er den Kleinias hinauf auf die Rahmenebene, die Ebene des inneren Rahmens, nimmt ihm den Status des bloßen Versuchsobjektes, um in der Folge gemeinsam mit ihm hinabzusteigen auf die innere Ebene, diejenige der vorgeführten Gespräche: Dieses also denke dir, daß die Männer dir nur zum Scherz angetan haben. Nun aber nach diesem werden sie dir gewiß auch das rechte Ernsthafte zeigen (endeixesthon). Und das will ich ihnen jetzt vorzeichnen, damit sie mir leisten, was sie mir versprochen haben. Sie sagten nämlich, sie wollten uns etwas zeigen (epideixasthai) von ihrer Kunst, das Gemüt anzutreiben; nun aber, dünkt mich, haben sie eben geglaubt erst mit dir scherzen zu müssen. Dieses also möge von euch gescherzt gewesen sein, o Dionysodoros und Euthydemos, und vielleicht ist es zur Genüge. Nun aber nach diesem zeigt (epideixaton) uns auch wirklich eure Kunst, indem ihr den jungen Menschen aufmuntert, wie man muß auf Weisheit und Tugend Fleiß verwenden. Zuvor aber will ich euch zeigen (endeixomai), wie ich es mir denke und in welcher Art ich es von euch zu hören wünsche. Wenn euch nun dünkt, daß ich mich als ein Unkundiger auf eine lächerliche Art dabei anstelle, so lacht mich dennoch nicht aus. (Euthyd. 278df.)

Es wird dem Zeigen der Sophisten ein Gegenzeigen angekündigt – und genau darin besteht die Möglichkeit, die beiden Sophisten trotz all ihrer Überlegenheit in den Wortgefechten doch zu Verlierern werden zu lassen. Es geht nur in der Weise, daß ihr Verfahren als schlecht gezeigt – und am Ende auch beurteilt – und zugleich das Verfahren des Sokrates als besser gezeigt wird. Das Verfahren der Sophisten ist das exelegchein,174 das Verfahren des Sokrates hingegen die skepsis. Es folgt eine lange, ununterbrochene Gesprächspartie des Sokrates mit Kleinias (Euthyd. 278e-282d), die zeigt, wie Sokrates sich ein Gespräch vorstellt. Während in den Gesprächen mit den Sophisten immer wieder Ebenen174 Das Verfahren des exelegchos bezeichnet Sokrates als eines, das man – das Unrechtleiden dem Unrechttun vorziehend – lieber erleidet, als es selbst zu praktizieren; vgl. Euthyd. 303d.

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sprünge stattfanden, das Gespräch unterbrochen wurde durch kleine Einsprengsel, wenige Worte zu Kriton, einige geflüsterte Worte des Dionysodoros zu Sokrates, kurze Dihegesen des Geschehens, findet sich in dieser vergleichsweise langen Passage zwischen Sokrates und Kleinias nichts Entsprechendes. Die Unruhe des Dialoges kommt zur Ruhe, die innere Ebene des Gespräches drängt sich in den Vordergrund. Dabei aber findet auf dieser inneren Ebene, ein wenig verklausuliert und nicht auf den ersten Blick zu erkennen, die Kommentierung des Rahmens statt: der Rahmen und der Inhalt vertauschen ihre Position, denn das Gespräch, das sich vornehmlich logisch zwischen Kleinias und Sokrates entwickelt, endet mit der Formel: Im allgemeinen also, sprach ich, scheint es, o Kleinias, daß von allem insgesamt, was wir zuerst Güter nannten, nicht in der Art könne die Rede sein, als ob es an und für sich von Natur gut wäre. Sondern, wie es scheint, verhält es sich so: Wenn Torheit darüber gebietet, sind diese Dinge um so größere Übel als ihr Gegenteil, je mehr sie imstande sind, dem Gebietenden, welches ja ein Übel ist, Dienst zu leisten; wenn aber Einsicht und Weisheit, dann sind sie größere Güter; an und für sich aber sind weder die einen noch die andern irgend etwas wert. (Euthyd. 281df.)

Zu den Gütern, die keinen absoluten Wert, sondern einen zu kontrollierenden Gebrauchswert haben, gehören insbesondere auch die logoi, wie sie etwa die Sophisten machen. Dionysodoros und Euthydemos machen sich die logoi zwar zu Diensten, in einer Weise aber, daß darüber die Torheit gebietet. Dieser Zusammenhang zwischen Besitz und einsichtsvollem Gebrauch eines Gutes wird im äußeren Rahmengespräch mit Kriton (Euthyd. 289dff.) kurz darauf wieder aufgenommen werden, als die Frage nach der königlichen epistêmê, die sich dadurch auszeichnet, daß in ihr das Hervorbringen und das Wissen um den Gebrauch von Reden zusammenfallen. Dionysodoros und Euthydemos geraten in eine Zange, die aus der Ebene besteht, die sie selbst einzurahmen und zu beherrschen glauben, wie andererseits aus der Ebene, die das Gespräch mit ihnen einrahmt. Das Gespräch mit Kleinias aber, das mit der zitierten Stelle endet, bezeichnet auch Sokrates – als wäre es eine ebenso harmlose Vorführung wie diejenige von Euthydemos – als ein paradeigma (Euthyd. 282d) seiner Redeweise. Wiederum folgt ein Kommentar zu Kriton (Euthyd. 283a ), bevor sich eine Debatte zwischen Dionysodoros und Sokrates entwickelt, von der nicht gleich zu entscheiden ist, ob es sich um eine Debatte im Rahmen oder eine vorgeführte, gezeigte Debatte handelt. Angesichts der Art und Weise des Gespräches, die derjenigen zwischen Euthydemos und Kleinias ähnlich genug ist, zeigt sich, daß es sich, wiewohl als Auseinandersetzung gedacht, doch nur um eine Vorführung handelt. Vorgeführt wird nun nicht mehr Kleinias, sondern Dionysodoros. Und damit geraten die beiden Sophisten in die Falle, die sie anfangs selbst gestellt haben durch die Ankündigung, ihre Gesprächsweise vorzuführen und den Kleinias als Versuchsobjekt zu benutzen. Nunmehr sind die beiden Sophisten selbst diese Versuchs- oder Untersuchungsobjekte. Die Gesprächspartner sind zum gezeigten Gesprächsgegenstand geworden. Ktesippos bricht in das Gespräch ein (Euthyd. 283e), da er seinen Liebling Kleinias beleidigt findet und das Gespräch dasjenige, was die Sophisten behaupten, unangemessen ernst nimmt. Als die Situation zu eska-

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lieren und handgreiflich zu werden droht, greift Sokrates mit aller Souveränität ein: Da mir nun schien, als würden sie zu heftig gegeneinander, so machte ich einen Scherz mit dem Ktesippos und sagte: Mich dünkt, Ktesippos, wir sollten von den Fremden annehmen, was sie sagen, wenn sie uns davon mitteilen wollen und uns nicht um Worte streiten. (Euthyd. 285a)

Damit ist die Niederlage der Sophisten bereits besiegelt, nicht durch das, was sie zu sagen haben, sondern dadurch, daß sie lediglich noch wortdrechselnde Clowns sind, eingerahmt von Gesprächsebenen, die ihre Wortfechtereien in Quarantäne nehmen, ohne daß ihnen noch ein Ausbruch möglich wäre. Selbst wenn sie in ihren eigenen Scharmützeln obsiegen, werden sie dadurch die Verlierer sein, daß sie nurmehr eine Vorführung abgeben.175 Kleinias faßt im Gespräch mit Sokrates das bisher Geschehene zusammen: „Ich sehe (horô), sagte er, einige Redenmacher, welche ihre eignen Reden, die sie machen, nicht zu gebrauchen wissen, eben wie die Gitarrenmacher ihre Gitarren.“ (Euthyd. 289d). Und von diesem Gespräch findet der Aufstieg des Sokrates ins Rahmengespräch zu Kriton statt (Euthyd. 290e293a), wo die Frage zur Untersuchung ansteht, welche königliche (basilikê) Kunst denn dadurch ausgezeichnet sei, daß in ihr das Wissen vom Herstellen mit dem Wissen um den Gebrauch zusammenfallen. In der bloßen Wortfechterei der Sophisten zeigt es sich mit aller Deutlichkeit, daß die logopoia (Euthyd. 289d), die Wortmacherei nicht mit dem Wissen um den Gebrauch der logoi, das heißt das Wissen um den richtigen und wahrhaften Gebrauch der logoi, zusammenhängt. Das aber kann nur durch das Gespräch gezeigt werden. Die Sophisten werden paradigmatisch vorgeführt. Die knappe Zusammenfassung dieses Sachverhaltes findet sich in einem zornigen Ausbruch des Ktesippos später: „Aber, Euthydemos, mich dünkt, du träumst ohne zu schlafen, und wenn es irgend möglich ist, zu reden ohne etwas zu sagen, so tust du es gewiß.“ (Euthyd. 300a). Wie soll in einem Dialog, der aus nichts anderem besteht als aus Reden, der Beweis geführt werden können, daß die Reden der Sophisten leer sind? Die Strategie Platons ist raffiniert. Es sind nicht einfach die Reden der beiden Sophisten mit oder gegen Sokrates, die sich im Euthydemos zeigen. Rund um diese Gespräche werden vielmehr weitere Gespräche geführt, die sich auf die Kenntnis beziehen, die mit den Reden der beiden Sophisten erlangt wurde. Nicht auf dasjenige, was in diesem Dialog gesagt wird, was also etwa zitierbar wäre, kommt es vornehmlich an, sondern auf das Verfahren, die Weisen der Unterredung. Jacob Klein hat diesen Sachverhalt treffend formuliert: „[…] answers can be given in a written text by the very action it presents“. 176 Durch das komplizierte System von Rahmungen tritt das Gespräch mit den 175 In der Folge des Dialoges werden von den Sophisten Lehren vorgetragen, die Lehren des Sokrates in späteren Dialogen durchaus nicht unähnlich sind, etwa das Immer-schon-Wissen, das die Lehre von der anamnêsis im Menon vorstellen wird (Euthyd. 296cf.) oder die Lehre vom „Schönen selbst“, das alle schönen Einzeldinge schön macht (Euthyd. 301a), was für die Lehre vom eidos zentral sein wird. Auf diese Eigenart, daß von den Sophisten hier mit bodenlosen Argumenten theoretische Positionen lächerlich gemacht werden, die in den späteren Dialogen ernsthaft vorgetragen werden, kann hier nur hingewiesen werden – es bleibt ein Rätsel. 176 Klein: Plato's Meno, 17.

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Sophisten als ein zugleich gezeigtes und kommentiertes in den Vordergrund. Die Sophisten werden zu einem Bild, einem Zerrbild – ihre Äußerungen sind damit von vornherein entschärft. Im Vordergrund stehen nicht ihre Lehren, sondern sie selbst – und das Bild, das sie abgeben, ist ein lächerliches. Das dialegesthai richtet den Blick auf sich selbst. Daß es Sokrates später die Worte verschlagen wird, er sich geschlagen gibt, in Logoplegie verfällt (Euthyd. 303a), ist der Ausdruck dieser Niederlage der Sophisten: das Bild der beiden entfaltet seine Wirkung.177 Eine ähnliche Rahmung findet sich auch im Charmides. Zunächst ist es Sokrates, der sich den Charmides von Kritias zeigen läßt178 – und diesmal ist es Sokrates, der sich verbirgt, als der Heilkundige für den Kopfschmerz des Charmides.179 Im Charmides hat die deixis eine Funktion, die über das Zeigen des Redens hinausgeht, die das Zeigen durch die Rede einbegreift. Nachdem Charmides sich als ratlos gezeigt und auf den Kritias gezeigt hatte (endeiknuto; Charm. 162f.), folgen die Forderungen, durch das Reden etwas zu zeigen: Denn sage mir, sprach er [d.i. Kritias; A.d.V.], wo gibt es wohl von der Rechenkunst oder von der Meßkunst ein solches Werk, wie das Haus von der Baukunst oder das Kleid von der Webekunst oder andere dergleichen Werke, deren einer viele von vielen andern Künsten aufzeigen (deixai) könnte? Hast du mir etwa auch von diesen ein solches Werk zu zeigen (deixai)? Das wirst du gewiß nicht haben. – Darauf sagte ich: Du hast recht. Aber das kann ich dir doch aufzeigen (deixai), wovon nun eine jede von diesen Erkenntnissen die Erkenntnis ist, was wieder etwas anderes ist als die Erkenntnis selbst. (Charm. 159ef.)

Die deixis greift hier über das sich selbst zeigende Reden hinaus und auch über das, was sich im Reden zeigen soll – nämlich die Besonnenheit (sôphrosunê) des Charmides, die am Ende nicht benannt werden kann, wiewohl sie 177 Es wird hier darauf verzichtet, auf den Zusammenhang zwischen Zeigen und Reden im Laches ausführlich einzugehen. Auch hier ist – wie zu Beginn des Euthydemos – das Sehen bereits abgeschlossen, wenn die Besprechung beginnt. Allerdings ist es hier nicht das Sehen der Unterredung, sondern das Sehen dessen, wovon die Rede und Beratung (sumboulê) sein wird, nämlich die Vorführung von Fechtkünstlern. Das erste Wort des Laches lautet: „Tetheaste (Ihr habt gesehen)“. Auch hier findet sich die Anschauung vor – und das heißt: außerhalb – der Unterredung. Darauf wird bei der Erörterung des blepein einzugehen sein. Für den Protagoras sei die Anmerkung hinzugefügt, daß sich auch hier der Versuch findet, durch die Unterredung die Person des Gesprächspartners in den Blick der Untersuchung zu nehmen. Protagoras ist der Gegenstand der Unterredung des Sokrates mit Hippokrates zu Beginn des Dialoges (Prot. 310-314). Das Gespräch mit Protagoras soll mit dem Ziel einer Art Vernehmung des Protagoras geführt werden: „Jetzt indes, wie wir einmal unseren Sinn darauf gesetzt haben, laß uns immer hingehen und den Mann hören, haben wir ihn aber gehört, dann auch mit anderen uns besprechen.“ (Prot. 314b). Der Gang zu Protagoras hat nicht etwa das Ziel, seine Lehren zu hören und zu wissen, sondern eben Protagoras selber durch das, was er hören läßt, in den Blick zu nehmen. 178 Charm. 155a: „ Aber warum zeigst (epedeixas) du mir nicht den Jüngling vor und rufst ihn her? Denn selbst wenn er jünger wäre, könnte es doch nicht unanständig für ihn sein, mit uns in deiner Gegenwart zu reden, der du sein Vormund und zugleich Vetter bist.“ 179 Allerdings wird er schnell enttarnt, erkennt ihn Charmides doch wieder (vgl. 156a).

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sich eben durch diese Suche bereits gezeigt hatte – und soll nunmehr durch die Rede auf etwas zeigen, etwas zum Vorschein bringen, zunächst nur im Sinne eines Hindeutens auf etwas, später aber auch als das beweisende Zeigen: Du also, Sohn des Kallaischros, denn du sagst ja, die Besonnenheit sei dieses, Erkenntnis der Erkenntnis und so auch der Unkenntnis, zeige (endeixai) mir zuerst, daß dieses möglich ist, was ich jetzt eben sagte, und dann nächst dem Möglichen auch, daß es nützlich ist, und so möchtest du mir vielleicht genügen, daß du dich richtig erklärst über die Besonnenheit, was sie ist. (Charm. 169bf.)

Dieses Zeigen ist nicht einfach nur eine achtlose façon de parler. Das legein und eipein hat etwas zum Vorschein kommen zu lassen, etwas im Zeigen erscheinen zu lassen, das hernach der Betrachtung und Beschauung anheimgegeben werden kann. Ähnlich aber wie die sôphrosunê des Charmides muß das, was sich zeigt, sich nicht unbedingt als ein Gesagtes in der Rede zeigen, sondern vielmehr durch die Rede. Dasjenige, womit gedeutet und gezeigt wird, ist nicht unbedingt mit dem identisch, was gezeigt wird.180

Die deixis läßt erscheinen: Menon Was auch immer im Gespräch gezeigt wird, wird dem Gesprächspartner gezeigt. Damit zeigt sich bei der deiktischen Vorführung, der deixis als Aufweis, Hinweis und Beweis, eine wesentliche Funktion des Dialoges in aller Deutlichkeit. Der Leser des Dialoges findet sich im Dialog als „Hörer“ einbegriffen, als der beschriebene Hörer, der sich in der Beschreibung zeigende und gleichzeitig – wie Hippothales hinter der Säule – verbergende Hörer und Zuhörer des Sokrates.181 Nur ihm kann, wenn gezeigt wird, etwas gezeigt werden, nur er kann, wenn ihm etwas gezeigt wird, sehen, und zwar ein JeDieses. Was sich in der Schrift als nicht nur abwesender Referent erweist, sondern zudem auch noch als niemals hinreichend individuell darstellbar, läßt sich auf diesem Umweg als deixis in der deixis zeigen. Der Hörer im Dialog wird zum Zeugen und Stellvertreter für den Leser. Angenommen, Sokrates würde in Stellvertretung für Platon sprechen (was nicht unbedingt heißt, daß die Lehren Platons und Sokrates‘ identisch sind), so würde die andere Seite der kommunikativen Beziehung ebenso eine Stellvertretungsfunktion ein180 Die Frage geht hier nach dem mimetischen und dem unmimetischen Zeigen: das mimetische Zeigen eines Bildes steht in gewisser Ähnlichkeitsbeziehung mit dem Gezeigten, enthält das Vor-Bild als Ab-Bild, während das unmimetische Zeigen das Gezeigte nicht enthält, so wie der Zeige-Finger sich in dem, worauf der Finger zeigt, nicht in einer mimetischen Beziehung wiederfinden muß. Es geht hier also auch um sprachliches und bildliches Zeigen, sprachliches und bildliches Zeichen. 181 Im Ansatz findet sich dieser Hinweis bei Jacob Klein: „Usually it is not important to know how many people are listening and who they are. […] But it is of prime importance to realize that we, the readers, belong to them in the sense of silently active participants. […] Paul Friedländer’s remark: ‚the dialogue is the only form of book that seems to suspend the book form itself‘ could perhaps be elaborated as follows: a (Platonic) dialogue has not taken place if we, the listeners or readers, did not actively participate in it; lacking such participants, all that is before us is indeed nothing but a book.“ (Plato’s Meno, 6).

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schließen: der Hörer im Dialog, der Gesprächspartner des Sokrates, wird Stellvertreter des Lesers. Die Schwäche, die der Schrift im Phaidros attestiert wird, daß sie auf Rückfragen nicht antworten kann, der Hilfe (boêtheia) ihres Verfassers immer bedarf, wird durch diese doppelte Stellvertretung mindestens gemildert: Es ist nicht der „Vater der (geschriebenen) logoi“, der hier spricht, sondern Sokrates, der sich in Anwesenheit der stellvertretenden Leser befindet, die ihm ihre Rückfragen jederzeit stellen können. Die Schwäche geschriebener logoi, die mit Derrida als pharmaka zu bezeichnen sind, die sowohl schädlich als auch kurierend wirken können, wird dadurch gemildert, daß sowohl ein Arzt (nämlich Sokrates) in den Schriften auftritt, der die Kenntnis für den Umgang mit den pharmaka besitzt, als auch „Kranke“, die durch die logoi des Sokrates behandelt werden. Die Dialoge zeigen weniger propositionale Kenntnisse. Die als Lehrsätze zu bezeichnenden Aussagen, die aus ihrem Zusammenhang herausgelöst und als gültige Allgemeinaussagen zitiert werden könnten, sind äußerst rar in den Dialogen. Die Dialoge zeigen vielmehr einen Umgang mit logoi. Es werden keine oder nur sehr wenige end-gültige(n) Sätze aufgestellt, die wie medizinische pharmaka eingenommen werden könnten und deren Einnahme jedem nützlich wäre – vielmehr wird gezeigt, wie die (ärztliche) Behandlung durch logoi praktiziert werden sollte: Seine literarischen Techniken erlauben es Platon, Wirkungen der Rede zu zeigen, ohne daß er gleichzeitig gegenständlich über sie reden müßte. Das wäre unmöglich, ginge jede Dialogfigur darin auf, Urheber der ihr in den Mund gelegten Sätze zu sein. Platon gestaltet indessen mit Hilfe von literarischen Techniken einen Realkontext, in den jeder in einem Dialog gesprochene Satz eingebettet bleibt. […] Die Bedeutung und Funktion eines nicht objektivierbaren Wissens, das unauflöslich mit dem Wissenden verknüpft ist, zeigt sich auf exemplarische Weise an der Gestalt des Sokrates. Sein Wissen bleibt in der Tat sehr bescheiden, wollte man es nach der Anzahl der Sätze beurteilen, für deren Richtigkeit er sich stark macht. Es gibt nur wenige Sätze, deren Geltungsanspruch er nicht auf die eine oder andere Weise relativierte.182

Der „Realkontext“, von dem Wieland schreibt, ist gleichsam eine eigene Realität, die sich die Dialoge schaffen. Durch die Schrift spricht nicht in erster Linie ein (potentiell abwesender) Schreiber zu einem (dem Schreiber abwesenden) Leser, sondern Sokrates spricht mit seinen Partnern. Die Dialoge zeigen, wie Sokrates spricht. Das Exemplarische an Sokrates liegt darin, daß er selbst in der exemplarischen Realität der Dialoge exemplarische Gespräche führt. Die Realität der Dialoge ist das gezeigte Exempel, das para-deigma. Diese paradigmatische Funktion reflektieren die Dialoge wiederum selbst – vor allem, wie gezeigt, der Euthydemos, der eine Rahmung von Sprechern und Hörern in mehreren Ebenen enthält, in der sich die äußeren Ebenen über die para-deigmata unterhalten, die die jeweils beinhalteten Redeweisen zeigen.183 182 Wieland: Platon, 242. 183 Ein anderes Beispiel für die Engführung von einer gezeigten Redeweise und der Rede darüber, ist der erste Teil des Gorgias, das Gespräch mit Gorgias selbst. Zur Debatte steht die Behauptung des Gorgias, durch Rhetorik könne er jedem beliebigen Standpunkt (besonders vor Gericht) zum Sieg über einen

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Eine geradezu entscheidende Rolle entwickelt die Potenz der deixis im Menon, wo sich zudem das Verhältnis von Rahmen und Gerahmtem wesentlich verschiebt, wenn denn überhaupt noch von Rahmung und Gerahmtem die Rede sein kann. Im Rahmen (Men. 82a-84a und 84d-85b) befindet sich hier lediglich die berühmte geometrische Operation der Quadratverdoppelung mit dem Hausknaben oder Sklaven des Menon, die angeblich von Beweiskraft ist. Der Einsatz des Menon ist abrupt. Der Dialog fällt mit der Tür ins Haus wie keiner zuvor. Ohne Einleitung, ohne eine Situierung oder Veranschaulichung des Schauplatzes setzt Menon mit der Frage an Sokrates ein, ob die aretê lehrbar (didakton) sei, oder eine Übung (askêton) oder vielleicht dem Menschen von Natur (phusei) einwohne (Men. 70a). Damit bekommt der Menon den Charakter einer Fortsetzung des Protagoras, der eben diese Frage nach der Lehrbarkeit der aretê am Ende offen gelassen hatte. Die Alternative zwischen Lehrbarkeit und Angeborenheit hat nicht wenig Brisanz für Sokrates, denn es läßt sich im Blick auf den Lehrenden zuspitzen: woher hat Sokrates sein Wissen um die aretê? Ist es ihm naturgegeben (phusei)? Dann wäre davon auszugehen, daß dieses Wissen auch allen anderen von Natur gegeben sein könnte, wenn nicht gar gegeben sein müßte. Oder hat er es sich angeeignet – mit welcher Autorität kann sich Sokrates dann anmaßen, das Wissen um die Tugend anderen mitzuteilen; woher kommt seine Einsicht in die Tugend, und warum hat nur Sokrates dieses Wissen? Sokrates trägt sein Nichtwissen regelmäßig vor sich her – was also hat er dann überhaupt zu lehren über die Tugend? Die Alternative phusei-didakton/askêton ist die Alternative, ob Tugendhaftigkeit in der Weise eines instinktiven Wissens des Richtigen angeboren ist, oder ob es eine vermittelbare Erkenntnis ist. Wenn aber eine Erkenntnis: warum ist dann gerade Sokrates, derjenige also der nichts weiß, zugleich derjenige, der als erster Einblick in diese Erkenntnis erlangt haben sollte? Woher kommt das Wissen und wieso verfügt gerade Sokrates darüber? Der Philosoph ist hier am Scheideweg zum Wahrsager angelangt. Wenn Sokrates sich nicht zum Wahrseher und Sager, zum mantis184 erheben will, der die Fülle der Wahrheit aufgrund eines exklusiven Zugangs zum wahren Wissen verkünden kann, dann hat er die Frage nach der Lehrbarkeit, nach der Tugendlehre zu beantworten. Wenn Sokrates eine exklusive Einsicht hat, die zur Lehre ansteht, könnte auch jeder andere Tugendlehrer dies von sich behaupten, könnte sich zum Seher erklären und Tugend- oder Moralvorschriften erlassen und predigen – etwa die Sophisten. Bereits die erste Replik des Sokrates zeigt, daß die Lehrbarkeit der Tugend höchst fraglich ist – denn bisher hat Sokrates noch niemanden gefunden, der gewußt hätte, was denn aretê überhaupt sei. Im Menon führt Sokrates die Lehre von der anamnêsis ein, von der Erinnerung an das immer schon in der unvergänglichen psuchê vorhandene Wissen, das durch Eintritt ins Leben – und das heißt in den Körper – in Vergessenheit geriet (Men. 81cf.). tung des Sokrates gegen die Rhetorik – und beweist damit, daß die Macht der Rhetorik, ihre überredende Wirkung (peithô), bei weitem nicht so groß ist, wie Gorgias meinte. Der mächtige Rhetor verliert gegen Sokrates – das zeigt sich. 184 Es sei daran erinnert, daß der Gesprächspartner im Euthyphron ein Wahrsager (mantis) ist, der allerdings offenbar ebensowenig über das Wissen um das Richtige verfügt wie etwa Sokrates.

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Damit schiebt er seine Lehre zwischen die Alternative von phusei-didakton, von Angeborenheit und Lehrbarkeit der Tugend: das Wissen um die aretê ist zwar angeboren, aber in Vergessenheit geraten und bedarf daher einer Art Lehre, die allerdings nicht die einfache Anfüllung der psuchê mit Kenntnissen ist in der Weise, wie der Körper mit Nahrung gefüttert wird.185 Die Aufgabe des Lehrers besteht vielmehr darin, das Wissen in die Ent-Vergessenheit zurückzubringen. Dabei ist der Menon der Dialog, der in der Reihe zum ersten Mal eine positive Lehre, einen sokratischen logos setzt, denjenigen nämlich von der anamnêsis. Diese Pointe ist festzuhalten: Die erste Lehre des Sokrates ist die Lehre von der Unlehrbarkeit der aretê – es könnte sein, daß die aretê selbst ebenso ein arrhêton (nicht Sagbares) ist, wie die Seitenlänge des gesuchten Quadrates. Und wie das geometrische arrhêton könnte auch die (unsagbare) Tugend sich in ihrer Wirkung, nämlich in der Fähigkeit zu einer folgerichtigen Handlung zeigen. Menon ist ein Dialog, der gänzlich auf der Basis des Gesichtes operiert, auf demjenigen, was die Gesprächspartner vor Augen haben. Sokrates läßt Menon einen logos vortragen, der die Frage nach dem Wesen der Tugend beantworten soll. Die Antwort: jeder hat seine eigene Tugend, je nach der Aufgabe, die er erfüllt (Men. 71ef.). Darauf reagiert Sokrates mit einem Bild: SOKRATES: Gar besonders glücklich, o Menon, scheine ich es getroffen zu haben, da ich nur eine Tugend suche und einen ganzen Schwarm von Tugenden finde, die sich bei dir niedergelassen. Allein, Menon, um bei diesem Bilde (eikona) von dem Schwarm zu bleiben, wenn ich dich fragte nach der Natur einer Biene, was sie wohl ist, und du sagtest mir, es wären ihrer gar viele und mancherlei; was würdest du mir antworten, wenn ich dich fragte: Meinst du, insofern wären sie viele und vielerlei und voneinander unterschieden, als sie Bienen sind? (Men. 72bf.)

Die Frage nach der Natur der Tugend wird mit der Frage nach der Natur eines Bienenschwarmes beantwortet. Die nächste Antwort des Menon, die aretê sei die Fähigkeit über Menschen zu herrschen (Men. 73cf.), beantwortet Sokrates wiederum mit einem Vergleich aus dem Gesicht: MENON: […] Denn die Gerechtigkeit, o Sokrates, ist Tugend. – SOKRATES: Die Tugend, o Menon, oder eine Tugend? – MENON: Wie meinst du das? – SOKRATES: Wie bei irgend etwas anderem. Zum Beispiel von der Rundung würde ich sagen, sie sei eine Gestalt (schêma), nicht so schlechthin die Gestalt (schêma). Deshalb nämlich würde ich so sagen, weil es auch noch andere Gestalten (schêmata) gibt. (Men. 73ef.)186

Durch diese Auseinandersetzung über das schêma – und dann auch über die Farbe (chrôma) – wird die Frage nach dem Verhältnis von Einzeltugenden zu „der“ Tugend diskutiert. Am Ende erscheint die Notwendigkeit, noch einmal die Frage nach der Tugend zu beantworten. Für die Art und Weise, wie das

185 Ein Vergleich, den Sokrates zu Beginn des Protagoras (313cff.) anstellt: „Aber wovon nährt sich die Seele (psuchê), Sokrates? – Von Kenntnissen (mathêmasin) doch wohl, sprach ich.“ (313c). 186 Die schêma-Analogie wird ausgeführt und fortgesetzt bis 74c, anschließend überführt in eine Auseinandersetzung über die Farbe (chrôma).

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zu geschehen hat, hat Sokrates dem Menon nach eigener Einschätzung bereits paradeigmata geliefert: SOKRATES: Am guten Willen wollte ich es nicht fehlen lassen, sowohl deinetwegen als meinetwegen dir dergleichen zu sagen; wenn ich nur nicht unvermögend sein werde, viel dergleichen zu sagen. Allein nun komm und versuche auch du mir dein Versprechen zu erfüllen und im allgemeinen zu erklären, was die Tugend ist; und höre auf, vieles aus einem zu machen, wie man im Scherz zu denen sagt, die etwas zerstoßen; sondern gesund laß sie und ganz, und so sage, was die Tugend ist. Die Beispiele (paradeigmata) dazu hast du ja von mir erhalten. (Men. 77a)

Auch die nächste Antwort des Menon, die Tugend sei das Vermögen, das Schöne herbeizuschaffen, wird von Sokrates in die aporia geführt, obwohl doch Menon die paradeigmata vorliegen hat, die ihn auf den rechten Weg bringen sollen. In der aporia erstarrt Menon, wie vom Schlag des Zitterrochens getroffen (Men. 80a). In der Fortsetzung führt Sokrates erstmalig einen setzenden Beweis – hatte er sich doch zuvor mit skeptischen Ent-Setzungen befaßt. Der erstmaligen Setzung folgt unmittelbar auch die erste Unternehmung zur DurchSetzung dieser Setzung, dieses Lehr-Satzes: MENON: […] Kannst du mich wohl belehren (didaxai), daß sich dieses so verhält? SOKRATES: Schon eben sagte ich, daß du schlau bist, Menon; auch jetzt fragst du, ob ich dich lehren kann, der ich doch behaupte (phêmi), es gebe keine Belehrung (didachên), sondern nur Erinnerung (anamnêsin), damit ich nur gleich mit mir selbst im Widerspruch (autos emautô tanantia legein) erscheine. MENON: Nein wahrlich, Sokrates, nicht in solcher Absicht (ou pros touto blepsas) sagte ich es, sondern aus Gewohnheit. Wenn du mir also irgendwie zeigen (endeixasthai) kannst, daß es sich so verhält, wie du sagst, so tue es. SOKRATES: Freilich ist dies nicht leicht, ich will es aber doch unternehmen, dir zuliebe. Rufe mir also von den vielen Dienern hier, welche dich begleiten, irgendeinen her, welchen du willst, damit ich es dir an diesem zeige (endeixai). (Men. 81eff.)

Der Beweis wird als deixis geführt, als ein Zeigen oder eine Vorführung. Zuvor war die Tugend para-deigmatisch diskutiert worden. Sokrates hatte eine Methode der Argumentation vorgeführt, ein schêma der Argumentation am Beispiel einer Argumentation über das schêma.187 Der Beweis für die Unsterblichkeit der Seele und die anamnêsis-Lehre wird deiktisch geführt, als eine Vorführung, in der Weise eines „Experimentes“. An einem Teil der sinnlichen physischen Welt, noch dazu einem ziemlich geringen, nämlich dem Hausknaben des Menon, soll das höchste mathêma des Sokrates – jedenfalls das höchste der bisherigen Dialoge – bewiesen werden. Und Menon soll durch bloßes Anschauen überzeugt werden, den Satz zu übernehmen. Der Hausknabe selbst aber soll an einer sinnlich sichtbaren Figur seine Wiederer-

187 In der aristotelischen Poietik wird schêmatizein für den Tanz verwandt, für eine mehr oder weniger festgelegte, kodifizierte Abfolge von Bewegungen also. In dieser Hinsicht führt Sokrates hier ein Argumentations-Schema vor.

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innerung vollziehen, an einer Figur, die Sokrates in den Sand gezeichnet hat (vgl. Men. 82b). An dieser Stelle zeigt sich die Abwesenheit des Konkret-Sinnlichen deutlich – die Abwesenheit in Bezug auf den Leser der Dialoge. Bisher hatte sich in den Dialogen der Mangel noch niemals so eindrucksvoll eingestellt wie hier, wo das Quadrat im Dialog fehlt. Ein stummes Element des Dialoges kann seine Anwesenheit nicht durch eine Rede beweisen. Sokrates fragt den Knaben: „Sage mir also, Knabe, weißt du wohl, daß ein Viereck eine solche (toiouton) Figur ist?“ (Men. 82b). Genau an dem toiouton (solche) erweist sich die Leere im Dialog, die von der Leere kaum zu unterscheiden ist, die sich bei der Frage nach den Ideen einstellt. Sokrates und der Knabe beziehen sich auf ein „Hier“, in dem etwas anwesend ist, das in der Schrift des Dialoges nicht anwesend ist. Menon, Sokrates und der Knabe sehen das Viereck, anders als die Leser. Dieselbe Struktur stellt sich bei den Ideen ein, die Sokrates – anders als der Leser – wohl sehen kann. Diese Struktur des doppelten Mangels von konkret Sichtbarem wie auch unsinnlichem Idealem ist die Grundlage, auf der überhaupt eine Ideenlehre sich entwickeln kann. Was der Schrift Platons aufgrund ihrer Schriftlichkeit abwesend sein kann (ein inzwischen gestorbener Sokrates, ein verwehtes Quadrat im Sand), ist in der Szene der Dialoge anwesend. Das gezeichnete Quadrat zeigt sich als Abwesendes, wie sich der (tote) Sokrates als Abwesender zeigt – und man kann hinzufügen: wie sich die eidê in Abwesenheit zeigen. Die Grundlage für die „Verwobenheit“ von Anwesenheit und Abwesenheit wird durch die Schrift bereitgestellt: THEAITETOS: In einer solchen Verflechtung (sumplokên) scheint freilich das Nichtseiende (mê on) mit dem Seienden (onti) verflochten zu sein, die ganz ungereimt ist. (Soph. 278b)

Die Rede über die sumplokê im Sophistês kann als Selbstkommentar der Dialoge gelesen werden. Das Nichtseiende im Sinne eines absolut Abwesenden, das nie und nirgends war, ist oder sein wird, ist auf eine ganz ungereimte Weise mit dem Seienden, das ist oder wenigstens war oder sein wird, verflochten. Man müßte also das Nichtseiende vom Seienden trennen können – das Trennen (apo-chôrizein) muß aber sein Grenzen dabei haben, auch für einen philosophischen Menschen, denn die völlige Trennung (dialusis) von allem und jedem bringt den logos zum Verschwinden oder Ent-scheinen (aphanisis). Nur die sumplokê der eidê kann zu einem logos führen: FREMDER: Aber auch, o Bester, alles von allem absondern (apochôrizein) zu wollen, schickt sich schon sonst nirgend hin, auf alle Weise aber nur für einen von den Musen verlassenen und ganz unphilosophischen (aphilosophou). THEAITETOS: Wie das? FREMDER: Weil es die völligste Vernichtung (aphanisis) alles Redens (pantôn logôn) ist, jedes von allem übrigen zu trennen (dialuein). Denn nur durch gegenseitige Verflechtung (sumplokên) der Begriffe (tôn eidôn) kann uns ja eine Rede (logos) entstehn. THEAITETOS: Allerdings (alêthê). (Soph. 259df.)

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Die sumplokê ist nicht nur die Verflechtung der eidê untereinander, sondern zugleich ihre Verflechtung mit dem logos, mit der Rede. In der Rede selbst sind die eidê als onomata und rhêmata, als statische Nomina und aktive Verben verflochten, der Verflechtung der nichtpropositionalen praktischen Kenntnis mit dem inerten Wissen und dem Wissenden nicht unähnlich. Das Urbild des paradeigma, von dem gezeigt werden kann, wie auf Unbekanntes gezeigt wird, findet sich in dem Dialog, der die sumplokê als Grundorganisation der idealen Stadt ausstellt, im Politikos. Hier zeigt sich, wie das Zeigen des Bekannten (etwa des bekannten Quadrates, das im Menon in den Sand gezeichnet wurde) zum Unbekannten und seiner richtigen Erkenntnis führt. Das Gespräch kreist um das paradeigma der Schrift und des Lesen- und Schreiben-Lernens. Es geht darum, wie man den Leseschülern unbekannte Buchstaben beibringt: FREMDER: Ist es nun nicht so am leichtesten und schönsten, sie zu dem zu führen, was sie noch nicht erkennen? SOKRATES D.J.: Wie? FREMDER: Daß man sie erst zu dem zurückführe (anagein), wo sie dasselbe richtig vorgestellt (edoxazon) haben, und dann dieses neben das noch nicht von ihnen Erkannte (gignôskomena) stelle, um ihnen durch Vergleichung die Ähnlichkeit (omoiotêta) und die selbige Beschaffenheit in beiden Verknüpfungen (sumplokais) zu zeigen (endeiknunai), bis das richtig Vorgestellte neben alles noch Unbekannte (agnooumenos) gestellt aufgezeigt (deichthê) ist und so aufgezeigt (deichthenta) Beispiele (paradeigmata) abgibt, welche bewirken (poiêsê), daß von allen Buchstaben in allen Silben jeder, wenn er verschieden ist, auch verschieden, wenn er aber derselbe ist, auch als derselbe immer auf gleiche Weise benannt werde. SOKRATES D. J.: Allerdings freilich. (Pol. 278aff.)

Das Vorzeigen des Bekannten führt den gelehrigen Schüler dazu, das Unbekannte zu lernen, indem die paradeigmata auf die Erkenntnis des Unbekannten führen. Es ist die deixis, die hier im Mittelpunkt steht und bewirken soll, daß der Schüler unter Anleitung von sich aus das Unbekannte aus dem Bekannten abzuleiten beginnt. Gerade das Schriftbeispiel ist geeignet zum paradeigma, wenn es in einer Schrift wiedergegeben wird. Die Buchstaben der Schrift in ihrer Bekanntheit und Unbekanntheit zeigen auf die Verwobenheit von Bekanntem und Unbekanntem, zeigen zudem, wie sich auf dem Weg über das Bekannte zum Unbekannten gelangen läßt. Die Situation im Menon ist zunächst nicht sehr weit entfernt von der Versuchsanordnung des Charmides. Wie dieser wird der Hausknabe für eine Vorführung benutzt, wird versucht, ein in ihm schlummerndes Wissen zu entbergen. Der wesentliche Unterschied allerdings ist der, daß es im Menon in keiner Weise auf das Ergebnis ankommt, das vielleicht einen Geometer interessieren dürfte, sondern auf das Verfahren. Das Verfahren wird zum primären Interesse – in der sokratischen Medizin-Paradigmatik gesagt: das Heilverfahren wird wichtiger als die pharmaka. Nichts hätte Sokrates daran hindern können, etwa dem Hausknaben dieselbe Frage vorzulegen wie früher dem Charmides, die Frage nach der sôphrosunê – daß er dies gerade nicht tut, ist wichtiger, als das Ergebnis, die Verdoppelung des Flächeninhaltes eines Quadrates. Offenbar soll gänzlich vom Inhalt des erzielten Wissens abgesehen werden. Denn das Ergebnis, das der Hausknabe erzielt, hat nichts zu tun

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mit der aretê. Die Verdoppelung des Flächeninhaltes eines gegebenen Quadrates ist keine eigentliche Operation eines Vermögens der aretê. Die Vorführung ist die deixis, die die Behauptung des Sokrates stützen soll, daß es kein Lehren und Lernen gibt, sondern lediglich Wiedererinnerung. An einer unbedeutenden Figur wird durch eine unbedeutende Operation die bisher wichtigste Lehre des Sokrates bewiesen.188 Aber sie wird lediglich dem Menon bewiesen. Ihm wird die Operation gezeigt, so wie dem Hausknaben das Quadrat in den Sand gezeichnet wird. Menon übernimmt die Position des Zeugen für ein optisches Geschehen. Logisch wird die anamnêsis nicht begründet, sondern eine Operation an einer sinnlich sichtbaren Figur wird gezeigt, die als Beweis für die These dienen soll. Die Überzeugungskraft gründet auf der Anschaulichkeit des Vortrages, auf der Anschauung, von der ein Leser nur zu hören oder zu lesen bekommt und die nicht etwa die Anschauung der Tugend ist, sondern die Tugend durch etwas anderes anschaulich macht. Das Beweisverfahren für die anamnêsis-Lehre wiederholt das Beweisverfahren der Geometrie: was an dem einen in den Sand gezeichneten Quadrat vorgeführt wird, die Operation zur Verdoppelung des Flächeninhaltes, gilt nicht nur für dieses eine gezeichnete Quadrat, sondern für alle Quadrate. Aus allen gegebenen, gezeichneten Quadraten kann durch diese Operation jeweils das Quadrat doppelten Flächeninhalts erzeugt werden – ebenso, wie der Aufweis der Erinnerungsfähigkeit des Hausknaben der Beweis dafür ist, daß alle denkbaren, zeigbaren Menschen diese Erinnerungsfähigkeit besitzen. Der Hausknabe ist das Analogon des in den Sand gezeichneten Quadrates, die Operation des Sokrates am Hausknaben das Analogon zu den geometrischen Operationen des Knaben.189 Das ist die Logik des para-deigma: was für ein Gezeigtes gilt, gilt für alles Zeigbare, das dem para-deigma verwandt oder gleichartig ist. Am sinnlich Gezeigten wird der Aufstieg über das sinnliche Einzelne hinaus auf geometrische Weise vollzogen. Daß die Geometrie sich ausgezeichnet eignet, um diesen Beweis für die aretê durchzuführen, hatte sich bereits im Protagoras (356cff.) angedeutet, wo die mêtrikê, die Meßkunst, in der Weise einer „reinen Anschauung“ die ungewissen Erscheinungen des Gesichtes korrigiert, ohne aber völlig aus der Dimension des Gesichtes zu verschwinden. Im Gorgias wird sie endgültig ihren Rang zugewiesen bekommen.190 Die Geometrie erweist sich als das Verfahren, anschaulich über die Anschauung hinauszukommen. 188 Von der Frage, ob die Operation der Beweis für die These des Sokrates ist oder lediglich der Beweis, daß auch Hausknaben gewisse geometrische Fertigkeiten entwickeln können (oder auch nur der Beweis hinsichtlich dieses einen Hausknaben), sei hier abgesehen, ebenso von der Frage, ob Sokrates nicht in der Weise suggestiver Fragen dem Hausknaben die Antworten in den Mund legt. 189 Der Hausknabe im Dialog hat keinen Namen, er ist ebenso „irgendein“ Hausknabe, wie das Quadrat irgendeines ist – es sei denn, der Hausknabe wäre der Stellvertreter des Lesers. 190 Gorg. 507ef.: „Die Weisen aber behaupten, o Kallikles, daß auch Himmel und Erde, Götter und Menschen nur durch Gemeinschaft bestehen bleiben und durch Freundschaft und Schicklichkeit und Besonnenheit und Gerechtigkeit, und betrachten deshalb, o Freund, die Welt als ein Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit. Du aber, wie mich dünkt, merkst hierauf nicht, wiewohl du so weise bist, sondern es ist dir entgangen, daß die geometrische (geômetrikê) Gleichheit soviel vermag unter Göttern und Menschen, du aber glaubst, alles komme an auf das Mehrhaben, weil du eben die Meßkunst (geômetrias) vernachlässigst.“

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Was gezeigt wird, wird aber nur dem Zeugen gezeigt, setzt die Präsenz des Zeugen voraus, damit er zum Augenzeugen dessen werde, wovon etwa ein Leser – das letzte Glied in der Reihe Hausknabe-Menon-Leser – keine Augenzeugenschaft erlangen kann. Dem Hausknaben wird das Quadrat gezeigt, dem Menon der Hausknabe und dem Leser der Menon. Und nach der Logik der Geometrie muß auch der Leser davon ausgehen, daß dasjenige, wovon einer überzeugt werden kann, etwa der Menon, einen jeden überzeugt. Der Leser wird zum Hausknaben Platons191 – wobei daran zu erinnern ist, daß „Hausknabe“ hier und da auch als „Sklave“ übersetzt wird. Hier ist auch der Grund zu finden, warum das Gespräch so unvermittelt einsetzt, sich kein weiterer Rahmen darum herum findet: dann würde es mit Menon genauso gehen, wie mit den beiden Sophisten im Euthydemos. Der Menon würde zum Bericht über die Eigenartigkeiten des Gesprächspartners namens Menon zu werden drohen, das Gespräch und die Beschreibung des Gespräches würden das Gesicht, dem hier etwas zeigend, deiktisch bewiesen wird, überlagern. Der Menon aber soll keine Entkleidung einer Figur darstellen sondern die Wiedererinnerung eines Vergessenen, Verschütteten, eine Ent-Vergessenheit (an-a-mnêsis) einer Lehre, eines logos sein. Die deixis schafft einen Raum in den Dialogen, die logoi können Bezug nehmen auf ein Hier und Jetzt (des Quadrates oder der Sophisten), das nicht abhängig ist vom Vorwissen des Lesers der Schriften Platons – dabei ist es das Vorwissen der Leser, von dem Platon im Phaidros abhängig macht, ob eine Schrift dem Leser nützt und ihn an sein bestehendes Wissen erinnert, oder ob er sich durch die Lektüre von logoi, die bei ihm auf kein Wissen treffen, lediglich Scheinwissen aneignet. Die Pharmazie der Dialoge wird zu einer Behandlungs-Szenerie erweitert, auf der gezeigt wird, wie Hörer durch logoi behandelt werden. Dabei wird ihnen nicht etwa ein pharmakon verabreicht im Sinne eines wahren und absolut gültigen Satzes, der dann den gesamten Rest des Dialoges tatsächlich nur zu einer dichterischen Einkleidung machte, indem die „Wahrheit“ in einem einzelnen logos liegt, der aus dem Text herausgeschnitten werden und herumgetragen werden könnte. Die pharmakeia Platons ist keine Allopathie, die dem Kranken irgendwelche allogenen Sätze verordnet, durch deren Einnahme er in den Zustand des Wissens gesundete, sonder eher eine Homöopathie, die die Krankheit des Unwissens bis zur Bewußtheit verstärkt, um so die Selbstheilung in Gang zu setzen. Daß Menon unwissend über die Tugend war, daß er eine kränkelnde Schwäche hatte, was die Frage nach der Tugend anbelangt, wußte er nicht, bis Sokrates ihn mit seinen logoi dazu brachte, das ganze Ausmaß seines Mangels einzusehen und zu erstarren. Sokrates „heilt“ Menon nicht etwa dadurch, daß er ihm einen Satz über die Tugend verordnete, sondern dadurch, daß er ihn paradigmatisch an den möglichen Ursprung der Quelle seiner Genesung führt, indem er ihm den Hausknaben vorführt und ihm zeigt, woher dieser 191 Es mag nicht ganz unwichtig sein, darauf hinzuweisen, daß Kommentatoren des Menon immer wieder die Quadrate in ihren Kommentaren zeichnen (vgl. Klein: Plato’s Meno, 100ff.; ebenso Eigler in der Fußnote der SchleiermacherÜbersetzung zu Men. 82bff.). Dem „Leser“ wird dasselbe vorgezeichnet wie dem Hausknaben. Nur daß die grammata (Men. 82c passim) nicht in den Sand, sondern ins Papier geritzt werden. Was aber zum Beweis ansteht im Menon, nämlich die Lehre von der anamnêsis, wird am Beispiel des Hausknaben ausgeführt – müßte man dann nicht konsequenterweise eher eine Zeichnung dieses Hausknaben fordern? Aber dieses Zeigen, diese deixis – und darauf kommt es an – läßt sich eben nicht in einer Zeichnung veranschaulichen.

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seine Kenntnis erlangt. Der Ursprung der Kenntnis des Knaben ist keine durch logoi vermittelte Lehre über Geometrie im allgemeinen oder Quadrate im besonderen. Es geht letztlich nicht einmal um Quadrate, noch um geometrisches Wissen oder um den Knaben. Es geht auch nicht um Menon, sondern um einen Um-Weg, der gezeigt wird: Das Wissen, das notwendig ist, um aus dem gegebenen Quadrat ein bestimmtes gesuchtes Quadrat folgerichtig zu konstruieren, liegt außerhalb des logisch-propositionalen Bereiches. Sokrates gibt dem Knaben nicht etwa ein Lehrbuch der Geometrie, sondern läßt ihn einen Umweg über eine andere Kenntnis machen, die vorliegt, von der der Knabe aber nicht wußte, daß sie vorliegt, die anwesend und zugleich abwesend ist, durch einen Akt, der mit der Konstatierung des Nichtwissens im Anblick eines gezeigten Quadrates beginnt, zur Anwesenheit gebracht wird. Wäre die Lehre über die anamnêsis ein einfacher Satz gewesen, der sich als Lehre des Sokrates oder Platons formuliert fände, so wäre er der logischen Überprüfung durch die skepsis fähig, würde vermutlich mit demselben Schicksal aus einer sokratischen skepsis herauskommen wie alle Sätze, die Sokrates in die skepsis gezogen hatte: der Satz würde sich als unhaltbar erweisen. Als deixis aber, die zeigt, wie die anamnêsis stattfindet, läßt sich die Lehre kaum widerlegen, selbst wenn die angebliche anamnêsis des Knaben durch suggestives Fragen von Seiten des Sokrates herbeigeführt wäre. „Irgendein“ Knabe, der „irgendein“ Quadrat im Sand konstruiert, dient als Beweis eines Satzes, der vermutlich auf keine andere Weise zu beweisen war. Wenn man in der Metapher des eklampein aus dem 7. Brief bleibt, könnte man formulieren: nur wenn es gelingt, dem Knaben zu zeigen, wie sehr er im Dunkeln tappt, wird die Möglichkeit gegeben sein, daß die Einsicht aufleuchtet. Von dieser aufleuchtenden Einsicht lassen sich in der Szene nur der Effekt zeigen, der quadratische Schatten, den die Einsicht wiederum wirft – und das läßt sich nur zeigen durch das Sagen hindurch.

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Der suchende Ausblick: blepô Wie bereits im Zusammenhang mit dem ent-setzenden Gesicht der skepsis gesagt, drängt sich im Verlauf der frühen Dialoge immer stärker das Fehlen eines Verfahrens zur thesis, zur Setzung von haltbaren Sätzen auf. Weder waren die Gesprächspartner fähig, mit den Antworten, die sie auf die Fragen des Sokrates gaben, Setzungen vorzustellen, die Bestand hatten, die also insbesondere der skepsis standhielten, noch hielten die zirkulierenden logoi der Dichter stand. Sokrates selbst war zwar zur Logoskopie kompetent, war in der Lage, eine jede Setzung zu ent-setzen, nicht aber befähigt, selber Setzungen vorzunehmen. Dennoch werden einige Ansätze in dieser Absicht vorgestellt, deren Gemeinsames darin besteht, daß dies auf dem Seh-Weg geschehen soll. Durch das Gesicht soll diese grundlegende Einsicht erzielt werden, wie im Charmides gegen Ende des Dialoges, wenn der Gesprächspartner des Sokrates schon in der Ratlosigkeit geendet ist, durch einen Traum: Ich glaube wohl, sagte ich, daß ich fasele; aber doch muß man, was einem vorschwebt (prophainomenon), in Betrachtung (skopein) ziehen und nicht leichtsinnig vorübergehen, wenn einem auch nur im mindesten an sich selbst etwas gelegen ist. Wohl gesprochen, sagte er. So höre denn, sprach ich, meinen Traum (onar), ob er aus der Pforte von Horn kommt oder aus der von Elfenbein. (Charm. 173a)

Allerdings scheint das Zutrauen in diese Traumdeuterei als Königsweg zur Erkenntnis nicht groß genug zu sein – im Charmides jedenfalls führt sie nicht zum Erfolg. Man könnte nun auch die umfangreiche Erzählung von Prometheus am Beginn des Protagoras als ein solches Verfahren der Setzung betrachten – allerdings ist diese Setzung Protagoras in den Mund gelegt und nicht Sokrates. Auffällig ist an dieser Erzählung lediglich, daß sie anschließend von Sokrates nicht angegriffen wird. Es wird weder als Grundlegung angeknüpft an den muthos von Prometheus, noch wird der muthos in die skepsis gezogen, vielmehr bleibt er eigenartig isoliert. Dabei ist der muthos als eine Erzählung weniger das Ergebnis einer Sichtung von Bestehendem und Setzung von gesichtetem Anwesendem, das als Grundlage der Argumentation tauglich wäre, als die Wiedergabe eines zirkulierenden „allogenen“ logos. Sokrates selbst führt am Ende des Gorgias einen muthos ein, um eine Grundlage für die Argumentation zu erlangen, das Unrechttun sei das Schlimmste überhaupt, da es vom Jenseits-Gericht des Minos gerichtet würde. Der Gorgias markiert zugleich auch eine Änderung in der Konsequenz der skepsis. Zwar behält sie ihren ent-setzenden Charakter bei, richtet sich aber in anderer Weise als zuvor auf Sätze: Sokrates wird eine Behauptung über das Unrecht–Tun und Unrecht–Leiden aufstellen, die er nicht etwa selbst beweist, vielmehr wird er die gegenteilige Behauptung seines Gesprächspartners ent-setzen. Bereits zum Beginn des Dialoges wird Sokrates „zum Krieg (polemou) und zur Schlacht (machês)“ (Gorg. 447a) begrüßt. In der Schlacht, die im Dialog stattfinden wird, geht es um die Macht der Überredung/Überzeugung (peithô) durch logoi. Die Gegner des Sokrates sind Gor-

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Gorgias, Polos und Kallikles. Die auffälligste Veränderung im Verlauf dieses Dialoges gegenüber allen vorherigen ist das Wissen, das Sokrates zu verkünden weiß. Er weiß die Rhetorik einzuordnen, weiß dem Gorgias klar zu machen, wie sich Rhetorik und Sophistik als Schattenbilder zu Staatskunst und Rechtspflege verhalten, weiß auch Beweise zu führen. Am Ende des Gespräches mit Polos wird Sokrates diesen fragen: SOKRATES: Stritten wir nun nicht eben hierüber, Freund, indem du den Archelaos glücklich priesest, der das ärgste Unrecht getan und dennoch keine Art von Strafe erlitten hat; ich aber meinte das Gegenteil, daß, sei es nun Archelaos oder wer sonst für sein Unrechttun nicht gestraft werde, dieser ganz vorzüglich vor allen Menschen für elend zu halten sei, und immer der Unrechttuende für elender als der Unrechtleidende und der Nichtgestrafte als der Gestrafte. War das nicht, was ich behauptete? POLOS: Ja. SOKRATES: Und ist nicht bewiesen (apodedeiktai), daß dies mit Recht behauptet wurde (alêthê elegeto)? (Gorg. 479df.)

Der Weg, den Sokrates eingeschlagen hat, war noch immer der Weg der skepsis, die allerdings indirekt operierte. Zwischen Polos und Sokrates entspinnt sich ein Wortwechsel über das gegenseitige Widerlegen. Die Widerlegung des Polos wird als elegchos bezeichnet, mit dem er versuchte, Sokrates zu überreden und „aus der Wahrheit hinauszuwerfen“ (Gorg. 472b). Sokrates aber wollte trotz aller Beweise und Zeugen dem Polos nicht folgen in seiner Argumentation, sondern setzt dessen Beweis einen anderen entgegen. Der Streit zwischen Polos und Gorgias ist nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, ein Streit über die Frage, ob es besser sei, Unrecht zu tun oder Unrecht zu leiden, sondern vor allem ein Streit der Argumentations- und Widerlegungsarten: Dies ist nun eine Beweisart (tropos elegchou), wie du dafür hältst und viele andere; es gibt aber auch eine andere (allos), mit der ich es wiederum halte. Laß sie uns also nebeneinander stellen und achtgeben (skepsômetha), ob sie sich in etwas voneinander unterscheiden werden. (Gorg. 472c)

Der „Krieg“ und die „Schlacht“, die hier stattfinden, sind ein Kampf um Methoden, in dem sich als Waffe auf der einen Seite (bei Polos und Kallikles) der elegchos oder exelegchos befinden, auf der anderen Seite aber die skepsis. Diese wandelt sich nunmehr zu einem Verfahren, das zwar noch immer Sätze des Gesprächspartners oder –gegners ent-setzt, dadurch aber zugleich in der Lage ist, einen eigenen Satz durchzusetzen, denjenigen nämlich, es sei besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Nach der Niederlage des Polos wird Kallikles den Kampf übernehmen, wird mit schweren Vorwürfen gegen die Philosophie des Sokrates auftreten, um endlich selbst von diesem besiegt zu werden. Sokrates wird die in den früheren Dialogen offen gebliebenen Fragen nach der sôphrosunê, der hosiotês, philia, andreia, dikaiosunê, sogar nach der gesamten aretê in wenigen Sätze beantworten, indem er ex archês den logos aufnimmt (Gorg. 506cff.). Sokrates verfügt plötzlich über ein umfangreiches Wissen, das er vorzutragen versteht – dafür allerdings bedarf er keines Gesprächspartners mehr; er wird

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von Kallikles aufgefordert, seine Rede doch allein vorzutragen, wird dies tun mit der vorausgeschickten Bitte, falls er etwas sage, das den Hörern als falsch erscheine, möchten sie ihn widerlegen (Gorg. 505dff.). Am Ende des Vortrages über die Tugenden wird Sokrates von einer anderen Form von skepsis sprechen, die nicht mehr den Namen skepsis trägt, sondern die davon abgeleitete Form skopos (Ziel). Dieser skopos ist aber nicht mehr das Ziel, auf das der skeptische Bogenschütze schießt, um es zu ent-setzen, sondern ein Ziel im Sinne einer Orientierung. Der Blick, der sich auf dieses Orientierungsziel richtet, wird als blepein bezeichnet: So setze (tithemai) ich wenigstens dieses und behaupte (phêmi), daß es so wahr ist (alêthê einai). Ist dies aber wahr, so muß, wie es scheint, wer glückselig sein will, die Besonnenheit suchen und üben, die Zügellosigkeit aber fliehen, jeder so weit und schnell er kann; und so dieses vor allen Dingen zu erlangen suchen, daß er keiner Züchtigung bedürfe, bedürfte er ihrer aber entweder selbst oder einer von seinen Angehörigen, sei es ein Einzelner oder der Staat, dann Strafe auflegen und züchtigen, wenn er glückselig sein will. Dies dünkt mich das Ziel (skopos) zu sein, auf welches man hinsehen (bleponta) muß bei Führung des Lebens, und alles in eignen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten darauf hinlenkend so verrichten, daß immer Gerechtigkeit und Besonnenheit dem gegenwärtig (parestai) bleibe, der glückselig werden will […]. (Gorg. 507cff.)

Das Ziel, das Sokrates dem Leben setzt, das der Gerechtigkeit und Besonnenheit präsent bleiben will, ist das Ziel, das auch seine Argumentation im Blick hat. Sokrates blickt auf etwas hin, das ihm erlaubt, eine Setzung (tithemai) vorzunehmen. Eine solche Setzung ist mit ihrem Geltungsanspruch und dem Beharren des Sokrates darauf gegenüber den früheren Dialogen ohne Beispiel. Selbst aber ist es abgeleitet aus einem Beispiel, demjenigen des Malers nämlich, der als Paradigma des blepein eingeführt wird: KALLIKLES: Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. SOKRATES: Wenn du es nur aufrichtig untersuchst (zêtês), wirst du es schon finden (heurêseis). Laß uns aber so ganz gemach betrachtend (skopoumenoi) zusehn (idômen), ob einer von diesen ein solcher gewesen ist. Nicht wahr, der rechtschaffene Mann, der um des Besten willen sagt, was er sagt, der wird doch nicht in den Tag hinein reden, sondern etwas Bestimmtes vor Augen habend (apoblepôn pros ti) so wie auch alle andere Künstler jeder sein eigentümliches Werk im Auge habend (blepontes) nicht auf Geradewohl zugreifend jedesmal etwas Neues an ihr Werk anlegen, sondern damit jedem das, was er ausarbeitet, eine gewisse bestimmte Gestalt (eidos) bekomme. Wie wenn du die Maler (zôgraphous) ansehn (idein) willst, die Baumeister, die Schiffbauer, alle anderen Arbeiter, welche du willst, so bringt jeder jedes, was er hinzubringt, an eine bestimmte Stelle (taxin), und zwingt jedes, sich zu dem andern zu fügen und ihm angemessen (harmottein) zu sein, bis er das ganze Werk wohlgeordnet (tetagmenon) und ausgestattet mit Schönheit (kekosmêmenon) dargestellt (sustêsêtai) hat. (Gorg. 503dff.)

Der Maler schaut nicht nur auf den Körper, den er ins Bild setzen will, sondern sein Blick geht anderswohin, wo er etwas findet, das ihm erlaubt, ein gewisses eidos in sein Werk zu bringen, was sich darin ausdrückt, daß alle

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Elemente an ihrer Stelle stehen, zusammenstimmen und sich zu einem Ganzen fügen (sustêsêtai). Der Blick, durch den dieses Ins-Werk-Setzen des eidos möglich ist, wird von Sokrates als blepein pros ti bezeichnet. Der Blick geht auf etwas hin, das die schöne Ordnung möglich macht. Der Maler dient als Bild, um mit der Produktion seines Bildes dem Sokrates paradigmatisch zum Bild seiner Argumentation zu dienen. Daß es gerade der Maler und sein Bild ist, sind kein Zufall, wird doch Sokrates später sagen, daß er bewußt mit einem Bild arbeitet: Ich nämlich denke, du hast oft genug zugestanden und eingesehen (egnôkenai), daß es wirklich eine solche zwiefache Beschäftigung gibt um den Leib und um die Seele, deren die eine bloß eine dienstbare ist, daß einer imstande ist, wenn unsern Leib hungert, Speise herbeizuschaffen, wenn ihn durstet, Getränk, wenn er friert, Kleider, Decken, Schuhe und anderes, wozu sonst dem Leibe Lust ankommt. Und wohlbedacht erläutere ich es dir durch dieselben Bilder (eikonôn), damit du es leichter begreifst (katamathês). (Gorg. 517cf.)

Bewußt spricht Sokrates in Bildern, gibt dem Kallikles etwas zu sehen, damit er besser begreifen möge. Der Maler, den Sokrates als Beispiel für das blepein angibt, ist selber ein Bild des Sokrates, auf den hinblickend der Blick zu verstehen ist. Wie der Knabe im Menon ist der Maler im Gorgias einer, der seine Aufgabe löst, indem er sich nicht auf das Sinnliche richtet, das vor ihm liegt, etwa im Sand, sondern der anderswo hinschaut, um dasjenige, was er vor Augen hat, in ein eidos zu bringen. Das blepein ist ein Blick, der nicht ent-setzt wie die skepsis, sondern ein orientierender, zielgerichteter Blick, der bestehen läßt, worauf er sich richtet. Daher ist es wichtig, daß der Streit im Gorgias zunächst um die Rhetorik geht. Der Rhetoriker ist ein Meister der Durchsetzung von beliebigen Sätzen, seine Macht ist die peithô, die Überredungskunst, die unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Sätze ist. Will Sokrates eine Methode entwickeln, die zur Setzung fähig ist und zugleich zur DurchSetzung, so wird er sich gegenüber der Rhetorik zu verhalten haben.192 Wo sich gegen den elegchos der Sophisten und deren Kunst, mit Worten und Argumenten den Gegner zu verwirren und ihn logisch zu widerlegen (oder zu ent-setzen), die skepsis des Sokrates in Position bringen ließ, läßt sich gegen Gorgias und seine rhetorische peithô nunmehr das blepein in Position bringen. Wo Gorgias einen beliebigen Satz wählen und ihm zur Überzeugungskraft oder zum Sieg vor Gericht verhelfen konnte, wählt Sokrates den setzenden Blick oder Ausblick des blepein. Zwischen skepsis und elegchos besteht eine Verwandtschaft, die sich als Methodenstreit niederschlägt. Was beim Verfolg des ent-setzenden Sehens der skepsis aber nicht gelingt, ist die (erfolgreiche) zêtêsis (Suche). An der

192 Die scharfe Ablehnung der Rhetorik im Gorgias findet sich im Phaidros deutlich abgemildert, wo Themen des Gorgias unter namentlicher Nennung des Gorgias wieder aufgenommen werden, Sokrates in wenigen Sätzen eine Art eigener Rhetorik entwirft. Die positive Wirkung einer Rhetorik wird von Sokrates bestimmt als: „Das überall Zerstreute (diespermena) anschauend zusammenzufassen (sunorônta) in eine Gestalt (eis mian tina idean), um jedes genau zu bestimmen und deutlich zu machen, worüber man jedesmal Belehrung erteilen will“. (Phdr. 265d) Direkt anschließend wird ein vager Ansatz einer Rhetorik von Sokrates entworfen.

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Möglichkeit und Fertigkeit der Setzung als Folge erfolgreicher Suche wird gearbeitet, wenn es um das blepein geht: das blepein ist der setzende Blick.

Der setzende Blick Es gibt eine kurze Bemerkung im Laches, die kaum auffällt und eine zentrale Bedeutung erst nachträglich gewinnt, aus dem Fortgang der Entwicklung des setzenden Verfahrens des Sokrates in den Dialogen nach dem Laches, vor allem im Gorgias. Die Bemerkung des Sokrates lautet: Pros ti tout eipes blepsas, ô Laches; Worauf blickst du, wenn du dieses sagst, Laches? (Lach. 195a)193

Diese Frage ist die Reaktion auf die Behauptung des Laches, daß Nikias ungereimte Dinge (atopa) rede. Die unmittelbare Antwort des Laches lautet, daß entgegen der Ausführung des Nikias doch die Klugheit etwas anderes oder außerhalb (chôris) der Tapferkeit sei. Das ist das Ergebnis seines Blickens. Worauf aber genau er blickt, sagt er nicht. Einige Zeilen später wird Laches behaupten, daß Nikias nichts sagt, wenn er redet (mêden legonta und ouden legeis, Lach. 195af.). Laches sieht, daß Nikias nichts sagt. Laches hingegen, so die Einhelligkeit zwischen Sokrates und Nikias, sagt etwas – allerdings ist das „Etwas“, das er sagt, nicht wahr (alêthes): „Sokrates: Was dünkt dich Laches zu sagen, o Nikias? Es sieht doch aus (eoiken), als sagte er etwas. – Nikias: Er sagt auch wohl etwas, aber nichts wahres.“ (Lach. 195c). Der Blick, den das blepein bezeichnet, ist ein Aus-Blick, ein zetetischer, suchender Ausblick, mit dem Ziel zu finden. Das blepein, wenn es gelingt, wird ein setzendes Sehen. Daran schließt sich die Frage an, die Sokrates an Laches stellt: worauf genau blickt denn dieses setzende Sehen? Und die nächste Frage – die allerdings im Laches nicht gestellt wird – wird sein, wie denn das, was das setzende Sehen in den Blick nimmt oder bekommt vor der skepsis geschützt werden kann. Denn das, was das blepein zu sehen gibt, ist zunächst in keiner Weise von selbst vor der Ent-Setzung geschützt. Anders als skopein ist blepein keine häufig vorkommende Vokabel in Platons Dialogen.194 Sie findet sich zwar bis auf Kriton und Kritias195 in jedem Dialog, zumeist jedoch nur an weniger als zehn Stellen jeweils. Ausnahmen bilden der Phaidros (10 Stellen), das Symposion (11), die Politeia (54) und die Nomoi (79). Allerdings ist selbst dieses eher spärliche Vorkommen im Vergleich zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen, im Vergleich vor allem auch zu Aristoteles, trotzdem eine auffällige Häufigkeit, wie Léon-

193 Modifizierte Übersetzung; Schleiermachers Übersetzung: „Weshalb meinst du denn das, o Laches?“ nimmt die Komponente des Sehens zu stark heraus aus der Frage des Sokrates. 194 Gemeint sind hier die Vokabeln inklusive ihrer abgeleiteten Formen, für blepein sind dies: anablepô, apoblepteon, apoblepô, blepos, blepteon, blepô, diablepô, emblepô, epiblepô, prosblepô, hupoblepô. Von häufigerem Vorkommen sind hiervon allerdings lediglich apoblepô, emblepô und blepô – alle anderen Formen kommen jeweils maximal fünfmal insgesamt vor. 195 Erweitert um den Hippias Minor sind diese Dialoge auch die einzigen, in denen zêtein/zêtêsis nicht vorkommt. Weitgehende Schlüsse daraus zu ziehen wäre sicherlich unangemessen, aber es ist ein bemerkenswertes Faktum.

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ce Paquet in seiner umfangreichen Studie zu blepein bei Platon feststellt.196 Er unterstreicht, daß sich das blepein an Punkten in Platons Dialogen findet, die „tournants stratégiques“197 markieren: Si l’on prête attention au contexte ou à la place d’insertion occupée par notre formule dans la structure des Dialogues, on relèvera, de façon notablement constante et sans qu’il soit besoin de solliciter les textes, l’une des cinq possibilités suivantes: Blepein introduit un développement important ou se situe au cœur d’un tel développement, il marque un „appel à l’Essence“, il se rapporte à un objet de valeur, ou à l’objet même du Dialogue en question, ou enfin, il équivaut‚ a une certaine „ponctuation“ dans la marche de la pensé, soit qu’il signale une „reprise“ de l’argument, un retour en arrière, une „exigence essentielle“, ou tout autre moment capital de la démarche dialectique.198

Seine Betonung bei der Untersuchung liegt aber auf dem analogischen blepein als intellektueller Anschauung, während es hier zunächst um den Ausgangspunkt geht, wo das sinnliche blepein in den Dialogsituationen umschlägt in die Analogie des Blicks, die einen Blick auf die Referenten der Rede freigibt. Außerordentlich interessant sind die Weisen des Vorkommens in den Dialogen bis hin zum Gorgias, da das als blepein beschriebene Gesichtsvermögen sich in einer Weise wandelt, die der Wandlung des eidos weitgehend parallel verläuft: bezeichnete eidos anfangs die sinnliche, körperliche Gestalt des Lysis und des Charmides, und bezeichnete blepein den Blick eines körperlichen Auges auf einen Körper, so lösen sich sowohl das eidos als auch das blepein allmählich vom Körper. Das blepein wird der Blick, der die Grenze zwischen Körper und eidos zu überschreiten hat, der Blick, der aus dem Sinnlichen hinausdringt, um etwa dem Maler zu erlauben, die Ordnung in sein Bild zu bringen. Gerade in dieser Bedeutung verwendet Aristoteles apoblepein, als er über die Lehre von den abgetrennten eidê in seiner Metaphysik spricht: Wenn man aber sagt, die Ideen seien Vorbilder (paradeigmata) und das andere nehme an ihnen teil, so sind das leere Worte (kenologein) und poetische Metaphern (metaphoras poiêtikas). Denn was ist das werktätige Prinzip (ergazomenon), welches im Hinblick (apoblepôn) auf die Ideen (ideas) arbeitet?199 196 „[…]Platon utilise blepein avec préposition (invariablement pros ou eis) et la forme apoblepein au moins autant, et parfois plus souvent, que tous les autres auteurs, non seulement pris individuellement, mais encore dans leur ensemble, Aristote y compris, nonobstant le fait que l’œuvre préservé de ce dernier est tout aussi considérable, sinon plus, que celle de Platon.“ (Léonce Paquet: Platon. La médiation du regard. Essai d’interprétation, Leiden 1973, 250) Hier gibt Paquet genaue Statistiken wieder, die sowohl für die geringe Häufigkeit des Vorkommens bei Platon in absoluten Zahlen, wie auch für das vergleichsweise häufige Vorkommen sprechen. 197 Ebd., 201. 198 Ebd., 206. 199 Aristoteles: Metaphysik, 991a 20ff. Insgesamt kommen blepein/apoblepein/ epiblepein nur sieben mal in der Metaphysik vor: (1.) 986b 24 (apoblepsas); (2.) 986b 28 (blepôn); (3.) 991a 8 (epiblepsas); (4.) 991a 23 (apoblepôn); (5.) 1033a 21 (epiblepeî); (6.) 1079b3 (epiblepsas); (7.) 1079b 25 (apoblepôn). Dabei beziehen sich (3.) und (4.), sowie die textgleiche Wiederholung in (6.) und (7.) auf die Lehre von den abgetrennten Ideen, (1.) und (2.) beziehen sich auf

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Bei Mugler findet sich als Bedeutung von blepein: „Adspicere, regarder, schauen, blicken, to look. – Expression verbale très fréquente désignant l’acte et l’effort de la vision“.200 Dabei ist diese Form des Sehens mehr als ein bloßes Übermittlungsorgan von Sinnesdaten. Mugler stellt fest, daß blepein oftmals mit oxu zum „scharf blicken“ wird, daß sich Satzobjekte finden, die entweder die gesehenen Gegenstände bezeichnen oder – und das scheint das blepein auszuzeichnen – „un fluide transporté avec le flux du feu subtil sortant de l’œil pendant l’acte de la vision […]. Ce fluide caractérise en général un état d’âme, phobon, deinon, eleutheron blepein.“201 Das blepein scheint also insbesondere die Beteiligung des Blickenden am Blick in den Vordergrund zu stellen, die sich im und durch den Blick äußert, heraustritt, eine Grenze überschreitet – wenn es sich etwa um einen état d’âme handelt, der sich im Blick kommuniziert. Und es handelt sich um genau das Blicken im Griechischen, dessen Verwendung sich auch im Deutschen in der Wendung „das Licht der Welt erblicken“ findet: wird blepein bei den Poeten um phôs (Licht) ergänzt, bedeutet es, nach Mugler, „leben“.202 Anders als im Feld der opsis, der skepsis und der theôria, findet sich in der blepsis203 das Gesehene nicht einbegreifbar: blepos und blemma bezeichnen den „Blick“, blepharon ist das Augenlid oder das Auge selbst, blepsis ist das „scharfe Sehen“ oder der „Hinblick“.204 Ein An-Blick, den irgendwelche gesehenen Gegenstände darbieten, ist im blepein nicht inbegriffen. Das Sehen, das mit blepein bezeichnet wird, besteht in einer Hinwendung zu einer bestimmten Richtung, wie sich auch von Örtlichkeiten oder Sachen ein blepein beschreiben läßt: „[…] von Örtlichkeiten u. Sachen: hinsehen nach, liegen nach, gerichtet, gewandt sein nach […]“.205 In den ersten Dialogen, dem Lysis, Euthydemos und Charmides bezeichnet blepein die Zuwendung zu Personen, die Hinwendung, die die Aufmerksamkeit zuteil werden läßt. Es ist aber zugleich ein gezieltes Sehen, wie sich im Lysis etwa zeigt, ein suchendes, umschauendes Sehen. Da blepein in den genannten Dialogen recht selten vorkommt, ist es möglich, hier alle Stellen wiederzugeben:

200 201

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Parmenides im Zusammenhang mit dem Blick zum Himmel, nur (5.) ist eine Verwendung, in der Aristoteles selbst einen Scharfblick auf Dinge fordert. Weit häufiger kommt blepein in den Ethiken und der Politik des Aristoteles vor: In der Eudemischen Ethik elfmal, in der Nikomachischen Ethik zehnmal, in der Politik 28mal. Eine ausführliche Darstellung ist hier nicht zu leisten. Mugler: Dictionnaire, Eintrag blepein, 77. Ebd. Diese Erweiterung der Charakteristik von blepein findet sich auch im Deutschen beim „blicken“ – als „ängstlich blicken“, „zornig blicken“ etc. Allerdings ist, anders als im Deutschen, offenbar im Griechischen damit nicht der Gesichtsausdruck des Blickenden gemeint, sondern etwas, das sich im Sehstrahl dem Gesehenen mitteilt, wohl in der Weise, wie es noch in der Legende vom „bösen Blick“, der dem Gesehenen etwas antut, oder in der Rede vom „bohrenden Blick“ oder „stechenden Blick“ enthalten ist. „Chez les poètes, blepein, comme horan, avec un compliment d’objet désignant la lumière du jour, du soleil ou des astres, est une expression synonyme de zên, vivre. Voir la lumière pour la dernière fois, loisthion, c’est mourir; avoir cessé de voir la lumière, c’est être mort.“ (ebd., 78). Frisk merkt lakonisch zu blepein an: „Etymologie unbekannt.“ So weit ich sehe, kommt die Vokabel blepsis selbst bei Platon nicht vor. Vgl. die betreffenden Einträge bei Gemoll. Gemoll: Eintrag blepô.

PLATONS GESICHTER | 147 1.

Ich also wendete mich (apoblepsas) zum Menexenos und sagte: Welcher von

2.

Als ich dies von ihm hörte, sah ich mich um (apoblepsa) nach dem Hippo-

euch, o Sohn des Demophon, ist wohl der Ältere? (Lys. 207b) thales, und beinahe hätte ich mich verredet. […] Da ich ihm aber ansah, wie er ganz in Angst und Verwirrung war, über das Gesagte, erinnerte ich mich, daß er wollte, Lysis solle nicht einmal merken, daß er dabei stehe. (Lys. 210e) 3.

Und als Dionysodoros und Euthydemos ihn ansichtig (idonte) wurden, blieben sie zuerst stehen und sprachen miteinander, wobei sie von Zeit zu Zeit nach uns hinsahen (apobleponte), denn ich gab gar genau Achtung auf sie (proseichon ton noun) […] (Euthyd. 273b)

4.

Wie ich nun dieses gesagt, wurde ich von ihnen verhöhnt; wenigstens lachten (egelasatên) sie sich einander zu (blepsante eis allêlous), und Euthydemos sprach: Das ist gar nicht mehr unser Hauptgeschäft o Sokrates, sondern nur noch beiläufig betreiben wir es. (Euthyd. 273 d).

5.

Der ältere von ihnen also, Dionysodoros, begann zuerst die Rede, und wir alle sahen auf ihn (eblepomen) in der Erwartung, ganz wunderbare Dinge sogleich zu vernehmen. (Euthyd. 283a)

6.

[Kriton:] Sooft ich aber auf einen von denen hinsehe (apoblepsô), die sich dafür ausgeben, Jünglinge zu unterrichten und zu bilden, so werde ich ganz irre und sie dünken mich insgesamt, wenn ich sie recht betrachte (skopounti), ganz verkehrt zu sein […] (Euthyd. 306e)

7.

Kritias, der, den Blick nach der Türe gerichtet (apoblepsas), eben einige Jünglinge, Mutwillen miteinander treibend, hereinkommen sah (idôn) und noch einen großen Haufen hinter ihnen, sagte darauf: Wie es mit den Schönen steht, o Sokrates, das wirst du, dünkt mich, gleich selbst sehen (eisesthai). (Charm. 153df)

8.

Und daß es uns Männern so erging, war weniger zu verwundern; allein ich hatte auch auf die Knaben acht (prosechon ton noun), daß keiner von ihnen anderwärts hinsah (eblepen), auch nicht der kleinste, sondern alle betrachteten (etheônton) wie ein Götterbild nur ihn.( Charm.154c)

9.

[A]ls Kritias ihm [d.i. Charmides; A.d.V.] sagte, ich wäre der, welcher das Mittel wüßte, und er mich, ich kann gar nicht beschreiben wie, mit seinen Augen ansah (eneblepsen tois ophthalmois) und ansetzte, als wollte er fragen, und nun alle in der Palaistra uns ganz im Kreise umringten, da, du Herrlicher, sah ich ihm unter das Gewand und entbrannte, und war nicht mehr bei mir […] (Charm. 155cf.)

10. Noch einmal also, Charmides, sprach ich, und genauer aufmerkend (prosechôn ton noun), schaue in dich selbst (eis seauton apoblepsas) und beobachte (ennoêsas), wozu dich die dir einwohnende Besonnenheit macht, und was sie wohl sein muß, um dich hierzu zu machen, und dies alles zusammennehmend, sage dann gerade und dreist, als was sie dir erscheint (phainetai einai) (Charm. 160d) 11. Beim Zeus, sagte er [d.i. Charmides; A.d.V.], ich weiß es nicht. Aber was hindert, daß vielleicht der, welcher es gesagt hat, auch nicht wußte, was er dachte? Und indem er dies sagte, lächelte er und sah nach dem Kritias hin (apeblepen). (Charm. 162b) 12. Dies nun hielt er [d.i. Kritias; A.d.V.] nicht aus, sondern schien ihm sehr böse zu sein, wie ein Dichter dem Schauspieler, der sein Gedicht übel zurichtet, so

148 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN daß er ihn ansah (emblepsas) und sagte: So meinst du, Charmides […] (Charm. 162d ) 13. Ist es etwa dergleichen etwas, Freund, was wir noch von der Besonnenheit vorteilen werden? und wir haben nur etwas Größeres im Sinn (meizon ti blepomen) und suchen (zêtoumen meizon ti) etwas Größeres in ihr, als sie ist? (Charm. 172c). 14. Wunderliche Dinge in der Tat, sagte er [d.i. Kritias; A.d.V.], sprichst du, Sokrates. – Beim Hunde, sprach ich, auch mich dünkt es ebenso. Das hatte ich auch eben im Sinne (apoblepsas), als ich sagte, es fielen mir wunderliche Dinge ein, und wie ich fürchtete, daß wir gar nicht richtig untersuchten (ouk orthôs skopoimen). (Charm. 172e).

Wo immer blepein oder apoblepein steht, findet sich eine bewußte Hinwendung auf jemanden oder etwas, die zugleich oftmals eine Hinwendung über einen Rahmen hinaus ist – sei es der Blick zum Türrahmen (7.), der Blick aus der Gesprächssituation hin zum versteckten Hippothales (2.), der Blick zu Sokrates aus dem Zwiegespräch der beiden Sophisten (3.) oder der Blick des Charmides zu Kritias aus seinem Gespräch mit Sokrates heraus (11.). Die zitierten Stellen zeigen, daß verschiedene Weisen zu sehen durch unterschiedliche Vokabeln voneinander abgegrenzt werden: Es wird ein Unterschied gemacht zwischen dem Ansichtigwerden oder In-den-Blick-kommen als idein und der intentionalen Zuwendung als blepein (3. und 7.). Auch der Unterschied zwischen skopein und blepein läßt sich verdeutlichen (6.): Kriton wird irre, wenn er auf die Sophisten blickt (blepein); nimmt er sie aber in die skepsis, sind es die Sophisten, die sich als falsch herausstellen. Ohne aus einer einzigen Stelle zuviel ableiten zu wollen, kann dieser Grundzug festgehalten werden: das blepein, das intentional gerichtet wird auf etwas, zieht eine Veränderung des Blickenden nach sich. Was die skepsis offen lassen mußte, findet in 13. eine Verbindung zum blepein: die zêtêsis, die Suche. Die skepsis, als ent-setzendes Sehen, kann nichts suchen, ohne es im gleichen Hinsehen zu ent-setzen. Zu dem setzenden Verfahren, das für eine positive Lehre notwendig ist, scheint sich das blepein zu entwickeln. Dieses gesuchte setzende Verfahren kann kein rein logisches sein, da der logos – wie sich im Euthydemos gezeigt hatte – regelmäßig einer Überprüfung bedarf, die selbst nicht rein logisch ist, sondern sich um die Richtigkeit der Aussage in Bezug auf das, wovon die Aussage gemacht wird, bemüht. In der Überprüfung des logos hat die skepsis ihre Aufgabe – was aber wäre auf dem umgekehrten Weg die den logos ergänzende Fertigkeit? Was ist die Fertigkeit, die nicht einen gegebenen logos der skepsis unterzieht, sondern umgekehrt den logos einer gewissen Betrachtung oder Anschauung folgen läßt, den Weg des Charmides im Charmides also ginge: von einer aisthêsis über die doxa zum eipein/legein? Welche aisthêsis wäre dies also? Der Charmides antwortet: eis seauton apoblepsas – „Blick in dich selbst“ (Charm. 160d). Was das blepein in den Blick nimmt, damit ein logos sich darauf beziehen kann, wird in dem Dialog gesagt, in dem zum ersten Mal das eidos in der Form vorkommt, die sich später zur Ideenlehre weiterentwickeln wird, im Euthyphron:

PLATONS GESICHTER | 149 SOKRATES: Du erinnerst dich doch, daß ich dir nicht dieses aufgab, mich einerlei oder zweierlei von dem vielen Frommen zu lehren, sondern jenes eidos selbst, durch welches alles Fromme fromm ist. Denn du gabst ja zu, einer idea wegen, die es habe, sei alles Ruchlose ruchlos und das Fromme fromm. Oder besinnst du dich darauf nicht? EUTHYPHRON: Sehr wohl. SOKRATES: Diese idea selbst also lehre mich, welche sie ist (tis pote estin), damit ich auf sie sehend (apoblepôn) und mich ihrer als Urbildes (paradeigmati) bedienend, was nun ein solches ist, in deinen oder sonst jemandes Handlungen für fromm erkläre, was aber nicht ein solches, davon ausschließe. (Euthyphr. 6df.)

Das (apo)blepein ist der Zugang zum eidos, durch eine Gesichts-„Wahrnehmung“. Auf das eidos hinblickend, dieses als para-deigma, als Nebengezeigtes oder sich daneben Zeigendes brauchend, läßt sich auf Fragen antworten wie diejenige, was denn das Fromme (hosiotês) sei. Die Differenz zum blepein im Charmides besteht darin, daß das blepein im Euthyphron sich nicht einwärts richtet, keine Suche in sich selbst bezeichnet, sondern auf das eidos gerichtet ist, von dem sich zwar nicht sagen läßt, wo es sich befindet, wohl aber, daß es sich nicht oder nicht nur dem Blick nach innen darbietet. In der Politeia findet sich das blepein an zentraler Stelle: Sokrates steht eben im Begriff, der Argumentation des Glaukon zu unterliegen, daß es am besten sei, ungerecht zu leben, dabei aber gerecht zu scheinen, als er die Argumentation abbricht, um in Gedanken (tô logô; Rep. II, 369a) eine Stadt entstehen zu lassen. Die Hinführung zu dieser „Fiktion“, diesem GedankenExperiment aber lautet: Glaukon nun und die andern baten mich auf alle Weise ihr [d.i. die Gerechtigkeit; A.d.V.] zu helfen und die Rede (ton logon) nicht loszulassen, sondern auszuforschen, was jedes von beiden sei und wie es sich mit ihrem Nutzen nach der Wahrheit (talêthes) verhalte. Ich sagte also, wie ich dachte, daß die Untersuchung (zêtêma), die wir unternehmen, nichts geringes wäre, sondern ein sehr Scharfsichtiger (oxu blepontos) dazu gehöre wie mir scheint. Da wir nun dazu nicht tüchtig genug sind, dünkt es mich gut, sprach ich, die Untersuchung (zêtêsin) darüber so anzustellen, wie wenn uns jemand befohlen hätte, sehr kleine Buchstaben (grammata smikra) von weitem zu lesen (anagnônai), da wir nicht eben sehr scharf sehen (oxu blepousin), und dann einer gewahr würde, daß dieselben Buchstaben (grammata) auch anderwärts größer (meizô) und an größerem (en meizoni) wären, es uns offenbar, denke ich, ein großer Fund sein würde, nachdem wir diese zuerst gelesen (anagnontas), dann erst die kleineren zu betrachten (episkopein), ob sie wirklich dieselben sind. (Rep. II, 368cf.)206

Diese Passage ist deswegen zentral, weil sie den Beginn eines groß angelegten Gespräches markiert, in dem Sokrates seine wesentlichen Setzungen über die Beschaffenheit der idealen Stadt und des Menschen vornimmt. Der Mensch ist das Kleinere, das erst später in den Blick genommen werden soll, nachdem nämlich das Größere erblickt ist. Wer eigentlich nicht ausreichend 206 Die spitzen Klammern sind von mir, da Schleiermacher hier ein „zu schauen“ einfügt, das sich im griechischen Original nicht explizit findet – sondern höchstens implizit im vorhergehenden oxu blepousin.

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scharfblickend (oxu blepontos) ist, sei dahingestellt – der Umweg über die Lektüre der Großbuchstaben und der Kleinbuchstaben, der Stadt und des Menschen, ist nötig, weil eben der Blick auf das eidos der Gerechtigkeit hier nicht stattfindet. Es wird tô logô eine Stadt gegründet, die sich nur durch logoi vor „Augen“ stellt, auf das eidos der Gerechtigkeit verweist, wie eine Schrift, bei der es nicht auf die Betrachtung der Buchstaben selbst ankommt, sondern auf ihre Bedeutung. Das eidos der Gerechtigkeit ist die Bedeutung der Schrift-Stadt. Im vierten Buch der Politeia wird das Versäumnis des blepein sich erweisen, wenn Sokrates dem überraschten Glaukon mitteilt, daß die gesuchte Gerechtigkeit von Anfang dieser Stadt-Fiktion an vor Augen lag: Nun also, Glaukon, müssen wir wie Jäger den Busch rings umstellen [und darauf achten (prosechontas ton noun)], daß uns die Gerechtigkeit nicht etwa entschlüpfe und dann, wenn sie einmal verschwunden (aphanisteisa) ist, nicht wieder zum Vorschein komme. Denn offenbar (phaneron) ist sie hier irgendwo. Sieh (hora) also zu und beeifere dich recht [zu schauen (katidein)], ob du sie etwa eher als ich erblicken (idês) und mir anzeigen (phrasês) kannst. Wenn ich doch könnte! sagte er. Vielmehr aber, wenn du mich als einen behandelst, der da folgen und das Gezeigte (deiknumena) auch wahrnehmen (kathoran) kann, wirst du mich ganz angemessen behandeln. So folge mir denn, sprach ich, nach gemeinsam verrichtetem Gebet. Das will ich tun, sprach er, führe du nur an. Freilich, fuhr ich fort, scheint mir der Ort gar unzugänglich und überwachsen, wenigstens ist er dunkel und schwer zu durchstreifen; aber wir müssen dennoch gehen. Das müssen wir! sagte er. Nachdem ich nun etwas erblickt (katidôn), rief ich aus: Ju Ju Glaukon! Es scheint, daß wir eine Spur (ichnos) haben, und ich glaube, sie soll uns nun gewiß nicht entkommen. Das ist ja eine gute Nachricht, sprach er. Wahrhaftig, sagte ich, etwas albern ist es uns doch ergangen. Wieso? Schon lange, du Bester, liegt sie (phainetai) uns von Anfang (ex archês) an vor den Füßen, und wir haben sie nur nicht gesehen (heôrômen), sondern waren ganz lächerlich, wie bisweilen Leute, die etwas in der Hand haben, dasselbe suchen (zêtousin), was sie haben (echousin); so haben auch wir nicht auf den Fleck gesehen (apoblepomen), sondern irgendwohin ins Weite [gespäht (apeskopoumen)], daher sie uns denn natürlich entgehen mußte. (Rep. IV, 432bff.)207

207 In eckigen Klammern eine Ergänzung der Übersetzung Schleiermachers durch den Bearbeiter Dietrich Kurz. Man erkennt hier deutlich, welche Schlüsselrolle dem Gesicht dort zufällt, wo Sokrates die Lösungsmethode des GerechtigkeitsProblems darlegt: die Gerechtigkeit lag vor den Füßen der Gesprächspartner, sie haben lediglich unterlassen, dort hinzublicken (apoblepein) und stattdessen in die Ferne gespäht (aposkopein). Der Gegensatz und die Komplementarität zwischen blepein (findend-setzendes Sehen) und skopein (als schweifender Blick, wenn kein Ziel vorgegeben ist) tritt an dieser Stelle auf engem Raum zusammen auf.

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Ein Dialog, der sich deutlich auf diese Form eines setzenden Sehens hinbewegt, ist der Laches. Das erste Wort des Dialoges lautet: tetheasthe – ihr habt gesehen/betrachtet/beschaut; gemeint ist, daß die Versammelten, die sich in der Folge unterhalten werden, einem Spektakel beigewohnt haben, einer Vorführung von Schaufechtern. Man hat gemeinsam zugesehen (suntheasasthai) und will nunmehr gemeinsam beratschlagen (sumbouleuein). Bezogen auf die Aufforderung an den Charmides, der in sich selbst blicken und die durch die aisthêsis im Inneren gewonnene doxa sagen (eipein) sollte, liest sich der Beginn des Laches als ein ähnliches Fortschreiten, allerdings von einem anderen Ausgangspunkt her: LYSIMACHOS: Gesehen (tetheasthe) habt ihr nun, o Nikias und Laches, den Mann in ganzer Rüstung fechten; weshalb aber wir, ich und Melesias, euch genötigt haben, mit uns ihm zuzusehen (suntheasasthai), dies sagten wir gleich damals nicht, wollen es aber jetzt sagen. Denn wir glauben, zu euch ja freimütig reden zu dürfen. Denn es gibt freilich welche, die einen hiermit nur auslachen; und wenn jemand sie zu Rate zieht (sumbouleusêtai), so sagen sie nicht (ouk eipoien), was sie denken (noousin), sondern, den Fragenden (sumbouleuomenou) erratend, reden (legousi) sie etwas anderes gegen ihre Meinung (para tên hautôn doxan). Euch aber hielten wir nicht nur tüchtig zu der Sache Beurteilung (gnônai), sondern auch, daß, nachdem ihr sie beurteilt (gnontas), ihr aufrichtig sagen (eipein) werdet, was ihr denkt (ha dokei), und so haben wir euch mit zu unserer Beratung (sumboulên) genommen, über das, was wir euch eröffnen wollen. (Lach. 178af.)

Der Blick geht nicht nach innen, sondern war die Beschauung einer Vorführung, eine gemeinsame Beschauung. Die Beschauenden – Nikias und Laches – werden für befähigt gehalten, das Beschaute auch erkennend zu betrachten (gnônai). Darüber hinaus dürfen sie als Mitberater gelten, die sich in der gemeinsamen Beratschlagung (sumboulê) nicht verstellen, ihre Meinung (doxa), die sie aus der Beschauung gewonnen haben, nicht verbergen. Die opsis der Schaufechter führt – ähnlich wie im Charmides – zu einer Meinung, die in logoi zu formulieren ist, um im Austausch der logoi miteinander zu beratschlagen. Wieder geht der Weg von der opsis in die logoi: von der sinnlichen opsis aus. Es stehen wiederum Jugendliche im Zentrum der Debatte, auf andere Weise aber als im Lysis, Euthydemos und Charmides. Zwar soll die bestmögliche Erziehung herausgefunden werden, aber diesmal nicht im Gespräch mit den Jugendlichen selbst. Vielmehr sind es die kampferprobten Nikias und Laches, die die Frage der Tapferkeit und der Erziehung zur Tapferkeit mit Sokrates beraten werden. Da Nikias und Laches selbst Söhne haben, wird von ihnen angenommen, daß sie gerade über die Frage der Erziehung von Jugendlichen allgemein und ganz besonders zur Tapferkeit nachgedacht und sich eine Meinung gebildet haben (vgl. Lach. 179af.). Dabei übernimmt der Dialog nicht den Zeige-Charakter, der in den früheren Dialogen Lysis und Charmides im Vordergrund stand und dessen sich der Menon auf andere Weise wieder bedienen wird, noch ist der Beginn in Spielen der Sichtbarkeit gehalten, wie die Dialoge im Auskleide-Raum, wie der Lysis, Charmides und Euthydemos. Das Schauen fand statt, bevor der Dialog begann: tetheasthe – ihr habt gesehen. Als theaomai wird ein Zuschauen bezeichnet, das vorläufig als sprachloses Staunen oder dummes Starren umschrieben werden kann. Zu

152 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Beginn des Dialoges wird eben auf diese Form des Sehens mehrmals hingewiesen (tetheasthe und sunteasasthai, Lach. 178a; etheasasthe und theasasthai, Lach. 179e).208 Dieses Sehen ist beendet bei Beginn der Unterhaltung, zumindest die Betrachtung der sinnlich sichtbaren Umgebung oder der Anwesenden. Es beginnt die gemeinsame Beratung, zu der auch Sokrates hinzugezogen wird, der offenbar abseits dabei stand und zur Überraschung des Lysimachos von Nikias und Laches als für die Beratschlagung qualifiziert in die Debatte einbezogen wird. Die Notwendigkeit für den Eingriff des Sokrates in die Debatte ergibt sich, als die beiden Fachleute Nikias und Laches in der Beantwortung der anstehenden Frage – ob es für die Jugendlichen förderlich ist, die gerade beschaute Form des Waffenkampfes zu lernen – zu diametral entgegengesetzten Antworten kommen.209 Dabei weist Sokrates zunächst das ihm von Lysimachos angetragene Ansinnen zurück, als „Schiedsrichter“ durch Mehrheitsentscheid zum Ergebnis zu kommen – die Entscheidung darf nicht durch die Masse (plêthei) herbeigeführt werden, sondern durch epistêmê (Lach. 184e); und dem läßt Sokrates die Beschreibung des Programmes der nunmehr anstehenden skepsis folgen: SOKRATES: Also auch jetzt müssen wir zuerst dieses untersuchen (skepsasthai), ob einer von uns kunstverständig (technikos) ist in dem, worüber wir Rat pflegen (bouleuometha), oder nicht, und ist es einer, alsdann diesem folgen, wäre es auch nur einer, die anderen aber lassen; ist es aber keiner, dann einen anderen suchen (zêtein). (Lach. 184ef.)210

Anders oder jedenfalls in höherem Grade wird hier im Laches versucht, einen Fachmann zur Beantwortung der Frage zu finden.211 Auf genau dieser Suche nach einem Fachmann besteht Sokrates mit einer solchen Nachdrücklichkeit, daß die Verschiebung der Suche gegenüber den früheren Dialogen verdeutlicht wird: Sokrates: Also müssen wir auch in Absicht des Ratgebers untersuchen (skopein), ob er kunstverständig (technikos) ist in der Behandlung dessen, um deswillen wir unsere Untersuchung anstellten (skopoumen ho skopoumen). […] Ob also jemand von uns kunstverständig (technikos) ist in Behandlung (therapeian) der Seele (peri

208 Zum theorein/theaomai vgl. Kap. „Das ver-rückte Sehen“. 209 Lach. 184cf. Nikias hatte für die Waffenausbildung der Jugendlichen gesprochen, Laches dagegen. 210 Ich werde hier auf die Durchführung der skepsis nicht weiter eingehen, da das Wesentliche dazu bereits im Zusammenhang mit anderen Dialogen im betreffenden Kapitel gesagt wurde. Wichtig ist nur die Beschreibung der skepsis im Laches als basanizein, d.h. die Verwendung des Gesprächspartners als Prüfstein einer Setzung. Dazu im Zusammenhang mit dem Gorgias mehr. 211 In gewisser Hinsicht waren natürlich auch Lysis und Menexenos im Lysis Fachleute in Sachen Freundschaft, da sie angeblich Freunde sind, war auch Charmides ein Fachmann, da er als besonnen galt. Der Fachmann, der im Laches gesucht wird, ist allerdings verschieden von dieser Art von Expertentum, da an diesen die Anforderung gestellt wird, andere tapfer machen zu können und nicht nur selbst tapfer zu sein. Denn daß die beiden Feldherren einigermaßen tapfer sind, ist die Ausgangsbedingung des Dialoges, die zu Schwierigkeiten dann führt, wenn die beiden Quasi-Experten sich eben diametral widersprechen.

PLATONS GESICHTER | 153 psuchês) und geschickt, diese gut zu behandeln, und darin gute Lehrer gehabt hat, das müssen wir untersuchen (skepteon). (Lach. 185df.)

Die Untersuchung wird darauf gehen, einen kundigen Berater herauszufinden, einen Erzieher – und diese Suche wird im Protagoras, im Menon und im Gorgias fortgesetzt werden212 –, und wenn dieser gefunden sein wird, so wird sich die Frage anschließen müssen, woher dieser sein Wissen hat.213 Die Verschiebung ist insofern bemerkenswert, als die skepsis sich – anders als oben ausgeführt – hier auf den Gesprächspartner zu beziehen scheint, der zu untersuchen ist. Allerdings ist die Differenz zum elegchos noch ebenso groß wie bei der nicht auf Personen gerichteten skepsis: Was durch diese personale skepsis in den Blick gerät, ist eine Behauptung über eine Person – etwa eine solche, daß jemand ein kompetenter Lehrer oder tugendhaft oder tapfer et cetera sei. Dagegen ist der (ex)elegchos ein Verfahren, das in der verbalen Auseinandersetzung den Gesprächspartner dazu bringen soll, die eigene Lehre zu übernehmen. Der Unterschied zwischen skepsis und elegchos bleibt. Die grundsätzliche problematische Differenz besteht im Laches offensichtlich zwischen Worten und Taten, zwischen „propositionalem“ und praktischem, „nichtpropositionalem“ Wissen (Wieland). Nikias kennt den Sokrates als Pädagogen und Berater, ist mit seiner Gesprächsweise vertraut;214 Laches hingegen hat zwar von den Reden des Sokrates keine Erfahrung, hat ihn aber bereits kämpfen gesehen.215 Es ist um eine Übereinstimmung von Reden und Taten zu tun – vergleichbar der erstrebten Übereinstimmung zwischen Nikias und Laches. Daß sowohl die Feldherren Nikias und Laches als auch Sokrates in ihren Taten Tapferkeit gezeigt haben, steht außer Frage, problematisch wird nur die daraus abgeleitete These, wer tapfer handle, müsse wissen, was denn Tapferkeit sei und dies sagen können. Das Gespräch mit Laches, der tapfer gehandelt und den Sokrates im Kampf gesehen hat, hat die folgenden Eckpunkte:

212 Durch die Einleitung mit Hippokrates wird der Protagoras zu einem Dialog, der die Beantwortung der Frage, was für ein Lehrer denn der Sophist Protagoras sei, zum Ziel des Dialoges erhebt. Im Menon findet die Erörterung über die Lehrer ausführlich (89d-98e) statt. Vgl. auch Gorg. 514ff. 213 Die Frage des „Woher“ hinsichtlich dieses Wissens wäre die letzte in der Reihe von Schlußfolgerungen des Sokrates: „Wenn wir nämlich von irgend etwas wissen, daß es einem anderen einwohnend dieses besser macht, dem es einwohnt, und zugleich imstande sind, zu bewirken, daß es jenem einwohne, so kennen wir doch offenbar eben dieses, worüber wir Rat geben sollen, wie jemand es am leichtesten und besten erwerben könne.“ (Lach. 189e) Der Lehrer, der andere tapfer gemacht hat (etwa Laches und Nikias), muß über das Wissen um die Tapferkeit verfügen, muß also sagen können, worin die Tapferkeit besteht und müßte in der Folge auf eine mögliche weitere Frage auch angeben können, woher er dieses Wissen hat. In direkter Fortsetzung der zitierten Stelle vergleicht Sokrates die Tugend, die jemandem innewohnt, und die Kompetenz, die Tugend jemandem einwohnend zu machen, mit der Sehfähigkeit (opsis) der Augen (ophthalmois). 214 Vgl. Lach. 180cf. Über Sokrates als pädagogischen Berater des Nikias besonders auch 187eff., dort etwa: „Nikias: […] Mir also ist es weder ungewohnt noch ungewünscht, vom Sokrates geprüft zu werden […]“ 215 Vgl. Lach. 181af. und besonders 188e: „Laches: […] Von des Sokrates Reden nun habe ich noch keine Erfahrung, sondern zuerst habe ich, wie es scheint, seine Taten erproben gesollt […]“

154 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN LACHES : […] Wenn ich nämlich über die Tugend oder über irgendeine Art der Weisheit einen Mann reden höre, der wirklich ein Mann ist und der Reden wert, welche er spricht, dann freue ich mich über die Maßen, zugleich den Redenden (legonta) und seine Reden (legomena) betrachtend (theômenos), wie beide zusammen gehören und stimmen (harmottonta); und ein solcher scheint mir eigentlich ein musikalischer Mann zu sein, der den schönsten Einklang gestimmt, nicht die Leier oder sonst ein Werkzeug des Spiels, sondern wahrhaft zu leben sich gestimmt, sein eigenes Leben zusammenklingend (sumphônon) mit den Worten (tois logois) die Werke (pros ta erga), echt dorisch, nicht ionisch, auch glaube ich nicht phrygisch oder lydisch, sondern nach jener einzigen echt hellenischen Tonart. (Lach. 187cf.) SOKRATES: Wir beide sind also wohl nicht, deiner Rede zufolge, dorisch gestimmt (hêrmosmetha), ich und du, o Laches; die Taten (erga) nämlich sind uns nicht im Einklang (xumphônei) mit den Reden (tois logois). Denn in den Taten (ergô) möchte einer wohl sagen, wie es scheint, daß wir die Tapferkeit besäßen (phaie an tis hêmas andreias metechein), in den Reden (logô) aber glaube ich wohl nicht, wenn er jetzt unser Gespräch hörte. (Lach. 193df.) LACHES: Ich wenigstens bin bereit, o Sokrates, nicht eher abzulassen, obschon ich ungewohnt bin solcher Reden. Aber es hat mich ordentlich ein Eifer ergriffen über das Gesagte, und ich bin ganz unwillig, wie ich, was ich in Gedanken habe (noô), so gar nicht imstande bin zu sagen (ouk hois te eimi eipein). Denn in Gedanken (noein) glaube ich es doch zu haben, was die Tapferkeit ist; ich weiß aber nicht, wie sie mir jetzt entgangen ist, daß ich sie nicht ergreifen konnte in der Rede (logô), und heraussagen (eipein), was sie ist. (Lach. 194af.)

Wesentlich ist hier die Entwicklung hin zum noein, zu dem „anschauenden“ intellektuellen Verfahren. Es zeigt sich bereits hier im Laches eine wesentliche Eigenschaft des nous: was im nous ist, ist nicht automatisch sagbar oder aussprechbar. Das weist darauf hin, daß der nous keine sprachlich verfasste Instanz ist, jedenfalls nicht in der Sprache, die sich auch laut aussprechen ließe. Das noein ist nicht das Denken im Sinne eines stummen Selbstgespräches.216 Laches ist in der Lage, tapfer zu handeln; und er hat im nous die Antwort auf die Frage nach der Tapferkeit parat, die Tapferkeit ist anwesend, ohne daß sie aber in der Rede ergriffen werden könnte. Nachdem Laches mit seiner Erklärung in der Aporie endete, trägt Nikias seine These vor, die Tapferkeit sei irgendwie ein Wissen beziehungsweise eine Weisheit (sophia; Lach. 194d).217 Daraufhin wirft ihm Laches die leere Rede vor und wird von Sokrates gefragt, mit Blick wohin Laches diesen Vorwurf macht (siehe oben). Sokrates schlägt vor, genauer zu betrachten, was denn Nikias vorträgt. Die Eckpunte des Gespräches mit Nikias: SOKRATES: […L]aß uns sehen (horômen), ob nicht Nikias wirklich glaubt, etwas zu sagen (ti legein), und nicht bloß, um zu streiten (logou heneka), dieses vorträgt? Laß uns daher ihn noch genauer ausforschen, was er wohl meint (noei); und wenn sich zeigt (phainêtai), daß etwas Richtiges darin liegt (ti legôn), so wollen wir es ihm zugestehen, wo aber nicht, so wollen wir ihn belehren. (Lach. 196c) 216 Die Instanz dieses Selbstgespräches ist die dianoia, vgl. Soph. 263e. 217 Ich halte es für sinnvoll, sophia als Weisheit zu übersetzen, um einen deutlichen Unterschied zur epistêmê bestehen zu lassen.

PLATONS GESICHTER | 155 SOKRATES: Sage auch nur ja nichts, o Laches. Denn mir dünkt, du merkst noch gar nicht, daß Nikias diese Weisheit (sophian) von unserem Freunde Damon überkommen hat; Damon aber ist sehr genau bekannt mit dem Prodikos, welcher dafür gilt, am besten unter allen Sophisten solche Wörter zu unterscheiden (diairein). […] SOKRATES: Das aber ziemt sich doch auch, du Stolzer, daß der, dem das Größte anvertraut wird, auch die größte Weisheit (phronêseôs) besitze (metechein). Mir dünkt daher, es verdient wohl näher erwogen zu werden (episkepseôs), worauf doch Nikias eigentlich geht (blepôn) bei seiner Erklärung (tithêsi) dieses Wortes (tounoma) der Tapferkeit. (Lach. 197df.)

Laches hatte die Antwort auf die Frage nach der Tapferkeit im nous, vermochte aber nicht sie auszusprechen. Nikias dagegen vermag sich zu äußern, wird aber dagegen mit dem Vorwurf konfrontiert, leere Reden (kenois logois; Lach. 196b) zu machen, nur der Reden wegen (logou heneka; siehe obiges Zitat) zu sprechen. Die Weise seiner Darlegungen wird von Sokrates und auch von Nikias selbst (Lach. 200b) auf den Musiktheoretiker Damon bezogen, und vermittelt über diesen auf den Wort-Forscher oder -Verdreher Prodikos, der in den frühen Dialogen eine nicht unbedeutende Rolle einnimmt, bezieht sich doch auch Sokrates – der bei Damon in die Musikschule ging – gelegentlich auf ihn.218 Es lassen sich – wie im Lysis mit Lysis und Menexenos – im Zusammenhang mit Nikias und Laches wiederum zwei unterschiedliche Verfahren ansatzweise erkennen: der von den Reden ausgehende Nikias (der den Sokrates vom Reden kennt), und dabei Gefahr läuft, leere Reden zu machen, und der von Taten und dem, was er im nous hat, ausgehende Laches, der allerdings nicht immer in der Lage ist auszusprechen, was er sieht. Darin gleicht das Formulierungsproblem des Laches demjenigen, das später im Menon entworfen werden wird als das Problem der inkommensurablen Größe. Diese Größe im Quadrat, das Sokrates den Knaben entwerfen läßt, ist nicht sagbar, wohl aber zeigbar. Ohne daß sich hier bereits die Engführung dieser beiden Linien des Zeigens und der (Un)Sagbarkeit ergäbe, stellt sich doch eine gewisse Annäherung ein. Wiewohl Laches der Frage des Sokrates zugestimmt hatte, daß man das sagen können muß, was man weiß219, stellt sich heraus, daß Laches eben nicht sagen kann, was er doch angeblich im nous hat. Dabei wird das Verhältnis des Laches zur gesuchten Tapferkeit nicht als blepein bezeichnet (sondern als noein), aber Sokrates – wie oben zitiert – fragt Laches gerade danach, worauf er schaut, wenn er die Behauptung über die leere Rede des Nikias aufstellt. Das blepein wird gelegentlich dem Laches als Frage angetragen (wohin er blicke), von dem er auch selber spricht220 und das ihm von Nikias gar zum Vorwurf gemacht wird.

218 Vgl. etwa Men. 96df., Euthyd. 277e, Charm. 163df. Der Bezug auf Prodikos ist keineswegs immer eindeutig zustimmend, so ist etwa im Charmides das Verfahren des Prodikos für Sokrates eher störend. Dagegen ist der Bezug im Euthydemos eher zustimmend dahingehend, daß Sokrates in Anlehnung an ihn dem Kleinias empfiehlt, den Gebrauch der Worte genau kennen zu lernen. 219 Lach. 190c: „Sokrates: Wovon wir aber wissen (ismen), davon müssen wir doch auch sagen können (eipoimen), was es ist?“ 220 Lach. 182e: „Laches: […] Ich spreche (legô) aber hierüber so in der Hinsicht (apoblepsas), weil ich glaube […]“

156 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Dieser Vorwurf des Nikias allerdings trifft den Unterschied zwischen dem blepein des Laches im Laches und demjenigen des Charmides im Charmides: NIKIAS: Wahrlich schön, o Laches, daß du das für gar nichts mehr rechnest, daß du selbst dich eben gezeigt (ephanês) hast als ein von der Tapferkeit nichts Wissender (eidôs), sondern nur, ob auch ich ebenfalls als ein solcher erscheinen (anaphanêsomai) werde, darauf siehst du (pros touto blepeis) und machst dir nun nichts mehr daraus, wie es scheint, wenn nur mit mir, nichts zu wissen von dem, wovon doch einem Manne, der sich etwas zu sein dünkt, Erkenntnis zu haben geziemt. Du also scheinst mir recht das Menschliche zu tun, nicht auf dich selbst zu sehen (ouden pros sauton blepein), sondern nur auf die anderen (alla pros tous allous). (Lach. 200af.)

Laches schaut nicht auf oder in sich selbst, wie es Charmides tat oder jedenfalls tun sollte, er schaut auf andere oder auf anderes. Auf was genau er aber schaut, ist unklar und ungesagt. Das Zentrum, um das sich das Gespräch eigentlich bewegt, bleibt leer.

Das eidos kommt in den Blick Eine Vorführung findet auch im Menon statt, allerdings nicht vor Beginn des Gespräches, sondern in seinem Zentrum. Und dieses Zentrum markiert nicht nur die Mitte des Dialoges selbst,221 sondern ist vielmehr jenes Zentrum, das im Laches leer blieb. Die Frage, die im Menon ansteht und vom Menon an Sokrates gestellt wird, ist diejenige, ob die Tugend (aretê) lehrbar (didakton) ist oder lediglich geübt (askêton) werden muß. Das ist in gewisser Weise die Frage nach der Erwerbbarkeit oder Anwesenheit der Tugend: muß sie erlangt werden oder ist sie bereits im Besitz und muß lediglich umgesetzt werden – eine Alternative, die den Unterschied wiederholt zwischen dem Charmides, wo die Anwesenheit der Besonnenheit zur Debatte stand (ob Charmides besonnen sei oder nicht, und nur für den Fall, daß er besonnen wäre, würde die Besonnenheit anwesend sein und sich dem Blick nach Innen darbieten), und dem Laches, wo die Tapferkeit insbesondere bei Laches als anwesend gegeben ist, der aber die Übereinstimmung zwischen dem Wissen um die Tapferkeit und die Fähigkeit zur praktischen Umsetzung in ihrem Zusammenhang problematisiert. Im Menon verschiebt Sokrates die Eingangsfrage hin zu der Frage nach der Tugend selbst und fordert Menon auf zu sagen, was die Tugend sei: „ti phês aretên einai“ (Men. 71d). Nachdem der erste Versuch des Menon nicht befriedigend war, gibt Sokrates die Methode dieser zêtêsis vor: SOKRATES: So ist es nun auch mit den Tugenden, daß, wenn sie auch viele und mancherlei sind, sie doch sämtlich ein und dasselbe gewisse eidos haben, um derentwillen sie eben Tugenden sind, und eben hierauf wird derjenige hinzusehen (apoblepsanta) haben, der in seiner Antwort auf jene Frage richtig angeben will, was die Tugend eigentlich ist. (Men. 72c) 221 Das Ende der Demonstration an dem Knaben bildet genau die Mitte des Dialoges.

PLATONS GESICHTER | 157

Im Fortgang wird die Rede vom eidos variiert hin zum schêma, zu einem Begriff, der die äußere Gestalt und Form von Gegenständen bezeichnet, die „Grenze des Körpers“.222 Dieser Begriff des schêma nimmt in gewisser Weise die Stelle ein, die in den ersten Dialogen das eidos innehatte, als etwa von der schönen Gestalt des Lysis (Lys. 204e) oder des Charmides (Charm. 154cf.) die Rede war. Diese Variation ist nicht unwichtig, da das schêma in der Demonstration mit dem Knaben im Mittelpunkt stehen wird und die Operation an einem schêma stattfindet, wie bei der Frage nach der Tugend das eidos im Mittelpunkt steht. Diese Operation verläuft so, daß der Knabe zuerst glaubt, die Aufgabe der Flächenverdoppelung der Quadrates lösen zu können – ebenso wie Menon zu Beginn des Dialoges glaubte, eine Antwort auf die Frage nach der Tugend parat zu haben. Erst durch die skepsis des Sokrates werden sowohl der Knabe ("Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß es nicht“; Men. 84a) wie auch zuvor Menon selbst in die Aporie geführt: MENON: O Sokrates, ich habe schon gehört, ehe ich noch mit dir zusammengekommen bin, daß du allemal so selbst in Verwirrung (aporeis) bist und auch andere in Verwirrung bringst (poieis aporein). Auch jetzt kommt mir vor, daß du mich bezauberst (goêteueis) und mir etwas antust (pharmatteis) und mich offenbar besprichst, daß ich voll Verwirrung (aporias) geworden bin, und du dünkst mich vollkommen, wenn ich auch etwas scherzen darf, in der Gestalt (eidos) und auch sonst jenem breiten Seefisch, dem Krampfrochen, zu gleichen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahekommt und ihn berührt, erstarren. Und so, dünkt mich, hast auch du mir jetzt etwas Ähnliches angetan, daß ich erstarre. Denn in der Tat, an Seele (psuchên) und Leib (sôma) bin ich erstarrt und weiß dir nichts zu antworten; wiewohl ich schon tausendmal über die Tugend gar vielerlei Reden (logous) gehalten habe vor vielen und sehr gut, wie mich dünkt. Jetzt aber weiß ich überall, nicht einmal was sie ist zu sagen. (Men. 79eff.)

Erst wenn die Aporie eingetreten ist, wenn die ent-setzende skepsis alles entsetzt hat, dann kann die zweite Stufe beginnen, die zêtêsis, die nunmehr auch ihren Ort zugewiesen bekommt: die Erinnerung (mnêmê). Die unsterbliche psuchê hat vor ihrer Geburt in der Unterwelt die eidê geschaut, diese beim Eintritt in den Körper – das heißt ins Leben – vergessen und muß nunmehr durch die aktive Erinnerung den Besitz dieser eidê, der Wahrheit also, wiedererlangen, muß das Vergessen der Erinnerung rückgängig machen. Die deixis, die Sokrates mit dem Knaben durchführt, ist eine Demonstration der richtigen zêtêsis; die Provokation, auf die Sokrates damit reagiert, ist das Paradoxon des Suchens: MENON: Und auf welche Weise (tina tropon) willst du denn dasjenige suchen (zêtêseis), Sokrates, wovon du überall gar nicht weißt (oistha), was es ist (ho ti estin). Denn als welches besondere von allem, was du nicht weißt (ouk oistha), willst du es dir denn vorlegen (prothemenos) und so suchen (zêtêseis)? Oder wenn du es auch noch so gut träfest (entuchois), wie willst du denn erkennen (eisei), daß es dieses ist (touto estin), was du nicht wußtest (êdêstha)? SOKRATES: Ich verstehe, was du sagen willst, Menon! Siehst (horas) du, was für einen streitsüchtigen Satz du uns herbringst? Daß nämlich ein Mensch (anthrôpô) 222 So die Bestimmung des Sokrates in Men. 76a.

158 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN unmöglich suchen (zêtein) kann, weder was er weiß (oiden), noch was er nicht weiß (mê oiden). Nämlich weder was er weiß (oiden) kann er suchen (zêtoi), denn er weiß (oiden) es ja, und es bedarf dafür keines Suchens (zêtêseôs) weiter; noch was er nicht weiß (mê oiden), denn er weiß ja dann auch nicht (oude oiden), was er suchen (zêtêsei) soll. (Men. 80df.)

Dieses Argument wäre tödlich für die sokratische Methode, wenn nicht die Erwiderung darauf ebenso raffiniert wäre: das Vorliegen des Wissens in der Erinnerung oder im Vergessen. Das Wissen ist zugleich da und nicht da, ist zugleich anwesend und abwesend, je nachdem wie das Modell des Gedächtnisses konstruiert wird: Ist das Vergessen ein völliges Verschwinden oder lediglich ein Verdunkeln des Inhaltes, ein Verhältnis von Da und Fort, oder ein solches von Latenz und Aktualität? Wer nun beginnt zu lernen, einen Anfang macht mit der Wiedererinnerung, dem Vorgang des Ent-Vergessens (anamnêsis), der wird alles weitere selbst auffinden (aneurein): „Denn das Suchen (zêtein) und Lernen (manthanein) ist demnach ganz und gar Erinnerung“. (Men. 81d) Und diese Lehre ist es, die Sokrates mit seiner Vorführung belegen soll, mit der deixis. Nachdem der Knabe in die Aporie geführt wurde, kann mit der zêtêsis begonnen werden, der Sokrates angeblich nur als Fragender, nicht als Lehrender assistiert. Nachdem der Knabe erfolgreich gefunden hat, wie das verdoppelte Quadrat aussehen muß, schlußfolgert Sokrates mit Zustimmung des Menon, der Knabe habe die Erkenntnis aus sich selber hervorgeholt, und das heiße: aus der Erinnerung (Men. 85cf.). Die deixis mit dem Knaben hatte also den gewünschten Erfolg, das Quadrat mit der inkommensurablen Seitenlänge wurde gefunden. Im Anschluß versucht Sokrates, die Frage nach der aretê auf dieselbe Weise zu lösen. Wie dem Knaben ein besonderes Quadrat in den Sand gezeichnet wurde, um damit die allgemeine Aufgabenstellung einer Quadratverdoppelung zu lösen, so beginnt Sokrates mit einer skepsis im Einzelfall (kath’hekaston; Men. 87e), um dann auf das Allgemeine zu schließen: SOKRATES: Kann man nun nicht im allgemeinen (kata pantôn) sagen, daß dem Menschen alles andere, ob es ihm gut sein wird, von der Seele (psuchên) abhänge, was aber in der Seele (psuchês) selbst ist, dieses von der Vernunft (phronêsin). Und nach dieser Rede wäre überhaupt Vernunft (phronêsis)das Nützliche. Und wir sagen, die Tugend (aretên) sei nützlich. MENON: Freilich. SOKRATES: Vernunft (phronêsin) also, sagen wir, sei Tugend (aretên), entweder die ganze oder ein Teil von ihr. MENON: Mir scheint das Gesagte, o Sokrates, gut gesagt zu sein. (Men. 89ef.)223

Anders als das Ergebnis mit dem Knaben aber hat das Ergebnis dieser Erörterung keinen Bestand, denn Sokrates hat wiederum den Verdacht, daß das Ergebnis nicht korrekt sei. Und Menon fragt daraufhin, wohin denn Sokrates blicke, wenn er diesen Verdacht habe:

223 Die Stufenleiter der Abhängigkeiten erinnert an diejenige, die der als Arzt gegen Kopfschmerzen im Charmides auftretende Sokrates vorträgt. (Charm. 156eff.)

PLATONS GESICHTER | 159 SOKRATES: […] Aber, daß wir nur dieses nicht etwa mit Unrecht zugegeben haben! MENON: Es schien (edokei) uns ja nur noch eben sehr richtig gesagt. SOKRATES: Wenn das nur nicht etwa zu wenig ist, daß es uns noch eben richtig dünkte (dokein), sondern es uns auch jetzt und hernach so dünken muß, wofern etwas Gesundes daran sein soll. MENON: Was nun wieder? Was hast du vor Augen (pros ti blepôn), weshalb es dir nicht mehr recht ist und du bezweifelst, ob die Tugend Erkenntnis ist? (Men. 89cf.)

Die Erörterung wird – nach einem Intermezzo mit Anytos – in der Aporie enden. Anders als das Gespräch mit dem Knaben, wird kein bleibendes Ergebnis für die zur Diskussion stehende Frage erlangt. Der Grund dafür wird nicht angegeben, ist allerdings vielleicht doch zu schlußfolgern, hängt er doch mit der Anamnesis-Lehre zusammen. Wenn die aufgestellte Behauptung richtig ist, das gesamte Wissen liege im Modus der Vergessenheit im Inneren vor, bedürfe nur der anfänglichen Belehrung, um hernach konsekutiv vom Schüler alleine herausgefunden zu werden, so folgt daraus zweierlei. Zunächst wäre Sokrates an dem Punkte angelangt, den ihm die Sophisten Dionysodoros und Euthydemos im Euthydemos vorgetragen haben und der dort bei Sokrates auf harsche Ablehnung stieß: [Euthydemos:] Also hast du auch eingestanden, daß du immer weißt mit demselben womit du weißt, sei’s auch wenn du weißt oder wie du sonst willst, du hast doch eingestanden, daß du immer weißt und auch alles. Also ist offenbar, daß du auch wußtest als du ein Kind warest, und als du geboren und gezeugt wurdest, ja auch ehe du warest und ehe Himmel und Erde war, wußtest du alles insgesamt, wenn du immer weißt. Und wirst auch, beim Zeus, immer wissen, und alles insgesamt, wenn ich nur will. (Euthyd. 296cf.)

Hinzu kommt aber noch eine zweite Schwierigkeit, die Abgrenzung des im Selbst-Studium erlangten Wissens von der doxa, dem Glauben oder der Meinung, die zu überwinden Sokrates gerade antritt, die doxa etwa, sich als Unwissender für wissend zu halten. Daß dem Menon die gefundene Antwort richtig schien (edokei), führt ihn auf das Problem der doxa, denn dies ist keine hinreichende Bestätigung für die Richtigkeit des Ergebnisses. Im Menon folgt eine Erörterung über die doxa und ihre Tauglichkeit zur Lebensführung, mit dem Ende, daß eine richtige doxa genau so gut und nützlich ist wie eine epistêmê (Men. 97b). Anders aber als bei der epistêmê gibt es neben der richtigen (orthê oder alêthês) doxa auch eine falsche, die sich genau darin erweist, daß ihre Setzungen keinen Bestand haben, sondern in Bewegung sind, wie die Bildwerke des Daidalos (Men. 97df.).224 Am Ende wird gar die Vermutung stehen, die Tugend sei vielleicht nur eine Art Göttergeschenk: SOKRATES: Zufolge dieser Untersuchung (logismou) also, o Menon, scheint (phainetai) die Tugend durch eine göttliche Schickung (theia moira) denen einzuwohnen (paragignomenê), denen sie einwohnt (paragignetai). Das Bestimmtere darüber werden wir aber erst dann wissen, wenn wir, ehe wir fragen, auf welche Art

224 Vgl. auch unten zum Daidalos im Euthyphron S. 163.

160 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN und Weise die Menschen zur Tugend gelangen, zuvor an und für sich (auto kath‘ hauto) untersuchen (zêtein), was die Tugend ist (ho ti estin aretê). (Men. 100b) 225

Was also wiederum scheiterte, bleibt die zêtêsis, allerdings diejenige auto kath‘ hauto, die zêtêsis selbst. Diese Redewendung auto kath‘ hauto ist bekanntlich diejenige, mit der ideale Gebilde von Platon benannt werden, wenn sie in Frage stehen. Das genau steht noch zu leisten an, das ideale Gebilde der aretê, die aretê autê kath‘ hautê zu suchen – wie dieses geschehen kann aber war bereits gesagt worden: durch das (apo)blepein. Die Anamnesis-Lehre allein, die Lehre, daß die Erinnerung an das im Jenseits geschaute Wahre nur ent-vergessen werden müsse, reicht nicht aus. Die Differenz zwischen der erfolgreichen Demonstration am Quadrat und der fehlgehenden Suche nach der aretê läßt sich mit einem Begriff zusammenfassen, der zugleich für das Scheitern der Suche nach der aretê verantwortlich ist: die hupo-thesis, die Sokrates im Menon methodisch einführt. Die hupothesis ist nicht genau eine Setzung, eine thesis, ist als eine solche Setzung zugleich weniger als eine Setzung, ist eine schwache Setzung, ein Ausgangspunkt, der als ein Ausgangspunkt zwar gesetzt wird, damit aber noch keine Bestandsgarantie hat. SOKRATES: Hätte ich zu gebieten, Menon, nicht nur über mich, sondern auch über dich, so würden wir nicht eher überlegen (eskespsametha), ob die Tugend lehrbar ist oder nicht, bis wir zuvor, was sie ist (ho ti estin), untersucht (ezêtêsamên) hätten. Allein da du über dich selbst zwar gar nicht begehrst zu gebieten, um nämlich frei zu bleiben, über mich aber begehrst zu gebieten und auch wirklich gebietest, so muß ich dir nachgeben. Denn was will ich machen? Wie es scheint also, sollen wir untersuchen (skepteon), wie etwas beschaffen ist (poion ti), wovon wir noch nicht wissen (mêpô ismen), was es ist (ho ti estin). Wenn also auch nicht ganz, so laß mir doch ein wenig nach von deinem Gebot und gestatte mir, von einer Voraussetzung (ex hupotheseôs) aus dieses zu betrachten (skopeisthai), ob sie lehrbar ist oder was sonst. Dieses, von einer Voraussetzung (ex hupotheseôs) aus, meine ich aber so, wie die Meßkünstler (hoi geômetrai) oft etwas zur Betrachtung (skopountai) ziehen, wenn ihnen jemand eine Frage vorlegt, wie etwa von einer Figur, ob es möglich ist, in diesen Kreis dieses Dreieck einzuspannen, darauf möchte einer sagen, ich weiß noch nicht (oupô oida), ob dieses ein solches ist, aber als eine Voraussetzung (hupothesin) für die Sache glaube ich folgendes bei der Hand zu haben. Wenn dieses Dreieck ein solches ist, daß, wenn man um seine gegebene Grundlinie den Kreis herumzieht, noch ein ebensolcher Raum übrigbleibt, als der umspannte selbst ist, alsdann, dünkt mich, wird etwas anderes erfolgen, und wiederum etwas anderes, wenn dies unmöglich ist. In Beziehung auf diese Voraussetzung (hupothemenos) nun will ich dir sagen, wie es mit der Einspannung desselben in den Kreis steht, ob sie unmöglich ist oder nicht. So (houtô) auch wir in Beziehung auf die Tugend, da wir gar nicht wissen (ouk ismen), was sie ist (ho ti estin), noch wie beschaffen (hopoion ti), wollen eine Voraussetzung (hupothemenoi) machend dieses erwägen (skopômen), ob sie lehrbar ist, oder nicht lehrbar, indem wir so sagen: Wenn sie was doch von dem in der Seele Vorkommenden ist, wird sie lehrbar sein, oder nicht lehrbar? Zuerst also, wenn sie etwas

225 Dies ist die sokratische Quintessenz des Gespräches.

PLATONS GESICHTER | 161 ganz anderes ist als Erkenntnis, kann sie dann gelehrt werden oder nicht, oder, wie wir eben sagten, in Erinnerung gebracht? Denn es soll uns gleich gelten, welches Wortes wir uns bedienen. Also ist sie dann lehrbar? Oder ist das wohl jedem klar, daß nichts anderes dem Menschen kann gelehrt werden als Erkenntnis? MENON: Mir wenigstens scheint es so. SOKRATES: Wenn nun die Tugend irgend Erkenntnis ist, offenbar ist sie dann lehrbar. MENON: Wie sollte sie nicht. SOKRATES: Damit also sind wir bald fertig geworden, daß wenn sie ein solches ist, so ist sie lehrbar; wenn nicht, so nicht. MENON: Freilich. (Men. 86dff.)

Die hupothesis fungiert als Ausgangspunkt für die skepsis, als Aussichtspunkt vielleicht für den Späher, der nunmehr versucht, die Konsequenzen einer zunächst nicht ent-setzten hupothesis in Betracht zu ziehen. Dennoch hat die Kette der Schlußfolgerungen keinen Bestand, fällt das Ergebnis dem Verdacht des Sokrates anheim. Und die Gegenfrage zu diesem Verdacht des Sokrates lautet, wohin denn Sokrates blicke, wenn er diese Verdächtigung äußere. Diese hupothesis hat keinen Grund, auf den sie gesetzt werden könnte, ist lediglich eine Unter-Stellung, eine Konjektur mit der Gefahr der Beliebigkeit. Der Grund oder die Berechtigung der hupothesis ist zunächst nicht belegt. Die zuvor dargestellte Folge von skopein-aporia-zêtêsis wird durch die hupothesis umgekehrt. Die hupothesis gibt eine Voraus-Setzung, die danach in die skepsis genommen wird. Diese hupothesis allerdings hat den Nachteil, daß sie eine Art grundlosen Grundes darstellt. Was in der Demonstration mit dem Knaben als Setzung zulässig war – die Zeichnung des Quadrates in den Sand –, erweist sich für die aretê nicht als zulässig. Obwohl die anamnêsis als das Residuum eingeführt wurde, aus der die Einsichten zu schöpfen sind, war offenbar kein Zugang zu diesem Residuum möglich, jedenfalls keiner, der nicht in den Verdacht geriete, bloße doxa zu produzieren. Die hupothesis als Ersatz für die zêtêsis erweist sich zumindest hier als nicht tauglich – anders als in der Geometrie, wo dieses hypothetische Vorgehen durchaus von Erfolg gekrönt ist. Am Ende wird in einer eher komischen Wendung die Tugend gar ein Besitz, der durch göttliche Schickung (theia moira) gewissen Menschen innewohnt, in ähnlicher Weise, wie die Orakelsprecher und Wahrsager Zugang zu ihren Visionen haben: SOKRATES: Also wenn nicht durch Erkenntnis (epistêmê): so ist richtige Vorstellung (eudoxia) das Übrigbleibende, vermittelst dessen die staatskundigen Männer die Staaten verwalten, ohne, was wahre Einsicht (phronein) betrifft, besser daran zu sein als die Orakelsprecher (chrêsmôdoi) und Wahrsager (theomanteis). Denn auch diese sagen viel Wahres (alêthê), wissen (isasin) aber nichts von dem, was sie sagen. MENON: So mag es wohl sein. SOKRATES: Ist es nun nicht recht, Menon, diese Männer göttlich (theious) zu nennen, welche, ohne Vernunft (noun mê echontes) zu gebrauchen, vielerlei Großes richtig vollbringen von dem, was sie reden (legousin) und tun (prattousin)?

162 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN MENON: Freilich. SOKRATES: Mit Recht also würden wir sowohl die göttlich (theious) nennen, deren wir eben erwähnten, die Orakelsprecher (chrêsmodous) und Wahrsager (manteis), als auch alle Dichtenden (poiêtikous): und auch den Staatsmännern könnten wir nicht am unverdientesten unter diesen dasselbe beilegen, daß sie göttlich (theious) sind und begeistert (enthousiazein), angehaucht und bewohnt (katechomenous ek tou theou) von dem Gotte, wenn sie durch Reden viele große Geschäfte (pragmata) glücklich vollbringen, ohne etwas eigentlich zu wissen (mêden eidotes) von dem, worüber sie reden (legousin). MENON: Allerdings wohl. […] SOKRATES: […] Wenn wir aber jetzt in unserer ganzen Untersuchung (tô logô) richtig zu Werke gegangen (ezêtêsamen) sind und geredet (elegomen) haben: so entstände die Tugend weder von Natur (phusei), noch wäre sie lehrbar (didakton), sondern durch göttliche Schickung (theia moira) wohnte sie denen bei, und ohne Vernunft (aneu nou), denen sie beiwohnt. […] MENON: Ganz vortrefflich, dünkt mich, redest du, Sokrates. SOKRATES: Zufolge dieser Untersuchung (logismou) also, o Menon, scheint die Tugend durch eine göttliche Schickung (theia moira) denen einzuwohnen, denen sie einwohnt. (Men. 99bff.)

Mit einem dieser Gottbegeisterten wird sich Sokrates im Euthyphron unterhalten, mit einem Gesprächspartner, der mit gewissen Gesichten vertraut ist, die nicht die jedermann zugänglichen sinnlichen Gesichte sind: Euthyphron ist ein Mantiker, ein Wahrsager oder Hellseher. Von Beginn an geht es um eine Art von Wahrnehmungen oder Gesichten. Euthyphron und Sokrates haben bei Gericht zu tun, als sie sich treffen; Sokrates stellt sich der Anklage vor Gericht. Als Euthyphron den Hauptvorwurf der Götter-Erdichtung (poiêtês theôn) hört, den man Sokrates zur Last legt, schlußfolgert er: EUTHYPHRON: Ich verstehe, Sokrates. Weil du immer sagst, das Dämonische (daimonion) sei dir widerfahren: so stellt er diese Klage gegen dich an, als gegen einen Neuerer in göttlichen Dingen, und kommt, um dich zu verleumden vor Gericht, weil er weiß, daß dergleichen Verleumdungen sehr leicht Eingang finden bei den meisten. Denn auch mit mir, wenn ich in der Gemeinde etwas rede von göttlichen Dingen und ihnen vorhersage, was geschehen wird, treiben sie Spott wie mit einem Wahnsinnigen, und doch ist nichts, was nicht eingetroffen wäre von allem, was ich vorhersagte. Aber doch sind wir alle ihnen verhaßt. Aber man muß sich nur nichts um sie kümmern, sondern geradezugehen. (Euthyphr. 3bf.)

Euthyphron führt einen Prozess gegen seinen eigenen Vater mit dem Vorwurf des Totschlages eines Sklaven, woraus sich die Frage nach Ruchlosigkeit und Frömmigkeit (hosiotês) ergibt. Der Ausgangspunkt der Debatte ist die Einführung der Ideen-Hypothese von Sokrates: So sage (lege) mir nun um Zeus willen, was du jetzt eben so genau zu wissen (eidenai) behauptest, worin doch deiner Behauptung (phês) nach das Gottesfürchtige und das Gottlose bestehe, sowohl in Beziehung auf Totschlag als auf alles übrige.

PLATONS GESICHTER | 163 Oder ist nicht das Fromme in jeder Handlung (praxei) sich selbst gleich und sich selbst ähnlich, so daß alles, was ruchlos sein soll, soviel nämlich seine Ruchlosigkeit betrifft, eine gewisse idea (mia tina idean) hat? (Euthyphr. 5cf.)

Nach den ersten Ansätzen des Euthyphron kommt Sokrates nochmals auf diese idea zurück, die er von Euthyphron gelehrt (didaxai) haben will: SOKRATES: Du erinnerst dich doch, daß ich dir nicht dieses aufgab, mich einerlei oder zweierlei von dem vielen Frommen zu lehren (didaxai), sondern jenes eidos selbst (auto to eidos), durch welches alles Fromme fromm ist. Denn du gabst ja zu (ephêsa), einer gewissen idea wegen, die es habe, sei alles Ruchlose ruchlos und das Fromme fromm. Oder besinnst du dich darauf nicht? EUTHYPHRON: Sehr wohl. SOKRATES: Diese idea selbst (autên) also lehre (didaxon) mich, welche sie ist, damit ich auf sie sehend (apoblepôn) und mich ihrer als Urbildes (paradeigmati) bedienend, was nun ein solches ist, in deinen oder sonst jemandes Handlungen für fromm erkläre, was aber nicht ein solches, davon ausschließe. (Euthyphr. 6df.)

Jede Antwort, die Euthyphron dem Sokrates nun geben wird, wird der entsetzenden Logoskopie des Sokrates anheimfallen. Die skepsis wird mit einer solchen Rigorosität exekutiert, daß nichts von dem Bestand hat, was Euthyphron vorbringt – die Reaktion des Euthyphron darauf ist derjenigen des Laches und des Menon gleich: EUTHYPHRON: Aber ich weiß nicht, wie ich dir sagen soll (eipô), was ich denke (noô). Denn wovon wir auch ausgehen, das geht uns ja immer herum und will nicht bleiben (menein), wohin wir es gestellt haben. SOKRATES: Das wäre ja meines Ahnherrn, des Daidalos, Kunst, o Euthyphron, was du da beschreibst. Wenn also ich dies gesagt (elegon) und gesetzt (etithemên) hätte, so würdest du mich wohl verspotten, daß auch mir wegen der Verwandtschaft mit ihm meine Wortgebilde (ta en tois logois erga) davon gingen und nicht stehen bleiben (menein) wollten, wohin sie einer auch stellt (thê). Nun aber, denn die Grundlagen (hupotheseis) sind ja dein, brauchen wir einen andern Scherz. Denn dir wollen sie nicht bleiben (menein), wie es dich ja selbst dünkt. EUTHYPHRON: Mir aber, o Sokrates, scheinen unsere Reden (legomena) gerade dieses Scherzes zu bedürfen. Denn dies Herumgehen und nicht an Ort und Stelle bleiben (menein) habe ich nicht in sie hineingelegt (entitheis), sondern du, denke ich, der Daidalos. Denn meinetwegen wären sie immer so geblieben (emenen). SOKRATES: So scheine ich ja beinahe jenen Mann um soviel zu übertreffen in der Kunst, als er nur sein eigenes konnte in Bewegung bringen, ich aber außer dem meinigen, wie es scheint, auch fremdes. Und das eben ist die rechte Feinheit in meiner Kunst, daß ich wider Willen kunstreich bin. Denn ich wollte ja weit lieber, daß die Reden mir blieben (logous menein) und unbeweglich (akinêtos) ständen, als daß ich zu der Weisheit des Daidalos hernach auch den Reichtum des Tantalos bekäme. Doch dem sei genug. Weil du mir aber weichlich zu sein scheinst, so will ich mich mit dir bemühen zu zeigen (deixai), wie du mich belehren könnest über das Fromme; und werde mir nur nicht vorher müde. (Euthyphr. 11b-e)

164 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Euthyphron kann – genau wie Laches – nicht sagen, was er im nous hat, die Reden und Sätze, die er gesetzt hatte, beginnen sich in Bewegung zu setzen, wenn Sokrates dabei ist, jener Sokrates, dessen Ahnherr Daidalos ist, der es vermochte, unbelebte Standbilder in Bewegung zu setzen und herumgehen zu lassen. Anders als sein Ahnherr aber bringt Sokrates nicht nur seine eigenen Thesen in Bewegung, sondern auch diejenigen seiner Gesprächspartner. Menon hatte Sokrates den Vorwurf gemacht, einem Zitterrochen gleich seinen Gesprächspartner erstarren zu lassen, hier nun wird ihm nicht das ErstarrenMachen, sondern die Fähigkeit vorgeworfen, in Bewegung zu setzen, nämlich die Setzungen des Gesprächspartners. Das Ergebnis ist dasselbe: das EntSetzen der Sätze. Es mag Ironie in dieser Stelle liegen, wirkt aber doch eher wie Resignation in der Rede des Sokrates angesichts der Tatsache, daß es bisher eben nicht gelungen ist, auf eine der Fragen nach den Einzeltugenden oder der Tugend als ganzer eine beständige Setzung zu finden. Der Wunsch nach dem akinêton, dem Unbeweglichen, wird sich erst nach dem Gorgias erfüllen, im Phaidon, wenn Sokrates im Tod erstarrt. Hier im Euthyphron ergibt sich erneut das Formulierungsproblem aus dem Laches: mögen Sokrates und Euthyphron auch von der Existenz des eidos überzeugt sein, mögen beide vielleicht sogar die Fähigkeit besitzen, das eidos zu erblicken (blepein) – was sich dann darüber aussagen ließe, liefe trotzdem Gefahr, sich in der skepsis des Sokrates wiederum in Bewegung zu begeben, ent-setzt zu werden. Vielleicht als bloße Ironie macht Sokrates genau hiervon aber sein eigenes Schicksal abhängig: SOKRATES: Was tust du doch, Freund! Du gehst und wirfst mich von der großen Hoffnung herab, die ich hatte, teils der Anklage des Meletos, von dir über das Fromme und Ruchlose belehrt, glücklich zu entkommen, wenn ich ihm beweisen könnte, daß ich nun schon vom Euthyphron weise gemacht wäre in göttlichen Dingen und nicht mehr aus Unwissenheit auf meine eigene Weise grübelte oder Neuerungen suchte, teils aber auch mein übriges Leben würdiger zu verleben. (Euthyphr. 15ef.)226

Sicherlich hängt das Schicksal des Sokrates vor Gericht nicht von Euthyphron ab – aber im Angesicht einer Anklage wegen Gottlosigkeit (asebeia) wäre es von Vorteil, um das Gottgefällige zu wissen und es auch formulieren zu können. Eine Grenze ist in jedem Fall erreicht mit dem Euthyphron – eine Grenze des Sagbaren, so scheint es, und zugleich eine Grenze des Sichtbaren, die bereits überschritten wurde, hin zum eidos. Die Vokabel, die diese Überschreitung als Ausblick, als Blick über eine Grenze hinweg bezeichnet, ist das blepein. Dieses allerdings bedarf der Fähigkeit, das Erblickte zu formulieren. Der Seher oder Hell-Seher Euthyphron mag die Wahrheit sehen, das heißt er mag wahr-nehmen, ist dabei aber nicht in der Lage, das Gesehene wiederzugeben. Und er scheint ebensowenig in der Lage zu sein, das WahrGenommene in Praxis umzusetzen, wenn denn davon ausgegangen werden kann, daß diese Anklage des Vaters vor Gericht einem Frevel gleichkommt. Will man eine Reihenfolge der Entwicklung des blepein und des Ausblickes erstellen, so würde sie vermutlich die folgende Form haben: Im Laches beraten sich Tapfere über das Wesen der Tapferkeit oder die Tapferkeit selbst. Auf Behauptungen wird mit der Frage geantwortet, worauf der Blick 226 Dies sind die letzten Sätze des Dialoges.

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denn ruhe bei dieser Behauptung (pros ti blepeis). Und es gibt die Einsicht, daß bei der Frage nach der Tapferkeit das Erfragte im nous des Laches vorhanden ist, es aber dennoch nicht gesagt werden kann. Laches hat die Antwort auf die Frage nach der Tapferkeit im nous – woher aber diese Einsicht gekommen ist, kann nicht beantwortet werden. Diese Antwort versucht der Menon zu geben mit der anamnêsis-Lehre, die allerdings nicht deutlich genug von der doxa abgegrenzt werden kann. Der Grund dafür liegt im Fehlen des Grundes, von dem ausgegangen werden kann – denn entgegen der Lehre von der anamnêsis wird im Dialog bei der Suche nach der aretê kein EntVergessen stattfinden, sondern eine hupothesis gesetzt werden. Diese hupothesis aber – jedenfalls in der Form, die sie im Menon hat – ist nicht stark genug. 227 Die zêtêsis schlägt wiederum fehl, wiewohl zu Beginn der Blick auf das eidos als Voraussetzung für die Beantwortung der Frage nach der aretê positioniert wurde, wiewohl vor allem eine Demonstration den gewünschten Erfolg hatte, die sich auf eine Anschauung gründete. Im Euthyphron ist bereits klar, daß das blepein sich auf das eidos (in diesem Falle der Frömmigkeit) richtet. Mag nun selbst die Frage, ob denn Euthyphron den Blick auf dieses eidos hat, eher zu verneinen sein angesichts der Klage, die er vorzutragen gedenkt, ergibt sich in jedem Falle auch hier ein Formulierungsproblem. Die hupothesis im Menon war als ein gesetzter logos Ausgangspunkt für die gemeinsame Untersuchung, sie ließ sich sagen – führte aber nicht zum Erfolg, da sich kein Hinblick oder Aus-Blick ergab, der diese hupothesis begründen könnte. Dort, wo dieser Aus-Blick stattfindet – wie im Laches und Euthyphron –, ergibt sich das Problem der Sagbarkeit des Erblickten, nämlich des eidos. Wenn sich am Ende des Euthyphron herausstellt, daß auch die göttliche Schickung offenbar nicht diese Einsicht zukommen läßt, ist das Problem des Einblicks und Aus-Blicks scheinbar so offen wie zuvor. Daß es aber nur scheinbar offener ist, zeigt sich im Gorgias, denn die Öffnung, die stattgefunden hat, ist eine Öffnung der Dialoge selbst auf etwas, das über sie hinausweist, ähnlich dem Quadrat im Menon, das weder im Dialog gezeigt wird, noch auch – was das gesuchte Quadrat betrifft – sagbar wäre, obwohl es sichtbar ist. Dieses setzende Sehen, das in gewisser Weise notwendig dem logos äußerlich bleibt, ist das Gesicht, das mit blepein bezeichnet wird. Auf welche Weise es operiert, wird im Gorgias deutlich. Die Formulierung pros ti tout‘ eipes blepsas, die im Laches das blepein in Position gebracht hatte als das Vermögen, durch Reden etwas vor „Augen“ zu haben, auf das sich die Rede beziehen kann, ohne daß dieses doch vor den körperlichen Augen stehen muß, kann als die Frage nach der Referenz verstanden werden. Es ist die Referenz, nach der gesucht wird, wenn nach demjenigen gesucht wird, worauf geblickt werden kann beim Reden. Fraglich bleibt dabei, ob diese Referenz sich wirklich in Worte fassen läßt, ob sie notwendig eine leere Referenz ist, wenn sich darüber nichts sagen läßt, oder ob zwar eine Referenz vorliegt, diese aber nicht genau bestimmt werden kann. Dem logos ist die Begleitung durch einen Referenten, der dem blepein einen Gegenstand gibt, nicht garantiert. Vielleicht wäre blepein die angemessene Vokabel, um zu beschreiben, wie Platon einem Leser-Hörer den Sokrates und seine Gesprächspartner vor „Augen“ stellt, die referierten Referenten Platons referieren selbst durch blepein auf andere Referenten, die weder an227 Im Gorgias und Phaidon wird die hypothetische Methode genauer gefasst und zu einem gangbareren Weg.

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wesend sind in der Weise eines gegenwärtigen Vor-Augen-Stehens, noch auch gänzlich abwesend, da sie sich durch blepein vor „Augen“ stellen lassen. Wenn Platons Dialoge „szenisch“ oder sogar „theatral“ genannt werden können, so ist blepein die Sichtweise, die die „Szene“ vor Augen und Ohren stellt, die Sokrates und seine Gesprächspartner vor „Augen“, die Reden des Sokrates und die der Gesprächspartner vor „Ohren“ stellt. Diese „Szene“, dich sich einem blepein darbietet, ist nicht streng zu scheiden von der „Szene“, die sich dem blepein von Sokrates darbietet – auch die „Szene“ in der „Szene“ bleibt noch immer „Szene“, das blepein auf die Figuren des Dialoges ist kein anderes als jenes blepein, das die eidê in den Blick nimmt, wie sich die polis, die Sokrates tô logô in der Politeia gründet, nicht streng von der polis unterscheidet, die durch die logoi Platons entsteht und auf der die Gespräche stattfinden. Es verwischt sich die Unterscheidbarkeit zwischen der Stadt, in der die Gespräche stattfinden, und der Stadtgründung, die im Gespräch stattfindet, da sich die Figur des Sokrates nicht durch die Begleitung eines Körpers von den körperlosen eidê unterscheidet. Ob Sokrates ein eidos ist oder ein zôon, bleibt in der Schwebe.

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Das ver-rückte Sehen: theoreô Nach den Ausführungen über die opsis, über skopein und blepein könnte der Eindruck entstanden sein, als bestünde die Lehre in den Dialogen vor allem darin, sehend zu machen, sehen zu lassen, als wäre das Ziel einzig ein Sehen, der Weg dahin lediglich eine Korrektur von falschen Bestandteilen in der Sicht oder falschen Ansichten von Gegenständen, die ins Auge gefasst werden; das aber stimmt nicht ganz genau. Das Gesicht selbst bedarf einer Korrektur oder eines Korrektivs, das das richtige Gesicht verbürgt, neben dem sich auch ein falsches Gesicht zeigt. Dieses Korrektiv ist der logos. Zugleich aber ist der logos auch mit dem falschen, dem ver-rückten oder ver-rückenden Gesicht verbunden. Der logos allein droht in einem isolierten Gebrauch zur Sophisterei und Rhetorik umzuschlagen. Ohne ein Wissen um Gerechtigkeit wird der Rhetor zu einem Demagogen, der mit seiner Technik nicht Sätze zur Geltung bringt, die Anspruch auf Wahrheit erheben können, sondern jeden beliebigen Satz. Damit trägt er eher zur Förderung der Ungerechtigkeit bei. Dasselbe gilt für den Sophisten, der kein hinreichendes Wissen außerhalb des logos besitzt. Die skepsis ist die genaue Betrachtung von Sätzen auf ihren Wahrheitsgehalt hin, das blepein liefert eine Voraus-Sicht, auf die sich der logos beziehen kann. Dennoch taucht im anderen Extrem eine ganz andere, aber ebenso bedrohliche Gefahr auf, die darin besteht, daß die opsis in den Exzess umschlägt, daß statt einer Ein-Sicht nur ein entgeistertes Starren erzeugt wird, ein Verfallen an die Anschaulichkeit bei dem der logos nurmehr dazu dient, Bilder zu erzeugen. Die Gefahr wird im Ion ausgestellt, als die Macht der Rede, die sehen läßt und dabei ver-rückt macht, ver-rückt insofern, als sie aus der phronêsis hinausführt, denjenigen zum ek-phrôn macht, der diese Reden hört. Wo im Euthydemos der Vorwurf an die beiden Sophisten dahin ging, daß ihre Reden leer seien, daß sie nichts sehen ließen, als sie etwas zeigen sollten, lautet der Vorwurf an Ion, daß er nur sehen macht. Während Euthydemos und Dionysodoros ihre Unfähigkeit zur skepsis im sokratischen Sinne durch ihre bloß polemische Technik des exelegchos offenbaren, ist es bei Ion das Fehlen jeder technê, was ihn zur skepsis unfähig macht: SOKRATES: [E]s ist wohl jedem deutlich, daß du durch Kunst (technê) und Wissenschaft (epistêmê) über den Homeros zu reden unvermögend bist. Denn vermöchtest du es durch Kunst (technê), so vermöchtest du auch über alle andern Dichter zu reden. Denn die Dichtkunst ist doch wohl das Ganze, oder nicht? ION: Ja. SOKRATES: Wenn nun jemand auch irgendeine andere Kunst ganz nimmt, so ist es immer dieselbe Betrachtungsart (autos tropos tês skepseôs) in allen Künsten. (Ion 532cf.)

Während die beiden Sophisten im Euthydemos das völlig entfesselte EntSetzen betreiben, das keinerlei Rücksicht darauf nimmt, was gesagt wird, das jeden Satz ent-setzt durch schmutzige Tricks, da betreibt Ion gemeinsam mit den Dichtern, deren Werke er vorträgt und auslegt, das entfesselte Setzen. Dieses entfesselte Setzen nun trägt einen eigenen Namen bei Platon, der nicht allein für die Dichter reserviert ist: theia moira, die göttliche Schickung.

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Platon erklärt seinem Gesprächspartner, daß die Rhapsoden – ebenso wie die Dichter – ihre Fähigkeit nicht durch eine gewisse technê oder epistêmê innehaben, sondern allein durch die göttlich-wundersame Fügung namens theia moira. Nimmt man diese Stelle isoliert, so ist der Gegensatz zwischen den Dichtern und Rhapsoden einerseits, den Philosophen andererseits klar, deutlich und abschließend: Die Dichter und ihre Sänger sind von einer Art göttlichem Wahnsinn besessen, voller Irrationalität und in Gefahr, dem Unwissen, dem Obskurantismus und der Ignoranz anheimzufallen. Nun läßt Platon aber an weiteren Stellen von der theia moira sprechen, beispielsweise am Ende des Menon, des Dialogs, der den Weg hin zur Metaphysik bereits mit der Lehre von der Unsterblichkeit der psuchê und der Wiedererinnerung beschreitet: SOKRATES: […] Wenn wir aber jetzt in unserer ganzen Untersuchung (tô logô) richtig zu Werke gegangen sind (ezêtêsamen) und geredet haben: so entstände die Tugend (aretê) weder von Natur (phusei), noch wäre sie lehrbar (didakton), sondern durch göttliche Schickung (theia moira) wohnte sie denen bei, und ohne Vernunft (aneu nou), denen sie beiwohnt. Es müßte denn einer von den staatskundigen Männern ein solcher sein, der auch vermöchte einen andern zum Staatsmann zu machen. Gäbe es aber so einen, den möchte man fast als einen solchen unter den Lebenden beschreiben, wie Homeros sagt, daß Teiresias unter den Toten sei, daß er allein wahrnimmt, d e n n a n d r e s i n d f l a t t e r n d e S c h a t t e n . Denn gerade so verhielte sich auch dieser zu den andern, wie zu Schatten ein wirkliches Ding in Beziehung auf die Tugend. MENON: Ganz vortrefflich, dünkt mich, redest du, Sokrates. SOKRATES: Zufolge dieser Untersuchung also, o Menon, scheint die Tugend durch eine göttliche Schickung (theia moira) denen einzuwohnen, denen sie einwohnt. (Men. 99eff.; Sperrung im Original)

Es scheint hier, daß die Tugend, die in den frühen Dialogen nicht nur nicht in ihrem Wesen zu bestimmen war, sondern für die sich auch keine Lehrer gezeigt hatten, nurmehr auf wunderlichem, wundersamem oder gar wunderbarem Weg entsteht – als Göttergeschenk. Das ist nicht das letzte Wort zur Tugend und zu ihrem Erwerb – das letzte Wort (oder jedenfalls das vorletzte) wird erst der Gorgias zu verkünden haben.228 Auch mag es nicht ganz ernsthaft sein, wie die Untersuchung des Ursprunges der Tugend in der theia moira ihr Ende findet, indem dieses Göttergeschenk zum Anfang und Ursprung der Tugend erklärt wird – ähnlich wie im Protagoras der muthos von Prometheus eine Lehre vom Ursprung war. Die Rede von der theia moira allerdings ist nicht von vornherein eine Abwegigkeit, verkündet Sokrates doch in der Apologia, daß seine eigene skeptische Tätigkeit auf einer solchen göttlichen Schickung gründet: Aber weshalb halten sich wohl einige so gern seit langer Zeit zu mir? Das habt ihr gehört, Athener, ich habe euch die ganze Wahrheit (tên alêtheian) gesagt, daß sie nämlich diejenigen gern mögen ausforschen (exetazomenois) hören, welche sich dünken (oiomenois), weise zu sein (einai sophois), und es nicht sind. Denn es ist 228 Die aretê wird dort im Gorgias als eine Ordnung verstanden, die in das Leben gebracht wird.

PLATONS GESICHTER | 169 nicht unerfreulich. Mir aber ist dieses, wie ich behaupte, von dem Gotte (hupo tou theou) auferlegt (prostetaktai) zu tun (prattein) durch Orakel (ek manteiôn) und Träume (ex enhupniôn), und auf jede Weise, wie nur je göttliche Schickung (theia moira) einem Menschen etwas auferlegt hat zu tun. (Apol. 33c)

Hier vereinen sich zwei Stränge sokratisch-platonischer Forschung in herausragender und zugleich fast paradoxaler Weise: Es kann als ein wesentliches Ziel der frühen Dialoge gelten, eine Weise des Setzens von Sätzen zu finden etwa unter der Vokabel blepein. Die Setzung als Aufstellung einer These mit Wahrheitsanspruch muß die ent-setzende skepsis flankieren, damit der Punkt bestimmt werden kann, an dem die skepsis aufhört und bestehen läßt, was gesetzt wurde. Soll ein Satz von Sokrates Bestand haben, so muß die skepsis davor haltmachen. Hier in der Apologia erweist sich die skepsis, verstanden als die sokratische Prüfung (exetasis), selbst als gesetzt durch die theia moira. Das Vermögen zur skepsis, zur Prüfung von Sätzen und Gesprächspartnern, ist selbst Ergebnis einer göttlichen Schickung. Mag auch kein inertes Wissen, kein propositionales Wissen zu den geschenkten Besitztümern des Sokrates gehören, der von sich selbst sagt, er wisse nur, daß er nichts wisse, so gehört doch ein praktisches oder ein „nichtpropositionales“ Wissen zu ihm, das er für ein Göttergeschenk hält: das Wissen um die Prüfung von (scheinbarem) Wissen. Das Paradox besteht darin, daß in Konsequenz einer solchen Behauptung, daß die ent-setzende skepsis selbst eine Setzung sei, die skepsis selbst in ihren eigenen Blick kommen müßte, die skepsis der skepsis stattfinden müßte. Das aber läßt sich umgehen durch die göttliche Schickung – damit ist die skepsis (nichtpropositional!) gesetzt. Im Phaidon wird von Phaidon in seinem Nachruf auf Sokrates, der den Dialog vom Tod des Sokrates eröffnet, die Vermutung geäußert, Sokrates werde mit theia moira in den Hades gelangen: PHAIDON: Mir meinesteils war ganz wunderbar zumute dabei. Bedauern nämlich kam mir gar nicht ein als wie einem, der bei dem Tode eines vertrauten Freundes zugegen sein soll; denn glückselig erschien mir der Mann, o Echekrates, in seinem Benehmen und seinen Reden, wie standhaft und edel er endete, so daß ich vertraute, er gehe auch in die Unterwelt nicht ohne göttlichen Einfluß (theias moiras), sondern auch dort werde er sich wohlbefinden, wenn jemals einer sonst. (Phd. 58ef.)

Noch stärker propagiert wird diese göttliche Schickung in Verbindung mit einem Wahnsinn im Phaidros. Dort trägt Sokrates nicht seine eigene Rede vor, sondern in kunstvoller Verschränkung eine (angebliche) Schrift des Stesichoros: Unwahr ist jene Rede, welche behauptet, daß, wenn ein Liebhaber da sei, man vielmehr dem Nichtliebenden willfahren müsse, weil nämlich jener wahnsinnig (mainetai) sei, dieser aber bei Sinnen (sôphronei). Denn wenn freilich ohne Einschränkung gälte, daß der Wahnsinn (manian) ein Übel ist, dann wäre dieses wohl gesprochen: nun aber entstehen uns die größten Güter (megista tôn agathôn) aus einem Wahnsinn (dia manias), der jedoch durch göttliche Gunst (theia dosei) verliehen wird. Denn die Prophetin zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodone haben

170 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN im Wahnsinn (maneisai) vieles Gute in besonderen und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas zugewendet, bei Verstande (sôphronousai) aber kümmerliches oder gar nichts. Wollten wir auch noch die Sibylla anführen, und was für andere sonst noch durch begeistertes (entheô) Wahrsagen vielen vieles für die Zukunft vorhersagend geholfen, so würden wir langweilen mit Erzählung allgemein bekannter Dinge. Dies aber ist wert, es anzuführen, daß auch unter den Alten die, welche die Namen festgesetzt den Wahnsinn nicht für etwas Schändliches oder für einen Schimpf hielten, weil sie sonst nicht der edelsten Kunst, durch welche die Zukunft beurteilt wird, eben diesen Namen einflechtend die Wahnsagekunst (manikên) benannt hätten; sondern dafürhaltend, er sei etwas Schönes, wenn er durch göttliche Schickung (theia moira) entsteht, in dieser Meinung haben sie den Namen eingeführt. (Phdr. 244af.) Die dritte Eingeistung und Wahnsinnigkeit (mania) von den Musen ergreift eine zarte und heilig geschonte Seele aufregend und befeuernd, und in festlichen Gesängen und andern Werken der Dichtkunst tausend Taten der Urväter ausschmückend bildet sie die Nachkommen. Wer aber ohne diesen Wahnsinn (manias) der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht, und auch seine, des Verständigen (sôphronountos) Dichtung, wird von der des Wahnsinnigen (mainomenôn) verdunkelt. Soviel und noch mehreres kann ich rühmen von des Wahnsinnes, der von den Göttern kommt, herrlichen Taten. (Phdr. 245a)

Die Einordnung der theia moira kann nicht einfach als abschätzig bewertet angenommen werden – schon weil Sokrates den berühmten Orakelspruch, er selbst sei der weiseste Mensch, ernst zu nehmen scheint, damit also der Mantik doch einen gewissen Wert zubilligt. Zudem zitiert er nicht eben selten die Dichter, die angeblich durch diesen göttlichen Wahnsinn getrieben werden – und nicht zuletzt sei an das daimonion erinnert, an die Tatsache, daß auch Sokrates eine dämonische Wahrnehmung oder Wahrnehmungsfähigkeit sich selbst zuordnet. Diese dämonische Wahrnehmung aber ist keine treibende Kraft, sondern eine inhibierende, verbietende, Einhalt gebietende Kraft – anders als die dichterische theia moira. Der Beweis, daß die Dichter und die Rhapsoden ohne technê und epistêmê operieren, setzt sie in erster Linie den Sophisten entgegen, sofern die Sophisten als die Scheinfechter des Euthydemos verstanden werden. Die theia moira ist noch kein hinreichender Grund, die Dichter auch den Philosophen entgegenzusetzen, dafür bedarf es einer weitergehenden Argumentation. Diese baut darauf auf, wie die göttliche Begeisterung, der Wahnsinn weitergegeben wird vom Gott an den Dichter, vom Dichter an den Rhapsoden und von diesem weiter an die Zuhörer oder Zuschauer, die theatai. Für diese Mitteilung benutzt Sokrates das Bild des Magneten und der Ringe: SOKRATES: […] Nämlich dies wohnt dir nicht als Kunst (technê) bei, gut über den Homeros zu reden, wie ich eben sagte, sondern als eine göttliche Kraft (theia dunamis), welche dich bewegt, wie in dem Steine, der vom Euripides der Magnet, gewöhnlich aber der Herakleiische genannt wird. Denn auch dieser Stein zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe, sondern er teilt auch den Ringen die Kraft mit, daß sie eben dieses tun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe ziehen, so daß bisweilen eine ganze lange Reihe von Eisen und Ringen aneinanderhängt;

PLATONS GESICHTER | 171 allen diesen aber ist ihre Kraft von jenem Steine angehängt. Ebenso auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe anderer, durch sie sich Begeisternder. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst (ek technês), sondern als Begeisterte (entheoi) und Besessene alle diese schönen Gedichte, und ebenso die rechten Liederdichter, so wenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind, in vernünftigem Bewußtsein (emphrones) tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein (emphrones) diese schönen Lieder, sondern wenn sie der Harmonie (harmonian) und des Rhythmus (rhuthmon) erfüllt sind, dann werden sie den Bacchien ähnlich, und begeistert, wie diese aus den Strömen Milch und Honig, nur wenn sie begeistert sind, schöpfen, wenn aber ihres Bewußtseins mächtig (emphrones), dann nicht, so bewirkt auch der Liederdichter Seele dieses, wie sie auch selbst sagen. Es sagen uns nämlich die Dichter, daß sie aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen pflückend, diese Gesänge uns bringen wie die Bienen, auch ebenso umherfliegend. Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden (entheos) ist und bewußtlos (ekphrôn) und die Vernunft (nous) nicht mehr in ihm wohnt. (Ion 533dff.)

Der Dichter kann erst dichten, wenn er ver-rückt ist, aus der phronêsis oder dem nous hinaus gerückt ist (ek-phrôn). So lange er sich in der phronêsis oder dem nous befindet, wird er nicht dichten können. Das göttliche Vermögen (theia dunamis) treibt ihn – so Sokrates – aus dem Verstand oder der Vernunft hinaus. Diese Ver-rückung kommuniziert der Dichter dem Rhapsoden, dieser wiederum dem theatês. Damit allerdings ist noch nicht gesagt, worin diese Ver-rückung besteht; es wird lediglich festgestellt, daß eine solche Ver-rückung stattfindet. Worin die Ver-rückung besteht, wird im zweiten Schritt gezeigt: SOKRATES: Komm aber, und sage mir auch dies, Ion, und verheimliche es mir nicht, was ich dich fragen will. Wenn du die Verse schön vorträgst und deine Zuschauer (theômenous) am meisten hinreißest, es sei nun, daß du den Odysseus singst, wie er auf die Schwelle springt, sich den Freiern offenbart und sich die Pfeile ausgießt vor die Füße, oder den Achilleus, wie er gegen den Hektor dringt, oder auch etwas Klägliches von der Andromache, oder der Hekabe, oder dem Priamos; bist du dann bei völligem Bewußtsein (emphrôn), oder gerätst du außer dich (exô sautou gignei) und glaubt deine begeisterte Seele bei den Gegenständen (para tois pragmasin) zu sein, von welchen du sprichst, sie mögen nun in Ithaka sein, oder in Troja, oder wo sonst das Gedicht sich aufhält? ION: Welchen deutlichen Beweis hast du mir da aufgestellt, Sokrates! Denn ich will dir nichts davon verheimlichen. Wenn ich nämlich etwas Klägliches vortrage (legô), so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas Furchtbares und Schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht, und das Herz pocht. (Ion 534bf.)

Die Ver-rückung erweist sich darin, daß der Rhapsode nicht bei sich ist, sondern bei den Gegenständen, von denen er redet, daß er abwesend ist von der phronêsis, dafür aber anwesend bei den Dingen, die von seinen Gesängen vorgestellt werden. Es ist der Gesang, der diese Gegenstände zur Anwesen-

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heit bringt, die rhythmischen Reden des Rhapsoden. Die Gegenstände (pragmata) werden durch diese Reden zur Anwesenheit gebracht – um den Preis der Abwesenheit der phronêsis. Diese Form der Rezeption läßt sich auf einen Namen bringen: theatês, der Beschauer. Denn auch die Zuhörer des Rhapsoden werden aus der phronêsis hinausgetrieben: SOKRATES: Und weißt du wohl, daß ihr auch unter den Zuschauern (theatôn) gar viele eben dahin bringt? […] SOKRATES: Merkst du nun, daß dieser Zuschauer (theatês) der letzte ist von den Ringen, von welchen ich sagte, daß sie aus dem herakleotischen Stein einer durch den andern ihre Kraft empfingen? Der mittlere aber bist du, der Rhapsode und Darsteller (hupokritês), und der erste ist der Dichter selbst. Der Gott aber zieht durch alle diese die Seelen der Menschen wohin er will, indem er der einen Kraft an den andern anhängt. Und wie an jenem Steine, so hängt auch hier eine gar lange Reihe von Chorsängern und Lehrern des Chors und Unterlehrern, die wieder seitwärts angehängt sind, an den an der Muse hangenden Ringen. Und der eine Dichter hängt an dieser, der andere an jener Muse; wir nennen das zwar, sie besitzt ihn, das ist aber ziemlich dasselbe, denn sie hält ihn doch immer. (Ion 535dff.)

Die Beschauer der Gesänge der Rhapsoden, wie auch die Beschauer der Bühnenschauspieler (hupokritai), werden aus der phronêsis herausgetrieben, sind nicht mehr bei sich, sondern bei den Dingen. Diese Dinge aber werden – zumindest im Falle des Rhapsoden – nur durch das legein, das Reden, Erzählen und Singen gegeben. Es ist eine gewisse Form des Redens, eine gewisse Form von logoi, die dafür sorgt, daß der theatês meint, bei den Dingen zu sein. Dieses legein produziert etwa andere Orte oder Räume, an denen der theatês zu sein meint, während er zugleich die phronêsis aufgegeben hat. Dies ist die ver-rückende Macht des legein, etwas sehen zu lassen mit dem Preis, daß der theatês sich selbst dabei verlassen muß. Man könnte es die suggestive, imagogene Rede nennen – eine Rede, vor der der Philosoph sich zu hüten hat, denn mit dieser Rede läßt sich keine skepsis durchführen. Für den Rhapsoden ist es die verrückende Anschauung, die ihn versetzt. Der Philosoph hingegen richtet sich in seinem Betrachten und Sehen auf anderes: SOKRATES: Wahrlich, oft habe ich schon euch Rhapsoden beneidet um eure Kunst. Denn sowohl daß auch am Leibe immer geschmückt zu sein und euch aufs schönste zu zeigen eurer Kunst angemessen ist, als auch daß ihr in der Notwendigkeit seid mit vielen andern trefflichen Dichtern euch zu beschäftigen, besonders aber mit dem Homeros, dem trefflichsten und göttlichsten der Dichter, und seinen Sinn (dianoian) zu verstehen, nicht seine Worte (epê) nur, das ist beneidenswert. Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht, was der Dichter meint (ta legomena hupo tou poiêtou); da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn des Dichters überbringen (hermênea tou poiêtou tês dianoias) soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen (gignôskonta), was der Dichter meint (ho ti legei), ist unmöglich. Dies alles also ist beneidenswert. (Ion 530bf.)

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Der Philosoph richtet bei Reden, die ihm vorgesetzt werden, mit denen er sich auseinandersetzt, die er vielleicht zu ent-setzen hat, auf die dianoia, die etwas anderes ist als die suggestive Kraft der Reden, die lediglich die Verrückung produziert. Diese dianoia aber setzt voraus, daß derjenige, der sich mit Reden auseinandersetzt etwas von dem versteht, wovon die Rede ist. Die Vokabel, die hier mit der dianoia so verbunden ist, daß sie als das Verfahren der dianoia zu verstehen ist, ist gignôskein. Die zweite Hälfte des Ion dreht sich daher um die Frage des gignôskein.229 Es steht die Frage zur Beantwortung an, wer diese gnôsis am besten durchzuführen im Stande ist, etwa wenn Homer von Wagenführern, der Fischerei oder der Wahrsagerei handelt (Ion 537a-539a). Das Ergebnis der Erörterung zeigt, daß es der Rhapsode nicht sein kann, sondern daß die Äußerungen über die Wagenlenker nur von erfahrenen Wagenlenkern beurteilt werden können, die Äußerungen über die Wahrsager nur von kundigen Wahrsagern: SOKRATES: Also wer irgendeine Kunst (technên) nicht besitzt, der wird auch was vermöge dieser Kunst geredet (legomena) oder getan (prattomena) wird nicht richtig zu beurteilen (gignôskein) vermögen. ION: Wahr gesprochen. SOKRATES: Wirst nun wohl über die Verse, welche du eben hersagtest, ob sie gut gesagt sind vom Homeros oder nicht, du besser urteilen können oder ein Wagenführer? ION: Ein Wagenführer. SOKRATES: Denn du bist ein Rhapsode und kein Wagenführer. ION: Nein. SOKRATES: Und die Kunst der Rhapsoden ist eine andere als die der Wagenführer? ION: Ja. SOKRATES: Wenn also eine andere, so ist sie auch Erkenntnis anderer Gegenstände (epistêmê heterôn pragmatôn). ION: Ja. (Ion 538af.)

Auch wenn Ion sich gegen Ende noch einmal gegen die Folgerung sträubt, daß er nichts versteht von den Dingen, von denen er oder Homer redet (wenn er behaupten wird, doch wohl wenigstens als Rhapsode ein hervorragender Heerführer zu sein), kommt die Erörterung mit ihm zu einem ähnlichen Ergebnis, wie mit den beiden Sophisten im Euthydemos: er versteht nichts von den Dingen, von denen er redet. Wo aber die beiden Sophisten über eine überlegene technê verfügten, da liegt bei Ion der Mangel gerade darin, über keine technê, sondern lediglich über die „begeisterte“ Schwärmerei, die tatsächlich ent-geisterte und ver-rückte Schwärmerei ist, zu verfügen. Diese entgeisterte Schwärmerei aber, die sich mit der dianoia nicht vereinbaren läßt, trägt den Namen theatês, abgeleitet von theaomai: das ver-rückte, ek-statische, rückhaltlose Da-Sehen, eine gewisse visio malefica, die nicht von einem festen Standpunkt aus den Blick auf Sätze und ihren Wahrheitsgehalt richtet, noch auch von einem Standpunkt aus einen Ausblick nimmt, sondern gänzlich in diesem Schauraum aufgeht. 229 Wiederum ist der Dialog relativ exakt in der Mitte geteilt (536d), beginnt in der Mitte eine neue Untersuchung, ähnlich etwa wie im Lysis.

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Zwischen Entgeisterung und Begeisterung Im Gorgias findet sich der theatês als Zuschauer oder Zuhörer des Rhetors auf der Theaterbühne. Auch hier ist er derjenige, der durch eine gewisse Macht des logos (im Gorgias ist es die Überredung, peithô) ver-rückt wird: SOKRATES: Und wie die Ausführung der Chöre und die Dichtung der Dithyramben, erscheint dir die nicht auch als eine solche [bloß lusterzeugende Kunst; A.d.V.] ? Oder meinst du, Kinesias, der Sohn des Meles, denke im mindesten darauf, wie er so etwas sagen will, wodurch seine Zuhörer (akouontes) besser werden? oder nur, wodurch er dem großen Haufen (ochlô tôn theatôn) derselben gefallen will? KALLIKLES: Das letzte wohl ist deutlich genug, vom Kinesias nämlich. SOKRATES: Nun, und sein Vater Meles? glaubst du, der habe auf das Beste Rücksicht genommen (pros to beltiston blepôn) bei seinem Spiel auf der Lyra? oder er ja wohl nicht einmal auf das Angenehmste; denn er quälte mit seinem Gesang die Zuhörer (tous theatas). Aber überlege nur (skopei), scheint dir nicht das ganze Spiel auf der Lyra und die dithyrambische Dichtkunst nur zum Vergnügen erfunden zu sein? KALLIKLES: Das scheint mir. SOKRATES: Und jene prächtige und bewundernswürdige Dichtung der Tragödie, worauf wendet die soviel Fleiß? Meinst du, ihr Zweck und ihre Bemühung sei nur darauf gerichtet, den Zuschauern (theatais) Wohlgefallen zu erregen, oder auch darauf durchzusetzen, daß, wenn ihnen etwas zwar angenehm ist und wohlgefällig, aber verderblich, dieses nicht gesagt werde, und wenn dagegen etwas ihnen widerlich ist, aber heilsam, daß sie dieses sage und singe, mögen sie sich nun daran ergötzen oder nicht? Auf welches von beiden scheint es dir die tragische Dichtkunst angelegt zu haben? KALLIKLES: Es ist ja offenbar, Sokrates, daß sie mehr auf die Lust ausgeht und darauf, den Zuschauern (theatais) gefällig zu sein. (Gorg. 501eff.)

Bereits in der Bestimmung der Zuhörer der Tragödie wie auch der Rhetorik als theatai liegt offenbar die Verurteilung dieser Künste begründet, verwandeln sie doch eben ihre Zuschauer oder Zuhörer in geistlose Gaffer, denen nur Angenehmes geboten wird statt Aufklärung über das beste. Das theôrein als die ver-rückte Form der Anschauung ist vor allem mit einer gewissen Lust der Anschauung verbunden, etwa im Gorgias: SOKRATES: Wie aber dies? Alles Schöne, wie Körper, Farben, Gestalten, Töne, Handlungen, nennst du das so ohne irgendeine Beziehung (ouden apoblepôn) auf etwas schön? Wie, zuerst schöne Körper (sômata), nennst du die nicht entweder in Beziehung auf den Gebrauch schön, wozu jeder nützlich ist? Oder in Beziehung auf eine Lust, wenn sie beim Anschauen den Anschauenden ergötzen? (Gorg. 474d)

Von theaomai ist die theôria und das theatron abgeleitet. Die theôria ist allerdings nicht genau das, was neuzeitlich darunter verstanden wird, ein geschlossenes wissenschaftliches System etwa. Ähnlich wie bei der opsis und

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der skepsis durchdringen sich im theôrein der Sehende (theôros230 oder theatês231), der Vorgang des Sehens (theôrein232 oder theaomai233), das Sehen (theôrêsis234) und das Gesehene (theôrêma235, theôria236 oder theama237). Nur eine Winzigkeit, ein Akzent, trennt die Beschauung (théa)238 von der Göttin (theá). An wenigen Stellen kommt dieses ver-rückende Sehen, diese Bewunderung mit den Augen in den frühen Dialogen vor.239 Wo es aber vorkommt verweist es deutlich auf diese ent-geisternde Bewunderung, die im theaomai und im theôreô liegt, etwa im Charmides, wenn zu Beginn beschrieben wird, wie die Schönheit des Charmides die Anwesenden in Bewunderung versetzt: Und daß es uns Männern so erging, war weniger zu verwundern; allein ich hatte auch auf die Knaben acht (prosechon ton noun), daß keiner von ihnen anderwärts hinsah (eblepen), auch nicht der kleinste, sondern alle betrachteten (etheônton) wie ein Götterbild nur ihn. (Charm. 154c)

Das erste Wort des Laches war tetheasthe, die Beschauung des Fechters, von der aber keine Erkenntnis für die Gesprächspartner ausgeht, die sie vielmehr zum gnônai bringt (vgl. Lach. 178af.). In der theôria ist die – neuzeitlich so zu verstehende – Ambivalenz der opsis in vollem Maße vorhanden, ist doch die theôria zugleich die Schau, das Schauen, wie auch das Geschaute, das Schauspiel, der Festaufzug. So wird im Phaidon die Gesandtschaft zu Ehren des Apollon, während deren Reise Sokrates im Gefängnis auf die Hinrichtung wartet, als theôria bezeichnet, als Festaufzug.

230 Gemoll: Eintrag theôros: „(aus thêFaForos = thea u. Foros zu Foraô, ahd. wara.(vgl. wahr-nehmen [!], also eig. das Anschauen wahrend) 1. Zuschauer, Zeuge […] 2. Festgesandter, zur Orakelbefragung Ausgesandter, überh. Pilger […]“. 231 Gemoll: Eintrag theatês: „Zuschauer, Beobachter; im bes. 1. Augenzeuge. 2. Zuhörer.“ 232 Gemoll: Eintrag theôreô: „1. Zuschauer sein, beschauen, zuschauen, betrachten, wahrnehmen […]; im bes. a. milit. Fachausdruck: mustern. b. Zuschauer bei Festen oder öffentlichen Spielen sein, ihnen beiwohnen […] 2. geistig anschauen, erwägen, überlegen […]“. 233 Gemoll: Eintrag theaomai: „1. schauen, beschauen, mit Interesse od. staunend betrachten, bewundern […] 2. im Geiste betrachten, erkennen […]“. 234 Gemoll: Eintrag theôrêsis: „Beschauung, Betrachtung“. 235 Gemoll: Eintrag theôrêma: „Angeschautes. 1. Schauspiel. 2. (geistig) Lehrsatz.“ 236 Gemoll: Eintrag theôria: „1. das An- oder Zuschauen […]; im bes. a. Festschau, Schaufest, Schauspiel b. Festgesandtschaft, Festzug, z.B. nach Olympia od. nach Delos. 2. wissenschaftliche Betrachtung […]“. 237 Gemoll: Eintrag theama: „1. Anblick, Schauspiel. 2. Sehenswürdigkeit.“ 238 Gemoll: Eintrag théa: „(W. thaF, vgl. thaeomai, thaomai I. u. thauma) 1. Das Anschauen […], auch: der Platz zum Anschauen […] 2. Anblick, Schauspiel […]“. Auch Frisk bringt théa mit thauma etymologisch in Verbindung. Gemoll: Eintrag thauma: „(W. thaF vgl. thea) 1. Wunder, wunderbarer Anblick, öfter: Kunststück, Gauklerstück […] 2. Verwunderung, das Staunen […]“. 239 Theôria kommt erstmals im Phaidon vor, theôros erstmals im Phaidros. Theôreô kommt insgesamt nur etwa vierzig Mal in den Dialogen vor, theaomai an etwas mehr als einhundert Stellen.

176 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN PHAIDON: Durch Zufall fügte es sich so, Echekrates. Es traf sich nämlich, daß gerade an dem Tage vor dem Gericht das Schiff (ploiou) war bekränzt worden, welches die Athener nach Delos senden. ECHEKRATES: Was hat es damit auf sich? PHAIDON: Dies ist das Schiff (ploion), wie die Athener sagen, worin einst Theseus fuhr, um jene zweimal sieben nach Kreta zu bringen, die er rettete und sich selbst auch. Damals nun hatten sie dem Apollon gelobt, wie man sagt, wenn sie gerettet würden, ihm jedes Jahr einen Aufzug (theôrian) nach Delos zu senden, welchen sie nun seitdem immer und auch jetzt noch jährlich an den Gott senden. Sobald nun dieser Aufzug (tês theôrias) angefangen hat, ist es gesetzlich, während dieser Zeit die Stadt rein zu halten und von Staats wegen niemanden zu töten, bis das Schiff (ploion) in Delos angekommen ist und auch wieder zurück. Und dies währt bisweilen lange, wenn widrige Winde einfallen. Des Aufzuges (theôrias) Anfang ist aber, wenn der Priester des Apollon das Vorderteil des Schiffes bekränzt; und dies, wie ich sage, war eben den Tag vor dem Gerichtstage geschehen. (Phd. 58aff.)

Will man es unternehmen, das Verständnis vom theôrein zu formulieren, wie es die frühen Dialoge bis hin zum Gorgias oder auch noch bis in den eben zitierten Passus des Phaidon hinein vorführen, muß man es als die unterste Weise des Sehens bestimmen, die philosophiefeindlichste Sichtweise der Dinge. Die Künste, die ihre Zuhörer in theatai verwandeln, die zum theôrein animieren oder es produzieren, sind diejenigen Künste die der Philosoph bekämpfen muß, weil sie die Zuhörer oder Zuschauer aus dem Geist herausrücken, ihn zur geistlosen, begriffslosen Anschauung verleiten. Die theôria ist ein ver-rücktes Beschauen, eine Art begriffloses Wohlgefallen am sinnlichen Glanz. Wie die anderen Vokabeln, die ein Sehen bezeichnen, kehrt aber auch die theôria in einer anderen Weise wieder zurück bei Platon, nunmehr als eine Art göttlicher Anschauung. Charles Mugler gibt für theôrein die Umschreibungen: „Inspicere, contemplari, contempler, betrachten, to contemplate“.240 Dabei stellt sich im Begriff der Kontemplation genau die Zweischneidigkeit ein, die das platonische theôrein kennzeichnet: das geistlose Anschauen von aisthêta, von sinnlich wahrnehmbaren Dingen also, wie der schönen Gestalt des Charmides, zugleich aber eben auch das Anschauen der höchsten Form des Wissens, eine „geistlose“ Schau des Geistes selbst – was nur scheinbar ein Widerspruch ist. Bei Bruno Snell heißt es zu theasthai und theôrein: theasthai etwa ist gewissermaßen sehen und dabei den Mund aufsperren (wie ‚gaffen‘, oder wie ‚schauen‘ im Süddeutschen, ‚da schaust du‘ usw.). […] Das [theôrein; A.d.V.] ist keine Geste des Sehens, auch keine Emotion beim Sehen, und kein Sehen eines bestimmten Gegenstandes (so sehr das zunächst auch der Fall gewesen sein mag), überhaupt kein anschaulicher oder affektiver Modus des Sehens, sondern eine Intensivierung der eigentlichen und wesentlichen Funktion des Sehens. Betont wird die Tätigkeit, daß das Auge einen Gegenstand wahrnimmt.241

Die „Intensivierung“, die Snell im theôrein ausmacht, ist dasjenige, was Platon als ek-phrôn beschreibt: im Sehen findet nichts als ein Sehen statt, der 240 Mugler: Dictionnaire, Eintrag theôrein, 200ff. 241 Snell: Entdeckung, 15.

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Sehende ist sozusagen „ganz Auge“. Die gleiche Bewegung, „ganz Auge“ zu werden, findet sich auch auf dem höchsten Punkt platonischer Lehre wieder, in einer göttlichen Anschauung, von der im Höhlengleichnis in der Politeia die Rede ist: Kommt dir das wunderbar (thaumaston) vor, fuhr ich fort, daß von göttlichen Anschauungen (theiôn theôriôn) unter das menschliche Elend versetzt, einer sich übel gebärdet und gar lächerlich erscheint (phainetai), wenn er, solange er noch trübe sieht (ambluôttôn) und ehe er sich noch an die dortige Finsternis hinreichend gewöhnt hat, schon genötigt wird, vor Gericht oder anderwärts zu streiten über die Schatten (skiôn) des Gerechten oder die Bilder (agalmatôn), zu denen sie gehören, und dieses auszufechten, wie es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen (idontôn) haben? (Rep. VII, 517df.)

Was diese göttlichen Anschauungen sind, wird so ausgeführt: Die jetzige Rede aber, sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele eines jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie das Auge, nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern ans Helle wenden konnte, so auch dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen (theômenê) des Seienden und des glänzendsten unter den Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute; nicht wahr? (Rep. VII, 518c)

Die theôria richtet sich auf das wahre Seiende und das Glänzendste unter dem Seienden, die Sonne der idea tou agathou, die Sonne des Guten. Allerdings bedarf es einer erheblichen Anstrengung, um die theôria, diese Beschauung auszuhalten, wie bereits in der Drei-Welten-Lehre des Phaidon, nach der Flucht in die logoi, die Sokrates verkündet, erzählt wird von der psuchê, die sich ihrer ästhetisch-körperlichen Erdenschwere entledigt hat und vogelgleich in den Lüften des logos schwebt, von dort aus in den Ort jenseits des Himmels schauen kann, an dem sich die ewigen Wesenheiten befinden: Denn wenn jemand zur Grenze der Luft gelangte oder Flügel bekäme und hinaufflöge, so würde er dann hervortauchen und sehen, wie hier die Fische, wenn sie einmal aus dem Meer heraustauchen, was hier ist, sehen, so würde dann ein solcher auch das Dortige sehen (katidein) und, wenn seine Natur die Betrachtung (theôrousa) auszuhalten vermöchte, dann erkennen (gnônai), daß jenes der wahre Himmel ist und das wahre Licht und die wahre Erde. (Phd. 109ef.)

Nachdem anfangs theôrein verurteilt wurde als ein entgeisterndes Schauen, ein verrückendes Betrachten, wird unter dieser selben Vokabel eine andere Schau und Betrachtung gefaßt, und zwar seit dem Phaidon, der die Spaltung innerhalb der opsis durchgeführt hatte, indem er differenzierte zwischen einem Sehen, das durch die körperlichen Augen an die psuchê vermittelt wurde, und einem solchen, das die psuchê ohne Vermittlung des Körpers anstellte. Während die Ent-Geisterung durch theôrein besonders groß war, da das Auge ganz bei den Dingen war, anstatt eine kritische Distanz zu wahren, ist in derselben ent-rückenden Eigenschaft des theôrein der Vorteil begründet:

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Auch als „geistige“ Anschauung ist das Auge der psuchê ganz bei den Dingen, die es betrachtet und wird von deren Glanz bestrahlt. Die theôria ist so eher eine göttliche Sichtweise denn eine menschliche. Der Höhlenbewohner wird von seinen göttlichen Anschauungen (theiôn theôriôn) wieder unter die Menschen versetzt. Die theôria bleibt dennoch auch eine Sehweise, die sich auf Sinnliches beziehen kann, besonders als aktives theôreô, während im medialen theaomai die göttliche Schau enthalten ist. In der Politeia wechseln diese Sichtweisen sich ab, ohne auf einen nichtsinnlichen oder sinnlichen Kreis beschränkt zu werden. Die theôria ist ein Überblick als Über-Blick aufs Ganze: [Sokrates:] Wer nun eine Größe der Denkungsart besitzt und Übersicht (theôria) der ganzen Zeit (chronou) und alles Seins (ousias), hältst du es für möglich, daß den das menschliche Leben (anthrôpinon bion) etwas Großes dünke? [Glaukon:] Unmöglich, sprach er. Also auch den Tod wird ein solcher wohl nicht für etwas Arges halten? Am wenigsten wohl. (Rep. VI, 468af.)

Es ist nicht das einzelne eidos, das sich einer theôria darbietet, sondern das Schauspiel einer Gesamtheit, eines geordneten, kosmischen Ganzen. Der Blick auf dieses geordnete Ganze wird zum Vorbild dienen, um nachgeahmt zu werden: Denn wer in der Tat seine Gedanken (dianoian) auf das Seiende (pros tois ousi) richtet, o Adeimantos, hat ja wohl nicht Zeit hinunterzublicken (katô blepein) auf das Treiben der Menschen und im Streit gegen sie, sich mit Eifersucht und Widerwillen anzufüllen; sondern auf Wohlgeordnetes (tetagmena) und sich immer Gleichbleibendes (aei echonta) schauend (horôntas kai theômenous), was unter sich kein Unrecht tut oder leidet, sondern nach Ordnung (kosmô) und Regel (kata logon) sich verhält, werden solche auch dieses nachahmen (mimeisthai) und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden. Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, daß einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme (mimeisthai)? Unmöglich, sagte er. (Rep. VI, 500bf.)

Wird die Konsequenz aus der Rückkehr des theôrein gezogen, wird es zunehmend verwunderlich, daß Theater und Tragödie ausgeschlossen bleiben aus Platons Idealstadt. Folgt man konsequent der Logik des Ausschlusses, in der die Grundlage eines analogisierenden Aufstieges zunächst verurteilt und zurückgewiesen wird, um später in veränderter Form wiederzukehren, bleibt es rätselhaft, daß offenbar nur Theater und Tragödie dieser Rückkehr entgehen. Werden der Körper und seine Dimension als ganzes zurückgewiesen, so mit der Folge, daß der Körper als psuchê wiederkehrt, als ein zweiter Körper, der von den nachteilhaften Bestandteilen des Körpers gereinigt ist – durchgängig wird bei jeder Erörterung der psuchê zunächst der Körper in den Blick genommen, wird untersucht, wie es sich mit dem Körper verhält, um diese Ergebnisse auf die psuchê zu übertragen. Wird das körperliche Sehen zurückgewiesen, so mit der Konsequenz, daß es als „Sehen“ ohne körperliche Beteiligung wiederkehrt. Wird die Schrift zurückgewiesen, so mit der Konsequenz, daß sie als verbesserte Schrift, als Gedächtnis wiederkehrt. Wird das Bild zurückgewiesen, dann mit der Konsequenz, daß es als sprachliches Bild

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und Gleichnis wiederkehrt. Nur der Zurückweisung des Theaters und der Tragödie scheint dieser Rückweg verstellt. Dabei sind in der zitierten Stelle alle Bestandteile enthalten, die zu einer Qualifizierung der höchsten, noetischen Dimension als Schauspiel oder als Theater berechtigten: die geordnete Gesamtheit des Schaubaren im Sinne von kosmos wird der Tragödie en passant im Gorgias (502bff.) zugestanden, wenn von dem rhuthmos und metron gesprochen wird, die die logoi mit sich führen. Verbunden mit rhuthmos und metron sind die logoi, die die Szene kata logon organisieren können. Daß nun selbst die mimêsis in der Politeia eine positive Funktion in der Lehre Platons erfährt, macht die nach idealen Grundsätzen geordnete Welt selbst zu einem Schauspiel, das ein anderes Schauspiel nachahmt. Die Entkörperung, die Platon an allen anderen Elementen seiner Verdoppelung durchführt, wird allerdings dem Theater verweigert. Dieses wird haftbar gemacht für den Körper. Mag selbst der Mensch für Platon ohne Körper ein besserer Mensch werden, dem Theater scheint nicht einmal die Entkörperung eine Errettung vor dem Urteil zu bringen. Der Ideenschauer wird zu einem theatês ohne theatron. Dabei ist die Schauspielerei nicht der unpassendste Vergleich für die psuchê: wie ein Schauspieler schlüpft die psuchê in immer neue Körper, verkleidet sich und wird verstellt. Den Körper als Kostümierung zu verstehen, den Eintritt der psuchê in den Körper als den Eintritt eines Schauspielers in die Rolle zu beschreiben, ist daher nicht ganz abwegig. Bei Platon wird Theater aufgebaut zu einem Gegenbild, zu einem Feind, dem nicht einmal – wie den Rhetoren oder Sophisten – in einem Dialog die Gelegenheit zur Argumentation gegeben wird. In einem Vorgriff auf die weiteren Untersuchungen kann dafür die Hypothese formuliert werden, daß es zwei Gründe sind, die das Theater methodisch ausschließen: Zunächst ist da die ver-rückende Präsenz des Schauspiels, die im körperlichen Raum statthat, anstatt sich – wie Platon will – vom Körperlichen abzuwenden, um die VerRückung in einem körperlosen Reinraum zu vollziehen, auf dem Umweg über den logos. Anders als in der schriftlichen Philosophie Platons fallen Sehen und „Sehen“ nicht auseinander, lassen sich nicht scharf voneinander trennen, sondern folgen eher der Bewegung, die Kurt von Fritz für das vorplatonische Verständnis des nous konstatiert hat, einer Bewegung von ideingignôskein-noein, die insgesamt in das Feld des idein fallen. Bei Platon hingegen sind idein und noein streng geschieden, gibt es den Übergang zwischen beiden – der Drei-Welten-Lehre des Phaidros folgend – nur über die Zwischendimension des logos, von dem aus sich auf die aisthêta schauen läßt, wie auf die noêta. Der „alte Hader“ ist ein Streit zwischen zwei verschiedenen epistemischen Formationen. Der zweite Grund ist, daß sich eine Art von Theater in Platons Dialogen selbst findet, ein „gereinigtes“ Theater, in dem Figuren auftreten, die nicht genau als eidê oder sômata zu qualifizieren sind, nämlich Sokrates und seine Gesprächspartner. Das ideale Schauspiel, das Platons noêsis in den Blick nehmen soll, findet in den Dialogen statt. Der Schauplatz ist bereits idealisiert, aus der Dimension der Körper, Farben und Formen herausgelöst. Sokrates und seine Gesprächspartner haben keine Körper mehr. Der Unterschied zwischen Platons Bericht über Sokrates und seine Gesprächspartner und dem Bericht des Ion über Odysseus, Achilleus, oder Priamos und die jeweilige ent-rückende Wirkung bei den theatai ist nicht so groß, wie Platon es nahegelegt hat. Platons Schreibweise, die mit Vorsicht als „theatral“ oder „szenisch“ zu beschreiben wäre, muß ihre Verwandtschaft zum Theater verbergen, um

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selbst nicht etwa mimêsis des Theaters zu werden, mimêsis der mimêsis also. Sie muß diese Struktur ebenso verbergen, wie die ideale Stadt, die in den Nomoi entworfen wird, verbergen muß, daß sie selbst „die schönste und beste Tragödie“ ist, daß sie selbst eine Nachahmung ist, in der die Bewohner zu Schauspielern eines Dramas werden, das Platon geschrieben hat. Würde ein Theater in diesem Stadttheater sein, würde es vielleicht die gefährliche Frage nach der Legitimität des Dramatikers stellen. Das aber muß für die unangefochtene und absolute Geltung des angeblich schönsten und besten Dramas, das Platon der Stadt vorschreibt, vermieden werden. Wie sich „Theatralität“ des Schreibens und Theatralität des Theaters zueinander im einzelnen verhalten, wird im zweiten Hauptteil dieser Untersuchung zu betrachten sein.

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Analogien – sehen: nous Das Unterfangen der Dialoge Platons ist nicht unzutreffend zu charakterisieren als Versuch der Herstellung einer opsis, vorausgesetzt man behält die verschiedenen Bestandteile von opsis im Blick, die im neuzeitlichen Verständnis getrennt gedacht werden. Herstellung einer opsis meint damit zunächst, bestimmte Anschauungs-Gegenständen hervor- oder zu Gesicht zu bringen, die anschaulich-unanschaulich sind: die eidê. Zum Gegenstandscharakter der eidê schreibt Giovanni Reale, es gelte zunächst zu bedenken, daß das Wort „Idee“ im allgemeinen die griechischen Termini idea und eidos wiedergibt. Leider ist dies keine sehr glückliche Übersetzung – es handelt sich nur um eine Transliteration – ,weil „Idee“ im modernen Sprachgebrauch einen Sinn angenommen hat, der dem platonischen völlig fremd ist. Richtig würde der Terminus mit „Form“ übersetzt […]. Wir verstehen nämlich heute unter „Idee“ einen Begriff, einen Gedanken, eine mentale Vorstellung, kurz: etwas, was uns auf die psychologische und noologische Ebene verweist; demgegenüber verstand Platon unter „Idee“ das, was das spezifische Objekt des Denkens konstituiert, d.h. dasjenige, auf das sich das Denken in reiner Weise bezieht, dasjenige, ohne das das Denken kein Denken wäre; kurz: Die platonische Idee ist in der Tat kein reines Gedankending, sondern ein Seiendes, ja jenes Seiende, das absolut ist, das wahre Sein […].242

Das eidos und die idea sind keine Gedanken, sondern sind tatsächlich als dinglich Seiende gedacht bei Platon. Es handelt sich nicht um „mentale Ideen“, wie der neuzeitliche Ideen-Begriff, im Sinne eines Einfalles oder auch als angeborene Grundlagen des Denkens, nahelegt. Bei Platon ist das eidos eine Art Objekt – nur „eine Art“, weil zugleich nahezu alles vom eidos abgezogen wird, was die Objektheit eines Objektes ausmachen kann. Zweitens liegt in der Herstellung der opsis die Absicht, die Fähigkeit, diese Anschauungs-Gegenstände wahrzunehmen, zu aktualisieren und als wahr zu nehmen, nicht in der Weise, als würde einem blinden Auge die Sehfähigkeit eingepflanzt, sondern indem die vorhandene opsis des nous auf die angemessenen Gegenstände gerichtet wird. Die Termini idea und eidos leiten sich beide von idein, „sehen“, ab und wurden vor Platon im Griechischen vor allem zur Bezeichnung der sichtbaren Form der Dinge benutzt, d.h. der äußeren Form oder Gestalt, die man durch die Augen wahrnimmt; das sinnlich „Gesehene“. Daran anknüpfend bezeichnen idea und eidos im übertragenen Sinne die innere Form, die spezifische Natur einer Sache, das Wesen der Dinge.

242 Dieses und die beiden folgenden Zitate aus:Giovanni Reale: Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, übers. von Ludger Hölscher, eingel. von Hans Krämer, Paderborn u.a. 1993, 243 (1. und 2. Zitat, Kursiv im Orig.) und 245.

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Anknüpfend an die Ausführung Friedländers, Platon sei sich der Tatsache bewußt gewesen, daß er über ein „bildnerisches Auge“ gleich demjenigen des Malers verfüge, schreibt Reale: Der Beweis für dieses Bewußtsein liegt in der Tatsache, daß die Prägung der Ausdrücke „Auge des Geistes“ und „Auge der Seele“ zur Bezeichnung der Fähigkeit des Geistes, zu denken und das Wesen zu erfassen, auf Platon zurückgeht. Die Analogie ist somit eindeutig: Die Dinge, die wir mit den Augen des Körpers wahrnehmen, sind physische Formen; die Dinge, die wir dagegen mit „dem Auge der Seele“ wahrnehmen, sind nicht-physische Formen: Das Auge des Geistes nimmt intelligible Formen wahr, die reine Wesen sind. Die „Ideen“ sind somit jene ewigen Wesen des Guten, des Wahren, des Schönen, des Gerechten usw., die der Geist, wenn er das Maximum seiner Fähigkeiten erreicht und sich in der reinen Dimension des Intelligiblen bewegt, zu „intuieren“ und zu „schauen“ vermag.

Es handelt sich für Reale um eine Analogie zwischen dem Sehen und dem geistigen Erfassen – wobei das Augenmerk besonders auf die Anführungszeichen bei Reale zu richten ist. Sobald über das Eigentliche der platonischen Philosophie geschrieben wird, über dasjenige, worum es Platons Philosophie eigentlich geht, dasjenige, was er für die Eigentlichkeit der Dinge hält, wird die Rede davon uneigentlich oder metaphorisch. Das Wesentliche und wirklich Wichtige läßt sich nur in der Sprache des Unwesentlichen oder weniger Wesentlichen ausdrücken. Das Wesentliche liegt im Bild des Unwesentlichen. Dem Ansatz der Tübinger Schule (vor allem Konrad Gaiser, Hans Joachim Krämer und Giovanni Reale), sich auf die „ungeschriebenen Lehren“ Platons mehr zu beziehen als auf seine Dialoge, letztere lediglich als Hinweisgeber auf das Ungeschriebene zu verstehen, steht Wolfgang Wieland denkbar konträr gegenüber.243 Dennoch geht er in diesem Punkt mit Reale weitgehend konform, allerdings in Umkehrung der Logik. Wo Reale die Rede von den eidê als metaphorisch bestimmte – was Wieland gelegentlich ebenfalls tut –, konstatiert dieser nebenher ein Abbildungs-Verhältnis, das sich in Platons Lehre selbst findet. Zum Sonnengleichnis der Politeia schreibt Wieland: Das Sinnliche dient dazu, Intelligibles zu veranschaulichen. […] In der sinnenfälligen Welt verhält sich die Sonne so zum Sichtbaren und zum Sehvermögen, wie sich im intelligiblen Bereich die Idee des Guten zum Denkbaren und zum geistigen Erkenntnisvermögen verhält.244

Dieser Hinweis braucht aufmerksame Lektüre, denn er umfaßt zweierlei: die Rede über die eidê, wie auch die Seinsweise der eidê, ordo dicendi und ordo essendi, vereinigen sich unter dieser Bemerkung. Die Redeweise der Unei243 Vgl. zur Kritik an Reale den Anhang zu Platon und die Formen des Wissens (326-330). Hans-Joachim Krämer unterstellt dagegen Rüdiger Bubner und Wolfgang Wieland, „eine eigene Praxisphilosophie auf Platon zu projizieren“. (Hans-Joachim Krämer: Platons ungeschriebene Lehre, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuerer Forschungen, hg. von Theo Kobusch und Burkhard Mojsisch, Darmstadt 1996, 270, Fn.). 244 Wieland: Platon, 198f.

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gentlichkeit über das Eigentliche, das die eidê sind, trifft sich mit der Ordnung der Wirklichkeit, in der die sensibilia selbst nur uneigentliche „Veranschaulichungen“ des Intelligiblen sind, die vom dêmiourgos, der auf die idea blickt, in die Uneigentlichkeit des Werdenden und Vergehenden eingebildet werden (vgl. Tim. 28cf.). Der dêmiourgos ist selbst ein „Metaphoriker“, die Wirklichkeit nur eine Metapher der Wahrheit. Die metaphorische Beschreibung der eidê trifft sich mit ihrer metaphorischen Diesseitigkeit. Um sich im tatsächlichen Sehakt zu vereinigen, bedarf es zwischen Anschauungs-Gegenstand (eidos) und Sehfähigkeit (nous) eines wertvollen Bandes, des Lichtes der idea tou agathou:245 Sehvermögen und Sichtbares sind einander zugeordnet. Es bedarf indessen eines Dritten, nämlich des Lichts, um Sehenkönnen und Gesehenwerden in aktuelles Sehen und Gesehenwerden zu transformieren.246

Das Sehen bedarf des Lichts, wie die Schau der eidê der idea tou agathou bedarf. Trotzdem – so stellt Wieland fest – hat die Sonne noch eine weitere Funktion, als nur diejenige, die idea tou agathou zu veranschaulichen oder die Analogie zu komplettieren. Die idea tou agathou gehört nicht genau zur Dimension der eidê, liegt jenseits dieser Dimension, epekeina tês ousias – „jenseits des Seins“: Zwar ist die Sonne sichtbar und die Idee des Guten denkbar. Doch die Sonne gehört nicht mehr zum Bereich des Werdens, und die Idee des Guten nicht mehr zur Idee des Seins, sondern liegt noch jenseits dieses Bereichs. Die Sonne fungiert im Gleichnis nicht nur als Element einer Proportionalitätsanalogie. Sie erfüllt außerdem eine Vermittlungsfunktion zwischen den Sphären des Sensiblen und des Intelligiblen. Sie ist im Gegensatz zu allem anderen Sichtbaren nichts Entstandenes. Doch ihre Seinsweise ist deswegen nicht die der Intelligibilia.

Die Sonne regiert zugleich den einen Teil der Analogie, denjenigen der sichtbaren Dimension, in dem sie zu sehen gibt. Hier aktualisiert sie das Sehvermögen, das von der Sonne abhängig ist. Zugleich übersteigt die Sonne diese Dimension aber auch in den Bereich des Seins hinein. Dieses nicht nur aus dem von Wieland genannten Grund der Unentstandenheit, sondern zugleich der Einzigartigkeit. Es gibt keine zweite Sonne – es sei denn die mimêtai würden eine machen, indem sie einen Spiegel herumtragen. Zudem ist die Sonne selbst nicht wirklich etwas Sichtbares, da der ungeschützte und direkte Blick in die Sonne, selbst während einer Sonnenfinsternis, die Augen zerstört (vgl. Phd. 99d). Die Sonne ragt hinaus über den Bereich des Sensiblen, gehört aber nicht zum Bereich des Intelligiblen.247 245 Zur Tradition der Lichtmetaphysik noch immer grundlegend ist Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Allerdings ist der Begriff „Lichtmetaphysik“ dann etwas mißverständlich, wenn vom neuzeitlichen Verständnis des Sehens ausgegangen wird, das Licht als etwas verstanden wird, das ins Auge dringt, anstatt der platonischen Sehtheorie gemäß das Licht als Erhellung des Seienden und Verstärkung des Sehstrahls zu betrachten. – Die Tradition der LichtMetaphysik muß zugleich als eine Sicht-Metaphysik gelesen werden. 246 Dieses und das folgende Zitat aus Wieland: Platon, 199 und 200. 247 Speziell zur Funktion der Sonne in der Metaphorik der Metaphysik, wie auch zur Metapher im philosophischen Text vgl. Jacques Derrida: Die weiße Mytho-

184 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Die Augen, sprach ich, weißt du wohl, wenn sie einer nicht auf solche Dinge richtet, auf deren Oberfläche das Tageslicht fällt, sondern auf die nächtlichen Schimmer, so sind sie blöde und scheinen beinahe blind, als ob keine reine Sehkraft in ihnen wäre? Ganz recht, sagte er. Wenn aber, denke ich, auf das, was die Sonne bescheint, dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich, daß in ebendiesen Augen die Sehkraft wohnt. Freilich. Ebenso nun betrachte (noei) dasselbe auch an der Seele (psuchês). Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit (alêtheia) und das Seiende (on) glänzt (katalampei), so bemerkt (enoêsen) und erkennt (egnô) sie es, und es zeigt sich, daß sie Vernunft (noun echein) hat. Wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte, das Entstehende und Vergehende, so meint sie nur und ihr Gesicht verdunkelt sich so, daß sie ihre Vorstellungen bald so, bald so herumwirft, und wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte (noun ouk echonti). Das tut sie freilich. Dieses also, was dem Erkennbaren (gignôskomenois) Wahrheit (alêtheian) mitteilt und dem Erkennenden (gignôskonti) das Vermögen (dunamin) hergibt, sage, sei die Idee des Guten (tou agathou idean); aber wie sie der Erkenntnis (epistêmês) und der Wahrheit (alêtheias), als welche erkannt wird, Ursache (aitian) zwar ist, so wirst du doch, so schön auch diese beide sind, Erkenntnis und Wahrheit, doch nur, wenn du dir jenes als ein anderes und noch Schöneres als beide denkst (dianoou), richtig denken. Erkenntnis (epistêmên) aber und Wahrheit (alêtheian), so wie dort Licht (phôs) und Gesicht (opsin) für sonnenartig (helioeidê) zu halten, zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht, so ist auch hier diese beiden für gutartig zu halten zwar recht, für das Gute selbst aber, gleichviel welches von beiden anzusehen, nicht recht, sondern noch höher ist die Beschaffenheit des Guten zu schätzen. Eine überschwengliche Schönheit, sagte er, verkündigst du, wenn es Erkenntnis und Wahrheit hervorbringt, selbst aber noch über diesen steht an Schönheit. Für Lust also hältst du es doch gewiß nicht. Frevle nicht! sprach ich, sondern betrachte sein Ebenbild (eikona) noch weiter so. Wie? Die Sonne, denke ich, wirst du sagen, verleihe dem Sichtbaren (horômenois) nicht nur das Vermögen (dunamin), gesehen zu werden (horasthai), sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung, unerachtet sie selbst nicht das Werden ist. Wie sollte sie das sein! Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren (gignôskomenois) nicht nur das Erkanntwerden (gignôskesthai) von dem Guten komme, sondern auch das Sein (einai) und Wesen (ousian) habe es von ihm, da doch das Gute (agathou) selbst nicht das Sein (ousias) ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt (epekeina tês ousias). (Rep. VI, 508cff.)

Die opsis, die horômena und das Licht der Sonne verhalten sich zueinander wie der nous, die eidê und die idea tou agathou. Sie bilden jeweils ein Dreilogie. Die Metapher im philosophischen Text, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, übers. v. Günther R. Sigl u.a., 1., vollst. dt. Ausg., Wien 1988, 205258.

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eck, dessen höchster Punkt (Sonne und idea tou agathou) nicht auf derselben Ebene liegt wie die anderen beiden Bestandteile. Die Frage bleibt, wer in den Dialogen die Funktion des Bandes übernimmt. Im Vorgriff auf die weiteren Ausführungen kann als Leitgedanke formuliert werden: es ist Sokrates selbst und seine Stimme (phônê), die die Funktion des phôs übernimmt. Wie die Sonne gehört Sokrates selbst nicht (mehr) zum Bereich des Werdens und Vergehens, ist Sokrates – außer in der deswegen sehr aufschlußreichen Theaitetos-Trilogie – einzigartig wie die Sonne, ist er derjenige, der – zum Beispiel den Knaben im Menon – sehen macht, ohne doch selbst wirklich zu sehen, das heißt zu wissen.248 Ist die Sonne Ursache des Werdens und Vergehens, ohne selbst ein Werden zu sein, ist die idea tou agathou die Erhellung und Lichtung des Seins, ohne selbst ein Sein zu sein, so ist Sokrates ein maieutês, wie er im Theaitetos (149aff.) darlegt: selbst unfähig, ein Kind oder ein Wissen durch sich selbst hervorzubringen, hilft er doch seinen Gesprächspartnern dazu, Wissen hervorzubringen. Die Verschränkung von ordo dicendi und ordo essendi beschreibt Konrad Gaiser, der Platons Schreiben als „Dichtung“ versteht, die der Mathematik vergleichbar sei. Letztere führe über den Umweg der „seinsmäßigen Defizienz“ ihrer konkreten Objekte zur „Vergegenwärtigung“ der Seinsstruktur, sei darin der Dichtung vergleichbar: Denn auch die sprachlich-dichterische Darstellung bietet die Möglichkeit einer abbildhaften Zusammenfassung des Wesentlichen und damit der Zurückführung auf die prinzipiell einfachen Gründe und Zusammenhänge des Seienden. So ist etwa, da der sichtbare Kosmos ein Abbild der Ideenwelt darstellt, die ganze Rede über den Kosmos im „Timaios“ ein Abbild des Abbildes. Platon hat diese Rede im einzelnen Ausdruck und im Gesamtaufbau so gestaltet, daß die Entsprechung zwischen dem Gegenstand und der sprachlichen Darstellung deutlich hervortritt: in der Rede wird das Werk des Demiourgos, die Herstellung des Kosmos, bewußt ‚nachgeahmt‘. Gerade durch die doppelte Abbildung wird es nun aber möglich, den Zusammenhang zwischen der sichtbaren Welt und dem Sein überhaupt zu begreifen. Es kann nicht die Aufgabe der Rede sein, die Sache selbst unmittelbar wiederzugeben, um so besser aber kann sie, wenn sie aus der richtigen Erfahrung heraus gesprochen ist, die wesentlichen Züge der Seinsstruktur zusammenfassen und so das Ganze modellartig sichtbar machen.249

Die philosophische Schrift Platons wäre, Gaiser zufolge, ein Abbild des Abbildes – das aber ist die Qualifizierung der Maler und Tragödiendichter im 10. Buch der Politeia. Diese sind es, die Abbilder des Seienden herstellen und damit ihre Zuschauer betrügen. Die Übereinanderlagerung des metaphorischen Weltmodelles mit dem metaphorischen Darstellungsmodell macht tatsächlich die Dialoge zu Abbildern der Abbilder – und läßt sie damit unter das Verdikt gegen die Tragiker fallen.

248 „Sokrates selbst jedenfalls spricht von der Idee des Guten nur im Hinblick auf ihre Funktionen. Nirgends tritt er auf als jemand, dem eine direkte objektive Erkenntnis dieses Prinzips zuteil geworden wäre.“ (Wieland: Platon, 184). 249 Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der platonischen Schule, Stuttgart 1963, 307, kursiv im Orig.

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Damit ist die mimetische Bildlichkeit (sensibilia als mimêmata der eidê; sprachliche mimêsis der sensibilia) noch nicht am Ende, vielmehr wird das theatron noch durch ein „Drama“ ergänzt, von dem Jacob Klein schreibt: The power of word, however great, is limited. Words can be repeated or imitated; the thoughts conveyed by the words cannot: an „imitated“ thought is not a thought. But only actions of men, irrevocable as they are, lend themselves to genuine „imitation“, in life, on the stage – or in words. The dramatic and mimetic modes vary from dialogue to dialogue. But one can discern at least three different mimetic devices in them. One is that of ethological mimes, that is, of imitations of actions in which the speakers reveal themselves both in character and in thought […], in which they show their souls „naked“, to quote Plato himself. Another is that of doxological mimes, in which the falsity or rightness of an opinion is not only argued in words but also manifested by the character, the behaviour, and the actions of the speakers themselves. The third one is that of mythological mimes, inasmuch as the drama of the dialogue presents, interprets, or replaces a myth […] But in each case the medium, the vehicle, the spur of the action is uniquely the spoken word, the logos, by which Socrates lived and still lives. […] Within the dialogue, the logos thus has two functions. One is mimetic, the other argumentative.250

Die Dialoge Platons sind mimêmata der Reden des Sokrates und der Aktivitäten der „Handelnden“ in den Dialogen. Sokrates selbst ist die Hauptfigur eines mythischen Dramas, so Klein. Innerhalb dieses Dramas finden die Abbilder der Abbilder statt, von denen Gaiser schrieb, was in der Konsequenz heißt, daß durch den mimetischen Charakter die Dialoge zu Abbildern der Abbilder der Abbilder werden – damit noch eine Stufe weiter abwärts von der Wahrheit stünden, als die mimetischen Artisten und der Tragödiendichter der Politeia. Und noch immer ist die Abstufung nicht zu Ende, denn die logoi, die Platon aufzeichnet (oder aufzuzeichnen vorgibt), die von Sokrates und den anderen gesprochen wurden, sind selbst wiederum nur mimêmata: Denn die [Unwahrheit] in den Reden (logois) ist nur eine Nachahmung (mimêma) jenes Ereignisses in der Seele (psuchê) und ein später entstandenes Abbild (eidôlon), nicht mehr die unvermischte Unwahrheit. Oder ist es nicht so? Freilich. (Rep. II, 382bf.)251

Eine ganze Kaskade von mimêmata stürzt ineinander in den Dialogen, bis kaum mehr zu sagen ist, wie weit eigentlich diese Schriften wirklich auf der Leiter der Wahrheitsferne nach unten fallen könnten – würde nicht durch die Tragödie bereits ein Extremum der Wahrheitsferne bestimmt sein. Weiter

250 Klein: Plato’s Meno, 18. Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Form der mimêsis wird allerdings leider nicht ganz klar gemacht. Für die erste Form gibt Klein als Belege Charm. 154df.; Lach. 187ef.; Theait.162b und 169af. 251 Vgl. auch Theait. 206d: in die Stimme bilden sich die Gedanken ein, wie Gegenstände in einen Spiegel oder auf die Wasseroberfläche; Soph. 263e: Denken (dianoia) und Rede (logos) sind dasselbe, nur ist Denken ein logos ohne Stimme.

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hinab geht es nicht – aber kommt Platon mit seinen Schriften weiter hinauf als die Tragiker?252

Der Seh-Mann Sokrates Es ist das Ziel, sehen zu machen, was sich zu sehen gibt. Schon in den frühen Dialogen trat Sokrates gelegentlich als Arzt auf, der sich mit Augenkrankheiten beschäftigt, der die Erkenntnis als epistêmê der Sehfähigkeit verglich. In der körperlichen Wahrnehmung zeigte sich nur, daß das, was wahrgenommen wird, überwiegend nicht wahr ist, sondern phantasmatisch. Darum wurde als Korrektiv die Meßkunst der Geometer eingeführt, die zwar auf wahrnehmbare Schemen, bei der Lösung der ihnen gestellten Aufgaben gleichzeitig aber auch auf anderes blicken – dem Maler im Gorgias vergleichbar, der durch blepein versucht, ein eidos als Ordnung und Harmonie in sein Bild zu bringen. Der Blick geht nicht nur auf den anwesenden und abzumalenden Gegenstand, ebensowenig wie beim Geometer auf das in den Sand gezeichnete Quadrat, sondern geht zugleich anderswohin, wo die Ordnung und Gestalt zu finden ist, die es ins Werk zu setzen gilt, wenn ein anderes Schema – ein gesuchtes – in den Sand oder ein Bild in Farbe zu bringen ist. Der ausbrechende Blick des blepein hat zurückzukehren in die Gegenstände, die hervorgebracht werden. Der Maler und der Geometer sind die Vorbilder des kosmischen dêmiourgos, der im Blick auf die eidê als die ewigen Vorbilder, die Vorbilder in der Ewigkeit, den kosmos als Inbegriff der angeordneten Gesamtheit erzeugt. Wie der Blick des Malers ist der Blick des dêmiourgos ein blepein: Soweit nun der Urheber (dêmiourgos) dabei auf dasjenige hinblickt (blepôn), welches immer dasselbe bleibt, und sich einer Wesenheit aus diesem Gebiete als seines Urbildes (paradeigmati) bedient, um darnach die Gestalt (idean) eines Dinges und den Inbegriff seiner Kräfte (dunamin) hervorzubringen, wird es notwendigerweise sodann in allen Stücken vortrefflich geraten; soweit er aber auf das Gewordene hinblickt und sich eines Urbildes bedient, welches selber dem Entstandenen angehört, insoweit nicht vortrefflich. (Tim. 28af.)

Ziel ist ein „Sehen“, das als Ausbruch aus der Dimension der aisthêsis durch eine quasi-aisthêsis die aisthêsis in Ordnung bringt und zu kosmos und harmonia ins Verhältnis setzt. Die Bewegung des Wegsehens und Wiedersehens ist nicht die einzige, der Geometer und der Maler sind nicht die letzte Lehre dazu, vielmehr ist die letzte Lehre noch umfassender: die Abkehr von der aisthêsis hat rückhaltlos zu sein, wie sie vom blepein nicht mehr zu leisten ist, das den Blickenden noch an seinem Ort beläßt, wenn er über die Grenze hinaus blickt. Die Grenze soll nicht nur überblickt, sondern überschritten werden. Die Grenze ist der Tod. Um die körperliche Dimension zu überschreiten, ist die rückhaltlose Trennung und Lösung vonnöten. Die Trennung der psuchê vom sôma, die Trennung der eidê von den onta, die Trennung der opsis der eidê von der opsis der onta. Diese Trennung ist der erste Schritt, der Aufstieg (oder Abstieg – je nach Topologie), dem ein Wiederabstieg (oder Wiederaufstieg) zu folgen hat. Der Höhlenmensch, der aus seiner Höhle unter Schmerzen befreit wurde, hat zurückzukehren in die Höhle. Die Aufgabe des 252 Mit der „Theatralität“ und Phantasmatik der Dialoge wird sich der nächste Abschnitt dieser Arbeit ausführlich auseinandersetzen.

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Körpers ist rückgängig zu machen, die psuchê hat nicht nur aus dem Körper auszuwandern, sondern wieder in den Körper einzuwandern, aus der Körperwelt zurück in die Körperwelt. Der Mythos von Er in der Politeia beschreibt diesen Weg: einwandern ins Jenseits, zurückwandern aus dem Jenseits. Der große Vorteil des Er ist, daß er bei der Rückkehr nicht aus dem Fluß lêthê der Vergessenheit trinken muß, sondern sich erinnert an das, was er im Jenseits sah. Anders als bei allen anderen liegen bei Er die Erinnerungen an die eidê nicht ursprünglich vergessen, nicht als ursprüngliche Seinsvergessenheit vor, sondern liegen in größtmöglicher Anwesend-Abwesenheit präsent vor. Die eidê selbst sind nicht im Gedächtnis, wohl aber die Spuren, die ihre opsis hinterlassen hat. Das Gedächtnis als Einschreibung in der psuchê hat nicht die Präsenz der eidê verfügbar, sie stellt nur die Möglichkeit zur Präsentierung zur Verfügung, heraus aus einer Latenz in die Aktualität, die nicht die Wiederherstellung der ursprünglichen Anschauung ist, sondern – wie der philebeische Maler lehrt – ein Bild dieses Ursprünglichen. Die eidê werden absent bleiben, auch wenn sie sich aus dem Gedächtnis präsentieren. Eine Re-Präsentation als Wieder-Gegenwärtigung, die es möglich machte, den Prozeß der Darstellung auszuschalten, gibt es nicht. Das Ergebnis einer gelungenen anamnêsis wird ein Bild sein. Daß der Maler in der Politeia einfach verdammt würde, nämlich im 10. Buch, kann nur das Urteil einer unaufmerksamen Lektüre der vorherigen Bücher sein. Im 6. Buch heißt es, der Maler habe doch immer noch das Zweitbeste zur Verfügung: Dünken dich nun wohl die besser als Blinde zu sein, die in der Tat der Erkenntnis jegliches, was ist beraubt und kein anschauliches (enarges) Bild (paradeigma) von irgend etwas in der Seele (en tê psuchê) habend auch nicht vermögen, wie Maler (graphês), indem sie auf das wahrhafteste sehen (alêthestaton apoblepontes) und von dorther alles auf das genaueste achtgebend (theômenoi), übertrügen (anapherontes), auch das hier Gesetzliche und Schöne in bezug auf Recht und Unrecht entweder zu verzeichnen (tithesthai), wenn es erst verzeichnet (tithesthai) werden soll oder auch das Bestehende hütend zu erhalten? Nein, beim Zeus, sprach er, viel besser eben nicht! (Rep. VI, 484cf.)

Der Maler hat immerhin ein para-deigma, und zwar in der psuchê. Dieses kann er auf dem Wege des apoblepein in sich hinein beschauen (theôrein) und in sein Bild übertragen (anapherein). Ein Bild zeugt das andere Bild beim Maler, der hier graphês heiß, nicht etwa zôgraphos, eidolopoios oder skiagrapheus. Er trägt den Namen der Schrift. Sokrates selbst ist ein solcher Maler von paradeigmata, eines paradigmatischen Staates nämlich, wie er selbst verstanden haben möchte: Meinst du also, einer sei ein minder guter Maler (zôgraphon), der, nachdem er ein Urbild (paradeigma) gemalt (grapsas) hätte, wie ein vollkommen schöner Mann (kallistos anthrôpos) aussehen würde, und in seinem Bilde (gramma) alles gehörig beobachtet (apodous), hernach nicht aufzeigen könnte (apodeixai), daß es einen solchen Mann auch geben (dunaton genesthai) könne? Beim Zeus, ich nicht! sagte er.

PLATONS GESICHTER | 189 Wie nun? Haben nicht auch wir in unserer Rede (logô) ein Musterbild (paradeigma) aufgestellt (epoioumen) eines guten Staates (agathês poleôs)? Freilich. (Rep. V, 472df.)

Damit dieses paradeigma ein Bild von etwas sein kann, nicht bloßes Erscheinen ohne Sein und damit phantasma wird, wird von Platon eine ursprüngliche Schau vorgeschaltet. Die psuchê wird mit einem Auge versehen, das das Wahre nehmen kann. Er steht dafür als Garant, er ist derjenige, der nicht aus der lêthê trinken mußte – ein Garant in einem muthos, dessen Wahrheitsanspruch ebenso heikel ist, wie derjenige der Behauptung der ursprünglichen Präsenz. Die Bewegung des Mythos von Er findet sich auf allen Ebenen wieder. Die ganze Politeia kann so gelesen werden: als initialer Abstieg in das Land des Jenseits, das peiraios als „beyond-land“253 oder „Jenseits-Land“, dem der Aufstieg zum kephalon als mêgisthon mathêma folgt, dessen Höhepunkt das Sonnen- und Höhlengleichnis wäre, von dem der Abstieg wieder zurück geht bis ins Allerniedrigste, die Künste der Mimetopoieten, der Maler und zuletzt der Tragödiendichter. Die ganze Abfolge der platonischen Dialoge läßt sich gar sequentiell so anordnen, von den aporetischen Frühdialogen hinauf zu Phaidon, Phaidros, Politeia, der Schau der eidê, und wieder zurück auf die Erde, die nunmehr nach diesen dort geschauten Bildern im Timaios beschrieben, in den Nomoi entworfen wird. Selbst der Ursprung der Welt läßt sich am Ende beschreiben – im Kritias-Fragment. Nicht zuletzt ist es Sokrates selbst, der einst lebendige Unwissende, der abgetrennte und dann in die Dialoge zurückkehrende Tote, der als tot gelesen wird, um im Anschluß wiederzukehren. Hier findet sich die Bewegung von Abstieg und Aufstieg verdoppelt – je nachdem, welchen Sokrates man in den Blick nimmt. Ist es der Lehrer Platons, der in Athen herumwanderte, so wird dieser nach seinem Herumwandern in Athen durch den Schierlingsbecher zum Verschwinden gebracht, um in einen anderen Körper, den der Schrift, zurückzukehren mit all seinem Wissen – und sei es das Wissen um das Unwissen. Ist es ein anderer Sokrates, der in den Dialogen als tot zu lesen ist, so wird die Rückkehr erst nach der Lektüre erfolgen, ist der Ort des Buches das diesseitige Gegenstück zum Aufenthaltsort der psuchê im Jenseits. Es gilt dann, Sokrates als abwesend zu lesen, in der Lektüre zur Anwesenheit zu bringen, die immer nur eine AnwesendAbwesenheit bleiben kann und damit den wiedererinnerten eidê sehr ähnlich ist. Entweder kehrt der Lehrer Platons durch das Schreiben seines Schülers zurück, oder ein nie anwesender Sokrates wird durch die Lektüre anwesendabwesend. Im letzten Dialog Platons, dem Kritias-Fragment, findet sich das Ende dieses langen Weges: TIMAIOS: Wie froh bin ich, mein Sokrates, daß ich nun, gleich als ob ich von einem langen Marsche ausruhte, den Weg meiner Erörterung glücklich zurückgelegt habe! Zu dem Gotte aber, der in der Tat schon lange vorher, in meiner Beschreibung aber soeben, entstanden ist, flehe ich, er möge von derselben alles das, was das Richtige trifft, uns zum Heile gedeihen lassen, wenn wir aber wider unsern Willen etwas Irriges über den betreffenden Gegenstand vorgebracht haben, uns dafür die gebührende Strafe auferlegen. Die rechte Strafe aber besteht darin, daß er aus 253 John Sallis: Being and Logos. Reading the Platonic Dialogues, Bloomington und Indianapolis 31996, 315.

190 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Irrenden uns zu Kundigen mache. Damit wir also in Zukunft über die Entstehung der Götter die Wahrheit reden, so flehen wir ihn an, er möge uns als Heilmittel, und zwar als das vollkommenste und beste aller Heilmittel, die Erkenntnis verleihen, und nachdem wir also den Gott angerufen, überlassen wir unserer Übereinkunft gemäß dem Kritias die Fortsetzung. (106af.)

Der Tod ist ein Medium, in dem die beiden Bestandteile (psuchê und sôma) unvermittelt sind. Die Fluchtbewegung des Sokrates führte in ein anderes Medium, in die logoi. Aus der Anschauung der Dinge, die seine psuchê mit dem Erblinden bedrohte, flüchtete er sich in die logoi, um dort die Bilder der Dinge zu betrachten. Schon dort, im Phaidon, werden die logoi als Bilder betrachtet – allerdings als mimêsis ohne poiêsis, da es sich um „göttliche“ (Sophistês) Nachahmungen handeln soll: es sind Wasser-Spiegelungen, nicht etwa Malereien. Es gibt Bilder und „Bilder“, es gibt gute und schlechte Bilder, wie es gute und schlechte Schrift gibt, die eine in der psuchê geschrieben, die andere auf Papier. Ein unaufhörlicher Prozeß der Verdoppelung findet statt in den Dialogen, die auf zweierlei Weise funktioniert: durch Homonymien und Analogien.

Die Zweideutigkeit der Namen Was sich als Verhältnis von legein und horan fassen läßt, in leichter Verschiebung mit Wieland als das Zusammenspiel von propositionalem und nichtpropositionalem Wissen gefaßt werden kann, wird von Richard Robinson – erneut leicht verschoben – als Verhältnis von hypothetischer Methode und Analogie gefaßt. Die Ergebnisse seiner Betrachtung dieses Verhältnisses faßt er zusammen: (1) Very little use is actually made of the hypothetical method in these works [den mittleren Dialogen; A.d.V.]. (2) What they rely on, in order to persuade us and apparently also in order to intuit the truth, is analogy and imagery. (3) In contrast to the selfconscious discussion of hypothetical method, which is not much used in the dialogue, analogy and imagery, which are frequent, receive very little discussion. Moreover – a further accenting of the incoherence – what is said about them is mostly against them. (4) Especially is this so if we may relate to images (eikones) what Plato says about imitation (mimêsis), for he is nearly always unfavourable to imitation upon the whole.254

Die Hypothetik ist insofern mit dem logos verbunden, als das Wissen, das sich im logos zu gründen versucht, immer von einer Voraussetzung ausgehen muß, die vom logos selbst nicht eingeholt werden kann – dem Geometer, der als das Paradigma dieser Methode gilt, vergleichbar, dessen Geometrie auf Sätzen beruht, die vorausgesetzt sind. Der analogen Methode hingegen würde der Maler vermutlich am nächsten kommen, wie er im Gorgias beschrieben wird, der anderswohin blickt, um den Grund der Ordnung, die in das Bild zu 254 Robinson: Plato’s earlier Dialectic, 202. Für Robinson sind die hypothetische Methode und die Analogie die beiden zentralen Verfahren der mittleren Dialoge Platons.

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bringen ist, als voraussetzungslose Grundlage zu erfassen. Der logos und die dianoia werden immer nur zu einem solchen hypothetischen Wissen kommen, wer über hypothetisches Wissen hinausgelangen will, muß sich einer Art des Sehens bedienen.255 Als die Haupt-Analogien in Platons Denken macht Robinson vor allem zwei aus: [O]f all the ways in which the techne-episteme conception enters into Plato’s analogical thinking the two most important are these: (1) Ideas/knowledge = sensibles/opinion; and (2) ruler/people = pilot/ship’s company = physician/patients. The first of these is the major chord of all Plato’s theoretical philosophy; and the second is the major chord of all his politics until the Laws. The first is the cause of his absolute distinction between knowledge and opinion […].256

Der zweiten Linie der Analogie müßte noch die Schrift zugeordnet werden, die der Medizin aufgrund ihrer „Pharmazeutik“ (Derrida) analog ist. Großer Nachdruck ist aber auf die erste Analogie zu legen, die Robinson als „major chord“ von Platons theoretischer Philosophie versteht. Allerdings ist die Analogie zu erweitern: eidê – theôrein als noein – nous (idea tou agathou) = aisthêta – horan – omma (phôs/hêlios). Dabei verwickelt sich Platon in Inkonsistenzen, wie Robinson feststellt. In fünf Punkten werden die bereits eingeführten Relationen zwischen Hypothetik und Analogie von Robinson nochmals formuliert, und zwar zugespitzt auf ihre Inkonsistenz: Let us summarize the major incoherences in Plato’s method and methodology in his middle dialogues. (1) The demand for absolute certain knowledge seems inconsistent with the recommendation of a hypothetical method that can be only approximative. […] (2) The recommendation of a hypothetical method seems inconsistent with the fact that the methods mostly employed in the middle dialogues are analogy and imagery. (3) Plato’s doctrine that dialectic does not use the senses seems inconsistent with his frequent use of imagery, and to some extent inconsistent with the use of analogy. (4) Plato’s employment of analogy is hardly supported by his own views on analogy. (5) Plato’s use of images is condemned by his own views on images and imitation.

Unter die Bewegung der Analogie subsumiert Robinson dabei auch die Arbeit mit paradeigmata. Gerade die Inkonsistenz unter (4) dürfte daher einigermaßen schwer tatsächlich aus den Texten zu belegen sein. Wichtiger aber ist die Zusammenschau der Inkonsistenzen, die Robinson hier gibt. Mögen sie im einzelnen, wie jede allgemeine Aussage zu den Dialogen, zu modifizieren und abzuschwächen sein, sind sie in ihrem Tenor doch völlig zutreffend. Gerade die Äußerungen zur mimêsis der Künstler und zur Bildmacherei, zumal in der Politeia, lassen die Inkonsistenzen hervortreten. Robinson zeigt sich überrascht von dem „spectacle“(!) der Bilder und Analogien und der scheinbaren Unwissenheit Platons bezüglich all dieser Bilder: „the spectacle wich we have just contemplated suggests that a man might discover 255 Vgl. insbes. Rep. VII, 533cff. 256 Dieses und das folgende Zitat aus Robinson: Plato’s earlier Dialectic, 206 und 222.

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important new truths and yet be widely mistaken about the method by which he did so.“257 Es entgeht Robinson offenbar, daß er Platon hier dem Verdikt unterwirft, das sich im Ion gegen die Rhapsoden formuliert findet: die von göttlichem Wahnsinn besessenen Sänger singen begeistert-entgeistert von Dingen, die sie eigentlich selbst nicht verstehen. Aber das ist nicht der wesentliche Punkt; der liegt anderswo: alles, was Platon in seinen Schriften hat, sind logoi. Durch logoi aber, so lehren es diese Schriften, läßt sich immer nur zum hupotheton gelangen. Um von den logoi zum an-hupotheton zu kommen, bedarf es eines Aus-Blicks aus den logoi. Gesetzt den Fall, Platon habe nicht so unbemerkt mit der Methode der Analogie und Bildmacherei gearbeitet, wie Robinson es ihm unterstellt: dann hätte er sich selbst unter die mimêtai einzuordnen gehabt. Er hätte eingestehen müssen, daß in den geschriebenen logoi das „absolute certain knowledge“ nicht erreicht werden kann. Und genau das hat er im 7. Brief getan. Zugleich aber hat er Bilder und Analogien integriert in sein Schreiben – im Wissen darum, daß er es mit logoi und also mit dem hupotheton zu tun hat. So unternimmt es Platon, bewußt inexplizit, die Schwäche des hupotheton mit den Analogien zu stützen. Die Schwäche der logoi, denen sich der Aus-Blick zugesellen muß, wird dadurch zu überwinden versucht, daß der Aus-Blick in die Dialoge integriert wird, daß Sokrates eine Figur ist, die nicht nur sagen (legein), sondern auch sehen kann, die sagen kann, daß sie etwas sieht (oder nicht sieht) und was sie sieht (oder nicht sieht). Daß dieser Aus-Blick im 2. Buch der Politeia (368d) als ein Blick auf Schrift und Buchstaben analogisiert wird, kann als ein fast schon aufdringlicher Hinweis verstanden werden. Für Robinson ist diese Stelle die Präsentation der „nature of analogy in an analogical manner“.258 Der Aus-Blick, der sich als Analogie in der Schrift findet, erhält dadurch seine Berechtigung, daß die Schrift selbst zu etwas wird, auf das der Aus-Blick des Lesers fällt. Die Schrift selbst im Buch wird zu einem anderen Raum, einem anderen Ort oder einem Theater. Hätte Platon das analogische Verfahren in diesem Raum der expliziten Reflexion unterzogen, hätte er vermutlich nicht anders gekonnt, als sich selbst in die Reihe der Verurteilten im 10. Buch der Politeia einzuordnen – denn diese Künstler sind es, die alle Dinge verdoppeln, wie es der Spiegel tut: „Verdoppeln“ ist die Grundoperation der Analogie Platons. Eine weitere Strategie Platons liegt darin, einem Signifikanten einen neuen Referenten beizugesellen. Am deutlichsten wird dies im Zentralbegriff der Ideenlehre, dem eidos selbst. Anfangs nämlich bezeichnet das eidos nichts anderes als die körperliche Gestalt, zumal von Lysis im Lysis und von Charmides im Charmides: Sie nennen ihn eben nicht oft bei seinem Namen, antwortete er, sondern er wird noch nach dem Vater genannt, weil sein Vater sehr bekannt ist. Auch bin ich gewiß, daß der Knabe dir keineswegs unbekannt ist von Gestalt (eidos), und an der allein kann man ihn genug wiedererkennen. (Lys. 204e) Nun, Sokrates, wie findest du den Jüngling? Nicht schön von Angesicht? Über die Maßen, sagte ich. Und doch, sprach er, wenn er sich entkleiden wollte, würdest du sagen, sein Gesicht sei nichts, so durchaus schön ist er von Gestalt (eidos). (Charm. 154d) 257 Ebd., 222. 258 Ebd., 211.

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Was hier eidos heißt, wird später morphê heißen oder schêma. Das eidos ist etwas anderes, als das eidos, dessen Namen es tragen wird, übernehmen wird, das sich einen anderen Namen zu suchen haben wird, während das „neue“ eidos immer darauf bauen kann, nicht etwa ein unbekannter Name zu sein. Das eidos ist nicht dasselbe wie das eidos, wohl aber – so weit sich sehen läßt, ist eidos dasselbe wie idea. Zwei Namen, die dieselbe Sache bezeichnen, während der eine von beiden Namen zwei ganz verschiedene Dinge bezeichnet. Die Bewegung ist dieselbe, wie die von Schrift zur Schrift, von der Einschreibung oder Aufmalung auf Papier hin zur Einschreibung in die psuchê. Die graphê ist nicht dasselbe, wie die graphê, da die eine mnêmê ist, die andere nur hupomnêma. Zudem ist graphê sowohl Schrift als auch Bild. Vielleicht die wichtigste Dimension dieser Homonymien, wo sich nicht mehr klar unterscheiden läßt, ob es sich noch um Homonymien handelt, bilden das Sehen und das Auge. Ist es ein Sehen der psuchê, das die eidê im Jenseits in den Blick nimmt? Ist es also keine Homonymie, sondern tatsächlich ein Sehen? Oder ist es nur etwas, das sich mit dem Begriff des Sehens benennen läßt, ohne doch ein Sehen zu sein? Wäre die Begrifflichkeit des Sehens nur eine Metaphora oder doch eine Analogie? Die Operationen mit dem Sehen und dem Auge sind zumindest in den Dialogen Phaidon, Phaidros und Politeia zahlreich: Nun aber, sprach ich, geht die dialektische Methode allein auf diese Art alle Voraussetzungen aufhebend gerade zum Anfange selbst, damit dieser fest werde, und das in Wahrheit in barbarischen Schlamm vergrabene Auge der Seele (tês psuchês omma) zieht sie gelinde hervor und führt es auswärts, wobei sie als Mitdienerinnen und Mitleiterinnen die angeführten Künste gebraucht, welche wir zwar mehrmals Wissenschaften genannt haben, der Gewohnheit gemäß, die aber eines andern Namens bedürfen, der mehr besagt als Meinung, aber dunkler ist als die Wissenschaft — wir haben sie aber schon früher irgendwo Verständnis genannt; indes, denke ich, müssen die nicht über die Wörter streiten, denen eine so große Untersuchung wie uns vorliegt. (Rep. VII 533cff.)

Hier wird also das Auge der psuchê aus dem barbarischen Schlamm herausgezogen. Heißt das, daß die psuchê tatsächlich eine eigene Sehfähigkeit hat? Oder gibt es etwas in der psuchê, das sich metaphorisch als Sehfähigkeit und Auge benennen läßt? Gibt es ein Auge und ein „Auge“, oder gibt es ein Auge und etwas, das metaphorisch so zu nennen wäre? Das farblose (achrômatos), gestaltlose (aschêmatos), stofflose (anaphês), wahrhaft seiende Wesen (ousia ontôs ousa) hat nur der Seele Führer (psuchês kubernêtê), die Vernunft (nô), zum Beschauer (theatê), um welches her das Geschlecht der wahrhaften Wissenschaft (alêthês epistêmês) jenen Ort (topon) einnimmt. (Phdr. 247d)

Kann etwas, das farblos, stofflos und gestaltlos ist, überhaupt angeschaut werden? Wenn so etwas angeschaut werden kann – kann es dann vom nous angeschaut werden? Ist der nous also eine Sehfähigkeit, oder läßt sich von ihm nur sagen, daß er auf eine Art und Weise in Kontakt mit diesem nur negativ Beschreibbaren wahren Wesen steht, für die das Sehen ein guter Vergleich wäre? Es würde voraussetzen, daß sich irgendetwas im Sehen befindet,

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das unter Ausschluß von allem Sichtbaren noch das Sehen charakterisiert. Es könnte nichts anderes sein als die Plötzlichkeit der Wahr-Nehmung der Wahrheit des Wesens, verbunden mit der notwendigen Äußerlichkeit des gesehenen Gegenstandes. [E]s ist uns wirklich ganz klar, daß, wenn wir je etwas rein (katharos) erkennen wollen, wir uns von ihm losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen müssen (psuchê theateon auta ta pragmata). (Phd. 66df.)

Man muß sich vom Körper losmachen, um die Dinge selbst rein anzuschauen. Wie soll sich ein reines Schauen vollziehen? Gibt es eine „reine“ Schau? Es bleibt ein völlig entkörperter Begriff übrig, von dem immer nur weitere Abzüge vorgenommen werden, die Farbe, die Gestalt, der Stoff, der Körper. Immer weitere Subtraktionen werden vorgenommen, um zur Reinheit zu kommen. Handelt es sich damit noch um ein Sehen oder schon um ein „Sehen“? Man könnte ja auf die Idee kommen, die Schau der Ideen sei eine Schau nach oben zum Himmel mit den körperlichen Augen, worüber Sokrates sich lustig macht: Gar vornehm, sprach ich, scheinst du mir die Kenntnis von dem was droben ist bei dir selbst zu bestimmen was sie ist. Denn du wirst wohl auch, wenn einer Gemälde an der Decke betrachtet (theômenos) und hinaufgereckt etwas unterscheidet, glauben, daß der mit der Vernunft (noêsei) betrachtet (theôrein) und nicht mit den Augen (ommasi). (Rep. VII, 529b)

Es geht nicht darum, nach oben zu schauen, zum Himmel und zu den Sternen, auch wenn die Lehre von der Welt der Fische im Phaidros das nahelegen könnte. Die obere Welt ist nicht eine oben liegende Welt, sondern eine völlig andere Welt. Man muß nicht nach oben sehen, sondern „sehen“. Dahin führt die dialektische Methode. Nicht etwa so, daß diese Methode selbst das Sehen bewerkstelligte, sondern nur auf eine Weise, die bis an den Rand und Abgrund führt, von dem her erst das „Sehen“ möglich wird: Ich verstehe, sagte er, zwar noch nicht genau, denn du scheinst mir gar vielerlei zu sagen, doch aber, daß du bestimmen willst, was vermittelst der dialektischen Wissenschaft (dialegesthai epistêmês) von dem Seienden (ontos) und Denkbaren (noêtou) geschaut werde (theôroumenon), sei sicherer, als was von den eigentlich so genannten Wissenschaften, deren Anfänge (archai) Voraussetzungen (hupotheseis) sind, welche dann die Betrachtenden (theômenoi) mit dem Verstande (dianoia) und nicht mit den Sinnen (aisthêsin) betrachten müssen (theasthai). Weil sie aber ihre Betrachtung (skopein) nicht so anstellen, daß sie bis zu den Anfängen (archên) zurückgehen, sondern nur von den Annahmen (hupotheseôn) aus, so scheinen sie dir keine Vernunfterkenntnis (noun) davon zu haben, obgleich, ginge man vom Anfange (archês) aus, sie ebenfalls erkennbar (noetôn) wären. Verstand (dianoian) aber scheinst du mir die Fertigkeit der Meßkünstler und was dem ähnlich ist, zu nennen, als etwas zwischen der bloßen

PLATONS GESICHTER | 195 Vorstellung (doxes) und der Vernunfterkenntnis (nou) zwischeninne liegendes. Vollkommen richtig, sprach ich, hast du es aufgefaßt! (Rep. VI, 511c)259

Durch das Vermögen der logoi kann man bestenfalls bis zu Hypothesen gelangen, nicht aber zu absolut Sicherem, zu Ursprünglichem und Gründendem.

Das Zwischen-Gesicht der phantasmata Am Ende der Reden der Dialektik hat das Sehen des Auges der psuchê zu stehen. Und das erste Erscheinen des wahren Anblicks sind – überraschenderweise – phantasmata: Die Lösung (lusis) aber von den Banden und die Umwendung (metastrophê) von den Schatten zu den Bildern selbst und zum Licht, und das Hinaufsteigen aus dem unterirdischen Aufenthalt an den Tag und dort auf die Tiere und Pflanzen selbst zwar und auf das Licht der Sonne nur mit Unvermögen hinschauen (blepein), wohl aber auf deren Abbilder (phantasmata) im Wasser, hier aber auf göttliche Abbilder und Schatten des Seienden nicht der Bilder Schatten, welche durch ein anderes in Vergleich mit der Sonne ebensolches Licht abgeschattet wären; das ist die Kraft, welche die gesamte Beschäftigung mit den Künsten besitzt, welche wir durchgenommen haben; und solche Anleitung gewähren sie dem Besten in der Seele (psuchê) zum Anschauen (thean) des Trefflichsten unter dem Seienden wie dort dem Untrüglichsten am Leibe zu der des Glänzendsten in dem körperlichen (sômatoeidei) und sichtbaren (horatô) Gebiet (topô). (Rep. VII, 532bf.)

Mit dem phantasma beginnt der Aufstieg zu den eidê, mit dem phantasma des Wahren, das versteht sich – andernfalls wäre Sokrates nichts anderes als ein Macher von Phantasmen der Art, wie er es den Sophisten im Sophistês und den Tragödiendichtern und Malern in der Politeia zuschrieb. Selbstverständlich ist er ein solcher nicht. Sein phantasma unterscheidet sich von den phantasmata der anderen dadurch, daß es ein „phantasma“ ist, das phantasma eines phantasma, über das ein phantasma spricht, das den Namen Sokrates trägt. Sokrates selbst – wenn er ein Philosoph ist – ist eine so sonnengleiche Lichtfigur, daß es den meisten nicht möglich ist, ihn zu erblicken: Der Philosoph hingegen, in vernunftmäßigem Verfahren (logismôn) mit der Idee (idea) des Seienden (ontos) stets (aei) beschäftigt, ist wiederum wegen der Helligkeit (lampron) der Gegend (chôras) keineswegs leicht zu erblicken. Denn die Geistesaugen (psuchês ommata) der meisten sind in das Göttliche (theion) ausdauernd hineinzuschauen unvermögend. (Soph. 254af.)

Der Philosoph, der immer mit dem Seienden beschäftigt ist, gibt sich selbst nur dem Auge der psuchê zu erkennen. Das aber ist den meisten ein unerträglicher Anblick, da er zu hell leuchtet, zu sonnengleich ist. Er ist selbst ein gedoppelter – denn das Auge der psuchê kann das Strahlen nicht am Körper wahrnehmen, sondern das Auge der psuchê richtet sich auf etwas, das mit 259 Den von Schleiermacher ausgelassenen Teil des griechischen Originaltextes ergänze ich hier in spitzen Klammern.

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dem körperlichen „Schlamm“ nicht vermischt ist. Der Philosoph tritt immer gedoppelt auf. Sokrates und Sokrates sind nicht derselbe – schon gar nicht in der Theaitetos-Trilogie, wo Sokrates und Sokrates auftreten. Der eine ist ein eidos, der andere ist ein eidos – wobei, wie gesagt, eidos und eidos vermutlich das Gegensätzlichste sind, was sich denken läßt, denn das eine sieht nur das Auge des Körpers, das andere nur das Auge der psuchê. Es handelt sich um Homonymien: Verhält es sich […] so, so muß zugestanden werden, das eine sei die stets auf dieselbe Weise sich verhaltende Art, unerzeugt und unvergänglich, weder in sich ein anderes von anderswo her aufnehmend, noch selber in irgendein anderes eingehend, unsichtbar und auch sonst mittelst der Sinne nicht wahrnehmbar, die, deren Betrachtung dem vernünftigen Denken zuteil geworden ist; die zweite aber, jener gleichnamig (homonumon) und ähnlich, sinnlich wahrnehmbar, erzeugt, in steter Bewegung, entstehend an einem Orte und wieder von da verschwindend, der Vorstellung mithilfe der Sinnenwahrnehmung erfaßbar; ein drittes aber wiederum immer die Gattung des Raumes, dem Untergange nicht unterworfen, welche allem, was ein Werden hat, eine Stätte gewährt, selbst aber, den Sinnen unzugänglich, auch vom Geiste nur, sozusagen, durch einen Bastardschluß erfaßt und kaum zuverlässig bestimmt wird. (Tim. 51eff.)

Sokrates und Sokrates in der Theaitetos-Trilogie sind zweierlei, aber Sokrates selbst ist auch zweierlei, der eine ungeworden und nie vergehend (der im Buch befindliche), der andere aber sinnlich, geworden und vergehend, kurz: körperlich. Der eine sôma, der andere sêma: THEAITETOS: Ich hoffe ja, daß ich jetzt gerade nicht so ermüden werde. Sollte mir aber dergleichen begegnen: so wollen wir auch diesen Sokrates dazunehmen, der dem Sokrates dem Namen (homunon), mir dem Alter nach gleich ist und mein Übungsgenosse, und dem daher mancherlei mühsam mit mir zu bestehen nicht ungewohnt. (Theait. 218b)

Als Künstler, der in der Homonymie operiert, erweist sich auch der Maler, der seine Bilder von Dingen produziert, Nachbildungen herstellt, die denselben Namen tragen wie dasjenige, was er abgebildet hat. Damit ist der Maler wiederum selber ein paradigmatisches Bild, das sich übertragen läßt auf andere Techniker, die diese Verdoppelungen nicht durch Farbe und Pinsel vollbringen, sondern durch die Stimme, die die Bilder über den Umweg der Ohren vor „Augen“ stellen: FREMDER: Von dem nun, welcher verheißt imstande zu sein, durch eine Kunst alles zu machen, wissen wir doch, daß er durch Verfertigung gleichnamiger (homonuma) Nachbildungen (mimêmata) des wirklichen vermittelst der Malerkunst (graphikê technê) imstande sein wird, unnachdenkliche (anoêtous) junge Knaben, wenn er ihnen von fern das Gemalte (gegrammena) vorzeigt, zu täuschen, als ob er, was er nur machen wollte, vollkommen geschickt wäre, auch wirklich und in der Tat hervorzubringen. THEAITETOS: Das freilich.

PLATONS GESICHTER | 197 FREMDER: Wie nun aber können wir nicht erwarten, daß es auch in Worten (logous) eine andere ähnliche Kunst (allên technên) gebe, vermöge deren es möglich wäre, Jünglinge und solche, die noch in weiter Ferne stehen, von dem wahren Wesen der Dinge durch die Ohren (ôtôn) mit Worten (tois logois) zu bezaubern (goêtheuein), indem man gesprochene Schattenbilder (eidôla legomea) von allem vorzeigt, so daß man sie glauben macht, es sei etwas Wahres gesagt und der, welcher es sagt, der Weiseste unter allen in allen Dingen? (Theait. 234bf.)

Natürlich ist diese Zauberkunst diejenige der schlimmen Sophisten. Sie nutzen die Ferne aus, um junge Leute mit ihren eidôla zu betrügen. Eine Beschreibung, die auch Sokrates und Platon nicht schlecht bezeichnet. Sokrates stellt die Bilder des absolut Fernen, des Jenseits nämlich im Phaidon, Phaidros und in der Politeia vor Augen durch die Ohren seiner Hörer, die Bilder des Hades und der Außenwelt der Höhle, zugleich die Höhle selbst, die er durch seine Reden dem Glaukon vor Augen stellt. Platon selbst ist wiederum eher dem Maler zu vergleichen, seine Kunst ist die graphikê technê. Er zeigt von ferne seine Graphiken, oder eher noch die Graphiken von Fernem, von absolut Fernem und Abwesendem: die Sokratographien. Zu den schlimmen Malern, die in der Politeia beschrieben werden, gehört Platon selbst, wie auch Sokrates. Diese schlimmen Künstler haben die Eigenschaft, alles zu verdoppeln, zum Beispiel die Sonne. Der Homonymie, die in einem Namen auf zweierlei verweist, entspricht die Analogie, die unter verschiedenen Namen ein Gleiches beschreibt, die die Differenz zwischen Ding und Bild ausmacht, von der im Kratylos ausgeführt worden war, daß es zum Wesen des Bildes gehöre, die Dinge nicht genau ein zweites Mal zu machen, daß das Bild des Kratylos notwendig eine Differenz zum Kratylos selbst beinhalten müsse, um nicht einen zweiten Kratylos, sondern ein Bild zu produzieren. Die Analogie setzt als gleich voraus, was es in der Folge zu unterscheiden gilt, zum Beispiel das Auge, das Sehen und die Sonne einerseits, den nous, das noein und die idea tou agathou andererseits. Glaukon will Sokrates nicht eher loslassen, als bis er die Ähnlichkeit der idea tou agathou mit der Sonne ganz durchgenommen hat: Und daß du nur ja nicht aufhörst, sagte er, wenigstens nicht, bis du die Ähnlichkeit (homoiotêta) mit der Sonne noch weiter durchgenommen hast, wenn noch etwas zurück ist. (Rep. VI, 509c)

In der Analogie steckt keine Homonymie, sondern eine gesetzte Homoiosis, eine Ähnlichkeit, die behauptet und ausgebeutet wird. Ein Bildgeber wird verdoppelt zu einem Bild, von dem im Anschluß ausgeführt werden wird, inwiefern es sich unterscheidet. Aus dem Bild heraus erfolgt die Erkenntnis dessen, was abgebildet wird. Kaum mehr zu verwundern, daß Platon/Sokrates am Ende der Politeia die Bildermacher verdammen wird – müßte er doch einräumen, daß diese Bildermacher vielleicht der Wahrheit näher sind als einer, der die Bilder erst durch solche Bilder machen muß, die Worte sind. Es bedarf einer ekphrasis, um die Bilder vor „Augen“ zu stellen, aus denen die Kenntnis dessen erfolgen soll, wozu sie sich als Bilder verhalten. Allerdings hat diese ekphrasis einen gewaltigen Vorteil: was sie vor „Augen“ stellt, steht bereits nicht mehr vor den körperlichen Augen. In neuzeitlicher Terminologie wird in solchen Zusammenhängen der Ausdruck vom

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„Auge des Geistes“ bemüht, vor dem die Bilder stehen, die aus der Rede entspringen. Das „Auge des Geistes“, omma tês psuchês, ist Platons nous. Wir müssen daher, sprach ich, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Unterweisung nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten. Das behaupten sie freilich, sagte er. Die jetzige Rede aber, sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele eines jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie das Auge, nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern ans Helle wenden konnte, so auch dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen des Seienden und des glänzendsten unter den Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute; nicht wahr? Ja. (Rep. VII, 518cff.)

Das Glänzendste unter allem Seienden mag die Sonne des Guten sein – ihr Sprößling, ebenso schwierig anzusehen, die Lichtgestalt schlechthin, ist der Philosoph. Diese Lichtgestalt, als reine Lichtgestalt, ist der Philosoph aber erst nach dem Tod, wenn dasjenige, was hier ist, nurmehr sein Kadaver ist, oder die Schriftzeichen, die Sokratographie und der somatische Sokrates. Der andere Sokrates ist anderswo, abwesend, auf andere Weise von anderen Organen zu beschauen. Darüber klärt der initiierende muthos von Minos am Ende des Gorgias auf: Wenn sie tot sind nämlich, soll man sie richten. Und auch der Richter soll entblößt sein, ein Toter, um mit der bloßen Seele (psuchê) die bloße Seele (psuchên) eines jeden anzuschauen (theôrousa), plötzlich, wenn jeder gestorben ist, entblößt von allen Verwandtschaften, und nachdem sie allen jenen Schmuck auf der Erde zurückgelassen, damit das Gericht gerecht sei. (523e)

Wenn Sokrates reine psuchê geworden ist, wird seine Betrachtung nur durch reine psuchê erfolgen können. Was die psuchê genau ist, wird nur über die Analogie lehrbar sein. Durch die Reihe der Dialoge zieht sich die Bewegung der Analogie, Aufschlüsse über den Körper (sôma) zu gewinnen, um hinterher aus diesen Aufschlüssen die Ergebnisse zu übertragen auf die psuchê. Man kann die Dialoge einzeln durchgehen und wird immer wieder auf diese Analogie stoßen, in der das Körperliche zur Grundlage der Analogie der Erörterungen über die psuchê wird. Aus den Analogien sind Schlüsse auf das Nichterfahrbare möglich: SOKRATES: Nicht wahr, jenes wahrzunehmen, was irgend für Eindrücke durch den Körper zur Seele gelangen, das eignet schon Menschen und Tieren von Natur, sobald sie geboren sind. Allein zu den Schlüssen (analogismata) hieraus auf das Sein und den Nutzen gelangen nur schwer mit der Zeit und durch viele Mühe und Unterricht die, welche überall dazu gelangen? THEAITETOS: So ist es allerdings. (Theait. 186bf.)

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Was für den Körper gilt, gilt auch für die psuchê, sofern sich beide nicht gegenüberstehen mit ihren Bestrebungen. Immer wieder und wieder hat das sôma seine Aufgabe als analogon zu erfüllen. Wie das Band der Sonne erfüllt auch die Analogie eine Aufgabe als Band: Von allen Bändern ist aber dasjenige das schönste, welches zugleich sich selbst und die durch dasselbe verbundenen Gegenstände möglichst zu einem macht. Dies aber auf das Schönste zu bewirken, ist die Proportion (analogia) da. (Tim. 31c)

Das Verfahren der Analogia wird in den Teilungen des Liniengleichnisses ausgeführt: die Linie ist eine, die in verschiedene Teile zerfällt – diese Teile verhalten sich nach Gesetzen der Analogie zueinander: Das Verhältnis (analogian) dessen aber, worauf sich diese beziehn, das Vorstellbare und Erkennbare, und die zweifache Teilung jedes von beiden wollen wir lassen, o Glaukon, um nicht in noch vielmal größere Untersuchungen zu geraten als die vorigen. (Rep. VII, 534b)

Üblicherweise wird der Bildgeber, nachdem er seine Aufgabe erfüllt haben wird, der Verurteilung anheimgegeben. Der Körper dient als Analogiegrund der psuchê, um dann selbst der Verurteilung anheim zu fallen, als Schlamm, der die psuchê behindert. Die Schrift wird zum Bildgeber, um ihre Schwäche gegenüber demjenigen zu erweisen, dem sie das Bild gibt. Das Bild selbst wird zum Bildgeber, um seine Schwäche gegenüber dem Bild vom Bild zu erweisen: Du wirfst, sprach ich, eine Frage auf, welche einer Antwort durch ein Bild (eikonos) bedarf. Du aber, sagte er, denke ich, pflegst ja nicht durch Bilder (eikonôn) zu reden. Sei’s drum! antwortete ich. Du spottest also noch, nachdem du mich in einen so schwer auszuführenden Gegenstand hineingeworfen? Höre (akoue) denn mein Bild (eikonos), damit du besser sehest, wie mühsam ich bildre (eikazô). Denn so schwierig ist das, was gerade den Vortrefflichsten mit dem Staate begegnet, daß es auch nirgends etwas ganz Ähnliches gibt, sondern von vielerlei her muß man zusammenbringen, womit man sie vergleichen und was man zur Verteidigung für sie sagen will, wie die Maler Bockhirsche und andere dergleichen Mischlinge zeichnen. (Rep. VI, 487ef.)

Überall finden sich diese Verdrängungen und die Wiederkehr des Verdrängten auf anderer Ebene – so auch Sokrates selbst. Noch der Tragödie wird dieses begegnen, daß sie ausgeschlossen werden muß, weil sie der Bildgeber ist für die ideale Stadt, die ideale Welt, den idealen Menschen. Daß die Tragödie und die Tragödie sich ebenso unterscheiden, wie das eidos und das eidos, die eine körperlich ist, die andere dagegen tô logô in den Blick gerät, ist dabei der wesentliche Zug. Beide Tragödien treffen sich auf dem Feld der phantasmata. Die Tragödie, die Platon ausgeschlossen haben will, ist eine Tragödie, die angeblich phantasmata nachahmt – während Platons phantasmatische Tragödie eine solche ist, die von der „Wirklichkeit“ nachgeahmt werden soll, der Bewegung der metaphora des dêmiourgos folgend: Platon macht die ideale Platopolis durch logoi, stellt sie vor „Augen“, um im Anschluß den Auf-

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trag an die mimêtai zu geben, diese Stadt verwirklichend nachzuahmen. So sind sowohl die ideale Stadt als verwirklichte, wie auch die schlimme Tragödie, die auszuschließen ist, Nachahmungen von Phantasmen.

ARBEITEN

AM

PHANTASMA

Als große Schwierigkeit im Feld der opsis zeigte sich die Unterscheidung zwischen Sehen und „Sehen“, die Unterscheidung also zwischen einem Sehen mit dem körperlichen Organ und dem Sehen mit einem Organ der psuchê, nämlich dem nous. Wirklich bedrohlich aber wird die Schwierigkeit erst, wenn das Dritte zwischen diesen beiden ins Spiel kommt, das phantasma, das sowohl das sinnliche Erscheinen, das gespenstische Nachbild eines Sinnlichen oder das Vorscheinen von Idealem bedeuten kann. Dieses phantasma wirkt als eine umfassende Bedrohung – zumal Platon selbst strenggenommen phantasmata in seinen Dialogen produziert und sprechen läßt. Vom Sprechen der phantasmata, dem phantasmatischen Sprechen und dem stummen Selbstgespräch der dianoia wird der dritte Hauptteil handeln. Zuvor aber gilt es, das phantasma selbst schärfer in den Blick zu fassen, sein eigenartiges Schwanken zwischen Vorschein der Idee und leerem sinnlichem Schein, zwischen erster Stufe der Wahrheit und unterster Stufe des Sinnlichen. Diese Eigenarten teilt das phantasma – soviel sei bereits vorweggenommen – mit dem Theater, dem Platon allerdings das Charakteristikum des Vorscheins von Idealen jenseits des philosophischen Dramas der idealen Stadt abspricht. Das phantasma führt direkt zur Frage nach der Wahrheit. Und der Lüge. Und trifft selbst dort wiederum auf ein Drittes zwischen beiden, der Struktur des phantasma durchaus nahegelegen. Platon verurteilt natürlich die Lüge. Daß Wahrheit und Lüge eng beieinander liegen, daß sie siamesische Zwillinge sind, die nicht ohne einander sein können, wußte Platon und ließ es Sokrates im Hippias Minor sagen. Nur derjenige, der fähig ist, die Wahrheit zu sagen, ist auch fähig zur Lüge. Um bewußt und vorsätzlich zu lügen, bedarf es der Kenntnis der Wahrheit, wie sich die Kenntnis der Wahrheit darin erweist, daß sie die Fähigkeit zum Lügen beinhaltet – sofern die Lüge darin besteht, mit dem Anschein von Wahrheit aufzutreten. Trotzdem aber gibt es etwas, das bei Platon in der Hierarchie noch tiefer steht als diese und vor allem auch bedrohlicher ist für den Philosophen, der sich um die Wahrheit bemüht. Es handelt sich um den Irrtum, die Selbsttäuschung, grammatikalisch nicht leicht zu trennen vom Lügen: zwischen dem Aktivum pseudô (ich lüge) und dem Passivum pseudomai (ich werde belogen), steht die dritte Form des Verbs, die das Altgriechische kennt, das Medium: pseudomai (ich belüge mich selbst, ich werde von mir belogen; kurz: ich täusche mich). Im Irrtum liegt der von Platon ausgemachte Feind, denn der Irrtum geschieht unfreiwillig und ohne Kenntnis der Wahrheit; also ist es immer noch „besser“ zu lügen, als sich zu täuschen.1 Diese Formel wird auf dem Gebiet der Ethik und Politik bei Platon wiederkehren und dort zu der häufig für eigenartig, wenn nicht gar skandalös empfundenen Bewertung führen, es sei besser, freiwillig und vorsätzlich Unrecht zu tun, als unfreiwillig und versehentlich.2 Um dieses Dritte zwischen Wahrheit und Lüge, zwi-

1 2

Vgl. Hipp. Min. 365dff. Hipp. Min. 327df. Vgl. Szlezak: Schriftlichkeit, 84: „Der Satz ist unhaltbar […]“; in demselben Tenor auch Kahn: Plato and the Socratic Dialogue, 113,

202 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

schen gerechtem und ungerechtem Handeln geht es, um ein Vermögen oder Un-Vermögen, das freiwillig-unfreiwillig und unterschiedslos sowohl Wahres als auch Falsches, Gerechtes als auch Ungerechtes produziert. Während Wahrheit und Lüge bewußt produziert werden können, trifft dieses Vermögen gelegentlich Wahres, oft aber auch Falsches, wie der nicht um das gerechte Handeln Wissende in seinem unfreiwilligen Tun gelegentlich Gerechtes tun wird, oft aber auch Ungerechtes.3 Wie der Irrtum sich zwischen Wahrheit und Lüge befindet, findet sich neben und in der aisthêsis bei Platon eine Dimension des bloßen Scheins und der sinnlichen Täuschung,4 deren herausragender Exponent oder Inbegriff die Spiegel sind, die – wie es im 10. Buch der Politeia heißt – von allem Bilder herstellen, alles verdoppeln und mit einem Wahrschein versehen können. Hier reiht Platon den Bildermacher und den Tragödiendichter ein, indem er sie unter dem Begriff der mimêsis subsumiert. Die mimêtai richten sich mit ihren Werken gerade an den Teil der psuchê, der anfällig ist für die sinnlichen Täuschungen.5 Es ist nicht so, daß der Spiegel, der Maler und der Tragödiendichter etwa lügen würden, auch wenn seit alter Zeit der Spruch kursiert: „polla pseudontai aoidoi“6 („vieles lügen die Dichter“). Würden die Dichter wirklich lügen, dann wären sie der Definition gemäß jedenfalls im Besitz der Wahrheit über das Viele, von dem sie lügen. Vielleicht aber täuschen sie sich und ihre Leser/Betrachter/Zuschauer. Für diese letztere Variante plädiert Platon durch Sokrates. Die Mimeten setzen nicht die Wahrheit in die mimêsis, sondern etwas anderes, dem Platon den Namen phantasma gibt:

3

4

5 6

der diese Konklusion zur „moral falsehood“ erklärt. Deutungen dieser These von anderen Autoren werden bei Szlezak 86ff. wiedergegeben. Die Ausführungen dazu finden sich am Schluß des Menon (97aff.) Sokrates will von Menon wissen, ob nur der Wissende der Wahrheit ein richtiger Führer auf dem Gang nach Larissa sein könne, oder ob nicht auch einer, der nur eine orthê doxa (richtige Meinung/Vorstellung) von diesem Weg hat, diesen nicht ebensogut gehen könne. Sofern die Meinung richtig ist, wird er ein brauchbarer Wegführer sein – wenn nicht, ist er es nicht. Der Unterschied wird darin festgesetzt, daß der Wissende immer zum Ziel kommt, während der Meinende es gelegentlich trifft, gelegentlich verfehlt. Zwischen dokein und phainesthai, das hier in den Vordergrund gestellt werden soll, herrscht eine partielle Austauschbarkeit. So läßt sich dokei moi (mir scheint) parallel setzen zu phainetai (es erscheint mir). Eine Unterscheidung wird lediglich dort notwendig, wo der logos zur Betrachtung ansteht, da die doxa – gegenüber der phantasia oder dem phantasma, die mit der aisthêsis ohne logos korreliert sind – bereits eine mit dem logos verbundene Meinung ist. Vgl. Soph. 263eff. Es geht also hier nicht um Fehl-Urteile, sondern um Dinge, die als etwas erscheinen, was sie nicht sind. Der Übergang zum Fehlurteil ist fließend, sofern etwas falsch wahrgenommen werden kann, mit einem falschen Gedächtniseindruck korreliert werden kann usw. Trotzdem ist diese Täuschung durch die sinnlichen Gegenstände nicht zu reduzieren auf eine Sinnestäuschung allein. Die Gegenstände in der Spiegel-Dimension der Dinges-Täuschung gehören einerseits zur aisthêsis, befinden sich unter den aisthêta, unterscheiden sich aber dadurch, daß sie nicht sind, was sie scheinen. Sie gehören aber auch nicht allein in den Bereich der Hirngespinste, da sie doch immer noch sind, wenn auch nur als Erscheinungen ohne Sein. Die strenge Scheidung zwischen Fehlurteil und täuschenden Dingen ist deswegen nicht durchführbar, weil es sich um Irrtümer handelt und nicht etwa um Lügen, d.h. Täter und Opfer, Lügner und Belogener sind in diesem Irrtum nicht zu trennen. Vgl. Rep. X, 602cff. Aristoteles zitiert diesen Spruch als Sprichwort in Metaphysik I, 983a3.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 203 Auf welches von beiden geht die Malerei bei jedem? Das Seiende (to on) nachzubilden (mimêsasthai), wie es sich verhält (hôs echei), oder das Erscheinende (phainomenon), wie es erscheint (hôs phainetai), als eine Nachbildnerei (mimêsis) der Erscheinung (phantasmatos) oder der Wahrheit (alêtheias)? Der Erscheinung (phantasmatos), sagte er. (Rep. II, 598b)

Das phantasma ist bei Platon nicht einfach ein Gespenst, wie etwa das neuzeitliche „Phantom“. Vielmehr ist das phantasma als Ergebnis der phantasia das Erscheinen von wahrgenommenen Gegenständen.7 Die Lehre des Protagoras über die Erscheinungen aufnehmend, kommt Sokrates zu der Hypothese: SOKRATES: [Protagoras] sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind. Du hast dies doch gelesen? THEAITETOS: Oftmals habe ich es gelesen. SOKRATES: Nicht wahr, er meint dies so, daß wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. […] SOKRATES: Erscheinung (phantasia) also und Wahrnehmung (aisthêsis) ist dasselbe in Absicht auf das Warme und alles, was denn ähnlich ist? Denn wie ein jeder es wahrnimmt (aisthanetai), so scheint es für ihn auch zu sein (kinduneuei einai). 8

(Theait. 152aff.)

Die phantasia ist auch nicht mit dem Konzept der Phantasie zu verwechseln, wie es in der Neuzeit entworfen wurde, weil die phantasia nicht allein ein Vermögen auf seiten des Phantasierenden bezeichnet. Sprachlich verwandt ist die phantasia mit dem Erscheinen (phainesthai) von Gegenständen. Die phantasia ist auch das Sich-Zeigen von phainomena, daher kann Sokrates nach Protagoras formulieren, daß die phantasia und die aisthêsis dasselbe seien.9 Allerdings führt die phantasia auch nur zu einem bloßen Erscheinen und bedarf anschließender Betrachtung, ob dasjenige, was sich zeigt, sich auch so verhält, wie es sich zeigt. Bleibt die phantasia eine bloße phantasia, so ist sie ein Trugbild. Ein solches Trugbild kann mit dem Namen phantasma 7

8 9

Daß Platon keine entwickelte Theorie des phantasma und der phantasia hatte, stellt Stefan Büttner (Literaturtheorie, 88-92) fest. Nur in eingeschränktem Sinne drücken diese Begriffe etwas aus, was sich als „Vorstellungskraft“ bezeichnen läßt. Mit phantasma und phantasia wird bei Platon – so Büttner – ein „Konglomerat aus wahrnehmbaren Qualitäten“ bezeichnet, sowohl eines, dessen Wesen noch nicht genau bestimmt ist, wie auch ein wesenhaft bestimmtes Konglomerat. Das phantasma kann wahr oder falsch sein. Das unterscheidet es, so wäre Büttners Ausführung hinzuzufügen, von der aisthêsis. Aus der Philebos-Passage leitet Büttner ab, daß phantasia nicht unbedingt an präsente Wahrnehmungen gebunden ist, sondern durchaus das verzeichne, was Aristoteles unter phantasia verstehe: „Daß das Wort phantasia bei Platon in dieser Weise nicht fällt, tut der genauen Bestimmung des Vermögens keinen Abbruch.“(89) Als gottgesandte Erscheinung taucht die phantasia auf in Politeia II, 382e. So lautet die Kurzfassung der Lehre des Protagoras für Sokrates: „to de ge ‚phainetai‘ aisthanesthai estí“ – „Dieses ‚Erscheint‘ ist aber das Wahrnehmen“ (Theait. 152b). Am Schluß der Erörterung ist der Satz des Protagoras widerlegt (Theait. 164df.).

204 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

bezeichnet werden, wobei auch hier nicht eine vorweg gegebene Einordnung als Trug angenommen werden kann. Das phantasma kann eine körperlose Erscheinung sein, die in ihrem Status schwankt als Nichtseiendes und doch Erscheinendes, das zugleich als bloß Erscheinendes doch auch ist. So werden im Phaidon (81d) die psuchai Verstorbener, die um Gräber geistern, als phantasmata bezeichnet. Diese phantasmata sind zwar nur Gespenster, aber als Gespenster sind sie doch. Sie kommen zur Erscheinung, finden sich in der aisthêsis, sind aber in dieser aisthêsis zu unterscheiden von anderen Erscheinungen, wie den Körpern der Lebenden.10 Im Sophistês wird die Auseinandersetzung mit einem Satz des Parmenides notwendig, dem Satz nämlich, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht. Tatsächlich bringt gerade das phantasma an den Tag, daß auch das Nichtseiende „irgendwie“ (pôs) doch ist: FREMDER: In Wahrheit, du Guter, wir befinden uns in einer höchst schwierigen Untersuchung. Denn dieses Erscheinen (phainesthai) und Scheinen (dokein) ohne zu sein (einai) und dies Sagen (legein) zwar, aber nicht Wahres (alêthê), alles dieses ist immer voll Bedenklichkeiten gewesen schon ehedem und auch jetzt. Denn auf welche Weise man sagen soll, es gebe wirklich ein falsch Reden (pseudê legein) oder Meinen (doxazein) ohne doch schon, indem man es nur ausspricht, auf alle Weise in Widersprüchen befangen zu sein, dies, o Theaitetos, ist schwer zu begreifen. THEAITETOS: Wieso? FREMDER: Diese Rede untersteht sich ja vorauszusetzen, das Nichtseiende sei. Denn sonst gäbe es auf keine Weise Falsches wirklich. Parmenides der Große aber, o Sohn, hat uns als Kinder von Anfang an und bis zu Ende dieses eingeschärft, indem er immer ungebunden sowohl als in seinen Gedichten so sprach. Nimmer vermöchtest du ja zu verstehn, sagt er, Nichtseiendes sei, sondern von solcherlei Weg halt fern die erforschende Seele. So wird es von ihm bezeugt, vor allem aber muß es gewiß die Rede selbst zeigen bei gehöriger Prüfung. (Soph. 236dff.)

Die Schwierigkeit für den Philosophen liegt darin, daß die phantasmatischen Erscheinungen „irgendwie“ doch sind, und zwar in verschiedener Weise: etwa die Spiegelungen, Schnitzwerke und Bilder, die etwas vorstellen, was sie nicht sind (vgl. Soph. 239dff.). FREMDER: Wenn wir nun sagen, er [d.i. der Sophist; A.d.V.] täusche mit Trugbildern (phantasma) und seine Kunst sei eine täuschende, sagen wir dann, unsere Seele stelle falsches vor (pseudê doxazein) vermittelst seiner Kunst? Oder was sagen wir? THEAITETOS: Dieses, denn was sollten wir anderes sagen?

10 Insgesamt finden sich nur wenige Stellen, an denen Platon die Termini phantasia und phantasma überhaupt verwendet. Daß hier Wert darauf gelegt wird, anstatt etwa das eng verwandte Feld von doxa und dokein heranzuziehen, hat den Grund, daß sich – anders als die letzteren – beide einigermaßen eingrenzen lassen, während die doxa ein so komplexes Gebilde ist, in das zudem der logos verwoben ist, daß der Begriff nicht tauglich erscheint, um die Perspektive der Frage, die hier exponiert wird, eng genug zu belassen.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 205 FREMDER: Falsche Vorstellung ist aber, die das Entgegengesetzte von dem, was ist, vorstellt? Oder wie? THEAITETOS: Das Entgegengesetzte. FREMDER: Also sagst du, die falsche Vorstellung (pseudês doxa) stelle Nichtseiendes (ta mê onta) vor? THEAITETOS: Notwendig. FREMDER: Etwa, daß das Nichtseiende nicht sei, stellt sie vor, oder daß das auf keine Weise Seiende doch irgendwie sei (pôs einai)? THEAITETOS: Notwendig doch wohl, daß das Nichtseiende irgendwie sei (einai pôs), wenn sich doch einer auch nur im geringsten täuschen soll. (Soph. 240df.)

Die Verschränkung von Seiendem und Nichtseiendem geschieht dadurch, daß Bilder etwas erscheinen lassen, was sie nicht sind, zugleich doch aber nicht gänzlich nicht sind, sondern immerhin doch als Bilder sind: THEAITETOS: Was sollten wir also anders sagen, daß ein Bild (eidôlon) sei, o Fremdling, als das einem wahren ähnlich gemachte andere solche? FREMDER: Ein anderes solches Wahres meinst du, oder worauf ziehst du das solches? THEAITETOS: Keineswegs doch ein Wahres, sondern ein Scheinbares (eoikos) gewiß. FREMDER: Und meinst du unter dem Wahren das wirklich Seiende? THEAITETOS: So meine ich es. FREMDER: Und wie? unter dem Nichtwahren also das Gegenteil des Wahren? THEAITETOS: Was sonst? FREMDER: Also für nichtseiend erklärst du das Scheinbare (eoikos), wenn du es doch als das Nichtwahre beschreibst. THEAITETOS: Aber es ist ja doch! FREMDER: Wie? doch gewiß nicht wahr, meinst du? THEAITETOS: Das freilich nicht. Aber Bild (eikôn) ist es doch wirklich. FREMDER: Ist es nun also nicht wirklich nicht seiend, doch wirklich das, was wir ein Bild nennen? THEAITETOS: In einer solchen Verflechtung (sumplokên) scheint freilich das Nichtseiende mit dem Seienden verflochten zu sein, die ganz ungereimt ist. (Soph. 240af.)

So ist das phantasma (das zwar etwas ist, aber einem anderen – einer zutreffenden Wahrnehmung etwa – widerspricht) dem Traum ähnlich, der ebenfalls auf einem Fehlschluß beruhen kann: Bedenke nur das Träumen (oneirôttein), besteht das nicht darin, wenn jemand, es sei nun im Schlaf oder auch wachend, etwas einem Ähnliches nicht für ähnlich, sondern für jenes selbst hält, dem es gleicht? Ich wenigstens, sprach er, würde sagen, daß ein solcher träume. (Rep. V, 476c)

Das Träumen ist nicht allein auf den Schläfer eingeschränkt, sondern auch im Wachen gibt es solche Träume, in denen die Verwechslung stattfindet, die als eine Verwechslung des phantasma, das als etwas erscheint, was es nicht ist,

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mit einer Erscheinung, die ist, als was sie erscheint, bezeichnet werden kann (die Verwechslung eines Porträts mit dem Porträtierten also). In der zitierten Passage scheint eine klare Unterscheidung getroffen werden zu können zwischen Traum und Nicht-Traum: wenn geträumt wird, dann findet diese Verwechslung statt. Aber die Diagnose des Träumens ist bereits Ergebnis eines Prozesses, in dem ein Wahrnehmungsfehler analysiert wurde. Um die Diagnose zu stellen, bedürfte es eines Kriteriums, um Wachen und Schlafen, Träumen und Nicht-Träumen zu unterscheiden: SOKRATES: Merkst du auch nicht diesen Einwurf […], besonders was Wachen und Schlafen betrifft? THEAITETOS: Welchen doch? SOKRATES: Den du, meine ich, oft gehört haben wirst, wenn man nämlich die Frage aufwirft, was für ein Kennzeichen jemand wohl angeben könnte, wenn einer fragte, jetzt gleich gegenwärtig, ob wir nicht schlafen, und alles, was wir vorstellen (dianooumetha), nur träumen (oneirôttomen), oder ob wir wachen und wachend uns unterreden. THEAITETOS: Und wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch was für ein Kennzeichen man es beweisen soll. Denn es folgt ganz genau auf beiden Seiten dasselbe. Denn was wir jetzt gesprochen haben, das können wir ebensogut im Traume zu sprechen glauben; und wenn wir im Traume über etwas zu sprechen 11

meinen, so ist ganz wunderbar, wie ähnlich dies jenem ist. (Theait. 158bf.)

Die zweite Weise der Erscheinung des trügerischen phantasma neben dem Bild und der Spiegelung ist der logos, der phantasmata zur Erscheinung bringt.12 Es ist die strategische Stoßrichtung des Dialoges Sophistês, daß der Sophist jemand sei, der solche phantasmata produziere, ja daß der Sophist eigentlich selbst ein solches phantasma sei. Über phantasmata zu reden oder zu schreiben heißt, das phantasma als seiend anzuerkennen, wie auch über die Lüge und die Täuschung zu schreiben heißt, die Lüge oder die Täuschung als seiend anzuerkennen – andernfalls könnte sich nicht schreibend darauf bezogen werden, sondern es würde das Schreiben über das phantasma dieses phantasma selbst produzieren.13 Das phantasma findet sich bei Platon im Sophistês noch in anderer Hinsicht – so wie es von Kant, mit demselben Beispiel des Baumeisters, wieder aufgenommen werden wird14 –, nämlich in der poiêtikê, in der hervorbringenden Kunst, deren einer Zweig die mimêtikê ist, als die Hervorbringung 11 Die Passage verschiebt die Fragestellung bei Platon ein wenig, da hier zur Debatte steht, ob das Gespräch, das Sokrates und Theaitetos führen, wirklich stattfindet oder sie sich das Gespräch, also die Reden, nur träumerisch vorstellen. Für diese geträumten Reden wird der Terminus dianoia verwendet, der sich am ehesten noch als „Denken“ übersetzen läßt – der Traum wäre also das Denken des Gesprächs. Ohne hier auf diese Richtung weiter einzugehen, glaube ich, dieselbe Fragestellung auch für die phantasmata als dringlich verstehen zu können. Auch für diese müßte ein Kriterium gefunden werden, ob es sich um Traum-Bilder oder Wahrnehmungsbilder handelt. 12 Der logos wird bei Platon gelegentlich selbst als eine Spiegelung bezeichnet, eine Spiegelung der wahren Dinge, der eidê, so etwa Phd. 99ef. Im Theait. 206d sind es die Vorstellungen des Sprechers, die sich im Fluß der Stimme widerspiegeln. 13 Zu diesem Problemfeld vgl. Exkurs II: Geister-Metaphysik S. 365. 14 Siehe unten, Exkurs II: Geister-Metaphysik S. 376.

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von Nachahmungen. Zunächst wird dort die poiêtikê unterteilt in einen göttlichen und einen menschlichen Zweig. Der göttliche Zweig wird selbst unterteilt in einen eigentlich hervorbringenden Teil, der etwa die Menschen hervorbrachte, wie sie sind, und einen nachbildenden Teil, der Bilder produziert: Die in den Träumen und auch was wir bei Tage natürlichen Schein (phantasmatos) nennen, wie der Schatten, wenn in das Helle Finsternis eintritt, und der Doppelschein, wenn an glänzenden und glatten Dingen eigentümliches Licht und fremdes zusammenkommend ein Bild hervorbringen, welches einem dem vorigen gewohnten Anblick entgegengesetzten Sinneseindruck gibt. (Soph. 266c)

Das phantasma also ist auch eine göttliche Hervorbringung, eine göttliche mimêsis: THEAITETOS: Dies also seien die zweierlei Werke göttlicher Hervorbringung, die Sache selbst und das eine jede begleitende Bild. FREMDER: Und unsere [menschliche; A.d.V.] Kunst, werden wir nicht sagen, daß sie das Haus selbst durch die Baukunst hervorbringt, durch die Zeichenkunst aber noch ein anderes, gleichsam als einen menschlichen Traum für Wachende verfertigt? THEAITETOS: Ganz gewiß. (Soph. 366cf.)

Die nächste Unterscheidung betrifft die Frage nach dem Werkzeug und dem Wissen des Nachahmenden. Ist der Sophist, der zudem seinen eigenen Körper als Darstellungsmittel der trugbildnerischen, phantasmatischen Hervorbringung leiht, ein Wissender, der lügt, oder ein Irrender? FREMDER: In der trugbildnerischen (phantastikên) nun machen wir wieder zwei Abteilungen. THEAITETOS: Wieso? FREMDER: Die eine gebraucht Werkzeuge (organôn), in der andern gibt sich, wer das Trugbild macht, selbst zum Werkzeuge (organon) her. THEAITETOS: Wie meinst du das? FREMDER: Wenn jemand, meine ich, seines eigenen Leibes (sômati) sich bedienend deine Gestalt oder deine Stimme mittelst der seinigen ganz ähnlich erscheinen macht, so heißt dieser Teil der Trugbildnerei gewöhnlich die Nachahmung (mimêsis). THEAITETOS: Ja. (Soph. 267a)

Der Sophist ist ein körperlich Lügender, ist Körper gewordene Lüge oder genauer: Körper gewordener Irrtum. Er ist in Unkenntnis dessen, was er nachahmt, verbreitet nicht etwa Lügen, denn das würde ihn zu einem Kundigen machen; er täuscht sich vielmehr selber darin. Die große Schwierigkeit im analysierenden Umgang mit den Sophisten ergibt sich aus ihrer Verwobenheit in das phantasma. Das macht sie so schwierig zu handhaben für den Philosophen, der sich damit selbst in das Reich der phantasmata begibt. Der Unterschied zwischen dem Wissenden und dem Unwissenden kommt aus dem Gedächtnis, das Gedächtnis macht den Unterschied. Der Wissende ist jemand, der eine Bekanntschaft mit demjenigen hat, das ihm

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gerade vorgestellt wird – so wie etwa jemand den Theaitetos nur dann wissend nachahmen kann, wenn er ihn kennt: FREMDER: Das eben Angeführte nun war Nachahmung (mimêma) eines Wissenden (eidotôn). Denn nur, wer deine Gestalt und dich (schêma kai se) kennt (gignôskôn), kann sie nachahmen (mimêsaito). (Soph. 267b)

Der Sophist ahmt mit seinem eigenen Körper den Wissenden nach, ist dabei selbst aber unwissend, er wird damit zu einem Verwandten des Schauspielers. Phantasma und die begrifflich verwandte Imagination sind aber nicht nur zwischen Lüge und Wahrheit angesiedelt, sondern auch im Erscheinen von Raum und Zeit, im Entstehen von Räumen und Zeiten, von Zeiträumen und Raumzeiten aus einem Entwurf heraus.15 Für diesen Vorgang des Entwurfes verwendet Platon ebenfalls den Begriff der poiêsis. Darüber schreibt er im Philebos, wo das phantasma in ganz anderer Weise wieder vorkommt. Es ist dort das Werk eines Malers in der psuchê, von dem gesagt wird, daß seine 15 Daß in der Gegebenheit von Raum und Zeit a priori ein Rest von Platonismus selbst bei Kant schlummert, ist von ihm selbst gelegentlich in einer Fußnote herausgestellt worden: „[Plato] schwebte ohne Zweifel, obzwar auf eine dunkle Art, die Frage vor, die nur seit kurzem deutlich zur Sprache gekommen: ‚Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?‘ Hätte er damals auf das raten können, was sich allererst späterhin vorgefunden hat: daß es allerdings Anschauungen a priori, aber nicht des menschlichen Verstandes, sondern sinnliche (unter dem Namen des Raumes und der Zeit) gäbe, daß daher alle Gegenstände der Sinne von uns bloß als Erscheinungen, und selbst ihre Formen, die wir in der Mathematik a priori bestimmen können, nicht die der Dinge an sich selbst, sondern (subjektive) unserer Sinnlichkeit sind, die also für alle Gegenstände möglicher Erfahrung, aber auch nicht einen Schritt weiter, gelten: so würde er die reine Anschauung (deren er bedurfte, um sich die synthetische Erkenntnis a priori begreiflich zu machen) nicht im göttlichen Verstande und dessen Urbildern aller Wesen als selbstständiger Objekte, gesucht und so zur Schwärmerei die Fackel angesteckt haben.“ (Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, WW VI, 375398, hier: 380, Fußnote). Diese Differenz, die Kant gegenüber Platon konstatiert, ließe sich als ein Übergang von Exogenität zu Endogenität lesen, wäre die Diagnose der Endogenität nicht durch die Transzendenz des Subjektes eine problematische Bestimmung. Nicht ganz uninteressant im Zusammenhang mit der Debatte um die Theatralität ist, daß Kant in diesem kleinen Text den Neuplatonikern eine Theatralität attestiert und dabei die Bildlichkeit, den Wahn und den Geist als Gespenst ins Spiel bringt: „Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft) und selbst in praktischer Absicht hinreichend, zu sehen, wie der ältere Plato tat, ist ganz tunlich: wogegen die Neuplatoniker ‚uns sicher nur eine Theatersonne geben,‘ weil sie uns durch Gefühle (Ahnungen), d.i. bloß das Subjektive, was gar keinen Begriff von dem Gegenstande gibt, täuschen wollen, um uns mit dem Wahn einer Kenntnis des Objektiven hinzuhalten, was aufs Überschwengliche angelegt ist. — In solchen bildlichen Ausdrücken, die jenes Ahnen verständlich machen sollen, ist nun der platonisierende Gefühlsphilosoph unerschöpflich: z.B. ‚der Göttin Weisheit so nahe zu kommen, daß man das Rauschen ihres Gewandes vernehmen kann‘; aber auch in Preisung der Kunst des Afterplato, ‚da er den Schleier der Isis nicht aufheben kann, ihn doch so dünne zu machen, daß man unter ihm die Göttin ahnen kann.‘ Wie dünne, wird hiebei nicht gesagt; vermutlich doch noch so dicht, daß man aus dem Gespenst machen kann, was man will: denn sonst wäre es ein Sehen, welches ja vermieden werden sollte.“ (WW VI, 388f.)

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Bilder sich unter anderem auf Künftiges (mellôn) beziehen, und zwar durch das phantasma: SOKRATES: In jedem von uns […] sind solche Reden (logoi), welche wir Hoffnungen (elpidas) nannten. PROTARCHOS: Ja. SOKRATES: Und doch auch die gemalten Bilder (phantasmata). Und so kann einer oftmals sehn, daß er ungeheuer viel Gold hat und dabei große Lust, und auch sich selbst kann er in sich abgemalt sehn als gar höchlich erfreut. PROTARCHOS: Gar leicht. (Phil. 40af.)

Zu dem Nichtseienden, das in gewisser Weise doch ist, gehört das Künftige, das als zu Planendes und zu Erhoffendes sich vergegenwärtigt findet. Dieses Künftige teilt den Charakter der Ambiguität von Seiendem und Nichtseiendem mit dem phantasma, ist ein Abwesendes im Modus des Noch-Nicht. Als ein Vorgriff auf das, was noch nicht ist, ist es aber „irgendwie“ doch. Die Arbeitsgrundlage des Malers in der psuchê sind Inschriften (grammata) in der psuchê, die Inschriften der Hoffnung auf das Künftige, die dieses Künftige in einem Bild vergegenwärtigen, in einer Weise, wie die mnêmê die Vergangenheit in ihren Bildern vergegenwärtigt. Es findet sich lediglich die Zeitrichtung umgekehrt, das phantasma wird eine Erinnerung an Künftiges. In beiden Zeitrichtungen sind grammata im Spiel, aus denen der Maler seine Bilder produziert, in der Aufzeichnung der Vergangenheit, in der das Gedächtnis als eine Art Buch fungiert (Phaidros), wie auch als eine Vorzeichnung der Zukunft. Als Vermögen und Dimension gleichzeitig läßt sich die phantasia nicht genau in ein dualistisches System einbinden. Sie entzieht sich der eindeutigen Festlegung auf Sinnlichkeit oder Verstand/Vernunft, ist – wie die Selbsttäuschung – angesiedelt zwischen Rezeptivität und Spontaneität. Wird sie etwa der aisthêsis zugeschlagen, bringt sie in dieses Gebiet die „spontan“ produzierten Anschauungen von Gegenständen mit, die nicht sind, beziehungsweise eben gerade nur als phantasmata „irgendwie“ sind. Wird die phantasia aber dem Verstand zugeschlagen, so trägt sie eine Anschaulichkeit in ihn hinein. So schwankt die phantasia zwischen einem „anschaulichen Denken“ und dem Ergebnis einer Spontaneität der Wahrnehmung, die keinen korrespondierenden Gegenstand hat. Anders als die aisthêsis kann die phantasia auch betrachten, was im Modus des Noch-Nicht oder des Nicht-Mehr nicht anwesend, aber irgendwie doch anschaubar ist. Durch die Verbindung des phantasma mit der Zeit wird es zu etwas, das zwar nicht da ist, „irgendwie“ aber doch noch oder schon da ist. Gerade das phantasma als Gespenst im Phaidon macht diese Schwierigkeit klar. Das Gespenst ist jemand, der als Gestorbener nicht mehr da ist, dessen Körper ins Grab gelegt wurde, der zugleich aber auch nicht gänzlich nicht da ist, da doch immerhin das Gespenst noch um das Grab streift. Ob dabei dieses Gespenst eines ist, das sich der Wahrnehmung durch Exteriorität als da-seiend stellt, oder ob es lediglich aus der Erinnerung endogen wieder aufersteht, durch das traumhafte Fehlurteil, nicht als Gedächtnisbild interpretiert, sondern vielmehr als Wiedergänger des Toten (fehl-)verstanden wird, bleibt zu einem gewissen Grad ungewiß. Das phantasma steht auf der Grenze zwischen aisthêsis und Verstand/ Vernunft, denn das phantasma ist auch die erste Stufe des Erscheinens der

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eide. In der Politeia heißt es im Höhlengleichnis über den Höhlenbewohner, der gerade die Höhle der aisthêta verlassen und sich den eidê zugewandt hat: Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten (skias) am leichtesten erkennen, hernach die Bilder (eidôla) der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und ebenso, was am Himmel ist und den Himmel selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen, als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. Wie sollte er nicht! Zuletzt (teleutaion) aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder (phantasmata) von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. (Rep. IV, 516af.)

Der Höhlenbewohner wird also nach dem Austritt aus der Höhle zunächst nichts anderes erblicken können als phantasmata. Den Blick zu den Dingen selbst, vor allem den direkten Blick in die Sonne der idea tou agathou, vermag er noch nicht auszuhalten, daher muß er sich der Bilder bedienen. Das phantasma, das körperlose Gespenst, das die Wahrnehmung durcheinanderbringt, das es in der Wahrnehmung auszuschalten gilt, das vor allem auch als das phantasma des Wissenden ausgeschaltet werden muß, wird andererseits zum ersten Schritt hin zu den eidê, gehört zum Erscheinen des Guten hinzu.

Die phantasmata der Schrift Auf der Grenze zwischen aisthêsis und nous befindet sich noch etwas anderes, nämlich die Schrift. Gesetzt den Fall, aisthêsis und noêsis/dianoia16 ließen sich durch Rezeptivität einerseits, Spontaneität andererseits unterscheiden – wie läßt sich dann die Schrift hier verorten, wie läßt sich das Lesen verorten? Jedes Lesen einer Schrift impliziert als grundlegende und unumgängliche Voraussetzung eine aisthêsis – sei es in der neuzeitlichen Form des Lesens die optische aisthêsis (das Abtasten der Druckseite mit den Augen) oder in der vorneuzeitlichen Kultur der Lektüre die akustische aisthêsis, in der der „Leser“ sich den Text vorlesen ließ von einem Sklaven oder einem anderen Vor-Leser.17 Zugleich aber läßt sich die Schrift nicht einschränken auf die aisthêsis, ist das Lesen eine Form der Anschauung, die sich aller anderen ästhetischen Anschauung nicht gleichartig zugesellt, sofern sich in der Schrift des Buches etwas findet, was sich außerhalb des Buches in der aisthêsis nicht finden darf, es sei denn bei Kandidaten für die Irrenanstalt, nämlich der „Geist“ (so jedenfalls stuft Kant die „Geisterseher“ ein). Die Schrift als Bild des Denkens oder Wissens und als Erinnerungsstütze gehört sowohl zum Denken, zum Wissen, zur Erinnerung, wie auch zur Dimension 16 Die dem dianoeisthai eingeschriebene Bewegung stellt einen wichtigen Unterschied dar zum weniger bewegten, eher plötzlich affizierten noein. Mit Vorsicht können die Begriffe am besten folgendermaßen übersetzt werden: noein als eine „Einsicht“ (der eher Augenblicklichkeit, Plötzlichkeit eignet) und dianoeisthai als „Denken“, dem vor allem Diskursivität und Prozessualität eignet. Vgl. dazu Jäger: Nus, 38-45. 17 Vgl. dazu den dritten Teil zum Laut-Lesen und den Stimm-Phantasmen.

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des Bildes. Wo sich „endogen“ das phantasma befindet, das das Erinnerungsbild schwer unterscheidbar macht von dem Gespenst, das um das Grab schleicht, findet sich „exogen“ die Schrift, als erscheinender Verstand, erscheinende Vernunft, phainomenon des Verstandes, der Vernunft, der dianoia, zugleich auch als dianoia/nous, Verstand, Vernunft in der Erscheinung. Zudem hat die Schrift noch eine andere Eigenheit, die über den Verdacht, selbst exteriores phantasma zu sein, hinausgreift. Die Schrift besitzt eine potentiell produktive Funktion. Bei Platon, wo sie streng an die Erinnerung gebunden ist, als hupomnêsis, als Hilfserinnerung oder Erinnerungshilfe, verweist die Schrift auf dasjenige, was durch sie erinnert wird, etwa auf Sokrates und seine Gespräche. Selbst in dieser restringierten Fassung des Schriftbegriffes setzt die Schrift etwas in Gang, was der Kontrolle bedarf, ohne daß es durch die Schrift und den Schreiber wirklich kontrolliert werden könnte. Sie muß bei Platon auf das Gedächtnis des Lesers rekurrieren können. Nur wer neben der Schrift über das Gedächtnis oder das gespeicherte wahre Wissen verfügt, vermag sich der Schrift so zu bedienen, wie es ihr Charakter als Stütze des Gedächtnisses verlangt. Trotzdem aber läßt sich die Schrift auch von denen lesen, die keine Erinnerung besitzen, lassen sich Platons Dialoge von Lesern lesen, die keine Erinnerung an Sokrates haben. Und auch bei diesen Lesern setzt die Schrift noch etwas in Gang, wird sie produktiv. Platon bezeichnet dieses Produkt der Schrift bei den Unwissenden als Scheinwissen oder Wissens-Schein.18 Es ist, das läßt sich aus dem Philebos (39aff.) entnehmen, ein Maler in der psuchê aktiv: SOKRATES: Unsere Seele (psuchê) scheint mir […] einem Buche (bibliô) zu gleichen. PROTARCHOS: Wie das? SOKRATES: Das mit den Wahrnehmungen (aisthêsesi) zusammentreffende Gedächtnis (mnêmê), und was sonst zu diesen Zuständen (pathêmata) gehört, scheinen mir dann in unsere Seelen (psuchais) gleichsam Reden (logous) einzuschreiben (graphein); und wenn sie richtig geschrieben (graphê) haben, dann ist dieses Ereignis eine richtige Vorstellung (doxa alêthês), und es gehen daraus richtige Reden (logous alêtheis) in uns hervor, wenn aber dieser Schreiber (grammateus) bei uns Falsches schreibt (pseudê graphê), so entsteht das Gegenteil von dem Richtigen (tanatia tois alêthesin). PROTARCHOS: Allerdings scheint mir das auch, und ich nehme das so Gesagte an. SOKRATES: So nimm dann auch an, daß noch ein anderer Meister (dêmiourgon) sich zu derselben Zeit (tote chronô) in unsern Seelen (psuchais) befindet. PROTARCHOS: Was für einer? SOKRATES: Ein Maler (zôgraphon), der nächst dem Schreiber (meta ton grammatistên) des Gesprochenen (legomenôn) die Bilder (eikonas) davon in der Seele (psuchê) zeichnet (graphei). PROTARCHOS: Wie tut das der nun wieder und wann? SOKRATES: Wenn einer von dem Gesicht (opseôs), oder welcher Sinn (aisthêseôs) es sonst sei, das damals Vorgestellte (doxazomena) und Ausgesprochene (legomena) losmachend (apagagôn) die Bilder (eikonas) des Vorgestellten (doxasthentôn) 18 Vgl. Phdr. 275a: „[V]on der Weisheit (sophias) bringst du [d.i. der Schrift-Bringer Theuth; A.d.V.] deinen Lehrlingen nur der Schein (doxan) bei, nicht die Sache selbst (alêtheian).“

212 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN und Gesprochenen (lechthentôn) irgendwie (pôs) in sich selbst sieht (ein hauto hora). Oder geschieht das etwa nicht bei uns? PROTARCHOS: Gar sehr freilich. SOKRATES: Sind nun nicht der richtigen Vorstellungen (alêthôn doxôn) und Reden (logôn) Bilder (eikonas) auch richtige (alêtheis), die der falschen (pseudôn) aber falsche (pseudeis)? PROTARCHOS: Auf alle Weise. SOKRATES: Wenn wir nun dies richtig bestimmt haben, so laß uns auch noch dieses dazu untersuchen (skepsômetha). PROTARCHOS: Welches doch? SOKRATES: Ob uns mit dem Gegenwärtigen (ontôn) und Vergangenen (gegonotôn) dieses zwar notwendig so begegnet, mit dem Künftigen (mellontôn) aber nicht. PROTARCHOS: Mit allem aus allen Zeiten gewiß auf gleiche Weise. (Phil. 38eff.)

Dieser Maler blickt auf Schriften (grammata) hin, auf die Engramme in der psuchê, die sich als Buch (biblion) beschrieben findet, und produziert ohne eigene Anschauungen Bilder nur aus der Lektüre dieses Engramms. Entstanden sind die grammata zwar aus der aisthêsis, der Maler aber produziert seine Bilder ausschließlich im Blick auf die Schriften, in einer fensterlosen Bibliothek sozusagen.19 Dabei entsteht der Verdacht, daß dieser Maler auch aktiv wird bei grammata, die nicht in der psuchê selbst eingeschrieben, sondern als „Exogramme“ auf Papier geschrieben und nach der Lektüre vielleicht in die psuchê eingezeichnet sind. Er stellt als Leser Bilder her aus der Schrift, Anschauungen, die nicht aus der sinnlichen Anschauung stammen, sondern von diesem seltsamen Seelenmaler. Die Abfolge wäre demnach aisthêsis – grammata – phantasma. Heikel ist dabei die Korrelation von aisthêsis und phantasma – sofern sie nicht nur angewandt wird auf die grammata in der psuchê, sondern auch auf die grammata auf dem Papier, in diesem Falle die grammata Platons. Die Lehre von der mimêsis durch die Schrift könnte wenigstens noch die Behauptung aufstellen, daß das phantasma die (repräsentierende) Wiederholung eines aisthêton ist – aber die Dichter der mimêsis werden am schärfsten verurteilt von Platon. Diese Spannung zwischen der verurteilten mimêsis und der drohenden bloßen Phantasmatik ist nicht aufzulösen, jedenfalls wird sie bei Platon nicht aufgelöst. Hingegen wird die Tragödie ausgeschlossen aus der idealen polis, und der Grund für diesen Ausschluß ist – das ist die Leitthese dieser Untersuchung – in dem angegebenen Spannungsfeld zu finden. Um zu kontrollieren, was für Bilder genau aus einem Text entspringen, um also den nachträglichen Sinn oder die nachträgliche phantasia zu kontrollieren, müßte der geschriebene Text hinter sich selbst herlaufen können, müßte um die Nachträglichkeit eine Klammer gesetzt werden können, um sie so zu einer – überspringbaren – Lücke zu machen, woraus sich aber eine erneute Nachträglichkeit ergäbe – Unendlichkeit der Produktion von immer neuen 19 Hier zeigt sich die Schwierigkeit einer Entscheidung zwischen Exteriorität und Interiorität: der philebeische Maler arbeitet zwar nicht in der Dimension der aisthêsis, gibt aber seine Bilder der psuchê zur Betrachtung. Es ist nicht die psuchê selbst, die die Bilder verfertigt, sondern ein zweiter Künstler, der der psuchê interior-exteriore Bilder produziert. Eine weitere Stelle, die diese Schwierigkeit zuspitzt, findet sich im Timaios (71aff.), wo Träume als (quasi„wahrnehmbare“) Bilder auf der Leber geschildert werden.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 213

Texten über Texte, Unabschließbarkeit der hermeneutischen Kette, etwa zu Platon. Es wird immer wieder etwas entspringen, das sich in diesem EntSpringen entzieht. Was für die bildnerische und nachbildnerische mimêsis gilt, trifft auch auf die sprachliche mimêsis der Dichter und Schreiber zu: Ebenso denke ich, wollen wir auch von dem Dichter sagen, daß er Farben gleichsam von jeglicher Kunst in Wörtern und Namen auftrage, ohne daß er etwas verstände als eben nachbilden; so daß andere solche, wenn sie die Dinge nach seinen Reden betrachten, mag er nun von der Schusterei handeln in gemessener, wohlgebauter und wohlklingender Rede, glauben müssen, daß es vollkommen richtig gesetzt sei, oder mag er vom Kriegswesen oder was du sonst irgend willst, handeln, so einen gewaltigen Reiz habe eben dieses von Natur. (Rep. X, 601af.)

Ob der Dichter etwas von der Sache versteht, von der er redet, ist nachhaltig zweifelhaft – es bedarf einer Beurteilung durch einen, der etwas davon versteht, einen kundigen Leser also. Das Urteil über den Wahrheitsgehalt oder den Wahrheitsbezug des Dargestellten vermag der Dichter selbst nicht zu treffen. Was für den Schreiber gilt, daß er als Unkundiger sich in die phantasmata verstrickt, gilt vom Leser ebenso, wie sich aus einem Abschnitt über die Beurteilung der Produkte eines Herstellers von Zaumzeug ableiten läßt: Der Maler, sagen wir, kann uns Zaum und Gebiß malen? Ja. Machen aber wird sie der Riemer und Kupferschmied? Freilich. Wie nun Zügel und Stange beschaffen sein müssen, versteht das der Zeichner? Oder nicht einmal der Kupferschmied und der Riemer, der sie macht, sondern nur jener allein, der sich derselben zu bedienen weiß, der Reiter? Vollkommen richtig. (Rep. X, 601c)

Das Urteil hat derjenige zu fällen, der sich des Hervorgebrachten bedient, der Reiter, der sich des Zaumzeugs bedient, der Leser, der sich der hervorgebrachten logoi bedient – darin aber kann sich kein Riemer und Kupferschmied jemals sicher genug sein, daß es sich nicht um einen phantasmatischen Reiter handelt, einen Reiter, der sich für kundig hält, ebensowenig wie der Schreiber, der niemals garantieren kann, daß es sich nicht um einen Leser handelt, der lediglich phantasmatisch wissend ist. Denn die Schrift selber wird nicht garantieren können, daß das Wissen, das der Wissende darin finden mag, deutlich genug unterschieden ist vom phantasma, das der Unwissende daraus zieht.20 Die bedrohliche Verwobenheit des phantasma mit der Schrift läßt sich an den Schreiber Platon herantragen. Ein Wissen über Sokrates und Theaitetos gibt es nicht mehr, das dem Scheinwissen der Schriften Platons zur Hilfe eilen könnte. Es gibt keine Reiter mehr, die Platons Zaumzeug beurteilen könnten, jedenfalls nicht außerhalb des phantasma. Es entsteht ein Verdacht, der 20 Im Phaidros heißt es, daß die Schrift nur demjenigen dienlich ist, der sich ihrer zu bedienen weiß als Gedächtnisstütze, der also bereits über ein Wissen verfügt und dem lediglich eine Hilfe bereitgestellt wird. Dieses Kriterium der Schriftbeurteilung entzieht sich dem Einfluß des Schreibers aber ebenso, wie die Zaumzeugbeurteilung dem Schmied.

214 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Platon selbst in die Nähe all jener Mimeten bringt, die er im 10. Buch der Politeia verurteilte. Denn wenn es die Wissenden nicht mehr gibt, denen Platons Schriften nur als Gedächtnisstütze dienen, so verfällt zugleich der Schreiber selbst dem Verdacht der Phantastik. Wenn es niemanden mehr gibt, der geeignet wäre zu beurteilen, ob es sich bei den Schriften um ein (göttliches oder nichtgöttliches) Nachbild oder ein Trugbild handelt, gerät Platon selbst in den Sog des phantasma, in die Gefahr der Ununterscheidbarkeit zwischen Wahrheit und Lüge ohne ein helfendes Gedächtnis. Dieser Sog zeigt sich vor allem an der Rede oder Schreibe über das phantasma, die das phantasma des phantasma produziert, die Erscheinung des Scheins oder den Schein des Scheins. Macht der logos aus dem Nichtseienden, indem davon die Rede oder Schreibe ist, nicht zugleich ein Seiendes und stellt die Ausgangsthese in Frage, die doch bewiesen werden sollte, daß nämlich etwas Bestimmtes nicht ist? Kann man über Nichtseiendes reden, ohne das Nichtseiende dann vielleicht doch irgenwie zu machen, selbst wenn die Rede zeigen sollte, daß dasjenige, von dem die Rede ist, eben nicht ist? Die Frage wird im Euthydemos exponiert: Wie doch Ktesippos, sprach Euthydemos, glaubst du, es sei möglich, zu lügen (pseudesthai)? — Beim Zeus, ja, antwortete er, wenn ich nicht toll bin. — Indem man den Gegenstand (pragma) ausspricht (legonta), von dem die Rede (logos) ist, oder, indem man ihn nicht ausspricht? — Indem man ihn ausspricht, sagte er. — Indem er ihn nun ausspricht, spricht er doch nicht etwas anderes aus, von dem, was ist, sondern eben jenes, was er ausspricht? — Wie anders? sprach Ktesippos. — Und jenes, was er ausspricht, gehört doch auch zu dem, was ist, und ist eins davon, abgesondert von dem übrigen? — Allerdings. — Wer also jenes ausspricht, spricht aus, was ist, und wer spricht was ist, der spricht auch Wahres, so daß Dionysodoros, wenn er spricht, was ist, auch wahr spricht und dir nichts anlügt. — Ja, sagte Ktesippos, aber wer das sagt, o Euthydemos, der sagt nicht, was ist. — Darauf sagte Euthydemos: Aber das Nichtseiende, nicht wahr, ist nicht? — Es ist nicht. — Nicht wahr, also, das Nichtseiende ist nirgend seiend? — Nirgend. — Kann nun wohl jemand mit diesem Nichtseienden irgend etwas tun, so daß er jenes mache, wer es auch sei, das Nirgendseiende? — Mich dünkt wohl nicht, sprach Ktesippos. — Wie nun die Redner, wenn sie vor dem Volke sprechen, tun sie nichts? — Sie tun allerdings etwas. — Und wenn sie tun, so machen sie auch? — Ja. — Das Sprechen ist also ein Tun und Machen? — Das gab er zu. Also spricht auch niemand das, was nicht ist, denn er machte es alsdann; du aber hast eingestanden, daß niemand das Nichtseiende machen könne. So daß nach deiner Rede niemand Falsches spricht, sondern, spricht Dionysodoros, so spricht er auch Wahres und was ist. (Euthyd. 21

283eff.)

Daß die Dimension oder das Vermögen der phantasia, daß phantasmatische Literatur in Zusammenhang mit der Metaphysik steht, daß zwischen dem Bereich der „reinen“ Wahrheit und der „reinen“ Fiktion als tendenziell lügnerischer Erfindung überhaupt ein Zusammenhang bestehen könnte, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Dabei soll die Metaphysik keinesfalls diffamiert werden, indem sie der phantastischen Literatur zugeschlagen wird. Vielmehr 21 Die Fragestellung soll ausführlich an Kants Geisterseher-Schrift exponiert werden, s.u. Exkurs II: Geister-Metaphysik.

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ist nachzuzeichnen, wie Platons Verfahren des Schreibens der Metaphysik mit der phantasia oder dem phantasma verwandt ist, ob die Darstellung der Metaphysik mit der phantasmatischen Darstellung partiell übereinkommt. Jörg Zimmermann schreibt in Metaphysik als Zweig der phantastischen Literatur: „Platon ist für uns vor allem deshalb interessant, weil seine Schreibform die Frage nach dem Verhältnis von Metaphysik und Literatur unmittelbar provoziert.“22 In den letzten Jahren wurde die phantasmatische oder imaginative Funktion des Schreibens von Texten zunehmend als Theatralität bezeichnet. Soll dies mehr sein als eine mehr oder weniger gut gefundene Bezeichnung für die Bildlichkeit von Texten, die bilderproduzierende Funktionsweise dieser Texte, so sollte sich ein Zusammenhang zwischen der Theatralität von Texten und Theateraufführungen ausmachen lassen, der nicht nur Aufschluß gibt über Texte, die als theatral diagnostiziert oder gelesen werden, sondern auch über einen Begriff von Theater, der dieser Theatralität zugrunde liegt. Wenn ein solcher Zusammenhang zwischen der Bildlichkeit oder Anschaulichkeit von Texten und Theater besteht, muß auch gefragt werden, ob auf diesem gemeinsamen Feld „theatrale“ Texte und Aufführungen koexistieren können, oder ob nicht vielmehr die von Platon verkündete palaia diaphora, der alte Hader zwischen Schreibern der Philosophie und (Tragödien-)Dichtern, sich nicht gerade aus der „Theatralität“ oder der Anschaulichkeit des Schreibens und der Aufführung herleitet. Arbeitshypothese für diese Untersuchung ist letzteres, daß auf dem Feld der Anschaulichkeit das philosophische Schreiben Platons – und seiner Tradition – den Theateraufführungen feindlich gegenübertritt, allerdings als Rivalität. Die Aktualität des „Theatralen“ in verschiedensten Diskursen, insbesondere auch in Diskursen über Literatur, ist dafür zunächst unter den Verdacht zu stellen, daß sich in dieser Begrifflichkeit etwas einschleicht, was in den vergangenen Jahrzehnten problematisiert, dabei vielleicht gelegentlich allzu harsch abgelehnt wurde, was sich unter dem Schlagwort der Präsenz des Sinns fassen läßt. Martina Wagner-Egelhaaf diagnostiziert im Zusammenhang mit dem unterstellten oder sich ankündigenden Ende des „Postrukturalismus“: Vermehrt werden Stimmen laut, die das Ende des Poststrukturalismus verkünden. Allenthalben läßt sich ein neuer Essentialismus vernehmen, der gegen die ‚flottierenden Signifikanten‘ ewig gestriger Poststrukturalisten das Recht auf ‚reale Gegenwart‘ geltend macht.23

22 Jörg Zimmermann: Metaphysik als Zweig der phantastischen Literatur, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, 8 (Hannover 1986), H. 4, 202-212, hier: 203. 23 Martina Wagner-Egelhaaf: Traum, Text, Kultur. Zur literarischen Anthropologie des Traumes, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Neumann, Stuttgart/Weimar 1997, 123-144, hier: 123. Es geht hier nicht darum, solche Debatten auf ihren Rückhalt in den Texten des kritisierten Poststrukturalismus zu betrachten. Als Schlagwort hat „Poststrukturalismus“ die üblichen Vor- und Nachteile von Schlagworten, die es mit sich bringen, daß sie bei genauem Hinsehen wenig haltbar sind. Worum es vielmehr geht, ist die Schwierigkeit des Umganges mit der Präsenz – als Präsenz des Sinnes oder des Sinnlichen (oder von beidem) – und die Notwendigkeit, einen reflektierten Begriff von Präsenz für die Auseinandersetzung mit Theater zu entwickeln, ohne dabei auf einem Umweg in der Metaphysik zu

216 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Der Verdacht besteht darin, daß sich unter dem Begriff der „Theatralität“ ein neuer Essentialismus kaschiert. Möglicherweise verweist die Kategorie der Theatralität tatsächlich auf eine Dimension, die „der Poststrukturalismus“ (oder vielmehr eine enge Rezeption des „Poststrukturalismus“) zu Unrecht ausgeblendet hat, die sich als verdrängt und damit notwendig zurückkehrend erweist – wobei die Aufgabe darin besteht, nicht hinter den Poststrukturalismus selbst zurückzufallen. DIE (absolute) Aufführung eines Textes gibt es ebensowenig wie DIE endgültige Lektüre eines Textes; aber es gibt immer wieder EINE Inszenierung oder Lektüre. Die Inszenierung findet sich in einer Mittelstellung zwischen Arbitrarität und Motiviertheit, als weder absolut arbiträre noch absolut motivierte und kodifizierte, sondern als relativmotivierte, um einen Begriff der Sprachwissenschaft Saussures zu übernehmen. Vorausgesetzt wird dabei, daß Arbitrarität nicht als Beliebigkeit mißverstanden wird, was sie bei Saussure auf keinen Fall war. Der Zusammenhang zwischen Signifikanten und Signifikaten ist nicht naturgegeben, das Signifikat ist nicht durch strenge Motivation mit dem Signifikanten verbunden. Gerade der Begriff der Inszenierung, die das Auf-die-Szene-Bringen als poiêsis umfaßt, läßt für Theater selbst das phantasma zu einer interessanten Kategorie werden. Im Bereich der Erkenntnistheorie muß das phantasma gebannt und festgelegt werden, muß ihm ein Ort zugewiesen werden, der die Erkenntnis nicht aus den Angeln hebt, die Erkenntnis nicht selbst auf phantasmata aufruhen läßt. Auf dieses Gebiet aber ist das phantasma bei Platon nicht beschränkt, sondern es gehört zugleich in einen anderen Bereich, aus dem es unter keinen Umständen eliminiert werden kann, wo nicht einmal der Versuch unternommen werden kann, es zu eliminieren. Es geht um den Bereich, wo das Künftige als Frage der Gestaltung und des Entwurfs – oder als Inszenierung – in die Betrachtung rückt. Hier ist das phantasma, die Imagination oder Einbildungskraft, der unbestrittene Hauptakteur. Hier ist es damit beschäftigt, Bilder des Entwurfs für das Künftige herzustellen, Bilder der idealen Stadt Platons etwa. Die Ambiguität des phantasma zwischen der Erkenntnistheorie und dem Entwurf läßt sich vielleicht mit der doppelten Bewertung der „Erfindung“ vergleichen: ist die Erfindung in Erkenntnistheorien, die sich mit der Erkenntnis des Seienden oder Gewesenen befassen, strengstens ausgeschlossen, so ist die Erfindung zugleich das Ziel der angewandten technischen Disziplinen. Einerseits Bedrohung der Wissenschaft, ist es zugleich ihr Ziel – je nach Disziplin. Das phantasma ist im Entwurf als Vorschau auf das künftig zu Gestaltende – als Funktion der Wiederherstellung eines Gesehenen – ebenso aktiv wie im Gedächtnis. Und es scheint, als wäre das phantasma verwandt mit dem Theater, wie es sich bei dem Philosophen Platon verstanden findet, der das phantasma ebenso bannen muß wie das phantasmata abbildende Theater, aber weder auf das phantasma Verzicht leisten kann noch auf das Theater. Eine Theorie des Theaters ist zu entwerfen, die der eigenartigen Verwobenheit des phantasma mit der aisthêsis und der noêsis/dianoia nachspürt. Es trifft sich dann auf dem engen und schmalen Gebiet des exterioren phantasma das Theater mit der Schrift. Der Anlaß für Platons palaia diaphora ist dann, daß das Theater, wenn es der Schrift gegenübertritt, die Schreiber daran enden; nicht etwa, weil die Tradition der Metaphysik an und für sich als beendet betrachtet würde, sondern eben aus der palaia diaphora heraus, in der sich Metaphysik und Theater seit Platon befinden.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 217

erinnert, daß auch ihre eigene Schrift zur aisthêsis gehört, so sehr man sich auch über die Jahrhunderte bemühte, die Ästhetik der Schrift zu reduzieren, bis hin zu dem eintönigen Schwarzweiß der Druckseite. Und es würde die Schreiber auch erinnern an die eigenartig produktive Phantasmatik selbst dort, wo es um schlichte Erinnerung, um das einfache Zurückrufen von Vergangenem geht, indem es zeigt, wie sich die Bilder des Vergangenen in jeder neuen „Vorstellung“ verändern. Es würde die Annahme, daß sich vergangene oder entfernte Anschauungen aus anschaulichen Schriften wiederherstellen lassen, im Innersten bedrohen, eine Annahme, die jede historische Schilderung und jede Nachricht aus der Ferne voraussetzen muß. Es würde – um die Theatermetapher ein wenig weiterzutreiben – der Verdacht ins Spiel kommen, daß in der Erinnerung selbst ein Vertreter modernen oder postmodernen Regietheaters am Werk ist, für den gilt, daß aus der Lektüre des Textes alleine keine eindeutige und ausschließliche Kodifizierung einer und nur genau einer Vorstellung entspringen kann, sondern daß die textuelle Beschreibung von Anschaulichkeiten selbst einen Spielraum öffnet und offen läßt, der so groß ist, daß eine ganze Kunst sich darin einrichten kann, nämlich die Kunst des Theaters. Dies ist nur ein Vorgriff auf eine vielleicht mögliche, vielleicht aber auch unmögliche Theorie des Theaters. Vielleicht unmöglich deswegen, weil auch eine solche Theorie geschrieben sein müßte, selbst diese Theorie noch um der Eindeutigkeit willen rekurrieren müßte zum Beispiel auf eine Vorstellung vom Theater, auf eine „Vorstellung“ der Vorstellung. Schon jede Beschreibung von Theater als der darstellenden Kunst ist Darstellung der Darstellung, Darstellung der Vorstellung, die wiederum aus der Schrift eine Vorstellung der Vorstellung und eine Vorstellung der Darstellung erzeugt. Wenn also der „alte Hader“ zwischen Philosophie und Theater, den Platon verkündete, wesentlich mit der Schriftlichkeit der Philosophie zu tun hat, so wird sich auch eine Wissenschaft vom Theater als schreibende Wissenschaft notwendig in diese palaia diaphora verstricken. Diese Wissenschaft wird sich bei dem Versuch, Vorstellungen zu beschreiben, und bei der Lektüre von Beschreibungen vergangener Vorstellungen, die beim Leser auf kein Gedächtnis der Anschauung der Vorstellung des Theaters zurückgreifen kann, im Bereich der phantasmata befinden, den sie zugleich ablehnen muß, um überhaupt eine Beschäftigung mit Theatervorstellungen, die nicht nur Beschäftigung mit Texten ist, mit denen die Vorstellungen umgehen, erklären oder legitimieren zu können. In der Methodik dieser Wissenschaft fände sich also eine petitio principii, die sie als Grundlage ihres theoretischen Interesses bereits zurückgewiesen haben müßte. Diese Aporie ist im Blick zu behalten, wiewohl diese sich nicht nur in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Theater findet, sondern in jeder schreibenden Wissenschaft, die Darstellungen in sich einbegreift. Auch hier tritt Theater durch eine erinnernde Funktion in den Konflikt ein, indem nämlich die schreibenden Wissenschaften insgesamt an ihre phantasmatische Bedrohung erinnert werden.

218 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Theatralität, Schrift, „Theatralität“ Es gab die Philosophie als Roman (Hegel, Sartre); es gab die Philosophie als Meditation (Descartes, Heidegger); nun entsteht nach Zarathustra die Philosophie wieder als Theater. Nicht als Reflexion über das Theater oder als Theater voller Bedeutungen. Sondern eine Philosophie, die zur Bühne mit Personen und Zeichen geworden ist: Aufführung eines einzigen unwiederholbaren Ereignisses. Michel Foucault24 Man darf aber nicht das Theater nach demjenigen beurteilen, was es sein könnte, sondern nach dem, was es ist. Adolph Freiherr von Knigge25

Wenn dabei die Anführungszeichen nicht überlesen werden, könnte man sagen, daß bei Platon die Philosophie als „Theater“ entstanden ist. Der Gegensatz zwischen diesem uneigentlichen teatrum philosophicum, dem es um die Wahrheit als das Eigentliche zu tun ist, und dem eigentlichen teatrum, dem es angeblich immer nur um das Uneigentliche ging, um die Verstellung, Täuschung oder Lüge, ist in den Blick zu nehmen. Von einer „szenischen“ Qualität der Dialoge zu sprechen, von ihrer Anschaulichkeit und ihrer Kraft, Bilder und Vorstellungen zu erzeugen, scheint den Dialogen nicht unangemessen zu sein. Es scheint, als würden die Begriffe „Szene“ und „Theater“ die spezifische Form der Dialoge gut beschreiben. So durchzieht eine entsprechende Begrifflichkeit von scène, théâtre und mise en scène auch Derridas Platon-Lektüre in La pharmacie de Platon. Dabei ist es in Derridas Text nicht immer ganz klar, von welcher scène die Rede oder Schreibe ist, bleibt es in der Schwebe, welche der beiden Szenen gemeint ist, von denen er in La double séance schreibt. Wenn sich Platons Dialoge szenisch entwickeln, so ist diese Szene bereits eine doppelte Szene in mehrerlei Hinsicht: zunächst ist es eine Szene in der Szene; in der Szene, die von Sokrates und seinen Gesprächspartnern konstituiert wird, findet sich die Szene des Jenseits, die Welt außerhalb der Höhle. Beide Szenen, so sehr man versuchen muß, sie auseinanderzuhalten, verweben sich ineinander, was nicht zuletzt mit ihrem gemeinsamen Erscheinungsort zusammenhängt, dem phantasmatischen Ort, der aus der Lektüre aufscheint. Selbst ist die Lektüre aber wieder auf zwei Szenen verteilt, deren eine die Szene der Schrift ist, die Schrift als Akteur einer Leseszene aus Vorlesern (oder Rhapsoden) und Hörern. Diese Szene oder dieses Theater aber ist, wie Martha C. Nussbaum in einer treffenden Formulierung schreibt, ein „anti-tragic theater“:26 24 Michel Foucault: Der Ariadnefaden ist gerissen, in: Gilles Deleuze und Michel Foucault: Der Faden ist gerissen, übers. von Walter Seitter und Ulrich Raulff, Berlin 1977, 7-12, hier: 8. 25 Adolph von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, hg. v. Gert Ueding, Frankfurt am Main 1977, 351. 26 „Plato‘s anti-tragic theater“ ist der Titel eines Interlude in Martha C. Nussbaum: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge u.a. 1986. Für Nussbaum besteht der Berührungspunkt zwischen der Philosophie Platons und ihrer Dialogform mit der Tragödie wesentlich im gemeinsamen Interesse an ethischen Fragestellungen. In einem Satz fasst sie ihr zentrales Anliegen in der Betrachtung der Form der platoni-

ARBEITEN AM PHANTASMA | 219 Two obvious facts about them [the dialogues; A.d.V.] are (1) that they are a kind of theater, and (2) that they are entirely different from any Greek theater-writing we know.

Über die mittleren Dialoge: What we find in middle-period dialogues, then, is theater; but theater purged and purified of theater’s characteristic appeal to powerful emotion, a pure crystalline theater of the intellect.

Traditionell hat der Terminus der Szene oder des Szenischen zumeist eine Bedeutung, die die Anschaulichkeit der platonischen Dialoge eher auf ein schmückendes Beiwerk oder dichterisch-freie Einrahmung der „ernsthaften Philosophie“ reduziert.27 So schreibt Hans-Joachim Krämer zum Gorgias: Indessen sind die Beweise sachlich überflüssig […]. Sie haben darum nur szenische Bedeutung, denn die Wahrheit liegt klar am Tage, und um den bloßen Starrsinn des Gegners zu brechen, sind eristische Mittel gut genug.28

Daß die szenischen Schauspiele „überflüssig“ seien oder gar „eristische Mittel“, ist eine Behauptung, der nicht zuzustimmen ist. Im Gegenteil ist davon auszugehen, daß diese szenische Qualität das Fundament bereitstellt, auf dem andere als „szenische“ Beweise überhaupt erst möglich werden. Der bloße logos, so heißt es bekanntlich in der Politeia, kommt lediglich bis zu einem Grad hypothetischer Sicherheit. Um darüber hinaus zu gelangen, bedarf es der Anschauung von Anschaulichem. Die Ausführungen, die Platon den Sokrates hier über Geometer machen läßt, lassen sich auf die Dialoge selbst anwenden: Auch daß sie sich der sichtbaren Gestalten (horômenois eidesi) bedienen und immer auf diese (peri autôn) ihre Reden (logous) beziehen (poiountai), unerachtet sie nicht von diesen handeln, sondern von jenem, dem diese gleichen und um des schen Dialoge zusammen: „[…] Plato uses the dialogue form to show us a confrontation of positions, making clear to us what any ‚solution‘ risks losing or giving up“ (8). Leider reduziert Nussbaum ihre Betrachtung der Dialoge überwiegend auf ihre Dramatik, unter Auslassung dessen, was hier als „Theatralität“ in den Blick zu nehmen sein wird. Die beiden folgenden Zitate ebd.,126 und 133. 27 Hans-Georg Gadamer schreibt: „Die moderne Plato-Forschung der nachschleiermacherischen Periode bis in unser Jahrhundert hinein ist an der dramatischen Mimesis der platonischen Dialoge achtlos vorbeigegangen“ (Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen, in: Ders.: Wege zu Plato, Stuttgart 2001, 106-139, hier:112). Zwar ist „dramatische Mimesis“ nicht gleichzusetzen mit der „szenischen“ Qualität der Dialoge, die Diagnose trifft aber auch auf diese weitgehend zu. Das Eigenartige dabei ist, daß niemand diese Qualitäten (die „szenische“ und die „dramatisch-mimetische“) bestreiten würde, vielmehr lediglich bestritten wird, daß diese Qualität irgendetwas mit dem Inhalt von Platons Philosophieren zu tun haben könnte. 28 Hans-Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959, 64, Fußnote; Kursiv im Orig. Zur Bewertung der Anschaulichkeit als Evidenz vgl. auch ebd., 80, Fußn. 87, wo der Vorrang des „anschaulichen, unmittelbar evidenten Aufweises“ betont wird.

220 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Vierecks selbst willen und seiner Diagonale ihre Beweise führen, nicht um deswillen, welches sie zeichnen, und so auch sonst überall dasjenige selbst, was sie nachbilden (plattousin) und abzeichnen (graphousin), wovon es auch Schatten und Bilder (eikones) im Wasser gibt, deren sie sich zwar als Bilder bedienen, immer aber jenes selbst zu erkennen (idein) trachten, was man nicht anders sehen (idoi) kann als mit dem Verständnis (dianoia). (Rep. VI, 510dff.) […] Ich verstehe, sagte er, zwar noch nicht genau, denn du scheinst mir gar vielerlei zu sagen, doch aber, daß du bestimmen willst, was vermittelst der dialektischen Wissenschaft (dialegesthai epistêmês) von dem Seienden (ontos) und Denkbaren (noêtou) geschaut werde (theôroumenon), sei sicherer, als was von den eigentlich so genannten Wissenschaften (technôn), deren Anfänge (archai) Voraussetzungen (hupothesei) sind, welche dann die Betrachtenden (theômenoi) mit dem Verstande (dianoia) und nicht mit den Sinnen (aisthêsin) betrachten müssen (theasthai). Weil sie aber ihre Betrachtung (skopein) nicht so anstellen, daß sie bis zu den Anfängen (archên) zurückgehen, sondern nur von den Annahmen (hupotheseôn) aus, so scheinen sie dir keine Vernunfterkenntnis (noun) davon zu haben, obgleich, ginge man vom Anfange aus, sie ebenfalls erkennbar wären (noêtôn ontôn). Verstand (dianoian) aber scheinst du mir die Fertigkeit der Meßkünstler (geômetrikôn) und was dem ähnlich ist, zu nennen, als etwas zwischen der bloßen Vorstellung (doxa) und der Vernunfter29

kenntnis (nou) zwischeninne liegendes. (Rep. VI, 511cff.)

Wichtig ist hier, wie im Aufriß der Erkenntnistheorie, die nicht bei hupotheseis haltmachen will, also bei einem relativen, heiklen und falliblen Wissen, sondern bis zur archê (Anfang, Ursache) als zum anhupotheton aufsteigen will, die visuelle Begrifflichkeit ihren Ort zugewiesen bekommt. Die Spaltung findet sich in den logoi der Geometer, die immer über das zu reden scheinen, was sie vor sich sehen (etwa ein Quadrat im Sand wie im Menon), die tatsächlich aber über etwas reden, was diesem konkret vorliegenden Anschaulichen ähnlich ist. Sie bedienen sich des Anschaulichen als Bild für etwas, was nicht anders als durch den Verstand gesehen (idein) werden kann. Diese doppelte Szene der Geometer, die die Anschaulichkeit der graphê (im Sinne der geometrischen Figuren im Sand, aber auch der Schriften Platons) nur benutzt, um daraus über das Gleichnis aufzusteigen zur Verstandesbetrachtung, zur anderen Szene, ist es, die bei der Rede von der „szenischen“ Qualität der Dialoge immer zu einer Ambiguität führt, zugleich aber dieser „Szene“ eine Funktion verleiht, die weit über „schmückendes Beiwerk“ hinausgeht. Bei Krämer selbst findet sich auf der dem obigen Zitat folgenden Seite bereits der Hinweis auf eine andere Funktion der Anschaulichkeit der platonischen Argumentation im Gorgias:

29 In spitzen Klammern erscheinen wiederum Ergänzungen zu Schleiermachers Übersetzung. Die erste Ergänzung stammt von Eigler, die zweite Erwähnung der dianoia läßt aber auch er offenbar als unnötige Wiederholung weg. Da diese Wiederholung weggelassen werden kann, halte ich sie für umso übersetzenswerter, da Platon hier offenbar Nachdruck darauf legen wollte, wo die dianoia, also das Denken mit dem logos, genau anzusiedeln ist.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 221 Er [d.i. Platon; A.d.V.] läßt Sokrates unter dem Vorwand einer Prüfung der Staatsmänner den bisher zugrundegelegten Normbegriff zur Anschauung entfalten und dadurch zu einer spezifischen Evidenz erheben.30

Die Entfaltung zu Evidenz durch die Anschauung läßt sich nicht so einfach vom angeblich schmückenden Beiwerk der Szene trennen, wie gerade die Ausführungen über den Geometer zeigen. Die Verschränkung beider Anschaulichkeiten über die Bild-Beziehung, die von Platon exponiert wird, macht es notwendig, auch die Gesprächsszenen in ihrer fundierenden Funktion zu betrachten, einer Funktion, die darin besteht, den logoi einen Grund in doppelter Bedeutung zu geben,als Grund nämlich, auf dem sie aufruhen, als die Szene, in der sie stattfinden, wie auch Grund als die archê. So deutlich die Behauptung bei Platon ist, daß beide Bereiche voneinander streng getrennt (chôris) sind, so sehr zeigen sie sich doch im logos der Homonymien31 verwoben ineinander – und weiterhin verwoben mit den phantasmata. Wenn in dieser Untersuchung von anschaulichen Reden, von den Reden in der Anschauung und der Anschauung in den Reden die Rede ist, so soll es doch weitgehend vermieden werden, einfach von der „Theatralität“ oder der „szenischen“ Qualität der Dialoge zu reden. Der Grund liegt darin, daß mit einer solchen Terminologie die platonische Grundstrategie verdeckt würde. Gesetzt, man könnte einfach von einer Theatralität der platonischen Dialoge sprechen (und man könnte vielleicht sogar von einer Theatralität des platonischen Weltmodelles sprechen): warum kommt dann die Tragödie bei Platon so ausnehmend schlecht weg? Warum wird die Tragödie – oder das Theater der Tragödie – aus der Stadt geworfen, wenn doch die Schreibweise Platons selbst theatral ist? These ist, daß die Tragödie aus genau diesem Grund aus der Stadt geworfen wird. Nicht aber, weil Platon seine Schreibweise als „theatral“ betrachtet, sondern weil die Tragödie und das Schreiben Platons jeweils auf spezifische Weise mit Anschauung und logos und ihrem Zusammenhang operieren, der zu einem Konflikt führt. Die Tragödie ist einer epistêmê zuzuordnen, gegen die sich Platon wendet, ohne doch gänzlich auf einige ihrer Bestandteile verzichten zu können. Läßt sich die Tragödie mit dem durch Kurt von Fritz vorgestellten Modell der vorsokratischen, insbesondere homerischen epistêmê verbinden, die eine kontinuierliche Aufklärung im immer genaueren Hinsehen verortete (in der Reihe idein-gignôskeinnoein) –, so findet sich bei Platon der logos eingetragen in die epistêmê. Platons Aufstiegsfolge wäre demnach idein – legein/dialegesthai – noein. Dabei kann das legein nicht komplett isoliert werden, weder vom idein, das sich auf den Sand der Geometer ebenso richtet wie auf den tönenden Körper des Sokrates, noch auch vom noein, das sich auf die eidê richtet und auf die psuchê des Sokrates. Auf knappstem Raum hat Gadamer den Zusammenhang zwischen legein und idein gefaßt, sofern das Lesen zum Bereich des logos gehört: „Platon lesen heißt sehen lernen“.32 Dabei ist Gadamers Verständnis des Verstehens von dem platonischen Vorbild im Innersten geprägt, zeigt sich die Präsenz-Metaphysik bei ihm in der Analogie zum Verstehen eines Porträts:

30 Krämer: Arete, 65f. 31 Die Dimension der eidê und der sinnlich wahrnehmbaren Dinge sind homonumon, so Timaios 51eff., s.o. Kap. „Analogien sehen: nous“ S. 196. 32 Hans-Georg Gadamer: Plato als Porträtist, in: Ders.: Wege zu Plato, 140-191, hier: 187. Das folgende Zitat ebd., 185.

222 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Es ist wie beim Lesen von Schrift oder von Druck, daß das Entziffern in das Verstehen gleichsam umspringt. Auch ein Bild läßt uns plötzlich den Dargestellten lebendig werden. Eine Erzählung stellt uns etwas wie greifbar vor Augen, und ebenso geht es einem, wenn man durch eine Darlegung wirklich überzeugt wird. Immer ist es dann plötzlich da. […] Was das ist, was da ‚da‘ ist, ist freilich nicht abermals sagbar.

Die Plötzlichkeit der Einsicht verbindet – so Gadamer – die Anschaulichkeit einer Erzählung mit der Evidenz einer Darlegung. Der Unterschied zwischen der Anschaulichkeit der Schrift und derjenigen des Bildes (oder Theaters) liegt aber in Gadamers Begriff des „Umspringens“ verborgen. Wo im platonischen Modell tatsächlich ein Springen stattfindet (aus dem hupotheton des logos in das anhupotheton, außerdem aus dem Sichtbaren ins noêton), findet in der homerischen epistêmê kein Sprung, sondern ein kontinuierlicher Aufklärungs- oder Erhellungsprozeß statt. In der Supplementierung des logosModells durch die Bildlichkeit und Anschaulichkeit bei Gadamer (oder die „Theatralität“) wird die Präsenz des Sinns scheinbar garantiert – ist aber nur eine geliehene Präsenz. Wenn von „Theatralität“ der Schrift die Rede ist, ist eines bereits aufgegeben: die „TheatRealität“ im Sinne Hans-Thies Lehmanns, jene Realität, die dem Theater eignet, das vor Augen steht, aber nicht dem Theater, das sich im Vor-„Augen“-Stellen zeigt, das wesentlich jenes Vor-Augen-Stellen ist, das von Texten produziert wird, ein phantasma des Theaters.33 Schreiben auch über Theater ersetzt notwendigerweise das TheatReale durch ein ScriptuReales oder LiteReales. Es kann sich dieser Notwendigkeit nicht entziehen, die mit einem Raumwechsel von der Bühne auf das Papier und einem Zeitwechsel in die Nachträglichkeit des Schriftlichen verbunden ist. Dieser Übergang enthält eine Differenz, die sich aus einer Verwandtschaft herleitet, nämlich aus der potentiellen Zeichenhaftigkeit oder „Schriftlichkeit“ von Theateraufführungen. Den Bereich zu benennen, der sich als das TheatReale der Verschriftlichung entzieht, bedeutet eine nicht geringe Schwierigkeit, geht es doch darum, zu schreiben, wovon sich nicht schreiben läßt, da es etwas ist, das sich zeigt. Allen Mühen zum Trotz, das Ausdruckspotential des Körpers in eine Logik, Grammatik, Rhetorik zu bannen, bleibt die Aura körperlicher Präsenz der Punkt des Theaters, an dem immer wieder das Schwinden, das „Fading“ allen Bedeutens zugunsten einer sinnfernen Faszination, einer schauspielerischen „Präsenz“, des Charismas oder der „Ausstrahlung“ eintritt. Bedeutung wird im Theater transportiert, die keine Worte findet, jedenfalls, mit der Wendung von Lyotard, auf Benennung immer „wartet“.34

Es scheint sich hier unter dem Begriff der „Faszination“ zu bestätigen, daß zum grundlegenden Besitz von Theater gehört, was Platon den Dichtern in toto vorwarf, nämlich eine Ver-Rücktheit (ek-phronêsis), die von ihnen Besitz ergreift und durch sie weiterkommuniziert wird an die theatai. 33 Zum TheatRealen vgl. Hans-Thies Lehman: Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt am Main 1999, 361-370. Zum Vor-Augen-Stellen durch die Schrift siehe den Schluß dieses Kapitels ab S. 229. 34 Ebd., S. 162f.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 223

Die Gegenübersetzung von Vernunft einerseits, „göttlicher“ Inspiration oder Be-Geisterung andererseits ist einfach und einleuchtend, nach ihr lassen sich die Professionen von Philosophen und Dichtern scheinbar leicht aufteilen: der Dichter treibt den Hörer aus der phronêsis heraus, der Philosoph treibt ihn hinein. Daß Platon dabei selbst durchaus dichterische Elemente in seinen Dialogen verwendet, ist eine in der Literatur zum Gemeinplatz gewordene Beobachtung. Daß andererseits die Dichter – wie sich in Platons fallweiser Auseinandersetzung mit Dichterzitaten zeigt – auch im Diskurs der Vernunft ernstzunehmen sind, ist die gegenläufige Überschreitung dieser streng gezogenen Grenze. Diese Grenze, so streng sie gezogen sein mag, läßt sich nicht aufrechterhalten, sie ließ sich nie aufrechterhalten, es sei denn mit Gewalt. Bereits im Begriff der poiêsis, die neuzeitlich als „Poesie“ gleichgesetzt wird mit der Dichtung, insbesondere derjenigen, die freischöpfend oder „fiktional“ dichtet, liegt im Griechischen noch eine Ambivalenz begründet: poiein heißt zunächst nur soviel wie „machen, herstellen“ und ist eine Form der praxis, die unter sich sowohl den Dichter als Wortmacher, wie auch jeden anderen, der etwas herstellt, umgreift: SOKRATES: Wo nur immer jemand, was zuvor (proteron) nicht war, hernach (husteron) zum Dasein bringt (eis ousian agê), sagt man, daß der Bringende (agonta) es mache (poiein), das Gebrachte (agomenon) aber gemacht (poieisthai) werde. THEAITETOS: Richtig. (Soph. 219b)

Aus der platonischen poiêsis heraus wird die poiêsis der Dichter verurteilt. Die ideale Stadt Platons ist Ergebnis einer poiêsis durch den Philosophen, der sie aus dem Nichtsein ins Sein bringt, der aber zugleich die poiêtai aus seinem eigenen poiêma ausschließen will.35

Präsentierung und Präsentation Beim Aufeinandertreffen von Schrift und Theater zeigt sich in der potentiellen Zeichenhaftigkeit die Verwandtschaft, die beide nur umso härter aufeinanderprallen läßt. Von seiten der Aufführung ist es die TheatRealität, die die Wucht in diesem Aufprall bringt, die auf die ScriptuRealität trifft. Ist […] das „Reale“ so sehr in das Ästhetische eingelassen, daß das letztere nur durch einen fortwährenden Abstraktionsprozeß „als solches“ in die Wahrnehmung tritt, so ist die Feststellung nicht trivial, daß der ästhetische Prozeß des Theaters nicht im selben Sinne von seiner außerästhetischen realen Materialität abzulösen ist wie das ästhetische Ideatum eines literarischen Textes von der Materialität des Papiers und der Druckerschwärze.36

Eine solche Theatralität aber ist in sich selbst wiederum verdoppelt, trägt doch die Rede von der Theatralität oder Theatralisierung zwei Bedeutungen 35 Der Satz, der den Entwurf der idealen Stadt in der Politeia (II, 369c) einleitet, lautet: „Wohlan, sprach ich, laß uns also in Gedanken eine Stadt von Anfang an gründen (poiômen).“ 36 Lehmann: Postdramatisches Theater, 174.

224 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

in sich, die hier vorläufig als die Pole von Präsentation und Präsentierung benannt werden sollen. Mit dieser Unterscheidung soll zunächst auf die „Präsenz“ hingewiesen werden, die mit der Theatralität notwendig ins Spiel zu kommen scheint. Die Aktualität des Begriffs „Theatralität“ erklärt sich aus diesem wiederkehrenden Interesse an der Präsenz, nachdem diese lange Zeit im wesentlichen im Zusammenhang mit der „Metaphysik der Präsenz“ genannt und verworfen wurde. Daß diese Kritik und Ablehnung nicht jede Präsenz schlechthin betreffen kann, versteht sich eigentlich von selbst. Präsenz ist nicht unbedingt und automatisch metaphysisch. Metaphysisch wäre nur eine solche Präsenz, die als „Präsenz des Sinnes“ der Schrift etwa oder „Präsenz der Wahrheit“ bei der Schrift gedacht wird. Dieser steht nicht etwa die Präsenz des Unsinns oder der Unwahrheit oder Lüge gegenüber, sondern eine Präsenz, die zunächst weder wahr noch unwahr, weder Sinn noch Unsinn ist, schlicht und einfach die Präsenz in der Sinnlichkeit, die weder metaphysisch noch nichtmetaphysisch ist, sondern zunächst vor allem einmal physisch. Von dieser Präsenz oder Gegenwart heißt es bei Kant: Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe eine Erkenntnis abgeben können. Beide sind entweder rein, oder empirisch. Empirisch, wenn Empfindung (die die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt) darin enthalten ist; rein aber, wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist. Man kann die letztere die Materie der sinnlichen Erkenntnis nennen.37

Dieser empirischen Anschauung, die das Reale und die Gegenwart impliziert38, steht eine andere Sinnlichkeit gegenüber, die Kant als die Einbildungskraft bezeichnet: Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit; so fern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die

37 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, WW III, Frankfurt am Main 1974, 97 (B 74). 38 Vgl. insbesondere das Kapitel Antizipationen der Wahrnehmung, ebd., 208ff. (B 207ff.). Auch Ders.: Kritik der Urteilskraft, WW X,.Frankfurt am Main 1974, 222 (B 153), wo von der Empfindung als vom ‚Realen der Wahrnehmung‘ die Rede ist.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 225 transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welche eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist.39

In der Sinnlichkeit, wie Kant sie versteht, trifft sich die Empfindung, die die Präsenz des Gegenstandes voraussetzt und deshalb nur a posteriori agieren kann, mit der Einbildungskraft, die die Präsenz nicht nur nicht voraussetzt, sondern wesentlich die Eigenschaft hat, Gegenstände auch ohne deren Präsenz in die Sinnlichkeit zu bringen. Dabei aber oszilliert die Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstand, gehört einerseits zur Sinnlichkeit, andererseits zum Verstand, stellt zugleich die Grundlage für alle weitere Verstandesarbeit bereit. Kant bleibt etwas unentschieden darin, wie die Einbildungskraft zu behandeln ist, ob es sich gleichsam um einen Raum handelt, in dem die Vermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes sich zu einer Kooperation zusammenfinden, oder ob es sich um ein wirklich eigenständiges Vermögen handelt. Wäre es ein solches eigenständiges Vermögen, so müßte es wiederum nach eigenen Regeln operieren, die weder mit denen des Verstandes noch mit denen der Sinnlichkeit deckungsgleich sind, von denen der Verstand aber zwangsläufig abhängig wäre.40 Gegenstände ohne ihre Gegenwart in die Sinne zu bringen, im Sinne der Einbildungskraft, phantasia oder Imagination, aber auch als Halluzination oder Vision, und nicht zuletzt als Erinnerung (an Gewesenes oder Künftiges), soll hier mit dem Begriff der Präsentation bezeichnet werden. Wodurch diese Präsentation verursacht wird, ist dabei nicht unwichtig, markiert aber lediglich einen Unterschied innerhalb des Konzeptes der Präsentation. Ob es sich um einen exterioren Ursprung handelt (etwa die Schrift) oder um einen interioren (etwa das Gedächtnis), ist für die Präsentation zweitrangig. Anders verhält es sich mit der Präsentierung, die die Steigerung der Realität eines präsenten Gegenstandes benennen soll. Für Kant ist das Reale eine intensive Größe, die von Null bis ins Unendliche gehen kann: Nun ist vom empirischen Bewußtsein zum reinen eine stufenartige Veränderung möglich, da das Reale desselben ganz verschwindet, und ein bloß formales Bewußtsein (a priori) des Mannigfaltigen im Raum und Zeit übrig bleibt: also auch eine Synthesis der Größenerzeugung einer Empfindung von ihrem Anfange, der reinen Anschauung = 0, an bis zu einer beliebigen Größe derselben. Da nun Empfindung an sich gar keine objektive Vorstellung ist, und in ihr weder die Anschauung vom Raum, noch von der Zeit angetroffen wird, so wird ihr zwar keine extensive, aber doch eine Größe (und zwar durch die Apprehension derselben, in welcher das empirische Bewußtsein in einer gewissen Zeit von nichts = 0 bis zu ihrem gegebenen Maße erwachsen kann), also eine intensive Größe zukommen, welcher korrespondierend allen Objekten der Wahrnehmung, so fern diese Empfindung enthält, intensive Größe, d.i. ein Grad des Einflusses auf den Sinn, beigelegt werden muß.41

39 Kant: Kritik der reinen Vernunft, 148f. (B151f.). 40 Für die eigenständigen Produktionen der Einbildungskraft vgl. unten Exkurs II: Geister-Metaphysik. 41 Kant: Kritik der reinen Vernunft, 208f. (B207).

226 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Die Präsentierung steigert die Intensität der Wahrnehmungsobjekte. Diese Intensivierung ist ebenfalls mit der Theatralität verbunden, mit der Theatermacherei im pejorativen Sinne, dem Pomp und der Scheinhaftigkeit, die in dieser metaphorischen Verwendung des Theaters als Denkmodell mitklingt und insbesondere Bezug nimmt auf jene Tradition des Theaters, die sich in Maschinen und Lichteffekten, in pompösen Kostümierungen und gesteigerter Stimmpräsenz, verschärft in der Rede von der Opern- oder Operettenhaftigkeit ausdrückt; die den Charakter der Unterhaltung, des amusement und sentiment, des Schreckens und nicht zuletzt der Erotik umgreift. Wenn von Theatralität im Sinne einer ‚Herstellung von Präsenz‘42 gesprochen wird, dann ist auch diese Rede ambig, als die Herstellung der Präsenz von Nicht-Präsentem, zugleich aber auch die Herstellung der Präsenz von Präsentem, von Anwesendem, was die Präsenz als emphatischen, nicht aber metaphysischen Begriff impliziert, da es sich – in Kants Terminologie gesagt – noch immer um die Präsenz von Materialem handelt, von Empirischem und Realem. Für die Rede vom Theater zeigt sich diese Zwiespältigkeit in der Rede einerseits von einem Theater, das als Theater der Präsentierung benannt werden könnte, einem Theater, das sich der Steigerung der Präsenz in der Dar- und Vorstellung des Präsenten, der Aufführung, der Darsteller et cetera einordnen ließe. Daneben aber findet sich auch die Rede von einem Theater, das als Theater der Präsentation verstanden werden könnte, nämlich der Präsentation, der (Ver)Gegenwärtigung von Absentem. Die Präsenz als Präsentierung wird zumindest sich selbst darstellen müssen – und die Rede von der Selbstdarstellerei ist nicht zufällig eben mit der Schauspielerei im landläufigen Sinne verbunden, impliziert die Rede von der Selbst-Darstellung doch, daß das Selbst, das sich darstellt, ein nur von der Darstellung produziertes Selbst ist, ein Selbst, das einer gewissen Blenderei, Scheinhaftigkeit oder Falschheit nahesteht.43 Die schriftliche Darstellung dessen, was sich selbst in gesteigerter Präsenz darstellt, die (schriftliche) Präsentation des (szenisch) Präsentierten, hat nun aber die Schwierigkeit, daß sich die gesteigerte Präsenz in ihrer (schriftlichen) Präsentation nicht wiederfindet. Das Theater, die Aufführung, von der geschrieben wird, ist immer und notwendig verschwunden, wenn das Schreiben beginnt. Das Paradox, dem sich jeder Versuch des Beschreibens von Theater zu stellen hat, ist, daß die szenische Präsentierung in der Beschreibung umschlagen muß in die schriftliche Präsentation der szenischen Präsentierung, so daß zugleich schriftliche Präsentation stattfindet vom Präsentieren der Aufführung wie von ihrer Präsentation. Schreiben vom Theater heißt, mit Abwesendem Umgang zu haben, und zwar mit notwendig Abwesendem, mit Unwiederbringlichem, Unwiederholbarem und also radikal Abwesendem. Während die Präsentation sich auf der Grenze von Abwesenheit und Anwesenheit bewegt, indem sie Abwesendes zur Anwesenheit bringt, ohne daß es das Abwesende selbst ist, das zu Anwesenheit kommt, bringt die Präsentierung – so seltsam es zunächst klingen mag – Anwesendes zur Präsenz. 42 Diese Qualifizierung findet sich bei Hans-Ulrich Gumbrecht mehrfach. Vgl. Ders.: Einführung, in: Jan-Dirk Müller: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien, Berichtsband 17), 331-337 passim. 43 Genau das ist der Impetus der platonischen Argumentation gegen die Sophisten im Sophistês, dort, wo die Sophisten als Selbstdarsteller mit dem Schauspieler in Verbindung gebracht werden, vgl. Soph. 267aff.

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Wo die Präsentation es vorwiegend mit Geistern und Gespenstern zu tun hat, hat die Präsentierung – wenn sie zum Zweck der Verdeutlichung auf einen herausragenden Exponenten eingeschränkt werden soll – vor allem mit dem Licht zu tun, dem Grad der Erhellung oder Lichtung. Die idea tou agathou ist für Platon sonnengleich das ek-phanestaton, das Hervorscheinendste, das in der sprachlichen Form des Superlativs den Hinweis auf die graduelle Abstufung oder Abschattung trägt. Lehmann schreibt: Der Impuls des postdramatischen Theaters, intensivierte Präsenz ("Epiphanien“) des menschlichen Körpers zu realisieren, ist ein Bestreben nach Anthropophanie. Im Paradigma des postdramatischen Theaters kann es jedoch keinen „Humanismus“ geben, wenn man darunter die Behauptung eines irgendwie gearteten Ideals „des“ Menschen versteht. Stets wird es um das Erscheinen eines besonderen, bestimmten, realen einzelnen Menschen gehen, um die Unverwechselbarkeit seiner Geste, seiner Lebendigkeit in einer realen Zeit, der begrenzten Zeit des Theaters als Spiel.44

Der (durch die Präsentierung) erschienene Mensch aber ist verschwunden, wenn begonnen wird zu schreiben. Wenn das Schreiben beginnt, ist das Theater verschwunden und wird zum „Theater“. Das bringt die Anthropophanie in die Nähe eines anderen, der verschwunden ist, von dem sich sagen ließe, was hier vom Menschen gesagt wird: in die Nähe der Theophanie, auf die die Anthropophanie verweist.45 Der Begriff der Realpräsenz gehört zu den zentralen Begriffen der Lehre vom erscheinenden theos, der aber – von der Schrift aus betrachtet – dem erscheinenden anthropos näher ist als es zunächst scheinen mag. Theos und anthropos nähern sich, von der Schrift aus betrachtet, deswegen aneinander an, weil beide der schriftlichen Präsentation gleichermaßen abwesend sind. Allerdings wird damit noch nichts darüber gesagt, ob die Abwesenden grundsätzlich und generell abwesend sind und damit nicht Gegenstände einer „möglichen Erfahrung“ sind (wie das platonische eidos, das sich nur im Jenseits findet), oder lediglich der schriftlichen Präsentation abwesend sind, aber potentiell anwesend und Gegenstände zwar einer möglichen, nicht aber der aktuellen Erfahrung (wie etwa Platons Figur des Sokrates, der war und nicht mehr ist). Auf dem Umweg über die Schrift gerät das Theater in die Nähe einer Mystik, die der Geistesmystik, der visio beatifica streng entgegengesetzt ist, da es sich im Theater der Anthropophanie um keine visio intellectualis, sondern um eine visio sensualis handelt, einen Augenblick, der dem physischen und nicht dem „geistigen“ Auge gegeben ist, ohne dabei doch dem Geistigen oder Intellektuellen entgegengesetzt zu sein. Um den Unterschied dieser beiden Visonen klar zu machen, kann an die unterschiedlichen Mystiken von Bernhard von Clairvaux und die zisterziensische Nüchternheit seiner Mystik, der das Schwarzweiß der Druckschrift nahesteht, einerseits erinnert werden, andererseits an Abt Suger von St. Denis und den Glanz der inszenierten Raumästhetik der Kathedrale von St. Denis.

44 Lehmann: Postdramatisches Theater, 369. 45 Zur Realpräsenz und Theophanie im Zusammenhang mit der als Herstellung von Präsenz verbundenen Theatralität vgl. Gumbrecht: Einführung, 332f.

228 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Comme Saint Bernard, Suger veut s’élever à Dieu, mais alors que le premier renonce aux sens, l’autre use des délectations sensibles pour y trouver comme un avant-goût des délices suprêmes. Les principes de son esthétique religieuse, Suger les fait graver à l’entrée même de sa basilique sur les portes de bronze. „[…P]ar la beauté sensible, l’âme alourdie s’élève à la vraie beauté et de la terre où elle gisait engloutie, elle ressucite au ciel en voyant la lumière de ces splendeurs.“46

Mit dem Begriff der Präsentierung läßt sich ein grundlegender Zug benennen, den Lehmann am postdramatischen Theater konstatiert: die Steigerung von Präsenz. Dadurch rückt das Theater wieder weg von der Verwandtschaft mit dem geschriebenen Text im Sinne einer medialen Darstellung. Zugleich rückt das Theater in die „außertheatrale“ Realität als Ort des Materialen selbst, dem zugleich – als eine Welt der Gegenstände – die Eigenschaft des Realen zukommt. Die theatrale Materialität unterscheidet sich von der „außertheatralen“ durch die Intensität, wiewohl im Theater neben der Präsentierung auch die Präsentation noch ihren Ort hat. Es läßt sich auch das postdramatische Theater nicht auf einen bloß festlich-präsentierenden Charakter einengen: Weiter als die ersichtliche Wahrheit, daß der Körper das Zentrum und Faszinosum des Theaters ausmacht, führt die Erkenntnis, daß Theater, Ort der schweren und dichten Materialität des Körpers, zugleich von der Transzendierung des Körpers und seiner Beschränkungen lebt. Damit ist nicht gemeint seine äußerliche Steigerung: daß der Körper im Licht der Bühne schöner, bedeutsamer, leuchtender wirkt als im gemeinen Leben. Vielmehr erweist die Faszination am Körper, augenfällig in Tanz und Akrobatik, aber auch spürbar in der körperlichen und mentalen Konzentration von Schauspielern auf nichts geringeres als die Idee möglicher Vergeistigung des Körpers, seine Spiritualisierung.47

Vergeistigung des Körpers wäre nun aber zugleich eine Beschreibung dessen, was mit dem Körper geschieht, wenn über ihn geschrieben wird. Der Körper ist dann – als imaginierter, eingebildeter, phantasmatischer – Körper „vergeistigt“. Aber es handelt sich dieses Mal um eine Vergeistigung des Körpers ohne Körper, Vergeistigung aus den Zeichen der Schrift heraus: es bleibt ein body in the mind.48 Der Körper bleibt als dargestellter Körper auf der Bühne selbst materieller Körper, während der Körper, der von der Schrift dargestellt wird, immer nur ein phantasma sein kann – vielleicht als phantasma der Er46 Edgar de Bruyne: Études d’esthétique médiévale, II, 143. Eine ausführliche Diskussion kann hier nicht stattfinden, müßte sie doch zunächst das Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Theater in den Blick nehmen, das eine solche einfache Übertragung der Suger’schen Mystik auf das Theater verhindert. Es müßte zudem der Unterschied gemacht werden zwischen dem Programm Sugers, der über den Blick auf den Glanz den Blick hinausführen will auf etwas anderes, auf eine Transzendenz – während die „Vergeistigung des Körpers“, von der Lehmann schreibt, eher auf eine Immanenz verweist. 47 Lehmann: Postdramatisches Theater, 398. 48 Die Formulierung stammt von Mark Johnson, der der Imagination eine weitreichende Funktion zuschreibt: „Without imagination, nothing in the world could be meaningful. Without imagination, we could never make sense of our experience. Without imagination, we could never reason toward knowledge of reality.“ (Mark Johnson: The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago/London 1987, ix).

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innerung, möglicherweise aber auch als ein bloßes phantasma im Sinne eines Phantoms. Es läßt sich nicht nur von einer Vergeistigung des Körpers auf der Bühne reden, sondern zugleich von einer Verkörperlichung des Geistes. Genau darin besteht einer der Hauptvorwürfe, der dem Theater in seiner langen Geschichte immer wieder von philosophischer oder theologischer Seite gemacht wurden: daß der Geist sich hier verkörpert findet. Der Schrift eignet die Möglichkeit der Präsentation, auch wenn diese, im Zuge der Problematisierung der Re-Präsentation, zunehmend in Frage steht. Die Konsequenz nämlich dieser Eigenschaft oder Möglichkeit der Präsentation ist die möglichst weitgehende Reduktion der ästhetischen Präsenz der Schrift selbst. In ihrer Globalität ist diese Behauptung schwer zu begründen, kann sich lediglich auf den Prozeß der zunehmenden „Reinigung“ der Druckseiten von jeglicher ästhetischen Präsenz berufen, etwa mit Blick auf die Buchmalereien des Mittelalters, die nicht etwa der Schrift Illustrationen beigegeben haben, sondern die Schrift selbst zur Malerei haben werden lassen, über die Druckseiten der Gutenberg-Druckereien bis hin zum modernen steril-typographischen Schriftbild. Die Schrift – wäre die an diese Beobachtung anschließende Behauptung – muß in dem Maße an Materialität, Präsenz und Anschaulichkeit verlieren, wie sie anderes anschaulich machen, zur Präsentation bringen können soll, sie muß selbst an Präsenz verlieren, um abwesendes Anderes präsent zu machen. Der Möglichkeit der Präsentation korrespondiert eine De-Präsentierung. Für diesen Vorgang gibt es bei Rüdiger Campe den Begriff der figurativen Ersetzung, der allerdings eine Medientransposition wiederum „im übertragenen Sinne“ beschreibt: Beim Erzählen […] geht es um den medialen Wechsel vom Sprachlichen zum Optischen, der in unterschiedlicher Weise mit figurativer Ersetzung zusammenfällt: Die Evidenz schreibt dem Erzählen die Möglichkeit sprachlich-optischer Medientransposition im übertragenen Sinne zu.49

Hier wird das „Sprachliche“ als nicht-optisch und also als nicht-schriftlich gefaßt. Man müßte aber bei einer schriftlichen Sprache von einer optischoptischen Medientransposition sprechen, oder vielmehr von einer optisch„optischen“, da der übertragene Sinn eine Optik im übertragenen Sinne impliziert.

Das Vor-Augen-Stellen durch Schrift Wie ist es denkbar, daß die Schrift Präsentation betreibt und daß dabei eine schriftliche Präsentation eines Theaters des Präsentierens versucht wird? Dadurch, daß vor Augen gestellt wird, indem vor Augen entstehen soll, was gerade nicht vor Augen steht. Schrift soll zur Anschauung bringen, was sich gerade jetzt nicht anschauen läßt.50 Sie stellt vor Augen oder vor (geistige) „Augen“. 49 Campe: Vor Augen stellen, 220. 50 Die Kategorie der Anschaulichkeit, so Gottfried Willems, ist in der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte ganz „außer Kurs“ geraten. Seine Frage lautet dagegen: „Ist Literatur nicht zunächst und vor allem anschauliche Rede?“ (Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der

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Dasjenige, was an der Schrift vor Augen steht und anschaulich ist, ist das ScriptuReale, das Schwarz-auf-Weiß der Schrift auf dem Papier. Um etwas vor „Augen“ zu stellen, muß von dieser Anschauung der Schrift gerade abgesehen, auf etwas anderes hingesehen werden. Bei dieser poiêsis, der Produktion von Anschaulichkeit, wird etwas vor „Augen“ gestellt, was nicht vor Augen ist, vor das „geistige Auge“. Daß bei Platon vor „Augen“ gestellt wird, zeigt sich besonders deutlich im Höhlengleichnis der Politeia. Es ist Sokrates, der durch seine Rede „sehen“ läßt, und es ist sein Gegenüber Glaukon, der bestätigt, daß er „sieht“: Sieh (ide) nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vornhin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt, wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauten, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. Ich sehe (horô), sagte er.

Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, 4). Bereits in dieser Ausführung zeigt sich die Ambiguität, die Literatur als „anschauliche Rede“ zu bestimmen: die Schrift ist eine anschauliche, eine sichtbare Rede, die zugleich aber anschauen läßt. Die Schwierigkeit seines Unterfangens umreißt Willems: „Wie kommt es, daß die Kategorie der Anschaulichkeit, als enargeia, evidentia, sub oculos subiectio (Cicero) seit der Antike fester Bestandteil der Poetik und bei den idealistischen Ästhetikern und ihren Nachfolgern geradezu eine zentrale Bestimmung von Dichtung, in jüngster Zeit bei all dem Definieren und Neudefinieren kaum mehr eine Rolle gespielt hat? Das Elementare steht immer in einem eigentümlichen Zwielicht, in dem es sich bald als allzu selbstverständlich und bald als nur schwer faßlich zeigt, ja gerade seine Selbstverständlichkeit erweist sich als schwer zu fassen; so auch die Anschaulichkeit. […] Indem er [d.i. der Begriff der Anschaulichkeit; A.d.V.] die Literatur von ihrem Hinarbeiten auf die Phantasie des Lesers aus zu begreifen sucht, scheint er in das Niemandsland der reinen Subjektivität zu führen, aus dem der Wissenschaft niemals klare Begriffe, handfeste Kriterien, nachprüfbare Argumente erstehen werden. Was sind das denn für Vorstellungen, die Sprache in einem Leser erweckt? Wie soll man ihren anschaulichen Charakter fassen, wie sie je neben wirkliche Anschauungen stellen können? Und hiervon soll eine wissenschaftliche Auseinandersetzung ihren Ausgang nehmen?“ (Ebd., 5) Der Schilderung der Ausgangslage ist nachdrücklich zuzustimmen. Allerdings unterläßt es Willems, die Frage nach der Anschaulichkeit auch der Wissenschaft, dem wissenschaftlichen Schreiben zu stellen. Wie verhält es sich also mit jener Anschaulichkeit, die die Wissenschaft selbst produziert, mit der „Sinnlichkeit“ also, von der der Philosoph redet und schreibt? Es handelt sich um eine Problemlage, die nicht allein die Literaturwissenschaft betrifft, sondern vor allem auch die Philosophie, sofern sie schreibt. Für Willems heißt die Forderung, die methodische Lücke zu schließen, die der Fortfall der Kategorie der Anschaulichkeit hinterlassen hat (ebd., 6, Fn.) – dagegen ist noch die Möglichkeit im Blick zu behalten, daß diese Lücke prinzipiell nicht schließbar ist, eben weil die Anschaulichkeit sich entzieht, weil sie produziert wird von der Schrift, ihr vorausgeht oder nachträglich ist, nie aber eigentlich präsent. Präsent ist lediglich die Anschauung der Schrift, der Schrift auf dem Papier.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 231 Sieh (hora) nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Gefäße tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. Ein gar wunderliches Bild (eikona), sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. (Rep. VII, 514aff.)

Das Höhlengleichnis ist ein Gleichnis über das Sehen. Der Höhlenbewohner sieht zunächst die Schatten auf den Wänden, dann aber soll ein anderes „Sehen“ beginnen, das ein Sehen von anderem bewirkt, indem der Höhlenmensch die Fesseln löst, die die Sinnesorgane ihm angelegt haben, und seinen Kopf wendet. Dasselbe geschieht aber auch mit dem Leser, der den geschriebenen Dialog vor Augen hat, den Blick nicht länger auf die Schriftzeichen auf dem Papier richten soll, sondern sich abwenden und „sehen“, was das Bild zu sehen gibt, das Sokrates dem Glaukon zu sehen gibt. Die Höhle sehen zu können, die die Schrift hier beschreibt, bedeutet, einen Schritt weg von der „Höhlenwand“ getan zu haben, die die Schrift ist, hin zu jener Höhlenwand, die die Schrift „sehen“ läßt. Diese Szene in der Politeia spielt sich nachts ab, der ganze Dialog spielt in der Dunkelheit – so ist es vielleicht kein Zufall, daß Sokrates mit einem Partner namens Glaukon spricht, da doch glaux die Eule oder das Käuzchen bezeichnet, ein Tier also, das nachts in der Dunkelheit sehen kann, wenn andere Tiere nichts sehen.51 Sokrates erzählt Glaukon über eine Höhle, in der sich die beiden nicht befinden (oder eben doch befinden – im „übertragenen Sinne“), und fordert ihn auf zu sehen: ide. Was er sehen soll, wird ihm von Sokrates gesagt, jene Höhlenszene nämlich, die er ihm beschreibt. Nach einigen Worten dieser Beschreibung fällt Glaukon ein, um dem Sokrates zu sagen, daß er sehe: horô. Er sagt nicht, was er sieht, er sagt nur, daß er sieht – als wäre er vor der Aufforderung des Sokrates blind gewesen. Sokrates fährt fort, hält ihn erneut zum Sehen an: hora. Dann erst wird Glaukon bestätigen, daß er etwas sieht, ein Bild (eikon) nämlich, das ihm Sokrates in die Augen gezeichnet zu haben scheint mit seinen Worten. Die theoretische Reflexion über das Vor-Augen-Stellen als rhetorisches, das heißt sprachliches Mittel, findet sich bei Aristoteles, in der Rhetorik, im Zusammenhang der Ausführungen über die durch rhetorische Mittel zu erzielenden Affekte.52 Das Vor-Augen-Stellen wird im Abschnitt über eleos (Mitleid, eigentlich „das Zerschneiden des Herzens“; vgl. Gemoll) abgehandelt, in einer Weise allerdings, die nicht genau entscheiden läßt, ob es Aristoteles darum geht, daß der Redner den Zuhörern etwas körperlich vorstellt, ihnen etwas vor die körperlichen Augen stellt, oder ob es ihm um die Rhetorik der 51 Daß das Gespräch in der Nacht stattfindet, leitet sich aus dem Hinweis ab, daß die Gespräche am Ende des Bendis-Festes beginnen, in Erwartung des nächtlichen Fackelzuges (vgl. Rep. I, 327-328b). Aus der Länge des Dialoges folgert John Sallis, daß es sich zumindest weit in die Nacht hinein erstreckt haben müsse (John Sallis: Being and Logos, 314). Glaukon wird üblicherweise mit dem gleichnamigen Bruder Platons identifiziert, was umso plausibler ist, da sich mit Thrasymachos ein weiterer Gesprächspartner findet, der auf einen Bruder Platons verweist. Trotzdem soll der Zusammenhang zwischen der Thematik des Sehens, der Nacht, der glaux und der Göttin Bendis, die Sallis (320) als „goddess of the dark of the moon, of the black nights when the moon is hidden“ beschreibt, wenigstens am Rande angemerkt werden, 52 Bei Platon selbst läßt sich auf eine Lehre über das Vor-Augen-Stellen nur auf dem Umweg über die Ver-Rückung, die im Ion beschrieben wird, schließen.

232 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

bilderzeugenden Rede geht. Die Betonung in der Behandlung des Vor-Augen-Stellens liegt bei ihm vor allem in der zeitlichen Entfernung und Annäherung: Da […] Leiden, die uns nahe (eggus) erscheinen (phainomena), Mitleid (eleeina) erregend sind, man aber über die, die vor zehntausend Jahren geschehen sind oder in zehntausend Jahren geschehen werden, für die man weder Erwartungen (elpizontes) noch Erinnerungen (memnêmenoi) hegt, überhaupt kein Mitleid empfindet (eleousin) oder doch nicht in gleicher Weise, so folgt daraus notwendig, daß die, die durch Mimik (schêmasi), Stimme (phônais) und Sinneseindruck (esthêsi) und überhaupt durch die Kunst der Darstellung (hupokrisei) den Eindruck verstärken, in größerem Maße mitleiderregend (eleeinoterous) sind – denn indem sie das Übel uns vor Augen führen (pro ommatôn poiountes), bewirken sie, daß es uns nahe (eggus poiousi phainesthai to kakon) erscheint: gleichsam als bevorstehend oder als bereits geschehen.53

Die Geschehnisse, die rhetorischen Präsentationen sind nur dann wirksam und mitleiderregend, wenn sie verbunden sind mit Hoffnung (elpis) auf Zukünftiges oder Erinnerung (mnêmê), dann, wenn sie nicht 10.000 Jahre fern bleiben, sondern nahe (engus) erscheinen. Die Wirksamkeit auch der unglücklichsten Geschehnisse kommt nicht allein aus der Präsentation, sondern sie sind vor allem von der Präsentierung abhängig. Interessant ist daran der Hinweis auf die hupokrisis, auf die Kunst des Schauspielers also, auf sein Vermögen, mit Körperhaltung (schêma), Stimme (phônê) und Kleidung (esthêsis) die Intensität zu steigern. Interessant wird der Hinweis deswegen, weil in der Schrift, in der Aristoteles sich ausführlicher mit der Kunst der Schauspieler beschäftigt, der Poiêtik also, zu lesen ist, daß der kosmos tês opsêôs, die geordnete Ganzheit der anschaulichen Aufführung der Tragödie, einen nur unwesentlichen Beitrag zu ihrer Wirkung leiste. Ist das Vor-AugenStellen der Rhetorik also ein solches, das vor (geistige) „Augen“ stellt – oder findet sich eine vom Urteil der Poiêtik abweichende Beurteilung der Schauspielerei in diesem Abschnitt der Rhetorik? Als nahe erscheinende (phainomena) werden die Leiden wirksam, indem sie durch rhetorische Mittel vor Augen gestellt werden. Dieses Vor-AugenStellen überbrückt – mit dem Hinweis auf die 10.000 Jahre – die Lebensspanne dessen, vor dessen Augen sich gestellt findet, was er weder jemals gesehen hat noch auch jemals sehen wird. Das Ferne erscheint als nahe – darauf hat auch Platon hingewiesen, als in der Polietia das Urteil über die Kunst der bildnerischen mimêsis zu fällen war. Im Beweis für die Behauptung, daß diese mimêtai, zu denen der Maler und der Tragödiendichter zu rechnen sind, sich an denjenigen Teil der psuchê richten, der dem logistikon, dem rechnend-denkenden Teil der psuchê diametral gegenübersteht, führt Sokrates aus: Beim Zeus, sprach ich, dieses Nachbilden gehörte doch zu dem dritten von der Wahrheit ab. Nicht so? Ja.

53 Aristoteles: Rhetorik, übers., mit einer Bibliogr., Erläuterungen und einem Nachw. vers. von Franz G. Sieveke, München 51995, 1386a.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 233 Aber worauf im Menschen äußert es denn die Kraft, die es hat? Wovon meinst du denn? Nun hievon. Dieselbe Größe erscheint (phainetai) uns doch durch das Gesicht (opseôs) wahrgenommen von nahebei (egguthen) und von ferne (porrothen) nicht gleich? (Rep. X, 602c)

Bei Platon liegt die Ursache für die Täuschung durch die mimêsis in dem Teil der psuchê, der mit dem Unterschied zwischen Nähe und Ferne umzugehen hat, der die Gegenstände einmal näher und ein andermal entfernter, einmal größer und ein andermal kleiner sieht, der des Eingreifens des logistikon bedarf, um nicht von den Größen- und Näheverhältnissen getäuscht zu werden. Dabei ist bei Platon allerdings die Ferne die eigentliche Ursache der Täuschung: Gar weit (porrô) also von der Wahrheit (alêthous) ist die Nachbildnerei (mimêtikê); und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem nur ein weniges trifft und das im Schattenbild. Wie der Maler, das leugnen wir doch nicht, der wird uns Schuster, Tischler und die andern Handwerker nachbilden, ohne irgend etwas von diesen Künsten irgend zu verstehen; aber doch, ist er nur ein guter Maler und zeigt, wenn er einen Tischler gemalt hat, ihn nur hübsch von fern (porrôthen), so wird er doch Kinder wenigstens und unkluge Leute anführen (exapatô), daß sie das Gemälde für einen wirklichen Tischler halten. (Rep. X, 598bf.)

Das Spiel mit (räumlicher und zeitlicher) Nähe und Ferne ist bedrohlich, weil es die Wahrheit dazu bringen kann, nicht zu erscheinen, aus der Erscheinung zu verschwinden, oder – wenn ein solcher Neologismus erlaubt ist – zu „entscheinen“ (a-phainesthai): SOKRATES: Wie also? Beim Gesicht leidet die Wahrheit (alêtheian aphanizei), wenn man Größen von nahe (agguthen) und von fern (porrothen) sieht, und dies bewirkt (poiei) falsche Vorstellungen (pseudê doxazein), und bei Lust und Unlust sollte nicht dasselbe eintreten? PROTARCHOS: Noch weit mehr wohl, o Sokrates. (Phil. 41ef.)

Wenn die Wahrheit nicht mehr erscheint, haben die Sophisten mit ihrer Kunst, phantasmata durch logoi zu produzieren, ein leichtes Spiel, zumal die meisten Menschen überhaupt unter der Bedingung des Nicht-Erscheinens des Göttlichen leben: Zuerst über göttliche Dinge, wie sie den meisten (tois pollois) verborgen (aphanê) sind, setzen sie [die Sophisten] sie doch in Stand sich zu streiten? (Soph. 232c)

Was über die Malerei ausgeführt wird, soll in der Politeia ebenso von derjenigen Kunst gelten, die sich nicht direkt an die opsis wendet, sondern vielmehr an das Gehör (akoê), nämlich die sprachliche poiêsis: Selbst also schlecht (phaulos) und mit Schlechtem sich verbindend erzeugt die Nachbildnerei auch Schlechtes.

234 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Das scheint wohl. Und etwa nur die es mit dem Gesicht (opsin) zu tun hat, oder auch die mit dem Gehör (akoên), welche wir die Dichtkunst (poiêsin) nennen? Wahrscheinlich wohl, sagte er, auch diese. (Rep. X, 603b)

Als Korrektiv gegen die Täuschungen der opsis hat Platon die Meßkunst eingesetzt – gegen die Täuschungen der akustischen Dichtkunst wird er nunmehr das vernünftig abwägende Urteil in Stellung bringen, um den durch pathêmata erregbaren Teil der psuchê, an den sich die mimêsis wendet, zu besänftigen und aus dem moralischen Urteil auszuschließen. Während Platon behauptet, die trügerische Kunst der Maler, die ihre Trugbilder vor Augen stellen, bedürfe der Ferne, um als Trug nicht aufzufallen, liegt für Aristoteles die Kraft des Vor-Augen-Stellens gerade darin, nahezubringen, was nicht nahe ist. Die Geschehnisse vor 10.000 Jahren bleiben fern, was nahekommt, ist durch die Kunst der Rhetorik bewirkt. Dieses Vor-Augen-Stellen der Rhetorik ist Präsentation von etwas, das keine RePräsentation sein muß, da dasjenige, was wiederholt werden soll, was als Wiederholtes vor Augen gestellt wird, in einer Dimension ist, aus der es nicht wiedergeholt werden kann. Gerade die gigantische Zahl von 10.000 Jahren sorgt dafür, daß es sich um Ereignisse handelt, die in keinem (interioren) Gedächtnis mehr zu finden sind. Mag bei den Ereignissen, die seit dieser Zeitspanne vergangen sind, noch die Möglichkeit bestehen, daß es sich um eine Wiederholung oder Re-Präsentation (und nicht etwa um eine frei geschaffene „Fiktion“) handelt, zeigt die entgegengesetzte Richtung in das Künftige (mellôn), das durch das Vor-Augen-Stellen nicht wiederholt oder re-präsentiert wird – es würde höchstens das Ereignis in 10.000 Jahren, das vielleicht so eintreten wird, wie es vom Rhetor vor Augen gestellt wurde, zur Re-Präsentation der rhetorischen Präsentation. Bei Aristoteles geht es dabei vornehmlich um die Zeit, bei Platon zugleich um den Raum, denjenigen der eidê nämlich, die in einem dem Diesseits grundsätzlich nicht zugänglichen Jenseits liegen und dort zwar (im Sinne einer Ewigkeit) präsent, aber niemals hier präsent sind. Das platonische Sein ist ein Da-Sein, das dem Hier-Sein gegenüber steht, das im Hier sich höchstens als Gedächtnis findet, wie bei Aristoteles das Vor-Augen-Gestellte jetzt vor Augen stellt, was nicht jetzt ist. Was die Rhetorik nach Aristoteles zeitlich nahebringt, bringt Platon in seinen Dialogen – vor allem im Phaidon, Phaidros und der Politeia – räumlich näher. In der Rhetorik stellt sich für Aristoteles ein Verhältnis von Abwesendem und Anwesendem ein. Es wird nähergebracht, was vergangen oder künftig und damit abwesend ist, zugleich aber ist das Vor-Augen-Stehende anwesend, erscheinend oder – mit einer Formulierung Heideggers aus seiner Sophistês-Vorlesung, die die phantasia nach Aristoteles bestimmt – vergegenwärtigt: kata phantasian dagegen wohl etwas da, aber Seiendes in seinem leibhaften Da faktisch durchgestrichen. Ich lasse mir von mir aus sich etwas zeigen. Nicht gegenwärtigend – dahaben – sondern vergegenwärtigen von etwas. Nicht ontôs on,

ARBEITEN AM PHANTASMA | 235 sondern hôsper en graphê […] nicht begegnen lassen vom Seienden her, sondern das „da“ bei mir.54

Das Vergegenwärtigen streicht das „Da“ eines Daseienden aus, indem es sich nicht von sich aus, sondern vom Auge des Vergegenwärtigenden aus zeigt. Es ist nicht gegenwärtigend, sondern vergegenwärtigend und damit „bei mir“, im Auge des Betrachters und nur dort. Zugleich gegenwärtigt aber das phantasma, das sich vor Augen stellt. Das macht die Wirksamkeit des VorAugen-Stellens aus: Nur weil etwas gegenwärtigt, entsteht das Mitleid; die Präsentierung dieses Gegenwärtigenden hat Einfluß auf die Intensität des Mitleids – wobei noch immer offen bleibt, ob Aristoteles über den Rhetor spricht, der sich in der Weise des Schauspielers selbst vor Augen stellt, oder ob er durch seine Reden vor „Augen“ stellt. Das Vor-Augen-Gestellte kommt nicht nur räumlich nahe, sondern vor allem zeitlich, wie es später in der Rhetorik heißen wird: „[M]an muß die Dinge (prattomena) nämlich eher als aktuell Geschehenes denn als Zukünftiges (mellonta) sehen (horan).“55 Rüdiger Campe spricht von „Zeitmetastasen“, die durch das Vor-Augen-Stellen bewirkt werden, von Vergegenwärtigungen des Nicht-Mehr eines Faktums und des Noch-Nicht eines ZukünftigGeplanten, die er als „historisches Präsens“ und „politisches Präsens“ benennt: Seit Aristoteles und der hellenistischen Rhetorik sind dem Vor-Augen-Stellen unterschiedliche Rollen zugewiesen worden: Evidenz und Schilderung, lebendiges Bild und anschauliche Metapher, pathetische Vergegenwärtigung und durchsichtiger Stil. Hinter der Fülle seiner Rollen und der Vielfalt in Ersetzungsart und Wirkung erscheint das Vor-Augen-Stellen ‚selbst‘ wie die Unbekannte einer Funktion. Es gibt zwei ergänzende Formeln für diese Funktion der Bildgebung: (1) die Ersetzung des Zukünftig-Geplanten durch etwas, das gegenwärtig geschieht (Aristoteles), (2) die Ersetzung des Faktums, daß etwas geschehen ist, durch die Art und Weise eines augenblicklich Geschehenden (Quintilian). Man kann diese Aktualitätsfiguren, die den Übergang von Gesetz bzw. Struktur und Anwendung bzw. Wirkung vorbilden, politisches Präsens (für das Futur der Absicht) und historisches Präsens (für das Präteritum des Faktums) nennen.56

Es geht darum, die Dinge gegenwärtig zu sehen, wiewohl sie nicht gegenwärtig sind. Wird dieses Konzept eingeschränkt auf eine strikte Repräsentation, scheint es unproblematisch zu sein – allerdings läßt es sich darauf nicht einschränken. Vor Augen können auch solche Dinge gestellt werden, die nicht anders gegenwärtig sein können.57 Es handelt sich bei dem Vor-Augen-Stellen des Aristoteles um einen Effekt mit dem Ziel der Präsentierung: im eleos. In der Steigerung der Erregung 54 Martin Heidegger: Platon, Sophistês, in: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen, 19, hg. von Ingeborg Schüßler, Frankfurt am Main 1992, 649f. 55 Aristoteles: Rhetorik, 1410b. 56 Campe: Vor Augen stellen, 209. Zur „Zeitmetastase“ ebd., 223. 57 Davon wird im Zusammenhang mit dem Verdacht des Aristoteles zu handeln sein, die ersten noêmata, die ersten Vernunftbegriffe, seien vielleicht lediglich phantasmata. Vgl. unten Kap. Aristoteles: Wahrnehmung, Phantasma, Intellekt, S. 269ff.

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des Mitleids beim Betrachter, in dessen „Augen“ das Bild durch die „VorAugen-Stellung“ geschrieben wird, die sich auf drei Wegen vollzieht: durch das schêma (die Figur), die phônê (Stimme) und die Kleidung (esthêsis). Der Inbegriff dieser Kunst lautet bei Aristoteles hupokrisis: die Schauspielerei nicht nur im rhetorischen, sondern vor allem auch auch im szenisch-theatralen Sinne. Eigenartigerweise stützt sich die Rhetorik in der Diskussion der Erzeugung von eleos gerade auf die hupokrisis, während das Büchlein, das sich vor allem mit der Tragödie befaßt, die Poiêtik, die Kunst des Schauspielers aus der Wirkung der Tragödie ausschließen will: Die Inszenierung (opsis) vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen (psuchagôgikon); sie ist jedoch das Kunstloseste (atechnotaton) und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst (poiêtikês) zu tun. Denn die Wirkung (dunamis) der Tragödie kommt auch ohne Aufführung (agônos) und Schauspieler (hupokritôn) und Schauspieler zustande.58

Die Wirkung des Vor-Augen-Stellens in der Rhetorik ist dieselbe, wie die Wirkung, die Aristoteles der Tragödie zuschreibt: eleos, der sich bei der Tragödie noch um den phobos erweitert findet – je nach Übersetzung „Furcht und Schrecken“, „Furcht und Mitleid“. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Tragödie, mit der sich Aristoteles in der Poiêtik auseinandersetzt, eine gelesene Tragödie ist. Die Tragödie, so heißt es dort bekanntlich, beinhalte die opsis, also die gesamte visuelle Dimension, nur als minderwertigen Bestandteil, als sechsten von sechs Teilen, da die der Tragödie eigentümliche Wirkung sich bereits beim Lesen einstelle. Aristoteles formuliert am Ende des erhaltenen Poiêtik-Textes beim Vergleich mit dem Epos: [D]ie Tragödie [tut] auch ohne bewegte Darstellung (aneu kinêseôs) ihre Wirkung, wie die Epik. Denn schon die bloße Lektüre (anagignôskein) kann ja zeigen, von welcher Beschaffenheit sie ist. Wenn sie nun in den anderen Punkten überlegen ist, dann kommt es bei ihr auf die schauspielerische Darstellung nicht an: diese braucht überhaupt nicht vorhanden zu sein. […] Sie hat ferner das Merkmal der Eindringlichkeit (enarges), und zwar sowohl bei der Lektüre (anagnôsei) als auch bei der Aufführung (epi tôn ergôn).

Das Vor-Augen-Stellen der Rhetorik geschieht durch die hupokrisis des Redners – für die Wirkung der Tragödie aber ist der hupokrites als Anschaulicher vernachlässigbar. Es bedarf des Realen des Schauspielers scheinbar nicht, um das Vor-Augen-Stellen zu bewirken – jedenfalls darf es kein wichtiger Teil der Tragödie sein. Ganz beiläufig erwähnt Aristoteles, daß die Aufführung dann doch wieder beitragen kann zur Wirkung der Tragödie: Nun kann das Schauderhafte (phoberon) und Jammervolle (eleeinon) durch die Inszenierung (opseôs), es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt.

58 Dieses und die nachfolgenden fünf Zitate aus: Aristoteles: Poetik, gr./dt., übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, und zwar: 1450b; 1462a10ff.; 1453b1ff.; 1456b7f.; 1118b10ff. und 1455a20.

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Da es um die Dichtkunst geht in dem Büchlein des Aristoteles, die Tragödie auf ein Sprachkunstwerk zurechtgestutzt ist, ist diese Präferenz einsichtig. Wäre es andersherum, ließe sich mit Aristoteles die Frage stellen: „[W]elche Aufgabe hätte der Redende noch, wenn sich die angemessene Wirkung auch ohne Worte einstellt?“ Bei Aristoteles steht in der Poiêtik die Präsentation im Vordergrund, die mimêsis, die immer wieder als „Nachahmung“ übersetzt wird, wiewohl auch in der Poiêtik die Beschränkung nicht auf die Wiederholung eines wirklich Geschehenen stattfindet. Eines der Hauptvergnügen der Tragödie wird von Aristoteles als die Wiedererkennung einer Figur angegeben, die allerdings voraussetzt, daß die wieder zu erkennende Figur bereits früher gesehen wurde: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern (eikonas), weil sie beim Betrachten (theôrountas) etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z.B. daß diese Gestalt den und den darstelle. (Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat (proeôrakôs), dann bereitet das Werk nicht als Nachahmung (mimêsei) Vergnügen (hêdonên), sondern wegen der Ausführung (apergasian) oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.)

Vor allem als Präsentation soll die mimêsis gefallen, auch die tragische mimêsis, indem sie einen Wiedererkennungswert hat. Für wen sie diesen Wert haben wird, ist für den Dichter ebenso wenig zu garantieren, wie für den Schauspieler – dies hängt allein vom Erfahrungsschatz der Zuschauer ab. Für diejenigen, die wissen, worauf sich die mimêsis einer Tragödie bezieht, gibt es den lustvollen Wiedererkennungseffekt, für denjenigen, der nicht zuvor gesehen hat, was er wiedererkennen soll oder kann, bleibt die hübsche Aufführung als Lustgewinn: Präsentation einerseits, Präsentierung andererseits. Der philosophische Genuß an der mimêsis ist bei Aristoteles von vornherein als eine Lektüre konzipiert, als die „Wiedererkennung“, die im griechischen die Vokabel für das Lesen abgibt: anagignôskein. Wer (die Tragödie) nicht lesen kann, kann sich nur an den schönen Buchstaben erfreuen. Ansonsten sollte die Schönheit der Buchstaben (der opsis der Tragödie) möglichst reduziert bleiben. Allerdings bedarf es in der Poiêtik sehr wohl des Vor-AugenStellens, allerdings auf eine andere Weise und in einem anderen Zusammenhang, beim Schreiben nämlich der Tragödie: Man muß die Handlungen (muthous) zusammenfügen und sprachlich ausarbeiten, indem man sie sich nach Möglichkeit vor Augen stellt (pro ommatôn tithemenon). Denn wenn man sie so mit größter Deutlichkeit (enargestata) erblickt (horôn), als ob man bei den Ereignissen (prattomenois), wie sie sich ereignen, selbst zugegen wäre, dann findet man das Passende und übersieht am wenigsten das dem Passenden Widersprechende.

Der Tragödiendichter schaut auf etwas hin, was er sich vor „Augen“ stellt: er stellt sich die Szene vor Augen – in verblüffender Ähnlichkeit zu dem platonischen Maler im Gorgias, der sein Werk mit Blick (blepein) auf etwas anderes in Ordnung bringen sollte. Das theatron ist in diesem Blick des Dramati-

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kers nicht anwesend. Der Schreiber soll sich nicht etwa die Aufführung vorstellen, für die er schreibt. Er soll sich den Ereignissen annähern, als ob er selbst zugegen wäre, soll selbst ein Schauen spielen. Was er aufzeichnet, ist die „Theatralität“ vor der Schrift, ist das Vor-Augen-Stellen, das sich durch die Schrift hindurch wieder vor Augen stellen soll. Diese opsis als „deutliches Sehen“ (enargestatos horan) gilt es im Akt des Schreibens einer Tragödie unbedingt zu vollziehen, wiewohl die opsis auf der Bühne selbst ein nachrangiger Bestandteil der Tragödie ist. Was der Schreiber der Tragödie mit seiner Schrift vor „Augen“ stellt, ist nicht die Schrift, die vor Augen steht – ebenso, wie der Schauspieler auf der Bühne die Wirkung nicht daraus produzieren soll, was er vor Augen stellt, sondern durch das, was sich durch die Darstellung vor „Augen“ stellt und wiedererkannt werden kann. Das Vor-Augen-Stellen in der Rhetorik des Aristoteles hat zunächst die Erhöhung der Wirksamkeit der Redeweise zum Ziel, die Steigerung durch die Annäherung des Fernen, in der sich Präsentation (des vor langem Geschehenen oder in weiter Zukunft Geschehenden) und Präsentierung (als Wirkungssteigerung) überschneiden. Zugleich aber geht es noch um etwas anderes, was von Aristoteles als Analogie beschrieben wird, nämlich um eine Verlebendigung von Unbelebtem: Ich verstehe aber unter Vor-Augen-Stellen (pro ommata poiein) das, was Wirksamkeit (energounta) zum Ausdruck bringt (sêmainei). Sagt man z.B.: ein rechtschaffener Mann sei ein Würfel (= Ausdruck für geometrische Vollkommenheit), so ist das eine Metapher. Beides bezeichnet (sêmaînei) nämlich etwas Vollkommenes, aber nicht die Wirksamkeit (energeia, actualitas). Anders dagegen der Ausspruch: ‚dessen Manneskraft in ihrer Blüte steht‘, er drückt Wirksamkeit (energeia) aus.59

Den Unterschied zwischen Metapher und Vor-Augen-Stellen setzt Aristoteles in der Wirksamkeit (energeia) an. Dazu schreibt Campe: „Durch die Definition des Vor-Augen-Stellens als der Ersetzung des Leblosen durch das Lebendige fixiert Aristoteles das Vor-Augen-Stellen zur lebendigen Metapher.“60 In diesem Falle des Vor-Augen-Stellens bezeichnet es als eine „lebendige“ Metapher die Verlebendigung von Leblosen, indem es letzterem eine energeia zuspricht. Es läßt sich die Frage aufwerfen, ob nicht bereits das erstere (rhetorische) Vor-Augen-Stellen Belebung des Unbelebten enthält. Der Sprache selbst wird dabei die energeia zugeschrieben. Dieser energeia eignet eine phantasmatische Wirksamkeit, eine „halluzinative Bildwirkung“, die einem Sehen Raum gibt, das „weder ‚reales‘ (eigentliches) Sehen von Dingen noch ‚geistiges‘ (übertragenes) Sehen von Bedeutungen und Texten ist.“61 Damit trägt sich das Vor-Augen-Stellen bei Aristoteles in einen Raum ein, der vom phantasma regiert wird und zugleich die Tragödie beinhaltet, sofern diese Tragödie durch die hupokrisis vor Augen stellt.62 59 Aristoteles: Rhetorik, 1411b. 60 Campe: Vor Augen stellen, 217. Die Ausführungen des Aristoteles dazu finden sich in der Rhetorik, 1411aff. insbes. im 11. Kapitel des III. Buches. 61 Campe: Vor Augen stellen, 225. 62 Eine zentrale Funktion weist Viviana Cessi der phantasia in der aristotelischen Theorie der Tragödie zu mit der an I. M. Glanville anschließenden Bemerkung, „daß erstens ein Mangel an phantasia, d.h. mangelndes Vorstellungsvermögen, Ursache einer hamartia sein kann, wenn der Handelnde nicht in der Lage ist, sich die möglichen Folgen seiner Handlung zu vergegenwärtigen. In diesem

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Das Vor-Augen-Stellen steht dabei in gespanntem Verhältnis zu dem, was wirklich vor Augen steht – in ähnlicher Weise wie bei Platons „Theatralität“. Die opsis des Realen steht in keinem einfachen Verhältnis zu der opsis, die hervorgerufen wird durch das Vor-Augen-Stellen. Es ist in der Rhetorik in der Zweideutigkeit des Bezugs auf die hupokrisis nicht zu klären, ob der Rhetor durch seine Reden vor Augen stellen soll, was nicht vor Augen steht, oder sich selbst vor Augen stellen soll, um damit die Wirkung dessen, was sich an ihm zeigt, zu steigern. Wird also durch die Präsenz des Redners die Präsentierung intensiviert oder wird durch das Absehen von dem, was vor Augen liegt, und das Hinsehen mit den „Augen“ auf das, was sich durch die logoi hindurch zeigt, durch die De-Präsentierung des Realen die Präsentierung verstärkt? Im Falle der letzteren Variante, der notwendigen De-Präsentierung vor der Präsentierung dessen, was vor „Augen“ gestellt wird, muß also zunächst das Reale ausgeschaltet werden. Der Raum dieses Vor-Augen-Stellens korreliert mit dem Raum des Gedächtnisses, läßt sich aber nicht sicher an eine bloße Re-Präsentation dessen, was erinnert wird, binden: Seinen ‚eigenen‘ Ort hat Vor-Augen-Stellen in einer Schicht des Rhetorischen, die in der Rhetorikgeschichte oft wie ein bloßer Anhang behandelt worden ist: dort wo sich in spiegelschriftlicher Verkehrung der Platonischen Idee Vorstellungsbild und Einzeichnung ins Gedächtnis überschneiden. Das Vorstellungsbild (phantasma) hat nach Aristoteles Teil an Aktivität und Irrtumsmöglichkeit des Denkens, das es notwendig begleitet. Anders als beim Abbildungsverhältnis zwischen Wahrnehmung und Erscheinung, gibt es zwischen phantasma und Denken freies Spiel. Vor-AugenStellen ist dieses Spiel selbst.63

Das Vor-Augen-Stellen ist eingetragen in einen Zwischenraum zwischen Wahrnehmung, Gedächtnis und phantasma. Es ist die Möglichkeit, etwas durch Repräsentation zu erinnern, ist aber auch die Möglichkeit, etwas zu „erinnern“, das sich nicht erinnern läßt, da es allzulange (10.000 Jahre) vergangen oder noch gar nicht geschehen ist. Es ist als actualitas und energeia der Sprache gegenwärtige Wahrnehmung von etwas, das nicht gegenwärtig ist. Es wird vor „Augen“ gestellt, was nicht vor Augen steht. Damit hat das Vor-Augen-Stellen einen schwierigen Status hinsichtlich der Wahrnehmung des Präsenten und der Erinnerung des Abwesenden. Es ist eine Art Gedächtnis des Gegenwärtigen, indem auf dasjenige, was vor Augen steht, nicht mehr Fall geht er unvorsichtig oder unüberlegt vor. Zweitens kann der von einem Drama erzielte Effekt unmöglich verwirklicht werden, wenn nicht eine gewisse phantasia auf seiten der Zuschauer vorausgeetzt wird. Denn Mitleid und Furcht können beim Zuschauer nur unter der Bedingung erweckt werden, daß dieser die dargestellte Handlung auf sich beziehen kann, d.h. daß er sich etwas darunter vorstellen kann, das auch ihm widerfahren könnte. Nur wenn der Zuschauer seine phantasia in dieser Hinsicht richtig zu betätigen weiß, kann er aus dem vor ihm aufgeführten Stück eine Lehre ziehen.“ (Viviana Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt am Main 1987, 32). Zur phantasia und zum phantasma bei Aristoteles vgl. unten Kap. Phantasma, Wahrnehmung, Verstand. 63 Campe: Vor Augen stellen, 216. Die Behauptung des Abbildverhältnisses zwischen Wahrnehmung und Erscheinung ist allerdings problematisch, da auch hier für Aristoteles die phantasia am Werke ist. Vgl. dazu Kap. Phantasma, Wahrnehmung, Verstand S. 269ff.

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hingeblickt werden soll, es nur noch als verweisendes Merkmal dienen soll zum Zwecke der Präsentation; es ist außerdem Wahrnehmung von Abwesendem. Das Vor-Augen-Stellen ist selbst eine doppelte Analogie, einerseits zur Wahrnehmung, andererseits aber auch zum Erinnern: [D]ie Vorstellung (phantasia) ist etwas anderes als Wahrnehmung (aisthêseôs) und Nachdenken (dianoias), und wie sie selbst nicht vorkommt ohne Wahrnehmung (aisthêseôs), so gibt es ohne Vorstellung keine Vermutung. Daß sie aber nicht derselbe Denkakt ist wie Vermutung, ist klar, denn dieser Vorgang (Vorstellung), liegt in unserer Gewalt, sobald wir wollen, denn wir können etwas vor Augen stellen (pro ommaton poiêsasthai) wie die mit der Gedächtniskunst (mnêmonikois) Vertrauten etwas bildlich (eidôlopoiountes) hinstellen.64

Nimmt man den Begriff der „Vorstellung“ in der Vielschichtigkeit, die im Deutschen anklingt, als „mentale“ Vorstellung und Vor-„Augen“-Stellen einerseits, als Theatervorstellung und Vor-Augen-Stellen andererseits, so läßt sich eine Hypothese bilden, warum die Theatervorstellung sich dem Schreiben entzieht, sich der dianoia entgegenstellt, warum sich diese „Theatralität“ der Schrift dem TheatRealen entgegenstellt. Die Vorstellung des Vor„Augen“-Stellens stellt sich vor die Vorstellung, die vor Augen steht – es sei denn die opsis, die Aristoteles als Stiefkind behandelt, läßt sich nicht in dem Maße de-präsentieren, wie es etwa die Schrift auf dem Papier tut. Daß die anagnôrisis, die als „Wiedererkennung“ übersetzt zu werden pflegt, zugleich aber die „Lektüre“ von Schriften bezeichnet, für Aristoteles ein eminent wichtiger Anteil der Theorie der Tragödie ist, läßt sich von hier aus verstehen. Von den sechs geschilderten Formen der anagnôrisis beschreibt besonders die dritte am besten die Präsentation, die von einer aisthêsis ausgehend, dann von dieser wegsehend, etwas anderes vor „Augen bekommt und sieht (idonta)“: Die dritte Art [der Wiedererkennung; A.d.V.] vollzieht sich auf Grund der Erinnerung (mnêmês), dadurch, daß man bei einem Anblick (tô aisthanesthai) etwas bemerkt (ti idonta). So im Falle der „Kyprier“ des Dikaiogenes: jemand erblickt (iôn) das Bild (graphên) und fängt an zu weinen. Ebenso auch in der Erzählung von Alkinoos: jemand hört (akouôn) dem Zitherspieler zu, erinnert sich (mnêstheis) und bricht in Tränen aus. Der eine wie der andere wird daraufhin erkannt (anegnôristhêsan).65

Es ist die Wirkung, die bezeugt, daß etwas sich vor „Augen“ stellt, was nicht vor Augen steht; hier wird es nicht direkt als eleos beschrieben, sondern es werden die Tränen bemerkt, die selbst zu Zeichen werden, daß das VorAugen-Stellen stattgefunden hat. Daß dieses Vor-Augen-Stellen und die damit verbundene Wiedererkennung/Lektüre durch eine graphê (Bild/Schrift) geschieht, schließt den Kreis der Vorstellungen.

64 Aristoteles: Über die Seele, gr./dt., mit Einl., Übers. (nach Willy Theiler) und Komm. hg. von Horst Seidl, Berlin 71986, 427b10f. 65 Aristoteles: Poetik, 1454b35ff.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 241

Theatralitäten der Schrift Daß das Wort Sinn (aber nur im Singular) so häufig für Gedanken gebraucht, ja wohl gar eine noch höhere Stufe, als die des Denkens ist, bezeichnen soll; daß man von einem Ausspruche sagt: es liege in ihm ein reichhaltiger oder tiefer Sinn (daher das Wort Sinnspruch), und daß man den gesunden Menschenverstand auch Gemeinsinn nennt, und ihn, obzwar dieser Ausdruck eigentlich nur die niedrigste Stufe vom Erkenntnisvermögen bezeichnet, doch obenan setzt, gründet sich darauf: daß die Einbildungskraft, welche dem Verstande Stoff unterlegt, um den Begriffen desselben Inhalt (zum Erkenntnisse) zu verschaffen, vermöge der Analogie ihrer (gedichteten) Anschauungen mit wirklichen Wahrnehmungen, jenen Realität zu verschaffen scheint. Immanuel Kant66 In der Schrift hat etwas Geltung – also Wert – nur dadurch, daß es andern Werten innerhalb eines bestimmten Systems gegenübersteht, das durch eine bestimmte Anzahl von Buchstaben gebildet wird. […] Das Material, mit dem die Zeichen hervorgebracht werden, ist gänzlich gleichgültig, denn es berührt das System nicht […]; ob ich die Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder oder einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung (signification) gleichgültig. Ferdinand de Saussure67

In der Literaturtheorie spielt neuerdings das Konzept der Theatralität eine zunehmend wichtige Rolle, in einer Weise allerdings, die die platonische Doppelstrategie des alten Haders mehr oder minder explizit wiederaufnimmt. So schreibt Gerhard Neumann in der Einleitung eines kürzlich erschienenen Sammelbandes: Als Prämisse […] schien es für die Konzeption des vorliegenden Bandes unerläßlich, die Vorstellung ‚Theatralität‘ aus dem Feld der Theater- und Geschichtswissenschaft, der Sozialwissenschaft und der Ethnologie heraus im Sinne der eigenen (literaturwissenschaftlichen) Disziplin neu zu konzeptualisieren und in deren Kontexten fruchtbar zu machen […] Es sollte sich […] bald erweisen, daß die neueren Text-, Literatur- und Kulturtheorien der (Post)Moderne ‚Theatralität‘ (freilich oft unter anderer Terminologie) ihrerseits als grundlegende Kategorie des sprachlichen Geschehens geltend gemacht haben; als ein Dispositiv, das unweigerlich ‚ins Spiel‘ kommt, sobald Sprache als Praxis der Bedeutungsgenerierung und Bedeu66 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, WW XII, Frankfurt am Main 1974, 397-690, hier: 468. 67 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. von Charles Bally und Albert Sechehaye, unter Mitarbeit von Albert Riedlinger übers. von Hermann Lommel, 2., mit neuem Register und Nachwort von Peter von Pohlenz vers. Aufl., Berlin 1967, 143 (165). (In Klammern wird in Folge die entsprechende Seitenzahl der kritischen französischen Ausgabe gesetzt: Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, veröffentlicht v. Charles Bally u. Albert Sechehaye, unter Mitarb. v. Albert Riedlinger, krit. Ausg. erst. v. Tullio Mauro, Nachw. v. Louis-Jean Calvet, Paris 1985.)

242 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN tungsstiftung ernstgenommen wird. Sprache, so könnte die leitende These lauten, hat ihre eigentliche Szene in sich selbst. ‚Szene‘ und ‚Sprache‘ erweisen sich damit als untrennbar miteinander verknüpft.68

Sprache hat also ihre eigentliche Szene und Theatralität in sich selbst69 – demgegenüber kann dann wohl die Theatralität des Theaters nur eine uneigentliche sein. Es bleibt allerdings die Frage, ob die Rede von „Theatralität“ nicht selbst zu den sogenannten „uneigentlichen“ Redeweisen gehört, in das Feld der Metapher also. Beides schließt sich bekanntlich nicht aus, scheint doch das Eigentliche der Sprache selbst die Uneigentlichkeit zu sein.70 Ob die Schrift eigentlich das „bessere Theater“ ist, mag dahingestellt sein – zu problematisieren ist die Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit. Zu unterscheiden ist, daß es sich bei der Theatralität der Schrift um eine andere handelt als bei der Theatralität des Theaters. Diese beiden Theatralitäten unterhalten ein fundamental verschiedenes Verhältnis zum Sinn, sodaß die beiden folgenden, sich eigentlich ausschließenden Behauptungen von Gerhard Neumann und Hans-Thies Lehmann beide gültig sind: Die Produktion von Sinn, die Herstellung von Ordnungsmustern, ist, so lautet die Folgerung […], überhaupt nicht anders denn als theatral denkbar.71 Die Sinnlichkeit der Bühne ist von Hause aus dem Sinn nicht wohlgesonnen.

72

Während die Theatralität des Theaters sich in einem permanenten Spannungsverhältnis zum Sinn befindet, ist die Theatralität der Schrift die Grundbedingung für die Produktion von Sinn. Genau das bringt die beiden Theatralitäten zurück in den alten Hader, da das eigentliche Theater der Schrift, von dem uneigentlich zu sprechen ist, sich mit dem uneigentlichen Theater, von dem eigentlich zu sprechen wäre, konfrontiert sieht. Auf diese Konfrontation stößt die Konzeption der Theatralität bei Neumann, die allerdings als „in die entfernte Vergangenheit des Problems der Theatralität zurückweisendes Moment“ betrachtet wird: Die epistemologische Verbindung der Konzepte von Tragödie und Philosophie, von Theater und Theorie, vermittelt in der Vorstellung des Sakralen das Denken des Tragischen, welches sich – in dieser späten Phase einer langen Geschichte [gemeint ist wohl die Phase, die durch Wagner und Nietzsche markiert wird; A.d.V.] – von der Beschränkung auf die Reflexion der Gattung Tragödie ablöst und zugleich 68 Gerhard Neumann: Einleitung, in: Szenographien, hg. v. Gerhard Neumann, Caroline Pross und Gerald Wildgruber, Freiburg/Breisgau 2000, 1-31, hier: 14. 69 Einige Seiten weiter findet sich bei Neumann die Bemerkung, daß diese „eigentliche“ Theatralität zudem die „ursprüngliche“ sei: „Die den ganzen vorliegenden Band und seine Argumentation bestimmende Ausgangsthese ist also diejenige von der immanenten und ursprünglichen Theatralität, welche das Erkenntnisgeschehen im Sprechakt und in der Sprachproduktion bestimmt.“ (Ebd., 17f.). 70 „[J]ene Metaphorizität in der Begriffsverwendung, welche Theater als Modell und Bild faßt, um sprachliche und symbolische Prozesse zu beschreiben, rekurriert ja bereits auf die genuine Rhetorizität, auf die symbolische Strukturiertheit von Erkennen und Wissen […]“ (Ebd., 18). 71 Ebd., 17. 72 Lehmann: Postdramatisches Theater, 366.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 243 in die Argumentation über Gesellschaft, Politik und Recht Eingang findet. Diesem epistemischen Modell inhärent erweist sich ein bis in die griechische Antike zurückreichendes Moment, die Auffassung der ‚Theorie‘ im ursprünglichen Sinne als ‚Öffnung eines Schauraums‘ (Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe, HansThies Lehmann); eine Vorstellung, die den Gedanken von der Bedingung der Möglichkeit von Philosophie mit demjenigen von der Möglichkeit der Tragödie – als theatralem Muster, als Schauraum nomologischen Denkens – verbindet.73

Angesichts dieser Verbindung von Theorie und Theater, von imaginären oder iullusionären Schauräumen drängt sich die Frage auf: wenn denn die Tragödie oder das Theater einen solch herausragenden theoretischen Ort bilden – warum ist die Philosophie nicht als Theater entstanden und entwickelt worden, sondern integriert in sich eine Theatralität der Schrift, während sie zugleich das Theater aus der Stadt hinauswirft? Wozu der Umweg über die Schrift? In der Schrift findet sich die Doppelung von Präsentierung und Präsentation wieder. Ist die Theatralität zunächst als Präsentation zu verstehen im Sinne einer „Öffnung des Schauraums“, als etwas, was sich durch die Schrift hindurch sehen läßt oder hören läßt, als Darstellung also im strengen Sinne der Wiedergabe etwa eines Geschehens, so ist die Schrift auf dem Papier zugleich selbst Gegenstand der „Inszenierung“, auch wenn dieser Gedanke, daß die Schrift auf dem Blatt Papier inszeniert ist, seit einigen Jahrhunderten in den Hintergrund getreten ist und fast außer Sicht geriet, da das sterile Schwarz-auf-Weiß der Drucklettern in seiner stark reduzierten Ästhetik kaum mehr Anlaß bietet, über die sinnliche Qualität von Büchern zu reden oder zu schreiben. Daß die Tätigkeit des Lesens zumindest zu einem Teil in den Bereich der Wahrnehmung, als visuelle Abtastung von Buchstaben, gehört, scheint eher eine unliebsame Erinnerung, wenn das Buch als geistiger Gegenstand schlechthin sich aus der Dimension der aisthêsis lösen soll. Die Reduktion der Schrift auf die Darstellung der Stimme, die insbesondere die Stimme des Denkens ist, hat diesen Prozeß unterstützt, hat versucht, vergessen zu machen, daß die Schrift dem Bild ebenso verwandt ist wie der Stimme. Dabei heißt diese Verwandtschaft zum Bild nicht einfach, daß es eine Herstellung für die optische Betrachtung ist, sondern daß diese Herstellung zugleich auch einer ästhetischen Gestaltung bedarf und fähig ist. So findet sich der Inszenierungsbegriff etwa in einem Text über mittelalterliche Buchmalereien: Ich verstehe jede Umsetzung einer Buchstabenform in körperhafte Bildelemente als eine Inszenierung, unabhängig davon, ob diese auf Bedeutungsdimensionen hin angelegt ist oder nicht. Eine weitere Form des Inszenierens von Schrift sehe ich in der […] Sinnerschließung durch Wortzerstückelung.74

Diese Theatralität der Schrift, die die Buchstaben oder Wörter zu Akteuren auf der papiernen Bühne werden läßt, hat eine Wirkung, die vom „reinen

73 Neumann: Einleitung, 19. 74 Wolfgang Harms: In Buchstabenkörpern die Chiffren der Welt lesen. Zur Inszenierung von Wörtern durch figurale oder verdinglichte Buchstaben, in: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘, hg. von Jan-Dirk Müller, 575-595, hier: 578f.

244 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

Geist“ ablenkt, die den Traum vom „reinen Geist“ bedroht. Nachdem der Volksglaube, die Geister von Toten könnten nach dem Tod herumspuken, einmal verloren und vergessen ist, scheint der „reine Geist“ einzig und allein in Büchern seine Heimstatt gefunden zu haben, frei von jedem Körperlichen, frei vom Körperlichen jedenfalls, das mehr wäre, als stereo-types Schwarzauf-Weiß. Wenn der Geist wiederkehrt, dann als phantasma aus der Schrift oder dem Gedächtnis. In Spuren kommt Anschauliches und Ästhetisches aber doch noch vor im Schwarz-auf-Weiß der Schrift. Der „Geist“ in den Schriften wird dadurch zu einem unruhigen Gespenst. Der Rest an Materiellem, an Differenzen und Opakheit der materiellen Schrift führt dazu, daß der Sprung zum Sinn hinter dem Sinnlichen oder der Sprung in die „Tiefe“ der Schrift nicht zu einem sicheren Sprung wird, einem saut sûr, der ins Jenseits des Materiellen führt, sondern im Versuch zu springen immer droht, diesseits noch hängen zu bleiben, in den materiellen Signifikanten, die den Sprung in die immateriellen images acoustiques75 und weiter in die Signifikate bedrohen. Von solchen Gespenstern, die nicht rein genug sind vom Somatischen, wußte bereits Platon zu schreiben. Im Phaidon entwirft Sokrates kurz vor seiner Hinrichtung eine Lehre von der wandernden psuchê: [D]ie Seele (psuchês) also, das Unsichtbare (aeides) und sich an einen andern ebensolchen Ort (topon heteron) Begebende, der edel und rein (katharon) und unsichtbar (aeidê) ist, nämlich in die wahre Geisterwelt (Haidou) zu dem guten (agathon) und weisen (phronimon) Gott (theon), wohin, wenn Gott will, alsbald auch meine Seele zu gehen hat, diese, die so beschaffen und geartet ist, sollte, wenn sie von dem Leibe (sômatos) getrennt ist, sogleich verweht und untergegangen sein, wie die meisten Menschen sagen? Daran fehlt wohl viel, ihr lieben Kebes und Simmias! Sondern vielmehr verhält es sich so, wenn sie sich rein losmacht und nichts von dem Leibe mit sich zieht, weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein hatte im Leben, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb und dies immer im Sinn hatte, was nichts anders heißen will, als daß sie recht philosophierte und darauf dachte, leicht zu sterben; oder hieß dies nicht auf den Tod bedacht sein? Allerdings ja. Also welche sich so verhält, die geht zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren und zu dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, wohin ihr dann gelangt, zuteil wird, glückselig zu sein, von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebe und allen andern menschlichen Übeln befreit, indem sie, wie es bei den Eingeweihten

75 Der signifié Saussures findet sich der Theatralität von Schriften insofern verwandt, als er nicht wirklich „materiell“ ist, sondern als körperliche Seite des signe ein body in the mind. Saussure führt den Signifikanten ein: „Dieses […] ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen; es ist sensorisch, und wenn wir es etwa gelegentlich ‚materiell‘ nennen, so ist damit eben das Sensorische gemeint. […]“ (Saussure: Grundfragen, 77). Es würde keine Schwierigkeit machen, den Signifikanten als materiell zu bezeichnen – würde er sich neben dem signifié nicht auch noch vom son (Laut) unterscheiden müssen. Der Signifikant ist materieller als der signifié, aber weniger materiell als der son, dessen image er ist.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 245 heißt, wahrhaft die übrige Zeit mit Göttern lebt. Wollen wir so sagen, o Kebes, oder anders? So, beim Zeus, sprach Kebes. (Phd. 80dff.)

Nach dem Tod wird die psuchê, die selbst unsichtbar ist, sich an einen Ort begeben, der ihr in dieser Hinsicht gleich ist. Sie wird in den Hades gelangen, der die Dimension der „Reinheit“ ist. Voraussetzung ist allerdings, daß die psuchê unvergänglich ist, daß sie nicht zusammen mit dem Körper im Tod untergeht und verweht, sondern nur den Körper verläßt. Das Bild, mit dem das Verhältnis zwischen psuchê und Körper anschaulich gemacht wird, ist dasjenige des Körpers zu seinen Kleidern: mag er die Kleider auch wechseln, bleibt der Körper doch bestehen (vgl. Phd. 87bff.). Nur die „reine“ psuchê kann wirklich in den Reinraum des Hades gelangen. Die psuchê, die während ihrer Lebenszeit allzusehr um den Körper besorgt war, wird sich nicht rein absondern können: Wenn sie aber, meine ich, befleckt und unrein von dem Leibe scheidet, weil sie eben immer mit dem Leibe (sômati) verkehrt (xunousa) und ihn gepflegt und geliebt hat und von ihm bezaubert gewesen ist und von den Lüsten und Begierden, so daß sie auch glaubte, es sei überall gar nichts anderes wahr als das Körperliche (sômatoeides), was man betastet und sieht, ißt und trinkt und zur Liebe gebraucht, und weil sie das für die Augen (ommasi) Dunkle (skotôdes) und Unsichtbare (aeides), der Vernunft (noêton) hingegen Faßliche und mit Wahrheitsliebe zu Ergreifende, gewohnt gewesen ist zu hassen und zu scheuen und zu fürchten, meinst du, daß eine so beschaffene Seele sich werde rein für sich absondern können? Wohl nicht im mindesten, sprach er. Sondern durchzogen von dem Körperlichen (sômatoeides), womit sie durch den Umgang und Verkehr mit dem Leibe, wegen des ununterbrochenen Zusammenseins und der vielen Sorge um ihn, gleichsam zusammengewachsen ist. Freilich. (Phd. 81bff.)

Wer sich mit dem Körper in der Lebenszeit, in der die psuchê im Körper „gefangen“ war, wie im Phaidon Sokrates im Gefängnis, allzusehr gemein gemacht hat, sich der Pflege des Körpers zu sehr gewidmet hat, wird auch nach der durch den Tod einsetzenden Trennung vom Körper keine „reine“ psuchê haben. Die psuchê wird sich nach dem Tod nicht rein ablösen können, wird daher, so lehrt es der Phaidon, nicht in den Reinraum des Hades eintreten dürfen, sondern muß weiter um das Körperliche herumspuken: Und dies, o Freund, muß man doch glauben, sei unbeholfen und schwerfällig, irdisch und sichtbar, so daß auch die Seele (psuchê), die es an sich hat, schwerfällig ist und wieder zurückgezogen wird in die sichtbare (horaton) Gegend aus Furcht vor dem Unsichtbaren (aeidous) und der Geisterwelt (Haidou), wie man sagt, an den Denkmälern (mnêmata) und Gräbern (taphous) umherschleichend, an denen daher auch allerlei dunkle Erscheinungen (phantasmata skioeidê) von Seelen sind gesehen worden, wie denn solche Seelen wohl Schattenbilder (eidôla) darstellen

246 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN müssen, welche nicht rein abgelöst sind, sondern noch teilhaben an dem sichtbaren (tou horatou metechousai), weshalb sie denn auch gesehen werden (horôntai). – Das leuchtet wohl ein, o Sokrates. – Und freilich leuchtet auch ein, o Kebes, daß dies nicht die Seelen der Guten sind, sondern der Schlechten, welche um dergleichen gezwungen sind, herumzuirren, Strafe leidend für ihre frühere Lebensweise, welche schlecht war. Und so lange irren sie, bis sie durch die Begierde des sie noch begleitenden Körperlichen wieder gebunden werden in einen Leib. (Phd. 81cff.)

Die psuchê, die sich nicht „rein“ ablösen kann vom Körper, wird zu einem der dunklen phantasmata, wie sie schon an mnêmata beobachtet wurden, an Grabmalen und Erinnerungsstätten (mnêma). Aus dem Plural mnêmata läßt sich allerdings nicht feststellen, ob es sich auf das Grab-Denkmal bezieht oder auf das Gedächtnis (mnêmê). Das phantasma, das sich vom Körper und der Körperwelt nicht lösen kann, schleicht so lange um die mnêmata herum, bis es in einen anderen Körper gebannt wird – als handele es sich um ein Textgespenst, das sich einen Aufenthalt in einem anderen Text sucht. Nur die psuchê des Philosophen, die frei von allem Sichtbaren, selbst unsichtbar und ohne Angst vor dem Unsichtbaren ist, wird Zugang zum Unsichtbaren (aeides) und Reinen haben, das sich im Hades befindet, im körperlosen Jenseits. Solange die psuchê sich nicht vom Zusammenhalt mit dem sômatoeides lossagt, wird sie nach dem Tod (oder dem Ende der Lektüre) als phantasma herumschleichen um die Grab-Denkmäler (oder Bücher). So wäre der Traum von der philosophischen Schrift ein Traum, der sie von allem Materiellen und Körperlichen befreite, nicht nur auf das Minimum des Schwarz-Weiß reduzierte, sondern auch dieses noch der Reinigung unterzöge. Im Leben (oder Lesen) kann sich die psuchê wohl einrichten im Körperlichen, darf aber davon nicht affiziert werden, darf den Wirkungen dieser Textur nicht unterliegen, sondern muß unabhängig bleiben von ihr. Andernfalls wird der „reine Geist“ zum Gespenst.

Die Spuren des Körperlichen und im Körperlichen Eine genauere Bestimmung davon, wie das Körperliche an der psuchê des Toten haftet, gibt Platon im Gorgias, einem Dialog, der nicht nur vom Umfang her zu den „großen“ Dialogen Platons gehört, sondern vor allem auch durch sein Ende, die Erzählung vom Jenseits. Mag sein Gesprächspartner Kallikles diese bloß für einen muthos halten – Sokrates hält die Erzählung für die Wahrheit (hôs alêthê). Noch aus Zeiten des Kronos gilt das Gesetz, daß die Menschen nach ihrem Tod beurteilt werden sollen. Es soll entschieden werden, wer auf die Inseln der Seligen (nêsous makarôn) gelangen darf und wer eines ungerechten Lebens wegen Zucht und Strafe im Tartaros zu leiden haben soll. Noch als bereits Zeus die Herrschaft übernommen hatte, waren es Lebende, die über Lebende am Tag ihres Todes zu Gericht saßen. Diese Urteile aber waren so schlecht, daß sich Pluton, der Herr des Tartaros, und die Vorsteher der Inseln der Seligen bei Zeus beschwerten und dieser eine Neuerung einsetzte:

ARBEITEN AM PHANTASMA | 247 Da sprach Zeus: Diesem will ich ein Ende machen. Denn jetzt freilich wird schlecht geurteilt, weil, sagte er, die zur Untersuchung gezogenen verhüllt gerichtet werden; denn sie werden lebend gerichtet. Viele nun, sprach er, die eine schlechte Seele (psuchês) haben, sind eingehüllt in schöne Leiber (sômata) und Verwandtschaften und Reichtümer, und wenn dann das Gericht gehegt wird, dann stellen sich viele Zeugen ein, um ihnen Zeugnis zu geben, daß sie gerecht gelebt haben. Teils nun werden die Richter von diesen übertäubt, teils richten auch sie selbst verhüllt, da ja ihre Seele (psuchês) ebenfalls hinter Augen (ophthalmous), Ohren (ôta) und dem ganzen Leibe (holon to sôma) versteckt ist (prokekalummenoi). Dies alles nun steht ihnen im Wege, ihre eignen Verhüllungen und der zu Richtenden ihre. Zuerst also, sprach er, muß dieses aufhören, daß sie den Tod vorher wissen; denn jetzt wissen sie ihn vorher. Auch ist dies schon dem Prometheus angesagt, daß er es ändern soll. Ferner sollen sie gerichtet werden entblößt (gumnous) von diesem allen. Wenn sie tot sind nämlich, soll man sie richten. Und auch der Richter soll entblößt sein, ein Toter, um mit der bloßen Seele (autê tê psuchê) die bloße Seele (autên tên psuchên) eines jeden anzuschauen, plötzlich, wenn jeder gestorben ist, entblößt von allen Verwandtschaften, und nachdem sie allen jenen Schmuck auf der Erde zurückgelassen, damit das Gericht gerecht sei. (Gorg. 523cff.)

Nach dem Grundsatz der Gleichartigkeit der Betrachtung haben es körperlose Richter zu sein, die die körperlosen psuchai betrachten. Die Trennung der psuchê vom sôma vor dem Gerichtsverfahren wird von Zeus eingesetzt, um die Urteile genauer zu gestalten, deren Ungenauigkeit darin liegt, daß die psuchai von allzu schönen Körpern verhüllt werden können, zudem noch Zeugen den Richtern in den Ohren liegen. Was diese Erzählung des Sokrates wichtig macht für das Verhältnis des Reinen und Unreinen, ist das damit verbundene Axiom, das in der Folge erzählt wird, das Axiom der anhaltenden Spur, die über den Tod hinaus bleibt. Sokrates zieht aus der Erzählung über das Totengericht die folgende Konsequenz: Dies, o Kallikles, halte ich, wie ich es gehört habe, zuversichtlich für wahr, und erachte, daß daraus folgendes hervorgehe. Der Tod ist, wie mich dünkt, nichts anders, als zweier Dinge Trennung (dialusis) voneinander, der Seele (psuchês) und des Leibes (sômatos). Nachdem sie nun voneinander getrennt sind, hat nichtsdestoweniger noch jedes von beiden fast dieselbe Beschaffenheit (hexin), die es auch hatte, als noch der Mensch lebte. Sowohl der Leib (sôma) hat seine eigentümliche Natur (phusin) und alles, was er sich angeübt hat und was ihm zugestoßen, ist ganz deutlich (endêla). Wie wenn jemand von Natur oder durch seine Lebensweise, oder durch beides, einen großen Leib hatte, so ist auch sein Leichnam noch groß, wenn er tot ist; war er fett, ist auch der Leichnam fett, und alles andere ebenso; und mochte einer gern langes Haar tragen, so ist auch der Leichnam langhaarig. Und wiederum, wenn einer ein Züchtling war und bei seinen Lebzeiten Spuren (ichnê) von Schlägen an seinem Leibe trug, oder von Hieben und andern Wunden, so wird man auch an dem Leichnam des Toten dieses selbige finden können. Und hatte einer irgend zerbrochene oder verrenkte Glieder im Leben, so zeigt sich dies auch bei dem Toten; mit einem Worte, wie der Leib beim Leben behandelt und was ihm zugefügt wurde, das zeigt sich alles oder doch größtenteils auch nach

248 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN dem Tode noch einige Zeit. Dasselbe nun dünkt mich auch mit der Seele (psuchên) sich zu begeben, o Kallikles. Sichtbar (endêla) ist alles an der Seele, wenn sie vom Leibe entkleidet ist, sowohl was ihr von Natur eignete, als auch die Veränderungen, welche der Mensch durch sein Bestreben um dies und jenes in der Seele bewirkt hat. (Gorg. 524aff.)

Das Leben und die Lebensweise hinterlassen ihre Spuren (ichnê) im Körper, als die Form des Körpers, als die Tracht des Körpers – oder als die Schläge, die ein Körper erhalten hat, als Narben also. Von dort aus wird auf die psuchê geschlossen. Es wird nicht bewiesen, daß die psuchê etwa Spuren des Körpers trägt, bewiesen wird lediglich, daß der Körper Spuren in sich einzeichnet, und behauptet, daß „dasselbe“ auch für die psuchê gilt. Auch die psuchê findet sich mit Spuren versehen. Finden die von Zeus eingesetzten Richter (Rhadamantys für die Region Asien, Aiakos für die Region Europa, Minos als Letztinstanz) einen, der philosophisch und aufrecht gelebt hat, so schicken sie ihn auf die Inseln der Seligen, alle anderen müssen ins Gefängnis, um dort falls möglich geheilt zu werden von ihren Verrenkungen, Verwachsungen und Spuren in der psuchê; die Unheilbaren aber werden ausgestellt als abschreckende paradeigmata für alle anderen. Die psuchâi, die zu viele Spuren eines solchen Lebens tragen, eines Daseins im Körperlichen, werden dieses Schicksal auf sich zu nehmen haben. Dieses Leben läßt sich aus den Spuren in der entkleidet vorliegenden psuchê ablesen. Das „Diesseits“ bleibt in Spuren präsent im Jenseits – aber nur bei denen, die ein unschönes Leben gelebt haben. Von Spuren bei denen, die sich eines philosophischen Lebens befleißigt haben, ist in der Erzählung keine Rede – als wäre das Leben an ihnen spurlos vorbeigegangen. Als wären jedenfalls die Spuren des „Diesseits“ im Jenseits, im Reich des Unsichtbaren und des Geistes, nicht vorhanden. Der gute Philosoph zeigt sich in der körperlichen Spurlosigkeit seines Geistes, darin also, daß der Geist keine Spuren des Körpers mehr trägt – ein Reinheitstraum, der die Philosophen auch als Schreibende seither beflügelt. Der Sinn soll sich trennen vom Körper und möglichst keine Spuren des Sinnlichen mehr tragen. Diese Übertragung vom System psuchê-sôma auf dasjenige von sêmapsuchê ist weniger zufällig, als es zunächst scheinen mag. Der Gorgias ist ein Dialog, der sich anfangs mit der Rhetorik befaßt, nämlich mit der Macht der peithô (Überredung/Überzeugung), die der Rhetorik des Gorgias angeblich eigen ist, die es ihm erlaubt, in jeder Argumentation zu jedem gewählten Thema und jedem dafür vorgegebenen Standpunkt die Oberhand zu behalten – außer in der Argumentation mit Sokrates, der (offenbar überzeugend) gegen die Rhetorik argumentiert. Ziel der Argumentation des Sokrates ist es, dem Gorgias zu beweisen, daß er sich mit seiner Kunst nur auf das Glaubenmachen bei denjenigen verstehe, die nichts von dem wissen, wovon die Rede ist. Gorgias werde mit seiner Kunst seinen Hörer nur dazu bringen, daß er zu wissen scheine ohne zu wissen (dokein eidenai ouk eidotos) und gut zu scheinen ohne es zu sein (dokein agathos einai ouk ontos; vgl. Gorg. 459e). Es ist diese Schein-Sein-Problematik, die sich auch in der Totenbeurteilung findet, wo der Körper die Position des Scheins einnimmt, die psuchê aber diejenige des Seins – wobei die körperorientierte psuchê sich dem Schein hingibt, der von der psuchê beherrschte Körper aber zumindest nicht über das Notwendige hinaus von dem Sein abweicht, das erst mit dem Tod erreicht wird.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 249

In diesem Feld werden von Sokrates Künste vorgestellt, die sich mit dem Körper und mit der psuchê beschäftigen. Für jedes der beiden gibt es zwei Künste, insgesamt also vier, denen pervertierte Versionen gegenübergestellt werden, die das Heilsame der ersten vier Künste ins Gegenteil verkehren. Um den Leib sorgen sich die Turnkunst (gumnastikê) und die Heilkunde (iatrikê). Dementsprechend sorgen sich um die psuchê (als Turnkunst der psuchê) die Gesetzgebung (nomothetikê) und (als Heilkunde der psuchê) die Gerechtigkeit (dikaiosunê). Auf diese vier trifft die Schmeichelei (kolakeia), teilt sich und kleidet sich in die Gewänder der vier: aus Turnkunst und Heilkunde für den Körper macht sie die Schmuckträgerei/Putzkunst (kommôtikê) und die Kochkunst (opsopoiikê), aus der Gesetzgebung und Gerechtigkeit/Rechtspflege macht sie die Sophistik und die Rhetorik (vgl. Gorg. 463d-465b). Daß nun die verkleidete kolakeia nicht die Herrschaft übernimmt, ist die Aufgabe der herrschenden psuchê: Denn wenn die Seele nicht dem Leibe vorstände, sondern dieser sich selbst, daß also von jener nicht Kochkunst und Heilkunst verglichen und unterschieden würden, sondern der Leib selbst nach Maßgabe des für ihn Wohlgefälligen urteilen müßte, so würde es mit jenem Anaxagoreischen gar weit gehen, lieber Polos, denn du bist dieser Dinge ja kundig, nämlich alle Dinge würden alles zugleich sein untereinander gemischt, und ungesondert bliebe das Gesunde und Heilkunstmäßige von dem Kochkunstmäßigen. Was ich nun meine, daß die Redekunst sei, hast du gehört, nämlich das Gegenstück zur Kochkunst, für die Seele was diese für den Leib. (Gorg. 456cff.)

Daß der Körper sich einer Schönheit anzunähern habe, steht außer Frage – er hat dies aber nicht durch Kosmetik zu bewirken, sondern durch Gymnastik. Daß er bestimmte Bedürfnisse hat, steht ebenso außer Frage – allerdings sind diese vom Arzt zu pflegen und nicht vom Koch. Was aber für den Körper gilt, gilt ebenso für die psuchê. Körperlicher Hunger und eine ungerechte psuchê sind beide schlecht, behandelt werden sie von der Heilkunde und der Gerechtigkeit/Rechtspflege, wobei letztere noch über der Heilkunde steht (Gorg. 477eff.). Der Körper ist lediglich das Grabmal (sêma) der psuchê im Diesseits – so will es Sokrates von einem Weisen gehört haben (Gorg. 493a). Die Pflege des Körpers darf also höchstens Grab-Pflege sein, das Notwendige darf dem Körper gewährt werden, nicht aber mehr, am wenigsten etwas, das seiner Lust dient. Lust-Diener für die psuchê aber sind die Sophisten und Rhetoren mit ihren Schmeichelen – und nicht nur diese, sondern hinzu kommen noch die „Künste“, das Flöten- und Lyraspiel, Choraufführungen und Dithyramben und die Tragödie: SOKRATES: […] Zuerst laß uns die Kunst des Flötenspielens betrachten. Dünkt sie dich nicht eine solche zu sein, Kallikles, daß sie nur unser Vergnügen (hêdonên) sucht, und auf nichts anderes bedacht ist? KALLIKLES: Das dünkt mich. SOKRATES: Nicht auch alle ähnlichen insgesamt, wie das Spiel auf der Lyra in den tonkünstlerischen Wettstreiten? KALLIKLES: Ja. SOKRATES: Und wie die Ausführung (didaskalia) der Chöre und die Dichtung (poiêsis) der Dithyramben, erscheint dir die nicht auch als eine solche?

250 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN […] SOKRATES: […] Aber überlege nur, scheint dir nicht das ganze Spiel auf der Lyra und die dithyrambische Dichtkunst nur zum Vergnügen (hêdonês) erfunden zu sein? KALLIKLES: Das scheint mir. SOKRATES: Und jene prächtige und bewundernswürdige Dichtung der Tragödie, worauf wendet die soviel Fleiß? Meinst du, ihr Zweck und ihre Bemühung sei nur darauf gerichtet, den Zuschauern (theatais) Wohlgefallen (charizesthai) zu erregen, oder auch darauf durchzusetzen, daß, wenn ihnen etwas zwar angenehm ist und wohlgefällig, aber verderblich, dieses nicht gesagt werde, und wenn dagegen etwas ihnen widerlich ist, aber heilsam, daß sie dieses sage und singe, mögen sie sich nun daran ergötzen oder nicht? Auf welches von beiden scheint es dir die tragische Dichtkunst angelegt zu haben? KALLIKLES: Es ist ja offenbar (dêlon), Sokrates, daß sie mehr auf die Lust (hêdonên) ausgeht und darauf, den Zuschauern gefällig zu sein. SOKRATES: Dieses aber, o Kallikles, sagten wir eben jetzt, sei Schmeichelei (kolakeian)? KALLIKLES: Allerdings. SOKRATES: Wohlan, wenn jemand von jeder Dichtung (poiêseôs) den Gesang (melos) wegnimmt, und den Tonfall (rhuthmon) und das Silbenmaß (metron), werden nicht, was übrig bleibt, Reden (logoi)? KALLIKLES: Notwendig. SOKRATES: Und vor einem großen Haufen Volks werden diese Reden gesprochen? KALLIKLES: Freilich. SOKRATES: Also ist die Dichtkunst auch eine Volksbearbeitung (dêmêgoria)? KALLIKLES: So scheint es. SOKRATES: Und nicht wahr, wiefern Redekunst (rhêtorikê) ist sie Volksbearbeitung. Oder scheinen dir nicht die Dichter auf der Schaubühne (theatrois) Redekunst zu treiben? KALLIKLES: Wohl freilich. SOKRATES: Jetzt also haben wir eine Redekunst gefunden an ein solches Volk, aus Kindern zugleich und Weibern und Männern, aus Knechten und Freien, mit welcher wir nicht sehr zufrieden sind; denn wir sagen, sie sei eine Schmeichelei. KALLIKLES: Freilich. (Gorg. 501d-502d)

Die Tragödie gerät in eine Art Zangenangriff von zwei Seiten: zunächst ist sie auf der körperlichen Seite, zu der Flöten- und Lyraspiel gehören, der Schmeichelei zuzurechnen, indem sie sich hier nur an die Lust (hêdonê) wendet. Zugleich aber ist sie auf der Seite zu finden, die mit dem logos zu tun hat, eher der Seite der psuchê also, worauf ihre Einordnung in die Rhetorik hinweist, die am Ende des Zitates erfolgt. Auch hier ist sie lediglich eine Schmeichelei. Um diese Schmeichelei zu finden, bedarf es allerdings einer Subtraktion, derjenigen von melos, rhuthmos und metron – also gerade der Begriffe, die für eine Ordnung im Sinnlichen stehen, derjenigen Ordnung vergleichbar, die der Maler durch den Blick auf Ideales ins Werk setzt. Zieht man das Ideale von der Tragödie ab, wird man feststellen, dass sie nichts Ideales hat, sondern nur schmeichelt. Die Schmeichelei, die sich an das Ohr richtet, muß abgezogen werden, um die andere Schmeichelei zu finden, derer sich die Tragödie schuldig macht, die Schmeichelei durch logoi. Von allen schlechten Künsten oder Tä-

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tigkeiten (empeiria) ist die Tragödie das Gesamtkunstwerk der Schlechtigkeit, auf der körperlichen Seite ebenso wie auf der Seite der psuchê. Dabei wird nicht einmal in den Blick genommen, welche logoi etwa die Tragödie verkündet (wiewohl Sokrates zuvor Euripides zitiert hatte). Einzig und allein die Lust ist es, die die Tragödie von der Leiter sokratischer Wertschätzungen ganz nach unten stürzt, die Lust besteht aber im Wohlgefallen, das von der Tragödie angeblich bereitet wird. Sie ist nicht häßlich, sondern bereitet Wohlgefallen, das macht sie verdächtig. Daß sie aber nicht bloß Wohlgefallen erregt wie Flöte und Lyra, sondern zudem noch mit logoi Umgang hat, daß sie auf dem Grenzgebiet zwischen Körper und psuchê steht, die logoi sich durch melos, rhuthmos und metron „versüßt“ finden, das wird ihr Todesurteil sein. Sie fügt sich der Trennung zwischen Körper und psuchê nicht. Als handele es sich um eine Fortsetzung, wird die Thematik der hêdonê und des Körpers mit dem Gegensatz zum Guten und der psuchê in einem Dialog aufgenommen, dessen Rahmung die Frage nach der Schrift ist, nämlich im Phaidros. Auch hier geht es – wie im Gorgias und im Phaidon – um das Jenseits, in das die psuchê nach dem Tod gelangt, auch hier stehen wieder ihre Beschmutzungen zur Betrachtung an, auch hier wird der Ausgangspunkt die Unsterblichkeit der psuchê sein, die alles Unbeseelte beherrscht und den Himmel durchzieht (Phdr. 245cff.). Diese glückselige psuchê im Jenseits gelangt nur durch einen „Unfall“ in die Dimension des Sinnlichen (Phdr. 248cff.). Die Schicksale dieser gefallenen psuchai sind durchaus verschieden: Unter allen diesen nun erhält, wer gerecht gelebt, ein besseres Teil, wer ungerecht, ein schlechteres. Denn dorthin, woher jede Seele kommt, kehrt sie nicht zurück unter zehntausend Jahren, denn sie wird nicht befiedert eher als in solcher Zeit, ausgenommen die Seele dessen, der ohne Falsch philosophiert oder nicht unphilosophisch die Knaben geliebt hat. Diese können im dritten tausendjährigen Zeitraum, wenn sie dreimal nacheinander dasselbe Leben gewählt, also nach dreitausend Jahren, befiedert heimkehren. Die übrigen aber, wenn sie ihr erstes Leben vollbracht, kommen vor Gericht. Und nach diesem Gericht gehen einige in die unterirdischen Zuchtörter (dikaiôtêria), wo sie ihr Unrecht büßen; andere aber, in einen Ort des Himmels enthoben durch das Recht, leben dort dem Leben gemäß, welches sie in menschlicher Gestalt geführt. Im tausendsten Jahre aber gelangen beiderlei Seelen zur Verlosung und Wahl des zweiten Lebens, welches jede wählt, wie sie will. Dann kann auch eine menschliche Seele in ein tierisches Leben übergehen, und ein Tier, das ehedem Mensch war, wieder zum Menschen. (Phdr. 248eff.)

Eingeschrieben in die Erinnerungen sind die Bilder und Zeichen des Jenseits, die farblosen eidê. An diese können sich die in den Körper-Kerker eingeschlossenen psuchai bestenfalls erinnern, wobei ihnen die Dimension der Sinnlichkeit als eine Art Merkzeichen oder Schrift dient: Nämlich, wie bereits gesagt, jede Seele eines Menschen muß zwar ihrer Natur nach das Seiende geschaut haben, oder sie wäre in dieses Gebilde nicht gekommen; sich aber bei dem Hiesigen an jenes zu erinnern, ist nicht jeder leicht, weder denen, die das dortige nur kümmerlich sahen, noch denen, welche, nachdem sie hierher gefallen, ein Unglück betroffen, daß sie irgendwie durch Umgang zum

252 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Unrecht verleitet, das ehedem geschaute Heilige in Vergessenheit gestellt; ja wenige bleiben übrig, denen die Erinnerung (mnêmês) stark genug beiwohnt. Diese nun, wenn sie ein Ebenbild des dortigen sehen, werden sie entzückt, und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen. Denn der Gerechtigkeit, Besonnenheit, und was sonst den Seelen köstlich ist, hiesige Abbilder haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können auch nur wenige von ihnen mit Mühe, jenen Bildern (eikonas) sich nahend, des Abgebildeten Geschlecht erkennen. Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chore wir dem Jupiter, andere einem andern Gotte folgend, des herrlichsten Anblicks (opsin) und Schauspiels (thean) genossen und in ein Geheimnis geweiht waren, welches man wohl das allerseligste nennen kann, und welches wir feierten, untadelig selbst und unbetroffen von den Übeln, die unserer für die künftige Zeit warteten, und so auch zu untadeligen, unverfälschten, unwandelbaren, seligen Gesichten vorbereitet und geweihet in reinem Glanze, rein und unbelastet von diesem unserm Leibe, wie wir ihn nennen, den wir jetzt eingekerkert wie ein Schaltier mit uns herumtragen. Dieses möge der Erinnerung (mnêmê) geschenkt sein, um deretwillen es aus Sehnsucht nach dem damaligen jetzt ausführlicher ist geredet worden. (Phdr. 249eff.)

Vielleicht wäre der Vergleich mit einem Theater angemessener als derjenige mit einer Schrift: das Schauspiel der sinnlichen Dinge führt zur Erinnerung des einstigen „göttlichen“ Schauspiels. Das Sinnliche wird im Hinblick auf seine Tauglichkeit für die Präsentation des verlorenen Paradieses betrachtet, das selbst keine sinnliche Beimischung hatte: Das farblose (achrômatos), gestaltlose (aschêmatos), stofflose (aphanês), wahrhaft seiende Wesen (ousia ontôs ousa) hat nur der Seele Führer (psuchês kubernêtê), die Vernunft (nô), zum Beschauer (theatê), um welches her das Geschlecht der wahrhaften Wissenschaft (alêthous epistêmês genos) jenen Ort (topon) einnimmt. (Phdr. 247cf.)

Daß dieser topos ein theatron ist, in dem sich der nous als Beschauer einfindet, ist eine nicht allzu gewagte Folgerung – oder eigentlich eher ein a-theatron oder anti-theatron. Im Gegensatz zum erscheinenden Theater ist dieses Theater des nous ein nicht-erscheinendes (a-phanês). Es ist ein Theater des Jenseits, dessen Ort im Diesseits höchstens das Gedächtnis (mnêmê) ist. Den Unterschied im Anblick des sinnlichen Diesseits macht auch hier das Gedächtnis: Was nun die Schönheit betrifft, so glänzte sie, wie gesagt, schon unter jenen wandelnd, und auch nun wir hierhergekommen, haben wir sie aufgefaßt durch den hellsten unserer Sinne, aufs hellste uns entgegenschimmernd. Denn das Gesicht (opsis) ist der schärfste aller körperlichen (sômatos) Sinne (aisthêseôn), vermittelst dessen aber die Weisheit (phronêsis) nicht geschaut wird (horatai), denn zu heftige Liebe würde entstehen, wenn uns von ihr ein so helles Ebenbild (enarges eidôlon) dargeboten würde durch das Gesicht (opsin), noch auch das andere Liebenswürdige; nur der Schönheit (kallos) aber ist dieses zuteil geworden, daß sie

ARBEITEN AM PHANTASMA | 253 uns das hervorleuchtendste (ekphanestaton) ist und das liebreizendste. Wer nun nicht noch frischen Andenkens ist, oder schon verderbt, der wird auch nicht heftig von hier dorthin gezogen zu der Schönheit selbst, indem er, was hier ihren Namen trägt (epônumian), erblickt (theômenos); so daß er es auch nicht anschauend (prosorôn) verehrt, sondern, der Lust ergeben, gedenkt er sich auf tierische Art zu vermischen und roher Weise sich ihm nahend, fürchtet er sich nicht, noch scheut er sich, widernatürlich der Lust nachzugehen. Wer aber noch frische Weihung an sich hat und das damalige vielfältig geschaut (polutheamôn), wenn der ein gottähnliches Angesicht (theoeides prosôpon) erblickt oder eine Gestalt des Körpers (sômatos idean), welche die Schönheit vollkommen darstellen (kallos eu mimêmenon): so schaudert er zuerst, und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten, hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott, und fürchtete er nicht den Ruf eines übertriebenen Wahnsinnes, so opferte er auch, wie einem heiligen Bilde oder einem Gotte, dem Liebling. Und hat er hingesehen, so überfällt ihn, wie nach dem Schauder des Fiebers, Umwandlung und Schweiß und ungewohnte Hitze. Durchwärmt nämlich wird er, indem er durch die Augen den Ausfluß der Schönheit aufnimmt, durch welchen sein Gefieder gleichsam begossen wird. (Phdr. 250eff.)76

Das Sinnliche darf als Gleichnis des Unvergänglichen dienen, als ein Schauspiel, dessen sinnliche Schönheit an die jenseitige Schönheit und die unerträglich zu schauende Weisheit (phronêsis) im Jenseits erinnert. Das aber kann sie nur bei denjenigen, die noch eine Erinnerung haben. Die anderen werden sich der Lust der Anschauung als solcher hingeben, der Präsentierung des Schönen auf der Bühne, vor der sie sitzen. Nur wer eine Erinnerung hat, kann die Präsentation erfassen, die sich vor seinen Augen vollzieht. Dieser Zusammenhang zwischen dem schönen Schauspiel, der Gedächtnisspur, der Erinnerung und der Wahrheit findet sich in einer solchen Ähnlichkeit zu Platons Stellungnahme gegenüber der Schrift am Ende des Phaidros, daß sie sich fast verwechseln lassen. „Fast“ nur deswegen, weil es sich am Ende um Schrift handeln wird, hier aber um ein Schauspiel. Das Schauspiel, über das Platon den Sokrates reden läßt, ist ein Schauspiel aus der Schrift heraus, eine Inszenierung der scène double: das Schauspiel vor Augen verweist auf die andere Szene im Jenseits. Der topos des Theaters verweist auf den huperouranios topos (Phdr. 247c), in dem sich das Schauspiel dem nous darbietet – es verweist auf einen anderen Ort, der abwesend ist auf dem Wege der mimêsis. Dieses theatron hier ahmt – anders als das gescholtene Theater der Politeia, keine phantasmata nach, sondern es ist das phantasma des huperouranios topos, das Erscheinen dieses Ortes. Zwischen den beiden Theatern vermittelt die mnêmê, jenes Gedächtnis, das sich mit der Schrift vergleichen läßt. Zwischen zwei Theatern gibt es zwei Schriften. Die Vermittlung zwischen den beiden Schriften stellt die psuchê dar, in ihrer schauspielerischen Funktion der Verkörperung. Sie ist es, die zwischen den beiden Schriften und den beiden Welten, der sinnlichen und der noetischen wandern kann, die sich in ihre Körper-Rolle einkleidet, sich des Körpers wieder entkleiden kann, um bloßer Schauspieler zu werden, bereit die nächste Rolle zu verkörpern. Dabei darf ein dritter Ort nicht vergessen werden, der theios topos, an dem sich das Gespräch zwischen Phaidros und Sokrates abspielt, ein Idyll, an 76 Die Stelle ist die unmittelbare Fortsetzung des vorherigen Zitates.

254 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

dem zweierlei Schriften aufeinander treffen: die Schrift des Lysias, vorgetragen von Phaidros, vom Blatt gelesen, eine Rede, die er selbst gehört hat und dem Sokrates nacherzählen wollte. Dieser aber bemerkte, daß Phaidros die Schrift unter dem Gewand dabei hatte, wollte nicht die Worte des Phaidros hören, die er aus dem Gedächtnis wiedergegeben hätte, in einer Mischung der Worte des Lysias und eigener Worte, Mischung aus lexis des Lysias und dessen dianoia in den Worten des Phaidros, sondern Sokrates wollte die Worte des Lysias selbst vorgelesen bekommen (vgl. Phdr. 228df.). Dieser Rede wird Sokrates eine eigene Rede entgegensetzen, die er nicht vom Papier vorlesen wird, die aber dennoch auf geheimnisvolle Weise in ihn eingezeichnet ist: SOKRATES: […] Voll ja, du Teurer, tragend die Brust fühle ich, daß ich ganz andere Dinge als jener [d.i. Lysias] zu sagen hätte, und nicht schlechtere. Daß ich nun aus mir selbst davon nichts ersonnen habe, weiß ich gewiß, da ich meines Unverstands mir bewußt bin. Also, denke ich, bleibt nur übrig, daß ich aus fremden Strömen durch Zuhören angefüllt worden bin, wie ein Gefäß; aus Albernheit aber habe ich auch das schon wieder vergessen, wie und von wem ich es gehört. PHAIDROS: Wohl, du prächtiger Mann, dies war vortrefflich gesprochen. Du also sollst mir, von wem und wie du es gehört, gar auch wenn ich es verlange, nicht sagen. (Phdr. 235cf.)

Aus irgendeiner geheimnisvollen Quelle ist Sokrates mit der Rede angefüllt worden, die er vortragen wird. Vielleicht ist die Quelle dieser Rede Phaidros, die dem von ihm bezauberten Sokrates den Mund angefüllt hat – so vermutet er selbst, als er feststellt, daß die von ihm gehaltene Rede etwas Ruchloses (asebês; Phdr. 242bff.) enthalte. Daher wird Sokrates eine weitere Rede halten, als Lob auf den gottbegeisterten Wahnsinn, der von der menschlichen Geisteskrankheit zu unterscheiden sei (Phdr. 265a). In zwei Teile unterteilt sich der Wahnsinn, in zwei Teile teilt sich das Theater, in zwei Teile spaltet sich die Schrift auf: SOKRATES: Wer also eine Kunst in Schriften (grammasi) hinterläßt, und auch wer sie aufnimmt, in der Meinung, daß etwas Deutliches (saphes) und Sicheres (bebaion) durch die Buchstaben (ek grammatôn) kommen könne, der ist einfältig genug und weiß in Wahrheit nichts von der Weissagung des Ammon, wenn er glaubt, geschriebene Reden (logous gegrammenous) wären noch sonst etwas als nur demjenigen zur Erinnerung (hupomnêsai), der schon das weiß, worüber sie geschrieben sind. PHAIDROS: Sehr richtig. SOKRATES: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei (zôgraphia) ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten (ekgona) hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften (logois). Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten (sêmainei) sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede (pas logos) gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder un-

ARBEITEN AM PHANTASMA | 255 verdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande. PHAIDROS: Auch hierin hast du ganz recht gesprochen. SOKRATES: Wie aber? wollen wir nicht nach einer anderen Rede sehen, der Schwester von dieser, wie die echte entsteht, und wieviel besser und kräftiger als jene sie gedeiht? PHAIDROS: Welche doch meinst du, und wie soll sie entstehen? SOKRATES: Welche mit Einsicht (met‘ epistêmê) geschrieben wird in des Lernenden Seele (psuchê), wohl imstande sich selbst zu helfen, und wohl wissend zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll. PHAIDROS: Du meinst die lebende (zônta) und beseelte (empsuchon) Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene (gegrammenos) mit Recht wie ein Schattenbild (eidôlon) ansehn könnte. SOKRATES: Allerdings eben sie. (Phdr. 275cff.)

Die geschriebene Rede bezeichnet (sêmainei) immer dasselbe. Ihr sôma-sêma ist unveränderlich, antwortet nicht auf Rückfragen, vermag sich nicht zu helfen, sondern streift herum, gespenstisch, redet unbesehen zu jedem, zu den Wissenden ebenso wie zu den Unwissenden. Das macht sie dem Bild (zôgraphia) vergleichbar. Die „Schwester“ dieser geschriebenen Rede, von der die Schrift nur das Bild (eidôlon) ist, ist die Schrift in der psuchê (empsuchon). Dem entspricht die von Sokrates vorgetragene Rede, die ihm von anderswo in die psuchê geschrieben wurde – nicht die erste der Reden, die offenbar den Phaidros als Autor hatte, sondern die zweite Rede des Sokrates, die von einer geheimnisvoll göttlichen Quelle herstammt. Die papierne Schrift hilft nur denjenigen, die bereits ein Wissen haben von den Dingen, von denen die Rede ist – nur hier hat sie ihren berechtigten Ort, wenn sie der Logik der Spur (ichnos) folgt: SOKRATES: […] Wenn er aber schreibt, um für sich selbst einen Vorrat von Erinnerungen zu sammeln auf das vergeßliche Alter, wenn er es etwa erreicht, und für jeden, welcher derselben Spur (ichnos) nachgeht: so wird er sich freuen, wenn er sie zart und schön gedeihen sieht; und wenn andere sich mit andern Spielen ergötzen, bei Gastmahlen sich benetzend und was dem verwandt ist, dann wird jener statt dessen seine Reden spielend durchnehmen. PHAIDROS: Ein gar herrliches, o Sokrates, nennst du neben den geringeren Spielen: das Spiel dessen, der von der Gerechtigkeit, und was du sonst erwähntest, dichtend mit Reden zu spielen weiß. (Phdr. 276cff.)

Im Alter mag die Schrift mit ihren Spuren gegen die Vergeßlichkeit hilfreich sein – für die Unwissenden ist sie nicht hilfreich, erwerben diese doch nur einen Wissensschein, der aus der Äußerlichkeit der Papierschrift herrührt. Das Urteil des Thamus im sokratischen muthos von der Schrift, lautet also: […D]iese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit (lêthê) einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses (mnêmês), weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen (exôthen) vermittels fremder Zeichen (tupôn), nicht aber innerlich (endothen) sich selbst und unmittelbar erinnern (anamimnêskomenous) werden. Nicht also für das Gedächtnis (mnêmês), sondern nur für

256 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN die Erinnerung (hupomnêseôs) hast du ein Mittel (pharmakon) erfunden, und von der Weisheit (sophias) bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein (doxan) bei, nicht die Sache selbst (alêtheian). Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht (didachês), werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken (doxousin), da sie doch unwissend größtenteils sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise. (Phdr. 275af.)

Eine Sub-Erinnerung (hupomnêsis) ist die Schrift, deren Lektüre nur den Schein oder Dünkel (doxa) der sophia vermittelt bei denjenigen, die über das Wissen nicht bereits zuvor verfügen. Das macht die Schrift zu einem zwiespältigen pharmakon, dessen Reichweite in den platonischen Dialogen Derrida gezeigt hat. Was Derrida nicht ausreichend betont hat, ist die Heilung, die Platon zu unternehmen versucht, die Kompensation, um aus einem potentiell schädlichen pharmakon ein heilsames zu machen.

Die Spuren beherrschen In deutlicher Anlehnung an den Gorgias wird die Rhetorik erneut aufgenommen, bevor die Schrift zum Thema der Erörterung wird.77 Die Rhetorik, die Kunst der Verwendung des logos, wird erneut abgehandelt. Gorgias wird zweierlei vorgeworfen: er habe entdeckt, daß das Scheinbare (eikota) über das Wahre gehe; zudem habe er durch die Kraft der Rede das Große klein und das Kleine groß erscheinen lassen (Phdr. 267a). Nun wird im Phaidros die Rhetorik nicht als Volksverführung (dêmêgoria) qualifiziert, wie im Gorgias, sondern vielmehr als Kunst der Leitung der psuchê: psuchagôgia dia logôn (Phdr. 261a). Die Neuerung gegenüber der Behandlung der Rhetorik im Gorgias ist diejenige, die gerade mit der empeiria zu tun hat, mit dem Anwendungswissen für den logos. Richtige logoi zu haben (sie etwa aus Büchern gelesen zu haben) ist wenig nütze. Es muß eine zweite Fertigkeit hinzukommen: SOKRATES: Wenn jemand zu deinem Freunde Eryximachos oder dessen Vater Akumenos käme, sagend, ich verstehe solche Dinge dem Körper beizubringen, daß ich ihn erhitze, wenn ich will, und auch abkühle, und daß ich ihn, wenn es mir gut dünkt, speien mache oder auch abführe, und noch vielerlei dergleichen, und weil ich dieses verstehe, behaupte ich, ein Arzt zu sein, auch jeden andern dazu zu machen, dem ich nur diese Kenntnis mitteile; was meinst du, werden sie erwidern, wenn sie dieses angehört? PHAIDROS: Was sonst, als ihn fragen, ob er auch noch verstände, wem und wann er dies alles antun müsse und in welchem Grade? SOKRATES: Wenn er nun sagte, keineswegs, sondern ich verlange, wer jenes von mir lernt, müsse dieses schon selbst verstehen, wonach du fragst. PHAIDROS: Dann, glaube ich, würde er sagen, der Mensch ist toll und glaubt, weil er in Büchern (bibliou) oder sonstwo einige Mittelchen (pharmakiois) gefunden hat, ein Arzt geworden zu sein, da er doch nichts von der Kunst (technês) versteht.

77 Gorgias wird – neben anderen Sophisten und Rhetoren – erwähnt: Phdr. 261c und 267a.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 257 SOKRATES: Und wie, wenn jemand zum Sophokles oder Euripides käme, sagend, er verstände über geringes ganz lange Reden zu dichten, und auch über wichtiges ganz kurze, auch klägliche, wenn er wollte, und im Gegenteil wieder furchtbare und drohende und was mehr dergleichen, und sich nun einbildete, indem er dies lehre, die tragische Dichtkunst zu lehren? PHAIDROS: Auch diese, o Sokrates, würden, glaube ich, jeden auslachen, welcher glaubte, die Tragödie wäre etwas anderes als eine solche Zusammenstellung dieser einzelnen Stücke, wie sie einander und dem Ganzen angemessen sind. SOKRATES: Aber nicht unartig, glaube ich, würden sie ihn herunterreißen, sondern wie ein Tonkünstler, wenn er mit einem zusammenträfe, der sich einbildet, ein Harmonieverständiger zu sein, weil er verstände, eine Saite so hoch und so tief als möglich anzuschlagen, nicht mit Heftigkeit sagen würde: Du erbärmlicher Wicht, du bist verrückt; sondern wie es einem Künstler geziemt, sanfter so: Bester Mann, freilich muß auch das wissen, wer ein Tonkünstler werden will, aber dies hindert nicht, daß dennoch einer, der deine Fertigkeit hat, auch nicht das mindeste von der Harmonie verstehen kann, denn du besitzest nur die Vorkenntnisse, welche zur Harmonie notwendig gehören, aber nicht die Harmonie selbst. PHAIDROS: Sehr richtig. SOKRATES: So auch würde Sophokles jenem, der sich gegen ihn rühmte, sagen, er habe die Vorkenntnisse zur tragischen Kunst, nicht diese Kunst selbst, und Akumenos die Vorkenntnisse der Heilkunde (iatrikês), nicht die Heilkunde (iatrika) selbst. PHAIDROS: Allerdings freilich. (Phdr. 268aff.)

Was dem fehlt, der glaubt, ausschließlich aus Büchern lernen zu können, ist das Anwendungswissen, das insbesondere den Adressaten mit einbezieht – den Patienten des Arztes etwa oder den Leser von Schriften. Ebensowenig genügt es, nur die Harmonielehre aus Büchern zu kennen, um über das Harmonie-Vermögen zu verfügen, wie es reicht, die Teile der Tragödie zu kennen, um Tragödiendichter zu werden. Über die pharmakioi aus den Büchlein zu verfügen genügt nicht, um Arzt zu werden. Nun ist aber der Heilkunde die Rhetorik verwandt – ist die Rhetorik (anders als im Gorgias) die Heilkunde der psuchê geworden: SOKRATES: Es hat dieselbe Bewandtnis mit der Redekunst (rhêtorikês) wie mit der Heilkunst (iatrikês). PHAIDROS: Wieso? SOKRATES: In beiden mußt du, die Natur des Leibes in der einen, der Seele in der andern einteilen, wenn du nicht nur hergebrachterweise und erfahrungsmäßig, sondern nach der Kunst jenem durch Anwendung von Arznei und Nahrung Gesundheit und Stärke verschaffen, dieser durch angeordnete Belehrungen und Sitten, welche Überzeugung und Tugend du willst, mitzuteilen begehrst. PHAIDROS: Allem Ansehen nach, o Sokrates, ist es so. (Phdr. 270b)

Es gehört zur Rhetorik demnach nicht nur das Wissen um die Techniken, die diese Kunst anzuwenden hat, sondern es gehört nebenher ein Vermögen dazu, sie anzuwenden. Wieder geht die Suche nach der epistêmê basilikê, nach der königlichen Kunst, in der Wissen und Können zusammenfallen. Wieder

258 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

zeigt sich, daß diese Kunst nicht in einer Schrift gefunden werden kann, da sie sich nicht gegen Mißbrauch schützen kann. Das schreibt Platon auf Papier nieder – als würde das Urteil über die pharmaka der Schrift für ihn nicht gelten, weil er vor den pharmaka warnt. Aber das ist nicht alles. Es gibt nicht nur zwei Theater-Szenen im Phaidros, vielmehr gibt es deren drei. Neben dem göttlichen Schauspiel im huperouranios topos und dem sinnlichen Schauspiel, das einen Abglanz des ersteren darstellt, gibt es den Ort, an dem diese Reden stattfinden, einen Ort, der nicht recht von dieser Welt zu sein scheint, sondern ein theios topos ist, wie Sokrates selbst feststellt: SOKRATES: Still also höre mich weiter. Denn in Wahrheit göttlich (theios) scheint dieser Ort (topos) zu sein, so daß, wenn ich etwa gar im Verfolg der Rede von den Nymphen ergriffen werde, du dich nur nicht wundern mögest. (Phdr. 238c)

Mag die Göttlichkeit des Ortes Ironie sein – daß es einen Ort gibt, an dem dieses Gespräch stattfindet, der in aller Ausführlichkeit zu Beginn des Dialoges beschrieben wird, ist deutlich. An diesem Ort treffen Sokrates und Phaidros, treffen die Schrift des Lysias, die Phaidros vorliest, und die „Schrift“, die Sokrates erfüllt, aufeinander. Dieser dritte topos ist der Schauplatz, der allerdings von einer dritten Schrift entworfen wird: der Schrift Platons. Auf Platons Papier spielt sich die Szene der Stimme des Sokrates ab unter einer Platane in der Mittagshitze. Die Qualifizierung als pharmakon müßte Platons Schrift genauso treffen wie jede andere Schrift – wäre da nicht die Szene, die Platon entwirft. Es wird nicht nur das Schrift-pharmakon des Lysias abgeliefert, vielmehr wird von Platon – und das erweitert Platons Pharmazie ein Stück – der Arzt mitgeliefert: Sokrates, der umzugehen versteht mit den logoi, die in seine psuchê geschrieben sind. Es rahmen sich Szenen und Schriften ineinander: die Schrift Platons entwirft die Szene, auf der sich Sokrates und Phaidros treffen. Dorthin bringt Phaidros eine Schrift des Lysias mit, die zum Vortrage kommen wird: der abwesende Vater dieser logoi vermag seiner Schrift nicht zu helfen. Der Lektüre der äußerlichen (exôthen) Schrift setzt Sokrates die Lektüre seiner innerlichen (endothen) Schrift entgegen. In dieser Schrift werden zwei Szenen entworfen, der huperouranios topos und das sinnliche Schauspiel, später werden zwei Schriften einander gegenüber gestellt, die gute Schrift in der psuchê und die schlechte, körperhafte Schrift. Sokrates zeigt den Umgang mit verschiedenen Schriften. Es wird gezeigt, wie Sokrates den Phaidros behandelt mit den Schriften. Der muthos von Theuth und Thamus spiegelt die Szene Sokrates-Phaidros in konzentrierter Form wieder: wie Thamus dem Theuth die Schrift anpreist, pries Phaidros dem Sokrates die Schrift des Lysias an. Wie das sinnliche Schauspiel nur als Anlaß der Erinnerung an das göttliche Schauspiel des huperouranios topos diente, darf die papierne Schrift nur als Anlaß der Erinnerung dienen, darf nicht selbst zum Gedächtnisersatz werden. Solange Außen und Innen, psuchê und sôma, aisthêsis und noêsis streng getrennt bleiben, haben beide Seiten ihren Platz. Solange das Sinnliche nur als Erinnerungsstütze dient, als Träger von Spuren oder als Träger der psuchê, hat es sein Recht – ansonsten nicht. Ohne Arzt darf das pharmakon nicht eingesetzt werden – Platon liefert zu seiner Schrift den Arzt gleich mit. Nur eines muß sichergestellt werden, um die äußere Schrift und das sinnliche Schauspiel vor dem Verdammungsurteil zu erretten: es muß eine Überein-

ARBEITEN AM PHANTASMA | 259

stimmung bestehen zwischen Innen und Außen. Das kann nicht garantiert werden, kann nur erbeten werden von einem Gott. Der Phaidros endet mit einem Gebet: SOKRATES: O lieber Pan und ihr Götter, die ihr sonst hier zugegen seid, verleihet mir schön zu sein im Innern (endothen), und daß, was ich Äußeres (exôthen) habe, dem Inneren (tois entois) befreundet (philia) sei. (Phdr. 297b)

Außen und Innen müssen getrennt sein, das Äußere (Schrift oder Schauspiel) darf das Innere nicht ersetzen. Aber Außen und Innen müssen befreundet bleiben – die äußere Schrift muß ein Bild (eidôlon) des Gedächtnisses bleiben, das sinnliche Schauspiel ein Abglanz des göttlichen Schauspiels. Bevor beide sich befreunden können, müssen sie getrennt gewesen sein: das Außen und das Innen dürfen sich zwar wie Original und Abbild zueinander verhalten, ebenso das göttliche Schauspiel am überhimmlischen Ort und das irdische Schauspiel, trotzdem sind sie streng zu trennen. Nichts Körperliches darf an diesem Himmlischen haften – es ist un-körperlich wie die psuchê, was vor allem heißt, daß es dasjenige ist, was übrig bleibt, wenn von allem Körperlichen eben das Körperliche subtrahiert wird. Die Subtraktion der Körperreste findet nach dem Tod statt, in den Reinigungen im Jenseits. Im Diesseits kann nur versucht werden, mit den „reinen Gedanken“ die Wahrheit zu treffen: Und der kann doch jenes am reinsten (katharôtata) ausrichten, der am meisten mit dem Gedanken allein zu jedem geht, ohne weder das Gesicht mit anzuwenden beim Denken, noch irgendeinen anderen Sinn mit zuzuziehen bei seinem Nachdenken, sondern sich des reinen Gedankens allein bedienend, auch jegliches rein für sich zu fassen trachtet, so viel möglich geschieden von Augen und Ohren und, um es kurz zu sagen, von dem ganzen Leibe, der nur verwirrt und die Seele nicht läßt Wahrheit und Einsicht erlangen, wenn er mit dabei ist. (Phd. 65ef.)

Aber die Wahrheit läßt sich rein und unverstellt nur im Jenseits anschauen: [E]s ist uns wirklich ganz klar, daß, wenn wir je etwas rein (katharôs) erkennen wollen, wir uns von ihm losmachen und mit der Seele selbst (autê tê psuchê) die Dinge selbst schauen (theateon) müssen. Und dann erst offenbar werden wir haben, was wir begehren, wessen Liebhaber wir zu sein behaupten, die Weisheit (phronêseôs), wenn wir tot sein werden, wie die Rede uns andeutet (sêmainei), solange wir leben aber nicht. Denn wenn es nicht möglich ist, mit dem Leibe (meta sômatos) irgend etwas rein (katharôs) zu erkennen, so können wir nur eines von beiden, entweder niemals zum Verständnis gelangen oder nach dem Tode. Denn alsdann wird die Seele (psuchê) für sich allein sein, abgesondert (chôris) vom Leibe (sômatos), vorher aber nicht. Und solange wir leben, werden wir, wie sich zeigt, nur dann dem Erkennen am nächsten sein, wenn wir soviel möglich nichts mit dem Leibe zu schaffen, noch gemein haben, was nicht höchst nötig ist, und wenn wir mit seiner Natur uns nicht anfüllen, sondern uns von ihm rein (kathareuômen) halten, bis der Gott selbst uns befreit. Und so rein (katharoi) der Torheit des Leibes entledigt, werden wir wahrscheinlich mit ebensolchen zusammen sein und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen, und dies ist eben wohl das Wahre

260 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN (alêthes). Dem Nichtreinen (mê katharo) aber mag Reines (katharou) zu berühren wohl nicht vergönnt sein. (Phd. 66dff.)

Die Heilkunde des Sokrates ist eine, die reinigt – und zwar vom Körper. Die psuchê hat sich des Umgangs mit dem Körper möglichst zu enthalten, denn nur unkörperlich und rein kann sie das Wahre in den Blick nehmen und beschauen (theaomai). Alle körperlichen Reste führen nur zur Verunreinigung der psuchê, von der die abgeschiedenen psuchai nach dem Tode – wie im Phaidon (113df.) weiter ausgeführt werden wird – mühsam befreit werden müssen. In diesem Jenseits müssen die Spuren des Diesseits gelöscht werden, der reine Geist hat keinen Platz für die Spuren des Körpers. Die Welt, die hier in Platons Schrift entworfen wird, ist eine „reine“ Welt, geboren aus dem Gedächtnis des Lesers, nicht etwa aus der Anschauung. Die Schauspiele, sowohl dasjenige am überhimmlischen Ort wie dasjenige im „Diesseits“, das das Gleichnis des überhimmlischen Ortes ist, wie auch die Schauspiele, deren Hauptdarsteller Sokrates ist, sind körperlose Schauspiele. Nichts steht vor Augen dabei, alles steht nur vor „Augen“ – ebenso die Schrift, die Phaidros vorliest und die Schrift, die Sokrates aus seiner Brust holt. Alles hat den Körper bereits hinter sich gelassen – bis auf eines: Platons Schrift. Ein winziger Rest bleibt, der die Lehre von den Schönheiten des Jenseits ans Diesseits bindet, das Blatt Papier mit den Schriftzeichen. Nur dieses ist es, was dem philosophischen Reinlichkeitstrieb, der reinen Vernunft, dem reinen Geist, der reinen psuchê, dem reinen eidos einen Rest an Körper einschreibt. Und so wird letztlich diese ganze phantasmatische Welt nur immer wieder um die Buchstaben und Körperreste kreisen wie ein Gespenst. Die Bewegung, die von den Schriften Platons ausgelöst wird, wird in einem der frühen Dialoge sehr genau beschrieben – allerdings nicht als Selbstbeschreibung, sondern als Untersuchung der verrückenden Kraft der Kunst eines Rhapsoden, der die Dichtungen Homers vorträgt: ION: [… D]u ergreifst mir recht die Seele (psuchês) mit deinen Worten (logois), Sokrates; und ich glaube wohl, daß durch göttliche Schickung (theia moira) die rechten Dichter (poiêtai) uns dies von den Göttern überbringen. SOKRATES: Und nicht wahr, ihr Rhapsoden überbringt wieder jenes von den Dichtern? ION: Auch daran hast du recht. SOKRATES: Ihr seid also Sprecher der Sprecher (hermeneôn hermenês)? ION: Allerdings. SOKRATES: Komm aber, und sage mir auch dies, Ion, und verheimliche es mir nicht, was ich dich fragen will. Wenn du die Verse schön vorträgst und deine Zuschauer am meisten hinreißest, es sei nun, daß du den Odysseus singst, wie er auf die Schwelle springt, sich den Freiern offenbart und sich die Pfeile ausgießt vor die Füße, oder den Achilleus, wie er gegen den Hektor dringt, oder auch etwas Klägliches von der Andromache, oder der Hekabe, oder dem Priamos: Bist du dann bei völligem Bewußtsein (emphrôn), oder gerätst du außer (exô) dich und glaubt deine begeisterte (enthousiazonta) Seele (psuchê) bei den Gegenständen zu sein, von welchen du sprichst, sie mögen nun in Ithaka sein, oder in Troja, oder wo sonst das Gedicht sich aufhält?

ARBEITEN AM PHANTASMA | 261 ION: Welchen deutlichen (enarges) Beweis hast du mir da aufgestellt, Sokrates! Denn ich will dir nichts davon verheimlichen. Wenn ich nämlich etwas Klägliches vortrage, so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas Furchtbares und Schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht, und das Herz pocht. SOKRATES: Was wollen wir also sagen, Ion? Daß derjenige bei vollem Bewußtsein (emphrona) ist, welcher mit bunten Kleidern und goldnen Kränzen geschmückt mitten unter Opfern und Festlichkeiten weint, ohne von jenen Herrlichkeiten etwas verloren zu haben, oder sich fürchtet mitten unter zwanzigtausend befreundeten Menschen, ohne daß ihn jemand ausziehen oder sonst ihm Leides zufügen will? ION: Nein, beim Zeus, Sokrates, nicht eben, wenn ich doch die Wahrheit sagen soll. SOKRATES: Und weißt du wohl, daß ihr auch unter den Zuschauern (theatôn) gar viele eben dahin bringt? ION: Gar sehr weiß ich das. Denn ich betrachte sie jedesmal oben herab von der Bühne, wie sie weinen und furchtbar umblicken und mitstaunen über das Gesagte. (Ion 535aff.)

Was macht den Unterschied zwischend den begeisterten und begeisternden Erzählungen über Achilleus, Hektor und Priamos gegenüber den Erzählungen des Sokrates aus? Was macht den Unterschied der Schriften Platons zu denen Homers aus? Bedient sich doch Platon ausschließlich der gerügten mimetischen Schreibweise, die den Autor verbirgt (apokruptein).78 Wieder läuft er damit selbst auf die Tragödie zu: Wenn nun nirgends der Dichter (poiêtês) sich selbst verbergen (apokruptoito) wollte, so würde er dann seine ganze Erzählung (poiêsis te kai diêgêsis) ohne Darstellung (aneu mimêseôs) verrichtet haben. (Rep. III, 393c)

[…] Verstehe aber auch noch, sprach ich, wie hievon [von der Darstellung als diêgêsis; A.d.V.] wiederum das Gegenteil erfolgt, wenn jemand das dem Dichter Angehörige zwischen den Reden herauswerfend nur die Wechselreden übrig läßt. Auch dieses, sagte er, verstehe ich, daß es mit den Tragödien eine solche Bewandtnis hat. Und jetzt denke ich dir schon deutlich zu machen, was ich vorher nicht vermochte, daß von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung (mimêseôs) besteht, wie du sagst die Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht (apaggelias) des Dichters (poiêtou) selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst, und auch vielfältig anderwärts, wenn du mich verstehst. (Rep. III, 394bf.)

Platons Schreiben folgt dem Beispiel der Tragödiendichter, die selbst keine eigenen Stellungnahmen wiedergeben, sondern bloße Dialoge schreiben. Wie der Tragödiendichter ist Platon hinter seinen Figuren verborgen. Der gescholtenen und verurteilten poiêsis mimêtikê bedient er sich selbst – muß sich ihrer 78 Zum Gegensatz mimêsis-diêgêsis vgl. Rep. III, 392cff.

262 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

bedienen, der Wahrheit halber. Mit dieser mimêsis aber, die den Sokrates und seine Gesprächspartner in den Vordergrund rückt, schwindet der Unterschied zwischen der platonischen Dichtung und der Dichtung, von der im Ion die Rede ist. Mag man sich darüber streiten, ob der Leser/Hörer Platons zum ekphrôn, zum Ent-Geisteten wird, oder nur zum ek-sômaton und damit emphrôn – die Bewegung weg vom Vortrag, dem Vortragenden und seinem Körper gleicht der der Rhapsodenkunst. Sowohl in der Lehre der Metaphysik Platons wie auch in seinem Schreiben findet sich allerorten das Schauspiel wieder – der Unterschied ist nur, daß das Schauspiel Platons eines ist, das von der Somatik der Schrift abzulenken hat. Das Schauspiel ist keines mehr, das in die sinnliche Dimension gehört, sondern eine Wiedererstehung aus dem Gedächtnis. In der Lehre der Metaphysik entsteht das Schauspiel des huperouranios topos aus der Schau eines sinnlichen Spiels, führt auf die mnêmê und von dort – hoffentlich – zur Erinnerung des vorkörperlich geschauten Jenseits. In der Schrift Platons folgt das Entstehen des Schauspiels den gleichen Gesetzen, nur ist der topos nicht ganz ein huperouranios, sondern nur ein theios topos. Bewohner dieses topos ist Sokrates, der nicht ganz eidos, noch weniger ganz sôma ist, sondern irgendwo in einem Zwischenreich lebt. Aus dem Gedächtnis wiederkehrend, das nurmehr die Schrift ist, der kein wahres Gedächtnis mehr beispringen kann, ist Sokrates selbst eher hupo-mnêma. Er ist ein phantasma auf einem phantasmatischen Schauplatz, der aus dem Gedächtnis kommt. Nur die Schrift, die schlimme körperliche Spur, hält ihn noch im Somatischen, hindert, daß er ein reiner Geist wird. Auch die „Theatralität“ der Dialoge läßt ihn daraus nicht entkommen.

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Aristoteles: Wahrnehmung, Phantasma, Intellekt Als epistêmê theorêtikê bestimmt Aristoteles in der Metaphysik die erste und oberste Wissenschaft – wobei diese Bestimmung zugleich einen Ausschluß produziert. Die theoretische epistêmê ist nur eine von insgesamt drei epistêmai neben der praktikê und der poiêtikê.79 Diese Unterscheidung ist traditionsbildend geworden, hat die Unterscheidung der Philosophie zumal in einen theoretischen und einen praktischen Zweig begründet. Der poietische Zweig fristete ein doch vergleichsweise bescheidenes Dasein in der Philosophie neben der Ontologie und der Ethik. Bereits Düring hat darauf hingewiesen, daß diese Ausschließung durch Aristoteles problematisch ist: Die aristotelische Einteilung der epistêmai in theôrêtikai und poiêtikai (die praktikai sind selbstverständlich und spielen bei ihm keine Rolle) hat Anlaß zu vielen Mißverständnissen gegeben. Bei den poiêtikai epistêmai dachte Aristoteles vor allem an das konkrete Resultat des ‚Schaffens‘. Offenbar fiel es ihm nicht ein, daß auch das mathematische oder philosophische Denken, die theôria, etwas zustandebringt, z.B. das, was wir eine Theorie nennen.80

Es ist schwerlich zu übersehen, daß die theôria selbst Produkt einer poiêsis ist, darüberhinaus – was hervorgehoben werden soll – selbst eine poiêsis in Gang setzt, die der Schriftlichkeit bedarf. Die theôria ist als geschriebene Theorie Ergebnis eines Entwurfes, einer Herstellung. Theôria ist zunächst der Begriff für eine Anschauung: „Die Philosophie und diese Wissenschaften sind ‚theoretisch‘, weil sie sich im Anschauen, Betrachten und genauen Zusehen den Dingen zuwenden, um ihr Wesen und ihre Gründe und Ursachen zu begreifen.“81 Insofern ist die theôria nicht vom Akt des Betrachtens zu trennen, der mit einem gewissen Interesse oder einem gewissen Ziel stattfindet: „[Die theoretische Wissenschaft] hat ihren Sinn und ihre Aufgabe ausschließlich darin, den Gegenstand selbst und als ‚Seiendes‘ (on) sehen zu lassen, ohne daß dabei irgendwie seine Nutzbarkeit mitspielt.“82 Es ist ein bestimmter Blick oder Aspekt (im Sinne von aspectus) auf den Gegenstand, der als theôrein bezeichnet wird, der sich vor allem auf ein Ganzes richtet: theôria, abgeleitet von theôrein, bezeichnet nicht nur eine theoretische Erkenntnis, sondern auch ein Schaugefüge, ein Festspiel oder eine Festgesandtschaft.83 In der Poetik schreibt Aristoteles über die Grenzen, die ein Gegenstand nicht überschreiten darf, um noch zur theôria geeignet zu bleiben: 79 Aristoteles: Metaphysik VI, 1025b25: „[…] pasa dianoia ê praktikê ê poiêtikê ê theôrêtikê.“ 80 Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 422, Fn.135. Düring bezieht sich hier auf den aristotelischen Protreptikos. 81 Joachim Ritter: Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, in: Geisteswissenschaften, hg. von der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln/Opladen 1953, 32-54, hier: 33. 82 Ebd., 34. 83 Vgl. Gemoll: Eintrag theôria. Zur theôria bei Platon vgl. Kap. „Das ver-rückte Sehen“.

264 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN Ferner ist das Schöne bei einem Lebewesen und bei jedem Gegenstand, der aus etwas zusammengesetzt ist, nicht nur dadurch bedingt, daß die Teile in bestimmter Weise angeordnet (tetagmena) sind; es muß vielmehr auch eine bestimmte Größe (megethous) haben. Das Schöne beruht nämlich auf der Größe (megethei) und der Anordnung (taxin). Deshalb kann weder ein ganz kleines Lebewesen schön sein (die Anschauung (theôria) verwirrt sich nämlich, wenn ihr Gegenstand einer nicht mehr wahrnehmbaren Größe (??? chronou!) nahekommt (enggus)) noch ein ganz großes (die Anschauung (theôria) kommt nämlich nicht auf einmal zustande, vielmehr entweicht den Anschauenden (theôrousi) die Einheit (to hen) und die Ganzheit (holon) aus der Anschauung (theôrias), wie wenn ein Lebewesen eine Größe von zehntausend Stadien hätte). Demzufolge müssen, wie bei Gegenständen und Lebewesen eine bestimmte Größe erforderlich ist und diese übersichtlich (eusunopton) sein soll, so auch die Handlungen eine bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis (eumnêmoneuton) leicht einprägt.84

Das Schöne ist von der Theorie abhängig. Schön ist, was sich zu einer theôria eignet. Die Kriterien für die theôria sind die Einheit (hen), die Ganzheit (holon) sowie die angemessene Größe, die weder ins mikroskopisch Kleine noch ins astronomisch Große gehen darf. Was einer theôria angemessen sein soll, was selber theôria im Sinne eines geordneten Ganzen werden soll, muß dem Grundsatz des eu-sun-opton folgen, es muß sich gut zu einer Übersichtsoder Zusammenschau eignen. Damit greift theôria in den Gegenstand selbst ein: theôria bezeichnet nicht nur die Anschauung auf der Seite des Anschauenden, die „subjektive“ Seite des theôrein in neuzeitlicher Terminologie, sondern auch das Angeschaute, die „objektive“ Seite. Das theôrein erhebt das Angeschaute selbst zu einer theôria oder einem theôrêma (Schauspiel), ist die strukturierte „Inszenierung“ des Gesehenen oder die synthetische Seite der Einbildungskraft im Sinne Kants.85 Die theôria vereinigt in sich eine „subjektive“ und eine „objektive“ Seite, und es läßt sich nicht wirklich unterscheiden, ob die theôria aus dem Auge des Betrachters kommt oder in das Auge des Betrachters fällt. Diese Ambiguität findet sich auch in der „Theorie“ der Wahrnehmung bei Aristoteles, was diese „Theorie“ noch immer schwer verständlich erscheinen läßt. Es gibt bei Aristoteles zwischen dem sehenden Auge und dem gesehenen Gegenstand eine Mitte oder ein „Medium“, ein Durchsichtiges (diaphanes). Das Sehen geschieht nicht etwa direkt am Gegenstand, wie bei Platon, noch auch im Auge direkt, sondern durch eine dreigliedrige Kette:

84 Aristoteles: Poetik, 1450b35. 85 Der Begriff der synopsis kommt in der ersten Auflage von Kants Kritik der reinen Vernunft als das Vermögen des „Sinns“ vor, der die Grundlage für die synthesis der Einbildungskraft liefert: „Es sind aber drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten, und selbst aus keinem andern Vermögen des Gemüts abgeleitet werden können, nämlich Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption. Darauf gründet sich 1) die Synopsis des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn; 2) die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft; endlich 3) die Einheit dieser Synthesis durch ursprüngliche Apperzeption.“ (WW III, 134 (A 94)).

ARBEITEN AM PHANTASMA | 265 [Es] erregt die Farbe das Durchsichtige, z.B. die Luft, von diesem aber als einem Zusammenhängenden wird das Sinneswerkzeug erregt. […] Denn das Sehen kommt dadurch zustande, daß das Wahrnehmungsvermögen etwas erleidet. Unmöglich aber direkt seitens der gesehenen Farbe: so bleibt also, daß es seitens des Mediums geschieht, und es muß ein Medium geben; ist dieses leer, so wird nicht nur nichts deutlich, sondern überhaupt nichts gesehen.86

Daß bei Aristoteles kein naiv-rezeptives Wahrnehmungsverständnis vorliegt, hat Wolfgang Bernard in seiner Studie zu Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles gezeigt. Die Wahrnehmung bringt das eidos als Form, die als allgemeine in der psuchê vorliegt und dem Begriff korrespondiert, selber mit, trifft dabei auf ein aktuell gesehenes einzelnes Materielles, in dem das eidos als Besonderes – als „individuell“ geformte Materie (hulê) – auftritt, und stellt das Allgemeine-im-Materiellen als suntheton fest: Die Wahrnehmung erkennt also das Allgemeine, das sie erkennt, das wahrnehmbare Eidos, aktual immer aus der Organaffektion, die ein Einzelnes verursacht. Deshalb kann man nicht wahrnehmen, wann immer man will, sondern man bedarf eines Äußeren, das das Wahrnehmungsorgan affiziert, damit die Wahrnehmung Gelegenheit hat, analytisch erkennend tätig zu werden. Gleichzeitig ist durch die Unterscheidung von Eidos, Materie und Syntheton auch der Subjekt-Objekt-Spalt vermieden, da das Eidos eine doppelte Leistung vollbringt. Einerseits gestaltet und bestimmt es das einzelne Syntheton, an dem es an Materie gebunden vorliegt, andererseits bildet es den Inhalt der aktualen Erkenntnis, indem es vom Erkennenden frei von aller Materialität erfaßt wird. Dabei kommt es zur Identität von Erkanntem und Erkenntnis. Das Erkannte, an das sich die Wahrnehmung des Idion ‚angleicht‘, ist also nichts Äußeres, nichts einfach Gegebenes, das nur ‚aufgenommen‘ werden müßte, nichts Vorgefundenes, aber andererseits auch nichts Erfundenes, sondern ein Gefundenes.87

Die Identität oder Adäquatheit von Erkanntem und Erkenntnis findet sich auch in der theôria – eine Betrachtung, die den betrachteten Gegenstand durch die spezifische Form der Betrachtung zur theôria erhebt. Die theôria ist sowohl Vorgefundenes als auch Erfundenes und als „Gefundenes“ zugleich nichts von beidem, fügt sich nicht einer eindeutigen Subjekt-ObjektAufteilung. Die theôria ist sowohl ein geordnetes Schaugefüge im Sinne eines Schauspieles oder eines Festumzuges, dem alleine das theôrein als angemessene Form der Wahrnehmung korrespondiert, als auch das theôrein, das aus der Masse oder „Mannigfaltigkeit“ des Angeschauten eine theôria macht. Es ist die sunopsis, die des eusunopton bedarf. Sicher ist, daß die theôria eine hervorgehobene und ausgezeichnete Sichtweise ist, die den „theoretischen Menschen“ im Verständnis des Aristoteles aus dem nur Menschlichen herausheben kann. Es handelt sich um eine Sehfähigkeit, die nicht selbstverständlich gegeben ist, um eine Fähigkeit, die nicht selbstverständlich das Ge86 Aristoteles: Über die Seele, 37 (419a10f.). 87 Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles. Versuch einer Bestimmung der spontanen Erkenntnisleistung der Wahrnehmung bei Aristoteles in Abgrenzung gegen die rezeptive Auslegung der Sinnlichkeit bei Descartes und Kant, Baden-Baden 1988, 242f.

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gebene als theôria anblickt. Die theôria steht in Verbindung zum Göttlichen, ihre Erwerbung ist eine fast nicht mehr menschliche: Göttlich aber dürfte allein sie in zweifachem Sinne sein: Einmal nämlich ist die Wissenschaft göttlich (theia), welche der Gott (theos) am meisten haben mag und zum andern die, welche das Göttliche (theiôn) zum Gegenstand haben dürfte.88

Die Göttlichkeit der theôria besteht nicht allein darin, daß es sich um eine Weise der Anschauung handelt, die die göttliche Anschauung nachvollzieht, sondern es ist zugleich eine Anschauung, die für Aristoteles das Göttliche in der Anschauung zu finden vermag, wie es Ritter formuliert: „So ist die Natur als das Ganze Gegenstand der Philosophie, weil sie das Göttliche ist und so auf den Gott verweist.“89 Ohne weiterzuverfolgen, daß das Göttliche oder gar Theologische der Theorie in ihrem Ursprung oder gar seit ihrem Ursprung eingeschrieben sein könnte, kann doch aus diesen Erörterungen über die theôria ein grundlegender Zug festgehalten werden: theôria ist keine Anschauung, die etwas von der aisthêsis „Abgetrenntes“ in den Blick nimmt, sondern nimmt als sunopsis das eusunopton des Gegenstandes wahr. Das bringt sie in Verwandtschaft mit der Theatralität des Theaters und der Anschauung, die gleichzeitig Ästhetisches betrachtet und in dieser Betrachtung etwas findet, was sich nicht auf bloße Datenrezeption beschränken läßt. Gerald Wildgruber faßt diesen Zug der theôria zusammen: Man kann […] sagen, Theorie als Form führt auf eine Immanentisierung der Ursache, wodurch gegen die als äußeres (und namentlich transzendentales) Prinzip wirkende, etwas anderes als sich hervorbringende, effizierende Kausalität eine Wirksamkeit in den Dingen selbst tritt, gleichsam die Freigabe und Dynamisierung ihrer immanenten Energien; das vormalige Bedingt-Sein durch die Transzendenz legt sich in eine den Dingen selbst innewohnende Prozessualität um. Die entscheidende Wendung in der Interpretation des Theoretischen durch Aristoteles, nämlich das Umgreifende im Inbegriffenen selbst anzusetzen, hat eben diese Konsequenz: Theoretisch verfahren hieße dann nämlich, ein Vorliegendes, Erscheinendes auf das hin zu befragen, was in ihm selbst den Anfang seiner prozeßhaften Veränderung trägt und also einzusehen, daß das, was es übersteigt, schon in ihm selbst liegt. […] Theorie wäre demnach die Einsicht, daß das, was sich nicht durch ein Anderes begreifen läßt, durch sich selbst begriffen werden muß.90

Die Theatralität, die mit der aristotelischen theôria verwandt ist, ist die des Theaters, nicht aber diejenige der Schrift, die ein theôrêma in den Blick nimmt, das nicht in der Schrift ist. Die theôria ist nicht die Schrift und die Schrift ist nicht die theoria. Schrift mag die theôria darzustellen oder zu begründen versuchen, mag eine Anleitung zur theôria sein. Die theôria als sunopsis ist hinsichtlich der Schrift etwas, was stattgefunden hat, wenn das 88 Aristoteles: Metaphysik, II, 983a. 89 Ritter: Theorie bei Aristoteles, 39. 90 Gerald Wildgruber: Theorie und Chor, in: Szenographien, hg. v. Gerhard Neumann u.a., 391-452, hier: 403. Es läßt sich hier zurückverweisen auf die Frage nach der Immanenz oder Transzendenz des „erscheinenden Menschen“ im Theater, die oben diskutiert wurde.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 267

Schreiben beginnt, und was zugleich stattfinden soll, nachdem das Lesen beendet ist. Das führt die poiêsis auf zweierlei Weise ein in die theôria: zunächst eine poiêsis, die aus der theôria zur Schrift führt, die eine Schrift entstehen läßt, sofern das Schreiben unter das poiein zu rechnen ist; zudem führt die Schrift möglicherweise zu einer poiêsis nach der Lektüre der Schrift, zu der Erzeugung des Vermögens einer synoptischen Anschauung aus der Schrift heraus. Die Frage nach dem Status der theôria stellt sich von der Schrift her: ist theôria diejenige Anschauung, die der Verfasser der theoretischen Schrift weitergibt, die nach der Lektüre das vom Leser angeschaute selbst in eine theôria verwandelt? Oder handelt es sich um eine Anleitung, selbst zum theôrein zu gelangen? Vielleicht ließe sich diese Ambiguität in der doppelten Weise verstehen, in der Aristoteles sie auf den Gott bezieht: die theôria ist die Anschauung, die der Schreiber der theoretischen Schrift am meisten hat – dann wird die Schrift über die theôria zu einer Art Offenbarung der theoretischen Verfassung des Angeschauten. Oder die Schrift ist die Anleitung zum theôrein, erzeugt selbst die Form der Anschauung, indem sie Ergebnisse derartiger Anschauung paradigmatisch wiedergibt: eine Art normativer Poietik des betrachtenden Denkens.91 Das Auge ist für Aristoteles das philosophische Organ schlechthin: Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen (aisthêseôn agapês); denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen andern vor. Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis (gnôrizein) gibt (poiei) und viele Unterschiede (pollas diaphoras) aufdeckt.92

Die intellektuelle Erkenntnis ist der aisthêsis ähnlich oder vergleichbar, aber nicht mit ihr identisch: Wenn die Forscher die Seele hauptsächlich durch zwei unterscheidende Merkmale bestimmen, durch die Ortsbewegung und durch das Denken (Erfassen) (noein) und Wahrnehmen (aisthanesthai), wenn aber auch das Denken (noein) und Begreifen (phronein) ein Wahrnehmen (aisthanesthai) scheint – denn bei diesen beiden Tätigkeiten erfaßt und erkennt die Seele etwas von den Dingen – , und die Alten das Denken (phronein) und Wahrnehmen (aisthanesthai) gleichsetzten, wie auch Empedokles sagte […] Eben das meinte auch Homer mit: So ist gewiß denn der Sinn (noos); denn alle fassen das Denken (noein) als Körperliches (sômatikon) wie das Wahrnehmen (aisthanesthai) auf und meinen, man nehme wahr und begreife (phronein) mit dem Gleichen das Gleiche […].93

Das aisthetische Sehen geschieht für Aristoteles durch das Zwischentreten eines Mediums, dieses Medium aber ist in ausgezeichneter Weise das Licht, ein Medium außerhalb des Auges. Es kommt aber eigenartigerweise auch auf 91 Dabei aber sind die überlieferten aristotelischen Texte, anders als die platonischen, selbst nicht „anschaulich“, zeigen keine Szenen, auf denen sich Redner unterhalten, reden nicht von den redenden Körpern. 92 Aristoteles: Metaphysik, I, 980a21ff. 93 Aristoteles: Über die Seele, III, 3.427a.

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Seiten des Sehens zu einer Vermittlungsfunktion, die mit dem Namen des Lichts in der aristotelischen Etymologie verwandt ist: die phantasia, die Aristotels vom Licht (phôs) herleitet.94 Diese phantasia hat das Vermögen, sowohl zu urteilen als auch Gegenstände ohne ihre Anwesenheit zu geben. Die phantasia operiert im Zwischenraum zwischen aisthêsis und noêsis, zwischen Sinnlichkeit und Intellekt. Der Unterschied zwischen intellektueller und sinnlicher Erkenntnis ist für Aristoteles – anders als für Platon – die Herkunft der Einwirkungen auf diese Vermögen: Der Unterschied [zwischen Denken und Wahrnehmen; A.d.V.], liegt darin, daß beim einen (der Wahrnehmung), was die Verwirklichung hervorruft, draußen steht: das Sichtbare und das Hörbare und ebenso die übrigen wahrnehmbaren Dinge (aisthêtôn). Das kommt daher, daß sich die Wahrnehmung in ihrer Betätigung auf das Einzelne (kath‘ hekaston), das Wissen (epistêmê) aber auf das Allgemeine (katholou) richtet. Dieses aber befindet sich in gewisser Weise in der Seele selbst. Deshalb liegt das Denken (noêsai) in der Gewalt des Wollens (ep‘ autô), nicht aber das Wahrnehmen (aisthanesthai), denn das Wahrnehmbare muß dasein.95

Zwischen diese beiden durchaus unterscheidbaren Bereiche schiebt sich die phantasia als dritter Bereich: das Vermögen, Vorstellungsbilder (phantasmata) hervorzubringen.96 94 Ebd., 3.429a. Trotz jahrhundertelangen Bemühens sei die aristotelische phantasia noch immer ein dunkles Kapitel, heißt es bei Hubertus Busche: Hat Phantasie nach Aristoteles eine interpretierende Funktion in der Wahrnehmung?, in: Zeitschr. für philos. Forschung 51 (Frankfurt am Main 1997), H.4, 565-589. Busche bemüht sich vor allem, die aristotelische phantasia von Kants Begriff der „Einbildungskraft“ abzusetzen, indem er den Nachweis unternimmt, daß diese phantasia nicht im Akt der Wahrnehmung gegenwärtiger aisthêta am Werke ist, sondern lediglich abwesende Gegenstände vor Augen stellt, oder im Akt ungenauer Wahrnehmung oder der Wahrnehmung trügerischer Gegenstände am Werke ist. Ist bereits diese Behauptung problematisch in Anbetracht der – hier im folgenden wiedergegebenen – Ausführungen des Aristoteles zur phantasia im Wahrnehmungsakt, verdeckt sie zudem auch die Schwierigkeit, die in dem von Busche zu Recht konstatierten Schwanken des Aristoteles im Umgang mit der phantasia ihren Ausdruck findet. Dieses Schwanken läßt sich verstehen als der Versuch, einerseits die phantasmatischen Erscheinungen – insbesondere den Traum – in die Erörterungen aufzunehmen, andererseits aber hinreichend sichere Kriterien zu erlangen, die diese rein phantasmatischen Erscheinungen von Wahrnehmungen unterscheidbar machen. Busche spricht über den „Normalfall“ (588) der Wahrnehmung, der derjenige Fall ist, da der Gegenstand vor Augen präsent, deutlich sichtbar und selbst nicht trügerisch ist – wünschenswert wäre aber zumindest eine Überlegung, ob dieser „Normalfall“ nicht vielmehr ein Ausnahmefall, wenn nicht gar ein Idealfall ist. Gesetzt den Fall, etwa es ginge um die Gegenstände der Wahrnehmung in dem Augenblick, da Aristoteles über sie schreibt, da sie ihm also nicht vor Augen stehen, wie sie dem Leser nicht vor Augen stehen, was wäre dann mit diesem Idealfall? Was also wäre vom Gegenstand des Denkens zu sagen, wenn Busche schreibt: „Nur das ‚Denken‘ und ‚Betrachten‘ metaempirischer oder abwesender Gegenstände bedarf der Phantasie und ihrer Vorstellungen zum Ersatz für die fehlende aktuale Anschauung.“ (588) – Dann würde wohl die phantasia jedenfalls für das schreibende ‚Denken‘ zum „Normalfall“. 95 Aristoteles: Über die Seele, II, 6.417b. 96 Phantasia ist nach der Definition des Aristoteles das Vermögen, phantasmata (Vorstellungsbilder) hervorzubringen. (Über die Seele, III, 3.428a). Vgl. Inge-

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Phantasia – In Confinio Intellectus et Sensus Phantasia ist weder Wahrnehmung noch auch mit dem Intellekt identisch,97 aber sie ist in der theôria am Werke, ja die theôria ist überhaupt nicht ohne phantasia möglich: Da es […] kein Ding (pragma), wie es scheint, getrennt (kechôrismenon) von den sinnlich wahrnehmbaren (aisthêta) Größen gibt, so sind in den wahrnehmbaren Formen (eidesi tois aisthêtois) die denkbaren (noêta) enthalten, sowohl die sogenannten abstrakten (aphairesi) wie auch die Gestaltungen und Beschaffenheiten des Sinnlichen. Und deswegen kann niemand ohne Wahrnehmung etwas lernen oder verstehen, und wenn man etwas erfaßt (theôrê), muß man es zugleich mit einem Vorstellungsbild (phantasmati) erfassen (theôrein). Denn die Vorstellungsbilder (phantasmata) sind gleichsam Wahrnehmungsbilder (aisthêmata), nur ohne Materie. Die Vorstellung (phantasia) ist etwas anderes als das bejahende (phaseôs) oder verneinende (apophaseôs) Urteil. Denn das Wahre (to alêthes) und Falsche (pseudos) (im Urteil) ist eine Verknüpfung von Begriffen (noêmatôn). Aber die ersten unverknüpften Begriffe (prôta noêmata), inwiefern sollten sich diese von Vorstellungsbildern (phantasmata) unterscheiden? Oder sind auch die übrigen Begriffe keine Vorstellungsbilder (phantasmata), aber nicht ohne Vorstellungsbilder (phantasmatôn)?98

Wie Bernard ausgeführt hat, ist das eidos bei Aristoteles sowohl als die Form des Allgemeinen im Intellekt, wie auch als die besondere Form des aktuell wahrgenommenen Gegenstandes in der Wahrnehmung aktiv. An dieser Stelle in Peri psuchês nun wird die Interferenz der beiden eidê mit dem phantasma verbunden. Aristoteles deutet auf die Funktion des phantasma im Akt der Wahrnehmung hin. Die aisthêsis ist nicht ohne das phantasma, die Vorstellung greift in den Wahrnehmungsakt ein. Keine theôria kommt ohne phantasma aus, zugleich steht das phantasma zwischen bejahendem und verneinendem Urteil, bildet ein drittes Gebiet, das weder setzend noch ent-setzend agiert. Da Bejahung und Verneinung erst in Verknüpfungen auftreten können, das phantasma bei Aristoteles aber nicht verknüpft, liegt es vor jeder mar Düring über phantasia bei Aristoteles: „Das Wort bedeutet in De anima sowohl die Vorstellungskraft als auch den Vorgang, der zur Vorstellung führt, und das Ergebnis, das Vorstellungsbild, das auch phantasma heißt.“ (Düring: Aristoteles, 578). 97 „Daß also Wahrnehmen und das Einsehen (verständiger Sinn) (phronein) nicht dasselbe sind, ist deutlich. […] Aber auch das vernünftige Erkennen (noein), in welchem sich das Richtige und das Nicht-Richtige finden, ist nicht dasselbe wie das Wahrnehmen. […] Die Wahrnehmung von ihren spezifischen Objekten ist nämlich immer wahr und liegt bei allen Lebewesen vor, das Denken (dianoeisthai) hingegen kann auch fehlerhaft sein und liegt nur dort vor, wo auch Verstand (logos). Denn Vorstellung (phantasia) ist etwas anderes (heteron) als Wahrnehmung (aisthêseôs) und Denken (dianoias).“ (Aristoteles: Über die Seele, III, 3.427). 98 Ebd., 9.432a. Im Kommentar zu dieser Stelle schreibt Horst Seidl, daß „die Vernunft zu den Einsichten auf ihrem Erkenntnisgebiet nicht ohne die Vorstellungen (Phantasmen) [kommt], die für sie das sind, was die Wahrnehmungsgegenstände für die Sinneswahrnehmung“. (Ebd., Kommentar, 273).

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Bejahung oder Verneinung. Die Schwierigkeit bei den phantasmata allerdings ist ein Unterschied, der sie von den Wahrnehmungen und auch von der Wissenschaft absetzt: Wenn die Vorstellung (phantasia) das ist, wodurch, sagen wir, ein Vorstellungsbild (phantasma) in uns entsteht, und wir nicht im übertragenen Sinne (kata metaphoran) von ihr sprechen, ist sie dann eine jener Kräfte oder Fähigkeiten, dank deren wir auffassen und wahr oder falsch urteilen? Solcher Art sind Wahrnehmung (aisthêsis), Meinung (doxa), Wissen (epistêmê), geistiges Erfassen (nous). Daß sie nun nicht Wahrnehmung ist, ergibt sich aus folgendem. Die Wahrnehmung ist entweder Möglichkeit oder Verwirklichung, z.B. Sehkraft (opsis) und Sehen (horasis), doch gibt es Erscheinung (Vorstellung) (phainetai) aber auch ohne diese beiden, wie im Schlaf. […] Weiter sind die Wahrnehmungen immer wahr, von den Vorstellungen die Mehrzahl falsch. Ferner sagen wir auch nicht dann, wenn wir uns genau mit dem Gegenstand der Wahrnehmung befassen, daß uns das und das als ein Mensch (in der Vorstellung) erscheine (phainetai), sondern eher, wenn wir Wahres und Falsches nicht deutlich wahrnehmen. Und eben, was wir schon früher bemerkten: Vorstellungsbilder (horamata) erscheinen (phainetai) auch den Schlafenden. Aber die Vorstellung gehört auch nicht zu den immer die Wahrheit erfassenden Kräften, wie das Wissen (epistêmê) oder das geistige Erfassen (nous). Denn es gibt auch eine falsche Vorstellung.99

Die phantasia muß also von der aisthêsis unterschieden werden, und das heißt: sie muß von der aisthêsis unterscheidbar sein. Wenn aber die phantasia im Prozess der aisthêsis bereits inbegriffen ist, so ist diese Unterscheidung schwierig, wenn nicht unmöglich. Im zweiten Schritt muß sodann die phantasia daraufhin untersucht werden, ob es sich um eine wahre oder eine täuschende phantasia handelt. Zudem muß noch unterschieden werden, ob es sich um eine phantasia logistikê oder eine phantasia aisthêtikê handelt. Zentral ist für die phantasia bei Aristoteles ihre Medialität zwischen Verstand/Vernunft (nous) und Wahrnehmung (aisthêsis).100 Wenn die phantasia das Mittelstück zwischen aisthêsis und nous bildet, so stellt sich die Frage, ob sie sich etwa einer der beiden Seiten zurechnen läßt, ob sie also eine untergeordnete Funktion oder ein Teilgebiet der aisthêsis oder des nous beziehungsweise des logistikon ist. Tatsächlich findet sie sich selbst gespalten in phantasia aisthêtikê und logistikê.101 Die phantasia ist einerseits Vor99 Ebd., 3. 427bf. 100 Bei Cessi findet sie sich als Medium zwischen „den alogischen und den logischen Seelenvermögen“ (Erkennen und Handeln, 120), ist aber zugleich selbst als phantasia aisthêtikê an die Wahrnehmungen gebunden, während auf sie als phantasia logistikê bereits Meinung und Überlegung Einfluß ausüben (Ebd., 126). Der Doppelcharakter von Aktivität und Passivität, der sich für die aisthêsis-Theorie des Aristoteles – nach Cessi und Bernard – festellen läßt, findet sich auch in der aktiv-passiven phantasia wieder. Eine treffende Überschrift hat Malcolm Scofield für dieses Problem in seinem Text Aristotle on Imagination für diese Medialität gefunden: In Confinio Intellectus et Sensus (Malcolm Scofield: Aristotle on Imagination, in: Essays on Aristotle’s De Anima, hg. von Martha C. Nussbaum and Amelie O. Rorty , Oxford 1992, 249-277, hier: 271). 101 „Es gibt eine phantasia aisthêtikê, die sich unmittelbar auf die aisthêsis stützt und nicht nur den Menschen, sondern auch anderen Lebewesen eigen ist, und eine phantasia logistikê bzw. bouleutikê (überlegende), ein bereits

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stellungsvermögen, das mit der aisthêsis verwandt ist, nicht aber deckungsgleich, da die phantasia nicht auf die materiale Gegenwart der vor Augen stehenden Gegenstände angewiesen ist. Andererseits gehört sie zum nous, insofern dieser die phantasia für seine Handlungsantriebe nutzt, die phantasia zudem die Eigenschaft hat, spontan und willkürlich Bilder hervorbringen zu können in der Weise eines bildlichen Denkens. Wenn nun bereits in der Wahrnehmung selbst nach Aristoteles eine Aktivität stattfindet, indem das potentielle Wahrnehmungsvermögen aktiv in Gang gesetzt wird, wenn sich selbst in der phantasia die Duplizität von Aktivität und Passivität, von Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit findet, so bleibt im Gegenzug beim nous zu betrachten, ob er selbst reine Aktivität, das Denken also ein bloß spontanes Vermögen ist, oder ob er mehr oder minder starke Momente von Rezeptivität in sich trägt. Anders formuliert: wenn der aisthêsis ein Denken inhärent ist, ist dann dem nous auch eine Art Wahrnehmung inhärent? Handelt es sich also vielleicht um die Bedingung der Möglichkeit der Metaphysik als „intellektuelle Anschauung“ der Ideen? In einem Aristoteles-Kommentar findet sich ein Begriff dafür, der eigenartigerweise wiederum der phantasia zugeschrieben wird. Der Kommentator Philoponos schreibt der phantasia zu, ein nous pathêtikos zu sein.102 Während also die phantasia ihre Kraft in der aisthêsis dadurch ausübt, daß sie den dort bereits vorhandenen aktiven Part verstärkt, insbesondere durch die Möglichkeit, willkürlich die vergangenen Eindrücke zu reproduzieren, so wendet sie dem nous eine Seite zu, die dessen rezeptive Funktion bestärkt, indem sie ihm Bilder vor „Augen“ stellt. Das phantasma, so führt es eine kleine Schrift des Aristoteles Über das Gedächtnis und die Erinnerung (Peri mnêmês kai anamnêseôs) aus, ist engstens verbunden mit dem Gedächtnis, mit der Zeit und mit dem Intellekt: [M]emory (mnêmê), even of the objects of thought (noêtôn), implies a mental picture (phantasma).103 It is obvious, then, that memory (mnêmê) belongs to that part of the soul to which imagination (phantasia) belongs; all things which are imaginable (phantasta) are essentially objects of memory (mnêmoneuta), and those which necessarily involve imagination are objects of memory only incidentally.104

Was mit dem Gedächtnis zu tun hat, hat mit dem phantasma zu tun. Das Gedächtnis wiederum ist die Bedingung der Möglichkeit von Zeit: „All memory, then, implies lapse of time. Hence only those living creatures which are conscious of time can be said to remember, and they do so with that part which is conscious of time.“ 105

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‚deliberatives‘ Vorstellungsvermögen, das allein den Menschen zugesprochen wird.“ (Cessi: Erkennen und Handeln, 120). Allerdings ist, wie Cessi (ebd., Fußnote) zu Recht festhält, auch in der aisthêtikê bereits ein Denken im Sinne eines ‚unmittelbaren, unterscheidenden, wahrnehmenden Erfassens‘ am Werke. Vgl. Cessi: Erkennen und Handeln, 110; dort auch in Fußnote 29 die Wiedergabe der betreffenden Passage aus dem Philoponos-Kommentar. Aristotle: On Memory and Recollection/Peri Mnêmês kai anmnêseôs, in: Ders.: On the Soul; Parva Naturalia; On Breath, ins Engl. übers. von W. S. Hett, Cambridge/Mass. und London 1995, 287-315, hier: 292/93 (450a). Ebd., 292/3 (450a). Ebd., 290/1 (449b).

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Gedächtnis, phantasia und Zeit stehen in enger Verbindung, was die vergangene Zeit angeht. Zugleich aber ist die phantasia auch beim Denken am Werk: It is impossible even to think (noein) without a mental picture (phantasma). The same affection (pathos) is involved in thinking (noein) as in drawing a diagram (diagraphein); for in this case although we make no use of the fact that the magnitude of a triangle is a finite quantity, we draw it as having a finite magnitude. In the same way the man who is thinking (noôn), though he may not be thinking of a finite magnitude, still puts a finite magnitude before his eyes (ommatôn), though he does not think of it as such.106

Das Denken, der Intellekt stützt sich also auf phantasmata. Man muß noch einmal an die oben im Zitat von Aristoteles offengelassene Frage erinnern: sind die ersten Begriffe (protê noêmata) vielleicht phantasmata? Das phantasma nämlich hat eine eigenartige, in sich gespaltene Struktur, die es sowohl zu einem Bild von etwas machen als auch zu einem eigenständigen Bild, was sich für das Gedächtnis in die Frage umschreiben läßt, ob im Prozeß der Erinnerung die gegenwärtige Affektion, die auf Gedächtnis stößt, erinnert wird, oder ob das Original, dessen Bild sich im Gedächtnis findet, erinnert wird: Now if memory (mnêmên) really occurs in this way, is what one remembers the present affection (pathos) or the original from which it arose? If the former, we could not remember anything in its absence; if the latter, how can we, by perceiving the affection, remember the absent fact which we do not perceive? If there is in us something like an impression (tupos) or picture (graphê [sic!]), why should the perception (aisthêsis) of just this be memory (mnêmê) of something else and not of itself? For when one exercises his memory this affection (pathos) is what he considers (theôrei) and perceives (aisthanetai). How, then, does he remember (mnêmoneuei) what is not present (to mê paron)? This would imply that one can also see and hear what is not present (to mê paron). But surely in a sense this can and does occur. Just as the picture painted (gegrammenon) on the panel (pinaki) 106 Ebd. Diese Stelle ist – wie schon Dorothea Frede (The Cognitive Role of Phantasia in Aristotle’s De Anima, hg. v. Martha C. Nussbaum u. Amelie O. Rorty, Oxford 1992, 279-295, hier: 290) feststellte – von so verblüffender Verwandtschaft zu Kants Ausführungen darüber, daß sich keine Linie denken lasse, ohne sie in Gedanken zu ziehen (in: Kritik der reinen Vernunft, WW III, 150, (B155)), daß es schwierig ist, die aristotelische phantasia nicht in die Nähe der Einbildungskraft zu rücken, was in der Literatur auch hier und dort geschieht. Inwieweit sich phantasia und Einbildungskraft tatsächlich decken, ist auch abhängig von der Bestimmung der „benachbarten“ Vermögen, der aisthêsis und des nous bei Aristoteles, der Sinnlichkeit und des Verstandes bei Kant. Gerade die „intellektuelle Anschauung“ wird von Kant in Abrede gestellt, sodaß die aristotelische Ambiguität der phantasmata zwischen Sinnbildern und Hirngespenstern bei Kant eindeutig auf letztere festzulegen ist. Nur dann, wenn die theôria mit der „Anschauung“ bei Kant abgeglichen wird, kommt auf dem Umweg über die „reine Anschauung“ etwas ins Spiel, das mit der Funktion der phantasia bei Aristoteles verwandt ist, was allerdings nicht mit der „Einbildungskraft“ Kants zusammenhängt. So besteht für Hubertus Busche (Phantasie nach Aristoteles, 566) zwischen phantasia und Einbildungskraft „ein himmelweiter Unterschied“.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 273 is at once a picture (eikôn) and a portrait (zôon [d.h. ein Lebewesen!!!; A.d.V.]), and though one and the same, is both, yet the essence of the two is not the same, and it is possible to think (theôrein) of it both as a picture (hôs eikona) and as a portrait (hôs zôon), so in the same way we must regard the mental picture (phantasma) within us both as an object of contemplation (theôrêma [sic]) in itself and as a mental picture of something else (allou phantasma). In so far as we consider it in itself, it is an object of contemplation (theôrêma) or a mental picture (phantasma), but insofar as we consider it in relation to something else, e.g., as a likeness (hoion eikôn) it is also an aid to memory (mnêmoneuma).107

Es kann also, dieser Lehre des Aristoteles zufolge, ein phantasma sowohl ein Gedächtnisbild sein als auch ein intellektuelles theôrêma – was die platonischen eidê als phantasmata erscheinen läßt. Gedächtnis und Erinnerung sind bei Aristoteles verstanden als ein Haben von phantasmata oder ein Suchen von phantasmata: hexis phantasmatos und zêtêsis phantasmatos.108 Eine Erinnerung an die Zukunft kann es nicht geben – so beginnt Aristoteles den Text über das Gedächtnis, ohne sich etwa vor irgendeinem Widerspruch seiner Leser fürchten zu müssen. Ebensowenig gibt es eine Erinnerung der Gegenwart, auch dieses ist zunächst evident.109 Dennoch kommt die Zeit im phantasma noch an anderem Ort bei Aristoteles ins Spiel, und zwar als ein phantasma, das auf die Zukunft gerichtet ist, das die Zukunft überhaupt zum phantasma werden läßt. Die phantasia greift in die Zeit ein, zumal in die Zeit der Zukunft, sofern die phantasia nicht vom Strebungsvermögen getrennt werden kann: Für die Denkseele (dianoêtikê) sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungsbilder. Wenn sie aber ein Gutes oder Schlechtes bejaht oder verneint, meidet sie es oder erstrebt es. Deshalb denkt (noei) die Seele nie ohne Vorstellungsbilder.110

Diese Vorstellungsbilder sind vor allem in der praktischen Vernunft vonnöten, denn die theoretische Vernunft ist nicht in der Lage, etwas in Bewegung zu setzen: Aber […] nicht der überlegende Teil (logistikon) und der sogenannte Geist (nous) ist die Veranlassung für die Bewegung, denn der betrachtende Geist (theôrêtikos) betrachtet (noei) nichts, was sich auf das Handeln bezieht, und sagt nichts aus über zu Meidendes oder zu Erstrebendes, während Bewegung immer dem ange107 Aristotle: On Memory, 294-297 (450b). 108 Vgl. hierzu auch Busche: Phantasie nach Aristoteles, 570. 109 Vgl. Aristotle: On Memory, 288/9 (449b): „It is impossible to remember the future ( to mellon), which is an object of conjecture (doxaston) or expectation (elpiston) (there might even be a science of expectation as some say there is of divination (mantikên)); nor is there memory of the present (parontos), but only perception (aisthêsis); for it is neither the future nor the past that we cognize (gnôrizomen) by perception, but only the present. But memory is of the past; no one could claim to remember the present while it is present.“ – Es wäre allerdings zu fragen, ob es nicht eine „Erinnerung der Gegenwart“gibt, wenn doch die Erinnerung immer nur auf der Grundlage eines präsenten Gegenstandes oder Bildes zu arbeiten beginnt. 110 Dieses und das nächste Zitat aus Aristoteles:Über die Seele, 61 (III, 7.431a) bzw. 64f. (III, 9-10, 432b-433a).

274 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN hört, der etwas meidet oder erstrebt. […] Nun aber scheinen doch diese beiden die Bewegung zu bewirken: Streben (orexis) oder Vernunft (nous), wenn man die Vorstellung (phantasian) als eine Denktätigkeit (noêsin) betrachtet.

Der Zeitsinn kommt ins Spiel, wo die Begierde des Gegenwärtigen in Kollision mit dem vernünftigen Bestreben nach Zukünftigem tritt: Daß nun dieses Vermögen der Seele, das sogenannte Streben (orexis), die Bewegung bewirkt ist klar. […] Da die Strebungen (orexeis) einander entgegengesetzt sind, und zwar dann, wenn Überlegung (logos) und Begierden (epithumiai) entgegengesetzt sind, und da dies bei den Wesen vorkommt, die den Zeitsinn (chronou aisthêsin) haben – die Vernunft (nous) heißt wegen des Zukünftigen nach der einen Richtung ziehen, die Begierde (epithumia) wegen des Jetzigen nach der anderen; das jetzige Angenehme scheint (phainetai) ihr nämlich als schlechthin angenehm und gut zu sein, weil sie das zukünftige nicht sieht (dia to mê horan to mellon) –, so gibt es der Art nach ein Bewegendes, das Strebende als Strebendes (orektikon), – als allererstes aber das Erstrebte; dieses bewegt, ohne bewegt zu sein, dadurch, daß es gedacht (noêthênai) oder vorgestellt (phantasthênai) wird -, […] [I]nsofern als ein Lebewesen ein Strebevermögen hat, bewegt es sich selbst. Ein Strebevermögen hat es aber nicht ohne Vorstellung (phantasias); jede Vorstellung (phantasia) aber ist entweder mit Denken (logistikê) oder mit sinnlicher Wahrnehmung (aisthêtikê) verbunden.111

Wenn die phantasia also einerseits mit dem Gedächtnis verbunden ist, aus dem die Bilder von Gegenständen herkommen, die nicht gegenwärtig sind, sich daneben noch in die aisthêsis einzeichnet und zugleich zur Grundlage der noêsis und der dianoia dient, überdies aber noch Bedingung der Möglichkeit eines Strebevermögens ist, das auf Zukünftiges ausgeht, so stellt sich eine Frage besonders scharf: wie verhält es sich mit der phantasia im Hinblick auf die Schrift, auf die Schriften des Aristoteles, bei denen immer davon auszugehen ist, daß alles, was an Körperlichem beschrieben wird – abgesehen vom Papier – nicht anwesend ist in der Lektüre, sondern zur Anwesenheit gebracht werden muß, sei es aus der Vergangenheit, aus der Erinnerung oder aus der Zukunft? Die Schrift, die nichts anderes hat als phantasmen, ist damit einerseits ein ausgelagertes Hilfsgedächtnis, ist also Präsentation als Darstellung von Abwesendem, zugleich aber auch – in ethischer Hinsicht – eine Präsentierung, indem sie das Strebungsvermögen oder Begehren weckt. Die phantasia darf dabei nicht verwechselt werden mit dem modernen Begriff der Phantasie – würde man das tun, würde die phantasia des Aristoteles umgehend ihren Ort verlieren.112 Ähnlich wie die theôria bezeichnet die phantasia sowohl die „subjektive“ Seite wie auch die „objektive“: 111 Ebd., 66 (III, 10, 433a-b). Nachdrücklich sei auf die Unterscheidung hingewiesen, die im letzten Satz des Zitates gemacht wird, daß es zwei Arten von phantasmata nach Aristoteles gibt, ein phantasma, das mit dem Denken verbunden ist, und eines, das mit der Wahrnehmung verbunden ist. Mir scheint in dieser Stelle der Ansatz für die Lösung des Problems um das Doppelbild zu liegen, jenem phantasma, das in der Wahrnehmung eines präsenten Gegenstandes anwesend ist. 112 Ebensowenig ist die phantasia einfach als „Imagination“ zu übersetzen; vgl. dazu Malcolm Scofield: Aristotle on Imagination, 251ff.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 275 One problem is that phantasia does triple duty. It designates the capacity, the activity or process, and the product or the result. […] I want […] to refer to the etymological derivation of phantasia from phainesthai or phantazesthai and claim that ‚appearance‘ in a wider sense should be regarded as the central meaning to which all functions of the term are related. It would then be (i) the capacity to experience an appearance, (ii) the on-going experience itself, and (iii) what appears. Sometimes, however, this does not seem appropriate; rather something like our ‚imagination‘ would be more adequate.113

Nun ist phantasia zweifellos nicht etwa nur frei schöpfende Hirngespensterei oder Wachträumerei, sie ist dies jedoch auch – darin liegt die Schwierigkeit. Sie ist im Erkenntnisprozeß inbegriffen, zugleich aber auch seine Bedrohung. Die phantasia ist im Traum die aktive Kraft,114 die Kraft, die auch bei geschlossenen Augen sehen läßt, was eigentlich nicht gesehen werden kann. Damit ist die Illusion der phantasia eingeschrieben, wiewohl sie mit ihr nicht deckungsgleich ist. In Träumen gibt es phantasmata, aber auch durchaus wahre Gedanken (alêtheis ennoias).115 Die größere Schwierigkeit aber bietet die phantasia, die derjenigen der Erinnerungsbilder zwar nicht unähnlich, dabei allerdings in die Zukunft gewendet ist. Bei den Erinnerungsbildern war jedes Bild sowohl möglicher Gegenstand einer Betrachtung (theôrêma), als auch Träger eines Verweises auf die Vergangenheit (allou phantasma). Dazu hieß es hinsichtlich der Vergangenheit bei Aristoteles, wie oben zitiert, daß es möglich sei, Dinge zu sehen, die nicht anwesend sind. Der Traum ist daraufhin zu untersuchen, ob dies auch auf zukünftige Dinge zutrifft, ob Träume (enhupnia) eine Bedeutung haben (sêmeiôdes echein); damit beginnt der Text über die Wahrsagerei durch Träume, Peri tês kath‘ hupnion mantikês. In Frage steht die Möglichkeit der Bedeutsamkeit des Traums vor allem als Zweifel an der Urheberschaft des Wahrtraums, denn Aristoteles scheint es absurd, daß ein Gott, üblicherweise und traditionell für solche Wahrträume verantwortlich gemacht, diese sende, und zwar nicht etwa nur den Weisen und Besten, sondern unterschiedslos allen. Es gibt drei Möglichkeiten für Aristoteles, wie die Traumbilder mehr werden können als sinnlose Selbstaffektionen: durch 1. Ursächlichkeit (aitia), 2. Vorzeichenhaftigkeit (sêmeia) oder 3. Zufälligkeit (sumptômata). Ursächlichkeit ist möglich in der Weise, daß die Traumbilder Handlungen im folgenden Wachzustand veranlassen, wie auch – wie Aristoteles argumentiert – Handlungen im Wachzustand ja Traumbilder nach sich ziehen können.116 Die meisten Traumbilder aber seien Zufälle, zumal diejenigen, die nicht im aktiven Wirkungskreis des erwachten Träumers liegen, die scheinbar „seherischen“ Träume also. Es scheint, als würde Aristoteles einen nüchter113 Frede: The Cognitive Role, 279. – Auch zu dieser Distinktion zwischen „appearance“ und „imagination“ wäre zu fragen, ob es sich um ein Problem der Übersetzung handelt oder um das sachliche Problem, mit dem Aristoteles umzugehen versucht – das Problem eben, wie sich die Erscheinung von der Imagination unterscheiden läßt, wenn der Verstand/die Vernunft doch immer oder jedenfalls häufig auf phantasmata angewiesen ist. 114 Vgl. dazu die kleine Schrift Über Träume des Aristoteles. 115 Aristoteles: Über Träume, in: De Insomniis/De Divinatione per Somnium, übers. u. erl. v. Philip J. van der Eijk, Berlin 1994, 462a 29. 116 Aristoteles: Über die Weissagung im Schlaf, in: De Insomniis/De Divinatione per Somnium, 463a22ff.

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nen und rationalen Blick auf die Träume werfen, die keinerlei Raum für irgendwelche Zeichenhaftigkeit oder Wahrsagerei bieten. Dennoch finden sich in diesem Text Hinweise, daß es für ihn keinen Zweifel an der VorherSehung (prohoran) gibt. Er führt sie zurück auf gewisse stimulierende Bewegungen (kinêseis), die phantasmata produzieren, auf deren Grundlage diese Vorher-Sehung stattfindet. Daß aber diese Vorher-Sehung überwiegend bei nicht intelligenten (ou phronimôtatois) Menschen stattfindet, liegt an deren Gedanken-„Leere“: Sie haben keine eigenen Gedankenbewegungen, sondern werden voll von den stimulierenden Bewegungen getroffen und mitgerissen.117 Auch für die Vorher-Sehung des Zukünftigen, sofern es denn stattfindet, spielt also das phantasma die zentrale Rolle und nicht etwa ein gottgesandtes Bild – ebenso wie das phantasma seine Rolle beim Gedächtnis und auch in der aisthêsis spielte. Nimmt man die oben zitierte Frage nach den ersten Begriffen (prota noêmata) und ihrer möglichen Phantastik ernst, deren Beantwortung von Aristoteles offengelassen wird, ist möglicherweise das phantasma nicht nur im noetischen Bereich anwesend, stützt sich der nous nicht nur notwendig auf Phantasmen, sondern der Kern des Intellekts selbst ist potentiell phantasmatisch. Die protê philosophia, die erste Philosophie oder Metaphysik, ruht möglicherweise einem phantasma auf. Daß der nous es notwendig mit phantasmata zu tun hat, ist ausgeführt worden. Es läßt sich daraus eine – allerdings etwas gewagte, da nicht direkt durch Zitate belegbare – Folgerung anschließen, die die Frage nach dem eigenartig ambigen Bild betrifft, das das phantasma bei der Wahrnehmung aktueller Gegenstände einbringt. Der nous beruht auf phantasmen zumal deswegen, weil er sich auch auf relativ oder absolut sinnlich-abwesende Gegenstände bezieht. Diese sinnlich-abwesenden Gegenstände werden von der phantasia vor Augen gestellt. Welche Rolle die phantasia bei der Wahrnehmung sinnlich-anwesender Gegenstände hat, bringen weder Busche noch Frede zu einer wirklich befriedigenden Erklärung; Busche konstatiert einen „Widersinn […], daß derselbe Gegenstand gleichzeitig wahrgenommen und eingebildet werden soll“,118 für Frede ist es eine „vexatious duplication of sense-perceptions and phantasiai in the presence of the object“.119 Das Paar von Gegenwart und Abwesenheit bietet sich für eine Klärung an: In Abwesenheit des Gegenstandes tritt die phantasia als ein Double der aisthêsis auf, gibt eine Anschauung von Abwesendem, was für das Denken Gelingensbedingung ist. Wenn aber der Gegenstand vor Augen ist – läßt sich dann das phantasma als Funktion des nous „in praesentia“ begreifen? Handelt es sich beim phantasma in der Anschauung um den nous, der aus der bloßen Sinneswahrnehmung eine interpretierte und verstandene, eine insbesondere zeitlich eingeordnete und mit dem Gedächtnis korrelierte Wahrnehmung macht? Dann würde die von Busche gezogene Bilanz das phantasma – anders als er selbst meint – nicht mehr ausschließen: „Nach dem Stagiriten ist nicht die phantasia, sondern der nous diejenige Instanz, die das Wahrgenommene interpretiert.“120 Die „interpretierende“ Funktion des nous, die Busche festhalten will, impliziert, daß der nous nach der aisthêsis in Aktion tritt und den Gegenstand als abwesend voraussetzen müßte. Wie aber verhält sich 117 118 119 120

Ebd., 464a 15ff. Busche: Phantasie nach Aristoteles, 578. Frede: The Cognitive Role, 286. Busche: Phantasie nach Aristoteles, 589.

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das Verstehen oder Interpretieren eines anwesenden aisthêton? Dann ist das phantasma in der aktualen Anschauung – etwa als die Präsenz des Gedächtnisses in der aktuellen Anschauung selber – als noetische Interpretation des Präsenten zu verstehen. Die phantasmata im Traum sind für Aristoteles vergleichbar mit Bildern im Wasser: Der sachkundigste Deuter von Träumen ist derjenige, der die Fähigkeit besitzt, die Ähnlichkeiten zu erfassen (homoiotêtas theôrein); denn das Deuten von klaren Traumbildern ist jedem möglich. Ich sage „die Ähnlichkeiten“, weil die Erscheinungen (phantasmata) sich in vergleichbarer Weise einstellen wie Abbilder (eidôlois) im Wasser […].121

So eine Bewegung der Vor-Spiegelung findet sich bei Platon im Philebos, wo über den Maler in der psuchê berichtet wird. Dort findet sich eine zweifache Bewegung, die im wesentlichen eine Hypothese zur Wirkung der platonischen Schreibweise, der schreibenden Produktion von im aristotelischen Sinne „phantasmatischen“ Anschauungen, bietet. Durch logoi wird eine poiêsis ins Werk gesetzt, nämlich eine logopoiêsis. Sokrates hatte gerade ausgeführt, daß durch logoi, die vernommen werden, Einschreibungen in der psuchê stattfinden, diese werden als Schrift (graphê) benannt. Nach dem Akt dieser Einschreibung aber tritt ein zweiter Handwerker an: SOKRATES: Das mit den Wahrnehmungen (aisthêsei) zusammentreffende Gedächtnis (mnêmê), und was sonst zu diesen Zuständen gehört, scheinen mir dann in unsere Seelen gleichsam Reden (logous) einzuschreiben (graphein) […] PROTARCHOS: Allerdings scheint mir das auch, und ich nehme das so Gesagte an. SOKRATES: So nimm dann auch an, daß noch ein anderer Meister (dêmiourgon) sich zu derselben Zeit in unsern Seelen befindet. PROTARCHOS: Was für einer? SOKRATES: Ein Maler (zôgraphon), der nächst dem Schreiber (grammatistên) des Gesprochenen die Bilder (eikonas) davon in der Seele zeichnet (graphei). PROTARCHOS: Wie tut das der nun wieder und wann? SOKRATES: Wenn einer von dem Gesicht (opseôs), oder welcher Sinn (aisthêseôs) es sonst sei, das damals Vorgestellte (doxazomena) und Ausgesprochene (legomena) losmachend die Bilder (eikonas) des Vorgestellten (doxasthentôn) und Gesprochenen (lechthentôn) irgendwie in sich selbst sieht (hora). Oder geschieht das etwa nicht bei uns? PROTARCHOS: Gar sehr freilich. (Phil. 39aff.)122

Wieder findet sich das Gedächtnis an zentraler Position in dieser Phantastik, ein Gedächtnis aber, das ein Rede-Gedächtnis ist, das sich als aufgezeichnete oder aufgeschriebene Rede präsentiert. Einschreibungen in das Gedächtnis werden von allen Sinnen vorgenommen, die „Reden“ kommen aus der Anschauung, dem Gehör, dem Tastsinn et cetera. Nach der graphê aber, vorge121 Aristoteles: Über die Weissagung im Schlaf, 464b7ff. (30). 122 Diese Stelle müßte im Zusammenhang mit den Ausführungen des Ion gelesen werden, über die ver-rückende oder ent-rückende Wirkung der Vorträge des Rhapsoden auf die Zuhörer.

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nommen von einem Grammatisten, kommt ein anderer grapheus, ein Zeichner oder ein malender dêmiourgos, der auf der Grundlage der Einschreibungen Bilder produziert. In Platons Terminologie sind dies keine phantastischen, sondern doxastische Bilder. Aber es sind Bilder, die nach einer Schrift entstehen. Sie tragen nicht selbst ihren Wahrheitswert in sich, sondern sind abhängig von den Reden, aus denen sie entstehen: SOKRATES: Sind nun nicht der richtigen Vorstellungen (alêthôn doxôn) und Reden (logôn) Bilder (eikones) auch richtige, die der falschen aber falsche? PROTARCHOS: Auf alle Weise. (Phil. 39c)

Dabei kommt auch bei Platon das Künftige ins Spiel als eigentlich wesentliche Fragestellung, die aus dieser Bildmacherei abzuleiten ist: SOKRATES: Wenn wir nun dies richtig bestimmt haben, so laß uns auch noch dieses dazu untersuchen. PROTARCHOS: Welches doch? SOKRATES: Ob uns mit dem Gegenwärtigen (ontôn) und Vergangenen (gegonotôn) dieses zwar notwendig so begegnet, mit dem Künftigen (tôn mellontôn) aber nicht. PROTARCHOS: Mit allem aus allen Zeiten gewiß auf gleiche Weise. SOKRATES: Nun ist doch von der Lust und Unlust der Seele in dem vorigen gesagt worden, daß sie wohl vor der Lust und Unlust des Leibes vorher entstehen könnte, so daß uns also eine Vorlust und eine Vorunlust in bezug auf die künftige Zeit entsteht. PROTARCHOS: Sehr wahr. SOKRATES: Gibt es nun solche Schriften (grammata) und Bilder (zôgraphêmata), wie wir kurz zuvor in uns entstehen ließen, zwar von der vergangenen und gegenwärtigen Zeit, von der künftigen aber nicht? PROTARCHOS: Ganz gewiß doch. SOKRATES: Sagst du etwa ganz gewiß, weil sie ja alle, auf die künftige Zeit bezogen, Hoffnungen sind und wir unser ganzes Leben hindurch immer voll sind von Hoffnungen? PROTARCHOS: Auf alle Weise freilich. (Phil. 39cff.)

In die Bildmacherei greift die Hoffnung auf das Künftige oder die Hoffnung als Offenheit auf Künftiges ein. Damit kommt die Tragödie wieder ins Spiel, läßt sie sich doch, der Stelle aus den Nomoi zufolge, als ein Prozeß der Bildwerdung aus Schriften verstehen: die als Drama aufgezeichneten Gesetze führen zur „Inszenierung“ der polis. Es geht um die doppelte Geste Platons gegenüber der Tragödie, die der doppelten Geste gegenüber der Schrift, von der Derrida schrieb, nicht unähnlich ist, wie der doppelten Geste gegenüber dem Bild, dem Körper: Einem Schema gemäß, das die gesamte abendländische Philosophie beherrschen wird, wird eine gute (natürliche, lebendige, wissende, intelligible, innerliche, sprechende) Schrift einer schlechten (künstlichen, todgeweihten, unwissenden, sinnlichen, äußerlichen, stummen) Schrift gegenübergestellt. Und die gute kann nur in der Metapher der schlechten bezeichnet werden. […] Die schlechte Schrift

ARBEITEN AM PHANTASMA | 279 ist für die gute gleichsam ein Vorbild sprachlicher Bezeichnung und ein Trugbild eines Wesens. Und wenn das Netzwerk der Gegensätze von Prädikaten, welche eine Schrift auf die andere beziehen, in seinem Gefüge alle begrifflichen Gegensätze des „Platonismus“ enthält – hier als die dominante Struktur der Geschichte der Metaphysik betrachtet -, so wird man sagen können, daß die Philosophie sich im Spiel zweier Schriften abgespielt habe. Wo sie doch allein zwischen Sprechen und Schrift hat unterscheiden wollen.123

Was Derrida von der Schrift schreibt, ist um die Tragödie zu ergänzen – wenn es nicht nur um Ontologie geht, um die Aufzeichnung und Vermittlung eines Wissens, das bei Platon wesentlich aus dem Gedächtnis heraus kommt, sondern wenn zudem der Entwurfs-Charakter zumindest der späteren Dialoge Platons in den Blick kommt, der Entwurf einer polis also, die Organisation eines politischen Gebildes, in das die Ethik, die Frage nach dem tugendhaften Handeln untergeordnet eingeschrieben ist. Die Tragödie Platons kommt nicht von der Schrift los: es ist die „Inszenierung“ der Dialoge, die ein solches Theater begründet, die aber vor allem eine doppelte Inszenierung ist. Die „Inszenierung“ läßt einerseits die Gespräche des Sokrates anschaulich sein und führt Sokrates auf der Szene der Reden vor; daneben soll die neue, ideale Stadt nach den Vor-Schriften des Gesetzgebers inszeniert werden. Irgendwo zwischen diesen beiden „Tragödien“ ist eine dritte angesiedelt, diejenige Tragödie, die die Metaphysik selbst ist, die Tragödie, die aus den Schriften heraus die Einsicht in die ewigen eidê produziert, die theôria, von der Aristoteles den Verdacht hegte, daß sie sich auf Phantasmen stütze. Die Tragödie als mimêsis des Vergangenen ist eine schlechte Tragödie, auf die Zukunft gerichtet aber wird die Tragödie zum Kern des politischen Entwurfes. Dabei führt die Frage nach der doppelten Geste ein Stück weit hinaus über Derrida, sofern sie zurückgebunden bleibt an diese gerade vorgestellten Gedanken der poiêsis, die in und mit oder noch besser: durch die Schrift aktiviert wird. Wenn die Tödlichkeit der Schrift eingeschrieben ist, wie es Derrida angemerkt hat, gilt es diese Tödlichkeit doch in Verbindung mit der poiêsis ernstzunehmen, gilt es ernstzunehmen, daß Sokrates vielleicht schon tot ist von Anfang an, daß der Tod bei diesen Schriften nicht am Ende steht, sondern gerade am Anfang, sich verbirgt hinter der Formulierung der Flucht in die logoi oder in dem Eintritt in eine rätselhafte palaistra der logoi zu Anfang des Dialoges Lysis. Es geht um einen Toten, der zurückkehrt. Die Unentscheidbarkeit, die Derrida am pharmakon bei Platon findet, ist eine grundlegende Struktur der Dialoge, die sich am deutlichsten wohl als die alte Frage reformulieren läßt, wer wo eigentlich spricht und schreibt, Sokrates oder Platon? Vielleicht keiner von beiden, vielleicht gilt auch hier: „Tertium datur, sans synthèse.“124 Wie sich die gute und die schlechte Schrift bei Platon unterscheiden, so könnte genauso von einer guten und einer schlechten Tragödie oder – noch allgemeiner – von einem guten und einem schlechten Theater gesprochen werden. Und wenn es kein Außerhalb des Textes gibt, kein Außerhalb der 123 Jacques Derrida: Platons Pharmazie, in: Ders.: Dissemination, übers. v. HansDieter Gondek, Wien 1995, 69-192, hier: 168. 124 Jacques Derrida: La double séance, in: Ders.: La dissémination, Paris 1972, 199-318, hier: 249.

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Schrift – „Schrift“ im Sinne der „guten Schrift“ verstanden, so würde es demnach auch kein Außerhalb des Theaters geben. Des „guten Theaters“ natürlich, das das Theater der Schrift ist und mit jenem Theater, das sich dann und wann hier und dort ereignet auf dieser oder jener Bühne mit diesen oder jenen Akteuren nichts, aber auch gar nichts gemein hat außer: den Namen.

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Politisches Theater Eben so, wie ich aus dem Gegenwärtigen ins Vergangene gehen kann, so kann ich auch aus dem Gegenwärtigen ins Künftige gehen. Gleichwie der gegenwärtige Zustand auf den vergangenen folgt, eben so folgt auf den gegenwärtigen der künftige. Dieses geschiehet nach den Gesetzen der Imagination. Immanuel Kant

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Es war Platon selbst, der die Tragödie in den Bereich des Politischen eingeschrieben hat. Die Tragödie ist die Stadt selbst, wie sie vom Philosophen entworfen wurde, umgesetzt und inszeniert vom Regenten. Die wirklich erscheinende Stadt, um die Formulierung Kants aufzunehmen, die respublica phaenomenon, ist eine „Darstellung“ der respublica noumenon (s.u. S. 375 Zitat). Als Kunst, das umzusetzen, was zuvor entworfen wurde, wird Politik zur darstellenden Kunst. Daß dieses ein poetischer Akt ist, der sich zugleich als theatral bezeichnen läßt, hat Joseph Vogl für das 18. Jahrhundert festgestellt: Die Poetik des Schauspiels wendet sich […] zu einer Poetik des sozialen und politischen Raums, und umgekehrt, dieses Politische selbst ist unmittelbar szenisch organisiert. Die ‚zum Publikum versammelten Privatleute‘, die auf der Bühne ihre eigene Sache ansehen und sich – als Zuschauer – selbst betrachten, rufen damit ein politisch-rechtliches Programm in Erinnerung, in dessen Kern das Theater selbst eingeschrieben ist.126

In einer verblüffenden Nähe zu Platons Inszenierung der idealen Stadt unter Ausschluß der Tragödie, auf die sich Vogl nicht direkt bezieht, schreibt er über diese theatralische Organisation: Wird […] die Institution des Gesetzes unmittelbar theatralisch und – umgekehrt – dieses Theater zum Ursprung des Politischen, so kann das Schauspiel, die Schaubühne selbst nur schwach, mangelhaft und riskant erscheinen. Aus dieser Perspektive jedenfalls mag sich Rousseaus Radikalisierung des Sozialvertrags mit seiner Kritik am Institut des Theaters vertragen. Wenn sich nämlich die Repräsentation dadurch rechtfertigt, daß sie mit ihrem Akt zugleich ihr eigenes Gesetz wiederholt, so ist das Theater eine bloße, eine defizitäre und zerstörerische Verdoppelung, in der das Repräsentierte immer abwesend ist und damit den Zweck ruiniert, der die Menschen zur Versammlung treibt.127

125 Immanuel Kant: Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie (Mitschrift Pölitz), AA, Bd.XXVIII, Berlin und Leipzig 1936, 236. 126 Joseph Vogl: Die zwei Körper des Staates, in: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘, hg. v. Jan-Dirk Müller, 563. Die zitierte Stelle bezieht sich auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. 127 Ebd., 564.

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Das bringt am Rande eine fundamentale Differenz ins Spiel, was den Begriff der „Erfindung“ in den verschiedenen Zweigen der Philosophie anbelangt.128 Dort nämlich, wo es um die Darstellung des Vergangenen oder Gegenwärtigen zu tun ist, ist die Erfindung das Verbotene schlechthin. Fakten sind streng von Fiktionen zu scheiden. Zugleich aber kehrt die Erfindung wieder zurück wo es um den Bereich der Zukunft geht, insofern diese Fiktion, verstanden als das Schreiben über etwas, was es nicht gibt, notwendige Voraussetzung eines Entwurfes im politischen, wie auch der Konstruktion im technischen ist. Es wird später zu zeigen sein, wie Platon darum kämpft, den Verdacht der Erfindung aus seiner politischen Theorie herauszuhalten. Wichtig ist allerdings, jetzt bereits – im Anschluß an Kant und Aristoteles – festzuhalten, daß auch der erkenntnistheoretische Philosoph nicht umhinkommen wird, der Fiktion, der freischaffenden Einbildungskraft als „Phantasie“ (Kant) oder dem phantasma ein Aufenthaltsrecht zuzugestehen, es sei denn, er wäre bereit, im Bereich des Politischen oder Ethischen die Streichung der Willensfreiheit hinzunehmen, der Fähigkeit zum eigenständigen Entwurf. Das würde bedeuten, die Entstehensbedingung der polis als Imagination oder Phantasie im Akt ihrer Ausführung wieder zurückzunehmen, auszumerzen, den Einwohnern der idealen Stadt jede Freiheit zum Entwurf zu nehmen. Daß seit Platon in dieser Dimension das Theater seinen Platz zugewiesen bekommen hat, ist festzuhalten, um die grundlegende Politik des Theaters zu konstatieren, nicht nur die Politik eines Theaters, das sich gezielt als politisch versteht, sondern die Politik, die durch das Agieren des Theaters selbst im politischen Raum – der polis – notwendig mit diesem verbunden ist. Die nunmehr zu betrachtende Form des phantasma, mit gewisser Unschärfe als „politische Imagination“ bezeichnet, ist ein phantasma, das den Zeitpfeil des Gedächtnisses umkehrt, während der Ausgangspunkt des Pfeiles derselbe bleibt, wie Rüdiger Campe mit den Begriffen von „historischem Präsens“ und „politischem Präsens“ bemerkte. Die „politische Imagination“ richtet sich in die Zukunft, entwirft jetzt und hier – wo sie entwirft – ein Bild für die Zukunft, eine Vorstellung, eine zukünftige Gestaltung et cetera. Wie das phantasma als Gedächtnis das Bild des Vergangenen wieder aufzurufen versprach, ohne sich gänzlich von dem Verdacht freisprechen zu können, Illusionen zu produzieren, denen keine vergangene Anschauung entsprach, so entwirft die politische Imagination hier und jetzt ein Bild des Zukünftigen, das dem Zukünftigen vorgängig ist, ohne sich gänzlich von der Gefahr freisprechen zu können, Wolkenkuckucksheime zu entwerfen129 – eine Zeitüberbrückung in der „Vorstellung“, die das Künftige oder Vergangene nicht präsent macht, wohl aber die Vorstellung des Vergangenen oder des Künftigen. Eine solche Differenzierung findet sich in der Beauftragung der Tragödie durch Aristoteles in der Poiêtik. Denn es ist nach Aristoteles nicht Aufgabe der Tragödie, Geschehenes darzustellen, sondern vielmehr das Mögliche oder Notwendige: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist (genomenon), sondern vielmehr, was geschehen

128 Vogl schreibt über Kants Staatslehre: „Das repräsentative System ist […] das einzige Mittel zur Herstellung einer idealen Republik, seine Urszene aber eine reine Fiktion.“ Ebd., 566. 129 Die Satire des Aristophanes siedelte bekanntlich Sokrates in den „Wolken“ an.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 283 könnte (genoito), d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (eikos) oder Notwendigkeit (anagkaion) Mögliche (dunata).130

In Cornelius Castoriadis‘ Theorie der Gesellschaft als imaginäre Institution findet sich bereits die Bestimmung dieses politisch Imaginierten: Das Imaginäre, von dem ich spreche, ist kein Bild von. Es ist unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von ‚etwas‘ zugrundeliegen. Was wir ‚Realität‘ und ‚Rationalität‘ nennen, verdankt sich überhaupt erst ihm.131

Von Aristoteles her schreibt Castoriadis das Imaginäre der poiêsis zu: Die aristotelische Trennung von theôria, praxis und poiêsis ist abgeleitet und sekundär. Die Geschichte ist wesentlich poiêsis, und zwar nichtnachahmende Poesie, sondern ontologische Schöpfung und Genese im und durch das Tun und das Vorstellen/Sagen der Menschen. Auch dieses Tun und dieses Vorstellen/Sagen instituiert sich von einem bestimmten geschichtlichen Augenblick als denkendes Tun oder vollbringendes Denken.

Beide Imaginationen, die nachahmende und die poietische, im Zusammenhang zu betrachten, ist vonnöten, da aus dem Zusammenschluß dieser beiden Imaginationen dasjenige entspringt, was als Platons Metaphysik in politischer Hinsicht zu bezeichnen ist. Die Platopolis ist ein Entwurf für die Zukunft, der aus dem Gedächtnis entspringt, in dem sich die Ideen abgedrückt haben. Der Prozeß der Entbergung der Ideen ist für Platon zugleich derjenige Prozeß, der die zukünftige Stadt des Philosophenherrschers vor Augen stellt. Genau in diese Bewegung schreibt Platon die Tragödie ein, die Inszenierung des schönsten und besten Dramas, des Dramas der Ideen. Zum Begriff des Entwurfes heißt es bei Castoriadis: Der Entwurf ist das Element der Praxis und über aller Aktivität; er ist eine nähere Bestimmung der Praxis hinsichtlich ihrer Verknüpfung mit dem Wirklichen sowie hinsichtlich einer konkreteren Definition ihrer Ziele und deren spezifischen Vermittlungen. Der Entwurf ist die Absicht der Veränderung des Realen, geleitet von einer Vorstellung vom Sinn dieser Veränderung, orientiert an den tatsächlichen Bedingungen und bestrebt eine Aktivität in Gang zu setzen. […] Wenn es sich um Politik handelt, kann die Vorstellung der angestrebten Veränderung, die Definition der Ziele in Form eines Programms formuliert werden.

Die Durchführung der Veränderung wird von Castoriadis im „autonomen Handeln der Menschen“ angesiedelt, nicht ohne umgehend danach zu fragen: „Was genau ist unter Autonomie zu verstehen, und in welchem Maße ist sie realisierbar?“ Die Koordination von „autonomem Handeln“ und Entwurf, die 130 Aristoteles: Poetik, 1451a. 131 Dieses und die folgenden vier Zitate aus: Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt am Main 21997, und zwar 12, 13, 132f., 135 und 274f.

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Durchsetzung oder Implementierung eines Entwurfes also, ist eine Grundproblematik, der sich vor allem auch Platon stellt. Die Problematik läßt sich schriftorientiert umformulieren: Wie kommt die Vorstellung einer idealen Stadt aus dem Buch ins Reale? Die Stadt der Politeia wird lediglich tô logô (im logos) gegründet – wie aber folgt daraus ihre Gründung tô ergô? Es findet sich die erneute Reformulierung der Suche nach der epistêmê basilikê, der Königskunst des Philosophen, die das Wissen und das Können, das Herstellen und das Anwenden – nunmehr von Vorschriften für eine polis – in sich umfaßt. Es stellt sich – immer wieder – die Frage nach der Implementierung der Ziele, nach der Durchsetzung, eine seit Platon offene Frage. Eine Frage allerdings, die Platon dazu geführt hat, im Namen des „Guten“ einen totalitären Staatsentwurf zu präsentieren. Für Castoriadis ist das Imaginäre die zentrale Kategorie, um die Geschichte zu begreifen: Ohne die Kategorie des Imaginären ist die bisherige und die gegenwärtige Geschichte der Menschheit nicht zu begreifen. Keine andere Kategorie erlaubt ein Nachdenken über folgende Frage: Wer oder was gibt die Zielrichtung vor, ohne die die Funktionalität der Institutionen und der gesellschaftlichen Prozesse im Unbestimmten bliebe?

Dabei überschneiden sich in der Imagination zwei Bestandteile – wenn dieser Passus genau betrachtet wird. Denn es ist nicht zu übersehen, daß die Politik als Imagination des Zukünftigen die Imagination des Vergangenen als Gegenstück trägt, die Geschichte als zeitlich geordnete theôria. So muß eine unter der Optik der Imagination gelesene Geschichte sich damit auseinandersetzen, daß sie das Vergangene auf die Kategorie hin untersucht, die sie selbst beim Entwurf der Geschichte bereits angewendet hat. Eine Geschichte der Imagination wäre eine Imagination der Geschichte der Imagination.

Platons politisch-poietische Wende In der Reihe platonischer Dialoge gibt es etwas, das sich als Wende zur poiêsis verstehen läßt. Dem anfänglichen Interesse an der Betrachtung des Vorliegenden, vor allem der Tugenden sôphrosunê (im Charmides), dikaiosunê, andreia (im Laches) und hosiotês (im Euthyphron), sowie der Betrachtung der sophistischen Methodik (Euthydemos und Protagoras) folgt eine Überlagerung, die sich bereits ankündigt in den Erzählungen (muthoi) des Sokrates am Ende des Gorgias, im Phaidon und Phaidros und sich in der Politeia dann deutlich zeigt. Der Frage nach dem „was ist x?“ wird ergänzend die Frage beigestellt: was folgt daraus, wie kann es umgesetzt werden? Die Wende ist kein radikaler Bruch, setzt doch auch die Anwendung oder Umsetzung durch die poiêsis voraus, daß die eidê, die umgesetzt werden sollen, gewußt werden und bekannt sind, um etwa die polis, die durch völlige Gerechtigkeit (dikaiosunê) ausgezeichnet ist, ins Werk zu setzen. Mögen die eidê sich nicht sagen, sondern nur zeigen lassen, so muß jedenfalls derjenige, der vorgibt, sie zu kennen, ein Nachbild von ihnen herstellen oder zeigen können, was aus diesem Gesehen-Gewußten wird – er muß zur sinnlichen Erscheinung bringen können, was ihm vorschwebt, das heißt zum phantasma. Mag das Schaupiel im huperouranios topos auch nicht beschreibbar sein, so

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läßt sich doch sein Abbild wenigstens herstellen, die „schönste und beste Tragödie“, die die ideale Stadt ist. Die Wende zur poiêsis der polis ist nicht ohne Parallele im Wechsel der Argumentationsstrategie des Sokrates, der auch ein Wechsel der Schreibstrategie Platons ist. Sokrates wird sich nach der Politeia als eine unfruchtbare Hebamme bezeichnen, im Theaitetos (149aff.). Er betreibt die maieutikê als die Kunst, in seinen Gesprächspartnern etwas zum Vorschein zu bringen, was in ihnen ruht. Die Metapher des Geburtshelfers bezieht sich auf das Gedächtnis, dem die Dinge, die es enthält, nicht notwendig präsent sind. Die im Jenseits vorgeburtlich geschauten eidê sind beim Eintritt ins Diesseits vergessen worden. Es bedarf des philosophischen Gespräches, einschließlich der aporia so, wie sie im Menon definiert wurde, um dieses „latente“ Gedächtnis, das dem Bewußtsein nicht präsent ist, wiewohl es präsent ist, zur Aktualität zu verhelfen. In der Politeia geht es dabei nicht nur um die polis, in der die Menschen künftig leben sollen, sondern auch um die polis in der psuchê. Gerade der mimetische Dichter ist es, der in die psuchê eine falsche Verfassung (politeia) einzeichnet – darin dem Maler gleich – und die Menschen verdirbt: Denn darin, daß er [der nachahmende Dichter] Schlechtes hervorbringt, wenn man auf die Wahrheit sieht, gleicht er ihm [dem Maler]; und daß er sich an ebensolches in der Seele wendet und nicht an das Beste, auch darin sind sie einander ähnlich. Und so sind wir wohl schon gerechtfertigt, wenn wir ihn nicht aufnehmen in eine Stadt, die eine untadelige Verfassung haben soll, weil er jenes in der Seele aufregt und nährt, und indem er es kräftig macht, das Vernünftige verdirbt, wie im Staat, wenn einer dem Schlechten die Gewalt verschaffend den Staat verrät und die Besseren herunterbringt, ebenso werden wir sagen, daß der nachbildende Dichter jedem eine schlechte Verfassung (politeian) in seiner Seele (psuchê) aufrichtet (empoiein), indem er dem Unvernünftigen darin, welches nicht einmal Großes und Kleines unterscheidet, sondern dasselbe bald für groß hält, bald für klein, sich gefällig beweiset und ihm Schattenbilder hervorruft, von der Wahrheit aber ganz weit entfernt bleibt. (Rep. X, 605aff.)

Wie sich in den früheren Dialogen (und auch weiterhin) die psuchê als Analogie zum Körper entwerfen ließ, regelmäßig vom Körper, seinen Eigenschaften und Behandlungen auf diejenigen der psuchê geschlossen wurde, findet sich nun ein weiteres Analogon der psuchê, nämlich die polis: Soviel, sprach ich, als es Arten (tropoi) der Staatsverfassung (politeiôn) gibt, soviel mögen auch wohl Gestalten (tropoi) der Seele (psuchês) sein. Wieviel also? Fünf, sprach ich, der Staatsverfassungen (politeiôn) und fünf der Seele (psuchês). (Rep. IV, 445cf.)

Die Arbeit an der politeia ist zugleich eine Arbeit an der psuchê; daß die mimetischen Dichter dabei wiederum ausgeschlossen werden, wiewohl Platons ideale Stadt selbst eine mimetische Verbildlichung durch logoi ist, bleibt rätselhaft – wenn es nicht ein Bruderzwist ist. Der Wende zur maieutikê des Sokrates entspricht eine eigenartige Verschiebung auch im Personal der Dialoge: Sokrates schwindet. Zunächst findet ein Übergang statt zu einem namenlosen Fremden im Sophistês, dann gar

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findet sich ein Gesprächsführer in den Nomoi, der nur noch „Der Athener“ heißt. Eine Figur, die scheinbar namenlos auf niemanden verweist, der sich identifizieren ließe, eine leere Figur, die sich erst nachträglich zu füllen beginnt durch die Reden. Anders als Sokrates, der scheinbar den Schriften voraus liegt als derjenige, der denselben Namen trägt wie der Lehrer Platons, ist der Athener der Nomoi jemand, der sich erst aus der Schrift überhaupt zu realisieren oder zu imaginieren scheint. Die ideale polis Platons als Tragödie ist ein phantasma oder eine Imagination aus der Schrift: erst kommen die Gesetze, dann kommt die Stadt, die daraus entsteht und daraufhin gerichtet entsteht. Ein Schatten oder ein Bild (eidôlon) – nämlich die Schrift der Gesetze – wirft hier Körper: „Auch wenn der Referent beseitigt ist, hat die Referenz noch Bestand“.132 Platon nutzt strategisch und gezielt, vielleicht sogar bewußt, die Bewegung aus, die Derrida als die doppelte Szene beschreibt.133 Die Differenz aber, die diese doppelte Szene bei Platon trennt, ist vor allem diejenige von sinnlich und unsinnlich, von einem sinnlich wahrnehmbaren Theater und einem unsinnlichen Theater, das aber nichtsdestotrotz wahrnehmbar ist, und zwar deswegen, weil der philebeische Maler in der psuchê Wahrnehmungen produziert, die sich nicht vor das körperliche Auge bringen lassen, sondern lediglich vor das Auge der psuchê. „Auge der psuchê“ (omma tês psuchês) ist die Umschreibung Platons für das Vermögen, das die eidê in den Blick nimmt, für den nous (vgl. Soph. 254a). Die Terme aber, die die Metaphysik Platons ausmachen, folgen der Logik, die Derrida unter anderem für die différance anführt: Was für ‚hymen‘ gilt, gilt mutatis mutandis für alle Zeichen, die wie pharmakon, supplement, différance und einige andere einen doppelten, widersprüchlichen, unentscheidbaren Wert haben, der stets von ihrer Syntax abhängt, ob diese nun gewissermaßen ‚innerlich‘ ist und so zwei inkompatible Bedeutungen unter dem selben Joch, hyph’hen, artikuliert und kombiniert, oder ‚äußerlich‘ und abhängig von dem Code, mit dem man das Wort zum Einsatz bringen kann. Doch die syntaktische Zusammensetzung oder Zerlegung eines Zeichens läßt diese Alternative des Innerlichen und des Äußerlichen hinfällig werden. […] Diese ‚Wörter‘ lassen in ihrem Spiel den Widerspruch und den Nicht-Widerspruch (und den Widerspruch und

den

Nicht-Widerspruch

zwischen

dem

Widerspruch

und

dem

Nicht-

Widerspruch) zu. Ohne dialektische Aufhebung, ohne Unterbrechung gehören sie gewissermaßen zugleich dem Bewußtsein und dem Unbewußten an, von dem Freud uns sagt, daß es den Widerspruch toleriert, bzw. dafür unempfindsam ist. Insofern er von ihnen abhängig ist, insofern er sich darin faltet und fügt (s’y plie), spielt der Text somit eine zweifache Szene (double scène). Er operiert an zwei absolut verschiedenen Orten, selbst wenn sie nur durch einen zugleich durchquerten und nicht-durchquerten, halb-offenen (entr’ouvert) Schleier getrennt sind. Die zweifache Wissenschaft (double science), dem diese beiden Theater stattgeben müssen, würde Platon aufgrund dieser Unentschiedenheit und dieser Instabilität doxa und nicht epistêmê genannt haben.134

132 Jacques Derrida: Die zweifache séance, in: Ders.: Dissemination, 193-322, hier: 235 133 Zur doppelten Szene s.u. Kap. Somatographie S. 380ff. 134 Derrida: Die zweifache séance, in: Ders.: Dissemination, 247f.

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Genau diese Bewegung, die Derrida als die différance charakterisiert, ist es, die die platonische Metaphysik in Gang setzt: die Verdoppelung des Sehens zu Sehen und „Sehen“, die Verdoppelung des eidos, die Verdoppelung von Sokrates, nicht zuletzt: die Verdoppelung des Schauspiels. Platons Versuch, die Schrift unausgesprochen an die mimêsis zurückzubinden, indem sie nur aufzeichnet, was Sokrates einst gesagt hat, läßt sich als Versuch verstehen, die uneingeschränkte Posteriorität der Schrift zu kodifizieren, festzulegen oder die Schrift festzustellen als immer nur rückverweisend – unter Ausschluß einer poietischen Dimension der Schrift. Die Schrift Platons stellt nur dar, was bereits vorliegt oder vorgelegen hat – sonst würde vielleicht der Verdacht aufkommen, daß die eidê gar nicht vorliegen, sondern Effekte einer freischaffenden Schrift-Imagination sind oder phantasmata aus der Schrift. Die poietische Dimension kann erst dann ihre Zulässigkeit finden, wenn an die Stelle der Schrift, an die Stelle der „schlechten“ Erinnerung, die die Schrift gegenüber dem Gedächtnis darstellt, etwas anderes getreten ist, das die Posteriorität der Schrift aufrechterhält, auch dann noch, wenn die Schrift – in der Form des nomos in den nomoi – ihre Poietizität nicht mehr verleugnen kann, wenn die Schrift der Erscheinung einer idealen Stadt vorgängig ist. Diese positionierte Priorität ist das eidos, dem sich selbst der kosmische dêmiourgos zu unterwerfen hat. Erst wenn die Vorgängigkeit der eidê vor der Schrift gesichert ist, kann die Schrift genutzt werden, um durch poiêsis hervorbringend, entwerfend, erfinderisch aufzutreten. Es überkreuzen sich zwei Bewegungen, die sich gegenseitig auszulöschen drohen, gesetzt den Fall, der Schriftbegriff aus den nomoi – Vorschrift oder Pro-gramm –, schliche sich auch in die Schrift ein, die die eidê positioniert, die eidê würden also zu einer idealen Stadt oder Landschaft im Jenseits, die durch die Schrift „inszeniert“ wird. Dann würde die Schrift den eidê vorausgehen, wie sie der idealen Stadt vorausgeht und würde selbst zur Gelingensbedingung der Metaphysik, die die Bedingung ihrer Möglichkeit aus der Unzeitigkeit der Schrift gewinnt, Unzeitigkeit verstanden als das Immer-ZuSpät oder Immer-Zu-Früh des Schreibens, das selbst in der Zeit stattfinden muß, selbst einen Zeitraum okkupiert, dem andere Zeiträume vor- oder nachgeordnet sind, Zeiträume „über“ die die Schrift schreibt. Was vom Sinn hinsichtlich der Schrift zu sagen ist, daß er immer entweder aufgeschoben und nachträglich ist oder aber vorträglich und damit vor der Schrift, läßt sich von der Schrift gegenüber den Sinnen selbst sagen: daß sie immer nach dem Sehen kommt, in der Weise eines Gesehen-Haben (eidenai), das sie in das Wissen erhebt, oder aber vor dem Sehen in der Weise einer Erzeugung von Sichtbarkeiten, einer poiêsis.135 Orientiert am Theater oder an Theatern läßt sich derselbe doppelte Weg zeigen, als das aufgeschriebene Theater und das Theater, das der Schrift folgt, eine Problematik, die sich insbesondere in der Theater-Wissenschaft als unumgehbar zeigt, wo es darum zu tun ist, über Theater zu schreiben, ein Theater im Modus des Gesehen-Habens. Dieser Versuch, über das Gesehene zu schreiben, trifft sich unvermeidlich mit jenem anderen „Theater“, das von der Schrift produziert wird, ohne auf einer Bühne stattzufinden, jener „Theatralität“ der Schrift, von der die Rede war, einer imaginären Erzeugung, der der Verdacht der Fiktionalität immer eingeschrieben bleibt. 135 Es sei nochmals Gadamers Satz zitiert: „Platon lesen heißt sehen lernen.“ (Plato als Porträtist, 187). Dieses Sehen-nach-der-Schrift ist potentiell das Sehen der phantasmata, die Platons Schriften vor „Augen“ stellen.

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Das Theater der Erkenntnis Das Gedächtnis vom Theater, als wesentlich schriftlich überliefertes Gedächtnis, ist ein schriftliches Gedächtnis, das sich eben mit der platonischen Beschreibung der Schrift auseinanderzusetzen hätte, daß dieses SchriftGedächtnis nur dem dient, der bereits weiß, der über ein anderes Gedächtnis, das selbst wiederum eine Inschrift ist, verfügt. Die Schrift, die Vorstellungen erzeugt, trifft sich mit der Schrift über die Vorstellung. Notwendige Grundannahme einer Theaterhistorie, die sich auf Schriften stützt und von vergangenen Theatern handelt, ist, daß sich aus diesen Schriften eine Vorstellung der Vorstellung erzeugen läßt, daß gerade eine solche Vorstellung daraus entspringt, die in allgemeingültiger und verbindlicher Weise nur genau eine Vorstellung zuläßt, die also die Einheitlichkeit der Theatralität der Schrift fordert, von der man sich getrennt hat, als man behauptete, die Theateraufführung besitze eine Autonomie gegenüber dem Text, auf den sie sich bezieht oder den sie verwendet. Eine Wissenschaft von historischen Theateraufführungen muß die eigene Grundlage, die eigene Grundannahme über die Vorstellung, die aus einem Text hervorgeht, für die Bedingung der Möglichkeit einer Theaterhistorie verneinen. Das ist eine Paradoxalität, die der Wissenschaft vom Theater grundlegend eingeschrieben ist. Wenn für Platon der Terminus der „Theatralität“ mit aller Vorsicht in Anschlag gebracht werden kann, dann ist auf den dreifachen Umgang mit Theater zu insistieren: Zunächst ist es das Theater, das der Ausweisung aus der idealen Stadt anheimfällt, das schlechte, verderbliche Theater. Zum zweiten ist es das Theater, das nur entstehen kann nach dieser Ausweisung, die ideale Stadt. Zum dritten ist es das Theater, auf dem sowohl die Ausweisung stattfindet, als auch die Gründung der idealen Stadt, der Grund, der bereits gesetzt ist, bevor ins Grundsätzliche vorgedrungen werden kann, der Grund, auf dem sich die Gespräche abspielen, der Sand, in den im Menon das Quadrat gezeichnet wird. Dieses Theater aber ist wiederum in sich gespalten: einerseits der Sand, auf dem Sokrates steht, andererseits das Blatt Papier auf dem „Sokrates“ steht. Vielleicht müßte man also von vier Theatern sprechen. Vielleicht aber auch von fünf Theatern: Das erste dieser Momente ist der Name (onoma), das zweite ist die sprachlich ausgedrückte Begriffs-Definition (logos), das dritte ist das durch die körperlichen Sinne wahrnehmbare Bild (eidôlon), das vierte ist die volle geistige Erkenntnis (epistêmê). Wenn man nun das hier allgemein Gesagte deutlicher begreifen will, so fasse man es an einem besonderen Beispiel und denke sich dann die Sache bei allen Dingen überhaupt. Kreis ist zum Beispiel ein besonderes bezeichnetes Ding, das eben den Namen hat (onoma), welchen wir eben laut werden ließen. Das Zweite von jenem Dinge würde die sprachlich ausgedrückte Begriffs-Definition (logos) sein, welche aus Nenn- und Aussagewörtern (onomatôn kai rhêmatôn sugkeimenos) zusammengesetzt ist, nämlich: das von seinen Enden bis zum Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte — wäre wohl die Definition (logos) von jenem Dinge, das den Namen Rund, Zirkel, Kreis hat. Das Dritte ist das in die äußeren Sinne fallende körperliche Bild davon, z.B. vom Zeichner (zôgraphoumenon) und vom Drechsler (torneuomenon), was sich wieder auslöschen (exaleiphomenon) und

ARBEITEN AM PHANTASMA | 289 vernichten (apollumenon) läßt, Zufälle, welchen das Urbild (Idee) des Kreises an sich, mit dem alle jene Meister sich beschäftigen, nicht unterworfen ist, weil er etwas Anderes und ganz davon Verschiedenes (heteron) ist. Das Vierte ist das wissenschaftliche Erkennen (epistêmê), das Vernehmen durch den vernünftig denkenden Geist (nous), die objektiv wahre Vorstellung (alêthês doxa) von solchen Dingen, und diese ganze Tätigkeit muß man als eine zählen, da sie nicht in äußerlichen sprachlichen Lauten (ouk en phônais), nicht in den der körperlichen Wahrnehmung zugänglichen Gestalten (en sômatôn schêmasin), sondern innerhalb der Seele (en psuchais) ist, und durch diese Innerlichkeit unterscheidet (heteron) sich diese wissenschaftliche Erkenntnis erstlich von dem Urkreis an sich (autou tou kuklou) und zweitens auch von den drei vorhin genannten Erkenntnis-Momenten. Unter diesen Erkenntnis-Momenten ist das des inneren Vernunftvermögens (nous) dem Fünften an Verwandtschaft und Gleichheit am nächsten, die andren aber stehen weit zurück. (Ep. VII, 342bff.)

Vielleicht ist vom Theater zu sagen, was hier vom Kreis gesagt wird, von der Erkenntnis des Kreises; nur daß eben vom Kreis eine Erkenntnis möglich ist, weil der Kreis sich nicht in der Erkenntnis selbst findet – anders als das Theater, wo die Erkenntnis vom Theater auf ein Theater in der Erkenntnis trifft. Womit sich der Kreis schließt. Bleibt die Frage, ob das Theater, das sich „auslöschen und wieder vernichten“ läßt, das Theater, das sich ausweisen und verbieten läßt, „etwas Anderes und ganz davon Verschiedenes“ ist.136 Die Theatralität kommt zentral und methodisch dort zum Tragen, wo es nicht nur um die Aufzeichnung der Vergangenheit oder der Gegenwart geht, sondern vor allem dort, wo sie das Verhältnis, das das Gedächtnis der Vergangenheit ausmacht, umkehrt – dort wo es um den Entwurf der Zukunft geht. Das aristotelische phantasma ist eine Funktion, die sich nicht in der Wahrnehmung erschöpft, noch auch in der – scheinbaren – Wiedervergegenwärtigung der Erinnerung, sondern die zugleich für den Entwurf der Zukunft von zentraler und grundlegender Bedeutung ist. Es überkreuzt sich dabei Vorher-Sehung, die Kant wie Aristoteles mit nur einem kleinen Rest einräumen, der eine eher zufällige Verbindung zuläßt, mit der Frage der VorSchrift: Vorher-gesehen könnte nur werden, wenn alles, was aus der Zukunft kommt und auf die Gegenwart zukommt, Vor-Sehung wäre, festgelegt und kodifiziert, in einem göttlichen Buch: vollkommene Determiniertheit oder Prädestination. Dem, was aus der Zukunft kommt, was also nur passiv hingenommen werden könnte, steht die potentielle Aktivität oder aktive Potenz entgegen, der Entwurf oder – mit Heidegger – der Ent-Wurf. Genau an diesem Punkt kommt die Imagination bei Kant ins Spiel, der sowohl die Präsentierung als auch die Präsentation in diesem Verhältnis zur Zukunft kennt. Die Präsentierung, als die Vorstellung der gestaltenden Veränderung von gegenwärtig Gegebenem (facultas formandi), gehört bei ihm zur Imagination, die Präsentation, als die Vorstellung, die in der Gegenwart noch kein materielles Pendant hat, nennt er die Phantasie. 136 Vielleicht ist hier der Ort, daran zu erinnern, daß in der französischen Kategorisierung das Theater („das“ Theater?) zu den arts de la vie gerechnet wird, während die Schrift („die“ Schrift?) im Anschluß an Derrida als art de la mort benamt werden könnte. Platon selbst läßt Sokrates (Philebos 50b) von der „Tragödie oder Komödie des Lebens“ (tou biou sumpasê tragôdia kai kômôdia) sprechen. Um den Tod des Sokrates wird es im weiteren zentral gehen.

290 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN

In den Vorlesungen über Metaphysik ist der Unterschied derjenige einer Vorstellung oder Vorbildung, die die Gestalt vorstellt, in der man sein wird, wenn man eine Rede hält, zu einem Baumeister, der etwas nie Gesehenes schafft. Diese „Vorbildung“ (facultas praevidendi)137 ist der Nachbildung (facultas imaginandi), die die vergangene Zeit abbildet, selbst genau nachgebildet: „Eben so, wie ich aus dem Gegenwärtigen ins Vergangene gehen kann, so kann ich auch aus dem Gegenwärtigen ins Künftige gehen. Gleichwie der gegenwärtige Zustand auf den Vergangenen folgt, so folgt auf den gegenwärtigen der künftige.“138 Die Gestaltung des Zukünftigen ist eine Nachahmung der Erinnerung, ist ein umgekehrtes Gedächtnis oder das Gedächtnis der Zukunft. Unter der Imagination vereinigen sich die Nachbildung des Vergangenen, die Vorbildung des Zukünftigen und als dritter Teil noch die „Abbildung“, die jenes Vermögen bezeichnet, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft die „Einbildungskraft“ nennt, als das Vermögen, das Mannigfaltige der Anschauung in einem Bilde zu synthetisieren. In dieser Einbildungskraft oder Imagination vereinigen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem immer ein Rest an Sinnlichkeit noch im Spiel ist: die aufgezeichnete Sinnlichkeit des Gedächtnisses, die sinnliche Wahrnehmung des Gegenwärtigen, die zukünftige Gestaltung von Vorliegendem, etwa meiner selbst. Dazu aber tritt ein anderes Vermögen, die Phantasie, die das Vermögen ist, „neue Bilder“ zu machen, das heißt Bilder von gänzlich Neuem, wie es der Baumeister hat, der sich ein Haus zu bauen fingiert, das er noch nicht gesehen hat. „Das Vermögen der Einbildung ist das Vermögen, Bilder aus sich selbst, unabhängig von der Wirklichkeit der Gegenstände hervor zu bringen, wo die Bilder nicht aus der Erfahrung entlehnt sind.“139 In der Erkenntnistheorie des Vergangenen und Gegenwärtigen, würde eine solche Bildermacherei den Schein ausmachen: Gegenstände, die keiner Erfahrung gegeben sind. „Wir können […] Kenntnisse von Gegenständen haben, davon wir gar keine Empfindung durch die Sinne haben. So kann ein Blindgebohrner die Erkenntniß vom Lichte haben, eben so wie ein Sehender, die ihm der Verstand darreicht“.140

Dieser Satz erweitert die Erkenntnis über die tatsächliche Empirie hinaus, wie auch die Kritik der reinen Vernunft die Erkenntnis bereits auf Gegenstände möglicher Erfahrung eingeschränkt hatte. Wo aber die Frage der Praxis ins Spiel kommt, die Frage der „Moral“, da ist auch dieser Satz noch zu erweitern: „in der Moral machen die sinnlichen Erkenntnisse die Basis a posteriori“.141 Die Sinnlichkeit folgt hier dem Verstand in jedem Falle. Aber diese Fähigkeit scheint nicht weit entfernt von der Geisterseherei zu sein, sofern es sich um Geister der Zukunft handelt, die erst in der Zukunft einen Körper haben werden.142 137 Die facultas prae-videndi ist ebensolche Vorher-Sehung, wie das pro-horan des Aristoteles. 138 Kant: Vorlesungen über Metaphysik (Mitschrift Pölitz), AA, XXVIII, 236. 139 Ebd., 237. 140 Ebd., 234. 141 Ebd., 233. 142 Die Struktur der gespenstischen Zukunft oder der Gespenster aus der Zukunft hat Derrida im Zusammenhang mit dem Gespenst von Marx behandelt in Spectres de Marx. Analog wäre vom spectre des Sokrates zu sprechen, dem Gespenst, das nicht nur in der Metaphysik seit ihrem vermutlichen Anfang

ARBEITEN AM PHANTASMA | 291

Bei der Gestaltung der Zukunft, der zukünftigen idealen Stadt nämlich, kehrt bei Platon die Tragödie wieder. Es ist die Struktur der Tragödie und der „Inszenierung“, die das Verhältnis des Gesetz-Programms zu dieser Stadt in sich begreift. Zugleich kommt hier die poiêsis wieder ins Spiel, wenn es bei Platon in der Politeia heißt: Wohlan, sprach ich, laß uns also in Gedanken (logô) eine Stadt (polin) von Anfang (ex archês) an gründen (poiômen). Es gründet (poiêsei) sie aber, wie sich zeigte, unser Bedürfnis (chreia). (Rep. II, 369c)

Dieser Satz markiert die Wende zur poiêsis vielleicht am eindrücklichsten, und zwar vor allem als Verhältnis gegenüber der Zeit. Zuvor war Sokrates auf der Suche nach Erkenntnissen, die im Gedächtnis eingeschrieben sind, die in der Schrift als einem Hilfsgedächtnis aufgezeichnet werden können und sich auf die Vergangenheit beziehen. Aus dem Gedächtnis entsprangen Schriften, die die Erkenntnisse auf dem Wege der mimêsis wiederzugeben hatten, mimêsis sowohl der Erkenntnisse als auch der Gespräche, die als geschriebene Dialoge nachgeahmt werden. Der Begriff der Wahrheit der Aussagen war ein adäquationistischer Begriff. Das Denken wie die Schrift hatten nur Bestehendes wiederzugeben und das heißt speziell für die Dialoge: Gesagtes aufzuschreiben. Die poiêsis hatte darin ihren Ort als Irrtum. Nun aber kommt die poiêsis als aktive Kraft ins Spiel, wird eine Stadt „von Anfang an“ gegründet, von der etwa zu sagen ist, was Kant von seinem Baumeister sagt: eine Stadt, die in keiner Erfahrung angetroffen wird. Es ist zudem eine Stadt, die einem Bedürfnis entspringt, eine Stadt, die vom Maler in der Seele des Philebos gebildet werden wird, aus den Schriften heraus, die nicht etwa in die Seele eingezeichnet sind – oder nicht nur in die Seele – sondern auch auf dem Papier der Politeia. Die Politeia ist nicht nur ein Text über Gerechtigkeit und die ideale Stadt, sie ist auch ein Dialog über die poiêsis und die mimêsis, über Maler, Dichter und Tragödiendichter, über die poiêtai. Ein poiêtês aber ist Platon selbst: poiêtês der idealen Stadt. Das macht aus der Politeia zugleich die platonische Poiêtik, und diese trennt die malende, schreibende und inszenierende poiêsis nicht von der poiêsis des Handwerkers, der ein Bett herstellt, noch auch von der poiêsis des Politikers. In der Politik ist eine Poietik am Werke, die der Poietik der Maler, Schreiber, Tragödiendichter verwandt ist. Unauflösbar verbindet sie die „Theatralität“ mit der Politik und die Politik mit der Theatralität. Zugleich aber muß die doppelte Theatralität wiederum die politische Poietik bedrohen; wenn nämlich der „Theatralität“ eine freie – also schlechthin unkontrollierbare – Schöpfung zugestanden würde. Ohne auf simplifizierende und monokausale Herleitungen zu setzen, läßt sich sagen, daß die sklavische Bindung der poiêtai an die mimêsis, die im 10. Buch der Politeia geschieht, hier einen ihrer wesentlichen Gründe hat: Die Tragödie – ebenso wie die Malerei und die Dichtkunst – muß um jeden Preis als streng mimetisch gedacht werden, da ihr Double in der Gestaltung der zukünftigen Stadt wiederkehrt. Würde die Inszenierung der Tragödie anders als streng nachahmend verfahren (können), so könnte auch die Realisierung der idealen Stadt aus den Vor-Schriften anders aussehen – auf unkontrollierbare Weise – herumgeistert, sondern das die Bedingung der Möglichkeit dieser aus der Schrift Platons entspringenden Metaphysik ist.

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als es die Schrift vorhersieht. Die Gestaltung der idealen Stadt ist ein umgekehrtes Gedächtnis, das sich nicht auf Vergangenes, sondern auf die Zukunft richtet. In dieser Zukunft muß der Entwurf, den die Schrift über die poiêsis einer polis, die Politeia also, vorstellt, genau und streng mimetisch umgesetzt werden. Das ideale Drama muß durch einen Regisseur in die ideale Stadt eindeutig und ohne Interpretationspielraum umgesetzt werden – nötig ist mithin auch hier eine Kontrolle der Spuren. So wie Sokrates als Arzt die schriftlichen pharmaka kontrollieren sollte (was ihm aber nicht gelingen kann, da er selbst in der Schrift ist), bedarf es des philosophischen Politikers, der die Spuren inszeniert – verkörpert in der seltsamen Geheimgesellschaft der Nomoi. Die Schrift tritt als Metapher im Prozeß der Gründung der idealen Stadt auf, den die Politeia vorstellt. Die ideale Stadt wird metaphorisch als eine Schrift vorgestellt, die es zu lesen gilt. Sokrates ist mit Adeimantos, Thrasymachos und Glaukon in die Aporia geraten bei dem Versuch nachzuweisen, daß es aller anders lautenden Argumentation seiner Gesprächspartner zum Trotz auch für den Einzelnen besser ist, gerecht zu sein als ungerecht. Dem folgt nun von Sokrates die Wendung hin zu einer anderen Betrachtung, einer anderen Lektüre, die hinführen wird auf die ideale Stadt, die sich vor Augen stellen soll durch eine Schrift und zunächst als eine Schrift. Die Suche (zêtêsis) des Sokrates ist hier keine anamnêsis, wie etwa im Menon, sondern eine anagnôsis: eine Lektüre. Das Gedächtnis, aus dem hier die Erkenntnis gezogen werden soll, ist nicht das Gedächtnis, das ursprünglich vergessen ist, sondern es ist das Gedächtnis, das aufgeschrieben ist und von außen begegnet. Der anagnostische Weg versucht also nicht, ins Dunkel des Vergessens Licht zu bringen, sondern muß versuchen, den Scharfblick zu erhöhen, die allzu kleinen Buchstaben mit Hilfe des scharfen Blicks zu entziffern. Die Scharfsichtigkeit aber scheint Sokrates und seinen Gesprächspartnern zu mangeln, wo es um die Kleinbuchstaben geht (die Untersuchung eines einzelnen Menschen in Bezug auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit). Es wird also ein Wechsel vorgenommen, von den Kleinbuchstaben hin zu den Großbuchstaben, die die ideale Stadt sind, also nicht die Stadt, in der sich Sokrates und Glaukon befinden, sondern die anwesend-abwesende Stadt der erscheinenden, phantastischen Idee, die sich zu lesen gibt: Ich sagte also, wie ich dachte, daß die Untersuchung, die wir unternehmen, nichts geringes wäre, sondern ein sehr Scharfsichtiger (oxu blepontos) dazu gehöre wie mir scheint. Da wir nun dazu nicht tüchtig genug sind, dünkt es mich gut, sprach ich, die Untersuchung (zêtêsis) darüber so anzustellen, wie wenn uns jemand befohlen hätte, sehr kleine Buchstaben (grammata) von weitem zu lesen (anagnônai), da wir nicht eben sehr scharf sehen (oxu blepousin), und dann einer gewahr würde, daß dieselben Buchstaben (grammata) auch anderwärts größer und an größerem zu schauen wären, es uns offenbar, denke ich, ein großer Fund sein würde, nachdem wir diese zuerst gelesen, dann erst die kleineren zu betrachten (episkopein), ob sie wirklich dieselben sind. Allerdings wohl, sagte Adeimantos. Aber was siehst du ähnliches, o Sokrates, bei der Untersuchung über das Gerechte? Das will ich dir sagen, sprach ich. Gerechtigkeit sagen wir doch, findet sich an einem einzelnen Manne, findet sich aber auch an einer ganzen Stadt. Freilich, sagte er.

ARBEITEN AM PHANTASMA | 293 Und größer ist doch die Stadt als der einzelne Mann? Größer, sagte er. Vielleicht also ist wohl mehr Gerechtigkeit in dem Größeren und leichter zu erkennen. Wenn ihr also wollt, so untersuchen (zêtêsômen) wir zuerst an den Staaten, was sie wohl ist und dann wollen wir sie so auch an den Einzelnen betrachten (episkepsômetha), indem wir an der Gestalt des Kleineren (elattonos idea) die Ähnlichkeit mit dem Größeren aufsuchen (episkopountes). Das dünkt mich sehr richtig gesagt, sprach er. Und nicht wahr, sagte ich, wenn wir in Gedanken (logô) eine Stadt (polin) entstehen (gignomenê) sehen (theasaimetha), so würden wir dann auch ihre Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit mit entstehen sehen? (Rep. II, 368cff.)

Mit der Betrachtung der Buchstaben ist der Entstehungsprozeß der idealen Stadt nicht beendet. Vielmehr bringt sie sich, nachdem sie sich in der Weise von Buchstaben gezeigt hat, durch den logos vor Augen und zur Anschauung: theasaimetha. Sokrates und seine Gesprächspartner haben die ideale Stadt vor „Augen“, die sie nicht vor Augen haben. Theasaimetha leitet sich von theaomai her, derselben Wurzel, die auch das theatron trägt, das Medium zu theôreô, von dem die theôria sich herleitet. Die ideale Stadt entsteht als ein Gemälde vor „Augen“, das lediglich auf Schriften, das heißt auf Buchstaben blickt, wie es der Maler im Philebos produziert. Vor der Politeia war die poiêsis des Sokrates eine solche, die versuchte das „Gegenwärtige“, das heißt das dem Sokrates Gegenwärtige, nämlich die Mitunterredner, zu formieren, zu in-formieren, zum Wissen und zur Wahrheit zu bringen, den Charmides, den Menon und alle seine Gesprächspartner, die er mit seinem quasi-ärztlichen Wissen verbessern und zum Wissen heilen wollte. Mit der poiêsis der Politeia aber ist der Sprung über das Vorliegende hinaus getan. Die Stadt, die in der Politeia entworfen wird, ist nicht Athen, es ist kein Re-Form-Programm, sondern es ist die Gründung einer polis ex archês, von Anfang an. Eben in der Rede von der archê, vom Anfang zeigt sich, daß es sich nicht um die Imagination einer bestehenden Stadt handelt, sondern um die Phantasie einer ganz neuen, ganz anderen Stadt. Diese Stadt aber gibt es allein in der Phantasie, in der Vorstellung, in der Anschaulichkeit der logoi: die Stadt wird to logô gegründet, durch logoi oder in den logoi. Die logoi machen den Anfang der Gründung, bilden das „Drama“, dem die polis – so die Nomoi – wie eine Aufführung folgt.

ZEIT – IMAGINATION – STIMME Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größten Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer auf Otaheite nennen das Denken: die Sprache im Bauch), folglich sich auch innerlich (durch reproduktive Einbildungskraft) Hören. Immanuel Kant1 Aufgrund der ursprünglichen Wiederholungsstruktur des Zeichens überhaupt sind alle Aussichten dafür gegeben, daß die „tatsächliche“ Sprache ebenso imaginär wird wie der imaginäre Diskurs und daß umgekehrt der imaginäre Diskurs ebenso tatsächlich wird wie der tatsächliche Diskurs selbst. Unabhängig davon, ob es sich nun um einen Ausdruck oder um eine anzeigende Mitteilung handelt, hat die Differenz zwischen der Realität und der Repräsentation, zwischen dem Wahren und dem Imaginären sowie zwischen der einfachen Präsenz und der Wiederholung immer schon begonnen, sich auszulöschen. Jacques Derrida2

Um einer Rede von der Theatralität des Theaters einerseits und der Lektüre Platons andererseits gerecht zu werden, bedarf es einer Form von Imagination/Einbildungskraft/phantasia, die selbst zeitlich, das heißt prozessual ist. Spätestens dann wird diese Zeitlichkeit vordringlich, wenn die Stimme in der Imagination oder im phantasma laut wird, wenn die Phantasmen zu reden beginnen oder die Reden zu Phantasmen werden, wie bei Platon. Der Theatralität des Theaters würde man nicht gerecht werden, legte man keinen Wert auf die Prozessualität. Selbst für Aristoteles, der sich vornehmlich mit der gelesenen Tragödie beschäftigte, war die Tragödie definiert als eine Nachahmung von Handelnden mit Anfang (archê), Mitte (meson) und Ende/Ziel (teleutên): prattontes poiountai tên mimêsin.3 Der Vollzug der mimêsis ist nicht nur die Herstellung eines unbewegten Bildes, wie im Falle des Malers, sondern ist prozessual verfaßte mimêsis. Die Herausstellung einer mimêsis, bei der Urheber und Mittel der Nachahmung ineins fallen, findet sich bei Platon im Sophistês. Nachdem die ebenbildnerische (eikastikon) mimêsis unterschieden worden war von einer anderen mimêsis, die Platon die phantastikê nennt, fährt der namenlose Fremde, der dieses Gespräch führt, fort: FREMDER: In der trugbildnerischen (phantastikon) nun machen wir wieder zwei Abteilungen. THEAITETOS: Wieso?

1 2

3

Kant: Anthropologie, WW XII, 500. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, übers. und mit einem Vorwort von Jochen Hörisch, Frankfurt am Main 1979, 104f. Vgl. Aristoteles: Poetik, 1449b25. Vgl. auch 1448a1 und 1450b25.

296 | PLATONS SCHAUSPIEL DER IDEEN FREMDER: Die eine gebraucht Werkzeuge (organôn), in der andern gibt sich, wer das Trugbild (phantasma) macht, selbst zum Werkzeuge her. THEAITETOS: Wie meinst du das? FREMDER: Wenn jemand, meine ich, seines eigenen Leibes (sômati) sich bedienend deine Gestalt (schêma) oder deine Stimme (phônên) mittels der seinigen (phônê) ganz ähnlich erscheinen (phainesthai) macht (poiê), so heißt dieser Teil der Trugbildnerei (phantastikês) gewöhlich die Nachahmung (mimêsis). (Soph. 267a)

Der Erzeuger der phantasmata gibt sich selbst zum Werkzeug her, die mimêsis wird im Vollzug bewerkstelligt, im Prozeß, nicht aber in einem von diesem Prozeß getrennten Produkt (wie ein Bild oder eine Schrift). Der Prozeß des Nachahmens selbst ist nicht zu trennen von seinem Produkt. Wenn der mimêtes, der das phantasma hervorbringt, sich selbst zum Werkzeug macht, so bleibt die Frage, ob er dadurch selbst zum phantasma wird, oder ob es ein von dem Vollzug der Nachahmung getrenntes phantasma ist, das aus dieser mimêsis entspringt. Der Sophist, von dem hier die Rede ist, also die Vorstellung von einem Paradigma „des“ Sophisten, zeigt, daß dieser im Prozeß seiner mimêsis phantastische Züge annimmt, indem er sich einem ähnlich macht, der er nicht ist – einem wirklich Wissenden nämlich. Das bringt das Phantasma in Verwobenheit mit ihm, wie zugleich der Wissende, dem er sich anverwandelt, phantasmatisch erscheint.

Die verdoppelte mimêsis Imagination, phantasia, Einbildungskraft weisen eine Nähe auf zum Konzept der mimêsis. Denn ähnlich wie diesen Vermögen ist auch der mimêsis eine Ambiguität eingeschrieben, die sich als „Vor-Bild“ benennen ließe. Diese Ambiguität der mimêsis läßt es sinnvoll erscheinen, eine knappe Überlegung zu diesem Terminus bei Platon anzustellen.4 Zunächst liegt der Grund darin, 4

Die Literatur zur mimêsis ist unüberschaubar, eine Diskussion ließe sich hier nicht einmal im Ansatz leisten. Heftig kritisiert, aber wichtig für den Einsatz einer neuen Reflexion über das Konzept und den Begriff der mimêsis war Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954. Einen knappen Überblick über die Rezeption des Buches von Koller sowie über die Tradition und das Spektrum des Begriffs geben Gunter Gebauer und Christoph Wulf: Mimesis. Kunst – Kultur – Gesellschaft, Reinbek 1992, 44ff. Vielschichtige Ansätze bietet: Mimesis und Simulation. Festschrift für Rainer Warning, hg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg 1998. – Zur mimêsis in Platons Theorie der Literatur wichtig ist Stefan Büttner: Literaturtheorie. Von den neueren Studien über die mimêsis in der Antike sind hervorzuheben: Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. Neubetrachtung eines umstrittenen Begriffes als Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunstauffassung, Amsterdam u.a. 1993 (Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks, Deel 153) sowie Ulrike Zimbrich: Mimesis bei Platon. Untersuchungen zu Wortgebrauch, Theorie der dichterischen Darstellung und zur dialogischen Gestaltung bis zur Politeia, Frankfurt am Main 1984. Um ansatzweise die Spannweite des Begriffs und der Differenzen in der Diskussion zu umreißen, kann etwa auf Käthe Hamburger: Die Logik der Dichtung, nach der 3. Aufl. 1977 ungek. Ausgabe, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980 verwiesen werden, an die anschließend Gérard Genette umstandslos sagen kann: „Die Sprache ist schöpferisch, wenn sie in den Dienst der Fiktion tritt, und ich bin nicht der erste, der vorschlägt Mimesis mit Fiktion zu überset-

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daß die mimêsis dort, wo sie Thema wird, besonders in der Politeia und dem Sophistês, eine so nachdrückliche Abqualifizierung durch Platon erfährt, daß die Sophisten, wo sie sich als mimêtês erweisen, bereits aus diesem Grund der Verurteilung anheimfallen können. Ein weiterer Grund aber liegt darin, daß sich der Dialog-Schreiber Platon selbst in seine Definition der mimêsis im 3. Buch der Politeia eingereiht findet, seinem eigenen Verdikt gegen die Dichter, die sich in ihren Texten verstecken, anheimfällt. Solange mimêsis so verstanden wird, wie es die Übersetzung als „Nachahmung“ andeutet, als eine nachträgliche Kunst also, deren Abgebildetes vor der Abbildung besteht, bleibt – allen Verurteilungen zum Trotz – eine gewisse tröstliche Sicherheit in jeder als mimêsis bezeichneten Darstellung. Mag die mimêsis auch Doubles herstellen, indem sie ein existierendes Ding oder einen Menschen scheinbar zum zweiten Male macht, so bleibt ihr doch immer noch die Wahrheitsfunktion kontrollierbar eingeschrieben: entweder es wird etwas nachgeahmt, was tatsächlich seiend ist; dann ist die mimêsis zwar immer noch schlecht, aber doch „wahr“; oder es wird nachgeahmt, was nicht seiend ist, dann ist sie schlecht und unwahr. Bei der Konstatierung des zentralen Zusammenhangs von mimêsis und mnêmê, Nach-Ahmung und Gedächtnis, formuliert Derrida: „In der Bewegung des mimeisthai ist der Bezug des Mimen zum Gemimten, des Reproduzen.“ (in: Ders.:Fiktion und Diktion, übers. von Heinz Jatho, München 1992, 17). Um überhaupt eine Grundlage zu haben, schließe ich mich der Bestimmung Stefan Büttners an, der formuliert: „Zuletzt hat Kardaun in einer Studie nachweisen können, daß Mimesis in der griechischen Antike und damit auch bei Platon nur in den seltensten Fällen ein bloß an Unwesentlichem und Äußerlichem orientiertes, geradezu sklavisches Kopieren eines wahrnehmbaren Konkretum meint. Als Bedeutungskern von Mimesis versteht sie – in bezug auf ihre Belegstellen zu Recht – ‚bildhafte Darstellung‘, ‚anschaulicher Ausdruck‘, ‚nicht-diskursive Art und Weise, etwas darzustellen‘, wobei diese Darstellung auch Nicht-Sinnliches als Vorbild haben könne. Diese Bestimmung greift meines Erachtens noch etwas zu kurz: Der Mimesisbegriff ist dahingehend zu erweitern, daß auch das Abbild etwas Nicht-Sinnliches sein kann. Denn wenn Mimesis mit dem Herstellen von Bildern (eidôla poiein) identisch ist, bedeutet dies nicht automatisch, daß die Bilder anschaulich sein müssen, so sehr dies auch unser Wortgebrauch mit seiner häufigen Anwendung von ‚Bilder‘ für ‚anschauliche Bilder‘ bzw. ‚Vorstellungen‘ nahelegt.“ (Literaturtheorie, 133). Gerade die „unanschaulichen Bilder“ bringen die mimêsis in einen paradoxalen Zusammenhang – ein „un-anschauliches Bild“ ist ein Selbstwiderspruch, sofern nicht die Unterscheidung gemacht wird zwischen Sehen und „Sehen“, zwischen einem Sein, das erscheint und einer Erscheinung, die nur Erscheinung ist, ohne jede konkrete Bestimmtheit. Als „un-anschauliches (Vor-)Bild“ in diesem Sinne ließe sich Platons eidos recht passend benennen. Zugespitzt ließe sich im Anschluß an Büttner formulieren, daß mimêsis Sinnliches auf Sinnliches, Unsinnliches auf Sinnliches, Sinnliches auf Unsinnliches und Unsinnliches auf Unsinnliches abbilden kann. Die mimêsis, die doch so einfach schien, da man sie noch einfach als eine Abbildung in der Art fotomechanischer Reproduktion verstehen konnte, wird zu einer nachgerade unheimlichen Kraft. Fast könnte man geneigt sein, mimêsis gar als „Referentialität“ zu übersetzen, scheint doch das verbindende Element des mimetischen Gevierts, das sich aus Büttners Bestimmung ableiten läßt, nurmehr darin zu bestehen, daß etwas, das als mimêma begriffen wird, überhaupt auf etwas anderes verweist, was alleine noch berechtigt, von einer Nach-Ahmung überhaupt zu sprechen, da das Nach sich auf ein Vorher bezieht, ohne dabei vorauszusetzen, daß dieses Vorher in der Nachahmung identisch wiederholt würde. Das „Nach“ der Nachahmung bezieht sich lediglich auf einen anderen Zeitpunkt (oder auf einen anderen Raum-Punkt, jedenfalls bei Platon, wo die seienden Dinge die ewigen Ideen durch mimêsis darstellen; vgl. Tim. 39df.).

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zierenden zum Reproduzierten stets Bezug auf eine vergangene Gegenwart. Das Nachgeahmte ist vor dem Nachahmenden.“5 Dabei fordert Derrida für die „Übersetzung“ von mimêsis: „[…] ein Ausdruck, den man nicht voreilig übersetzen sollte (und vor allem nicht durch Nachahmung) […]“. Wiewohl schwierig zu denken, fordert doch die Theorie des phantasma und der Einbildungskraft/Imagination gerade dazu auf zu denken, daß sich dieses Verhältnis auch umkehren kann: Sokrates fragt sich [im Philebos; A.d.V.] ob es nicht ausgeschlossen sei, daß die grammata und die zôgraphêmata Bezug zur Zukunft hätten. Schwierig zu denken sei es, daß ein Nachgeahmtes zukünftig sei im Hinblick auf sein Nachahmendes, daß das Bild dem Vorbild vorausgehe und das Double vor dem Einfachen.

Wenn auch schwierig zu denken von der Schrift her, ist es dennoch die Schwierigkeit, die Platon in den Nomoi mit dem Begriff des „schönsten Dramas“, das die ideale Stadt sei, die selbst eine Nachahmung der Idee der schönsten Stadt ist, belegt. Die Verwirklichung aber dieses „schönsten Dramas“ ist die Nachahmung des Theaters, die Nachahmung der nachahmenden Kunst selbst, die in der idealen, schönsten Stadt keinen Ort haben kann. Denn würde das Theater in der idealen Stadt seinen Platz haben, dann wäre diese ideale Stadt die Nachahmung dieses Theaters, wäre selbst eine Nachahmung in der Art, wie sie die Politeia verdammt hätte, Nachahmung des Theaters nämlich. Nur durch die Ausschaltung des Vorbildes wird die Inszenierung der idealen Stadt keine Nachahmung. [W]enn das Nachahmende in letzter Instanz kein Nachgeahmtes, der Signifikant in letzter Instanz kein Signifikat, das Zeichen in letzter Instanz keinen Referenten hat, so kann ihre Operation nicht mehr im Vorgang der Wahrheit einbefaßt werden, sondern befaßt im Gegenteil diesen ein, wobei das Motiv der letzten Instanz untrennbar ist von der Metaphysik als Suche nach der archê, dem eschaton und dem telos.

Aus der Referenz-/Signifikats-/Vorbildslosigkeit entspringt eine Hervorbringung, ein „Materialismus der Idee“ – so Derridas Mallarmé-Lektüre –, der ‚nichts anderes als die Inszenierung, das Theater, die Sichtbarkeit von nichts und von sich‘ ist: „Eine Inszenierung, die nichts illustriert, die das Nichts illustriert, den Raum erhellt, die Verräumlichung als nichts, als weiß remarkiert: weiß wie eine noch nicht geschriebene Seite oder als Differenz zwischen den Zügen.“. Dabei aber geht es allerdings – darauf ist zu insistieren – um die Theatralität aus der Schrift. Innerhalb des Konzeptes der mimêsis bei Platon selbst findet sich bereits eine „Spaltung“, von der es bei Derrida heißt: Die zweifache Einschreibung der Mimesis. Es ist unmöglich, die Mimesis in einer binären Klassifizierung festzulegen oder, genauer, der technê mimêtikê einen einzigen Ort in der „Einteilung“ des Sophistês zuzuweisen […]. Die Mimetik ist zugleich eine der drei Formen der „hervorbringenden Kunst“ (technê poiêtikê) 5

Dieses und die folgenden Zitate aus Derrida: Die zweifache séance, in: Ders.: Dissemination, und zwar 211, 204, 211, 232, 233 und 207 (Fußnote).

ZEIT – IMAGINATION – STIMME | 299 und, auf dem anderen Ast der Gabelung, eine Form oder eine Vorgehensweise der (nicht hervorbringenden, nicht poetischen) erwerbenden (ktêtikê) Kunst. […] Der Sophist ahmt das Poetische nach, das freilich in sich selbst das Mimetische enthält, er bringt das Double der Hervorbringung hervor. Zwar ganz nahe daran, eingefangen zu werden, entzieht sich der Sophist abermals durch die supplementäre, auf einen Fluchtpunkt ausgerichtete Einteilung zwischen zwei Formen der Mimetik dem Zugriff (235d): der Eikastik, die getreu reproduziert , und der Phantastik, die das Eikastische simuliert, die sich den Anschein gibt, getreu zu simulieren, und das Auge im Simulakrum (Phantasma) täuscht