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German Pages 462 [456] Year 2014
Markus Janka / Christian Schäfer (Hrsg.)
Platon als Mythologe Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen 2. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-25494-1
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73218-0 eBook (epub): 978-3-534-73219-7
INHALT VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE …………………………………………. IX EINLEITUNG ……………………………………………………………………………… 1 ABKÜRZUNGEN ………………………………………………………………………… 4 FRAGMENTSAMMLUNGEN UND NACHSCHLAGEWERKE ……………... 5
1. TEIL: ALLGEMEINE GRUNDLEGUNG ZUM (PLATONISCHEN) MYTHENBEGRIFF Glenn W. Most PLATONS EXOTERISCHE MYTHEN ……………………………………………... 9 Markus Janka SEMANTIK UND KONTEXT: MYTHOS UND VERWANDTES IM CORPUS PLATONICUM ………………………………………………………….. 23 Theo Kobusch DIE WIEDERKEHR DES MYTHOS. ZUR FUNKTION DES MYTHOS IN PLATONS DENKEN UND IN DER PHILOSOPHIE DER GEGENWART ……………………………………………………………………. 47 Michael Erler PRAESENS DIVINUM. MYTHISCHE UND HISTORISCHE ZEIT IN DER GRIECHISCHEN LITERATUR ……………………………...…………… 61
2. TEIL: PLATONISCHES ERZÄHLEN VON MYTHEN Arbogast Schmitt MYTHOS BEI PLATON ………………………………………………………………. 81
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Inhalt
Bernd Manuwald PLATONS MYTHENERZÄHLER ………………………………………………… 113 Karin Alt ZU EINIGEN PROBLEMEN IN PLATONS JENSEITSMYTHEN UND DEREN KONSEQUENZEN BEI SPÄTEREN PLATONIKERN …………… 137 Christian Pietsch MYTHOS ALS KONKRETISIERTER LOGOS. PLATONS VERWENDUNG DES MYTHOS AM BEISPIEL VON NOMOI X 903B–905D ………………………………………………………... 157 3. TEIL: EINZELNE MYTHEN UND IHRE INTERPRETATION Robert Bees DER MYTHOS IM PROTAGORAS ……………………………………………….. 175 Christian Schäfer HERRSCHEN UND SELBSTBEHERRSCHUNG: DER MYTHOS DES POLITIKOS ………………………………………………….. 203 Christoph Horn WARUM ZWEI EPOCHEN DER MENSCHHEITSGESCHICHTE? ZUM MYTHOS DES POLITIKOS ………………………………………………… 225 Christopher J. Rowe ZWEI ODER DREI PHASEN? DER MYTHOS IM POLITIKOS …………… 249 Denis O’Brien DIE ARISTOPHANES-REDE IM SYMPOSION: DER EMPEDOKLEISCHE HINTERGRUND UND SEINE PHILOSOPHISCHE BEDEUTUNG ......................................................................... 265 Frisbee Sheffield DAS WECHSELSPIEL VON ERZÄHLUNG UND ARGUMENTATION IM MYTHOS VON PENIA UND POROS IN PLATONS SYMPOSION …………………………………………………………. 283 Walter Mesch DIE BILDLICHKEIT DER PLATONISCHEN KOSMOLOGIE. ZUM VERHÄLTNIS VON LOGOS UND MYTHOS IM TIMAIOS ……………….. 303
Inhalt
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Kurt Sier DER MYTHOS VON THEUTH UND THAMUS: PHAIDROS 274C–275C ……………………………………………………………… 323 Heinz-Günther Nesselrath PLATONS ATLANTIS-GESCHICHTE – EIN MYTHOS? ………………..… 339 Joachim Dalfen PLATONS JENSEITSMYTHEN: EINE „NEUE MYTHOLOGIE“? …...….. 355 Dirk Cürsgen DER MYTHOS DES ER ANMERKUNGEN ZUR ETHISCHEN FUNKTION DES MYTHISCHEN IN DER PHILOSOPHIE PLATONS ………..……………..…. 373 Georg Rechenauer VERANSCHAULICHUNG DES UNANSCHAULICHEN: PLATONS NEUE RHETORIK IM SCHLUSSMYTHOS DES GORGIAS ……………..... 399 Theodor Ebert „WENN ICH EINEN SCHÖNEN MYTHOS VORTRAGEN DARF ...“. ZU STATUS, HERKUNFT UND FUNKTION DES SCHLUSSMYTHOS IN PLATONS PHAIDON ………………………………..…………….. 419 Bibliographie ……………………………………………………………....……………. 439
VORWORT ZUR 2. AUFLAGE Der erfreuliche Erfolg dieses Bandes zu den Mythen in Platons Dialogen hat es möglich gemacht, der gut ein Jahrzehnt zurückliegenden Originalausgabe, die ursprünglich die Beiträge zu einer Tagung an der Universität Regensburg versammelte, eine deutlich erweiterte zweite Auflage folgen zu lassen. Aus von der Sache diktierten Gründen und dank des Engagements des Verlags erscheint diese in völlig überarbeiteter Form: Dem inneren Aufbau und der äußeren Aufmachung nach präsentiert sich Platon als Mythologe nunmehr als thematisch strenger strukturiertes und umfassender gestaltetes Handbuch mit dem Anspruch, in Darstellung und Interpretation über die verschiedenen Aspekte platonischen Mythenerzählens und über alle wichtigen Mythen in ihrem textlichen Umfeld Auskunft zu geben. Geleitet hat uns bei unserem Bemühen um die Neukonzeption des Bandes die Zuversicht, dass die umfangreichen Ergänzungen und die strategische Neuordnung der Inhalte eine eindeutige Verbesserung darstellen. Gedankt sei an dieser Stelle den Verlagslektorinnen Carolin Köhne und Cana Nurtsch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die gute Zusammenarbeit sowie Jan König (München) und Elisabeth Handel (Bamberg) für die Hilfe bei der Erstellung des Textes. Markus Janka / Christian Schäfer
EINLEITUNG In den zwölf Jahren, die seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buchs verstrichen sind, haben verschiedene neue monographische Studien und Sammelbände zu den Mythen im platonischen Corpus die Forschungslandschaft bereichert.1 Es gereicht unserem Band zur Ehre, damit als erster in einer Reihe hochrangiger internationaler Forschungsbeiträge zu stehen, die das wiederbelebte Interesse am Thema des platonischen Mythenerzählens eindrucksvoll belegen. Dieses neu erwachte Interesse korrespondiert freilich mit der gar nicht so neuen Einsicht, dass die Faszination, die Platon als Philosoph ausübt, nicht zum wenigsten in der einzigartigen Form gründet, in der Platons Philosophieren für die Nachwelt dokumentiert ist, nämlich in „Dialogen“, die als literarische Kunstwerke konzipiert und ausgestaltet sind und von denen einige völlig zu Recht zu Klassikern der Weltliteratur geadelt wurden. Mit dieser grundlegenden Einsicht beginnt aber auch ganz natürlich das Interesse an Platon als Mythologen, ist doch schon Platons Sokrates nicht allein der Archetyp des eristischen Philosophen, der im dialogisch-dialektischen Klingenkreuzen und unermüdlichen Argumentieren um Annäherungen an die Erkenntnis der Wahrheit ringt, sondern auch mythischer „Held“ und dramatischer Protagonist in einer Person2: Lässt ihn sein Schöpfer Platon doch in aufwendig inszenierten Dialogdramen (Gadamer nennt sie „Dialogdichtungen“) heroische Kämpfe gegen die Antipoden seines Philosophierens austragen: gegen Naturphilosophen, eleatische Seinsphilosophie, die Riege der Sophisten und Rhetoren, ja auch gegen (Schein)Fachleute jedweder Provenienz und dabei auch gegen Dichter, Rhapsoden und Literaturwissenschaftler ...; und die Schauplätze, Szenerien und Akteure gemahnen oftmals mehr an Fiktion denn an Historie, Parainese, Hypomnematik oder gar strenge Didaxe. Dass wir seine Dialoge auch so lesen dürfen, verrät uns Platon nicht zuletzt an jener berühmten Stelle seiner Apologie des Sokrates, wo er den Sprecher sich in einer schier endlosen Periode mit Achilleus, dem strahlendsten Kämpfer der griechischen Heldenepik, parallelisieren lässt (Ap 28b2–d5). Vergleichspunkt ist der unerschütterliche Todesmut in einer dilemmatischen Situation der Entscheidung zwischen edlem Sterben und unehrenhaftem Weiterleben. Erkennt man in den Gesprächs-Auseinandersetzungen des Sokrates also „Urkämpfe“ der Philosophie, so werden aus ganzen platonischen Dialogen Mythen, und zwar Mythen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. Eine bekanntlich durchaus „aufgeklärte“ Zeit, in der Platons häufiger Rekurs auf die Mythen im 1
Zu nennen sind hier vor allem: Colloud-Streit [2005], Partenie [2009] und Collobert / Destrée / Gonzalez [2012]. 2 Zu Platons Sokrates als dramatischer Gestalt mit mythischer „Wertigkeit“ vgl. zum Beispiel Dönt [1995], Erler [2009] und Schäfer [2011] 173-174.
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herkömmlicheren Sinn, das heißt die sagenhaften Anfangsgeschichten um Kosmos, Götter und Menschen, sowie ihre merkwürdige Einbindung in den methodisch so hoch entwickelten Diskurs umso mehr Wunder nehmen musste. Wort und Begriff „Mythos“ sind für jeden Leser Platons gute Bekannte. Doch können sie sich leicht auch als „falsche Freunde“ entpuppen. So proteisch ist nämlich Platons Umgang mit dem „Mythos“. Die Bandbreite reicht von der „Fabel“ im Stile des Aisopos (Phd 61b6–7) über das Reden in Gleichnissen (Gorg 493a5) bis hin zur Einschätzung des eigenen Tuns durch die Dialogpartner: So wird auch das Konstruieren von Staaten im Gespräch in der Politeia und den Nomoi zur mythologia und damit zum „Fabulieren“, das mit dem Tatsächlichen (ergon) kaum vereinbar scheint. Die Ergebnisse der Forschung bestätigen diesen verwirrenden Eindruck. Denn die Grenzen zwischen „Mythos“ und „Logos“ bei Platon verschwimmen immer wieder. In einem sehr anregenden Aufsatz heißt es: „Myth is essential to Plato’s conception of philosophy“ und sogar „Story-telling, imagery, myth are fundamental to Plato’s meaning“.3 Müssen wir den Mythos und damit auch die Mythen in Platons Dialogen als unverzichtbare Wesenselemente seines Philosophierens noch ernster nehmen als bisher? Es ist sicherlich nicht müßig, der Frage nach Mythos und Logos bei Platon abermals auf den Grund zu gehen, und zwar sowohl in dialogübergreifenden Reflexionen als auch in Detailanalysen einzelner Mythen oder Gruppen von Mythen. Der erste Teil des vorliegenden Handbuchs widmet sich daher grundlegenden Fragen zum Mythenbegriff im Allgemeinen und zum Problem von Mythos, wissenschaftlichem Diskurs und Dialogform bei Platon im Besonderen. Der zweite Hauptabschnitt fasst die spezifischen Eigenheiten platonischen Mythenerzählens genauer ins Auge und führt damit über zum dritten Teil, der einzelne Mythen Platons in philosophischen und philologischen Interpretationen vorstellt. Ein Schwerpunkt liegt hier vor allem auf Deutungen des weitschweifigen und intrikaten Mythos im Politikos, ein weiterer Schwerpunkt naturgemäß auf den sogenannten Jenseitsmythen, die seit jeher großes kontroverses Interesse hervorgerufen haben. – Die vorliegende zweite Auflage hat gegenüber der ersten zahlreiche konzeptionelle Umstellungen und inhaltliche Erweiterungen erfahren. Hinzugekommen sind Beiträge zum Er-Mythos der Politeia, zum Theut-Mythos des Phaidros, dem Mythos von der Zeugung des Eros im Symposion, dem Prometheus-Mythos im Protagoras und der Atlantis-Erzählung, der Beitrag von Arbogast Schmitt liegt jetzt in vollkommener Neubearbeitung vor. Platon als Mythologe hat somit den Charakter eines Tagungsbands, der die erste Auflage noch kennzeichnete, gänzlich abgestreift und die innere und äußere Form eines Handbuchs zu den Mythen in Platons Schriften angenommen. Es soll den Zweck erfüllen, diesen Mythen, deren Erforschung im deutschsprachigen Bereich in sehr langer Zeit kein eigenes Organ gefunden hatte und die im 3
Murray [1999] 260; 261.
Einleitung
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akademischen Diskurs nicht nur, aber doch allzu oft, rein funktional, nebenher, oder zur bloßen Argumentstützung – wo nicht gar als reine Kuriosität – behandelt werden, ein würdiges eigenes Ausdrucksmedium zu verleihen und das Interesse wieder verstärkt auf sie zurück zu lenken. Als Informationsquelle, Interpretationshilfe und Belegdokument für den Forschungsstand soll das Handbuch damit auch dem weiter gefassten ehrgeizigen Ziel dienen, Philosophie und Klassische Philologie in der Platon-Forschung mit ihren Ergebnissen zur Mythenfrage zusammenzuführen und somit ein breitgefächertes und möglichst aspektreiches Bild dessen, was zu Platons Mythen heute qualifiziert zu sagen ist, vorzulegen.
ABKÜRZUNGEN Corpus Platonicum: Alk 1, 2 Ap Ax Charm Kleit Krat Kri Krit Ep Epin Euthyd Euthyph Gorg Hipparch Hipp Ma, Mi La Lg Lys Men Min Mx Phd Phdr Phlb Plt Parm Prot Resp Sis Symp Soph Thg Tht Ti
Alkibiades 1, 2 Apologie Axiochos Charmides Kleitophon Kratylos Kriton Kritias Briefe Epinomis Euthydemos Euthyphron Gorgias Hipparchos Hippias Maior, Minor Laches Nomoi Lysis Menon Minos Menexenos Phaidon Phaidros Philebos Politikos Parmenides Protagoras Politeia Sisyphos Symposion Sophistes Theages Theaitetos Timaios
FRAGMENTSAMMLUNGEN UND NACHSCHLAGEWERKE DK / VS
Diels, H. / Kranz, W.: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch. Berlin 51934.
HWPh
Ritter, J. / Gründer, K. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel / Stuttgart 1971ff.
PMGF
Davies, M. (Hrsg.): Poetarum melicorum graecorum fragmenta. Vol. 1. Alcman, Stesichorus, Ibycus. Oxford 1991.
SVF
von Arnim, H. (Hrsg.): Stoicorum Veterum Fragmenta I-IV. Leipzig 1903-1924.
1. TEIL: ALLGEMEINE GRUNDLEGUNG ZUM
(PLATONISCHEN) MYTHENBEGRIFF
PLATONS EXOTERISCHE MYTHEN Glenn W. Most Schon Homer unternimmt unverkennbare Anstrengungen, den überlieferten Mythos, die tradierten Sagen über Menschen und Götter, nach seinem Begriff von Logos – Rationalität, Humanität, Angemessenheit, Wahrscheinlichkeit – zu durchdringen: Er erklärt das Unerklärliche, er unterdrückt das Ungeheuerliche, er vermenschlicht das Göttliche, er idealisiert das Menschliche. Dies setzt sich dann auch später fort: In jeder Entwicklungsphase der griechischen Kultur nach Homer rangen Dichter, Denker und einfache Hörer darum, zwischen dem gegebenen und manchmal schier unerträglichen Mythos einerseits und dem forschenden und nie zufriedenen Logos andererseits irgendwie zu vermitteln. Aber niemand vor Platon hat dem problematischen Verhältnis von Mythos und Logos eine so zentrale Rolle in seinem Denken zugewiesen wie er.1 Das merkt man schon an dem lexikalischen Phänomen, dass eine Reihe von zusammengesetzten Wörtern, ohne die wir heute dieses Problem überhaupt nicht mehr zu begreifen vermögen, zum ersten Mal im Œuvre Platons bezeugt ist und mit großer Wahrscheinlichkeit von ihm selbst geprägt, jedenfalls erst von ihm mit solcher Prägnanz und Bedeutsamkeit verwendet wurde: mythologia erscheint achtmal in seinen Schriften, mythologēma zweimal, mythologikos einmal, mythologeō gar siebzehnmal. Auf diese Weise lässt sich auch terminologisch die Zentralität des problematischen Verhältnisses zwischen Mythos und Logos im Denken Platons belegen. So kommt es auch nicht von ungefähr, dass nicht nur die Frage nach Platons Einstellung zu den traditionellen griechischen Mythen, sondern auch diejenige nach dem Stellenwert des Mythos innerhalb von Platons eigenen Werken von jeher seine vielen Leser beunruhigt hat. Denn kein anderer griechischer Denker hat die überlieferten Mythen so heftig angegriffen wie Platon; aber kein anderer antiker Philosoph hat so viele anschauliche und unvergessliche Mythen über sein eigenes Werk hin verstreut wie er. Wie ist ein solcher scheinbar unbestreitbarer Widerspruch zu erklären? Ein wichtiges Zeugnis für die antiken Auseinandersetzungen über dieses Problem liefert Diogenes Laertios (3,80), demzufolge einige meinten, Platon benutze zu viele Mythen – aber im Fortgang des (allerdings textkritisch nicht ganz unproblematischen) Satzes rechtfertigt er deren Gebrauch bei Platon mit ihrer abschreckenden Wirkung auf ungerechte Menschen. Bei den Neuplatonikern, namentlich bei Proklos, wurde der Ansatz, gerade in Platons Mythen das zentrale Mysterium seiner ganzen Philosophie zu
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Zu Platons Mythen vgl. außer den in den folgenden Anmerkungen genannten Studien auch z.B. Stewart [1905]; Stöcklein [1937]; Levi [1946]; Edelstein [1949]; Loewenclau [1958]; Pieper [1965]; Hirsch [1971]; Findlay [1978].
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finden, zu einer der wichtigsten exegetischen Strategien und dadurch zu einer Hauptströmung der späteren europäischen Literaturen.2 Dabei wurde der Versuch, mit Platons Mythen zurechtzukommen, von Anfang an dadurch erschwert, dass Platons eigener Sprachgebrauch bezüglich des Verhältnisses von Mythos und Logos erstaunlich schillernd und inkonsequent ist. Einerseits lassen mehrere Stellen keinen Zweifel daran zu, dass zumindest in einigen Kontexten Mythos und Logos als echte Alternativen zueinander zu denken sind. So bietet Protagoras in dem nach ihm benannten Dialog seinen Zuhörern die freie Auswahl zwischen einem mythos und einem logos (Prot 320c); dann fängt er zunächst mit einem mythos an (320c), geht später aber ausdrücklich zu einem logos über (324d). Ähnlich verfährt, so könnte man meinen, Aristophanes im Symposion: Er erklärt, er werde seine Rede auf eine andere Weise halten, als die eher trockenen, analytischen und begriffslastigen Reden seiner Vorgänger Pausanias und Eryximachos (Symp 189c) und erzählt dann seinen berühmten und unterhaltsamen Mythos von den Kugelmenschen (189d). Andererseits aber nennt Aristophanes selbst seine Rede niemals einen mythos, sondern vielmehr einen logos (193d, so auch Eryximachos 193e): Dieses Musterbeispiel eines platonischen Mythos entzieht sich also einer terminologischen Festlegung als Mythos. Auch andere Stellen in den platonischen Schriften sprechen gegen eine terminologisch exakte Differenzierung zwischen Mythos und Logos. So zeigt etwa der Gorgias, dass ein und dieselbe Rede von Kallikles als ein mythos aufgefasst werden kann, von Sokrates dagegen als ein logos (Gorg 523a, 526d–527a). Eine solche Unterscheidung scheint also unabdingbar, erweist sich aber zumindest terminologisch als nicht klar oder eindeutig. In der Tat bieten viele platonische Belege widersprüchliche Angaben darüber, wie man sich die Alternative zwischen Mythos und Logos genau vorzustellen hat. Ist der philosophische Logos etwa selbst ein Mythos oder ist der Mythos eine Art von Logos oder vielmehr das genaue Gegenteil von Logos, ist der Unterschied einer zwischen „schlecht“ und „gut“ oder „falsch“ und „wahr“ oder zwischen „wahrscheinlich“ und „wahr“ oder „wandelbar“ und „unwandelbar“ oder etwas ganz anderes? Ist es ein Unterschied der Gegenstände oder der Modi? Für alle diese Richtungen lassen sich unschwer wegweisende Belegstellen finden. Die hermeneutische Unheimlichkeit, die in der Verbindung dieser Dringlichkeit mit dieser Schwierigkeit liegt, hat viele Gelehrte zur Suche nach einem eindeutigen Kriterium veranlasst, das es erlauben würde, diejenigen Textpartien zweifelsfrei zu identifizieren, die als „Mythen“ zu gelten hätten, damit man dann ihre Beschaffenheit besser verstehen könnte. Dabei ist man meist entweder von einzelnen formalen oder von einzelnen inhaltlichen Merkmalen ausgegangen. Aber die dabei erzielten Ergebnisse waren bislang nicht besonders befriedigend. 2
Vgl. Lamberton [1986].
Platons exoterische Mythen
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So erprobten Couturat3 und Zaslavsky4 einen formalen Ansatz, indem sie das bloße Vorkommen des Wortes mythos als ausreichendes Bestimmungsmerkmal eines Mythos vorschlugen – aber der Textbefund erweist, dass Platon das Wort auch gebraucht, um Partien zu kennzeichnen, die kein Leser außer Couturat und Zaslavsky je als einen Mythos beschrieben hat, während andererseits mehrere der berühmtesten platonischen Mythen niemals von Platon als mythos bezeichnet werden (so der Schluss des Gorgias oder die Erzählung von der Erfindung der Schrift im Phaidros). Ein anderes formales Kriterium hat Croiset im Vorkommen ausgedehnter, ununterbrochener Reden gesucht5 – aber das Symposion z.B. besteht aus acht solcher Reden, von denen nur eine oder zwei (die des Aristophanes und ein Teil derjenigen der Diotima) als mythisch gelten. Kaum erfolgreicher war der symmetrische Ansatz, der bestimmte Textpartien nach inhaltlichen Merkmalen als Mythen zu definieren suchte, entweder weil diese zu vage waren (so bei Frutiger)6 oder weil die zu Bestimmungskriterien erhobenen philosophischen Aussagen sich auch an vielen nichtmythischen Stellen finden lassen und deren systematische Beziehung zum mythischen Charakter der Mythen unbestimmt blieb (so bei Morgan)7. Der Grund für das Scheitern solcher einsträngiger Ansätze zur Erfassung der platonischen Mythen ist nicht schwer zu erkennen: Denn unser moderner Begriff des Mythos ist eine Frucht der geistesgeschichtlichen Entwicklungen und der kulturellen Bedürfnisse der Neuzeit und kann daher höchstens teilweise dem antiken Verständnis des Mythos, also auch dem platonischen, entsprechen.8 Hätte Platon unseren Mythos-Begriff im Sinne gehabt, dann hätte er durchaus die Textabschnitte, die er und wir gleichermaßen als Mythen ansehen würden, mit eindeutigen Merkmalen kennzeichnen können, an denen wir seine Absicht unschwer hätten ablesen können. Aber unser Versuch, von Platons Mythen zu sprechen, stellt einen unvermeidlich unzeitgemäßen hermeneutischen Eingriff in seine Texte dar, den er allenfalls teilweise hätte verstehen, geschweige denn 3
Couturat [1896]. Zaslavsky [1981]. 5 Croiset [1895], 288; Croiset [1896]. 6 Frutiger [1930] 36; 37: „Symbolisme, liberté de l’exposé, imprécision prudente de la pensée volontairement maintenue en deçà de la franche affirmation, tels sont, à notre avis, les trois caractères essentiels des mythes platoniciens. […] nous appelerons donc mythique – outre les récits nettement légendaires, mais à l’exclusion des allégories – tout ce que le philosophe expose, soit d’une façon symbolique, soit en marge de la ,science‘ véritable et sans l’aide de la dialectique, c’est-à-dire come une probabilité, non comme une certitude“. 7 Morgan [2000] 37: „Philosophical myth can be defined as the methodologically selfconscious use of mythological material to problematise issues of language and communication. By mythological material, I mean story patterns (such as quest, anabasis, katabasis), motifs, or narrative characters, which transgress the format of standard philosophical argument and explanation“. 8 Vgl. z.B. Most [1999 und 2001]. 4
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billigen können. Erst ein Ansatz, der auf flexible Weise inhaltliche mit formalen Kriterien verbindet und vor allem sich der eigenen Unzeitgemäßheit bewusst bleibt, kann hoffen, nicht nur den platonischen Texten, sondern auch unserem eigenen (Selbst-)Verständnis einigermaßen gerecht zu werden. In Fortschreibung der Arbeiten Gaisers9 und vor allem Brissons10 empfiehlt sich eher ein anderer Ansatz, den man diskursiv nennen darf, und zwar deshalb, weil er nicht einseitig vom begrifflichen Inhalt der jeweiligen Textpartien bzw. von immer wiederkehrenden lexikalischen Merkmalen ausgeht, sondern vielmehr von den konkreten Bedingungen der kommunikativen Situation der Sprecher und der Zuhörer, deren sprachpragmatische Interaktion miteinander die jedem Leser unvergesslich bleibende Dramatik der platonischen Dialoge ausmacht. Die Aufstellung von acht solchen diskursiven Kriterien zur Bestimmung derjenigen Textpartien der platonischen Dialoge, die sich als platonische Mythen in einem unserem Sprachgebrauch entsprechenden Sinne identifizieren lassen, führt dazu, die folgenden Abschnitte als platonische Mythen zu klassifizieren: • Phaidon 107c–114c: Die Unterwelt und die Struktur unserer Erde. • Gorgias 523a–527a: Die Unterwelt. • Protagoras 320c–323a: Anthropologie der Politik. • Menon 81a–c: Die Unsterblichkeit der Seele. • Phaidros 246a–257a: Die Natur der Seele. • Phaidros 274b–275b: Die Erfindung der Schrift. • Symposion 189c–193d: Die Entstehung der Sexualität. • Symposion 203b–204a: Die Geburt des Eros. • Politeia 10,613e–621d: Der Mythos des Er. • Politikos 268e–274e: Die Weltperiode. • Timaios 20d–25e: Atlantis. • Timaios 29d–92c: Die Schöpfung des Kosmos. • Kritias 108e–121c: Atlantis. • Nomoi 4,713a–e: Das vorpolitische Leben. Auch wenn diese Auswahl sicherlich zumindest in einigen Fällen Anlass zur Diskussion geben und wahrscheinlich unschwer um ein paar zusätzliche Beispiele erweitert werden könnte, hoffe ich dennoch damit eine Zusammenstellung derjenigen Texte vorzulegen, die am sichersten und eindeutigsten zu den platonischen Mythen gezählt werden können. Auch die acht Kriterien, 9
Gaiser [1984], bes. S. 126: „Quasi in ogni dialogo di Platone ci imbattiamo in racconti mitici più o meno estesi. Con questi intendo, seguendo l’uso linguistico corrente, descrizioni, intuitivamente accessibili, di un evento che in qualche modo oltrepassa la commune esperienza umana, in quanto rinvia in un’epoca storicamente remota, oppure in un ambito della vita ultramondana“. 10 Brisson [1982].
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deren Anwendung auf das platonische Œuvre zur Auswahl dieser Textpartien führt, werden sicherlich nicht völlig unstrittig sein. Einige (wenn auch nicht alle) von ihnen lassen gelegentliche Ausnahmen zu – das bedeutet, dass sie nicht einfach mechanisch angewendet werden dürfen, sondern mit Takt, mit Flexibilität und mit einer gesunden Selbstskepsis, das heißt: sokratisch. Hoffentlich wird die Auflistung dieser acht Merkmale in kritischer Auseinandersetzung mit anderen zu einer Präzisierung unseres Verständnisses der Beschaffenheit der platonischen Mythen beitragen. Sie lauten folgendermaßen: 1. Die platonischen Mythen sind monologisch. Vor dem Hintergrund der dialektischen Gespräche, die die meisten Seiten der platonischen Dialoge füllen, heben sich die Mythen schon dadurch ab, dass sie von einem einzelnen Sprecher ohne Unterbrechung durch seine Zuhörer von Anfang bis zum Ende vorgetragen werden. Die einzige Ausnahme findet sich im Politikos, wo die Erzählung des eleatischen Fremden immer wieder durch Einwürfe seines Zuhörers Sokrates unterbrochen wird – aber dies ist keine wirklich gravierende Ausnahme, denn es leuchtet ein, dass der jüngere Sokrates in seiner dialektischen Redefreude unmöglich völlig zum Schweigen gebracht werden könnte, und immerhin liefern seine Einwürfe keine Einwände oder Fragen, sondern vielmehr Ermutigung und Bestätigung. Nomoi 3,676b–682e dagegen ist kein Beispiel für einen dialektisch erzählten Mythos, sondern eine dialektische Analyse eines vorausgesetzten und hier gerade nicht erzählten Mythos. 2. Die platonischen Mythen werden von einem älteren Redner vor jüngeren Zuhörern vorgetragen. Das vergleichsweise fortgeschrittene Alter des Sprechers ruft Respekt bei den anderen hervor – sonst verstünde man nicht, warum diese mitten im typischerweise sehr lebhaften Austausch eines griechischen Gesprächs plötzlich anfangen zu schweigen und längere Zeit still zuhören. Der Altersunterschied zwischen Redner und Zuhörern wird im Politikos (268e) und im Protagoras (320c) besonders deutlich hervorgehoben. Die einzige mögliche Ausnahme bildet Aristophanes’ Mythos im Symposion – aber falls Aristophanes tatsächlich, wie einige meinen, schon 460 v. Chr. geboren wurde, war er zum fiktiven Zeitpunkt des im Dialog dargestellten Gesprächs im Jahr 416 v. Chr. schon 44 Jahre alt. Oder darf es sich ein genialer Komiker einfach leisten, sich unter den im Symposion geschilderten heiteren Umständen so zu verhalten, als wäre er viel älter, als er tatsächlich ist? 3. Die platonischen Mythen gehen auf explizit angegebene oder implizierte, wirkliche oder fingierte ältere mündliche Quellen zurück. Auch wenn ein Mythos evidentermaßen von Platon erfunden wurde, gibt er sich gern als ein genuiner Ausschnitt aus dem tatsächlich vorhandenen Reservoir von mündlichen Sagen in der griechischen Kultur, etwa im Politikos (268e–269b, 271a–b). Die umständlichste Beglaubigung der Überlieferung findet sich beim AtlantisMythos im Timaios und Kritias: Die Kette der Weitergabe reicht ununterbrochen von Ägypten über Solon, Dropides und dem älteren Kritias bis hin zum jüngeren Kritias. Aber auch in anderen Fällen werden gern Gewährs-
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männer und bestimmte Quellen genannt: Priester, Priesterinnen und Pindaros im Menon (81a–b); Er in der Politeia (10,614b); Urahnen im Politikos (271a). In anderen Dialogen, wo die namentliche Berufung auf angebliche Quellen unterbleibt, wird behauptet, der Sprecher habe den Mythos „gehört“: So Phaidon 107d (legetai), Gorgias 523a, 524a (legei, akēkoōs), Phaidros 274c (akoēn ... tōn proterōn, ēkousa), Nomoi 4,713c (paradedegmetha). Auch erfundene platonische Mythen bedienen sich vorzugsweise leicht erkennbarer Figuren und Erzählschemata aus dem gewöhnlichen mythischen Repertoire: Zeus, Prometheus, Epimetheus, Hermes (Protagoras); Zeus, Götter, Giganten (Aristophanes im Symposion). 4. Die platonischen Mythen handeln von nicht nachprüfbaren Gegenständen. Was der gewöhnliche Mensch durch Prüfung seiner Erfahrung zu beobachten, zu beurteilen und anderen mitzuteilen vermag, wird als Stoff der platonischen Mythen streng ausgeschieden. Entweder handeln die Mythen von den ersten Dingen, indem sie eine Ätiologie gegenwärtiger Verhältnisse aus den Urzeiten ableiten: Dazu gehören das ursprüngliche Totengericht (Gorgias), die Entstehung politischer Gemeinschaften (Protagoras), die Erfindung der Schrift (Phaidros), die menschliche Sexualität bzw. die Geburt des Eros (Symposion), die Weltperiode (Politikos), Atlantis bzw. die Weltschöpfung (Timaios), nochmals Atlantis (Kritias), die Zeit vor dem ersten Staat (Nomoi). Oder aber die Mythen handeln von den letzten Dingen, indem sie eine Eschatologie der Ereignisse nach dem Tode liefern: Dies geschieht im Phaidon, Gorgias, Menon, Phaidros und in der Politeia. 5. Der platonische Mythos leitet seine Autorität nicht aus der eigenen Erfahrung des Sprechers, sondern aus der Tradition her. Daher unterliegt er auch nicht der rationalen Prüfung durch den Zuhörer. Manchmal wird explizit angegeben, dass Platons Mythen angezweifelt werden können, so im Gorgias, Phaidros und Politikos. Oder aber – die symmetrische Kehrseite – es wird das unbeirrbare Glauben an sie hartnäckig beteuert, so im Phaidon, Gorgias, Politikos und in den Nomoi. Aber warum wird eigentlich an sie geglaubt? Sicherlich vor allem deswegen, weil der Mythos auf seine Weise dieselben Ansichten unterstützt, die an anderen Stellen mit logischen Mitteln bewiesen werden; aber vielleicht auch deshalb, weil er ästhetisch durch seinen schönen Ausdruck gefällt und weil er einen moralischen Ansporn zum richtigen Handeln abgibt. 6. Der platonische Mythos hat eine psychagogische Wirkung. Es wird immer wieder ausdrücklich vermerkt, wie viel Vergnügen es bereitet, einem Mythos zuzuhören, etwa Phaidon 108d (hēdeōs ... an akousaimi), Protagoras 320c (chariesteron), Symposion 193e (hēdeōs errēthē [scil. Aristophanes’ Rede]), in der Politeia 10,614b (hēdion). Der Appell des Mythos an die Emotionen seiner Zuhörer beschränkt sich aber nicht auf deren Unterhaltung, sondern geht über die rationale Überzeugungsarbeit hinaus, um einen stark motivierenden Antrieb zum Handeln zu bewirken (Politikos 304c–d, Nomoi 2,663d–e). Auch wenn Sokrates von der Wahrhaftigkeit des Mythos vom Leben
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nach dem Tode nicht völlig überzeugt ist, hält er dennoch an ihm fest und benutzt ihn wie einen magischen Zauberspruch (epāidein), der ihm Vertrauen einflößt (Phaidon 114d). 7. Der platonische Mythos ist nicht wie Dialektik, sondern wie Beschreibung oder Erzählung strukturiert. Die dialektischen Teile der platonischen Dialoge sind nach einer Reihe von logischen Verfahren organisiert: Prüfung der Prämisse(n), Aufspüren von Widersprüchen, Dihairesis (analytische Deduktion) und Synagoge (Induktion). Dagegen sind die platonischen Mythen entweder synchron als die Beschreibung eines Orts angelegt, indem die räumliche Beschaffenheit des Gegenstands die Leitlinie für die zeitliche Abfolge der Elemente des Mythos bildet (so im Phaidon, im Gorgias und in der Politeia), oder aber diachron als Erzählung einer Handlung oder mehrerer Handlungen strukturiert, indem die zeitliche Abfolge der Handlungselemente die Folge der Elemente des Mythos bestimmt (so im Protagoras, im Schrift-Mythos des Phaidros, im Symposion, im Atlantis-Mythos des Timaios und in den Nomoi). Ein berühmtes Problem für sich ist der Weltschöpfungsmythos im Timaios. Seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert streiten sich die Erklärer darüber, ob dieser Mythos synchron oder diachron zu verstehen sei. 8. Der platonische Mythos befindet sich immer entweder (a) am Anfang oder (b) am Ende einer dialektischen Erörterung. (a) Im Menon wird gesagt, mit dem Mythos werde ein Neuanfang gemacht (79e–81e). Im Protagoras erzählt der Sophist erst einen Mythos, dann fängt er einen Logos an. Dem SchriftMythos im Phaidros folgt eine dialektische Analyse der Nachteile der Schrift. Nach dem Kugelmenschen-Mythos im Symposion liefert Aristophanes eine eigene Dihairesis, die Klassifikation der Arten des menschlichen Eros. Im selben Dialog fängt Diotima mit einem Mythos der Geburt des Eros an, um dann zu philosophischem Dialog und Lehrvortrag überzugehen. Auch im Politikos wird mit dem Mythos ausdrücklich ein Neuanfang signalisiert (268d). (b) Oder aber der Mythos beschließt eine längere dialektische Textpartie, um etwa die mit logischen Mitteln erreichten Ergebnisse nunmehr in einer mythischen Form einprägsam zu wiederholen oder aber um Spekulationen, die mit logischen Mitteln allein nicht bewiesen werden können, zumindest in einer anschaulichen Form anzudeuten. So im Phaidon, im Gorgias, im Phaidros, in der Politeia, im Timaios, im Kritias und in den Nomoi. Nun fällt auf, dass mit Ausnahme des achten alle Merkmale durchaus typisch sind für die gewöhnlichen Mythen, wie sie in der mündlichen Kultur Griechenlands üblich waren und wie sie von Platon selbst an vielen Stellen seiner Schriften beschrieben, ja heftig kritisiert werden. Dieser Befund wirft eine schwierige und grundsätzliche Frage auf: Was ist das genaue Verhältnis zwischen Platons philosophischen Mythen und den gewöhnlichen Mythen der ihn umgebenden griechischen Kultur?
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Vielleicht können wir uns einer Antwort auf diese platonische Frage am besten über einen kurzen aristotelischen Umweg nähern.11 Es ist unumstritten, dass Aristoteles einige seiner Werke für die Studenten und Kollegen verfasste, die mit ihm im Lykeion zusammenarbeiteten, andere dagegen für Außenstehende. Aristoteles selbst benutzt in Bezug auf seine nach außen gerichteten Schriften solche Termini wie exōterikoi (achtmal), ekdedomenoi (einmal), enkyklia (zweimal) und en koinōi gignomenoi logoi (einmal); ab dem 2. nachchristlichen Jahrhundert (Lukian, Galen) wird der Terminus esōterikoi für die Lehrschriften gebraucht. Vom 4. bis zum 1. vorchristlichen Jahrhundert waren Aristoteles’ exoterische Schriften viel einflussreicher als seine esoterischen, aber danach wurden die exoterischen fast völlig durch die esoterischen verdrängt, so dass von den exoterischen nur mehr dürftige Fragmente überliefert sind. Offenbar schlug sich der Unterschied in der anvisierten Leserschaft in bestimmten Unterschieden des schriftstellerischen Charakters beider Werktypen nieder. Denn aus einem Fragment des Eudemos (44 Rose) wissen wir, dass dieses Werk einen Mythos enthielt, während aus einigen Fragmenten von peri eugeneias (91–94 Rose) eindeutig hervorgeht, dass dieses Werk ein Dialog war. Nun fehlen beide Merkmale – Mythos und Dialog – in Aristoteles’ esoterischen Schriften völlig. Wir brauchen nicht die wohl irrige Annahme einiger Gelehrter zu teilen, dass alle exoterischen Schriften des Aristoteles Dialoge waren, um im Dialogcharakter ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu den esoterischen Schriften zu sehen; und im Mythos werden wir sicherlich zu Recht ein weiteres finden. Der Befund bei Platon, dem Lehrer des Aristoteles, ist auffallend ähnlich. Wie auch immer man zu der Tübinger Platon-Schule stehen mag, es ist unbestreitbar, dass auch Platon unterschiedlich geartete Texte für zwei Arten von Rezipienten produzierte. Einerseits verfasste er die Schriften, die wir noch heute lesen: Sie sind ausnahmslos Dialoge und enthalten viele Mythen. Daneben wissen wir von mindestens einem Beispiel mündlichen Unterrichts für eine begrenzte Hörerschaft, dem Vortrag Über das Gute, über den zahlreiche antike Philosophen, beginnend mit Aristoteles, berichten.12 Aus diesen Zeugnissen erfahren wir zwar nicht mit Sicherheit, ob dieser Vortrag nur einmal oder immer wieder gehalten wurde und ob er in Platons Lehrtätigkeit eine Ausnahme oder die Regel darstellte. Aber wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Vortrag kein Dialog war und keine Mythen enthielt – sonst hätte er wohl mehr Erfolg bei den bekanntlich zutiefst enttäuschten Zuhörern gehabt. Platons Vortrag war philosophisch anspruchsvoll und stilistisch trocken (wenn nicht sogar abschreckend) und setzte schon erhebliche philosophische Vorkenntnisse bei seinen Zuhörern voraus.
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Vgl. vor allem Dirlmeier [1962] 5ff.; auch Cerri [1996]; Usener [1994]; Dalfen [1998a]. 12 Die wichtigsten Texte sind bequem zugänglich bei Gaiser [1968] 441ff.
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Die Unterschiede im Umgang mit den Differenzierungsmöglichkeiten, die Esoterik und Exoterik bieten, sind bei dem großen Lehrer und seinem größten Studenten unverkennbar. Für Platon ist Esoterik mündlich (Platon selbst hat seinen Vortrag Über das Gute niemals schriftlich verbreitet), für Aristoteles dagegen ist sie schriftlich (einer antiken Anekdote zufolge nannte Platon Aristoteles „den Leser“). In Platons theoretischen Überlegungen im Phaidros erscheint der Unterschied zwischen den beiden Textsorten als derjenige zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (und wahrscheinlich tat nicht Platon selbst, sondern ein Platoniker dasselbe auf etwas gröbere Weise im 7. platonischen Brief), während Aristoteles über diesen nicht mehr zu theoretisieren braucht, sondern ihn einfach übernehmen und anwenden kann. Und die fata libelli sorgten dafür, dass beide Textsorten der beiden Autoren komplementäre Schicksale erlitten: Denn von Platon sind allein die exoterischen Schriften überliefert, während seine esoterische Lehrtätigkeit uns nur in lückenhaften Berichten greifbar ist. Von Aristoteles dagegen sind nur die esoterischen Schriften überliefert, während die exoterischen Publikationen, die seinen Ruhm in den Jahrhunderten nach seinem Tode sicherten, nur noch in spärlichen Fragmenten erhalten sind. Die Begriffe „exoterisch“ und „esoterisch“ haben mit der Zeit eine Anzahl irreführender Assoziationen mit Geheimwissenschaften und Mysterien entwickelt. Um den hier gemeinten Unterschied der Textsorten angemessener zu verstehen, ist es ratsam zu fragen, wie Platon selbst die Verbreitung von philosophischem Wissen in seinen Schriften darstellt. Anaxagoras ist für Platon offensichtlich ein Musterbeispiel exoterischer Publikation (Apologie 26d–e, Phaidon 97b–c): Seine Schriften sind käuflich, d.h. sie werden öffentlich am Markt zum Kauf angeboten und können von jedem Menschen erworben werden, der genug Geld hat; der Käufer liest dann die Schriften vor, aus dem philosophischen Text spricht eine fremde, nicht unbedingt philosophische Stimme. Sokrates sagt im Phaidros: „Wenn eine Rede erst einmal aufgeschrieben wird, geht sie überall herum, auf gleiche Weise bei denjenigen, die sie verstehen, wie auch bei denen, die nichts damit zu tun haben, und sie versteht nicht, wie sie die einen ansprechen soll, die anderen nicht.“ (Phdr 275e) Dagegen führt Zenon im Parmenides (127b–e) auf paradigmatische Weise eine esoterische Wissensvermittlung vor: Er liest selbst aus der eigenen Handschrift vor einer kleinen und sorgfältig ausgewählten Gruppe von Zuhörern an einem privaten Ort. Wenn wir diesen in Platons eigenen Texten belegten Unterschied umsichtig verallgemeinern, können wir ihn folgendermaßen formulieren: Exoterische philosophische Schriften müssen am literarischen Markt nicht nur mit anderen philosophischen Schriften um die Aufmerksamkeit philosophisch geschulter Leser konkurrieren, sondern auch und vor allem mit anderen literarischen Texten um die Aufmerksamkeit eines philosophisch ungebildeten Publikums, und sie müssen daher diejenigen Textmerkmale aufweisen, die potentielle Leser des letzteren Typs von den Büchern erwarten, die sie kaufen wollen. Wenn wir uns
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überlegen, dass die maßgeblichen literarischen Werke, die man am damaligen griechischen Markt antreffen konnte, Drama (Tragödie und Komödie) und Epos (vor allem Homer und Hesiod) waren, dann leuchtet ein, dass ein kluger Schriftsteller, der wollte, dass auch seine Bücher gekauft und gelesen würden, diese seine eigenen Werke mit den Merkmalen solcher fremder Bücher – d.h. mit Dialog und mit Mythos – versehen und sich verpflichtet fühlen würde, die unphilosophischen Gesichtspunkte seiner unphilosophischen Leser irgendwie zu berücksichtigen. Esoterische Schriften dagegen besitzen ein weitgehendes Monopol in einem beschränkten diskursiven Raum und können sich auf wenige konzentrieren; sie brauchen keine unmittelbare Konkurrenz zu befürchten und dürfen sich ausschließlich nach philosophischen Zielen richten. Exoterische Schriften zielen auf eine breitere, aber philosophisch weniger anspruchsvolle Leserschaft, esoterische auf weniger, aber sachkundigere Leser. Selbstverständlich ist kein Schriftsteller völlig wehrlos den Bedingungen des literarischen Markts ausgeliefert: Jeder Autor bildet auch die Leser mit, die er braucht. Aber Platon scheint eingesehen zu haben, dass er, wollte er eine geistige Umkehr bei seinen Zeitgenossen auslösen, diese erst mit dem Köder derjenigen literarischen Mittel anlocken musste, an die sie gewöhnt waren – um sie danach in eine völlig andere, philosophische Richtung zu lenken. In diesem Sinne sind seine Schriften mit ihrer Verbindung von Dialog und Mythos selbst in gewisser Hinsicht und bis zu einem gewissen Grade Beispiele für die edle Lüge, die nach der Politeia (3,414b) den Nichtsahnenden erzählt werden müsse, damit sie philosophische Ansichten akzeptieren, deren Wahrhaftigkeit sie selbst nicht mit triftigen Vernunftgründen zu prüfen in der Lage sind. Darf man aber daraus, dass sich die exoterischen Schriften des Platon und Aristoteles auch an nichtphilosophischen Lesern ausrichteten, schließen, dass sie in den Augen ihrer Verfasser philosophisch wertlos waren? Dass insbesondere die platonischen Mythen ausschließlich ein rhetorisches Mittel waren und selbst keine philosophische Substanz besaßen? Eine solche Schlussfolgerung wäre offenkundig absurd. Denn warum hätten die beiden ihre vielen exoterischen Texte verfasst und veröffentlicht, wenn sie ihnen keinen philosophischen Wert zugeschrieben hätten? Darüber hinaus bezieht sich Aristoteles in seinen esoterischen Schriften häufig auf seine eigenen exoterischen Veröffentlichungen, die er zweimal ausdrücklich als nützlich (chrēston) bezeichnet, und auch auf Platons Dialoge, aus denen er nicht weniger als siebzehn zitiert – warum, wenn er gewusst hätte, dass solche Schriften in den Augen seines Lehrers wertlos sind? Wenn Platons exoterische Schriften (um bei ihm zu bleiben) in seinen Augen nicht wertlos waren, welchen Wert hatten sie dann für ihn genau? Im Phaidros sagt Sokrates zweimal, Schriftliches habe nur diejenige Nützlichkeit, dass es jemanden, der die Wahrheit schon wisse, daran erinnern könne (Phdr 275 c–d, 278a). Sollen wir daraus schließen, dass Platon seine Dialoge nur für den schulinternen Gebrauch verfasste, um seine Schüler etwa an die Lehren zu erinnern, die er ihnen schon vorher mündlich vermittelt hatte? Dies scheint we-
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nig einleuchtend. Denn warum hätte er die außerordentliche schriftstellerische Sorgfalt auf seine Werke verwenden sollen, die man jeder Seite anmerkt, wenn sie nur eine Gedächtnisstütze für Unterrichtszwecke bildeten?13 Und wie könnte man die außerordentliche literarische Wirkung außerhalb der Akademie erklären, die Platons Schriften bei Xenophon, Isokrates und anderen Schriftstellern schon seit den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts entfalteten? Und aus welchem Grund schließlich hätte Platon in seinen Dialogen mit Vorliebe nicht bereits Wissende dramatisch dargestellt, sondern Nichtwissende, die um das Lernen ringen, Philosophen „in der Ausbildung“, die lernen müssen und lernen wollen? Plausibler scheint mir die Annahme, dass Platons Dialoge in erster Linie für solche Nichtwissende und potentiell Interessierte geschrieben wurden, d.h. für junge Männer und ihre Eltern, die wissen wollten, was sie im Leben machen sollten. Auf dem literarischen Markt Griechenlands, wo viele Wertvorstellungen feilgeboten wurden, konkurrierten die platonischen Schriften mit denjenigen anderer, die andere Werte propagierten, und warben für die eigene Position. Mit anderen Worten: Die Dialoge Platons wurden zumindest teilweise als Paränese und als Protreptik konzipiert.14 Sie wollten nichtphilosophische Leser erreichen und diese davon überzeugen, dass ihr Leben weniger wertvoll wäre, wenn sie nicht (platonische) Philosophie studierten. Anekdoten – Themistios berichtet, dass Axiothea von Arkadien durch die Lektüre der Politeia dazu bewogen wurde, nach Athen zu kommen, um als Mann verkleidet bei Platon zu studieren, und dass ein korinthischer Bauer durch die Lektüre des Gorgias zur Philosophie bekehrt wurde (Them. or 23,295c–d) – beweisen nur, dass einzelne antike Leser eine solche protreptische Wirkung in Platons Schriften verspürten, nicht, dass Platon selbst diese Wirkung beabsichtigt hätte. Vielmehr ist es die Struktur der ganzen Schriftlichkeit Platons, die nahelegt, dass er mit seinen Dialogen nichtphilosophische außenstehende Leser für seine Philosophie gewinnen wollte. Um sie zu erreichen, musste er die erfolgreichsten Strategien der literarischen Kommunikation in der griechischen Kultur studieren, meistern, einsetzen – und dann umwenden. Die Dialogform lernte er nach Aristoteles aus Werken von Alexamenos von Styros, nach anderen aus Zenon (Diog. Laert. 3.48); sophistische Lehrschriften, vielleicht auch gelegentlich als mythische Dialoge verkleidet (Prodikos über die Lebenswahl des Herakles, Hippias’ Trojanische Rede, die Epidemiai des Ion von Chios), mögen dabei auch eine Rolle gespielt haben ebenso wie Sophrons Mimiamben. Eschatologische Mythen konnte er in den Mysterien und in der Orphik kennenlernen. Dass darüber hinaus die attische Tragödie und das homerisch-hesiodische Epos Platons große Gesprächspartner und Rivalen waren, ist evident. Beide waren in Athen politisch institutionalisiert, an den großen Dionysien und den panathenäischen Festen, und beide waren damals die beherrschenden literarischen Formen. In Platons Augen be13 14
Zu Platon als einem literarischen Künstler vgl. neuerdings Nightingale [1995]. Vgl. Festugière [1973] und vor allem Gaiser [1959].
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nutzten beide Dichtungsarten ihre sprachliche Schönheit, ihren Appell an die Emotionen und ihre unhinterfragte Autorität, um ein falsches Bild dieser Welt und der Möglichkeiten für die Menschen darin vorzugaukeln. Er wollte seine literarischen Rivalen vielleicht nicht so sehr spurlos verschwinden lassen, als vielmehr endgültig ersetzen, indem er für dieselben Leser und Zuschauer, die sich an diesen Gattungen ergötzten, eine philosophisch richtige Version derselben anbot. Daher kann Platon seine Politeia sowie seine Nomoi einen guten Mythos nennen (Resp 2,376d; 6,501e; Lg 6,752a; 7,812a), oder aber letzteres Werk als die beste Tragödie bezeichnen (Lg 7,817b). Viele bekannte Aspekte der platonischen Dialoge rücken in ein etwas anderes Licht, wenn sie in diesem Kontext betrachtet werden. Die sogenannten „Aussparungsstellen“ zum Beispiel, in denen Platon Probleme benennt, die noch nicht oder nicht an diesem Ort, aber später oder sonstwo beantwortet werden können15, verweisen so gesehen nicht nur auf die Vorläufigkeit jeglicher sprachlicher Kommunikation oder auf die Grenzen der Schriftlichkeit an sich, sondern motivieren auch interessierte außenstehende Leser, sich der Akademie anzuschließen in der Hoffnung, dort endlich die ganze Wahrheit zu erfahren. Und die unverkennbare chronologische Entwicklung in Platons Œuvre als ganzem (wie unsicher auch immer die Erstellung einer genauen Reihenfolge der Schriften bleibt), eine Entwicklung von größerer Dramatik, Lebendigkeit und Unsicherheit hin zu längeren Monologen, Didaktik und Dogmatik, lässt sich nicht nur als eine allmähliche Veränderung in Platons eigenem Geschmack oder in seinen philosophischen Ansichten oder als Zeichen des Älterwerdens deuten, sondern auch als das Ergebnis seiner erfolgreichen Erziehung einer ihm ergebenen und von ihm durchtrainierten Leserschaft, der er mit der Zeit allmählich immer mehr zutrauen kann – wäre Platon so ungeschickt gewesen, um mit dem Parmenides oder Timaios seine schriftstellerische Karriere beginnen zu wollen, dann hätten wir wohl nie von ihm gehört. In diesem Projekt der Erziehung einer philosophischen Leserschaft sind Platons Dialektik und seine Mythen eng aufeinander bezogen. Es ist überhaupt nicht so, als stellte die Dialektik die einzige genuine Philosophie in Platons Schriften dar und als erlangten die Mythen eine eigene philosophische Qualität nur, insofern sie darauf bezogen werden könnten – Mythos und Dialektik ergänzen sich bei Platon wechselseitig und sind voneinander abhängig. Hier ist wieder auf die exponierte Stellung der platonischen Mythen aufmerksam zu machen, die immer entweder am Anfang oder am Ende einer längeren dialektischen Erörterung stehen: Vom Mythos aus geht man in eine Analyse seiner Bedeutung hinein, und die logische Auseinandersetzung mündet immer wieder in einen Mythos ein. Beide Diskursformen sind notwendig, da beide komplementäre Zugänge zur Wahrheit darstellen: Ohne Logos gäbe es in Platons Schriften keine Beweise, keine Analyse, keine Nachprüfbarkeit, keine intellektuelle Überzeugung; aber ohne Mythos gäbe es keine Modelle, keine 15
Vgl. Szlezák [1985]; Szlezák [1993].
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Gesamtschau, keinen Glauben, keine Motivation. Weil kein Mensch ausschließlich ein Philosoph ist und vor allem weil keiner der nichtprofessionellen Leser, die Platon mit seinen Dialogen erreichen wollte, ausschließlich ein Philosoph war, sind beide Diskurstypen in seinem Werk unabdingbar. Das hat auch einer der gewitztesten antiken Leser Platons, Lukian, bemerkt. Er sah, dass in Platons Werken zwei Bereiche systematisch voneinander getrennt, aber aufeinander bezogen sind: der Mythos, der mit absoluter Sicherheit vom Leben nach dem Tod in der Unterwelt berichtet, und der Dialog, der mit ständiger Unsicherheit und Skepsis um die Wahrheit im Leben in dieser Welt ringt. Kein platonischer Mythos ist genuin dialogisch, kein platonischer Dialog hat die Merkmale eines Mythos. Auch wenn alle oder fast alle der Charaktere der platonischen Dialoge nicht mehr am Leben waren, als diese verfasst wurden, sind sie innerhalb der Fiktion der Texte voll von Leben, von Zweifeln, von Reden. Lukian fragte sich, was passieren würde, wenn er die beiden streng getrennten Bereiche einmal vermischen würde. Wie würde ein philosophischer Dialog aussehen, der in der Unterwelt stattfände, dessen Teilnehmer tot und daher wissend wären? Seine Antwort: „Die Totengespräche.“
SEMANTIK UND KONTEXT: MYTHOS UND VERWANDTES IM CORPUS PLATONICUM Markus Janka Über mythos bei Platon ist viel zu hören und zu lesen, namentlich im notorisch schillernden Gespann mit dem logos.1 Selten allerdings sind Untersuchungen, die von einer erschöpfenden Erfassung des einschlägigen Wortmaterials und von eingehender Analyse des platonischen Sprachgebrauchs zeugen. Und das gilt selbst für Beiträge von Philologen, zu deren Geschäft bekanntlich Silbenstecherei und Wörterzählen ebenso gehören wie interpretatorische Höhenflüge und geistreiche Gesamtdeutungen. Immerhin haben sich einige Interpreten der mühevollen Aufgabe unterzogen, mit Hilfe der gängigen Indices die Belegstellen aus dem Corpus Platonicum ausfindig zu machen, zu sichten und zu katalogisieren. Leider ist die Klassifizierung in allen diesen Fällen unzureichend geblieben. Aussagekräftige Ordnungskriterien fehlen entweder gänzlich2 oder sie sind zu wenig trennscharf.3 Moors gebührt das Verdienst, sämtliche von ihm erfassten Belege in ihrem minimalen Mikrokontext vorgestellt und in acht Tabellen verschiedenen thematischen Rastern zugeordnet zu haben.4 Es ist hier beileibe nicht der Raum, dem Forschungsdesiderat einer umfassenden Auswertung des semantischen Umfeldes von mythos und Verwandtem bei Platon mittels subtilerer Abgrenzungskriterien abzuhelfen, doch können wir zumindest einen Anfang wagen: Dazu sei nach einem skizzenhaften Blick auf die Wortgeschichte von mythos vor Platon (I.) eine neue Ordnungssystematik für die platonischen Belege vorgeschlagen (II.) und unter gebührender Berück1
Vgl. zuletzt besonders Elias [1984] 208–238; Matthéi [1988]; Cerri [1991] 53–74; Droz [1992]; Gill [1993] bes. 51–69; Rowe [1999a]; Morgan [2000] 30–37. 2 Zaslavsky [1981] 223–229 legt als „Appendix 1“ lediglich eine nach lexikalischen Lemmata geordnete und als „exhaustive“ eingeschätzte Auflistung der Belege für mythos und seine Derivate ohne sinnerschließenden Kontext vor. 3 Der Anhang bei Brisson [1982] 177–183 („Données statistiques sur les occurrences de ,mūthos‘ dans le corpus platonicien“) ist für einen ersten Zugang sehr nützlich, bleibt aber zu stark dem rein statistischen Interesse verhaftet (etwa bei der nach Dialogen geordneten Rangliste der Häufigkeit 179), begnügt sich mit eher äußerlichen Klassifikationskriterien („Traditionelle Mythen“; „Platonische Mythen“; „Abgeleiteter Wortgebrauch“) (179–182) und berücksichtigt die Kontexte kaum. 4 Moors [1982] 35–77 („Plato’s mythical terms“). Seine beiden Hauptkategorien bilden – ähnlich wie bei Brisson – die „Dialogmythen“ („Table 1: Presented Myths“) und die „überlieferten Mythen“ („Table 2: Traditional Myths“). Morgan [2000] 162, Anm. 17 kritisiert zwar zu Recht, dass Moors die paramyth-Belege unberücksichtigt gelassen hat, denen sie zum Ausgleich große Aufmerksamkeit widmet (164–168). Sie können hier aber schon deshalb außer Betracht bleiben, weil sie für die Qualifizierung eines Textes als mythos o.ä. kaum erheblich sind.
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sichtigung der auffälligsten Untergruppierung – nämlich der dialogreflexiven Belege – ein differenzierteres Verständnis von mythos bei Platon gewonnen (III.): I. Am Anfang waren mythos und logos ihrer Bedeutung nach eins. Beide konnten das volle Spektrum der lateinischen Termini oratio „Rede, Ausspruch, (wahre oder falsche) Erzählung“ und ratio „Gedanke, wohlbegründete Darlegung“ abdecken. Diese ursprüngliche Verbundenheit des im homerischen Griechisch vorherrschenden mythos und des erst bei den Lyrikern, Vorsokratikern und frühen Historikern als statistisch gleichwertig etablierten logos führt zu einem für manchen wohl befremdlichen Befund: Noch in Platons Zeiten bleiben beide Begriffe – zumindest in poetischem Sprachgebrauch – austauschbar.5 In einem Fragment Demokrits heißt es: „Ein Mensch wahrer mythoi, nicht vieler logoi muss man sein.“6 Doch hatte sich im 5. Jahrhundert v. Chr. durchaus eine Differenzierung eingestellt, die den Weg zu der spätestens bei Platon explizit greifbaren Konfrontation beider Darstellungsweisen bahnte7: Dieser Weg führt über so unterschiedliche Autoren wie Pindar und Herodot: Der Chorlyriker formuliert in einer seiner poetologischen Reflexionen über die Macht des Wortes: „Ja, wunderbar ist viel, doch als Menschen- / gerede (brotōn / phatis) den wahren logos (,Gehalt‘) übertrumpfend / mit buntem, verfremdendem Aufputz / betrügen die mythoi (,Geschichten/Märchen‘)“ (Pindar, Ol 1, 44–47) und fügt andernorts lapidar hinzu: „Kunst (sophia) aber betrügt, indem sie durch mythoi verführt“ (Pindar, Nem 7, 32–34). Der Historiker setzt an einer Stelle seines ägyptischen logos (Geschichtsdarstellung) die „einfältige Legende“ (euēthēs mythos) von Herakles, der in Ägypten beinahe als Menschenopfer geendet hätte, vom logos (Überlieferung) über wirkliche Opferriten der Ägypter auch terminologisch deutlich ab (Herodot 2,45/47). Wenn Platon nun die Vokabeln mythos und logos so wenig einheitlich und so trickreich verwendet, dass sich mancher Interpret in ein Verwirrspiel verwickelt sieht8, so kann er sich dabei auf den komplexen Erwartungshorizont 5
Als Beispiel genüge der Hinweis auf die Sprache der Tragiker, vgl. Ellendt [1872] 461 zu Beginn seines Lemmas mythos bei Sophokles: „Velut lÒgoj sed poetarum usibus reservatum significat dictum, orationem“. 6 Demokrit VS 68 B44,1. 7 Burkert, HWPh 6, 1984, Sp. 281–283, hier 281, beruft sich für seine Einschätzung „Terminus der Distanzierung wird màqoj im 5. Jh.“ etwa auf Euripides, Hippolytos 197, wo Phaidras Amme beklagt, die Menschen würden durch „Märchen“ über das Jenseits „bloß an der Nase herumgeführt“ (mythois allōs pheromestha); Herodot 2,45 und Demokrit VS 68 B297. 8 Vgl. etwa Murray [1999] 256 über Platons Neigung, „seine Mythen von den Dialogpartien, in die sie eingebettet sind, in einer Weise abzuheben, die auf ihren problematischen
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seiner Leser stützen, der durch die intrikate Bedeutungsgeschichte der Begriffe bedingt ist. II. Allein der Umstand, dass Platon an einer oft zitierten Stelle seines Gorgias die Qualifizierung einer Erzählung als mythos oder logos von der subjektiven Überzeugung des Rezipienten abhängig macht (Gorg 523a1–2), sollte unsere Hellhörigkeit für den Kontext der mythos-Belege bei Platon auf den Plan rufen9: Jeden Einzelfall müsste man folgendermaßen befragen: Wer bezeichnet in welchem Zusammenhang und in welcher Tendenz was als mythos oder ähnlich? Bisherige Klassifizierungen fragten meist lediglich nach dem was, gelegentlich noch nach dem wer. Vor allem aber die Frage nach Bezugsrahmen (Referenz) und Tendenz trat unverständlicherweise in den Hintergrund. Ich schlage hingegen vor, die bei Zaslavsky und Moors (jeweils nicht ganz vollständig) aufgelisteten Platon-Belege für den Begriff mythos und seine direkten Derivate mythologein ([als] einen mythos vortragen/erzählen), mythologēma/mythologia (Erzählung eines mythos), mythologos/mythopoios (Erzähler/Erfinder von mythoi), mythikos (mythisch), mythologikos (mythenerzählerisch) und diamythologein (einen mythos in jeder Einzelheit ausführen) nach zwei bislang vernachlässigten Parametern zu gruppieren: I) Hinsichtlich der Referenz möchte ich dialogreferentielle Fälle von fremdreferentiellen unterscheiden: 1) Unter dialogreferentiell verstehe ich die Anwendung von mythos-Vokabular – auch in Vergleichen – auf im jeweiligen Gesprächszusammenhang ausführlicher behandelte oder gar für diesen Kontext weitläufiger entwickelte sprachliche Gebilde oder textuelle Phänomene. 2) Fremdreferentiell sei demgegenüber die Anwendung von mythos-Vokabular auf sprachliche Gebilde oder textuelle Phänomene, die im Gespräch zwar erwähnt sind, ohne aber als mythoi o.ä. näher ausgeführt oder ausgestaltet zu werden. II) Hinsichtlich der Tendenz, die der Sprecher gegenüber den von ihm erwähnten mythoi bekundet, sind grundsätzlich positive von neutralen/ unentschiedenen/ambivalenten und negativen Wertungen zu unterscheiden. Da die Grenze zwischen den ersten beiden Gruppen oft fließend ist, begnüge ich mich damit, a) Fälle von Affirmation durch ausdrücklich positive Einstufung und neutralen oder ambivalenten Gebrauch von b) Fällen der Distanzierung durch eindeutig negative Befrachtung des mythos-Vokabulars zu sondern. Status aufmerksam macht, namentlich durch seine Spielereien mit den Bedeutungen von mythos und logos“. 9 Vgl. Murray [1999] 256f.: „... dass ein eschatologischer Mythos in einem Dialog als logos und im anderen als mythos gekennzeichnet sein kann, spricht deutlich dafür, dass die diesen Wörtern zugedachte Bedeutung in hohem Maße vom Kontext abhängt“. Ähnlich schon Moors [1982] 69: „... der Kontext, in dem mythos-Termini auftreten, bildet einen wichtigen Parameter für die Bestimmung der Bedeutungen“.
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Durch die Kombination beider Parameter soll eine feingliedrigere Klassifizierung der Belege erfolgen, bei der auch die etablierte Dichotomie „Traditionelle Mythen“ – „Platons Mythen“ mitwirken kann, die manche durch die „Pädagogischen Mythen“ zur Trichotomie und die „Poetologischen Mythen“ zum Quartett erweitern. 1a) Die mit 57 Belegen größte Untergruppe verbindet Dialogreferenz mit affirmativer, neutraler oder ambivalenter Tendenz: Dies trifft natürlich zunächst – mit sehr wenigen, aber aufschlussreichen Ausnahmen – auf diejenigen erzählerisch ausladenden Partien in den Dialogen zu, die man gemeinhin als Platons Mythen etikettiert: Im Protagoras bezeichnet der Titelsophist seine Geschichte vom Ursprung der Menschen und ihrer Zivilisation, die er als im Vergleich zum logos „anmutigere“ (Prot 320c6–7 chariesteron) und einem älteren Erzähler angemessene Spielart der Epideixis über die Lehrbarkeit der politischen Kompetenz selbst gewählt hat (Prot 320c6–7), viermal als mythos (Prot 320c3; c7; 324d6; 328c3); Sokrates tut in seinem Rekurs am Ende des Dialogs ein Gleiches, wenn er sein Gefallen am „vorher schlauen“ Prometheus, wie er ihm „in der Geschichte“ (Prot 361d2 en tōi mythōi) des Protagoras vorgeführt wurde, bekundet und ihn zum Vorbild für den Wissensdurst im eigenen Leben kürt (361c7–d6).10 Im Phaidon schlägt Sokrates die Schilderung der „wahren Erde“ als „schöne“ und „hörenswerte“ Gesprächsvariante in mythischer Form vor (Phd 110a8–b1 ei ... kai mython legein kalon) und wird von Simmias in diesem Vorhaben mit folgender Zusicherung bestärkt: „Jedenfalls wir (Anwesenden) würden uns diese Geschichte (mythou) liebend gern anhören“ (Phd 110b3–4). Später bekennt Sokrates, er schwelge deshalb so ausgiebig in seinem Jenseitsmythos (Phd 114d7–8 palai mēkynō ton mython), weil er Geschichten von der Unsterblichkeit der Seele gleichsam als „Zauberformeln“ (Phd 114d6 hōsper epāidein) in den Dienst einer Selbsttherapie stelle. In der Politeia qualifiziert Glaukon Elemente der von ihm zur Veranschaulichung seiner advocatus-diaboli-These referierten Geschichte um den Lyder Gyges, der mit Hilfe eines nach Belieben unsichtbar und wieder sichtbar machenden Rings vom Hirten zum Herrscher aufstieg, ausdrücklich als „wundersame Sagenüberlieferung“ (ha mythologousin thaumasta) (Resp 2,359d6). Die Jenseitserlebnisse des scheintoten Pamphyliers Er, in Resp 10,614b2 als wahrhaftiger apologos (Bericht)11 bezeichnet, den man „sehr gerne hört“ (614b1), sind für Sokrates ein mythos, der durch Ers Rückkehr ins Leben „gerettet“, d.h. der Tradition einverleibt und vollständig erhalten wurde (621b8 mythos esōthē kai ouk apōleto), und auch „uns (Zuhörer) retten könnte, wenn wir denn daran glauben“ (621b8–c1).
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Wichtige Erläuterungen zu dieser schwierigen Stelle bietet Manuwald [1999] 448. Wörtlich: „kein Alkinoos-apologos“, also keines von den Lügenmärchen, wie sie Odysseus seinen phäakischen Gastgebern in Odyssee 9–12 aufgetischt hat. 11
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Das merkwürdige Sagen-Konglomerat um die Richtungswechsel in den Entwicklungsphasen von Kosmos und Menschheit, das der Gast aus Elea im Politikos entfaltet, um „auf einem anderen Weg, mit einem Schuss Kinderei/ Scherz gewürzt“ (Plt 268d5–8) Argumentationsfehlern in der Dihäreseübung auf die Spur zu kommen, wird vom Erzähler selbst ambivalent eingestuft: Anfänglich pleonastisch als „gewaltiger Brocken von Riesen-mythos“ (Plt 268d8–9)12, bald als eine Art „Kindergeschichte“, bei der man als junger Zuhörer gut aufpassen muss (268e4–5 tōi mythōi proseche ton noun), dreimal neutral als mythos (272d5; 274e1; 275b1), am Ende jedoch als „staunenswerte Masse (thaumaston onkon) von mythos und unangemessen großer Erzählaufwand ohne richtigen Schluss“ (277b4–6; b7–8). Ähnlich zwiespältig bewertet Sokrates in der Politeia das von ihm selbst vorgebrachte gennaion pseudos (edle Lüge) (Resp 3,414b9–c1) von der Erdentsprossenheit und göttlichen Formung der Bürger des von ihm konzipierten Staates, deren soziale Differenzierung durch die Beigabe unterschiedlicher Metalle erklärt wird. Diese von Sokrates als mythos angesprochene Fiktion (415a2) verdiene Verbreitung (415a3 phēsomen pros autous mythologountes), da sie zur Identitätsstiftung notwendig sei, bleibe aber – zumindest für die erste Generation von Bürgern – unglaubwürdig (415c6–d2). Eine Zwischenstellung zwischen der Pose eines Überlieferungsreferats und der Entwicklung einer betont eigenen Theorie nimmt der mehrmals vom Sprecher selbst als eikōs mythos (Darlegung mit dem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit, nicht auf widerspruchsfreie Wahrheit) titulierte Vortrag des Timaios im gleichnamigen Dialog ein: Programmatisch verteidigt Timaios die Beschränkung auf einen „menschenmöglichen“ eikōs mythos – in Ti 29c8 durch eikotas (scil. logous) vorbereitet – als „angemessen“ (prepei) (Ti 29d2–3) und wird darin von Sokrates bestärkt (29d4–6), der allerdings das „Poetische“ von Timaios’ Ausführungen durch ihre augenzwinkernde Bezeichnung mit dichtungsspezifischen Termini unterstreicht.13 Später wird mit Verweis auf das „Prinzip“ (idea) der eikotes mythoi auf farbenprächtige Ausgestaltung verzichtet (Ti 59c6); Timaios zeigt sich bestrebt, seinen eikōs mythos „zu retten“ (diasōizoi) (Ti 68d2), also bündig zu gestalten, und ihn nicht „kopflos“, d.h. ohne rechten und mit dem Vorigen konsistenten Abschluss stehen zu lassen (Ti 69b1–2). In den Nomoi stößt man auf einige kleinere mythoi, die affirmativ in das Gesetzgebungswerk integriert sind: Bei der Behandlung der „historischen“ Verfassungsentwicklung nach Gründung von Ur-Staaten im dritten Buch bemüht der Athener den mythos, d.h. hier die in der Ilias greifbare Version der Sage, von Ursprung und Gründung Troias als Beispiel für die dritte Stufe der politischen Organisation als gemischte und Verfassungswandel unterworfene 12
Zu dieser Lesart vgl. Janka [2002]. Vgl. Ti 29d5 prooimion (Prooemium) und 29d6 nomon (Lied, Weise) mit dem Kommentar von Taylor [1928] 75. 13
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Staatsform (Lg 3,681d7–9 triton ... politeias schēma), die nach väterlichdynastisch geleiteten Kleinverbänden und aristokratisch geordneten „Zusammenschlüssen“ zu größeren Gebilden eingetreten sei. Der Homer zitierende und auswertende Erzähler14 hält dem mythos hier verdeutlichende Funktion zugute: „Fahren wir doch mit dem mythos, der uns jetzt in den Sinn gekommen ist, noch etwas fort. Denn vielleicht erhellt er ja manches von unserem Vorhaben (sēmēneie ti tēs hēmeteras peri boulēseōs)“ (682a7–9). Diese Form der Beglaubigung rechtfertigt der Athener damit, dass Dichter aufgrund ihrer göttlichen Inspiration gleichsam schlafwandlerisch „viele wahre/wirkliche Vorgänge“ mit ihren Versen „zu greifen bekommen“ (pollōn tōn kat’alētheian gignomenōn ... ephaptetai) (682a3–5).15 Nachdem er seine verfassungsgeschichtliche „Archäologie“ in großem Bogen vom troianischen Sagenkreis zur dorischen Wanderung und Gründung Spartas weitergeführt hat, wechselt der Athener zwar seine Quelle, bleibt aber dem mythos treu: Er stützt sich nämlich im Folgenden auf die nach seinen eigenen Worten lückenlose Tradition der Spartaner: „Über die gesamte Folgezeit gibt es bei euch, ihr Lakedaimonier, Sagen und Geschichten, die alles abdecken (682e5–6 mythologeite te kai diaperainete)“.16 Im vierten Buch empfiehlt der Gast aus Athen, „im mythos ein wenig zusätzliche Argumentationshilfe zu suchen (mythōi smikra g’eti proschrēsteon), um die „jetzige Frage“ (nach der besten Herrschafts- und Regierungsform) auf stimmige Weise zu klären (emmelōs pōs dēlōsai)“ (Lg 4,713a6–7). Dem Athener geht es darum, die Herrschaft des Kronos, dessen „Menschenherden“ unter der Regentschaft übermenschlicher Daimones in paradiesischem Frieden und Wohlstand lebten, als göttliches Vorbild für das bestmögliche menschliche Gemeinwesen zu etablieren (713b2–4). Kleinias lobt diese Wendung des Gesprächs überschwänglich (713b8) und fordert den Gast auf, seinen mythos, den der Athener sowohl als phēmē (Sage) (713c2) als auch als logos bezeichnet (713e4), „Punkt für Punkt zu erzählen“ (713b8–c1). In seinem Resümee befragt der Athener die Geschichte auf ihren „wahren Gehalt“ (alētheiāi chrōmenos) (713e4) und meint damit, wie der Kontext zeigt, ihre Botschaft für die Errichtung einer gerechten Herrschaftsordnung, welche dem Modell der selbstlosen Fürsorge höherer Wesen über niedrigere Schutzbefohlene nacheifern sollte. Im strafrechtlichen Teil der Nomoi rekurriert der Athener mit erstaunlicher Anerkennung auf Rachemythen: In seine Behandlung der Tötungsdelikte bindet 14
Vgl. dazu Schöpsdau [1994] 372f. Zu diesem – vor allem im Vergleich mit der Politeia – positiven Bild des dichterischen Enthusiasmos vgl. Schöpsdau [1994] 373f. 16 Vgl. Schöpsdau [1994] 375–378, bes. ausführlich zu Parallelen bei Historikern und zu Quellenfragen, bei deren Bewertung immer damit zu rechnen ist, dass Platon nicht nur „sonst gänzlich verschollenen Traditionen folgt“ (377), sondern gerne auch Traditionen fingiert. 15
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er die „alte Überlieferung von Ur-mythoi“ über Getötete, die als Gespenster die Täter nicht zur Ruhe kommen lassen, als „nicht verächtlich“ mit ein (Lg 9,865d5–6). In ähnlicher Weise verankert er seine Normen zum Verwandtenmord in der „alten priesterlichen Überlieferung“ über die Vergeltung solcher Taten nach dem Gesetz „Der Täter muss seine Tat am eigenen Leib erfahren“ (drasanti ... pathein) (Lg 9,872d7–e5). Er gibt sich unentschlossen, ob er solche Traditionen als „mythos oder logos“ betiteln soll (872d7–e1). Beide Darstellungsweisen ergänzen sich wechselseitig, wenn der Athener im zehnten Buch der Nomoi von der Providenz und Gerechtigkeit der Götter handelt. Er erklärt dort nämlich, einem durch logoi (Argumentationstechnik) bereits zum Eingeständnis seines Irrtums „gezwungenen“ jugendlichen Renegaten „zusätzlich durch die Bezauberung gewisser mythoi“ die richtige Haltung einimpfen zu wollen (Lg 10,903a10–b2). Die zu diesem Zweck vorgestellte Veranschaulichung der göttlichen Fürsorge für Kosmos, Menschheit und Individuum führt der Erzähler dann allerdings als „überzeugende logoi“ ein (903b4). In zwei Nomoi-Belegen wird dem mythos sogar eine vor- oder übergesetzliche Wirksamkeit zugeschrieben: Im vierten Buch legt der Athener als „einzigen (heiligen) Spruch über die Ehe“ (Lg 6,773b4–5 heis ... mythos gamou) fest: „Jeder muss eine für die Stadt nützliche Ehe eingehen, nicht die für ihn selbst angenehmste“. Im Schlussteil des Dialogs geht es dem Gesprächsführer um die Waisenfürsorge: Den Zorn des Gesetzgebers bekomme nicht zu spüren, wer „dem vorgesetzlichen mythos gehorche“ (Lg 11,927c7–8 peistheis tōi pro tou nomou mythōi) und Waise von sich aus gut behandle. Hier bedeutet mythos so etwas wie „Stimme der Natur“ oder „Naturrecht“. Etwas beunruhigender als die bislang betrachteten, zumeist eher konventionellen Verwendungsweisen von mythos sind diejenigen Fälle, in denen die für den platonisch-sokratischen Elenchos typischen Gesprächselemente, -techniken und -verfahren als mythos qualifiziert werden. So vergleicht im Gorgias Sokrates seinen eigenen Wortwechsel (logos) mit Kallikles mit einem mythos, der nicht „kopflos“, also unvollendet, in der Gegend herumschwirren dürfe (Gorg 505c10–d3). Erst recht können längere Einlassungen eines Gesprächspartners, um die sich die Diskussion rankt, mit mythischem Vokabular bedacht sein, das auf die Poetizität dieser Texte verweist: Im Phaidros leitet Sokrates mit einer ironischen Beistandsbitte an die Musen17 seine erste, wider besseres Wissen und in schamhafter Verhüllung gegen den Verliebten gerichtete Rede über Eros ausdrücklich als mythos ein (Phdr 237a9), dem, wie er nach dem Abbruch der Geschichte18 betont, „(genau) das zustoßen wird, was ihm zustoßen soll“ 17
Vgl. Heitsch [1997] 20, Anm. 8 zu „greift mir unter die Arme...“: „Vermutlich poetische Reminiszenz. Nicht identifizierbar“. 18 Sokrates begründet diesen Abbruch nach dem Tadel des Verliebten (und vor einem Lob des Nichtverliebten) damit, dass der genius loci ihn ohnehin schon zu dichterischem
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(241e8–9 ho mythos hoti paschein proshēkei autōi, touto peisetai). Es handelt sich also wieder um einen – trotz seiner fast gleichzeitigen Bestimmung als logos mit freilich willkürlichem Ende in 241d3 – „anfälligen“ und damit ambivalenten mythos. Seine als Palinodie vorgetragene zweite Rede über Eros bedenkt Sokrates dann rückblickend mit positiveren Attributen.19 Er spricht von einem „logos nicht ganz ohne Überzeugungskraft“ und „einer Art mythischem Lobpreis (mythikon hymnon), mit dem wir angemessen (metriōs) und fromm (euphēmōs) eine spielerische Huldigung (prosepaisamen) an meinen und deinen Herrn Eros formuliert haben“ (265b8–c2). Phaidros quittiert dies mit einer wohlwollenden Kritik der Rede als „zumindest für mich ganz und gar nicht unvergnügliches Hörerlebnis“ (265c4). Daraufhin bezeichnet Sokrates die gesamte sachliche Einkleidung der Reden – das Thema der Doppelnatur des Eros also – als „wahrlich scherzhaftes Spiel“ (265c8–9 tōi onti paidiāi pepaisthai), um davon lediglich den für seine Lieblingsmethoden „Begriffszergliederungen“ (dihaireseis) und „definitorische Zusammenfassungen“ (synagōgai) auswertbaren Ertrag gelten zu lassen. In Anbetracht von Platons dehnbarem Begriff des mythos wird es kaum wundernehmen, dass er nicht nur Götter- und Ursprungsgeschichten im engeren Sinn, sondern auch bildliche oder gleichnishafte Illustrationen im terminologischen Umfeld des mythos ansiedelt: Im Gorgias macht sich Sokrates die Gleichnisreihe des „vermutlich italischen oder sizilischen, phantasiebegabten ,Sinnbildners‘/,Geschichtenerzählers‘“ (493a5–6 mythologōn kompsos anēr, isōs Sikelikos tis ē Italikos) zu Eigen, demzufolge die Unersättlichkeit des begehrlichen Seelenteils an ein undichtes Fass gemahne. Wenn Sokrates die Methode seines Gewährsmanns explizit übernimmt (493d3 mythologō), so baut er dabei auf die Überzeugungskraft (493d1 peithō ti se...?) solch bildhafter Erzählungen, die selbst einem so widerspenstigen Gegenüber wie Kallikles die These vom größeren Glück der Anständigen im Vergleich zu den Schuften nahe bringen müssten. Freilich scheitert Sokrates nicht nur mit diesem ersten Versuch (493d4), sondern auch mit seinem „zweiten Bild“ (allēn soi eikona legō) (493d5) aus der nämlichen „Schule“ an dem halsstarrigen Kallikles, der bei seinem: „Du überzeugst mich nicht, Sokrates“ (ou peitheis, ō Sōkrates) (494a6) bleibt. Auch der bildhafte mythos setzt also für ihn aufgeschlossene Rezipienten voraus, um seine Wirkung entfalten zu können. Als Sokrates an einer Stelle des Phaidros auf seine vorher eingeführte Dreiteilung der Seele intratextuell zurückgreift, um das Gleichnis vom SeelenEnthusiasmos hingerissen habe, unter dessen Einfluss er „bereits in epischen Versen rede und nicht mehr bloß in Dithyramben“ (241e1–2). 19 Für die unterschiedliche Bewertung beider Reden durch den Sprecher selbst ist auch sein abschließendes Gebet an Eros aufschlussreich (257a3–b6): Er widmet dem Gott die nach seinen Kräften „schönst- und bestmögliche Palinodie“ und bittet für „den früheren logos“ um Vergebung, an dem überdies Lysias als „Vater des logos“ die Schuld trage.
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wagenlenker und den beiden Seelenpferden20 weiter auszugestalten, betont er, diese Dreiteilung entspreche derjenigen, die er „am Anfang dieses mythos“ vorgenommen habe; sie solle „auch jetzt noch für uns Gültigkeit behalten“ (Phdr 253c7–d1). Wollte Sokrates hiermit auf den Beginn seiner zweiten Rede über Eros verweisen, so würde er ein doch recht großzügiges Verständnis von „Anfang“ an den Tag legen.21 Es spricht also viel dafür, dass er mit toude tou mythou (253c7) speziell seine in 246a3 begonnenen Ausführungen über das Wesen (idea) der Seele im Auge hat, die zwanglos in die Schilderung der Seele des Verliebten übergehen. Und für dieses Thema hatte er sich von vornherein programmatisch auf die anthrōpinē kai elattōn dihēgēsis (menschenmögliche und kürzere Darstellungsvariante) (246a5–6) des Gleichnisses (246a5–6 hōi ... eoiken ... eoiketō) beschränkt. Im neunten Buch der Politeia entwickelt Sokrates unter expliziter Berufung auf „mehrgestaltige Wesen in alten Sagen“ (Resp 9,588c2–3 hoiai mythologountai palaiai genesthai physeis) wie Chimaira, Skylla oder Kerberos sein Bild (588b10 eikona plasantes tēs psychēs) von den widerstrebenden Trieben in der menschlichen Seele mit ihren „(wirklich) menschlich-zahmen“ und „tierisch-wilden“ Neigungen. Dieses Bild stellt Sokrates in den Dienst einer „sanften Überzeugungsarbeit“ (589c6). Im ersten Buch der Nomoi unternimmt der Gast aus Athen das Gedankenexperiment (Lg 1,644d7 dianoēthōmen houtōsi), sich die Lebewesen (konkret: Seelen) als Marionetten (thaumata) an göttlichen Drähten und Fäden mit unterschiedlichen Zugrichtungen (helxeis) vorzustellen,22 wobei es darauf ankommt, unter Mühen der „goldenen“, sanften und schönsten Bewegung hin zu aretē (gutes Leben) und nomos (Gesetz) zu folgen (für die man [göttlichen] ,Anschub‘ brauche, da die Vernunft in ihrer Gewaltlosigkeit nicht genügend Kraft aufbringe), den an einem zerrenden „rauen“ Drähten/Verführungen der kakia (Schlechtigkeit, Bosheit) aber zu widerstehen (644d7–645b1). Diese Allegorie funktionalisiert der Erzähler als „geretteten mythos“ (645b1–2) zur Erklärung (645b3 phaneron an gignoito) der oft mühseligen Entscheidung für das Gute in Individuen und Staaten, die ein Aufgreifen des „wahren Gehalts“ (645b4 logon alēthē labonta) dieser Geschichte voraussetze. Er weitet diese Nutzanwendung noch auf die definitorische Klärung von „gut“ und „übel“ sowie auf Fragen der Erziehung und des Weintrinkens aus (645b8–c6). Noch ungewöhnlicher erscheint die selbstreflexive Anwendung von mythosVokabular auf Dialogpartien, die sich selbst bei engherziger Betrachtung weder 20
Zu Ursprüngen, Gestalt und Bedeutung des Bildes von der geflügelten Seele und vom Seelengespann vgl. eingehend Heitsch [1997] 93–100. 21 Tatsächlich führt er sein Gleichnis nämlich keineswegs zu Beginn der zweiten Rede ein, sondern erst nach den einleitenden Darlegungen über die Formen göttlichen Wahnsinns (243e9–c1) und die Unsterblichkeit der Seele (243c1–246a3). 22 Zu diesem Bild vgl. ausführlich Schöpsdau [1994] 228–239, u.a. über Beziehungen zum Seelenwagen des Phaidros und inhaltliche Berührungspunkte mit Resp 10,603d ff.
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als märchenhafte noch bilderlastige „Digressionen“ aus dem Gesprächsganzen herauslösen lassen: Im Theaitet kennzeichnet Sokrates die von ihm beifällig referierte Bewegungstheorie der Wahrnehmung nicht nur – wohl scherzhaft – als „Mysteriengeheimnisse“ (Tht 156a3 mystēria), sondern – auf die Auswertung im Elenchos überleitend – auch als houtos ho mythos (156c4). Diese Variante begegnet in den Nomoi auffallend oft: Im vierten Buch will der Gast aus Athen eine im Gespräch gewonnene Maxime für die beste staatliche Rechtsordnung, nämlich dass herausragende Fähigkeiten (dynameis) einzelner Bürger mit Verstand (phronein) und Beherrschtheit (sōphronein) gepaart sein müssen, „wie einen mythos als Orakelspruch (ein Wort mit göttlicher Weihe also) verkündet“ wissen (Lg 4,712a4). Im siebten Buch fordert der Athener im Kontext der gesetzlichen Regelungen (nomothesia) über frühkindliche Erziehung, die seelischen Aspekte der Angelegenheit „in der Weise durchzugehen, mit der wir bei der Besprechung der mythoi über die körperlichen Belange angefangen haben“ (Lg 7,790c3). In diesem Fall verweisen die mythoi also auf ein vorbildliches Gesetzgebungsverfahren, das im Gespräch der Nomoi entfaltet wurde. In ganz ähnlicher Weise besiegelt der Athener seine Vorschriften über den Lese- und Literaturunterricht, den man der Jugend angedeihen lassen soll, mit den Worten: „Damit soll jetzt und hier mein mythos beschlossen sein, soweit er von Sprachlehrern und Literatur handelt“ (Lg 7,812a1–3). In solchen Stellen erlangt mythos eine autoritative Kraft, die unmittelbar aus den Erörterungen im (dia)logos hervorgeht und diese gleichsam überhöht. Ebenso redet der Athener auch in der pseudoplatonischen Epinomis bei der Festlegung von Thema und Funktion des Dialogs als Anhängsel an die Nomoi, das die dort ausgesparte Frage nach dem Wesen der sophia (Weisheit) respektive ihrer Typen ins Visier nimmt: Beim Ausklang des programmatischen Satzes kündigt er die Klärung von Art und Anzahl der Einzel-sophiai an, über die jemand verfügen müsse, um „sophos zu sein gemäß unserem mythos“. Dass sich mythos hier viel eher auf die Gedankengänge des gegenwärtigen Dialoges bezieht als auf das Gespräch der Nomoi, scheint mir evident zu sein.23 Am Rande gehört in diese Gruppe auch eine Stelle im Siebten Brief, in dem der Autor auf seine Darlegungen über die Stufen der Erkenntnis als mythōi te kai planōi „lange und irrlichternde Geschichte“ verweist ([Ep] 7,344d3).24
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Anders urteilt Moors [1982] 37; 70, Anm. 3: „Der hier gemeinte ,Mythos‘ ist die Entwicklung einer ,Stadt im Gespräch‘ in den Nomoi, die der Fremde ... als Mythos betrachtet“. Für eine solche, grundsätzlich plausible transtextuelle Referenz fehlen hier aber kontextuelle Indikatoren. 24 Im achten Brief bezeichnet mythologein ([Ep] 8,352e1) „mahnende Berichte“ über die aktuellen politischen Wirren auf Sizilien, zu denen der Autor die Adressaten (Dions Parteigänger) auffordert. Dies scheint von Platons genuinem Sprachgebrauch weit entfernt.
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Doch damit nicht genug: Gelegentlich lässt Platon seine Figuren auch die Leitthemen, die für die Konstruktion seiner längsten Dialoge prägend sind, mit mythoi vergleichen oder gar als solche bezeichnen: Dem polis-Entwurf in der Politeia widerfährt solches zweimal: In einer methodischen Zwischenüberlegung im zweiten Buch, in der Sokrates mit Adeimantos die Frage der Erziehung der Wächter auf ihre Relevanz für das Problem von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Staat hin untersucht und zu einem positiven Urteil kommt, beschließen beide, an dieser Betrachtung/Prüfung (skepsis) festzuhalten, auch wenn sie „weitschweifiger geraten sollte“ (makrotera tynchanei ousa) (Resp 2,376d6–7). Das Moment der Ausführlichkeit veranlasst Sokrates dann zu folgendem Vergleich: „Bilden wir die Männer also im Rahmen unseres Gespräches (logōi) aus, indem wir uns wie beim Erzählen von Märchen und Geschichten (hōsper en mythōi mythologountes) genügend Muße dafür gönnen!“ (376d9–10) Im sechsten Buch verweist Sokrates durch wörtliche Reminiszenzen auf diese Stelle zurück. Er kontrastiert dort nämlich die erzählerische Ausgestaltung der politeia im Gespräch mit ihrer praktischen Umsetzung, die nur dann gelingen könne, wenn die Philosophen die Regierung übernähmen, eine Ansicht, die nach wie vor Empörung hervorrufen würde (Resp 6,501e2–5, bes. e4–5 hē politeia hēn mythologoumen logōi ergōi telos lēpsetai). An diesem Beispiel ist besonders lehrreich, wie hier eine Antithese zwischen dem kaum binnendifferenzierten Gespann mythos und logos (fiktionaler, theoretischer Diskurs) einerseits und ergon (Lebenspraxis) andererseits aufgebaut wird. Im Timaios findet sich eine Bezugnahme des Kritias auf Sokrates’ „gestrigen“ Staatsentwurf, die man mit guten Gründen als intertextuelle Referenz auf die Politeia zu verstehen geneigt ist (Ti 25e2 ff.).25 Immerhin vergleicht auch Kritias das von Sokrates konzipierte Gemeinwesen mit einem mythos außerhalb der historischen Zeit und des historischen Raumes, wenn er folgenden Plan verkündet: „Die Stadt und die Bürger, die du uns gestern gleichsam im mythos in allen Einzelheiten vorgeführt hast (diēieistha), wollen wir jetzt in die Wirklichkeit transportieren (metenenkotes epi talēthes)“ (26c7–d1). Damit beabsichtigt er konkret eine Historisierung von Sokrates’ polis, indem er deren Bürger fiktiv mit den Bewohnern des von Kritias offenbar als geschichtlich akzeptierten Ur-Athen gleichsetzt (26d1–e1), was sogar Sokrates’ Billigung findet (26e2–6). Tatsächlich kleidet Platon damit natürlich nur seinen „dialektischen“ mythos der Politeia in einen pseudo-historischen mythos im Dunstkreis der Atlantisgeschichte um (siehe dazu unten). Auch zu Beginn des sechsten Buches der Nomoi wird die bisher im Dialog geleistete Konzipierung einer wohl geordneten polis als mythos resümiert. Der Athener versichert Kleinias, er werde ihm „im Stil der gegenwärtig von uns
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Diese Ansicht scheint auch Rowe [1999a] zu teilen, demzufolge Platon seine Leser zur Identifikation beider poleis geradezu einlade (263f.).
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betriebenen mythologia (erzählerischer Entwurf)26 weiter unter die Arme greifen (syllēpsesthai)“ (Lg 6,751e2–752a1). Er wolle damit verhindern, dass der mythos „kopflos/unvollendet“ (akephalos) bleibe und „unansehnlich“ (amorphos) erscheine, wenn er sich in diesem Zustand „überall herumtreibe“ (planōmenos ... hapantēi) (752a2–4). Wieder einmal erweist sich der mythos als gefährdet und hilfsbedürftig: Er ist – aus der Sicht seines Autors – ein Gesprächskonstrukt oder fiktives Gebilde, das aus sachlogischen wie ästhetischen Gründen einer Abrundung bedarf. Es ist ebenso erstaunlich wie folgerichtig, dass Platon an drei Stellen das gesamte Programm eines Dialoges (oder doch wesentlicher Teile davon) als mythos einstufen lässt: Als die Unterredner des Phaidon sich gegen Anfang des Dialogs über ihr angesichts von Sokrates’ bevorstehender Hinrichtung nahe liegendes Thema Tod und Jenseits verständigen, meint Sokrates: „Vielleicht kann ja jemand, der die Reise dorthin anzutreten im Begriff ist, nichts Passenderes tun (malista prepei), als diese Reise gedanklich zu beleuchten und Geschichten darüber zu erzählen (diaskopein te kai mythologein)“ (Phd 61d10– e2). Der kundige Leser mag bemerken, dass Platon seinem Sokrates mit dieser oxymorisch wirkenden27 Dichotomie die Grobdisposition und gleichzeitig das Hauptproblem des Gesprächs in den Mund gelegt hat: Nach den Versuchen, die Unsterblichkeit der Seele in vier Anläufen argumentativ zu erweisen, werden die erzählerisch entfalteten „Zaubersprüche“ des mythos erklingen.28 Denn wie sollen Lebende unter Verzicht auf „Sagen und Geschichten“ über den Tod argumentieren? Beiden Verfahren wird programmatisch Situationsangemessenheit zugute gehalten. Doch beide Verfahren sind – gerade bei diesem Thema – kaum allzu scharf zu trennen. Dies zeigt der Sprachgebrauch an einer späteren Stelle: Dort nämlich scheint Sokrates diamythologōmen (spinnen wir unsere Geschichte doch weiter) (Phd 70b6) und diaskopeisthai (die Betrachtung fortsetzen) (70c3) synonym zu verwenden, indem er beide auf denjenigen Unsterblichkeitsbeweis bezieht, der auf dem „Kreislauf“ des Werdens und Vergehens gründet. Sokrates’ Gesprächspartner Kebes bekennt dort, er würde Sokrates’ Meinung (doxa) darüber „gerne hören“ (70b8 hēdeōs an akousaimi). Vielleicht dürfen wir das alles als Fingerzeig Platons darauf lesen, dass sich schon in diesem Beweisgang, in dem ja Hades, Seelenwanderung und
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Vgl. dazu Schöpsdau [1994] 192 zu Lg 1,632e4–5: „Das Gespräch der drei Greise ist ,vernünftiger Zeitvertreib‘ (... 685a7–8) zum Verkürzen des langen Weges (... 625b6). Sein Inhalt ist muqolog…a ..., d.h. theoretische Reflexion, die nicht unmittelbar auf gesetzgeberische Praxis zielt“. 27 Vgl. dazu Rowe [1993] 125, der auf Platon-Parallelen für den Vergleich der Diskussion mit „Geschichtenerzählen“ verweist und dieses Verwischen von sprachlichen Grenzen im Phaidon für thematisch geboten erachtet. 28 Zum Komplex der sokratischen „Magie“ vgl. Belfiore [1980] (mit älterer Lit.).
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Wiedergeburt zur Sprache kommen, erzählerische und argumentative Züge gegenseitig stark durchdringen.29 In einer methodischen Vergewisserung zu Beginn des Nomoi-Gespräches stellt der Athener sein Dialogkonzept von der Behandlung der einzelnen staatstragenden „Tugenden“ (aretai) nach dem Muster der Tapferkeit vor. Die an diesem Gespräch, das er als koinos ... logos (gemeinsame Unterhaltung) (Lg 1,633a3–4) begreift, Beteiligten bezeichnet er als diamythologountes, Leute also, die „eine Geschichte Punkt für Punkt durchgehen“ (632e4–5). Gut vergleichbar ist auch der Gebrauch von diamythologein gegen Ende der Apologie, wo Sokrates seinen „Nachtrag“ an die ihm wohlgesonnene Minderheit von Stimmberechtigten mit diesem Programmbegriff einleitet: „Denn nichts hält uns davon ab, einander Geschichten zu erzählen (diamythologēsai), solange es noch erlaubt ist“ (Ap 39e5–40a1). Die folgenden Schlussworte über seine Hoffnung auf die Segnungen des Todes behandeln auch das Seelengericht und die Begegnung mit Heroen im Jenseits, Überlieferungen, die Sokrates als „möglicherweise wahre legomena (Erzählungen)“ (40e5–6; vgl. auch 41a3 legontai; c7) einschätzt. Auch das Programm des Kritias, in dem der Gesprächsführer die Auseinandersetzung zwischen Ur-Athen und Atlantis einlässlich ausbreitet, wird von Kritias selbst – zumindest indirekt – als „Erzählung von mythoi (Geschichten)“ deklariert. Zu Beginn seiner Geschichte erklärt er nämlich den Verlust resp. die Lückenhaftigkeit griechischer Anfangsgeschichten damit, dass „Sagenüberlieferung (mythologia) und gründliche Erforschung der Altertümer (anazētēsis te tōn palaiōn meta scholēs)“ (Krit 110a3–4) erst in höher entwickelten Gemeinwesen Platz fänden, wenn die elementaren Bedürfnisse der Bewohner befriedigt seien. In dieser Junktur scheint Platons Kritias kaum Gewicht auf einen Unterschied zwischen legendärer Tradition und systematischer Erforschung der Frühgeschichte zu legen.30 1b) Die Gruppe der eindeutig negativ konnotierten, dialogreflexiven Belege ist mit neun Stellen relativ schwach bestückt. Negative Färbung ergibt sich im Wesentlichen aus drei Formen ausdrücklich betonter Defizienz des mythos, die auch kombiniert auftreten und daher im Folgenden nicht streng gesondert sind: a) Mangel an Wahrheit (erkenntnistheoretisch). b) Erzähler- oder adressatenbedingter Mangel an Seriosität (generationsspezifisch). g) Ethisch-religiöse Makel (moralisch/pädagogisch). Dabei fällt auf, dass sich niemals ein Gesprächsführer mit seiner Autorität von einem Dialog-mythos durch eindeutig abwertende Stellungnahmen distanziert. Indes wird mythos durchaus gelegentlich als Distanzbegriff mit 29 Rowe [1993] 153 betont die Relevanz dieser Koppelung gegensätzlicher Redeweisen für die Leserlenkung. Der Rezipient werde „gleichzeitig davor gewarnt, den Argumenten als solchen allzu großes Gewicht beizumessen und daran gemahnt, dass es Sokrates todernst meint mit seinen Ausführungen“. 30 Vgl. Gill [1980] 55 mit Parallelen und Gegenbeispielen.
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bisweilen vagem Dialogbezug gebraucht, um subjektive Sichtweisen auf im Gespräch Entfaltetes antithetisch voneinander abzugrenzen: Das bekannteste Beispiel hierfür stammt aus dem Gorgias, wo Sokrates zu Beginn und am Ende seiner abschließenden Erzählung vom Seelengericht im Jenseits die beiden Grundhaltungen gegenüber solchen Geschichten idealtypisch bestimmt: Seinem Hauptkontrahenten Kallikles unterstellt er unwidersprochen die Diffamierung dieser Geschichte, die für Sokrates ein „sehr schöner und wahrer logos“ ist (Gorg 523a1–3), aus dem er im Vertrauen auf seine Wahrheit argumentative Konsequenzen zieht (524a8–b2), als mythos (523a2). In solchem Kontext muss das Wort eine unwahre und unglaubwürdige Geschichte (Märchen, Fabelei, Hirngespinst) meinen, zumal Sokrates bei seiner ringkompositorischen Wiederholung am Ende gar von einem „mythos wie von einer alten Frau (hōsper graos)“ (527a5) spricht, was unserem „Altweibergeschwätz“ oder „Ammenmärchen“ sehr nahe kommt. Im Anfangsgespräch des Timaios wird die Distanzierung von bestimmten mythoi durch einen erzähltechnischen Kniff aus der Runde der Dialogpartner heraus in ein von einem Sprecher referiertes Gespräch vorverlagert: Kritias erzählt dort einen durch lange – sicherlich von Platon fingierte – Familientradition beglaubigten Gedankenaustausch zwischen Solon und einem ägyptischen Priester über die griechischen Ursprungsgeschichten (Ti 22a5 ta archaiotata) nach: Dabei repräsentiert Solon die „junge“ Mythologie, während das „historische“ Gedächtnis des in Altertümern höchst bewanderten Ägypters bis auf die angeblich viel älteren, im griechischen Bereich verschütteten Berichte von Ur-Athen und Atlantis zurückreicht. Die „ewigen Kinder“ aus Griechenland (22b4–5) haben daher einen verengten Blick selbst auf ihre eigenen mythoi. Der uralte Priester demonstriert dies, indem er anhand der Geschichte (legetai) von dem durch Phaethon ausgelösten Weltenbrand die „märchenhafte Einkleidung“ (mythou schēma) von ihrem „wahren Gehalt“ (to de alēthes esti), d.h. ihrem „astronomisch“ erklärbaren Hintergrund, unterscheidet (22c7–d3).31 Etwas später verwirft er die von Solon als Geschichten des Anfangs erzählten Sagen (22b1 mythologein) um Phoroneus, Niobe, Deukalion und Pyrrha sowie die Stammbäume von deren Abkömmlingen (22b2 genealogein) geradezu als „Kindergeschichten“ (23b5 paidōn brachy ti diapherei mythōn). Diese Kritik zielt vor allem auf die Leichtgläubigkeit der naiven Rezipienten, die mit ihrem „kindlich“ eingeschränkten Horizont für solche Erfindungen empfänglich seien, ohne von ihrer „wahren“ und glorreichen Urgeschichte auch nur das Geringste zu ahnen (23b2 ouden eidotes; b8 ouk iste). Sokrates begrüßt Kritias’ Vorschlag, seinen theoretischen Staatsentwurf durch die Bevölkerung von Ur-Athen im folgenden Gespräch zu verlebendigen, als „ausgesprochen situationsangemessen“ (26e4 prepoi malista). Für ihn ist dabei „von sehr großem Gewicht“ (26e5 pammega), dass es sich bei dieser Überlieferung „nicht um einen erfundenen mythos, sondern um einen wahren 31
Zu Parallelen vgl. Gill [1980] 41 zur Stelle.
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logos“ (26e4–5 mē plasthenta mython, all’ alēthinon logon) handele. Mythos ist hier wegen seines Wahrheitsdefizits negativ befrachtet, um den Kontrastbegriff, der ja auf eine im landläufigen Sinn mindestens ebenso unglaubwürdige Geschichte angewendet wird, nach außen hin noch positiver zu besetzen und damit eine ironische Spannung beim Leser zu erzeugen.32 Gegen Ende des dritten Buches der Nomoi fordert der Gast aus Athen seine Gesprächspartner auf, die Triftigkeit seiner längeren Ausführungen über die Geschichte Athens und Griechenlands während der Perserkriege für das gesetzgeberische Programm des Dialogs zu überprüfen (Lg 3,699d8 ei ti pros tēn nomothesian proshēkonta legomen). Denn seine längere Erzählung erfolge nicht um ihrer selbst willen, sondern solle funktional sein (699d8–e1 ou gar mythōn heneka diexerchomai, hou legō d’ heneka). Hier wird mythos im Sinne einer detailverliebten Vergangenheitsschilderung als Selbstzweck zum Distanzbegriff. Bleiben noch zwei Fälle zu berücksichtigen, bei denen Bestandteile des Dialogs mit schlecht beleumundeten mythoi verglichen werden: Anlässlich eines dilemmatischen Dissenses im ersten Teil des Philebos verleiht Sokrates seiner Befürchtung Ausdruck, die bisher gewonnenen Ergebnisse des Gesprächs (logos) drohten „wie ein mythos verloren zu gehen und sich eilends (in Nichts) aufzulösen“ (hōsper mythos apolomenos oichoito) (Phlb 14a3–4). Die Unterredner könnten dann nur noch bei etwas Rettung finden, was nicht logos ist (autoi de sōizoimetha epi tinos alogias) (14a4–5). Hier scheint mythos – genau wie alogia (Ungereimtheit) – mit dem Mangel des Widersprüchlichen, rational nicht Nachvollziehbaren und daher einer gedanklichen Prüfung nicht Standhaltenden behaftet zu sein. Sokrates’ Gesprächspartner Protarchos will dieses Scheitern denn auch um jeden Preis verhindern (14a6) und die „Rettung“ (sōthēnai) unbedingt im logos suchen. Sokrates beteuert daraufhin, sie beide müssten sich – ungeachtet ihrer bislang verfochtenen Ansichten – auf die Seite der Lösung mit dem höchsten Wahrheitsgehalt schlagen (14b6–7 tōi d’alēthestatōi dei pou symmachein hēmas amphō).33 Im ersten Buch der Politeia schließlich vergleicht der argumentativ völlig in die Enge getriebene Sophist Thrasymachos die von Sokrates praktizierte Fragemethode böswillig mit „Altweibergerede“ (hōsper tais grausin tais tous mythous legousais), das nur Nicken oder Kopfschütteln als Entgegnung zulasse (Resp 1,350e2–4). Hier verwendet also die scheiternde Gegenfigur zu Sokrates, die diesem schlussendlich in der Tat gegen ihre Überzeugung nur um des lieben Friedens willen alles zugibt (352b3–4), mythos als Distanzbegriff, der das sokratische Philosophieren diskreditieren soll. Dass Platon damit einen 32
Vgl. Gill [1980] XXIII: „Aus der Feder eines solchen Schriftstellers (scil. wie Platon) – und bezogen auf eine derart phantastische Geschichte – scheint der ,Wahrheits‘anspruch ein erzählerischer Schnörkel zu sein, ein ironischer Wink an seine hellhörigeren Leser“. 33 Diese Maxime nimmt als Schlusspunkt des Vorgespräches eine wichtige Stellung im Dialog ein; vgl. dazu Frede [1997] 110f.
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polemischen Missbrauch des mythos-Vokabulars durch seine und Sokrates’ Gegner karikiert, liegt auf der Hand. 2a) Zur Gruppe der positiv oder neutral konnotierten Belege mit externer Referenz gehören streng genommen auch die Fälle, in denen Platon den poetischen Sprachgebrauch von mythos im Sinne von „Rede/Äußerung“ durch Zitate poetischer Texte übernimmt. Da diese acht Belege freilich für Platons eigenen Begriff von mythos irrelevant bleiben, weil sie einer historisch und gattungsspezifisch anderen Sprachstufe entlehnt sind – es handelt sich mehrheitlich um Homer-Zitate –, werde ich sie hier ausklammern.34 Bei den verbleibenden 38 Beispielen (davon 36 aus sicher authentischen Werken) sind wiederum die positiven oder neutralen Referenzen klar in der Überzahl, wenngleich nicht mit derart großem Vorsprung wie bei den dialogbezüglichen: Eine erste, recht spezielle Untergruppe bilden die Bezugnahmen auf „Fabeln“ oder Allegorien im Stile des Aisopos: Ein direkter Verweis auf die Fabel von Fuchs und Löwe als Prätext liegt im Alkibiades 1 vor, wo Sokrates das Fabelelement der nur in eine Richtung weisenden Spuren zur Verdeutlichung des einseitigen Geldflusses nach Sparta verwendet (Alk 1, 123a1–3, bes. a1 kata ton Aisōpou mython). Etwas anders liegt die Sache im Gefängnisszenario zu Beginn des Phaidon. Dort bezieht sich Sokrates zweimal auf die Textklasse der Aisopischen Fabeln: Eben von seinen schmerzhaften Fesseln befreit, improvisiert er einen Kurz-mythos im Stile des Aisopos über die untrennbare Verbundenheit und Interdependenz von Schmerz und wohliger Erleichterung: „Wenn dem Aisopos das widerfahren wäre, hätte er wohl einen mythos (Fabel, Allegorie) darüber verfasst“ (Phd 60b3–c7, bes. c1–2). Bald darauf bewertet Sokrates metatextuell das Corpus von Aisopos’ Fabeln als „diejenigen mythoi, die ich zur Hand hatte (procheirous) und kannte (ēpistamēn) und von denen ich die erstbesten (hois prōtois enetychon) in Verse umformte (epoiēsa)“ (61b6–7). Damit zieht sich Sokrates einigermaßen spitzfindig aus der Affäre, in die ihn ein hartnäckiges Traumgesicht mit seiner Ermahnung zum „Musendienst“ gestürzt habe, was er schließlich nolens volens als auf die „volkstümliche Musenkunst“ (61a7) der Poesie gemünzt erkannt habe. Nicht ohne Rabulistik bestimmt Sokrates schlicht „Fiktion, nicht aber Realität“ als Gegenstand der Dichtkunst (poiein mythous, all’ ou logous) (61b4– 5) und behilft sich, da er selbst kein „Geschichtenerfinder“ (mythologikos) sei (61b5), einfach mit beliebigen mythoi des Aisopos, was umso forcierter wirkt, als Kebes kurz vorher der Fabeln dieses Autors als logoi gedachte (60d1). Die Polysemie von mythos leistet Sokrates also beste Dienste bei seiner Ausflucht, die der aufmerksame Leser aber unschwer als solche enttarnen kann. Die weiteren extern-referentiellen Belege sind mit der in der Forschung etablierten Einteilung in a) „Traditionelle Sagen(kreise)“ und b) „Erziehungsmythen“ einigermaßen gut vereinbar. Hinzu kommen lediglich noch g) 34
Eine vollständige und verlässliche Auflistung mit genauen Quellenangaben bietet Brisson [1982] 178.
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„Philosophische Mythen“ sowie ein Restbestand nicht spezifizierter Fälle, die ich faute de mieux als d) „Mythen generell“ klassifizieren werde: a) Traditionsgut ist die athenische Geschichte vom Raub der Nymphe Oreithyia durch den Wind Boreas, auf die Phaidros und Sokrates im Phaidros kurz anspielen, da sie sich in der Nähe des lauschigen Gesprächsplatzes am Ilissos zugetragen haben soll (Phdr 229b4–c3). Sie dient Sokrates hier aber nur als Aufhänger für ein grundsätzliches Bekenntnis: Von Phaidros mit der Frage konfrontiert, ob er an die Wahrheit dieser Geschichte glaube (229c5 sy touto to mythologēma peithēi alēthes einai?), stellt Sokrates sie in eine Reihe mit Sagen über wunderliche Misch- und Fabelwesen (wie Hippokentauren und Gorgonen) und meint zu diesem gesamten Komplex: Gelassenes Vertrauen in das, was sich als Legende eingebürgert hat (230a2 peithomenos ... tōi nomizomenōi peri autōn), sei allemal die bessere Lösung verglichen mit der ebenso zeitraubenden wie fruchtlosen systematischen Mythenallegorese. Geschichten, welche der Seele, der sein ganzes Mühen um „Selbsterkenntnis“ gelte, keinen Schaden zufügen, begegnet Sokrates also mit aufgeklärter Indifferenz. Zu Beginn der Politeia kommt der hoch betagte Kephalos, von Sokrates nach dem Hauptnutzen seines großen Reichtums befragt (Resp 1,330d1–3), recht unerwartet auf das jenseitige Strafgericht über die Rechtsbrecher zu sprechen, das jemanden, der seinen Wohlstand dafür nütze, niemanden zu übervorteilen und niemandem etwas schuldig zu bleiben, ruhig schlafen lasse, da für solche Leute eher zu Hoffnung als zu Furcht Anlass bestehe (330d4– 331b7). Kephalos konstatiert, die Einstellung der Menschen gegenüber den „Sagen, die man vom Totengericht erzählt“ (330d7–8 hoi ... legomenoi mythoi peri tōn en Haidou), hänge vom Lebensalter ab: Je näher man dem Tod komme, desto nachdenklicher und besorgter stimmten einen Geschichten, die man in jüngeren Jahren als Humbug verlacht habe (330e1 katagelōmenoi teōs), jetzt aber für möglicherweise doch „wahr“ (330e2 alētheis) erachte. Die Ambivalenz des mythos liegt hier in unterschiedlichen Graden der existenziellen „Betroffenheit“ von seinen Aussagen begründet. Von anderen altersbedingten Schwankungen im Verhältnis zu mythoi handelt ein theologischer Abschnitt im zehnten Buch der Nomoi. Dort ereifert sich der Gast aus Athen gegen Gottesleugner, die nicht (mehr) an diejenigen Göttererzählungen glaubten (Lg 10,887d2 ou peithomenoi tois mythois), die sie „seit frühester Kindheit mit der Muttermilch einsogen, als sie sie von Ammen und Müttern hörten, als man sie ihnen gleichsam in Zaubersprüchen (hoion en epōidais) mit Scherz und Ernst gewürzt erzählte“ (887d2–5). Für den Athener sind Götter-mythoi jedweder Art, also auch Kindergeschichten, bei all ihrer „magischen“ Psychagogie und ihrem spielerisch-ernsthaften Doppelgesicht wichtige Übermittler des traditionellen Götterglaubens an die jüngere Generation, die ihre Überzeugungskraft freilich mit der Zeit einbüßen können. Ein speziell homerischer Bezug liegt im zwölften Buch der Nomoi vor, wenn der Athener für seine Normen über den Waffenverlust im Krieg die „(iliadische) Sagenerzählung zu Hilfe nimmt“ (Lg 12,944a2 mythōi dē
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proschrōmenoi). In einer hypothetischen Überlegung wandelt er die Handlung der Ilias in einem Punkt ab und stellt sich vor, wie man Patroklos, wenn er lebend, aber ohne Achills Waffen von seinem Treffen mit Hektor zurückgekehrt wäre, mit Vorwürfen begegnet wäre (944a2–8). Den „traditionellen“ Mythen rechne ich schließlich eine Gruppe von Überlieferungen zu, die im Grenzbereich zwischen Göttersagen, Volksglauben und Pseudohistorie vagieren: Im achten Buch der Politeia vergleicht Sokrates den zum Tyrannen entartenden Staatslenker mit jemandem, der sich nach dem Verzehr von menschlichem Opferfleisch (Vergießen von Bürgerblut) in einen Werwolf verwandelt. Für seine Analogie beruft er sich auf den mythos (Resp 8,565d6) über den Tempel des Zeus Lykaios in Arkadien (565d4–e1), den er auch als logos (565e1) betitelt und der seinem Gesprächspartner durchaus geläufig ist (565e2). In den Nomoi streift der Athener verschiedene, mehr oder minder prominente „alte“ mythoi en passant: Ob er nun die „alte Erzählung“ (palaios mythos) vom „Wahnsinn“ (ouk emphrōn estin) des enthusiasmierten Dichters mit Lizenz zum Selbstwiderspruch einbringt (Lg 4,719c1–d1), um dem Gesetzgeber ebendiese Lizenz zu verweigern (719d1–3), ob er seine Forderung nach gleicher (auch militärischer) Ausbildung von Frauen und Männern auf seine „Überzeugtheit von alten Legenden“ (Lg 7,804e4–5 mythous palaious pepeismai) über amazonengleiche Sauromatiden am Schwarzen Meer stützt, oder ob er den geradezu sprichwörtlichen „Volksglauben“ beschwört (Lg 11,913c1–2 peithesthai ... chrē ... tois ... legomenois mythois), nach dem „Unrecht Gut nicht gedeihe“: Immer steht die argumentative Instrumentalisierung im Vordergrund und bleibt der Wahrheitsgehalt des mythos unhinterfragt.35 Ein Kuriosum beschließe diese Gruppe: In der Epinomis erinnert der Athener als Beispiel für „Einsichten“, mit denen „heutzutage“ kein Staat mehr zu machen sei, an diejenige, die, „wie die Sage weiß“ ([Epin] 975a6 hōs ho mythos estin), die Urmenschen so weit zivilisiert habe, dass sie vom Kannibalismus oder überhaupt vom Verzehr anderer Lebewesen (975a5 allēlophagias) Abstand genommen hätten. b) Eine weit größere Anzahl von Belegen kreist um bewusst pädagogisch verwendete mythoi, solche „Geschichten“ also, die in den Dienst der Erziehung junger Menschen oder speziell der künftigen „Funktionäre“ im Staat gestellt werden.36 Verständlicherweise begegnet dieser Sprachgebrauch vornehmlich in der Politeia und den Nomoi. In geballter Häufung findet er sich gegen Ende des zweiten Buches der Politeia, wo Sokrates mit Adeimantos die „musische“ Erziehung des Standes der „Wächter“ (phylakes) bespricht: Sokrates unterstreicht dabei zunächst die enorme Bedeutung von mythoi (Geschichtenerzählen) als Mittel der frühkindlichen Prägung (Resp 2,377a4–6 mit zwei 35
Ähnlich verfährt auch der Autor des zwölften Briefes, wenn er sich unkritisch auf die „überlieferte Sage“ ([Ep] 12,359d5 paradedomenos mythos) von den angeblich unter Laomedon aus troischem Terrain vertriebenen Myriern beruft. 36 Zu diesem Komplex vgl. bes. Smith [1986].
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Belegen für mythoi), deren Charakter bildender Einfluss auf die Kinderseelen (plattein tas psychas ... tois mythois) viel größer sei als die physische Einwirkung auf die jungen Körper etwa durch Massage (377c3–4), zumal sich in diesen „unbeschriebenen“ und unkritischen Seelen noch alles festfresse (378d7–e1). Die Geltung solcher Texte schätzt Sokrates ambivalent ein, seien sie doch „aufs Ganze gesehen erlogen/unwahr (pseudos), es steckt aber auch Wahres (alēthē) darin“ (377a5–6).37 Angesichts dieses Zwiespalts mahnt er gerade im sensiblen Bereich der Erziehung eine strenge Zensur an: Da es gefährlich sei, die Kinder „von x-beliebigen Leuten x-beliebige fiktive Geschichten (epitychontas ... mythous plasthentas) anhören und in ihre Seelen aufnehmen zu lassen“ (377b5–7), seien die „Autoren von Kindergeschichten“ (377b11 tois mythopoiois) staatlicher Aufsicht zu unterwerfen. Nur eine „Auslese“ guter Geschichten (377c1 kalon ... enkriteon) sollten Mütter und Ammen weitererzählen dürfen. Nachdem er die „unschönen Fälschungen/Lügen (mē kalōs pseudētai)“ (377d9) Homers, Hesiods und anderer als erzieherisch ungeeignet verworfen hat (siehe dazu unten b), will er ausschließlich die im Hinblick auf aretē (gute Entwicklung, Tüchtigkeit) „schönsten Geschichten und Erzählungen“ (378e2–3 kallista memythologēmena) zulassen. Als Adeimantos die Frage aufwirft, auf welche Geschichten (er meint näherhin: „welche Göttergeschichten“, wie 379a5–6 theologias zeigt) er damit anspiele (378e4–6), gibt sich Sokrates etwas pikiert: „Wir als ,Staatsgründer‘ brauchen nur die Umrisse/Rahmenvorgaben (typous) zu kennen, an denen sich die Autoren bei ihren Geschichten (mythologein tous poiētas) zu orientieren haben, müssen aber keineswegs selbst Geschichten verfassen (ou mēn autois ge poiēteon mythous)“ (378e7–379a4). An diesem Gedankengang ist vor allem der implizierte Punkt lehrreich, dass Sokrates aus der Tradition offenbar keine für seine idealstaatliche Erziehung passenden Texte zu benennen geneigt ist und von der Notwendigkeit überzeugt bleibt, eine neue Poesie auf der Grundlage seiner Ethik müsse erst Platz greifen. Hier liegt ein metatextueller Verweis auf diejenigen erzählerischen Partien Platons, die man im engeren Sinn als „seine Mythen“ betrachtet und in denen man gern eine „neue Mythologie“ mit „neuer Rhetorik“ am Werke sieht, besonders nahe. Seine „Richtlinien“ für erzieherisch wertvolle Poesie entwickelt Sokrates denn auch vornehmlich in Abgrenzung von den „traditionellen“ Mythen. Gleichwohl folgt er insoweit Hesiods „lügenden“ Musen (Theogonie 27f.), als er es für die von ihm gewünschten „Sagenerzählungen“ (Resp 2,382c10–d1 mythologiai) nützlich findet, „das Falsche/Erfundene dem Wahren“ möglichst überzeugend „anzugleichen“ (382d2–3 aphomoiountes tōi alēthei to pseudos). 37
Vgl. dazu Murray [1996] 135f. (mit Lit.). Ihre Anmerkung, diese Ambivalenz treffe lediglich auf Platons eigene Mythen, nicht jedoch auf die „gänzlich falschen“ Mythen der traditionellen Dichtung zu, greift in Anbetracht der oben vorgestellten Beispiele – etwa über die Instrumentalisierung der Ilias in den Nomoi – doch zu kurz, indem sie nur den engeren Kontext der Politeia berücksichtigt.
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In einem intratextuellen Rückverweis auf diese Einlassungen zur „musischen“ Bildung wird Glaukon im siebten Buch der Politeia – mit Sokrates’ beigeisterter Zustimmung – zwar „sagenhafte/legendäre“ (Resp 7,522a7 mythōdeis) logoi von solchen „mit höherem Wahrheitsgehalt“ (522a8 alēthinōtheroi) unterscheiden, doch sieht er in beiden gleichberechtigte Methoden „musischer“ Instruktion, die auf „Harmonie“ und nicht auf „Wissensvermittlung“ abziele (522a3–b1). Den von ihm im zweiten Buch erwähnten „Umrissen“ verleiht Sokrates im dritten Buch der Politeia noch mehr Kontur: Er will für „Gesang und Geschichten“ (Resp 3,392b5–6 aidein te kai mythologein) nur moralisch einwandfreie Inhalte zulassen, in denen Gerechtigkeit belohnt, Unrecht hingegen bestraft wird (392a13–b6). Im Resümee des großen Abschnitts über die „musische“ Ausbildung der „Wächter“ gibt Sokrates dann ausdrücklich dem „trockeneren/strengeren und weniger gefälligen Dichter/Autor und Geschichtenerzähler“ (Resp 3,398a8–b1 tōi austēroterōi kai aēdesterōi poiētēi chrōimetha kai mythologōi) den Vorzug vor dem vielseitigen Genie poetischer Nachahmung, da ersterer für den Zweck der Schulung soldatischer „Wächter“ nützlicher sei (398b1 ōphelias heneka).38 Erzieherisch wertvolle mythoi werden auch in den Nomoi thematisiert: Als Paradebeispiel für ein durch beste Wirkungen und größten Nutzen für die Stadt gerechtfertigtes Belügen der Jugend (Lg 2,663d8–9 ep’agathōi pseudesthai pros tous neous ... pseudos lysitelesteron) nennt der Athener „die Geschichte vom Mann aus Sidon“ (663e5 tou Sidōniou mythologēma), die spielend Überzeugungsmacht gewonnen habe, so unglaubwürdig (663e6 houtōs apithanon on) sie im Grunde sei. Er hat dabei, wie er auf Nachfrage erläutert, die Sage von der Entstehung der Ur-Thebaner aus den von Kadmos gesäten Drachenzähnen im Sinn (663e8–9). Diese Form von Identitätsstiftung, die stark an die „edle Lüge“ der Politeia erinnert (siehe dazu oben), solle der Gesetzgeber als methodisches Vorbild für die manipulative Schaffung einer dem Staatswohl verpflichteten Einheitstradition nutzen, die in „Gesängen, Geschichten/Sagen und Reden“ (664a6–7 en te ōidais kai mythois kai logois) propagiert werden solle.39 Das Trikolon der Erziehungsmedien stellt klar, dass die mythoi hier im Rahmen der „musischen“ Unterweisung im Schönen und Guten (nicht aber unbedingt Wahren!) angesiedelt und, wie der Athener kurz darauf präzisiert, über sechzig Jahre alten, göttlich inspirierten „Geschichtenerzählern“ (664d3 mythologous) anvertraut werden sollen, da diese zur Mitwirkung an den altersspezifisch 38
Vgl. Murray [1996] 184 mit Einzelerklärungen und Hinweis auf intratextuelle Referenzen. 39 Vgl. Schöpsdau [1994] 304f. (mit weiterer Lit.), dessen Einschätzung der „nützlichen Lüge“ „in irrealer Form als bloßes Gedankenspiel“ den Punkt nicht ganz trifft, da sie den psychagogischen „Modellcharakter“ (663e9–664a1 mega ... nomothetēi paradeigma tou peisein ... tas tōn neōn psychas) zu gering veranschlagt.
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gestaffelten Chören schon zu schwach seien. Der Zweck des gemeinen Besten scheint hier auch den Einsatz „trügerischer“ Mittel durchaus zu heiligen. g) Als „Philosophische mythoi“ klassifiziere ich die wenigen Belege, in denen philosophische Texte oder Theorien mit mythos-Vokabular bedacht werden. Im Rahmen der Schriftkritik des Phaidros relativiert die Titelfigur Sokrates’ Vergleich der Hege und Pflege schriftstellerischer „Gärtchen“ und „Erinnerungshilfen“ mit feuchtfröhlichen Partys: Für ihn sei philosophisches Schreiben über ethische Themen „ein wunderschönes Spiel ..., das jemand mit Reden/Aussagen (logoi) treiben kann, indem er über Gerechtigkeit und die anderen von dir erwähnten Themen Geschichten erzählt (mythologounta)“ (Phdr 276e1–3). Mythoi und logoi werden hier zu gleichberechtigt koordinierten Bestandteilen philosophischer Schriftstellerei. Dies ist ganz allgemein gesagt, doch wahrscheinlich nicht ohne selbstreferentiellen Nebensinn von Platon so formuliert. d) In der Kategorie „Mythen generell“ fasse ich die Fälle zusammen, die ein unspezifisches und kontextuell nicht vertieftes Verständnis von mythos zum Ausdruck bringen. Da diese Gruppe für unsere Leitfrage wenig ergiebig ist, seien die Stellen – eher der Vollständigkeit halber – kurz aufgelistet: „Dichterische Fiktion (allgemein)“ wird als mythologia bezeichnet in Hipp Ma 298a4 (wo sie Sokrates in einer Reihe von schönen, weil akustisch angenehmen Dingen aufzählt), Phdr 243a4 (wo Sokrates anhand des Beispiels von Stesichoros belegt, dass Dichtern bei Verfehlungen gegen Götter eine Reinigung gewährt werde) und Resp 3,394b9–c1 (wo Sokrates, der Resp 3,392d2 auch mythologoi und poiētai gleichbedeutend verwendet, sie als Synonym zu poiēsis in mimetisch und nicht-mimetisch unterteilt); auf „homerische Dichtung“ im Speziellen verweist mythologia in Lg 3,680d3 (Megillos über den „ionischen“ Charakter dieser Werke, die aber auch für Sparta wichtig seien); mythos selbst heißt „Dichtung“ in Resp 3,398b7 (wo Sokrates mythoi abschließend in Verbindung mit logoi als Elemente der mousikē benennt), „Märchen“ in Lg 8,841c6 (wo der Athener en mythōi auf seine Darstellung eines wünschenswerten, aber vielleicht phantastischen Zustands bezieht), und „Darlegung/Erläuterung“ in Lg 6,771c7, wo der Athener über eine Detailfrage, die er sich ersparen will, meint: „In aller Ruhe (besprochen) (kata scholēn), wäre es keine große Sache, das zu erklären (ouk an polys epideixeien mythos)“. 2b) Mit 20 Belegen ist die negative Tendenz bei Fremdreferenz deutlich stärker ausgeprägt als bei Dialogbezug. Die vier Schattierungen von Defiziten (siehe dazu oben 1b) sind auch hier selten in Reinform nachweisbar: Die Mehrzahl der Beispiele dieses Blocks entstammt begreiflicherweise der Zensur bestimmter Dichtungen im zweiten Buch der Politeia: Die Kriterien für seine Indizierung von epistemologisch, moralisch und/oder theologisch bedenklichen Texten will Sokrates anhand der „größeren Geschichten“ entwickeln, an denen man dann auch die Prinzipien für die „kleineren“ ablesen könne (Resp 2,377c7–8 en tois meizosin ... mythois opsometha kai tous elattous). Mit den „umfänglicheren mythoi“ meint Sokrates erklärtermaßen
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vornehmlich die Gedichte Homers und Hesiods, die er als „lügnerische/unwahre Geschichten“ (377d5–6 mythous pseudeis) geißelt. Als verderblich für den bedingungslosen Zusammenhalt der „Wächter“ verwirft er im Einzelnen „unwahre“ (378c1) Geschichten über Zwistigkeiten, Krieg und Schlachten unter Göttern wie etwa in Gigantomachien (378c3–4 pollou dei gigantomachias te mythologēteon autois). Für die religiöse Überwölbung seiner staatlichen Ordnung durch das Bild guter, gerechter und wahrhaftiger Götter ist Sokrates zufolge entscheidend, dass jede Art von Geschichten (380c2 mythologounta) – ob poetisch oder prosaisch – verboten wird, in denen ein Gott als Ursache von Übel dargestellt werde, das gute Menschen treffe, wie es etwa in Tragödien oft der Fall sei (380b6–c3). Dies sei nämlich nicht nur jugendgefährdend, sondern selbst für Erwachsene schädlich (380c1). Ähnliches gelte von „Lügenmärchen“ über missratene Söhne von Göttern, die Raubzüge und andere Schandtaten verübt haben sollen (3,391c8–392a1): „Mit solchen Geschichten muss es ein Ende haben“ (391e12 pausteon tous toioutous mythous). Mütter will Sokrates davor warnen, ihre Kinder durch „schlechte“ und erlogene mythoi (Geistergeschichten) von nachts herumspukenden Göttern einzuschüchtern (2,381e1–6, bes. 3 legousai tous mythous kakōs). Damit begingen sie Gotteslästerung und zögen sich Feiglinge heran. Um kampflustige, ja todesmutige Bürger zu erhalten, müsse die Stadt überdies solche Jenseitsgeschichten vom „schrecklichen Hades“ zensieren, die geeignet sind, die Furcht vor dem Sterben zu befördern (3,386b8–9 dei ... epistatein kai peri toutōn tōn mythōn tois epicheirousin legein). Sokrates’ Zensur wirkt in abgemildeter Form beim Athener der Nomoi weiter: Im ersten Buch rügt er die „Legende“ (Lg 1,636c7 und d3 mython; d5 mythou) von Ganymeds Entführung durch Zeus als „kretische Erfindung“ (636d1 hōs logopoiēsantōn toutōn) zur göttlichen Autorisierung eigener päderastischer Vergnügungen (636d4). Im zwölften Buch wettert er gegen „taktlos faselnde Geschichtenerzähler“ (Lg 12,941b5 mythologōn plēmmelōn), denen niemand ihre Betrügereien über Göttersöhne, die Diebstahl und Raub begehen, glauben solle. Entscheidend scheint mir bei dieser gesamten Gruppe zu sein, dass das Distanz gebietende Moment für Platon nicht in Wesen oder Form des mythos als Darstellungsweise liegt, sondern einzig in der Vereinnahmung dieser verführerischen Form der Fiktion für ethisch anfechtbare Inhalte. Auch „philosophische Mythen“ werden bisweilen mit negativen Vorzeichen versehen: Im Sophistes tut der Gast aus Elea vorsokratische Seinstheorien namentlich auch der eleatischen Schule in sarkastischer Ironie als „Kindergeschichten“ ab (Soph 242c8–9 mython tina hekastos phainetai moi dihēgeisthai paisin hōs ousin hēmin; d7 tois mythois). Seine Kritik zielt auf die Widersprüchlichkeit und die mangelnde Dialogizität der ohne Rücksicht auf das Verständnis der Rezipienten vorgetragenen Ansichten der Eleaten (243a7–b1). Im Theaitetos legt Sokrates den berühmten homo-mensura-Satz des Protagoras im Sinne einer Identifizierung von Wahrnehmung und Erkenntnis aus. Nachdem er diese Gleichsetzung in einem ersten Gesprächszug ad absurdum geführt hat,
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rekapituliert er: „Und so ist der mythos von Protagoras zerstört/vernichtet (apōleto)“ (Tht 164d9). Die anfällige These hat also vor der sokratischen Fragemethode nicht bestehen können. Doch Sokrates reißt das Ruder wieder herum. Da Protagoras als „Vater des Spruches“ (164e2–3 patēr tou ... mythou) nicht mehr am Leben sei, erklärt sich Sokrates selbst bereit, anstelle der „legitimen Vormünder“ dem mythos nunmehr „um der Gerechtigkeit willen hilfreich beizustehen (164e7 boēthein)“. Der mythos wird hier also – unter Verwendung von Chiffren für das dialektische Verfahren – zum „Waisenkind“ personalisiert, das allen möglichen Anfechtungen ausgesetzt sei und daher argumentativen Schutzes bedürfe. Weniger spezifisch verwendete Belege rekurrieren zumeist auf das Wahrheitsdefizit von mythos: Im Hippias Maior wird die Titelfigur von Sokrates als „Märchenonkel“ ironisiert, bei dem die Spartaner wie Kinder bei alten Frauen Zerstreuung durch „lustige Geschichten“ suchten (Hipp Ma 286a2 pros to hēdeōs mythologēsai). Im Schlussteil des Politikos grenzt der Gast aus Elea das – offenbar epistemologisch defiziente – „Geschichtenerzählen“ (Plt 304d1 dia mythologias) als Methode der Beeinflussung großer Massen von „(echter) Belehrung“ (304d1–2 dia didachēs) ab, ordnet aber beide der auf irrationales Überzeugen bauenden Rhetorik zu.40 Gelegentlich bezieht Platon mythos – gewissermaßen im Vorgriff auf Aristoteles’ Poetik – auf die Gestaltung kritisch beäugter tragischer Plots: Im Kratylos siedelt Sokrates die „geschmeidiger, göttlicher Wahrheit“ entgegengesetzte „unwahre/verlogene Rede“ (Krat 408c2– 3 logos ... pseudēs) im „borstigen und böckischen“ (408c7 trachy kai tragikon) Menschenleben an. Das ist für ihn „das Leben der Bocksgesänge“ (408c9 tragikon bion), in deren „unheimlicher Vielzahl von Geschichten“ es von Lügen wimmle (408c8 pleistoi hoi mythoi te kai ta pseudē). Im – kaum authentischen – Minos entlarvt Sokrates denn auch die Sage von Minos’ Grausamkeit und Ungerechtigkeit als „attische Tragikererfindung“ ([Min] 318d11 Attikon ... legeis mython kai tragikon). Die Lobeshymnen, die Homer und Hesiod auf Minos anstimmten, seien hingegen „glaubwürdiger als alle Tragödienschreiber zusammen“ (318e2–4). In erster Linie moralisch anstößig erscheinen diejenigen mythoi, die der Eleate in seinem eigenen Mythos über das Kronoszeitalter als Gegenstände verbreiteter Überlieferung erwähnt: Wenn man unter Kronos, so meint er sinngemäß, ganz dem Genussleben erlegen wäre und sich und die Tiere „mit solchen (liederlichen) Geschichten unterhalten hätte, wie man sie jetzt noch über diese Epoche erzählt“ (Plt 272c6–8 ei ... dielegonto ... mythous hoioi ... kai ta nyn peri autōn legontai), dann wäre es um das Glück dieser Epoche schlecht bestellt gewesen!
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Vgl. dazu Rowe [1995a] 237f. mit wichtigen Parallelen in Resp, Lg und Phdr.
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III. Abschließend ist zu fragen, worin wohl bei Platon hauptsächlich die spezifische Differenz zwischen mythos und logos liegen mag, soweit sie sich aus seinem kontextuell abgesicherten Sprachgebrauch eruieren lässt. Mythos scheint zumal bei dialogreflexiver Verwendung tendenziell sein Terminus der reflektierten Narrativität respektive Fiktionalität zu sein, der den logos qualifiziert – und zwar meistens in neutraler, bestärkender oder gar autoritativer Absicht. In den vergleichsweise seltenen Fällen eindeutig negativer Befrachtung wird mythos zum Terminus der Distanz von verführerischer und gefährdender Fiktion als Unwahrheit im weitesten Sinn, die in Opposition zum sokratischplatonischen Konzept der philosophia steht. Im ambivalenten Fall erschließt sich mythos als Terminus der ansprechend verkleideten, aber gefährdeten und anfälligen Wahrheit, die bei Missbrauch oder Unverständnis der „Zerstörung“ anheimzufallen droht; daher ist die oft beschworene „Rettung“ solcher mythischen logoi durch Extrapolierung ihrer philosophischen Kernaussagen eine der vornehmsten Pflichten platonischen Ringens um Wahrheit. Im affirmativen Fall stellt der mythos die autoritärere und zugleich bezauberndere, lustvollere und bei bestimmten Themen überdies „angemessene“, weil einzig menschenmögliche Facette des logos und Quelle der Wahrheit dar. Am Ende schält sich als doch recht überraschende Erkenntnis heraus, dass bei allem von Platon virtuos in den Dienst seines anregenden Verwirrspiels gestellten Nuancenreichtum seiner Begriffe von mythos und logos der philologische Befund viel klarer für eine Konvergenz beider Ausdrucksformen spricht, als man das weithin zu akzeptieren bereit ist. Der heutige Dichter, Übersetzer und Essayist Durs Grünbein (*1962) wird also wenigstens dem „ganzen“ Platon nicht gerecht, wenn er die „dürftige Bildsprache“ der Philosophen beklagt und vorwurfsvoll fragt: ... welcher Philosoph hätte sich schon die Mühe gemacht, von den Kategorien auf die Bilder zu schließen? Wem war es wirklich ernst mit der Anschaulichkeit seiner Ideen? Es ist, als hätten sie die Herkulesarbeit – den bilderhungrigen Sinnesapparat zu versorgen, nicht nur die wohlgenährte Vernunft – stets den anderen überlassen, jenen vielgeschmähten, mit den Zutaten der Welt kochenden Dichtern.41
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Durs Grünbein, Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt/Main 2001, 27.
DIE WIEDERKEHR DES MYTHOS ZUR FUNKTION DES MYTHOS IN PLATONS DENKEN UND IN DER PHILOSOPHIE DER GEGENWART1 Theo Kobusch Vom Mythos soll hier aus der Sicht der Philosophie die Rede sein. Der Leser erwartet zu Recht kein Märchen, sondern eine vernünftige Rede, einen Logos. Wir gehen, so scheint es, schon immer von diesem Gegensatz zwischen Mythos und Logos aus. Es gibt ihn schon lange, aber es gab ihn nicht immer. Populär ist diese Antithese geworden – das ist eine widerlegbare Vermutung – durch Wilhelm Nestle, der in seinem 1940 erschienenen Buch „Vom Mythos zum Logos“ den Gegensatz folgendermaßen charakterisiert: Die mythische Vorstellung, die ihrem Wesen nach bildhaft ist, schafft und gestaltet aus dem Unbewussten und glaubt an die magische Wirkung kultischer Handlungen. Der Logos dagegen, der wesenhaft begrifflich ist, zergliedert und verbindet bewusst. Vom Mythos zum Logos geht der Weg der Griechen, d.h. von der Unmündigkeit zur Mündigkeit des Geistes.2 Gerade die letzten Begriffe zeigen, woher dieser Gegensatz kommt: aus der Aufklärung. Tatsächlich hat die Aufklärung die Mythen als erste Quelle der Irrtümer begriffen und dadurch den Protest der Romantik hervorgerufen, nach der das Wesen des Mythos auf diese Weise zutiefst verkannt werde. I. Aber natürlich ist der Gegensatz nicht erst eine Erfindung unserer zweiten, der modernen Aufklärung, sondern er geht vielmehr auf das Aufklärungsdenken der Griechen selbst schon zurück. Der Gegensatz zwischen Mythos und Logos ist uns heute also zwar selbstverständlich, aber er ist doch erst durch die griechische Philosophie zu jenem klassischen Begriffspaar gemacht worden. Ursprünglich werden von den Griechen die Begriffe Mythos und Logos zwar unterschieden, aber nicht einander entgegengesetzt. Der Begriff Mythos bezeichnet zunächst jede Art einer Erzählung oder Geschichte, ganz gleich ob sie eine unbedeutende Alltagserfahrung oder eine Begegnung mit Göttern zum Inhalt hat. Ja, der Geschichtsschreiber Hekataios von Milet nennt sogar am Ende des 6. Jh. die Erzählungen der Griechen, die wir dem Bereich des Mythischen zuordnen würden, ausdrücklich Logoi, d.h. Berichte, von denen er sagen kann, dass sie vielartig sind und lächerlich wirken. Seine eigene Tätigkeit, das Erzählen tradierter, ernst zu nehmender Wahrheiten, nennt er selbst mytheisthai.3 Doch nachdem Xenophanes die alten Mythen im Stile der platonischen 1
Ersterscheinung in: Binder/Effe [1990] 13–32. Vgl. Nestle [21942] 6. 3 Vgl. Neschke [1983] 120.
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Dichterkritik abgelehnt hatte, erhielt der Begriff Mythos bald im Lichte aufklärerischer Philosophie einen negativen Beigeschmack.4 Er ist am deutlichsten erkennbar in der klassischen Antithese Mythos–Logos, die zuerst bei Pindar (476 v. Chr.) belegbar ist: „Ja, Wunder gibt es viele, freilich manchmal auch trügen der Menschen Reden über den wahren Logos hinaus, Mythen mit bunten Lügen verziert.“ (Ol 1, 27ff.) Von nun an steht Mythos für das Unwahre, das Erdichtete, die Fabel, das Kindermärchen. Auch innerhalb der Philosophie wird der Begriff alsbald gebraucht zur Abqualifizierung literarischer Gegner, so z.B. von Demokrit (VS 68 B 297), der die Orphiker, die von einem Leben nach dem Tode träumen, mythoplasteontes = Erfinder von Märchen nennt, oder schon von Xenophanes, der die homerischen und hesiodeischen Erzählungen über die Kämpfe der Titanen, Giganten und Kentauren als „Erfindungen der Vorzeit“ charakterisiert und in ihnen nichts Nützliches erkennen kann (VS 21 B 1, 21ff.). In diese Entwicklung gehört auch Platons Auffassung vom Mythos. Am deutlichsten ist das erkennbar an einer Charakterisierung am Beginn der berühmten Dichterkritik in der Politeia, nach der der Mythos im Sinne eines Kindermärchens „im Ganzen falsch“ sei5, wenngleich er auch Wahres enthalten könne. Dasselbe trifft nach Platon auch auf die „großen“ Mythen des Homer und Hesiod, freilich auch der Tragödie zu, deren Inhalt ja ebenfalls mit dem Begriff des Mythos bei den Griechen bezeichnet werden konnte, und deren Theologie insgesamt für den Philosophen anstoßerregend und falsch ist. Daraus ergibt sich schon der Gegensatz der beiden Wissensarten, nämlich des Mythologischen und des Philosophischen. Platon drückt ihn so aus: „O Adeimantos, wir sind keine Dichter in diesem Augenblick, du und ich, sondern Städtegründer, und Städtegründern ziemt es, die Muster (Umrisse) zu kennen, nach denen die Dichter die Mythen erzählen, und sie nicht zuzulassen, wenn sie von diesen abweichen, nicht aber selbst Märchen zu dichten“ (Resp 379a). Das philosophische Wissen ist also von dem der Mythologen dadurch unterschieden, dass es die Gesetze und Grundsätze thematisiert, nach denen das Wissen der Dichter beurteilt werden muss. Ein solcher Grundsatz, der ein Kriterium für die Kritik an den Dichtern darstellt, besteht z.B. in der philosophischen Erkenntnis, dass Gott gut ist und Ursprung alles Guten, aber auch nur des Guten und nicht von allem, so dass man vom Schlechten „andere Ursachen suchen muß, nur nicht Gott“ (Resp 379c; 380c). Dieser „Typos der Theologie“, d.h. diese Erkenntnis der philosophischen Theologie erfasst, „wie Gott wirklich ist“, sie erfasst die philosophische Wahrheit über Gott. Da aber die Philosophie sich nicht nur mit dem höchsten Wesen, sondern mit schlechthin allem befasst, will sie im Hinblick auf alles die Wahrheit erfassen und so das Wahre und Falsche voneinander trennen. Wahr und Falsch, das sind die allgemeinsten Grundsätze oder „Typen“, nach denen die Mythen betrachtet werden müssen. Die Mythen 4 5
Dazu vgl. Fränkel [1962] 374. Resp 377a; vgl. Kratylos 408c.
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und Mythologen können dies nicht als solche selbst. Der Mythos fragt nicht nach der Wahrheit.6 Nach der Wahrheit zu fragen, das ist das eigentliche Geschäft der Philosophie. Aristoteles hat sie deswegen ganz im Sinne Platons die Wissenschaft von der Wahrheit genannt (Metaph 11, 1, 993b20). So scheinen sich also bei Platon Mythos und Philosophie oder Logos unversöhnlich gegenüberzustehen. Mythos – das steht für das Falsche, das Beliebige, Unverbindliche, der Logos aber ist die Form der Wahrheit. Indes, so wird man einwenden, hat Platon nicht selbst in seinen Dialogen Mythen erzählt? Weiß nicht jeder, dass im Gorgias, Phaidon und in der Politeia eschatologische Mythen enthalten sind, dass der Phaidros einen Mythos vom Lebensursprung erzählt, der Politikos im Mythos den Umlauf der Welt, der Kritias die Entstehung des Staates thematisiert, während der Timaios im Ganzen ein einziger großer Mythos über die Entstehung der Welt genannt werden kann? Ist nicht darüber hinaus bekannt, dass die Dialoge zudem noch kleinere Mythologeme und sonstige Geschichten enthalten?7 Ist es nicht ein unerträglicher Widerspruch, auf der einen Seite am Mythos als solchem fundamental Kritik zu üben und andererseits doch eben diese Form der Rede selbst zu benutzen? Die Wiederkehr des Mythos bei Platon oder – wie G. Krüger das nennt – die „Paradoxie der Rückkehr zum Mythos“8 ist eine rätselhafte Angelegenheit. Der Mythos, gerade noch von der Philosophie als das Trügerische, an den Erscheinungen der Dinge Hängende und im Sinne des logon didonai Unverantwortbare verunglimpft, wird jetzt an entscheidenden Stellen der philosophischen Argumentation wieder eingesetzt. Die Platoninterpreten haben sich denn auch schon immer schwer getan mit der Deutung des positiven Gebrauchs des Mythos in den Dialogen. Ich nenne nur zwei extreme Positionen. Karl Reinhardt hat gemeint, die platonischen Mythen seien nichts weiter als ein bloßes Gedankenspiel Platons, und Platon habe sie zunächst selbst nicht ernst genommen. Nach K. Reinhardt sind die platonischen Mythen als ein den Logos miteinbeziehendes ironisches Spiel zu begreifen, das oft als „ironische Durchbrechung der Dialektik“, als „ironisches Schweben“, als Produkt des göttlichen Wahnsinns oder auch als die notwendige spielerische Entfaltung und Selbstaufhebung des ernsten Logos bezeichnet wird.9 Dem steht die Interpretation J. Piepers gegenüber, nach der Platon „den Mythos als eine Gestalt der Wahrheit akzeptiert hat“, an die er auch geglaubt habe, und zwar als eine vom Logos unabhängige zweite Quelle der Wahrheit, die auf eine „Uroffenbarung“ zurückgehe.10 Gegen die erste Auffassung spricht schon, dass z.B. der eschatologische Mythos am Ende des Gorgias 6
Vgl. Burkert [1979] 32: „Mythisches Denken verwendet als Operatoren nicht die Bildung von Klassen oder Mengen und nicht die Dichotomie wahr–falsch, ... .“ 7 Vgl. Hirsch [1971] 236ff. 8 Vgl. Platon, Die Werke des Aufstiegs, übertr. von R. Rufener, Einl. v. G. Krüger, Zürich 1948, XXXIX. 9 Reinhardt [1969] 219–295, bes. 232, 233, 235, 238, 241, 259, 261f. 10 Pieper [1965] 61 und Kap. VI, 77ff.
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die Darstellung dessen ist, was Sokrates als das „Ärgste aller Übel“ bezeichnet, nämlich dass die Seele „mit vielen Vergehungen angefüllt in die Unterwelt kommt“ (522e). Die Deutung Piepers scheint eine Applikation des Thomismus an das platonische Denken zu sein.11 Lässt man sich von den Texten Platons selbst leiten, so muss vielmehr ein dritter Weg beschritten werden. Wir sahen schon: In der Mythenkritik (in der Politeia) erhebt sich die Philosophie als Richter über den Mythos. Das tut sie, indem sie auch ausdrücklich nach der Wahrheit des Mythos selbst fragt. Im Dialog Phaidros fragt Phaidros den Sokrates, als sie zusammen zum Ilissos hinabgegangen und zu der Stelle gekommen waren, wo Boreas die Nymphe Oreithyia entführt haben soll, ob er denn diesen Mythos für wahr halte. Die Antwort des Sokrates zeigt, dass die Philosophie an der Entmythologisierung im Sinne der rationalistischen Entzauberung der Welt als solcher kein Interesse hat. Man könnte natürlich rationalistisch den Mythos so erklären, dass der Wind Boreas das Mädchen, als sie mit ihrer Freundin spielte, von den Felsen herabgeworfen habe und auf diese Weise die Rede vom Raub durch den Gott Boreas entstanden sei. Aber ein solcher rationalistischer Mythenerklärer hätte dann das ganze Heer der wunderbaren Wesen, der Gorgonen, Kentauren, Chimären, Pegasen usw. auf derartig probable Weise zu erklären, und darüber verginge sein Leben. Diese Weisheit ist aber nicht diejenige, nach der die Philosophie strebt. Vielmehr lässt die Philosophie das alles gut sein, und „annehmend was darüber allgemein geglaubt wird, ... denke ich nicht an diese Dinge, sondern an mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes und einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edlen Teiles von Natur erfreut“ (Phdr 230a). Der wahre, philosophische Umgang mit den vorgegebenen Mythen besteht also darin, sie auf ihre Aussagekraft für die Veranschaulichung philosophischer Wahrheiten hin zu überprüfen, in diesem Falle also, ob die mythischen Wesen etwas vom Wesen der Seele verdeutlichen können. „Der platonische Mythos ist zu einem wesentlichen Teil Geschichte der Seele.“12 Was Platon in diesem Textstück des Phaidros nur andeutet, ist im neunten Buch der Politeia expliziert. Dort soll kraft des Logos ein Bild von der Seele entworfen werden, in dem die im Mythos vorkommenden Wesen, Chimären, Skylla, Kerberos u.a. zu einem vielgestaltigen Tier verbunden sind, das in der platonischen Philosophie für die hemmungslose Begierde steht, die durch den wahren Menschen, den „inneren Menschen“ durch das Üben der Gerechtigkeit unter Kontrolle gehalten werden muss (Resp 588c–589b), wenn wahres Glück erreicht werden soll. Die Funktion des Mythos bei Platon tritt noch deutlicher hervor, wenn paradigmatisch die großen eschatologischen Mythen betrachtet werden. Der den Dialog Gorgias abschließende Mythos erzählt von dem jenseitigen Totengericht, in dem die sittliche Qualität der Seele beurteilt wird, woraufhin sie Be11 12
Zur Kritik an Pieper vgl. Müller [1986] 112 und Beierwaltes [1989] 275. Vgl. Beierwaltes [1989] 282.
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lohnungen oder Strafen, die anschaulich dargestellt werden, empfängt. Zur Einführung dieses Mythos erklärt Sokrates: „Höre eine sehr schöne Geschichte, die du, wie ich annehme, für einen Mythos halten wirst, ich aber für einen Logos.“ Was dieser Logos ist, wird am Schluss des Mythos gesagt: „Vielleicht nun dünkt dich dies ein Ammenmärchen zu sein und du hältst nichts davon, wenn wir forschend Besseres und Wahreres finden könnten. ... Nun aber ist unter so vielen Logoi ein einziger unerschüttert geblieben, während die anderen erschüttert wurden, nämlich daß man sich vor dem Unrechttun mehr hüten muss als vor dem Unrechtleiden.“ Daraus geht hervor, dass der erzählte Mythos lediglich die Funktion hat, den im Dialog geprüften Logos zu veranschaulichen, von dem es an anderer Stelle heißt, dass er fest und wohl verwahrt ist „mit eisernen und stählernen Gründen“ (Gorg 509a).13 Das muss gegen diejenigen Interpreten gesagt werden, die vom „Verfallscharakter“, von der „Ungesichertheit“ und „Vorläufigkeit“ des Logos bei Platon sprechen oder den Logos gar selbst als ein „Zeichen menschlichen Nichtwissens“ begreifen.14 Durch den Logos war aber gefunden und damit als objektive Wahrheit aufgewiesen worden, dass die Vermeidung allen Unrechts im Reden und Tun die wichtigste Selbsthilfe sei, denn nur so kann der Mensch, ohne sich vor sich selbst schämen zu müssen, alle Arten des elenchos, auch die Selbstprüfung, furchtlos überstehen (522d). Dasselbe Verhältnis zwischen Logos und erzähltem Mythos ist auch im Phaidon erkennbar, dessen eschatologischer Mythos eine komplizierte Beschreibung des jenseitigen Ortes enthält, wohin die Seelen gelangen werden. Am Schluss des Mythos heißt es: „Darauf zu bestehen, daß das sich so verhält, wie ich erzählte, steht einem vernünftigen Mann schlecht an. Daß es freilich mit den Seelen und ihren Wohnungen entweder so oder so ähnlich steht, so wahr die Seele sich als unsterblich erweist, das scheint mir wohl anzustehen und lohnend, es darauf zu wagen, in der Überzeugung, daß es so ist: denn gut ist das Wagnis.“ Über Einzelheiten der Beschreibung kann also gestritten werden, dadurch gerät jedoch nicht das Fundament, auf dem der Mythos beruht, eben der unumstößliche Satz von der Unsterblichkeit der Seele und der dadurch beding13
Nach Blumenberg [1960] 85 hilft dieser Mythos dem Sokrates „aus einer ganz tiefen Verlegenheit um eine wesentliche und unverzichtbare Antwort auf die Frage nach letzter Gerechtigkeit“. Diese Funktionsbestimmung unterstellt, dass der Mythos in der Substanz des Dialogs etwas leiste, was der Logos nicht erreichen könne. Das entspricht aber nicht dem platonischen Verständnis des Logos. Der Mythos malt nur einen Bereich aus, der der sinnlichen Anschauung entzogen ist. Deswegen ist übrigens auch das Höhlengleichnis in der Politeia kein Mythos, schon gar nicht eine „absolute Metapher“, wie Blumenberg behauptet, denn es wird von Platon selbst geradezu Wort für Wort „in Logizität aufgelöst“. 14 Vgl. z.B. I. von Loewenclau [1958]. Auch nach Christ [1984], der sich ganz unkritisch der Position Reinhardts anschließt, beginnt der Mythos da, wo der Logos aufhört, und erzählt das Unsagbare. Außerdem sei der Mythos „ironisch“. Nichts davon ist bei Platon belegbar!
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ten notwendigen Lebensweise, ins Wanken.15 Nicht anders steht es mit dem dritten großen eschatologischen Mythos am Ende der Politeia, in dem Platon den Pamphylier Er, der aus dem Jenseits zurückgekehrt ist, in großartigen Bildern vom Totengericht und von der den neu einzukörpernden Seelen zustehenden Wahl der neuen Lebenslose berichtet. Auch dieses Bild veranschaulicht lediglich das philosophisch Gewusste, nämlich den platonischen Grundgedanken, dass das Schicksal der Seele sowohl in ihrem Erdendasein wie auch bei jener transzendenten Wahl bei ihr allein liegt. Deswegen sagt Platon, nachdem er auf den möglichen innerweltlichen Nutzen der Gerechtigkeit und Schaden der Ungerechtigkeit am Ende des Lebens hingewiesen hat, dass diese Vergünstigungen und Vorteile bzw. Nachteile des irdischen Lebens nichts sind, verglichen mit dem, was die Gerechten und Ungerechten nach dem Tode erwartet. „Es ist aber notwendig, es zu hören, damit jeder von beiden vollständig das vom Logos Geschuldete erfasse“ (614a). Damit ist klar ausgesprochen, dass der unmittelbar folgende Mythos keine Wahrheit neben der Wahrheit des Logos verkündet, sondern diese nur in Bildern erzählt. Dasselbe ergibt sich auch im Hinblick auf den Mythos im Politikos, der das Ende der mythischen Religion versinnbildlichen und die Emanzipation des Menschen von der Behütung Gottes in der paradiesischen Zeit darstellen soll. „So haben wir ... einen monströsen Mythos auf unsere Schultern geladen“, sagt der „Fremde“ im Anschluss daran, und doch bleibt die Ausführung mangelhaft, weil der Mythos als solcher eben nur ein Bild ist, das eine didaktische oder pädagogische Funktion erfüllt. „Es ist aber für die, die folgen können, eher angebracht, durch Wort und Rede ein jedes Lebewesen zu erhellen als durch Zeichnung oder plastische Modelle“ (Plt 277c). Das soll ja wohl heißen: Wer es fassen kann, der fasse es im Logos. Die anderen bedürfen, wie z.B. der junge Sokrates, der Bilder oder des Beispiels. M. Kranz hat deswegen mit Recht in ihrer bemerkenswerten Platon-Arbeit gesagt: „Der reine Logos ... ist grundsätzlich höherrangig als der Mythos, der den Logos einkleidet und ihn als ‚längeren Weg‘ philosophischen Anfängern wie dem jungen Sokrates nahebringt.“16 Die im Anschluss an den Mythos folgende Theorie über das Beispiel ist – wie die Forschung noch kaum festgestellt hat – als eine Erklärung der Funktion des Mythos im Denken Platons aufzufassen.17 „Es ist schwer, Bester“, – sagt der Fremde zu Sokrates – „wenn man nicht ein Beispiel zur Hand nimmt, irgendetwas Größeres recht deutlich zu machen.“ Der Mythos verweist so von einem konkreten, anschaubaren Bereich auf etwas „Großes“, Nichtanschaubares, ewig Gültiges. 15
Wenn Brisson [1982] in der „Unverifizierbarkeit“ das Charakteristikum des Mythos im Vergleich zum als Urteil verstandenen Logos sieht, wird er weder der platonischen Logosauffassung noch dem auch im Mythos enthaltenen Wahrheitsanspruch gerecht. Zur Kritik an Brisson vgl. auch Kranz [1986] 147. 16 Kranz [1986] 76. – Zur Funktion des Politikos-Mythos vgl. auch Oesterle [1978] 37. 17 Vgl. Kranz [1986] 77–79.
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Obwohl der Mythos auf diese Weise auf den philosophischen Logos hinweist, von dem her er verständlich wird, stellt er gleichwohl eine Bereicherung neben diesem dar, insofern die Bilder etwas zur Anschauung bringen, was ohne sie bloß begriffen wäre. Ja, dieser Reichtum der Darstellungsweise des Mythos ist von der Art, dass er nicht im Einzelnen in den Logos übertragbar ist. Doch das kann nicht bedeuten – wie auch W. Beierwaltes betont hat –, „daß der Mythos der Sache nach doch noch etwas impliziere, was der Dialektik per se unerreichbar bliebe“.18 Der Mythos ist also weder nur unverbindliches Gedankenspiel noch eine vom Logos unabhängige zweite Quelle der Wahrheit. Er ist eine andere Darstellungsweise derselben Wahrheit, ein „anderer Weg“, der auf andere Weise, nämlich auch im Modus des leichten Spiels (Plt 268d), zum selben Ziel führt.19 Durch Platon ist der Mythos somit endgültig abhängig gemacht worden vom Logos, weil er nur in dessen Licht eine Bedeutung erlangt.20 Umgekehrt ist aber auch der Logos auf den Mythos angewiesen, insofern die Veränderung der Darstellungsweise hier und jetzt notwendig ist. Auf diese Weise kommt auch zum Ausdruck, dass der platonische Logos zwar fest und wohl gegründet, aber doch nichts Definitives im Sinne des ein für alle Mal Abgeschlossenen darstellt. Der philosophische Gedanke, der in der Form des Mythos universal adressierbar ist, ist prinzipiell unabschließbar.21 Die Wiederkehr des Mythos bei Platon ist also gar nicht die Wiederkehr eines Gleichen. Vielmehr erscheint der Mythos jetzt in verwandelter Form: Es sind aufgeklärte, d.h. vor dem Forum des Logos verantwortete Mythen, die erzählt werden für die Phantasie. Wenn Platon zu Beginn des Er-Mythos in der Politeia versichert, dass er keine „Alkinoos-Erzählung“ mitteilen wolle, macht er auf diese verwandelte Form des Mythos aufmerksam. Die Rückkehr zum homerischen Typ des Mythos ist unmöglich. Von nun an kann es nur noch den durch den Logos geläuterten Mythos geben. „Der Mythos wird hier in seiner Unzulänglichkeit durchschaut. Die platonischen Mythen sind durchsichtige Bilder; und wenn der Logos, vom Mythos umgeben, paradoxerweise zum mythischen Logos wird, so ist doch auch umgekehrt der Mythos ein logischer, von Vernunft durchdrungener Mythos“22. Das ist geradezu ein Kennzeichen des neuerdings viel geschmähten abendländischen Logozentrismus, dass von nun an der Mythos immer in den Diensten des Logos steht. Die Wahrheit, die in den Mythen Platons durchscheint, ist deswegen auch immer eine gewissermaßen vom Logos geliehene Wahrheit. Man versteht die bunten Bilder dieser Geschichten nur im Lichte der schon erkannten Philosophie. 18
Vgl. Beierwaltes [1989] 277. Zum Ernst des Logos und Spiel des Mythos vgl. Hirsch [1971] 252f. 20 Vgl. Edelstein [1949] 467: „Reason to Plato is supreme; myth is subservient to reason.“ 21 Vgl. Beierwaltes [1989] 281. 22 Vgl. Krüger (wie Anm. 8) XLI. 19
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Diese Auffassung vom Verhältnis zwischen Mythos und Logos bei Platon kann sich nicht nur auf glänzende Arbeiten moderner Philologen berufen.23 Bestätigt wird sie auch durch die Einstellung des Aristoteles gegenüber den Mythen, die mit Recht „positiv“ und „kritisch“ genannt worden ist.24 Vor allem entspricht sie auch schon im Prinzip der neuplatonischen Auffassung, nach der dem Mythos die Funktion der Veranschaulichung der philosophischen Erkenntnis zukommt. Als dieses Sichtbarmachende ist der Mythos freilich „reicher“ als der dürre Logos, aber reicher nur an defizienten Einzelheiten und nur für die Phantasie.25 Nach der allgemeinsten Bestimmung bei Plotin ist der Mythos jene Darstellungsform, in der das, was eigentlich, d.h. im Geist zusammen und eines ist, als der Zeit nach voneinander getrennt erscheint.26 Der Neuplatoniker Salustios hat das in die klassischen Worte gekleidet: „Dies ist niemals geschehen, es ist immer; der Geist sieht alles zugleich, die Rede bringt das eine zuerst, das andere danach.“27 Infolgedessen fehlt dem Mythos, für sich genommen, das Licht eigener Wahrheit. Deswegen kann Olympiodor in seinem Gorgias-Kommentar sagen, dass die Mythen zu verachten und die Wahrheit zu suchen sei.28 Da der Mythos aber seine Wahrheit vom Logos empfängt, kann er zugleich das „Abbild“ der Wahrheit29 oder auch die „Nachahmung“ der Wahrheit30 genannt werden. Als solche hat er den Charakter des Verweisens, oder besser: der Andeutung, insofern die höhere, geistige Wahrheit noch verhüllt dargeboten wird.31 Auch die im Neuplatonismus gestellte Frage, warum denn Platon Mythen geschrieben habe, wird in einem einheitlichen Sinne beantwortet. Platon wollte so 23
Besonders sei hier neben dem genannten Aufsatz von Edelstein verwiesen auf Müller [1986] 110–125. 24 Vgl. Verbeke [1986] 239–263. 25 Beierwaltes [1989] 280, vgl. 274, kritisiert einerseits eine „totale Rationalisierung des Mythos“ in der Platon-Interpretation der Spätantike, durch die er „zur ‚bloßen‘ Metapher des Gedankens“ bzw. zum „Ornament der Reflexion“ degradiert würde. Andererseits jedoch könne die „Sache“ des Mythos logisch formuliert werden (277). Der Mythos soll einerseits einen „Bedeutungsüberschuß“ haben, ein Stimulans sein, aber „der Sache nach“ doch nicht mehr als der Logos enthalten. Das kann nur bedeuten, dass der „Bedeutungsüberschuß“ nicht zur „Sache“ des Mythos gehört. Er enthält ein „Mehr“, aber doch nur für die Phantasie. Wenn die „Sache“ des Mythos, also seine Wahrheit, auch logisch formuliert werden kann, scheint er für die Darlegung der Wahrheit, die im auf der Ideenschau gründenden Logos erfasst wird, nicht unbedingt notwendig zu sein, sondern nur unter der Bedingung sinnlichen Sehens. Genau das aber wollten auch die Neuplatoniker ausdrücken. 26 Vgl. Plotin Enn. III.5.9,24ff. Vgl. auch Olympiodor, In Platonis Gorgiam Commentaria 250,18. 27 Salustios, De diis et mundo IV,8. 28 Olympiodor, In Gorg. 232,1: pantacoà to…nun de‹ katafrone‹n tîn mÚqwn kaˆ ™pe…gesqai ™pˆ t¾n ¢l»qeian kaˆ taÚthn dièkein. 29 Ebd. 237,19. 30 Vgl. Damascius, In Phaedonem I §466. 31 Damascius, In Phaed. II §129.
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die philosophische Wahrheit auch für die Phantasie, das an sinnliche Bilder gebundene Vermögen in uns, ja allgemein für das Kind in uns, das gerne spielt, darstellen.32 Die Bestimmung des Synesios gibt die allgemeine Ansicht des Neuplatonismus wieder: ho mythos philosophēma paidōn estin. Seitdem ist das abendländische Bewusstsein von diesem im Platonismus vorgebildeten Verhältnis des Logos zum Mythos bestimmt. Von nun an bemisst sich die Legitimität des Mythos daran, ob er im Dienst des Logos steht und wie er dessen Wahrheit für das niedere Vermögen der Phantasie zum Ausdruck bringen kann. II. Die erste bedeutsame Kritik dieses logozentrischen Ansatzes ist das Denken der Romantik, in dem der Mythos eine Rehabilitierung erfährt und besonders durch Chr. G. Heyne die Grundlage für das Fachgebiet der Mythologie gelegt wird. In Göttingen hörten die Vorlesungen des Philologen: die beiden Schlegel, Friedrich Creuzer, Friedrich August Wolf, Johann Heinrich Voss, Wilhelm v. Humboldt, um nur die Wichtigsten zu nennen. In der „neuen Mythologie“ sieht z.B. F. Schlegel die Chance der „Verjüngung der Menschheit“, weil so der Mythos zur Wirkung kommt, der Mythos, der „den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft“ aufhebt und den Geist „wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur“ versetzt, „für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne als das bunte Gewimmel der alten Götter“.33 Man erkennt ganz leicht, dass auch hier, in der Romantik, der alte Gegensatz zwischen Mythos und Logos das Feld beherrscht. Freilich haben sich die Vorzeichen geändert: Der Mythos, das ist jetzt das Produkt schöpferischer Freiheit, das „wahre Kunstwerk“, die Selbstoffenbarung Gottes, die ursprüngliche Wahrheit, der Logos aber ist das Überwundene oder zu Überwindende. Es wäre reizvoll und sinnvoll, die Wirkungsgeschichte der aufklärerischen und romantischen Konzeption und das Aufeinandertreffen beider – z.B. in der berühmten Kontroverse zwischen F. Creuzer und G. Hermann – im 19. und 20. Jh. weiterzuverfolgen und dabei insbesondere den Einfluss auf die Altphilologie, auf F.G. Welcker, auf H. Usener, auf J.J. Bachofen, auf E. Howald, auf U. von Wilamowitz-Moellendorf bis hin zu W.F. Otto und K. Kerenyi zu verfolgen.34 All dessen enthalte ich mich hier, um die schärfere Kritik an der aufklärerischen Position Platons wenigstens nennen zu können: K. Hübners Buch „Die 32
Damascius, In Phaed. II §130; §525. Zur neuplatonischen Mytheninterpretation vgl. auch Theiler [1970] 133–138 und Burkert, Art. „Mythos, Mythologie“, HWPh Bd. 6, 282. 33 Schlegel [31971] 502. 34 Zu dieser Entwicklung vgl. Horstmann, Art. „Mythos, Mythologie“, HWPh Bd. 6, 288ff.
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Wahrheit des Mythos“, das 1985 erschien, steht selbst noch in der romantischen Tradition, indem es den Mythos mit dem Anspruch der Rationalität, und zwar der Rationalität der modernen Naturwissenschaften, zu versöhnen versucht. Der traditionelle Gegensatz von Mythos und Logos wird hier allerdings reduziert auf den des Mythos und der Wissenschaft, und zwar zu dem Zweck, der mythischen Erfahrung neben der wissenschaftlichen in unserer technisierten Welt zu ihrem Recht zu verhelfen und den universalen Wahrheitsanspruch der Wissenschaft zurückzuweisen. Diese Rehabilitierung des Mythos beruht auf dem Grundgedanken, dass eine dem Mythos eigene Ontologie und Rationalität aufgezeigt und expliziert werden könne. Ob aber wirklich die dem Mythos zugrunde liegende Ontologie erfasst werden kann, indem Begriffe verwendet werden, die aus der großen Metaphysikund damit Logostradition stammen – wie z.B. das Verständnis der „mythischen Substanz“ als der Einheit des Ideellen und Materiellen –, ob wirklich die dem Mythos eigene Rationalität aufgezeigt werden kann, indem Basissätze, Archai und sonstige aus der abendländischen Logik-Tradition bekannte Wissensvorstellungen im Mythos ausfindig gemacht werden, ob wirklich die Gegenwart des Mythischen dadurch belegbar ist, dass auf die mythischen Strukturen der christlichen Religion hingewiesen wird, wo diese sich doch immer selbst als in der Logos-, d.h. in der Philosophietradition, stehend begriffen hat – dies alles kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, sondern nur mit Bedenken referiert werden. Zudem besteht der Verdacht der petitio principii: Niemanden wird es verwundern, dass, wenn vom Gegenstandsbegriff, Gesetzesbegriff und den Vorstellungen von Raum und Zeit der wissenschaftlichen Vernunft – „den Elementen der wissenschaftlichen Ontologie“ – ausgegangen und entsprechende Fragen an den Mythos gestellt werden, eine eigene Rationalität dem Mythos zugrunde zu liegen scheint. Was aber ist, wenn das Wesen des Mythos, das Mythische des Mythos, überhaupt nicht durch derartige Kategorien einer bestimmten Ontologie zu fassen ist, wenn es durch sie vielmehr verfälscht wird? Doch eine ausführliche Darlegung und Auseinandersetzung muss hier zurückgestellt werden, um die schärfste Kritik an der aufklärerischen Position Platons zur Sprache bringen zu können. Ich meine die Position H. Blumenbergs, die in seinem 1971 erschienenen Aufsatz „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“ schon deutlich zu erkennen ist und die in dem 1984 erschienenen Buch „Arbeit am Mythos“ voll entfaltet wird. Sie stellt eine Fundamentalkritik an der platonisch-aufklärerischen Position dar, weil hier der traditionellen Unterscheidung zwischen Mythos und Logos der Boden entzogen werden soll.35 Diese Unterscheidung ist nach Blumenberg deswegen völlig verfehlt und verfälschend, weil durch sie die Rolle des Mythos nicht annähernd angemessen beschrieben wird. „Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär und macht es nicht zur erledigten Sache, nach dem Logos des Mythos im Abar35
Vgl. Blumenberg [1971], 11–66; ders. [1984].
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beiten des Absolutismus der Wirklichkeit zu fragen. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.“ (18) Hier ist die Grundthese schon deutlich erkennbar: Der Mythos ist nicht – wie uns die Aufklärungen aller Zeiten weismachen wollten – der Erzeuger des Schreckens, für dessen Linderung er zugleich auch Mittel bereitstellen kann, er ist nicht – wie die Aufklärung es unterstellte – jener von der Priesterkaste verwaltete Bestand von Geschichten, die Furcht und Hoffnung erregten, sondern er ist selbst schon eine Form der Überwindung eines ursprünglichen Schreckens (53). Das Namengeben und Geschichtenerzählen kündet von der Bewältigung einer Schreckenssituation, die den Menschen zunächst sprachlos machte. Durch den Mythos wird das unerträglich Scheinende erträglich gemacht. „Mythen sind geglückte Versuche, ... aus dem Schrecken in Geschichten über den Schrecken auszuweichen.“36 Kurzum: Der Mythos hat nach Blumenberg die Funktion, eine Distanz zur Unheimlichkeit zu schaffen. Beleg dafür sind auch schon die frühesten uns erreichbaren Mythologeme. Insofern aber schon solches Namengeben und Geschichtenerzählen die erste Form des Vertrautwerdens mit der Welt, die erste Form der Abarbeitung des „Absolutismus der Wirklichkeit“ ist, muss der Mythos selbst als eine Arbeit des Logos verstanden werden. Deswegen sieht Blumenberg in dem zur Formel gewordenen Buchtitel „Vom Mythos zum Logos“ eine „klassische Desinformation“ und betrachtet ihn als „Unfug“, weil „sie im Mythos selbst nicht eine der Leistungsformen des Logos anzuerkennen gestattet“ (34). Die Antithese Mythos - Logos sei „eine späte und schlechte Erfindung, weil sie darauf verzichtet, die Funktion des Mythos bei der Überwindung jener archaischen Fremdheit der Welt selbst als eine vernünftige anzusehen“ (56). Wenn jedoch auch der griechische Mythos schon eine Form des Logos ist – im Sinne des Sieges über die durch den Absolutismus der Wirklichkeit bewirkte Sprachlosigkeit –, dann müssen freilich auch die verschiedenen Philosophien oder doch etwas in ihnen als eine solche Arbeit am Mythos verstanden werden, denn auch durch sie wird geleistet, was den Mythos kennzeichnet: eine Entfernung vom Zwang oder eine Bestimmung des Unbestimmten. Doch das Buch von H. Blumenberg will den Leser nicht nur zu einer anderen Einschätzung des griechischen Mythos und aller anderen bewegen. Sein eigentlich philosophisches Anliegen passt gut in unsere postmoderne, vielfach von Nietzsche inspirierte Philosophienlandschaft. Es wird am deutlichsten im 3. Kapitel des zweiten Teils ausgesprochen, wo „Mythen“ den „Dogmen“ gegenübergestellt werden. Während das Dogma ein fester Bestand von Sätzen ist, an denen sich die Geister scheiden können und sollen, ist „die mythische Denkform durch die fast unbegrenzte Vereinigungsfähigkeit heterogener Elemente gekennzeichnet“. Das Dogma hat Anhänger, es erzeugt Häretiker, es erzeugt Unreine, es fordert von den Abweichlern Bußrituale. Der Mythos dagegen „fordert keine Entscheidungen, keine Bekehrungen, kennt keine Apostaten, keine Reue“ (269). 36
Vgl. Marquard [1971] 528.
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Das liegt darin begründet, dass der Mythos eine „eigentümliche Form der Freiheit“ hat, die „er einem Verzicht auf Wahrheit verdankt“ (266). Das also ist der springende Punkt: Der Logos ist im Verlauf seiner Geschichte, da, wo er nicht Mythen aufnahm, zum Dogma erstarrt, d.h. zum kompromisslosen Wahrheitsverkünder. Doch da, wo der Mythos – oder wie der Parteigänger O. Marquard sagt: die vielen Mythen – unter Verzicht auf Wahrheitsbehauptung an seine Stelle tritt, ist die Freiheit garantiert. Auf der einen Seite verbünden sich – so suggerieren Blumenberg und Marquard – Wahrheit und Terror, auf der Gegenseite Mythos und Freiheit. Ganz offenkundig handelt es sich um einen ästhetischen Freiheitsbegriff, von dem sich beide Autoren leiten lassen. Die Arbeit am Mythos, die den alten Ernst abträgt, verschafft ästhetischen Genuss, insofern der Zwang, Druck und Schrecken der Wirklichkeit erträglich gemacht und viele neue Möglichkeiten eröffnet sind. „Der ästhetische Genuss besteht in der ausgespielten Distanz zu dem, was als unmöglich Gewordenes hinter ihm liegt.“ (684) Im Hintergrund dieser Konzeption steht der Satz Nietzsches „Wir haben die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen“, der nach postmoderner Lesart denn auch (ganz im Sinne Blumenbergs) bedeutet: „Wir haben Distanz zur Wahrheit, damit wir sie nicht unmittelbar haben müssen“37. Die ästhetische Position ist noch deutlicher bei O. Marquard zu erkennen. Mythen gehören zu dem, ohne das der Mensch nicht leben kann. Sie sind aber nicht als Vorstufen der Wahrheit aufzufassen, sondern als das, was uns die Wahrheit aushalten lässt. Denn diese ist für sich entweder lebensfremd abstrakt oder unlebbar grausam. „Da dürfen dann nicht nur, da müssen die Geschichten – die Mythen – herbei, um diese Wahrheiten in unsere Lebenswelt hereinzuerzählen oder um sie in unserer Lebenswelt in jene Distanz zu erzählen, in der wir es mit ihnen aushalten.“38 Leicht ist hier dieselbe Struktur wie in der Konzeption Blumenbergs erkennbar: Die Wahrheit oder die Wirklichkeit ist dem Menschen unmittelbar ein Schrecken, etwas nicht Auszuhaltendes, etwas Grausames. Deswegen bedarf es des Mythos oder der Mythen, um sich von ihr zu distanzieren. Die Philosophie proklamiert so die Notwendigkeit des Mythos und versteht sich offenbar selbst als eine Form des Mythos, jedenfalls dann, wenn man die Erklärung eines Philosophen ernst nehmen soll: „Und so ... erzähle ich denn: Geschichten und spekulative Kurzgeschichten und andere Philosophiegeschichten und Philosophie als Geschichten und weitere Geschichten und – wo es den Mythos betrifft – Geschichten über Geschichten; und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich noch heute.“39 So lustig diese Rede ist, so schlimm ist sie auch. Schlimm deswegen, weil hier im Namen der Philosophie auf das verzichtet wird, was sie selbst ausmacht, was zu ihrem Wesen gehört: auf den Anspruch auf Wahrheit. Der Verzicht auf 37
Vgl. Sloterdijk [1986] 84. Marquard [1981] 94–95. 39 Ebd. 111. 38
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diesen Anspruch ist für die Philosophie schlechthin ruinös und – möglicherweise – darüber hinaus dem menschlichen Bewusstsein überhaupt unzumutbar. Die so empfohlene, überall Wahrheitsterrorismen witternde Polymythie ist ein „humanisierender Prozeß“ genannt worden.40 Ist sie das wirklich? Der Ausgangspunkt dieser postmodernen Position ist auch derjenige der platonischen Philosophie, wo der Gegensatz zwischen Mythos und Logos erstmals anspruchsvoll formuliert wurde. Er besteht in der Annahme, dass der Mensch ohne Mythen nicht leben kann, dass er der Geschichten bedarf. In der Tat! Aber doch nicht irgendwelcher, sondern nur der wahren. Es mag sein, dass angesichts schrecklicher Wirklichkeit, z.B. des Todes, nur Geschichten etwas nützen, aber doch nur wahre. Was in der Lebenswelt gilt, ist auch in der Philosophie nicht anders: Wir brauchen nicht irgendwelche Philosophiegeschichten, sondern nur die wahren. Mit anderen Worten gesagt: Der Anspruch auf Wahrheit kann gar nicht suspendiert werden, schon gar nicht durch Geschichten, weil auch sie von uns daraufhin befragt werden, ob sie wahr sind oder nicht. Nun ist der Begriff der Geschichte mindestens doppeldeutig. Der Mensch ist als Wesen der Freiheit Subjekt der Geschichte, ja er ist sowohl in die vielen individuellen wie auch in die eine große Universalgeschichte verstrickt, insofern er verschiedene Rollen spielt, aber er ist auch der Erzähler der Geschichten. Als diesem Erzähler aber ist ihm nicht an irgendeiner beliebigen, sondern nur an der jeweils wahren Geschichte gelegen.41 Die Wahrheit ist das eigentlich und immer schon, das zuerst und zuletzt Gewollte. Wenn aber Wahrheit, dann auch Logos. Wer so am Logos und am Wollen der Wahrheit festhält, den wird der Vorwurf, das führe zuletzt zum Terror, nicht treffen. Denn er weiß, dass die Anerkennung der Wahrheit eine Sache der Freiheit ist und dass es wirkliche Freiheit ohne das Wollen der Wahrheit nicht gibt. Er wird sich im Gegenteil fragen, ob nicht jene Rede, nach der die Furcht vor der terroristischen Wahrheit durch Geschichten vertrieben werden soll, auch nur ein Mythos ist, der, weil er nicht wahr ist, möglicherweise mehr Schrecken verbreitet als manch anderes Wirkliche. Kurzum: Die Rehabilitierung des Mythos in dieser postmodernen Perspektive hat einen hohen Preis, der zu hoch ist, als dass er von der Philosophie gezahlt werden könnte. „Also“ – um eine Formulierung des Neukantianers O. Liebmann zu verändern – „muß“ – zumindest in Sachen des Mythos – „auf Platon zurückgegangen werden.“ Denn 40 Vgl. Taubes [1983] 460. Mit Recht rückt Taubes, der die „Funktion vom Mythos in ethischer Absicht“ erkunden will, die Position Marquards in die Nähe der von Nietzsche her ermöglichten „Suspension des Ethischen“, von der man freilich sagen muss, dass sie ästhetischer, nicht religiöser Natur ist. Zur Kritik an Marquard und Blumenberg vgl. auch Timm [1983] 441. 41 Zu diesem Doppelsinn des Begriffs Geschichte vgl. Marquard [1986] 72ff., wo freilich nicht deutlich wird, wie man sich eine Teilung jener „Mächte“, die die Erzählungen der Geschichten sind, soll vorstellen können und inwiefern diese Teilung über die „Verzweiflung“ hinweghelfen soll.
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durch die platonische Philosophie ist jenes Bewusstsein von Wahrheit in unsere Welt gekommen, das sich notwendig an den Logos gebunden weiß, an den Dialog, an das Miteinanderreden. Der Logos oder Dialogos ist der Ort der Wahrheit, insofern hier allein die gelebte Überzeugung, das lebensweltlich Selbstverständliche, dann, wenn es auf ein anderes gleicher Art trifft, verantwortet werden kann. In dieser Hinsicht ist es gerade nicht der Mythos, sondern allein der Logos, der das Schlimmste, das unvermittelte non-verbale Aufeinandertreffen solcher Vorurteile oder Selbstverständlichkeiten verhindert. Deswegen muss der Logos oder Dialog, in dem sich die Gesprächspartner gegenseitig als nach der gemeinsamen Wahrheit strebende anerkennen, auch als der Vermittler wahrer Freiheit angesehen werden. Nun impliziert – wie Platon besonders deutlich im Dialog Gorgias dargelegt hat – das Wollen der Wahrheit schon eine bestimmte moralische Haltung, die Platon als die Bereitschaft, sich widerlegen zu lassen, kennzeichnet.42 Zur Wahrheit gehört – so kann man sich diese These Platons verdeutlichen – immer auch, und zwar als ein konstitutives Element, die Möglichkeit der Kritik. Wo diese freilich immer zeitlich begrenzte Möglichkeit nicht gegeben ist – das gilt für alle Bereiche des Lebens, in privaten wie in öffentlichen, in politischen wie religiösen Angelegenheiten –, da ist keine Wahrheit. Dieser Begriff des Logos, der universalen Wahrheitsanspruch erhebt und zugleich von sich her die Möglichkeit der Kritik und somit die freie Annahme oder Ablehnung der Wahrheit eröffnet, liegt auch noch jener Form der Rede zugrunde, die wir hier pflegen, indem nach einem Vortrag die Möglichkeit der Diskussion und damit der Kritik gegeben ist. Eine solche Einrichtung beruht ja offenkundig auf der Voraussetzung, dass alle, die einen solchen Logos hören, die Wahrheit als das bonum commune wollen. Platon hat dieses Suchen nach der gemeinsamen Wahrheit und das Sich-Öffnen für mögliche Kritik als das Wesen des Logos bestimmt, nämlich im Gorgias 505e–506a, wo es heißt: „Wollen wir es jedoch so machen, so denke ich, wir müssen auch alle aus allen Kräften uns bemühen zu erfahren, was wahr ist in der Sache, wovon wir sprechen, und was falsch; denn es ist für alle insgemein gut (koinon agathon), daß dies ans Licht komme. Ich also will es durchgehen, wie ich glaube, daß es sich verhält. Wenn aber einen von euch dünkt, ich stimmte mir selbst bei, wo ich nicht sollte: so müßt ihr dazwischentreten und widerlegen. Denn nicht, als wüßte ich es, sage ich, was ich sage, sondern ich suche es gemeinschaftlich mit euch; so daß, wenn mir derjenige etwas zu sagen scheint, der mir widerstreitet, ich es zuerst einräumen werde.“
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Zu den moralischen Implikationen des Miteinandersprechens nach der Lehre Platons vgl. Kobusch [1987].
PRAESENS DIVINUM MYTHISCHE UND HISTORISCHE ZEIT IN DER GRIECHISCHEN LITERATUR* Michael Erler Hölderlins Gedicht Das Ahnenbild1 setzt mit folgender Strophe ein. Alter Vater! Du blickst immer, wie ehmals, noch, Da du gerne gelebt unter den Sterblichen, Aber ruhiger nur, und Wie die Seligen, heiterer In die Wohnung, wo dich, Vater! das Söhnlein nennt, ...
Angesprochen wird das Familienoberhaupt, der Ahn. Obgleich verstorben, fühlt die Familie seinen Blick auf sich ruhen, ist er seinem Sohn und den Verwandten gegenwärtig. In den folgenden Strophen werden Wohnung und Garten, Weinberg, wachende Mutter, spielendes Kind und tätiger Vater geschildert, und schließlich gelangt der Dichter zum gemeinsamen Mahl, bei dem Vergangenes und Zukünftiges zur Sprache kommen: Und es tönen zum Dank hell die Kristalle dir; Und die Mutter, sie reicht, heute zum erstenmal, Daß es wisse vom Feste, Auch dem Kinde von deinem Trank.
Damit schließt Hölderlins Gedicht. Anfang und Ende lassen den Ahn also in mehrfacher Hinsicht präsent sein: als im Bild anwesenden Vorfahr, der sein Leben gelebt hat; als Mitglied der Familie, körperlich im Blute der Verwandten, aber auch geistig als verehrtes Vorbild, wenn die Familienmitglieder beim Mahl von ihm sprechen, seiner gedenken und damit seine Taten gleichsam wiederholen. Mehr noch: Ihm wird der Status eines Unsterblichen zugebilligt, der allgegenwärtig ist und die lebensweltliche Gegenwart der Sterblichen beeinflussen kann: *
Die folgenden Gedanken wurden durch Diskussionen in meinem Seminar über Euripides’ Bakchen angeregt. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars, Auditorien in Basel, Erlangen, Greifswald, Pisa, Regensburg, Rom und Zürich für Kritik und Anregung. (Eine italienische Version erschien 2002 in den Studi Romani V2.) 1 Der Text ist entnommen: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. G. Mieth. Bd.1. München 1970, 298–300. Zu verweisen ist auch auf die kritische Ausgabe: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. ,Frankfurter Ausgabe‘ Bd.4. Oden I, hrsg. v. D.E. Sattler / M. Knaupp. Frankfurt a.M. 1994, 323–328; zum Gedicht und der Zeitfrage vgl. Hübner [1985] 26f.
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Stiller Vater! auch du lebtest und liebtest so; Darum wohnest du nun, als ein Unsterblicher, Bei den Kindern, und Leben, Wie vom schweigenden Äther, kommt Öfters über das Haus, ruhiger Mann! von dir,...
Auffällig ist in dieser Strophe besonders das Miteinander von Gegenwarts- und Vergangenheitsformen: „du lebtest und liebtest“, du „wohnest nun“ , „von dir kommt Leben über das Haus“. Man hat darauf hingewiesen, dass Hölderlin hier einer mythischen Sichtweise und insbesondere einer mythischen Zeitvorstellung sprachlichen Ausdruck verleiht, einer Zeitvorstellung, die an eine entsprechende Konzeption der Griechen erinnert und erinnern soll. Denn die Griechen unterschieden eine heilige Zeit (z£qeoj crÒnoj) der Götter von der irreversiblen, aus der Vergangenheit beständig in die Zukunft fließenden Zeit der sterblichen Menschen.2 Trotz dieser Scheidung billigt auch der griechische Mythos den Göttern Einfluss auf die Geschehnisse in der profanen Zeit der Menschen zu: Wie für Hölderlins Ahn gilt für die Götter der Griechen: sie „liebten und lebten“ – die Mythen sind voll von solchen Geschichten – , von ihnen kann aber auch – um mit Hölderlin zu sprechen – „Leben wie vom schweigenden Äther, öfters übers Haus kommen“.3 Dieses Mit- und Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit, das unserem Zeitsinn zu widerstreben scheint, soll uns im Folgenden ein wenig beschäftigen. Wir wollen uns dabei von einer scheinbar belanglosen, für den gewählten Zusammenhang aber bemerkenswerten Stelle bei Plutarch anregen lassen.4 Auch dort ist der Rahmen ein Familienfest, eines jener Feste nämlich, die seit der Gründung der platonischen Akademie zum Gemeinschaftsleben auch anderer Philosophenfamilien gehörten: Das jährliche Treffen der Mitglieder anlässlich des Geburtstages des Gründungsheros der Schule, das zur Erinnerung an prägende Gestalten der Institutionen, aber auch der eigenen Identifikation diente. Man aß und trank und hörte Vorträge über verdiente Personen oder zentrale Probleme – Ansporn zur Nachahmung und zur Vergewisserung der Richtigkeit eigenen Tuns, Erinnerung an jenes Band, das auch hier die gleichsam überzeitliche Substanz der Gemeinschaft ausmachte: „Sitz im Leben“ für das, was später als Philosophenbiographie, Schulgeschichte oder Heiligenvita zu eigenen Gattungen geworden ist. Anlässlich derartiger „Schul“-Treffen erfreute man sich an gelehrter Unterhaltung, die den Scherz geistvoller 2
Zur Zeitauffassung bei Homer vgl. Fränkel [1968]; vgl. auch van Groningen [1953]; Hölscher [1990] 137; 192f. 3 Zur Unterscheidung zwischen heiliger und profaner Zeit vgl. Vidal-Naquet [1989] 12ff. („Zeit der Götter, Zeit der Menschen“); Hübner [1985] 143ff. 4 Plutarch, Quaestiones convivales VIII 1, 717d–718b = Dörrie / Baltes 58.1; Gooch [1982] 239–240.
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Spekulation mit dem Ernst philosophischer oder philologischer Argumentation zu verbinden wusste: An solchen akademischen Unterhaltungen lässt uns der kaiserzeitliche Platoniker Plutarch in den Quaestiones convivales teilhaben. Für uns von Interesse ist dabei das Treffen einer kleinen Gruppe gebildeter Platoniker am 7. Thargelion. Schon tags zuvor, am 6. Thargelion, hatte sich Plutarch mit seinen Freunden Diogenianus, Florus und Tyndares getroffen, um Sokrates’ Geburtstag zu feiern. Nun, am 7. Thargelion, gilt es, den Geburtstag von Sokrates’ größtem Schüler zu begehen. Man feiert Platons Geburtstag, indem man sich, wie vom Brauch gefordert und unter Platonikern üblich, beim Umtrunk mit schönen Reden unterhält. Als Thema hatte sich diesmal eben jene Koinzidenz von Geburtstagen angeboten, die Anlass des zweimaligen Treffens an zwei aufeinander folgenden Tagen war, eine Koinzidenz, die bei bedeutenden Persönlichkeiten nicht selten zu beobachten ist: ein dankbares Thema also, um Gelehrsamkeit zu entfalten. Darüber hinaus regt bei Platon das Thema „Geburtstag“ und die verbreitete Legende über seine Abstammung von Apollon zu prinzipiellen Erwägungen über die Rolle von Geburt und Zeugung im Bereich jener Götter an5, die als unsterblich zu gelten haben. Man fragt sich, wie es zum Kontakt der Wesen aus dem überzeitlichen Bereich mit den zeitlichen Menschen kommen, oder – um an Hölderlin zu erinnern – wie Leben, wie vom schweigenden Äther, „öfters über das Haus kommen kann“. Tyndares sieht sich veranlasst, die Annahme, von den Göttern gebe es Geburt und Zeugung, zu verteidigen. Er diskutiert Bedenken, ob die Unsterblichkeit des Gottes im Widerspruch zum Zeugen und zum ErzeugtWerden zu sehen ist. Da kommt ihm allerhöchste Autorität gerade recht: Meint er doch, sich auf Platon berufen zu können. Denn der nenne im Timaios seinen Gott, den Demiurgen, ebenfalls Vater und Schöpfer.6 Leider ist das weitere kurze Wortgeplänkel zwar geistvoll, aber nicht recht ergiebig. Jedoch was Tyndares hier zur Freude seiner Freunde geistvoll in Beziehung setzt, das Paradox von Geburt und Zeugung im Bereich der unsterblichen Götter des Mythos und Platons philosophisch mythische Erzählung von der Schaffung und Erzeugung der Welt, dieser eher spielerisch gemeinte Vergleich scheint mir von großem Interesse zu sein und soll uns zu weiteren Überlegungen anregen. Denn die Timaios-Stelle ist eine der zentralen Passagen der antiken Literatur und Anlass nicht enden wollender Diskussion darüber, ob Platon seine „WeltSchöpfung“ als zeitlich einmaligen Vorgang oder als dauernden Prozess – als 5
Zu Platons Geburtslegende vgl. Diogenes Laertios 3,2 = Speusippos fr. 27 Lang = fr. 1a Tarán = Klearchos fr. 2a Wehrli = Dörrie / Baltes 58. 1 mit Dörrie / Baltes [1990] 404ff.; vgl. Riginos [1976] 15–17. 6 Quaestiones convivales VIII 1, 718a: ¢naqarrî dὲ p£lin aÙtoà Pl£twnoj ¢koÚwn patšra kaˆ poiht¾n toà te kÒsmou kaˆ tîn ¥llwn gennhtîn tÕn ¢gšnnhton kaˆ ¢…dion qeÕn Ñnom£zontoj, oÙ di¦ spšrmatoj d»pou genomšnwn, ¥llV dὲ dun£mei toà qeoà tÍ ÛlV gÒnimon ¢rc»n...
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creatio continua – verstanden wissen will.7 Tyndares’ Hinweis auf den Mythos und sein Vergleich von Göttergeburt und Weltschöpfung hat dabei, soweit ich sehe, bisher keine große Rolle gespielt. Verständlicherweise, sollte man denken, scheint der Vergleich doch als Teil jener theōria gleichsam nur hingeworfen, welche nach den Gesetzen des Symposions die Weinlaune im Zaume halten soll.8 Dennoch ist es lohnend, sich von Tyndares anregen zu lassen. Denn dies eröffnet die Möglichkeit, einen kleinen Beitrag zu jenem Jahrhunderte alten Streit zu leisten. Wir wollen deshalb zunächst die von Tyndares angeschnittene Frage vom Paradox der Göttergeburt aufgreifen und verdeutlichen, was unter mythischer Zeit zu verstehen ist, wollen es sodann mit der sprachlichen Analyse einiger einschlägiger Texte in Verbindung bringen und schließlich in einem dritten Teil zu Platons Timaios zurückkehren. I. Göttergeburt und Unsterblichkeit Wenden wir uns zunächst dem ersten Aspekt zu, den Tyndares anspricht und der ihm Schwierigkeiten macht: Göttergeburt und Unsterblichkeit. Wie ist die Geburt eines Gottes mit seiner Göttlichkeit, d.h mit seiner Unsterblichkeit zu vereinbaren? Nun ist bei anderen Völkern die Vorstellung nicht nur von der Geburt, sondern auch von Tod und Auferstehung eines Gottes durchaus nicht ungewöhnlich. Die griechischen Götter jedoch, sie sterben zwar nicht, werden aber geboren. Und dies, obgleich sie gleichsam per definitionem als unsterblich und immer existierend gelten. Homer nennt die Götter in der Tat „immer seiend“ (a„ὲn ™Òntej), Hesiod spricht von ihnen als dem heiligen Geschlecht derer, die immer sind (ƒerÕn gšnoj a„ὲn ™Òntwn)9, der „heiligen Art der immer Seienden“. In der Theogonie versucht Hesiod Ordnung in die genealogischen Verhältnisse jener immer seienden olympischen Götter zu bringen.10 Besonders die homerischen Hymnen wissen – gleichsam gattungsbedingt – ausführlich von Göttergeburten zu erzählen, wobei auffällt, wie schnell die soeben geborene Gottheit – bisweilen noch in den Windeln wie Gott Hermes des homerischen Hymnus11 – Merkmale ihres spezifischen Wesens in Taten manifest werden lässt. Auch Kallimachos berichtet im Zeus-Hymnus von der Geburt des zu preisenden Gottes. Gegen Nachrichten von seinem Tod jedoch setzt er sich vehement zur Wehr, auch wenn man auf Kreta und anderswo noch so viele Zeus-Gräber vorführt: Geschichten vom Tod des Zeus der auch sonst notorisch 7
Zum Problem zuletzt Baltes [1996] 76–96 = Baltes [1999] 303–325; allgemein: Sorabji [1983]. Zur Rezeption des „Timaios-Problems“ vgl. Baltes [1976/1978]. 8 Plutarch, Quaestiones convivales VIII, 717a ff.; dazu Teodorsson [1996] 148–162. 9 Vgl. Homer, Ilias 1,290. 494; 21,518; 24,99; Odyssee 5,7; 8,306; 12,371. 377 und öfter; Hesiod, theog 21. 33. 105. 10 Hesiod, theog 21. 30. 32. 38. 105. 11 Homer, hymn Herm (4) 235ff.
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lügnerischen Kreter verweist er in den Bereich der Fabel, mit der Begründung: „du starbst nicht, denn du bist immer“ (sÝ d' oÙ q£nej ™ssˆ g¦r a„e…): ein einleuchtendes Argument gegen den Tod des Göttervaters, kaum aber vereinbar mit Berichten von seiner Geburt.12 Kallimachos findet dies jedoch ebensowenig anstößig wie Homer und Hesiod. Für sie sind die Götter ¢eigenštai13, was oft mit „ewig“ übersetzt wird, historisch-analytischem Denken aber als Widerspruch erscheinen muss. Aber nicht nur modernes Denken, schon die Antike hat Anstoß an der Vorstellung von der Geburt ewiger Götter genommen. Ob wirklich Thales, gleichsam am Anfang antiker Philosophie, erste Zweifel artikulierte, indem er Gott dadurch definierte, weder Anfang noch Ende zu haben, bleibe dahingestellt.14 Xenophanes jedoch sah es ausdrücklich als Sündenfall der Menschen an, einen Gott nicht nur sterben, sondern auch geboren sein zu lassen.15 Und wenn Pherekydes16 betont, Zeus, Chronos und Chthonie hätten immer existiert, so darf man auch hier den Widerspruch gegen Homer und Hesiod heraushören. Jedenfalls sind wir seither Zeugen einer lang anhaltenden Diskussion, die, wie wir jetzt sehen, auch den Hintergrund für Tyndares’ Bemühen darstellt, die Vorstellung von Geburt oder Zeugung im Bereich der Götter zu rechtfertigen. Aber, so ist zu fragen, bedarf es wirklich einer Rechtfertigung, die unter dem Hinweis auf die archaische – und das heißt dann offenbar: unlogisch primitive – Denkungsart des Mythos oft den Charakter einer Entschuldigung trägt? Könnten uns die Aussagen nicht paradox erscheinen, weil wir uns dem Problem mit einer falschen Fragestellung nähern, und sollten wir uns von Hölderlin nicht dahingehend belehren lassen, dass die Griechen hier Wesentliches zum Ausdruck bringen? Vielleicht ist die historisch analysierende Sichtweise antiker Philosophen und moderner Interpreten einem richtigen Verständnis gerade abträglich? II. Mythische Zeit Zunächst sei daran erinnert, dass wir uns im Bereich des Mythos bewegen. Und hier gibt es in der Tat eine Vorstellung von Zeit, die sich von der unseres historischen Denkens wesentlich unterscheidet. Dieser Unterschied zwischen mythischer und historischer Zeit sei an einem Beispiel verdeutlicht.17 Ein wesentliches Merkmal griechischer Landschaft ist der Lorbeerbaum. Die Frage liegt nahe: Wo kommt der Lorbeerbaum her? Man kann diese Frage 12
Kallimachos, hymn 1,9. Dazu MacLennan [1977] 37f. Hesiod, theog 548; Homer, Ilias 2,400; bezeichnend anders Platon, Symp 206e. 14 So ein bei Diogenes Laertios (1,36) überliefertes Apophthegma (t… tÕ qe‹on tÕ m»te ¢rc¾n œcon m»te teleut»n), Thales DK 11A1; vgl. van Groningen [1953] 101. 15 Xenophanes DK 21B14 = fr. 14 Heitsch; dazu Heitsch [1983] 127–128. 16 Vgl. Pherekydes bei Diogenes Laertios 1,119 = DK 7B1: Z¦j mὲn kaˆ CrÒnoj Ãsan ¢eˆ kaˆ Cqon…h; vgl. West [1963] 158. 17 Vgl. van Groningen [1953] bes. 84; 95ff. 13
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in zweierlei Hinsicht zunächst als Frage nach der Existenz des konkreten Lorbeerbaumes verstehen. Zur Erklärung von dessen Geschichte wird man auf den Samen verweisen, der von einem früheren Baum stammt, eingepflanzt und nach der Befruchtung zu unserem Baum wurde, seinerseits ein Produzent weiterer Samen ist und damit nur ein Glied in der langen Reihe von Lorbeerbaumgenerationen vor und nach ihm. Man sieht: Eine solche Betrachtungsweise erklärt die Herkunft unseres Baumes im Sinne einer historischen Analyse, eines „vorher“ und „nachher“, ohne dass diese Reihe einen absoluten Anfang hätte oder abgeschlossen wäre. Man kann jedoch die Frage ,Woher kommt der Lorbeerbaum‘ auch in einem anderen Sinne verstehen und fragen, wie es oft Kinder tun: Wo kommt der Lorbeerbaum her, also die Frage nach der Herkunft der Gattung stellen. Hier springt in der Antike der Mythos ein: Er weiß zu erzählen, dass es einstmals ein junges Mädchen gab, Daphne mit Namen. In die verliebte sich Apollon. Sie jedoch wollte seinen Avancen nicht nachgeben. Als Apollon sie verfolgte und einzuholen drohte, da verwandelte sie sich in einen Baum, eben unseren Lorbeerbaum.18 Seit dieser Zeit und aus diesem Grunde, so erklärt also der Mythos von Daphne, gibt es den Lorbeerbaum. Dank der Geschichte von Daphne und Apollon wissen wir also nicht nur, woher der Lorbeerbaum in unserem Garten kommt, sondern weshalb es den Lorbeerbaum überhaupt gibt. Der Mythos von Daphne bietet das Aition für die Existenz des Lorbeerbaumes. Dennoch könnte sich ein Zuhörer nicht zufrieden geben und eine weitere Frage stellen, die Frage nämlich, was bei der Daphne-Geschichte eigentlich mit dem Ausdruck „einstmals“ gemeint ist. Wie der historische Bericht von der Herkunft des konkreten Lorbeerbaumes in unserem Garten spielt sich auch die Daphnegeschichte in der Vergangenheit ab: Mit „es war einmal“ pflegen wir Derartiges einzuleiten. Aber ist diese Vergangenheit wirklich identisch mit der jener Geschichte unseres konkreten Lorbeerbaumes? Was bedeutet „es war einmal“ unter zeitlichem Gesichtspunkt? Offenbar kann man Daphnes Metamorphose keineswegs auf eine Weise historisch lokalisieren, wie dies beim Pflanzen unseres Lorbeerbaumes möglich ist. Die Frage nach einem „vorher“ und einem „nachher“, die historische Zeit und historische Erklärung kennzeichnet, ist hier unpassend.19 Anders als bei der beliebig hinterschreitbaren, historischen Zeit gibt es bei der Daphne-Geschichte einen definitiven Anfang – die Frage ,was war vor Daphne‘ ist sinnlos –, aber auch ein gewisses Ende. Denn nach der Metamorphose ist der Lorbeerbaum da, ist seine Existenz erklärt und ist er versehen mit all jenen Merkmalen, die seine weitere Existenz ausmachen. Eine weitere Entwicklung im Sinne einer historischen Zeitlichkeit gibt es nicht. Parallelen zur Existenz der olympischen Götter springen ins Auge: Auch die Götter Homers treten irgendwann zum ersten Mal auf oder werden geboren, entfalten sofort ihr volles Wesen und entwickeln sich nicht weiter, sondern 18 19
Vgl. Ovid, Metamorphosen 1,452ff. Zur historischen Zeit vgl. Musti [1983] 192; Momigliano [1969] 13–41.
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handeln sofort und dann immer ihrem Wesen gemäß. Für sie gilt, was Aristoteles über die „Geschichte der Tragödie“ schreibt: Ihre Entwicklung hörte auf, als sie ihr Wesen erreicht hatte.20 Dies legt die Vermutung nahe, dass auch bei den Göttern die Frage nach einem „vorher“, aber auch die Erwartung eines „nachher“ zu verwerfen ist. Wie beim Lorbeerbaum ist es unangemessen, ihre Welt mit der Kategorie historischer Zeitbetrachtung verstehen zu wollen. Offenbar setzt der Mythos eine besondere Zeitvorstellung voraus. Mythisches Geschehen hat deshalb Anfang und Ende, ist als „Geschichte“ kein in den Geschichtsfluss fest eingebetteter „Ausschnitt“, sondern ein beliebig lokalisierbarer Abschnitt in der Vergangenheit und deshalb der gewöhnlich historischen Zeitbetrachtung enthoben. Er repräsentiert eine Art von Zeitlosigkeit, in der Geschehnisse oder einmalige Manifestationen göttlichen Wirkens mit den immer währenden Merkmalen des jeweiligen Wesens der Gottheit zusammenfallen. Diese aus historischer Sichtweise unzeitliche, beliebig lokalisierbare Existenz verleiht mythischem Geschehen jenen paradigmatisch-dauerhaften Charakter, der dem Mythos dauerndes Interesse garantiert und auf den auch Hölderlin offenbar hinweisen will. Der Unterschied zwischen historischer und mythischer Zeitvorstellung ist in der Antike durchaus, nicht aber immer in der modernen Forschung registriert worden. Im 2. Jh. n. Chr. bringt es der Neuplatoniker Salustios in seinem Handbuch für angehende Platon-Schüler auf den Punkt, wenn er über die Götterhandlungen bei Homer sagt: „Das, was die Mythen darstellen“ – sagt er –, „geschah nie, sondern ist immer“, und fährt fort: „Was überzeitliches Denken als ein ,zugleich‘ wahrnimmt, entfaltet der Diskurs menschlichen Denkens in ein zeitliches Nacheinander“21. Wie bei Homer die Götter also über eine besondere Sprache verfügen22, so leben sie auch in einer besonderen Zeit. Deshalb ist die logisch scheinende Frage nach dem relativen oder absoluten Beginn sowohl z.B. bei Prometheus’ Herstellung des Menschen als auch bei der Kosmogonie Hesiods23 unangemessen: Nur historisches Denken fragt, was vor dem „Chaos“ war. Die Paradoxien und Probleme, welche die Philosophen mit Homers immer seienden, aber geborenen Göttern hatten, ergeben sich, wenn man eine offenbar unangemessene Kategorie, eine historische Zeit- und Ursachenbetrachtung, an die Erzählung heranträgt. Denn die Gottesgeburt wird dann offenbar als ein historisches Ereignis empfunden und gegen die überzeitliche Existenz der Götter ausgespielt. Der paradoxe Eindruck bei Ausdrücken wie ¢eigenštai ergibt sich, weil zwei Komponenten, unzeitlich mythische Existenz und historisch-zeitliche Betrachtungsweise, seit Xenophanes von vielen Interpreten unerlaubt vermischt werden, zwei 20
Vgl. Aristoteles, Poetik 1449a14: kaˆ poll¦j metabol¦j metabaloàsa ¹ tragJd…a ™paÚsato, ™peˆ œsce t¾n aØtÁj fÚsin; dazu van Groningen [1953] 96–98. 21 Salustios, De dis et mundo IV 9 Rochefort: taàta dὲ ™gšneto mὲn oÙdšpote, œsti dὲ ¢e…. kaˆ Ð mὲn noàj ¤ma p£nta Ðr´, Ð dὲ lÒgoj t¦ mὲn prîta t¦ dὲ deÚtera lšgei. 22 Heubeck [1949/50 und 1984]. 23 Vgl. Hesiod, theog 116.
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Komponenten, deren Trennung für das archaische Denken offenbar kein Problem war. In diesem Fall aber wird man sich fragen, ob denn in den entsprechenden mythischen Texten wenigstens ansatzweise Versuche zu beobachten sind, dieser besonderen, unzeitlichen Existenzweise Ausdruck zu verleihen, so wie bei Hölderlin Imperfekt und Praesens miteinander einhergehen: „Der Ahn liebte, aber er wohnet nun“ ... „und kommt“24. Ich möchte zeigen, dass dies in der Tat der Fall ist. III. Mythische Zeitlosigkeit und sprachlicher Ausdruck Aus Zeitgründen sei im Folgenden nur auf einige wenige Partien verwiesen.25 Es handelt sich um Stellen, die durch Besonderheiten im Tempusgebrauch auffallen und den Interpreten Schwierigkeiten bereiten. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Göttergeburt und insbesondere die Frage, wie Göttergeburt mit Unsterblichkeit zu vereinbaren sei. In diesem Zusammenhang ist ein Vers zu Beginn der Bakchen des Euripides von Interesse. Gott Dionysos tritt auf und schildert seine Situation. Im zweiten Vers apostrophiert er sich selbst und stellt sich – der Auftrittskonvention folgend – vor: „Ich, Sohn des Zeus, bin Thebens Land genaht, Dionysos, den einst Kadmos’ Kind gebar“ (Übersetzung Buschor).26 Die Prädikate, welche Buschor und alle anderen Übersetzer in Vergangenheitsform geben, stehen im Griechischen im Praesens: ¼kw und t…ktei poq'. Im ersten Fall steht Präsens wegen der Bühnensituation, der Anwesenheit des Gottes. Warum jedoch steht t…ktei im Praesens, wird doch auf ein Geschehen in der Vergangenheit Bezug genommen und zudem angedeutet (potš)? Einige Kommentatoren erkennen auf Praesens historicum.27 Man fragt sich jedoch, ob hier wirklich ein „entscheidendes und neues Moment der Ereignisse ... hervorgehoben (werden soll)“ – so jedenfalls beschreiben Grammatiken die Funktion des Praesens historicum. Es scheint zweifelhaft, ob „Sprecher und Hörer in warmer Anteilnahme die Geschehnisse gleichsam vor Augen haben sollen“.28 Man hat eine ,inexpressive Form‘ des Praesens historicum, das registrierende Praesens tabulare oder annalisticum, vermutet.29 Zweifel, ob diese Erklärung wirklich hilfreich und angemessen ist, regen sich, wenn man sich bei Brugmann darüber belehren lässt, dass die Kategorie Praesens tabulare als Untergruppe des Praesens historicum aus dem Bereich der Historiographie stammt, 24
Zum Zeitgebrauch bei Hölderlin vgl. Bohrer [1994] bes. 26ff. Eine umfassendere Darstellung ist geplant. 26 Euripides, Bakchen 1f.: ¼kw DiÕj pa‹j t»nde Qhba…wn cqÒna: / DiÒnusoj, Ön t…ktei poq' ¹ K£dmou kÒrh. 27 Vgl. Sandys [1900] 87; Roux [1972] 241. 28 Schwyzer / Debrunner [1950] 270ff., Zitat 271. Verbindungen von Aoristen mit Praesens historicum „zur Hervorhebung einzelner besonders bemerkenswerter ... Momente“ konstatieren Kühner / Gerth [1955] 132ff., Zitat 132. 29 Verdenius [1980] 1. 25
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eng mit der Verschriftlichung der Sprache verbunden ist – papiernes Präsens nennt er es – und von dort in die Tragödie hineingeraten sei.30 Nun mag es einen solchen Einfluss auf die Sprache der Tragödie geben, eine inhaltlich befriedigende Auskunft bietet diese hier eher nichts sagende Kategorie31 eigentlich nicht. Und dies umso weniger, wenn wir uns daran erinnern, dass wir uns mit den Bakchen im Bereich des Mythos und gerade nicht historischer Analyse bewegen. Das Stück schildert ja die Einbürgerung eines neuen Gottes mit all den daraus erwachsenden Problemen. Schriftlichkeit ist in diesem Kontext nur bisweilen und dann eher anachronistisch von Bedeutung.32 Von Interesse ist schließlich, dass dem Präsens potš beigegeben ist, gleichsam als modifizierender Hinweis. Hier ist ein Hinweis Wackernagels bedenkenswert.33 Er erinnert in seinen Vorlesungen daran, dass im mythischen Bereich, wenn z.B. bei Homer Götter miteinander reden, Praesentia verwendet und diese durch Zeitpartikel wie p£roj modifiziert werden. Erinnert sei an Hephaistos’ Klage gegenüber Thetis, sie habe sich rar gemacht.34 Obgleich von Vergangenheit die Rede ist, legt der Dichter nach Wackernagels Ansicht dem Gott eine Art zeitloses, durch eine Partikel modifiziertes Präsens in den Mund. Brugmann35 weist zudem darauf hin, dass entsprechende sprachliche Beobachtungen im Altindischen des Rgveda zu machen sind. Er vermutet, dass auf diese Weise Zeitlosigkeit signalisiert werden soll. Es ist nun bemerkenswert, dass eine Reihe von Stellen in der griechischen Tragödie in mythischem Kontext Praesentia bieten, die durch Vergangenheitsformen oder auf Vergangenheit weisende Adverbien gleichsam modifiziert werden. Entsprechendes findet sich z.B. in der Alkestis und in der Andromache des Euripides, aber auch in Tragödien anderer Dichter.36 Hier sei nur eine Stelle im Herakles des Euripides herausgegriffen, weil dort eine entsprechende Verbindung von Präsensform und Adverb (¥rti ka…neij) in der Schilderung eines mythischen Geschehens von Wilamowitz als Anomalie gesehen wird, die „darin (liegt), daß die absolute, nicht die vollendete Handlung bezeichnet ist“37. Offenbar sieht auch Wilamowitz im Präsens den Versuch, jene Art von Zeitlosigkeit auszudrücken, die wir oben als zu mythischem Göttergeschehen gehörig erkannt hatten. Es sei hier auf diese Stellen nur hingewiesen. Im Folgenden soll vielmehr Wackernagels und Brugmanns Hinweis auf Homers Sprache 30
Brugmann [1904] 572 mit Anm. 1; Klose [1968] 223 hebt die Bedeutung des Praesens historicum für Beschreibung „vergangener Sachverhalte“ hervor. Die Bedeutung der Aktionsart beim Praesens historicum unterstreicht Koller [1951]. Zum Praesens historicum in der Geschichtsschreibung vgl. Eriksson [1943]; Schmüdderich [1968]. 31 Schwyzer / Debrunner [1950] II 272. 32 Erler [1987] 46f. 33 Wackernagel [1950] 47. 34 Ilias 18,386: p£roj ge mὲn oÜ ti qam…zeij. Dazu Brugmann [1916] 737–739. 35 Brugmann [1916] 738. 36 Euripides, Alkestis 6; Andromache 9; vgl. Euripides, Kyklops 113. 37 Euripides, Herakles 966, dazu Wilamowitz-Moellendorff [1959] 213.
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nachgegangen und zunächst insbesondere die homerischen Hymnen und Hesiods Theogonie eingehender betrachtet werden. Hier nämlich finden wir wiederholt Partien, die sich u.a. durch einen eigentümlichen, die Interpreten irritierenden Gebrauch von Präsensformen auszeichnen. Für unsere Frage sind die Stellen von besonderem Interesse, a) weil in der Sprache Homers die Kategorie des historischen Präsens keine Rolle spielt; b) weil im Epos mehr noch als in der Tragödie Brugmanns „papiernes“ Praesens tabulare eine kaum angemessene Kategorie scheint; c) weil wir die Tempusmischungen in inhaltlichen Kontexten finden, für deren Verständnis die oben angesprochene Scheidung von mythischer und historischer Zeit von entscheidender Bedeutung ist. IV. Tempusmischung in mythischem Kontext Zunächst sei der Anfang des homerischen Apollon-Hymnus herausgegriffen. Der Hymnus beginnt mit einer Begrüßungsszene, welche die machtvoll erschreckende Wirkung des Gottes beim Eintritt in die Götterversammlung schildert. Die anderen Götter zittern, als sie ihn nahen sehen, springen von den Sesseln auf, weniger aus Respekt als aus Furcht vor dem wilden Auftritt des Gottes, der zudem seinen Bogen spannt. Kontrastierender Ruhepol hingegen sind Zeus, der ihm einen Becher mit Nektar reicht, und seine Mutter. Leto bleibt sitzen, nimmt den Bogen, entspannt ihn, hängt ihn auf und – wie es heißt – freut sich an ihrem Sohn.38 Diese Szene hat in inhaltlicher und in formaler Hinsicht Diskussionen ausgelöst.39 Die unmotivierte Wildheit von Apollons Auftritt hat die Interpreten irritiert und zu Streit darüber geführt, ob es sich bei diesem ,Auftritt‘ um die Schilderung des ersten Auftretens des Gottes im Olymp oder um ein für Apoll typisches „erstes Auftreten“ handelt, das zu seinem Wesen gehört und sich immer wiederholt. Obgleich Ersteres nahe liegend scheint, irritiert doch der merkwürdige Tempusgebrauch an dieser Stelle, eine seltsame Mischung aus Imperfekt, Aoristen und Präsensformen: Die Götter zittern und springen auf im Präsens, sie sitzen im Imperfekt, Apoll wird im Aorist ent38
Homer, hymn Apoll (3) 1–13: mn»somai oÙdὲ l£qwmai 'ApÒllwnoj ˜k£toio, / Ón te qeoˆ kat¦ dîma DiÕj tromšousin „Ònta. / ka… ·£ t' ¢na ssousin ™pˆ scedÕn ™rcomšnoio / p£ntej ¢f' ˜dr£wn, Óte fa…dima tÒxa tita…nei. / Lhtë d' o‡h m…mne paraˆ Diˆ terpikeraÚnJ, / ¼ ·a biÒn t' ™c£lasse kaˆ ™kl»ise farštrhn, / ka… oƒ ¢p' „fq…mwn êmwn ce…ressin ˜loàsa / tÒxon ¢nekršmase prÕj k…ona patrÕj ˜o‹o / pass£lou ™k crusšou. tÕn d' e„j qrÒnon eŒsen ¥gousa. / tù d' ¥ra nšktar œdwke pat¾r dšpai cruse…J / deiknÚmenoj f…lon uƒÒn, œpeita dὲ da…monej ¥lloi / œnqa kaq…zousin: ca…rei dš te pÒtnia Lhtè, / oÛneka toxofÒron kaˆ karterÕn uƒÕn œtikten. 39 Clay [1989] 19ff.; Förstel [1979] 101–109. Zum Motiv eines ersten Auftretens im Olymp vgl. auch: Homer, hymn Herm (4) 325ff.; hymn Aphr (5) 14–18.; Hesiod, theog 68–71; zur Diskussion „typische“ oder einmalige Handlung vgl. Clay [1989] 23, Anm. 15.
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waffnet. Schließlich setzen sich die Götter wieder im Präsens, und auch Leto freut sich über ihren Sohn im Präsens. Die Interpreten, die hier ein einmaliges Ereignis erkennen, deuten die Präsensformen oft als historische Praesentia. Jedoch, wie sie bisweilen einräumen: Die Sprache Homers erlaubt die Anwendung der Kategorie Praesens historicum eigentlich nicht.40 Wendet man sich also der anderen Alternative „typische Szene“ zu, dann hat man Probleme mit dem Imperfekt (m…mne, Vers 5) und vor allem den augmentierten Aoristen, die Vergangenheit und Einmaligkeit zu signalisieren scheinen. Weil man dies als ungereimt empfand, musste sich der Beginn des Apollon-Hymnus vielfach Tadel gefallen lassen.41 Freilich ist der Beginn des Apollon-Hymnus mit seiner Tempusmischung nicht allein. Auch in anderen homerischen Hymnen kann man Entsprechendes beobachten, insbesondere wenn es um Verhaltensweisen von Göttern geht, die ihren wesenhaften Merkmalen entsprechen. Es kann hier nur auf den Pan-Hymnus oder auf den DioskurenHymnus hingewiesen werden.42 Besonders bemerkenswert ist, dass wir Entsprechendes auch bei Hesiod beobachten können. An zentraler Stelle seiner Theogonie, im Proömium, begegnen wir nämlich eben jener Tempusmischung wieder, die uns im ApollonHymnus so irritierte: Im Präsens schildert Hesiod das Jagen und Tanzen der Musen auf dem Helikon (1–4). Ihr Tanz auf dem Gipfel findet im Aorist statt, ihr nächtlicher Marsch erfolgt im Imperfekt, die Dichterweihe Hesiods selbst im Aorist (22–34), die Beschreibung ihres ewigen Gesanges und die Darstellung der erfreulichen Effekte ihres Tuns wieder im Präsens (35–52). Ihre Geburt wird in Vergangenheitstempora geschildert (53–62), ihre Tätigkeiten im Präsens, dann wieder in Vergangenheitstempora (67–76).43 Rechnet man logisch nach, so werden verschiedene Zeitstufen geschildert – Geburt – Eintritt in den Olymp – Treffen mit Hesiod – ewige und charakteristische Tätigkeit sowohl auf dem Helikon als auch auf dem Olymp. Versuche, historisch nachrechnend die Tempora auf verschiedene Phasen aufzuteilen, sind misslungen. Vielmehr gilt hier offenbar, was schon im Apollon-Hymnus zu beobachten und auch bei den 40
Schwyzer / Debrunner [1950] 271 mit Anm. 3; vgl. Chantraine [1953] 191; von Fritz [1949]. Generell vgl. Tichy [1999]. Im lateinischen Epos gibt es das Praesens historicum zwar, nicht aber im erzählenden Epos im Griechischen. Bei der Bewertung von Zeitstufe und Zeitlosigkeit des Präsens betont die Bedeutung der Sprechhaltung Weinrich [1971] (z.B. 288ff. für das Griechische). Jedoch ist dies mit guten Gründen abgelehnt worden, vgl. Strunk [1969]; Fajen [1971]. Das Praesens historicum fehlt in den Hymnen des Kallimachos und in den Argonautika des Apollonios Rhodios. Eine Partie wie Apollonios Rhodios, Argonautika 2,169–176 fällt aus dem Rahmen, vgl. dazu Fränkel [1968a] 165f.; historisches Präsens bei Sappho erkennt Tzamali [1996] 240f. (zu Sappho 44, 23). 41 Vgl. Janko [1981] bes. 11f.; doch vgl. dazu Clay [1989] 25f. 42 Vgl. Homer, hymn Pan (19): Tätigkeit des Gottes in Vergangenheit (3–4), dann Gegenwart (10–11), dann wieder Vergangenheit (12–15); Dioskuren-Hymnus; vgl. Diskussion Clay [1989] 23ff., anders Janko [1981] 12. 43 Auf die Parallele weist hin Jacoby [1933] 728; Clay [1989] 27.
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Stellen der Tragödien angenommen worden war: Offenbar ist es unangebracht, einzelne Tempora herauszugreifen. Es ist die Mischung selbst, die es für die Auslegung fruchtbar zu machen gilt. Blicken wir auf den Kontext, so liegt die Vermutung nahe: Die Tempusmischung als solche steht für das, was wir oben als mythische Zeit bezeichneten. Sie signalisiert, dass im Bereich mythischer Zeit ein Nebeneinander ist, was zeitlich-historische Betrachtungsweise als Nacheinander wertet: Geburt der Musen, ihre erste Epiphanie, ihre Aufnahme in den Olymp, ihr Gesang, die Weihe Hesiods. Denn alles wird vorgeführt als Manifestation ihres Wesens.44 So gesehen weist die Tempusmischung also auf jene unzeitlich-mythische Betrachtungsweise, bei der auch der Ausdruck ¢eigenštai seinen paradoxen Charakter verliert. Insofern ist es berechtigt, wenn Marg das Proömium der Theogonie zur Gänze im Deutschen mit Gegenwart übersetzt und davor warnt, rationalistisch zu interpretieren und Inkonsequenzen im Tempusgebrauch zu konstatieren.45 Doch ist dabei im Gedächtnis zu behalten, dass es sich recht eigentlich eben nicht um eine Gegenwart im zeitlichen Sinne, sondern um den Versuch des Dichters handelt, die den Göttern angemessene Überzeitlichkeit auszudrücken. Um den Ausdruck des Salustios zu wiederholen: „Solche Geschichten sind nicht geschehen, sie sind immer“. Martin West hat in seinem Theogonie-Kommentar für die Aoriste und für die Imperfekte ,Zeitlosigkeit‘ postuliert, zugleich aber zugegeben, dass dies von keiner bisher bekannten grammatischen Kategorie gedeckt wird.46 In der Tat ist zu konstatieren, dass das Griechische offenbar über keine eigene Form verfügt, das, was mythische Zeit genannt wird, aber im Grunde eine Unzeitlichkeit meint, auszudrücken. Hat also das Griechische eine solche Möglichkeit nicht und muss es deshalb offenbar zu einer Hilfskonstruktion greifen, so sei hier wenigstens der Hinweis erlaubt, dass auf der ältesten bezeugten Sprachstufe des Altindischen, der Hymnensammlung des Rgveda, in mythologischem Kontext ebenfalls eine mythische Zeitstufe ausgedrückt wird, dass aber dort noch eine eigene Kategorie zur Verfügung steht, der Modus des sogenannten Injunktivs, dem Karl Hoffmann eine wichtige Arbeit gewidmet hat.47 Denn Hoffmanns Analyse des Modus ,Injunktiv‘ im Hymnenwerk des Rgveda ergibt eine Funktionsbeschreibung, die genau dem entspricht, was wir für die mythische Zeit postulierten, wofür im Griechischen aber entsprechende Forma offenbar fehlte. Demnach zeigen „Alle Gebrauchsweisen des Injunktivs ein gemeinsames Charakteristikum: sie haben mit der Bezeichnung von Zeitstufen nichts zu tun ... 44
Van Groningen [1953] 102; Clay [1989] 29. Marg [1984]. 46 West [1966] 155 (zu theog 7ff.) nennt die Aoriste und Imperfekte „timeless“ und „in descriptions of a god’s characteristic activities“; vgl. theog 268f. und West [1966] 156 zu theog 10. 47 Hoffmann [1967]; zum Injunktiv als „beschreibende Erwähnung“ vgl. Burkert [1996] 67. 45
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/ ... / Ein Eigenwert des Injunktivs besteht ... in seiner Zeitstufenlosigkeit“ und weiter: „Der generelle Injunktiv Praesens dient häufig zur Beschreibung allgemeiner Eigenschaften und Tätigkeiten von Gottheiten“48. Eben dies hatten wir für die irritierende Darstellungsweise im Apollon-Hymnus, in Hesiods Theogonie, aber auch für Praesentia in der Tragödie vermutet. In der Tat scheint der Injunktiv zum Ausdruck allgemeiner Sachverhalte wie zeitlos gültiger Mythen zu dienen. Mit Blick auf unser erstes Beispiel aus Euripides’ Bakchen ist unter den zahlreichen Beispielen, die Hoffmann auflistet, eines von besonderem Interesse. So heißt es von Gott Agni: „Dieser wird geboren in den Händen des Menschen“ (Übersetzung Hoffmann), wobei das „wird geboren“ nicht durch das Präsens, sondern mit dem Injunktiv Präsens ausgedrückt wird.49 Wir erinnern uns an unser t…ktei poq' aus dem Bakchen-Proömium und erkennen die Übereinstimmung in inhaltlicher Aussage: Es geht um Göttergeburt, die in beiden Fällen in mythische Unzeitlichkeit transponiert werden soll. Im Rgveda kann dies noch mit einer eigenen Form ausgedrückt werden, die sich zudem durch eine Verbindung von Präsensstamm und sekundärer Endung auszeichnet. Im Griechischen steht eine solche nicht mehr zur Verfügung. Geblieben aber ist offenbar der Wunsch, diese Besonderheit göttlicher Existenz auszudrücken. Deshalb werden andere Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Martin West hat versucht, einen solchen Bezug herzustellen, und schlägt vor, in Imperfecta wie dem m…mne, – es findet sich z.B. an unserer Stelle des Apollon-Hymnus – mit ihrer Verbindung von Präsensstamm und sekundärer Endung sowie in „zeitlosen Aoristen“ Relikte des alten Injunktivs zu sehen.50 Allerdings scheint der Hinweis auf die Aoriste wegen ihrer Augmentierung nicht unproblematisch. Jedenfalls ist auch zu erwägen, in der beobachteten Tempusmischung, der Verbindung eines als zeitlos geltenden Präsens mit Vergangenheitstempora oder anderen Vergangenheitssignalen wie Zeitadverbien den Versuch zu sehen, jene Ausdrucksform zu ersetzen, die früheren Zeiten noch zur Verfügung stand. Da der hierbei zu beobachtende Präsensgebrauch durch die geläufigen Kategorien der Grammatik nicht gedeckt scheint, darf man zur Bezeichnung dieses Phänomens vielleicht eine Anleihe bei den Neutestamentlern machen. Diese haben für den Brauch, von Gott nur in passiver Umschreibung zu sprechen: „denn sie sollen getröstet werden“ für „Gott wird sie trösten“ den Ausdruck Passivum divinum geprägt.51 Man sollte erwägen, jenes Präsens, das nicht historisch analysierendem Denken, sondern in Verbindung mit Vergangenheitssignalen mythischer Zeitlosigkeit Ausdruck zu verleihen versucht, als „Praesens divinum“ zu bezeichnen. Es signalisiert jene Zeitlosigkeit mythischen Geschehens, in welcher die Einmaligkeit der erzählten 48
Hoffmann [1967] 265f.; 119. RV 1,128,1; das Beispiel stammt von Hoffmann [1967] 265. 50 West [1989] 135–138 (zu Hesiod theog 1–11; 267–269; Homer, hymn Apoll [3] 1–6; hymn Pan [19] 19–29). 51 Vgl. Macholz [1990]. 49
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mythischen Handlung mit der immer währenden Beständigkeit jener Merkmale zusammenfällt, welche in der Handlung erst entfaltet werden, und verweist damit auf göttlichen Status. Die große Selbstoffenbarungsrede Jesu im Johannesevangelium kann dies trotz aller Unterschiede ein wenig illustrieren.52 Sie gipfelt im Anspruch, Abraham noch zu übertreffen, und mündet in den Ausruf Jesu: Wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich: prˆn 'Abra¦m genšsqai, ™gë e„m…. Hier ist nicht nur der Präsensgebrauch, sondern auch die Reaktion des Publikums interessant: Denn, wie wir hören, hoben die Zuhörer Steine auf, um nach Jesus zu werfen. Denn Jesus hat Gott gelästert, womit offenbar der Anspruch auf unzeitliche Existenzweise gemeint ist, ausgedrückt in einem Präsens, das Jesu Zuhörer offenbar sofort als Merkmal göttlicher Existenz registrieren und das mir mit unserem Praesens divinum vergleichbar scheint. Eine Suche nach entsprechenden Stellen auch im Griechischen ist offenbar lohnend und kann der Interpretation mythologischer Texte dienen. Hierzu könnte z.B. das Lehrgedicht des Parmenides gehören, hierzu gehören aber auch die Mythen, die Platon in seinen Dialogen bietet. Sie zeigen, dass die Ausdrucksform des „Praesens divinum“ zur Gestaltung von Mythen gehört und ebenfalls nicht mit gängigen grammatischen Kategorien wie registrierendem Präsens zu fassen sind. Wir kehren damit zu jenem Autor zurück, auf den sich Tyndares bei seiner Rechtfertigung der Göttergeburt berief. V. Platon Zunächst sei kurz auf den Mythos von der Erschaffung des Menschen hingewiesen, den Platon den Sophisten Protagoras im gleichnamigen Dialog gleichsam als Illustration seiner Kulturentstehungstheorie vortragen lässt.53 Erzählt wird ein Märchen, das mit eben jenem „Es war einmal“ beginnt (Ãn g£r pote crÒnoj). In diesem Mythos wird berichtet, wie Götter aus Erde und Feuer die sterblichen Gattungen formten. Prometheus und Epimetheus sollen dann den sterblichen Gattungen ihre Fähigkeiten zuteilen. Es ist nun bemerkenswert, dass in diesem Mythos bei der Beschreibung der Tätigkeit der unsterblichen Handwerker die gleiche Tempusmischung zu beobachten ist, die wir schon im Apollon-Hymnus und bei Hesiod fanden. Tempora der Vergangenheit und der Gegenwart werden nebeneinander gebraucht, ohne dass von vergangenem oder gegenwärtigem Geschehen erzählt würde. Das Geschehen spielt vielmehr insgesamt in der Vergangenheit. Das Präsens, in dem die Götter überraschend die Menschen aus Erde formen (tupoàsin) und in dem sie Feuer und Erde dazumischen, wird von Interpreten mit Vergangenheit wiedergegeben.54 Jedoch mit Blick auf den mythischen Gehalt haben wir es auch hier mit der offenbar jetzt traditionellen Ausdrucksweise für die Unzeitlichkeit mythischen Götterge52
Joh 8,58. Platon, Prot 320d; dazu Manuwald [1999] 172ff. 54 Manuwald [1999] 183 übersetzt mit Vergangenheit. 53
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schehens zu tun. Das Herstellen der Menschen durch Götter ist eine ebenso einmalige, wie den Göttern wesensgemäße und deshalb immer währende Handlung. Es gilt hier das Gleiche wie das, was wir beim Auftreten von Hesiods Musen oder beim Eintritt Apollons auf dem Olymp feststellten. Signal ist hier wie dort eine scheinbar inkonsequente Tempusmischung. Einmaligkeit und oder überzeitliche Dauer: Dies ist Thema von Hölderlins Gedicht, von dieser Frage ging Tyndares aus, diese Frage begleitete uns über Euripides bis zu Hesiod und den homerischen Hymnen und begegnet uns wieder bei Platons Protagoras-Mythos. Sie begegnet uns aber vor allem an jener Stelle des platonischen Œuvres wieder, auf die Tyndares selbst rekurriert: im großen Monolog, den Platon Timaios über die Weltentstehung halten lässt. Timaios’ Bemerkungen in dem Teil, der als Proömium seines kosmologischen Mythos bezeichnet wird (Ti 28b), waren Anlass zu der nicht nur in der Antike, sondern auch im Mittelalter, in der Renaissance und in der Neuzeit leidenschaftlich diskutierten Frage, ob die ausdrücklich als Mythos bezeichnete Kosmogonie Platons als zeitlicher oder zumindest einmaliger Vorgang zu verstehen oder aber ob die Darstellung als ein nur bildhafter Audruck für ein immer währendes Schöpfungsgeschehen, eine creatio continua oder perpetua anzusehen ist.55 Problem und Kontext wirken vertraut. Ausdrücklich werden wir in den Bereich des Mythos verwiesen, genauer auf eine Kosmogonie wie schon bei Hesiod56; wie in den homerischen Hymnen treffen wir mit dem Demiurgen und den weiteren Göttern auf Wesen, deren Aktionsweise eben jene Frage aufwirft, welche uns auch zuvor schon beschäftigt hat: Ist ihre Handlung einmalig oder Ausdruck immer währenden, weil wesensgemäßen Geschehens? Man erinnert sich an Hesiods singende Musen, man erinnert sich an Apollons ersten Auftritt im Olymp. Nun hat kürzlich Matthias Baltes in einem erhellenden Aufsatz gezeigt, dass die narrative Gestaltung der Kosmogonie unter dem Gesichtspunkt einer zeitlichen oder einmaligen Schöpfung schlechthin als chaotisch angesehen werden muss.57 Schon dies spricht gegen die Annahme, nach Platon sei die Welt in einem zeitlichen oder zumindest einmaligen Akt entstanden. Mit Blick auf die bisherigen Erörterungen kann man einen Schritt weiter gehen. Denn der unter historisch logischer Betrachtungsweise chaotisch anmutende Schöpfungsablauf erinnert uns an Hesiods Theogonie-Proömium. Auch dort hatte die historisch-zeitliche Analyse zu Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten im Verhalten der Musen geführt. Dort hatten jedoch „Praesens divinum“ und Tem55
Baltes [1999] 303f. mit Anm. 2 und 3 (weitere Literatur zur „zeitlichen“ und zur „unzeitlichen“ Interpretation). 56 Die uns interessierende Stelle gehört zum Proömium (vgl. dazu Runia [1997]). Zum Mythos des Timaios vgl. Brisson [1999]; Witte [1964]. Zur Frage nach Zeitlosigkeit im Timaios, bes. 27d–28a vgl. Graeser [1987]; Böhme [1996]; zur Frage von Zeitlosigkeit und Ewigkeit vgl. Sorabji [1983] 67ff. 57 Baltes [1996] 78–80 = [1999] 305–307.
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pusmischung signalisiert, dass die Darstellungsweise unter dem Gesichtspunkt der mythischen Zeit ihren paradoxen Charakter verliert. Es ist nun interessant, dass uns eben jenes Signal der „Tempusmischung“ mit „Praesens divinum“ auch an einer entscheidenden und viel diskutierten Stelle des Timaios begegnet. An jener Stelle nämlich, an welcher Timaios von der Weltentstehung spricht und die Anlass zu beständigem Streit gibt, stoßen wir auf eben jene Art von Tempusmischung, die wir auch in anderen mythischen Kontexten als Ausdruck für mythische Unzeitlichkeit werteten. Dass die Welt nämlich entstanden ist, wird im Perfekt gesagt (gšgonen)58, doch finden sich im Kontext zahlreiche Praesentia, verbunden freilich mit Aoristformen.59 Es ist diese Mischung, welche den Interpreten Argumente für die „Einmaligkeits“- oder die Dauerthese liefert, je nach dem, auf welche Bestandteile der Mischung man sich beruft: jene Situation also, die wir bei der Auseinandersetzung mit dem Beginn des ApollonHymnus antrafen. Wir glaubten hingegen, aus den bisherigen Beobachtungen den Schluss ziehen zu sollen, dass jenes „entweder-oder“ die Aussageintention der Tempusmischung gerade verfehlt, dass die Mischung selbst vielmehr Signal für mythische Zeit ist. Hier wie dort soll jenes Praesens, das wir divinum nennen wollten, zusammen mit Hinweisen auf Vergangenheit Unzeitlichkeit ankündigen. Salustios’ „Dies geschah nie, ist aber immer“, gilt auch für die Schöpfungsgeschichte des Timaios: Wie Götter in ihrer Handlung ihre immer währenden Merkmale in erzählter Zeitlichkeit entfalten, so gilt das auch für den Demiurgen, der überzeitlich existiert und seinem guten Wesen gemäß die Welt überzeitlich, d.h. in einem immer währenden Prozess schafft: Der Kosmos ist ein gignÒmenon im Sinne eines immer Werdenden. Genau so versteht dies im 5. Jh. n. Chr. der große Platon-Kommentator Proklos, wenn er den Kosmos des Timaios als ein „immer Werdendes und zugleich Gewordenes“ bezeichnet.60 Der Kosmos ist geworden, insofern er beständig wird, und er besteht, insofern er geworden ist.61 Und Proklos sah auch, dass die zeitliche Entfaltung eines überzeitlichen Prozesses in ein „war, ist, wird sein“ die Folge der narrativen Struktur des Mythos ist: „denn der Gott lässt die Teile und das Ganze mit einem Mal entstehen“ – „immer wieder“ sollten wir hinzufügen –, „die Darstellung hingegen“, so Proklos weiter, „zerlegt das, was zusammen entstanden ist“.62 Nicht nur inhaltlicher Kontext – mythische Kosmogonie und Götterhandlung –, 58
Vgl. Baltes [1996] 92–93 = [1999] 320–321 zu den Vergangenheitstempora in diesem Kontext, deren Bedeutung er relativieren möchte. 59 Baltes [1996] 91–92 = [1999] 319–20 hebt hervor, dass die wichtigen Ausdrücke im Kontext von Ti 28b6–8 im Präsens stehen. 60 Vgl. Proklos, In Timaeum 1,290,23 Diehl: ¢eˆ gignÒmenon ¤ma kaˆ gegenhmšnon, dazu Baltes [1978] 30ff. 61 Vgl. Ti 38c, Baltes [1978] 52ff.; Graeser [1996] 151 bemerkt, dass Platon im Timaios (37e–38a) darauf hinweist, dass das Wort „ist“ eigentlich für ewige Gebilde gilt, also mit unzeitlicher Verwendung in Zusammenhang gebracht wird. 62 Proklos, In Timaeum 2,101,3 Diehl.
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sondern auch sprachliche Gestaltung und die daraus resultierende Problematik gleichen dem, was in den Hymnen und bei Hesiod festzustellen war. Deshalb liegt es nahe, die gleiche Schlussfolgerung zu ziehen. Dass nach Platon die historische Zeit im Sinne eines „vorher“ und „nachher“ vom Bereich des Göttlichen ausgeschlossen ist, bestätigt unsere Annahme.63 Folglich ist Zeit im vorkosmischen Zustand nicht gegeben und damit an eine Schöpfung im zeitlichen Sinn gar nicht zu denken: Das scheinbar historische Nacheinander in der Timaios-Kosmogonie wie in Hesiods Theogonie-Proömium ist Resultat allein des Umstandes, dass Mythos immer Erzählung ist. Wie für die anderen Stellen, die wir behandelten, gilt für den Timaios: Die Frage nach Einmaligkeit oder unzeitlicher Dauer ist falsch gestellt, weil Folge einer historischen, d.h. unmythischen Betrachtungsweise: Der paradoxe Charakter wird nur dann gemieden, wenn das ,oder‘ nicht als ausschließliches aut, sondern als verbindendes vel verstanden wird. Auch an dieser für die europäische Geistesgeschichte zentralen Stelle begegnen wir also unserem „Praesens divinum“ und können und sollen es für die Interpretation nutzbar machen. Akzeptiert man die Notwendigkeit, eine neue grammatische Kategorie einzuführen, dann – so glaube ich – verhilft dies zu einem besseren Verständnis. VI. Schluss Wenn die Beobachtungen diskussionswürdig und die Deutung plausibel scheint, könnte es sich in der Tat lohnen, nach weiteren, entsprechenden Partien in mythischen Texten Ausschau zu halten.64 Dabei braucht man sich offenbar keinenswegs auf mythische Darstellungen aus archaischer Zeit zu beschränken. Vielleicht kann man einer Tradition bei der Gestaltung mythischer Texte habhaft werden, die mit Gewinn für die Interpretation des jeweiligen Textes fruchtbar zu machen ist. Jedenfalls sollte man in solchen Kontexten mit doch eher nichts sagenden Etiketten wie „illustrierendes Präsens“ oder „Praesens tabulare“ zurückhaltender sein. Vielleicht sollte zu diesem Zweck die Bestimmungskategorie des „Praesens divinum“ in die Grammatiken aufgenommen werden als ein Versuch der griechischen Sprache, die Existenzweise der Götter in mythischer Zeit zu charakterisieren, bei deren Handlungen Singuläres und Allgemeines zusammenfallen: Es ist immer dieselbe Persephone, die als göttli63 Vgl. Ti 37d ff.; zur Zeitvorstellung vgl. Baltes [1999] 310ff.; Eggers Lan [1984] 177f. (Zeit entstanden); Sorabji [1983] 108ff.; 272ff.; zur Zeitfrage im Timaios vgl. Mesch [1997]. 64 Zu erinnern ist an Parmenides (Hinweis M. Fritz im Seminar), vor allem an DK 28B1, 4–16 mit der Beschreibung der Wagenfahrt des Philosophen und der Begegnung mit der Göttin. Auch hier finden wir die Tempusmischung (Imperfekt, Aorist, Präsens). Man darf hier dasselbe Phänomen wie in den anderen Fällen vermuten; zu Parmenides’ besonderem Verhältnis zur Zeit, vor allem mit Blick auf DK 28B8, 5 vgl. Schofield [1970]; O’Brien [1980]; Schofield [1988] und die Diskussion Owen [1986].
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ches Wesen den Frühling bringt, auch wenn es sich um jeweils andere Blumen handelt. Platon hat diese Vorstellung im Timaios zur Grundlage seiner Kosmologie gemacht. Auch von ihr gilt: Seine Welt entstand nie, sondern wird immer. Platon hat die Vorstellung von einer mythischen Zeit aber auch zum Fundament seiner Ideenlehre gemacht: Auch die Ideen existieren in einem göttlichen Bereich, manifestieren sich aber gleichzeitig an vielen Stellen in der profanen Wirklichkeit der Menschen, d.h Platon transponiert die mythische Vorstellung von der Zeit in den philosophischen Kontext. Vor diesem mythischtheologischen Hintergrund verliert – so scheint mir – das oft behandelte Problem, wie an den überzeitlichen Ideen die Vielheit der Einzeldinge teilhaben könne, viel von seinem paradoxen Charakter.65 Jedenfalls wird vor dem Hintergrund der Dichotomie von mythischer und profaner Zeit eine kleine sprachliche Beobachtung vielleicht etwas besser verständlich.
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Vgl. Albert [1998].
2. TEIL: PLATONISCHES ERZÄHLEN VON MYTHEN
MYTHOS BEI PLATON* Arbogast Schmitt Aufklärung als Imperativ, den eigenen Verstand zu gebrauchen, und als ‚Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit‘ ist eine der Konstanten, die zu jedem Selbstverständnis von Modernität gehören. In diesem Sinn befinden wir uns in einer mythenlosen Zeit und Gesellschaft – allerdings in einer mythenlosen Gesellschaft,1 in der zugleich alles zum Mythos geworden zu sein scheint, ja, von der nicht wenige glauben, sie sei durch eine Wende zum Mythos charakterisiert:2 Vom Mythos „Vollbeschäftigung“ über den Mythos „Mann“3 bis hin zum Mythos „Drittes Reich“4 und Mythos „Karl der Große“5 scheint Zukünftiges ebenso wie Gegenwartsphänomene und Personen und Ereignisse aus der Vergangenheit, aber auch allgemeine ‚zeitlose‘ Konzepte gleichermaßen den Nimbus des Mythischen verliehen bekommen zu können. Die Faszination dieses Nimbus hängt immer von der Vorstellung ab, dass sich etwas der rationalen Erfassung zu entziehen, dass es mehr als etwas bloß Begriffliches, dass es niemals vollständig rational durchdringbar zu sein scheint. Offenbar werden wir heute also mit vielem konfrontiert, das für uns, unserem ‚Empfinden‘ nach, diesen Charakter hat. Dabei ist es dann nur die Kehrseite derselben Überzeugung festzustellen, es gebe heute überhaupt keine Mythen mehr, und wir hätten die Fähigkeit, Mythen ‚zulassen‘ zu können, gänzlich verloren.6 Mythen kann es in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht mehr geben. Wir konstruieren Mythen vielleicht vielfach, aber wir können nicht (mehr) an sie glauben. Diese Entgrenzung des Begriffs des Mythos in einer Gesellschaft ohne Mythen scheint vielen eine ganz neue, postmoderne, posthistorische (usw.) Erscheinung zu sein. Dieser Eindruck allerdings täuscht: Das ambivalente Verhältnis zum Mythos und die (anscheinend immer weiter zunehmende) Dominanz der Faszination durch den Mythos und das Mythische ist keine modische Zeiterscheinung der Gegenwart, sondern begleitet die europäische Moderne von ihrer ersten Stunde an. Hauptgrund für diese Faszination ist die Vorstellung, dass die abendländische, europäische Moderne und jedes einzelne * Der folgende Beitrag ist zuerst erschienen in: Brandt/Schmidt [2004]. 1 Lange [1983], bes. 112f. 2 Wende zum Mythos: Wieviel Mythos braucht der Mensch? – so der Titel einer Tagung, die 1987 in Karlsruhe stattgefunden hat; oder auch Schrödter [1991]. 3 von Tebben [2002]. 4 Hierzu gibt es eine unübersehbare Flut von Forschungsbeiträgen; als ein (beliebiges) Beispiel unter vielen anderen verweise ich auf Burchard [1997]. 5 Kerner [2001]. 6 Diese These vom Verlust des Mythischen wurde insbesondere von dekonstruktivistischen Theoretikern vertreten, vgl. etwa Vernant [1980].
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spezifisch moderne Phänomen durch eine besondere Form der Rationalität charakterisiert sei, die alle ihre Lebensformen dominiere und zu einer Verkümmerung der nichtrationalen Seiten des Menschen, seiner ästhetischen, fühlenden, intuitiven Vermögen führe. Dieser vorrationalen Seite des Menschen, die – wie dies etwa Hartmut und Gernot Böhme formuliert haben – als das „Andere der Vernunft“7 verstanden werden soll, gehört der Mythos in einem außergewöhnlichen Sinn an. Er ist ontogenetisch ebenso wie phylogenetisch die ursprünglichste und reinste Form einer Weisheit und Klugheit, die aller Verstandesreflexion und aller technischen Weltbeherrschung (und auch: jeder rationalen Illusion der Möglichkeit einer absoluten Beherrschung und erkennenden Durchdringung der Welt) voraus liegt. Mythos steht daher auch für die ursprüngliche Form von Kunst – oder richtiger: für ein künstlerisches Verhalten zur Welt überhaupt. Denn das Künstlerische entziehe sich grundsätzlich dem Zwang einer zweiwertigen Logik, lasse sich grundsätzlich nicht an „der Kontrollinstanz einer adaequatio intellectus et rei“8 messen, sondern gehe notwendigerweise immer über das begrifflich Bestimmbare hinaus. Die Welterfahrung des Mythos ist von ihr selbst her bildhaft, ästhetisch, symbolisch, sie ist aber, da es in ihr die Trennung von ästhetischem und rationalem Denken noch gar nicht gibt, nicht rein ästhetisch, sondern umfasst in noch ungeschiedener Einheit die ganze Komplexität des Menschseins. Die Vorstellung, dass das mythische Denken eine eigene Wahrheit, eine eigene und höhere Logik und Intelligenz habe,9 enthält aber eine ungeklärte Zweideutigkeit, die es einem modernen Denken – und ‚modernes Denken‘ soll hier heißen: ein Denken, das die Errungenschaften der Aufklärung, das heißt vor allem: die Aufklärung des Denkens über sich selbst, nicht aufgeben will – schwer, wenn nicht unmöglich macht, mythische Wahrheiten noch als etwas Verbindliches anzuerkennen. Ein über sich selbst und seine eigene Vernunft frei verfügendes Subjekt kann sich nicht mehr in die Abhängigkeiten und Unfreiheiten des mythischen Denkens begeben, es kann sich nicht mehr unter dem Schleier der Unbewusstheit10 verbergen und sich der ‚Realität‘ des kategorialen Verschiedenseins von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt11 verschließen. 7
Böhme/Böhme [1983]. Brandt [1984], 56; zu Schellings Kunstphilosophie vgl. z.B. Jähnig [1969]. 9 Die Argumente und Einwände sind in Bezug auf das mythische Denken die gleichen wie die in Bezug auf die Emotionalität des Menschen, auf seine unbewusste Seite, auf sein Herz im Gegensatz zum Verstand, und so kann man in Anlehnung an Pascals berühmtes Diktum (B. Pascal, Pensées IV, §277 und 278, in: Œuvres, hg. von L. Brunschvicg, Paris [1904-1914] (ND Vaduz 1965), Bd. 13, 201) diese Thesen zum Mythischen zusammenfassen in dem Satz: „Der Mythos hat Gründe, die der Verstand (oder: der Logos) nicht kennt.“ 10 Burckhardt [101976] 123. 11 Als ein Beispiel unter vielen sei auf Schulz [1979] und Schulz [61993] verwiesen. 8
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Einerseits scheint der Mythos uns ja eine bestimmte Glaubwürdigkeit und Echtheit der Welterfahrung zu garantieren, er scheint noch in einer direkten und unverstellten Beziehung zu Ursprüngen zu stehen, die uns verloren gegangen sind. Mythos ist etwas von fernen Zeiten und anderen Menschen, die sahen und sagten und wußten, was uns – durch unser bewußtes, distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit – abhanden gekommen ist.12
Dass wir im Mythos solche Einsichten verborgen glauben, liegt also gerade daran, dass er noch von keiner Vernunft ‚angekränkelt‘, von keiner bewusst deutenden Reflexion überformt ist. Aus dieser Entgegensetzung des mythischen gegen das vernünftige, rationale Denken ergibt sich aber auch, dass diese ursprüngliche Form der Welterfahrung noch keiner kritischen Kontrolle unterzogen war oder ist. Die Irrationalität, die wir dem Mythos damit unterstellen, führt dazu, dass wir Mythen auch für etwas Bedenkliches halten, dem sich ein kritischer Mensch – trotz oder gerade wegen der Verführung und Verlockung, die sie auszuüben vermögen – nicht überlassen sollte. Wer von einem Mythos des Nationalstaats, des Fortschritts, vom Mythos des Dritten Reichs oder der DDR, vom Nibelungenmythos oder sogar von einem Mythos der Rationalität usw. spricht, meint damit etwas Ideologieverdächtiges, d.h. etwas, das sich der Kontrolle durch das kritische Argument verschließt und das entweder von Trieben, Emotionen, Interessen und anderen Irrationalismen oder von anderen Subjekten, einzelnen anderen Menschen, abstrakten Subjekten wie Parteiapparaten, einflussreichen gesellschaftlichen Klassen, ‚der Geldwirtschaft‘, intellektuellen Autoritäten, gesteuert ist. Mythos ist, wie Roland Barthes13 glaubte belegen zu können, ein System reaktionärer Symbole, die Strukturen stabilisieren und durch ‚manipulatorische Mystifikation‘ gegen kritische Erneuerung abweisend machen sollen. Nun könnte man denken, dass hier ein Missbrauch des Begriffs des Mythos, eine erst ‚späte‘ Überformung und Instrumentalisierung vorliege. Der Mythos werde selbst rationalisiert und dabei um seinen Charakter des Ursprünglichen gebracht. Durch die Übertragung auf moderne Verhältnisse werde der Mythos verkürzt auf den Aspekt, dass er auch so etwas wie ein unbewusstes, irrationales Wirken handlungsleitender Muster sei und damit seiner eigentlich für ihn charakteristischen Dimension beraubt. Ein rationalisierter oder von der Vernunft instrumentalisierter Mythos ist eben kein Mythos mehr.
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Burkert [1999] 20. Barthes [11957] (dt.: [212001]).
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Dieser angebliche Missbrauch eines echten Mythosbegriffs14 ist aber nicht ganz so willkürlich, wie es den Anschein hat. Denn wenn man die moderne Forschung, die sich mit dem sogenannten echten, authentischen Mythos beschäftigt, befragt, was denn die wesentlichen Züge des mythischen Denkens früher Bewusstseinsstufen des Menschen gewesen sind, so erhält man Antworten, die sich von der Vorstellung einer manipulatorischen Mystifikation nicht weit entfernen und sich grundsätzlich nur dadurch unterscheiden, dass man diesen frühen Mythosformen keine bewusste Manipulationsabsicht unterstellt. Die modernen Zugänge zum Mythos bewegen sich vor allem auf drei Ebenen: Man sucht den Mythos historisch und phylogenetisch herzuleiten aus Formen des Ritus, insbesondere aus den Fruchtbarkeitsriten und aus den Initiationsriten, in denen archaische Gesellschaften die Aufnahme der Mädchen und der Knaben in die Gemeinschaft der Männer und Frauen vollzogen,15 oder man sucht den Mythos als Teil einer ontogenetischen Betrachtungsweise, d.h. als Teil der Archäologie der Geschichte des Bewusstseins mit psychoanalytischen Mitteln in den Tiefenstrukturen der menschlichen Psyche zu ergründen,16 oder man führt – und das ist heute wohl der allgemein dominierende methodische Ansatz – den Mythos (sozusagen in einer synchronen, überzeitlichen Betrachtungsweise) mit Methoden des Strukturalismus und der Semiotik auf allgemeine anthropologische Konstanten zurück. Alle drei Erklärungsformen, die nicht selten auch miteinander verbunden werden, gehen davon aus, dass die Mythenbildung, die angeblich auf einer noch nicht durch das Denken verfälschten Wirklichkeitserfahrung beruht, in Wahrheit von einer immanenten Vernunft, von einer bestimmten Funktion, der die Mythen dienen, gesteuert wird: Sie stabilisieren gesellschaftliche Ordnungen und Privilegien, sie kanalisieren das Wirken unbewusster Triebe und anderer irrationaler Strebungen im öffentlichen Leben oder sie fixieren die Gestaltung allgemeiner menschlicher oder kultureller Prozesse. In diesem Sinn sind alle Mythen eine Art von, wie Malinowski17 dies genannt hat, ‚charter myths‘, d.h. sie sind Ursprungsgeschichten, die etablierte Privilegien begründen: Sie 14
Reflexionen über den eigentlichen Mythosbegriff gibt es in großer Vielzahl, z.B. Burkert [1980]; Burkert [1993]; Horstmann [1979] 7-54 und 197-245; Horstmann [1984] 281-318; Graf [31991] 7-14; Graf [1993]. 15 Die These von der (zeitlichen) Priorität des Ritus vor dem Mythos ist eine in der (strukturalistischen) Anthropologie und Ethnologie verbreitete Grundüberzeugung bzw. eines der zentralen Beweisziele der sog. Ritualtheorie, vgl. Schefold [2004], außerdem Ackerman [1991]; Calder [1991]; Boas [1938] 617 („...that the ritual itself is the stimulus for the formulation of the myth“); usw. 16 Wichtig für die klassische Philologie sind die Forschungen von Kerényi [222001]; Kerényi [1998]; Jung / Kerényi [1999]; und vgl. Kerényi [51996]; siehe außerdem den Überblick über die Mythos-Forschung im 20. Jahrhundert bei Horstmann [1984] hier: 300-318 (zur klassischen Philologie: 305-308). 17 Malinowski [22000] passim.
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erklären die Legitimität der Herrscherfamilien, gesellschaftlicher Hierarchien, von Besitz und Befugnissen, sie regeln den Umgang mit Geburt, Hochzeit, Tod, von Krankheit und Heilung, sie sanktionieren die Bedeutung von Kult und Religion usw.18 Der moderne Interpret, der von seinem aufgeklärten Standpunkt aus darlegt, was der Mythos eigentlich ist, führt den Mythos gerade nicht auf Formen einer ursprünglichen Erkenntnis und Erfahrung, in denen mehr Realität enthalten ist als die, die er in seinen abstrakten Begriffen erfassen kann, zurück, sondern er führt sie auf analoge Steuerungsabsichten zurück, die er auch in modernen Mythen wirksam sieht, auf Formen des Willens und des Machtstrebens, d.h. auf – allerdings unbewusste – Formen der Manipulation. Die Ursprünglichkeit und Authentizität des Mythos besteht im Sinn dieser gegenwärtigen Mythosforschung lediglich darin, dass der Mythos sich nicht in abstrakten Begriffen, sondern in Form von Geschichten ausdrückt, in denen einzelne konkrete Vorgänge erzählt werden, die die Aufgabe haben zu erklären, dass das, was ist, auch so sein soll, wie es ist. Diese Art der funktionalen Strukturanalyse, die ‚Tiefenschichten‘ und allgemeine Mechanismen aufdeckt, hat die Konsequenz, dass das Wesentliche der untersuchten Mythen identische Erzählmuster sind, die in unterschiedlichen Ausprägungen immer wiederkehren und als sogenannte narrative Sequenzen der tradierten Geschichten die spezifische Gestalt dieser Mythen bedingen. Dieses Ergebnis der modernen Mythenforschung ist zumindest erstaunlich. Denn es enthält nichts weniger als eine Destruktion des eigentlich Mythischen in den Mythen früherer Zeiten: ‚Eigentlich‘ sollte in diesen Mythen noch eine ursprüngliche Wirklichkeitserfahrung niedergelegt sein, ein authentisches Wissen, das uns verlorengegangen ist. Tatsächlich aber zeigt uns die Mythenforschung, dass diese Mythenbildung von denselben oder sehr ähnlichen Funktionen gesteuert ist wie die modernen Mythen. Nicht die Erkenntnis, sondern das Interesse scheint auch am Anfang des Mythos zu stehen. Die Probleme, die sich aus diesem Befund für die moderne Mythendeutung ergeben, können wir hier nicht diskutieren. Wichtig für die Erschließung eines Zugangs zu Platons Verständnis des Mythos ist, dass die scharfe Entgegensetzung eines außer- oder vorrationalen Verständnisses des Mythos gegen das rationale Denken mit ihrer ungeklärten, aber letztlich vorherrschenden Zuweisung des Mythos zu irrationalen Trieben, Interessen, Machtbedürfnissen von vielen gegenwärtigen Interpreten auch auf Platon übertragen wird; ja, viele sehen in Platon sogar den Vater dieses gegensätzlichen Verhältnisses von Mythos und Vernunft, von Mythos und Logos, wie es Wilhelm Nestle19 in seiner wirkmächtigen Studien formuliert und ausgeführt hat.
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Vgl. auch die monumentalen Studien von Frazer [1928] Repr. [1991] u.a. Nestle [21975]; zu der These Nestles vgl. auch Most [1999].
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Mythos bei Platon – Problembefund Es gibt eine ganze Reihe von Stellen bei Platon, in denen er Logos und Mythos einander entgegenstellt und dem Logos das rationale Argument und das Vermögen, die Wahrheit zu erkennen, zuordnet, dem Mythos dagegen das Verhaftetsein im Anschaulich-Bildhaften, das von Verzerrungen und Täuschungen durchsetzt sei.20 Eine Folgerung, die er aus dieser Einschätzung zieht, ist, dass er Mythen als eine Gefahr für Menschen, deren Denken noch nicht gereift ist, ansieht, und deshalb als Beitrag zur Erziehung der Jugend und zur Kultivierung der Gefühle ausschließt. In eine wirklich gut konzipierte staatliche Gemeinschaft sollten diese Mythopoioi, die Mythenerfinder, daher nicht aufgenommen werden (Resp 595aff.; Lg 817a.ff.). Andererseits gibt es nicht wenige Stellen, an denen Platon dem Mythos eine eigene Weise der Wahrheit zuspricht und es dem Mythos zugesteht, in Bezug auf bestimmte Gegenstände sogar besser geeignet zu sein zur Erschließung der Erkenntnis gerade dieser Gegenstände. Weil der Mythos wegen seiner Bilder und seiner narrativen Struktur leichter verständlich sei, schlägt er vor, ihn schon von frühester Kindheit an zur musischen Erziehung, auf die eine gute staatliche Gemeinschaft unbedingt angewiesen sei, einzusetzen (Resp 376cff., Lg 652b667b, bes. 656a-660a). Außerdem hat Platon bekanntlich auch selbst Mythen ‚gedichtet‘, und zwar über Gegenstände, die ihm wichtig waren, und mit Aussagen, die er selbst als glaubwürdig und überzeugend bezeichnet hat (z.B. Gorg 523a1-3). Alle diese Mythen beziehen sich auf Bereiche, die sich einer empirisch nachprüfenden Vernunft entziehen: auf das Leben der Seele nach dem Tod (Phaidon, Gorgias, Er-Mythos aus dem 10. Buch der Politeia), auf apriorische Voraussetzungen des Denkens (Menon, Politikos), auf die Schöpfung der Welt (Timaios) und Elemente der Organisation und Geschichte des Kosmos (Politikos), auf die Realisierbarkeit staatstheoretischer Grundprinzipien (Urathen-Atlantis-Mythos im Timaios) usw. Das heißt: In der Form des erzählenden Mythos werden Gegenstände dargestellt und vermittelt, die selbst nicht bildlich-anschaulich sind, sondern auf die durch einzelne (Vorstellungs-)Bilder nur verwiesen werden kann. Platon-Interpreten, die sich vor allem auf Stellen dieser Art stützen, glauben, Platon gegen den Vorwurf des Rationalismus verteidigen zu sollen und schreiben ihm dieselbe Faszination durch den Mythos zu, wie sie für die modernen Rationalitätskritiker charakteristisch ist: Er habe in dem anschaulich bildlichen und symbolischen Denken des Mythos das Vermögen gesehen, in Bereiche vorzudringen, die der Erfahrung und den Möglichkeiten rationalen Beweisens entzogen sind.21 20
Vgl. die Auflistung der Belegstellen des Begriffs ‚Mythos‘ in den platonischen Dialogen im Beitrag von M. Janka in diesem Band S. 23-46. 21 Dieses Hinausgehen über das, was mit dem Verstand noch erfassbar ist, wird Platon insbesondere dann zugesprochen, wenn er dem ‚Rationalisten‘ und ‚Antimetaphysiker‘
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Nun hat Platon mit besonderem Nachdruck das Prinzip vertreten, dass widersprüchliche Aussagen nicht zugleich wahr sein können, und hat daraus den Schluss gezogen, dass es Widersprüche nur in unseren Meinungen gibt, und zwar dann, wenn wir es an einer Differenzierung haben fehlen lassen. Bedeutende antike Platoninterpreten (wie Plotin und Proklos) machen bei der Erklärung seiner Texte immer wieder deutlich, dass Platon sich mit größter Konsequenz um die Vermeidung von Widersprüchen bemüht habe, so dass sich Interpreten dort, wo sie meinen, einen Widerspruch in seinen Auffassungen feststellen zu müssen, prüfen sollten, ob nicht sie selbst erst genauer differenzieren müssen.22 Aber auch unabhängig von der Meinung dieser antiken Platonkenner kann man sich bei einer hermeneutisch-kritischen Lektüre der Dialoge fragen, ob ein Denker wie Platon so offenkundige und ganz unübersehbare Widersprüche nicht bemerkt haben kann wie die, dass er zugleich behauptet, Mythendichter müssten aus dem Staat verbannt werden und Mythendichter hätten eine unersetzliche Aufgabe für die musische Erziehung im Staat oder: Der Mythos sei eine Quelle der Täuschung (z.B. Resp 277e; 601bc) und der Mythos sei eine Quelle der Wahrheit (z.B. Lg 682a).23 Rechnet man dagegen mit der Möglichkeit einer Differenzierung durch Platon, in welcher Hinsicht der Mythos für ihn etwas Positives und in welcher Hinsicht er etwas Negatives ist, findet man reichliche und eindeutige Belege dafür, dass für Platon Mythos und Mythos keineswegs dasselbe ist, sondern dass für ihn der Gehalt von Mythen von ganz unterschiedlicher Art sein kann, und zwar in Entsprechung zu den Erkenntnissen, die die dichterische Produktion dieser Mythen lenken.24 Aristoteles und dessen Kunstauffassung gegenübergestellt wird: so z.B. noch bei Fuhrmann [21992] 88. 22 In vielen Fällen – wenn auch nicht in Bezug auf die Dichterkritik – folgt ihnen die moderne Forschung in diesem Unternehmen: z.B. mit Blick auf das Problem des Charakters und Skopos der Hypothesen des Parmenides: vgl. Halfwassen [1992] 265297. 23 Zu dieser scheinbar ambivalenten Einstellung Platons zum Mythos bzw. zur Dichtung vgl. die sorgfältig differenzierende Studie von Büttner [2000]. 24 Für Platon ist Dichtung wesentlich Mythos, nämlich die Darstellung einer bestimmten in sich geschlossenen Handlungseinheit. Er geht also in seiner Definition des Mythos und der Dichtung von den Gegenständen und Inhalten aus und nicht von der Produktionsweise oder den Medien und kann deshalb Dichtung und Mythos miteinander identifizieren. Ich werde zur Begründung auf diesen Aspekt weiter unten noch einmal zurückkommen. Soviel nur sei hier bereits erwähnt: Wenn Platon Mythos und Dichtwerk identifiziert, dann liegt darin keine Missachtung des Faktums, dass ein Mythos in verschiedenen Dichtungsgattungen und vielen verschiedenen einzelnen Dramen, Epen, lyrischen Gedichten usw. in verschiedenen Variationen verwirklicht und angetroffen werden kann; sondern Platon unterscheidet zwischen einzelnen Mythen und dem, was den spezifischen Charakter des Mythos oder Mythischen ausmacht; und dabei zeigt sich, dass diejenigen von den Eigenschaften, die man an den einzelnen Mythen feststellen
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Die schärfste Kritik an den Mythendichtern, insbesondere an Homer, übt Platon in den Büchern 2 und 3 seiner Politeia. Platons Kritik hat dabei eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kritik, die viele christliche Kritiker in der Moderne an der klassischen griechischen Dichtung geübt haben, z.B. die Verteidiger der Moderne in der königlichen Akademie im Frankreich Ludwigs XIV.25 Ähnlich wie den zivilisierten, christlichen Antikekritikern gefällt es auch Platon nicht, dass die alten Epiker und Tragiker den Göttern und Heroen, von denen sie berichten, verbrecherisches und überhaupt moralisch minderwertiges Verhalten zuschreiben: wechselnde Liebschaften, Ehebruch, Streitereien, Täuschungen, sentimentales Jammern usw. Platon hat aber andere und in Bezug auf die Frage, warum durch solche Darstellungen die Qualität der Dichtung in Frage gestellt ist, wohl auch bessere Gründe als seine modernen Nachfolger. Denn seine Perspektive ist nicht die des guten Bürgers, der sich über die moralische Minderwertigkeit dieser alten Mythenerzählungen entrüstet, seine Perspektive ist tatsächlich auf die Gründe gerichtet, die die Beurteilung der Qualität einer Dichtung möglich machen, d.h., er fragt nach den Bedingungen, von denen abhängt, dass eine Dichtung, oder allgemeiner formuliert: eine Rede, die einzelne Handlungen im zeitlichen Nacheinander erzählt, Form, Gestalt, Einheit haben kann. In einer für moderne Vorstellungen leider missverständlichen Formulierung könnte man auch sagen, dass Platon nach dem Verhältnis, in dem das Dargestellte zur Idee steht, fragt. Seit der frühen Neuzeit gilt die platonische Idee aber als etwas, das über alles, was der Erfahrung zugänglich ist, hinaus geht. Nur wer sich in der Lage fühlt, jenseits aller Erfahrung das Schöne selbst, die Gerechtigkeit selbst usw. in einer geistigen Schau zu erblicken, könne noch an Ideen im Sinn Platons glauben. Ideen setzen eine metaphysische Glaubensbereitschaft voraus, wir leben aber in einem nachmetaphysischen, kritischen Zeitalter.26 kann, die die unterschiedlichen Möglichkeiten der Versprachlichung und der Wahl des Mediums der Erzählung des Mythos betreffen, nicht das wesentliche Merkmal des Mythos ausmachen und nicht den Maßstab für die Bewertung der Qualität eines Mythos abgeben können. Das Gleiche gilt auch für das (häufig genannte – z.B. von Graf [1985] 8; 11) Kriterium des Unterschieds zwischen einem bewusst und von einem bestimmten individuellen Subjekt geschaffenen, auf einen bestimmten Skopos verpflichteten Dichtungswerk einerseits und einem ‚überindividuellen‘ Mythos andererseits, von dem es keinen einzelnen Urheber geben könne und der unabhängig von irgendwelchen historisch bedingten Einflüssen im ‚kulturellen Gedächtnis‘ einer Gesellschaft vorliege und dort (auch) von einzelnen Dichtern als ihr Material abgerufen werden kann. Nicht jede Erzählung, von der man keinen einzelnen Autor anzugeben weiß, erfüllt, nach Platon, die Kriterien dafür, im eigentlichen und primären Begriffssinn als Mythos bezeichnet werden zu können; und umgekehrt kann es auch von einem einzelnen Individuum geschaffene Erzählungen geben, die diesen Anforderungen gerecht werden. 25 Dazu jetzt Schmitt [2002] 607-622. 26 Dies sind freilich auch populäre, im allgemeinen Bewusstsein verbreitete Thesen über Charakter und Wert der platonischen Ideenlehre. Sie prägen aber – in mehr oder weniger
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Die Sachverhalte, die in den platonischen Texten selbst erörtert werden, haben allerdings gar keine Beziehung auf derartige pseudometaphysische Voraussetzungen. Das belegt auch die Kritik, die Platon an den traditionellen Mythenerzählungen übt. Ähnlich wie für die Moderne der Mythos einen inneren Bezug zu Kunst und Poesie hat, ja in gewisser Weise als deren Ursprung gilt (Vico, Herder, Cassirer), ist auch für Platon, wenn auch, wie wir sehen werden, aus ganz anderen Gründen, der Mythos etwas, was Kunst begründet und möglich macht. Seine Kritik an einer unzulänglichen Mythenbildung kann er daher in den Rahmen einer allgemeinen Kunstkritik stellen. Die allgemeinen Fragen, die Platon dabei erörtert, führen zunächst scheinbar weit von dem weg, was wir traditionell unter Mythos verstehen, nämlich zu dem grundsätzlichen Problem des Verhältnisses zwischen Idee, d.h. rational begreifbarer Sacheinheit, und den Formen, in denen diese ‚Sachen selbst‘ jeweils konkret ‚verwirklicht‘ sind, führen aber am Ende genau darauf zurück, nicht freilich, ohne den Begriff Mythos in einem ganz neuen Licht zu zeigen. Man kann nur von einem differenzierten Verständnis der Grundbegriffe der Ideenlehre (Teilhabe, Abbildcharakter der Einzeldinge, die Idee als Paradigma usw.) aus erschließen, was Mythos nach Platon eigentlich ist und unter welchen verschiedenen Perspektiven Mythen bewertet werden können. Das ‚Dritte von der Wahrheit‘ Zu Beginn des 10. Buchs seines Dialogs Der Staat fasst Platon seine Mythenkritik in einer allgemeinen Beurteilung der Bedeutung der Kunst für den Staat zusammen und betont dabei gleich mit den ersten Worten, dass sich seine Kritik nicht auf die Kunst überhaupt – und damit auch nicht auf den Mythos überhaupt – beziehe, sondern auf die Kunst, soweit sie von einem bestimmten falschen Kunstverständnis beeinflusst sei.27 Dieses falsche Kunstverständnis entsteht nach seinen Worten dann, wenn sich die künstlerische Darstellung mit einem ‚Dritten nach der Wahrheit‘ begnügt (Resp 599d; 602c). Der gemeinte Sinn dieses ‚Dritten nach der Wahrheit‘ ist uns nicht mehr unmittelbar zugänglich, er lässt sich aber nachvollziehen. Ich beginne mit der Erklärung sozusagen von unten, d.h. mit dem von Platon sogenannten ‚Dritten‘ selbst. modifizierter Form – ebenso auch die philosophiegeschichtliche Forschung (Bsp.: Art. ‚Ideen‘, in J. Ritter, u. K. Gründer (Hrsgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt [1976] 55-134; 101f. (Redaktion); W. Halbfass, 102-113, hier: 102 (es gebe noch metaphysische Relikte der antik-mittelalterlichen Tradition bei Descartes, die Idee sei noch nicht vollständig in das menschliche Bewusstsein transponiert; usw.), und zwar nicht nur die Forschungen zur neuzeitlichen Philosophie, sondern sind auch in der Platonforschung selbst in ungebrochener Kontinuität präsent: vgl. Graeser [21993] 129150. 27 Zur Differenzierung zwischen den verschiedenen Begriffen von Mimesis bei Platon vgl. Büttner [2000] 131ff; 208ff.
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Diejenige Kunst, die Platon aus einem guten Staat ausgeschlossen wissen will, ist, wie er sagt, die Kunst, sofern sie nachahmend ist (Resp 595a5). Die Beispiele, die er benutzt, zeigen, dass er an einen ganz strikten, engen Begriff von Nachahmung denkt. Er vergleicht die schöpferische Leistung solcher Nachahmungskünstler z.B. mit der Kunst eines Mannes, der mit einem Spiegel umhergeht und behauptet, er könne Tiere und Menschen, Himmel und Erde und überhaupt alles darstellen, was er wolle (Resp 595d-e). Unter Nachahmen versteht Platon an dieser Stelle also ein schlichtes Kopieren der Wirklichkeit. Zur Zeit Platons war in Athen gerade eine gewisse Technik der Illusionsmalerei (Schattenmalerei) in Mode, durch die man eine möglichst hohe Realitätstreue zu verwirklichen strebte. Es gibt eine ganze Reihe von Anekdoten, die die Vollendung der künstlerischen Raffinesse dieser Maler dokumentieren sollen.28 Sie haben noch die Künstler der Renaissance und des Barock sehr beeindruckt und gehören bis heute zum Gemeingut kunsthistorischer Bildung. So soll (nach Plin. nat. hist. 35,65f.) etwa Zeuxis Trauben gemalt haben, die so lebensecht waren, dass Vögel auf das Bild zuflogen. Sein Konkurrent Parrhasios aber übertrumpfte ihn durch einen in allen Nuancen so getreu gemalten Vorhang, dass selbst Zeuxis, der große Kenner die Täuschung nicht bemerkte – und nicht etwa nur unverständige Tiere. Auf einer Ausstellung bat er, doch den Vorhang wegzuziehen, damit er das Kunstwerk seines Kollegen betrachten könne, der scheinbare Vorhang war aber bereits das Bild selbst.29 Bilder dieser Art charakterisierte man damals und charakterisieren wir heute als realistisch30 oder veristisch. Eine veristische Darstellung will die Natur28
Zu diesen Künstleranekdoten vgl. Hinz [2001], bes. 437f. Zum Wettstreit Zeuxis-Parrhasios vgl. Lippold [1949], hier: 1877f. 30 Das trifft auf den allgemeinen Sprachgebrauch zu; aber auch die philosophische oder kunsttheoretische Begrifflichkeit hat hiervon ihren Ausgangspunkt genommen: Der Begriff des Realismus wird von Schiller in die ästhetische Diskussion eingeführt und meint noch in der Frühromantik (bei Schlegel und Schelling) Nachahmung der Natur in einem negativ konnotierten Sinn unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Platons Verwendung des Mimesis-Begriffs im 10. Buch der Politeia. So schreibt Schelling (Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums [1802], in: Werke, hrsg. von M. Schröter, Bd. 3: Schriften zur Identitätsphilosophie 1801-1806, München [1927] 368): „Was ist Plato’s Verwerfung der Dichtkunst (...) anderes, als Polemik gegen den poetischen Realismus“. Zu einer positiven (Selbst)Bezeichnung einer Kunstrichtung werden die Begriffe Realismus und Verismus, die mit dem Anspruch auftreten eine „Kunst des Wahren“ (vgl. W. Klein, Der nüchterne Blick. Programmatischer Realismus in Frankreich nach [1848], Berlin [1989]) zu sein, erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es hat also nur den Anschein, als handele es sich bei diesem in der eben referierten Anekdote beschriebenen Phänomen lediglich um ein Beispiel für die kunsttheoretische Naivität der Antike. Tatsächlich wurden gerade und erst in der Neuzeit diese und ähnliche Quellen bei der Entwicklung der eigenen Kunstkonzepte als Orientierungspunkt oder Gegenbild herangezogen; so wird der Beginn der modernen Kunst (nach Vasari: Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori e scultori italiani [1568], hrsg. von G. Milanesi, 1906, ND Zürich [1973] Bd. 1, 404) von dieser „trivialen Anekdotik eskortiert“ (Hinz, 29
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wahrheit (das ‚verum‘), ja im Sinn des Verismo des 19. Jahrhunderts die schonungslose Darstellung der Wirklichkeit selbst, betonen. Platon nennt derartige Bilder nicht realistisch, sondern ‚phantastisch‘ und vermisst an ihnen gerade das, was den Ehrentitel ‚naturwahr‘ oder gar ‚Darstellung der Wirklichkeit selbst‘ verdienen könnte (Soph 236bff.). Platons Kritik liegt uns keineswegs so fern, wie es unser Sprachgebrauch suggeriert. Allerdings bezieht sich seine Kritik auch nicht auf das, was uns am nächsten zu liegen scheint. Wir bezeichnen eine extrem realistische Kunst – also eine sozusagen „faksimilierende Mimesis“ (B. Hinz) – ja auch als eine Illusionskunst. Wir meinen damit aber lediglich, dass dabei in der Zweidimensionalität der Leinwand und mit bloßer Farbe und Form die Illusion dreidimensionaler Körper aus echtem Fleisch und Blut, aus echter Wolle u. dgl. erzeugt wird. Auf der Entdeckung dieser Täuschung beruht freilich der eigentliche Kunstgenuss des Betrachters. Sie ist die Ursache seiner Bewunderung für die Virtuosität des Künstlers.31 Platons Kritik an der Illusionskunst scheint aus dieser Perspektive von einem mangelnden Verständnis für die Wirkung von Kunst zu zeugen, zumindest erscheint sie als eine Kritik, die, wie Nietzsche nicht müde wurde zu wiederholen,32 die Kunst an der Elle einer sachfremden Moral misst.33 Platons Kritik an dieser Stelle zielt aber auf etwas ganz anderes. Man verschafft sich vielleicht am ehesten einen Zugang zu dem, was Platon meint, wenn man einmal von allen kunstgeschichtlichen Kategorien absieht und nur auf das achtet, was wir auch im alltäglichen Sprachgebrauch meinen, wenn wir von der schlechten Photographie einer Person sagen, sie zeige gar nicht, wie dieser Mensch wirklich sei, in welcher Verfassung er sich befinde, usw. Diese Kritik bestreitet nicht, dass der Mensch wirklich so ausgesehen hat, wie er abgebildet ist, ihre Spitze richtet sich, wenn man es einmal scharf formuliert, darauf, dass eine solche Photographie in Wahrheit nichts zeigt, d.h., nichts als
[2001] 439). Zur Bedeutung derartiger Künstleranekdoten für die Ausbildung des Kunstbegriffs vgl. Gombrich [21986] 167ff.; 228ff. 31 Besonders in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts übte diese Art des Illusionismus offensichtlich eine besonders große Faszination aus (vgl. Weber [1991]) – und das immer auch mit Rückgriff auf die antike griechische Kunst. 32 Vgl. das berühmte Diktum Nietzsches, Platon sei „der größte Kunstfeind, den Europa bisher hervorgebracht hat“: F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, VI.2, 430 (in: Ders., Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli u. M. Montinari, Bd. VI.2, Berlin [1968]). 33 Die These von der grundsätzlichen Kunstfeindlichkeit Platons und seines mangelnden Sinns für das Poetische ist zwar in der Platonforschung schon mehrfach in Frage gestellt und widerlegt worden (vgl. Büttner [2000], bes. den Forschungsüberblick zur MimesisKritik auf den S. 170ff.), wirkt aber dennoch sowohl in allgemeineren Darstellungen (z.B. Fuhrmann [11973] 72 und ff.) als auch in der unmittelbaren Platon-Forschung unverändert weiter.
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einen beliebigen, nichtssagenden Ausschnitt, der überhaupt nicht zu erkennen gibt, wer oder was das Dargestellte ist. Der Frage, wie es sein kann, dass eine völlig exakte Repräsentation von Wirklichkeit nur unzureichend oder sogar überhaupt nicht zu erkennen gibt, was diese sogenannte Wirklichkeit wirklich ist, hat Platon intensive Analysen gewidmet. Ich versuche, wenigstens einige Hauptzüge davon vorzustellen. Der Rahmen, innerhalb dessen Platon diese Frage erörtert, ist die Erkenntnistheorie, genauer: die erkenntnistheoretische Analyse der Bedingungen, die es möglich machen, von empirischen Gegenständen, die sich ständig verändern und viel Zufälliges enthalten, das zu erkennen, was sie irgendwie identifizierbar macht, d.h. von dem her sie als etwas Bestimmtes, Unterscheidbares erfahren werden können. Nur wenn eine solche Unterscheidung zwischen dem Beliebigen und dem Wesentlichen möglich ist, kann man überhaupt einen Begriff von dem bekommen, was etwas wirklich ist.34 Dieser Anfang unterscheidet Platon allerdings noch nicht von den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die auch eine realistische Malerei oder Dichtung machen muss. An der Rezeption der antiken Illusionsmalerei in Renaissance und Barock kann man sehen, wie sehr die Entwicklung der Technik einer völlig exakten Wiedergabe der Natur von dem allgemeinen Ideal einer wissenschaftlichen Welterfassung durch genaues Aufzeichnen der Erscheinungsformen abhängt.35 Gerade wenn man diese allgemeine Voraussetzung mitbedenkt, kann man aber erkennen, dass Platon offenbar eine andere und, wie wir sehen werden, vielleicht sogar realistischere Vorstellung von der möglichen Exaktheit einer Naturwissenschaft und einer Naturdarstellung hatte, als sie der Illusionsmalerei und ihrem naturwissenschaftlichen Vorbild zugrunde liegt. Dass man sich im 16. und 17. Jahrhundert plötzlich wieder so intensiv mit den Überlieferungen über die antike Illusionsmalerei beschäftigte, dass in dieser Zeit so viele detailreiche Blumen- und überhaupt Stillleben gemalt wurden, hat seinen Grund ja nicht in einer willkürlichen Laune der damaligen Maler, sondern ist Teil einer allgemeinen Begeisterung für das genaue Erfassen des Sichtbaren, für die Dokumentation und Taxonomie alles empirisch Zugänglichen, und die Maler wirkten intensiv und aktiv an diesem Prozess mit – man denke nur etwa an die großartigen Illustrationen, die Tizian für die neue Anatomie des Arztes Vesalius gemalt hat, oder an die „unzähligen aquarellierten Pflanzendarstellungen und die umfangreichen druckgraphischen Kompendien“,36 mit denen die Maler die Arbeit der Wissenschaftler unterstützten. Sie waren damit aber auch dem Ideal dieses Prozesses verpflichtet. Man glaubte, in der exakten Beobachtung, Beschreibung und Darstellung der 34
Zentrale Texte hierzu sind Phd 95e-107a (dazu Schmitt [1974] 133-148; 207-287); Resp 475c-480a; Resp 522c-524d; Ti 48e-52c. 35 Dazu vgl. auch Schmitt [1993] und Schmitt [2001]. 36 Welzel [2001], hier: 78f.
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sichtbaren Erscheinungsformen das Wesen der Dinge, ihre innere durchgängige Gesetzesbestimmtheit einfangen und gleichsam einfrieren zu können. Nicht nur der Wissenschaftler, der in der vergänglichen Erscheinungsform ihre unvergängliche Regel zu erfassen versuchte, auch der Maler überführte in seinen Bildern die vergängliche Welt der Dinge in die unvergängliche Welt der Kunst. Und das alles galt vielen, das möchte ich wenigstens anmerken, auch als eine Renaissance des Platonismus.37 Platon selbst war freilich kein Anhänger dieses Ideals. Für ihn enthält es eine massive Überforderung der Natur und der empirischen Wirklichkeit überhaupt. Die Überführung der Vergänglichkeit der Natur in die Unvergänglichkeit von Kunst und Wissenschaft wäre nur möglich, wenn Wesen und Erscheinungsform eines Dinges einfach identisch wären, wenn Regel und Gesetz in allen Erscheinungsformen unmittelbar und ohne Abweichung zum Ausdruck kämen. Im Unterschied zu dieser Auffassung denkt Platon, man könnte sagen, ‚moderner‘. Er glaubt nicht an die Möglichkeit einer völlig exakten Wissenschaft von der Natur, erreichbar ist in seinem Sinn allein das, was er einen eikōs mythos (Ti.29d2), einen wahrscheinlichen Mythos nennt. Mit der Bedeutung der Behauptung, dass auch die Physik ein Mythos sei, ja sein solle, müssen wir uns später noch (kurz) etwas genauer beschäftigen. Man kann aber vielleicht schon einmal daran erinnern, dass Heisenberg von dieser These sehr angetan war und in ihr eine philosophische Vorwegnahme seiner Wahrscheinlichkeitstheorie der elementaren Physik sehen wollte.38 Kritik an einer vollkommenen und exakten Bestimmtheit und Bestimmbarkeit der Natur gibt es aber nicht nur im Verhältnis der neueren Physik zur sogenannten Klassischen Physik, sie gibt es viel früher schon im Bereich der Kunst. Die naturwissenschaftliche Idee, dass die Natur gleichsam ein mathematisch lesbares Buch sei,39 wurde von den Künstlern von der Renaissance bis 37
Diese Auffassung lässt sich hundertfach belegen, differenziertere Studien dazu, die aber dennoch an dieser These festhalten, bietet z.B. Blumenberg [1981]. 38 Heisenberg [1969] 331f.; Heisenberg [1958], bes. 228; siehe auch von Weizsäcker [31982] 307; 320. 39 Das Bild von dem Buch der Natur bzw. den zwei Büchern, dem Buch der Natur und der Heiligen Schrift, ist zwar antiken Ursprungs und zum ersten Mal bei Augustinus belegt (De gen. ad litt. [PL 32, 219ff.], wurde aber bis zum Beginn der Neuzeit nie im Sinn der These gebraucht, in der Natur seien die göttlichen Prinzipien unmittelbar verwirklicht und ablesbar, sondern immer nur im Sinn der Analogie; die Natur wurde nur als etwas betrachtet, von dem ausgehend man auf das Göttliche, auf die begrifflichen Prinzipien von Sein und Erkennen schließen kann. Erst mit der Ausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaften (bei Galilei, z.B. Ed. nazionale [1890ff.], 5,316; 6,232, Campanella, Kepler usw.) spricht man von dem Buch der Natur als einem mathematischen Regelwerk; diese Redeweise hat sich im Verbund mit der dahinterstehenden Grundauffassung bis in die neuesten naturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Publikationen hinein gehalten: Vgl. so z.B. immer noch: Bialas [1998].
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weit in die Aufklärung hinein so ausgelegt, dass die Natur als ganze und alle natürlichen Dinge im einzelnen vollkommen von Regelmäßigkeit, von Proportion, Harmonie und Symmetrie durchgestaltet, d.h. schön seien. Dass die empirische Wirklichkeit diese hohe Erwartung an die Natur nicht erfüllt, ist aber eine Erfahrung, die vom 18. bis ins 20. Jahrhundert immer häufiger beschrieben und als die umfassendere und richtigere Wirklichkeitsbeschreibung empfunden wurde, so dass die alte Überzeugung jetzt als eine metaphysische Illusion erschien, ja als eine Täuschung, die den Menschen in den Glauben an eine Vollkommenheit der Wirklichkeit einlullte, die sich kritisch nicht verifizieren ließ.40 Dass diese angeblich platonische Metaphysik nicht platonisch ist, haben wir schon gesehen, man kann es aber noch genauer ausführen. Aus der Überzeugung, dass die ganze Wirklichkeit von ihr selbst her schön sei, folgt ja für die Frage, worin die Qualität von Kunst bestehe, dass diese in nichts anderem als einer getreuen Nachahmung der Wirklichkeit selbst gefunden werden könne. Diese Täuschung, d.h., die Meinung, dass es genüge, die äußeren Erscheinungsformen der Wirklichkeit nachzuahmen, um gute, schöne und wahre Kunst zustande zu bringen, ist es, die Platon an den Illusionsmalern seiner Zeit kritisiert.41 Nicht die Fertigkeit, durch bestimmte Techniken ein Trompe l’œils hervorzurufen, ist Gegenstand seiner Kritik, sondern die Überzeugung, man könne durch eine Perfektionierung der Wahrnehmung ins Innere der Dinge vordringen (vgl. Resp 523b5-7 und ff.42). Im Sinn Platons hat ein Verfahren, das allein durch Nachahmung von dem, was sich wahrnehmen lässt, Kunst hervorbringt, erkenntnistheoretische, ästhetische und ethische Voraussetzungen und Konsequenzen. Er beginnt bei seiner Kritik mit dem Nachweis (Resp 595a-608b), dass eine solche exakt nachahmende Repräsentation der Wirklichkeit in Wahrheit nicht einmal zu erkennen gibt, was dieses Stück dargestellter Wirklichkeit wirklich ist (vgl. Krat 389a-390e). Auf die Aufdeckung dieser Täuschung hin ist seine Unterscheidung des abbildenden Künstlers vom Handwerker angelegt. Im Unterschied zu diesem Künstler gibt er dem Handwerker immerhin den Rang, ein zweiter nach der Wahrheit zu sein (Resp 597b-e). Warum? Die meisten neueren Interpreten glauben, weil der Handwerker eben einen echten Vorhang und nicht nur eine Illusion von Vorhang herstelle. Davon steht aber nicht nur nichts im Text, dieser Unterschied hätte auch überhaupt keine Bedeutung für die Frage, woran man erkennen kann, was etwas wirklich ist. Am Ende könnte es auch ein Handwerker genauso halten wie der abbildende Künstler und einen bereits fertigen Gegenstand in Kopie einfach 40
Programmatisch formuliert z.B. in einem der ‚Gründungsmanifeste‘ der literarischen Moderne, im Lord Chandos Brief von Hugo von Hoffmannsthal. 41 Resp 602c-d – der Terminus für diese Illusionsmalerei ist bei Platon skiagraphia, vgl. auch Resp 523b. 42 Dazu vgl. auch Schmitt [1989] 54-82.
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nachbauen. Ein richtiger Handwerker versteht aber nach Platon etwas mehr von seinem Gegenstand, er versteht nämlich, wie es auch im griechischen Wort dēmiourgos schon im Namen liegt, etwas vom ‚Werk‘, vom ergon einer Sache. Der Blick auf das Werk, d.i. moderner formuliert: auf die eigentümliche Funktionsmöglichkeit eines Gegenstands, hat nach Platon aber eine ganz erhebliche Bedeutung für denjenigen, der erkennen will, mit was für einem Gegenstand er es zu tun hat (vgl. Resp 352d8-353d12; 477c1-d6), so dass diese Bedeutung es verständlich macht, weshalb Platon den Kenner des Werks eines Gegenstands der Idee näher rückt als einen, der bloße äußere Erscheinungsformen zur Kenntnis nehmen will. In der Theorie teilen auch wir zwar immer noch die Überzeugung der Wissenschaftler der frühen Neuzeit, die glaubten, man erkenne Gegenstände durch möglichst vollständige Wahrnehmung ihrer Erscheinungsformen und mache aus diesen Wahrnehmungen Wissenschaft durch instrumentelle und experimentelle Beobachtung und Vermessung und ordnende Registrierung der Wahrnehmungsdaten. Auch unsere Sprache ist von dieser Grundüberzeugung geprägt, wenn wir etwa sagen, dass wir Tische sehen, oder auch, dass wir Beobachtungen machen etwa über Depressive, über das Verhalten bestimmter sozialer Gruppen usw. In der Praxis halten wir uns aber nur bedingt, auf keinen Fall aber konsequent an diese Maxime. Denn wir stören uns normalerweise überhaupt nicht daran, ob ein Tisch z.B. quadratisch oder rund, braun oder weiß, aus Holz oder Glas ist, usw. Warum werden wir durch diese ganz verschiedenen und z.T. gegensätzlichen Beobachtungsdaten nicht irritiert, sondern fühlen uns ziemlich sicher in der Lage, alle diese so verschieden erscheinenden Gestalten immer gleich als Tisch zu identifizieren und sie alle mit demselben Namen zu benennen? Offenbar, weil wir zuerst auf das ‚Werk‘, auf die bestimmten Funktionsmöglichkeiten eines Tisches blicken und dabei schon mit Hilfe eines ziemlich oberflächlichen Begriffs – etwa, dass man dann etwas als Tisch bezeichnet, wenn man etwas darauf legen und wenn man sich an diesen Gegenstand setzen kann – in der Lage sind, eine Auswahl unter den vielen Erscheinungsformen zu treffen, was von ihnen für die Erkenntnis des Tisches relevant ist und was nicht. Die Leichtigkeit, mit der uns solche Begriffe, die die Auswahl unserer Beobachtungen steuern, zur Hand sind, erweist sich freilich nicht immer als Vorteil; man braucht nur daran zu denken, wie schnell man Beobachtungen, die man etwa an einer bestimmten Gruppe von Ausländern macht, dem Ausländerstatus dieser Gruppe zuordnet, obwohl die beobachteten Erscheinungen vielleicht gar nicht charakteristisch für die Menschen dieses Landes sind, weil sie z.B. nur auf einzelne Individuen zutreffen oder auf den sozialen oder religiösen Status dieser Gruppe. Der in der empirischen Wirklichkeit beobachtbare Gegenstand ‚Ausländer‘ kann und darf also keineswegs in allen seinen Erscheinungsformen registriert werden, wenn man erkennen will, was ein oder auch nur, was dieser einzelne
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Ausländer ist. Eine solche Repräsentation der von außen aufgenommenen Informationen im Begriff ist vielmehr Anlass zu vielfältigen Täuschungen. Die vollständige Wiedergabe eines äußeren Gegenstands der sogenannten Wirklichkeit im Begriff oder in der Kunst macht also gerade wegen ihrer Vollständigkeit, weil sie mit dem Äußeren nicht exakt übereinstimmt, oder weil sie nur eine Vorstellung oder ein Bild ist. Der vollständige Gegenstand bietet immer eine Vielzahl von sachfremden Informationen, von dem wir ihn, wie Platon sagt, erst ‚reinigen‘ müssen, um auf das zu stoßen, was an diesem ‚ganzheitlichen‘ Gegenstand der Wirklichkeit wirklich Deutscher oder Franzose, was an ihm wirklich ein depressiver oder ein trauriger Mensch ist, d.h., um zu einer wirklich begrifflichen Sacherkenntnis zu kommen (Resp 472bff. und vgl. Resp 399e). Um den Prozess dieser (gedanklichen) Reinigung (‚Katharsis‘) empirischer Erkenntnisse zu verstehen, verweist Platon in hinführender, didaktischer Absicht – in vielen Zusammenhängen und so auch im 10. Buch der Politeia – auf den Handwerker. Wenn ein Handwerker oder Techniker einen Tisch, eine Schere, eine Waage, eine Laute oder auch einen Computer macht, muss er sich in der Tat zuerst ziemlich genaue Kenntnis über das Werk, über die eigentümliche Funktionsweise des Gegenstands, den er herstellen will, verschaffen: Welche Funktion muss etwas überhaupt erfüllen, um ein Tisch sein zu können? Dann aber auch: Welche Funktion hat ein Esstisch, Couchtisch, ein Operationstisch, ein Tisch für bestimmte Repräsentationsaufgaben usw.?43 Oder: Welchen Tonbereich und welche Klangfarbe soll ein bestimmtes Instrument, etwa eine Laute, hörbar machen? Erst danach setzt die – auch auf Beobachtung und andere Wahrnehmungen sich stützende – Auswahl der Materialien und ihrer Strukturierung ein, die immer an der erstrebten Funktion orientiert bleiben müssen. Die Auszeichnung des Handwerkers vor dem bloß abbildenden oder nachahmenden Künstler durch Platon soll also auf eine Differenz aufmerksam machen, auf die Differenz zwischen der einen Sache und ihren vielen verschiedenen Erscheinungsformen.44 Die Orientierung am ‚Werk‘ von etwas kommt offenbar der Erkenntnis von dem, was ausmacht, dass etwas etwas Bestimmtes, ein bestimmter Gegenstand, eine bestimmte Person oder eine bestimmte Sache usw. ist, schon viel näher als eine bloße Registrierung oder Darstellung seiner Erscheinungsformen.
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Das Beispiel, das Platon im Politikos verwendet, ist die Webkunst, bei der er analog dem eben beschriebenen Fall unterscheidet zwischen nach Materialien und Arten von Kleidungsstücken verschiedenen Arten des Webens: Plt 297aff. 44 Horn [1997] 291-312, 298-306 hebt zu Recht diesen Aspekt der Einheit der Sache im Unterschied zur Vielheit der Instanzen als wesentliches Kriterium der von Platon intendierten Unterscheidung hervor.
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Die Bezugnahme auf den Handwerker könnte allerdings das Missverständnis nahelegen, als ob Platon – vielleicht als ‚Erblast‘ seiner Abhängigkeit von seinem Lehrer Sokrates45 – der Praxis vor der Theorie den Vorzug geben möchte und ähnlich wie moderne pragmatische Philosophien die Erkenntnis einer Sache von ihrer Bewährung in der Praxis abhängig machen wollte. Dass diese Vermutung nicht zutreffen kann, braucht man aber vielleicht gar nicht auszusprechen, zu deutlich ist der Vorrang der Theorie vor der Praxis von Platon an vielen und systematisch wichtigen Stellen formuliert. Platon meint zwar, dass man eine Schere nicht daran erkennt, dass sie länglich und silbrig ist, sondern daran, dass sie schneidet – und das kann eben auch eine breite Schere aus weißem Plastik – und dass derjenige, der sie richtig gebraucht, maßgebend ist für die Beurteilung der Sache und dazu in der Lage, anderen ein Wissen von dieser zu vermitteln (vgl. Krat 390bff. und Resp 601dff.); auch das Schneidenkönnen und die Kriterien des richtigen Umgangs mit einer Sache aber sind etwas, was erkannt werden muss. Wie wollte man denn sonst in der Praxis feststellen, dass etwas schneidet, und wie sollte man zwischen richtigem und falschem Gebrauch unterscheiden? Und natürlich muss man seine Augen auch benutzen, um festzustellen, dass etwas schneidet, Platon betont aber nachdrücklich, dass man das, worauf es dabei ankommt, nämlich die Funktion, gerade nicht sieht (denn im eigentlichen Sinn sehen, mit dem Sehsinn wahrnehmen, kann man nur Farben und Formen, dazu siehe unten S. 108), sondern begreifen muss.46 Dass Platon im Recht ist, kann man sich leicht klarmachen, wenn man die Erkenntnisbedingungen erschwert. Was sieht denn jemand, der einen Computer aufmacht und das Innere in seiner Aktion beobachtet? Ohne ein bereits ziemlich genaues Wissen um bestimmte Kombinationsmöglichkeiten, die sich aus einer besonderen Form disjunktiver und konjunktiver Logik ergeben, und ohne ein Wissen, wie diese Möglichkeiten in bestimmten Materialien realisiert werden können, sieht er trotz der besten Augen von der Funktion, die dieses Computerinnere erfüllt, nichts. In diesem Sinn kann man – ohne jeden metaphysischen Unterton – sagen, dass die äußere Wirklichkeit den Augen etwas ‚verbirgt‘, was dem Begriff offenliegt.
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Die ‚lebenspraktische‘ Ausrichtung der sokratischen Philosophie scheint schon Aristoteles als Charakteristikum festzuhalten (Aristot. Metaph.987b1f.; 1078b17f.); in mehr oder weniger explizitem Anschluss an diese von Aristoteles vorgetragene philosophiehistorische These (und freilich als Ergebnis der Interpretation der sogenannten sokratischen Frühdialoge Platons) wird diese Theorie in der neueren und neuesten Forschung immer wieder neu formuliert: z.B. Hadot [1991] 15-18; Patzer [1987], bes. 435; 446ff. 46 Vgl. die Herleitung des Unterschieds zwischen Begreifen und Sehen: Resp 523a-545c.
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Der Mythos – ein ‚Drittes von der Wahrheit‘? Wendet man sich nach dieser Klärung dessen, was nach Platon ein ‚Drittes nach der Wahrheit‘ ist, wieder der Beurteilung mythischer Poesie zu – und genau diesen Schritt macht auch Platon im 10. Buch des Staats –, dann wird bereits sehr viel besser verständlich, weshalb er in Dichtungen, die ganz auf die Darstellung der Wirklichkeit, wie sie sich in den äußeren, beobachtbaren Erscheinungsformen zeigt, konzentriert sind, keine Wahrheit erkennen kann. Man wird auch unschwer nachvollziehen können, weshalb derartige Darstellungen auch ästhetisch kaum vollendet sein können. Weshalb Platon sie auch als ethisch problematisch beurteilt, hoffe ich wenigstens andeuten zu können. Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass wir, d.h. die modernen Mytheninterpreten, in der Bindung des Mythos an die konkrete Anschauung, an das konkrete Bild, an die konkrete Geschichte, in der an einer beispielhaften Sequenz von ‚Begebenheiten‘ ein Muster vorgeführt werde, wie z.B. eine gerechte Besitzverteilung in einer Gesellschaft geschehen müsse – dass wir in dieser Bindung gerade die Auszeichnung, das Ursprüngliche und Echte des Mythos erkennen und es gegen eine von abstrakten Begriffen gesteuerte Lebensgestaltung absetzen. Platons Umgang mit der Bindung der mythischen Darstellungsweise an einzelne Gegenstände, einzelne Personen, einzelne sich in der Zeit vollziehende Ereignisse und Handlungen ist differenzierter. Er sieht in dieser Bindung zwar eine Gefahr, aber auch den eigentümlichen Nutzen des Mythos: Eine Gefahr ist diese Bindung an Einzelfälle, wenn diese Einzelfälle selbst zum Kriterium der Erkenntnis der dargestellten Sache gemacht werden. Platon meint nicht, dass in den mythischen Bildern in ungeschiedener Einheit die ganze Wahrheit und Weisheit der Welt enthalten ist, sondern er hält diese Vorstellung für eine Konfusion und für eine Quelle von Täuschungen, weil man eben in den einzelnen Verwirklichungen einer Sache immer etwas vor sich hat, das sowohl zur Sache Gehöriges als auch Sachfremdes an sich hat und das zur Abgrenzung des Sachfremden kein Kriterium an die Hand gibt. Er sieht aber auch den besonderen (didaktischen) Vorteil der Bildlichkeit der Darstellungsweise und weiß diese in seinen Dialogen auch einzusetzen. (Ich werde auf diesen Aspekt zum Schluss noch einmal kurz zu sprechen kommen.) Ausgangspunkt der Definition des Mythos ist bei Platon die Bestimmung der Gegenstände, die in Mythen dargestellt und von denen durch den Mythos bestimmte Erkenntnisse vermittelt werden können. Wovon handeln die Mythen? Sie handeln von Kriegen und Kriegsgründen, von Vertrag und Vertragsbruch, von Ehrungen und Entehrungen usw., d.h. von gerechtem und ungerechtem, tapferem und feigem, wahrhaftigem und unwahrhaftigem Handeln, von Liebe, Hass, Empörung, Zorn usw. und bieten durch die Darstellung solchen Handelns, weil es nicht das Handeln einfacher, gewöhnlicher Menschen, sondern das Handeln von Göttern, Heroen und über-
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haupt heldischen Menschen einer großen Vorzeit ist, Vorbilder, Muster, an denen sich die Leser, Hörer oder Zuschauer orientieren und orientieren sollen. Mit Mustern dieser Art hat Platon aber, wie jeder Leser auch nur irgendeines seiner Dialoge weiß, Probleme. Wie steht es z.B. mit wahrhaftigem Handeln? Kann man am Handeln eines Menschen, der ein Muster von Wahrhaftigkeit bietet und z.B. sogar durch die Androhung des Todes sich nicht zu einer Lüge verleiten lässt, sozusagen einfach ablesen, welche Anforderungen ein Mensch erfüllen muss, damit er als ein Vorbild der Wahrhaftigkeit erkannt und nachgeahmt werden kann? „In der Regel ja“, würde die platonische Antwort lauten, „aber es gibt Ausnahmen, die zeigen, dass man sich nicht auf das konkrete Handlungsmuster fixieren darf, sondern sich viel mehr und sogar grundsätzlich an der Motivation orientieren muss, die dieses Handeln überhaupt erst zu einem Muster und Vorbild macht.“ Platonische Ethik ist nicht Teil einer ‚shame-culture‘, die ausschließlich auf den Handlungserfolg und nicht auf die dahinterstehende Gesinnung blickt; und sie ist ebenso wenig Teil einer ‚guiltculture‘, also einer Kultur, die das Handeln der einzelnen Menschen ausschließlich an dem Maßstab der bewussten Intention misst, sondern sie bezieht sowohl äußere als auch innere Aspekte mit in die Bewertung ein und entscheidet schließlich nach der tatsächlich von dem einzelnen Individuum geleisteten Erkenntnis. Entscheidend ist bei diesem Ansatz, dass man in ethischen Fragen nicht verallgemeinernd urteilen und sich auch nicht gemäß solchen Verallgemeinerungen verhalten darf, sondern dass man in möglichst umfassender Weise die konkreten Gegebenheiten der Situation berücksichtigt und nicht blind irgendwelchen allgemeinen Maximen folgt. Wenn etwa – ich erlaube mir ein platonisches Beispiel zu aktualisieren – jemand 1943 von der Geheimpolizei gefragt worden wäre, ob er einen jüdischen Mitbürger versteckt hält, dann hätte nach Platon – anders als etwa für Kant – auch für den wahrhaftigen Menschen eine Pflicht zur Lüge bestanden. Oder: Wenn eine Gesellschaft, die nicht zu einem Haufen von Dieben verkommen will, sich zur Regel setzt und diese Regel ihren Mitgliedern in anschaulichen Geschichten präsent macht, dass Eigentum respektiert und Geschuldetes zurück gegeben werden muss: Kann man an diesen Regeln und an diesen Beispielgeschichten erkennen, was einen gerechten Menschen zu einem gerechten Menschen macht? Die platonische Antwort wäre auch in diesem Fall: „nein“, oder richtiger: „Es hängt vom jeweiligen (historisch immer wieder anderen) Einzelfall ab, ob sich diese Regeln dabei als Ausdruck des Verhaltens eines gerecht denkenden Menschen verstehen lassen.“ Wenn man es z.B. mit einem verbrecherischen Menschen zu tun hat, der seine Waffe zurück haben will, um andere Menschen zu töten, dann wird der gerechte Mensch gerade alles daran setzen, um die Rückgabe des geschuldeten Gutes zu verhindern, statt sich an die konventionelle Regel seiner Gesellschaft zu halten (vgl. Resp 331c).47 47
Das bietet im Übrigen auch einen Ansatz für eine (allegorische) der Sache angemessene Mythendeutung in Platons Sinn: Bei einer solchen dürfen nicht einzelne Motive
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Die Folgerung aus derartigen Analysen, die Platon zu nahezu allen gesellschaftlich relevanten Verhaltensformen vorgelegt hat – im Charmides zeigt er, dass sich Besonnenheit nicht immer in bedächtigem, sondern manchmal auch in raschem Handeln äußert, im Euthyphron, dass Frömmigkeit nicht immer in der Ausübung bestimmter religiöser Riten erkennbar wird, im Laches, dass Tapferkeit nicht immer im Standhalten gegenüber einem Feind besteht, usw. –, ist, dass man dann, wenn man über richtig und falsch bei einer solchen Verhaltensform entscheiden muss, weder einfach die äußere Wirklichkeit zum Maß nehmen kann noch irgendwelche Regeln oder Muster, die man aus ihr abstrahiert oder ableitet. Dabei ist es gleichgültig, ob man diese Regeln in konkrete idealtypische Geschichten verpackt oder ob man sie auf abstrakte Normen reduziert. Weder idealisierte Normen noch in irgendeiner Weise im Geist erschaute ideale Gegenstände sind Beispiele für das, woran man sich nach Platon orientieren kann, um zu erkennen, was wirklich gerechtes Handeln ausmacht. Rationale Begriffsfindung als Voraussetzung von Mythos und Dichtung im positiven Sinn bei Platon – Ansätze Wir wollen das negative Ergebnis des letzten Abschnitts zunächst einmal einfach festhalten. Die darüber hinausgehende Frage, wie man einen Begriff vom dem gewinnt, was wirklich zum gerechten Handeln gehört, von dem also, was Platon die Idee des Gerechten nennt, können wir wegen ihrer Schwierigkeit nicht erschöpfend behandeln. Einige zentrale Verständnisvoraussetzungen möchte ich aber darlegen. Gerecht sein heißt nach Platons berühmter Definition: ‚Jedem das Seine zukommen lassen‘ (Resp 433a). Dabei ist ‚das Seine‘ von Platon in einem genauen Sinn gebraucht. Es meint die optimale Entfaltungsmöglichkeit der eigenen Vermögen und Fähigkeiten. Der Mensch, der sich selbst dazu ausbildet und erzieht bzw. erziehen lässt, ist zu sich selbst gerecht, der Staat, der dafür sorgt, dass seine Mitglieder sich zu sich selbst und zueinander so verhalten, dass jeder dieses Seine erfüllen kann, ist ein gerechter Staat. oder Symbole unabhängig von ihrem jeweiligen Kontext isoliert als beliebig einsetz- und zusammensetzbare Versatzstücke aufgefasst werden, die immer und ohne Unterschied das Gleiche bedeuten und für das Gleiche stehen, sondern platonische Mythendeutung erfolgt mit Blick auf die im Mythos anschaulich abgebildete Sache und weist unter dieser Perspektive einzelnen Momenten der Handlung oder der Charakterisierung der handelnden Personen oder einzelnen Elementen der Szenerie usw. ihre spezifische Bedeutung zu. Das bedeutet auch: Platonische Mythendeutung nimmt nicht durch eine rationale Abstraktion dem konkret mythischen Geschehen seine inhaltliche Bestimmtheit und reduziert sie ‚durch den Einbruch bewusster Reflexion‘ auf abstrakte Regeln, sondern sie erschließt den eigentlich konkreten Gehalt der Bilder, die für sich genommen, d.h. ohne begriffliche Deutung, gerade keine ‚welterschließende‘ und Orientierung gebende Bestimmtheit haben.
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Wer etwas von gerechtem Handeln verstehen will, muss nach Platon also nicht ein Set von Regeln kennen, sondern er muss sich selbst kennen, d.h., er muss sich auf das verstehen, was die spezifischen Vermögen des Menschen sind, was jemand als Mensch kann und leistet. Er muss also etwas vom ‚Werk‘, vom ergon des Menschen verstehen. Das kann man nach Platon durchaus. Über die elementaren Grundvoraussetzungen ist ohnehin leicht Übereinstimmung zu erzielen – z.B. darüber, dass man jemandem nur aus sehr schwerwiegenden Gründen, etwa weil er ein auf andere Weise nicht zu verhindernder Massenmörder ist, das Leben, die Bedingung jeder Selbstentfaltung, nehmen darf. Je mehr und genauer aber jemand über das ‚Werk‘ eines oder der Menschen Bescheid weiß, desto mehr wird er erkennen können, was jemandem zukommen oder nicht zukommen soll, d.h. desto mehr wird er einen zutreffenden Begriff von dem haben, was für einen einzelnen Menschen oder für die Menschen im Allgemeinen gerecht ist. Die Frage, woran man sich orientiert, um gerechtes Handeln richtig darzustellen, ist, wie man sieht, nicht eine Sonderfrage unter den vielen Fragen, die zu klären sind, woher eine mythische Darstellung ihre Gestaltungsprinzipien nehmen soll. Wenn denn der Mythos ‒ von Göttern und Dämonen abgesehen ‒ menschliches Handeln zu seinem Gegenstand hat (und auch die Götter handeln im Mythos ja in anthropomorpher Gestalt, d.h. als einzelne Personen und individuelle Charaktere), menschliches Handeln aber nicht an jeder beliebigen Äußerungsform begriffen werden kann (das meiste von dem, was wir Menschen tun, haben wir bekanntlich sogar mit Tieren gemeinsam), sondern eben nur am Werk, oder, wie die mittelalterlichen Scholastiker dies ausgedrückt haben, am ‚Akt‘ des Menschen, d.h. an den Leistungen der Vermögen, die für ihn als Menschen spezifisch sind – wenn also die Frage, ob jemand das Seine tut, der Maßstab richtigen, gelungenen bzw. falschen und scheiternden Handelns ist, dann muss jemand, der Mythen dichten, d.i. menschliches Verhalten darstellen, will, etwas von Gerechtigkeit, d.h. vom richtigen und optimalen Vollzug der menschlichen Vermögen, begriffen haben. Mythos in positivem Sinn Genau in diesem Sinn hat Platon seine eigene literarische Tätigkeit verstanden. Das, was er in seinen Dialogen grundsätzlich und insbesondere in seinem Dialog über den Staat anstrebt, ist ein möglichst vollkommener Mythos, d.h. eine Darstellung, in welcher Weise das, was Gerechtigkeit von ihrem Begriff her ist, im Leben des einzelnen Menschen wie im Leben der Gemeinschaft realisiert werden müsste.48 Dass Platon auf diese Weise auch Literatur von 48
Über diesen Skopos der Politeia wird in dem ersten einleitenden Teil des (in der Dialogfiktion folgenden) Dialogs Timaios diskutiert, wobei insbesondere auf das Verhältnis von Urbild und Abbild und auf den Unterschied zwischen einer Darstellung eines begrifflichen Prinzips und der Darstellung einer einzelnen, (historischen) konkreten
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höchstem Rang zuwege gebracht hat, ist ihm bis heute von beinahe niemandem bestritten worden. Diese richtige Weise mythischer Darstellung, von der sich, wie wir noch sehen werden, ein weiterer und ein engerer Mythosbegriff ableiten lässt, beschreibt Platon an einer zentralen Stelle seines Staatsdialogs folgendermaßen (Resp 472cff. und 200b-501c)49: Wenn jemand, der bereits einen Begriff von der Gerechtigkeit und den anderen Akten des Menschen gewonnen hat, die Aufgabe gestellt bekomme, darzustellen, wie das, was er allgemein versteht, sich in einzelnen Handlungen realisieren lasse, dann werde er zuerst die Charaktere, die er darstellen möchte, ‚reinigen‘ (Resp 501a). Was mit dieser Reinigung gemeint ist, wurde inzwischen schon klar: Dieser philosophische Mythendichter nimmt nicht alles auf, was er an einem bestimmten Menschen in der sogenannten Wirklichkeit vorfindet, sondern er wählt nur das aus, was für diesen – insofern er ein gerechter, das Seine verwirklichender Mensch ist – eigentümlich ist: Dieser Mensch hat sein Vermögen in der und der Weise ausgebildet und ist dadurch ein Mensch mit bestimmten und nicht chaotisch beliebigen Neigungen und Abneigungen geworden.50 Dasjenige Handeln, das aus diesen Neigungen und Abneigungen hervorgeht, wird aus allem anderen, was dieser Mensch sonst noch tut oder leidet, ausgesondert, es wird davon gereinigt. Nach dieser Reinigung, so fährt Platon fort, wird der Künstler zwischen dem Begriff von gerechtem Handeln und den einzelnen Handlungen, die aus gerechten Maximen hervorgegangen sind, hin- und herblicken und das eine, wo dieses Handeln noch nicht ganz den Forderungen der Gerechtigkeit entspricht, auslöschen, anderes, worin sich die Gerechtigkeit noch genauer äußert, hinzufügen und so die Darstellung dieses Charakters möglichst vollkommen machen. „Das wäre“, so stellt der Gesprächspartner im ‚Staat‘ fest, „das bei weitem schönste Bild“ (Resp 501c3). Auch die ästhetische Form einer künstlerischen Darstellung folgt in diesem Sinn aus ihrem Inhalt. Nur wer etwas von den Bedingungen charakterlich bestimmten Handelns des Menschen versteht, kann dieses Handeln auch kunstgemäß darstellen: „Wie aber“ so lässt Platon Sokrates, den Gesprächsführer seines Dialogs, fragen – „der Stil der Darstellung und die sprachliche Instanz dieses Sachverhalts hingewiesen wird. Der neuplatonische Kommentator Proklos hat über diese auch für die Ideenlehre insgesamt grundlegenden Differenzierungen eine um den genauen Wortlaut bemühte Interpretation vorgelegt: vgl. dazu Radke [2003], Teil II, Kapitel III. 49 Dazu auch Schmitt [2001]. 50 Das ist nach Platon ebenso wie nach Aristoteles überhaupt das Kriterium dafür, ob ein einzelner Mensch einen bestimmten Charakter hat und von welcher Art dieser bestimmte Charakter ist. Systematisch entwickelt wird diese Charakter- und Handlungstheorie von Aristoteles vor allem in der Nikomachischen Ethik und in der Poetik. Vgl. dazu Schmitt [1995].
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Form, folgen die nicht dem Charakter? Dem Stil der Darstellung aber folgt das Übrige? Die schöne Form der Rede also, das klare Maß, die Durchgestaltetheit und die gelungene Rhythmisierung, alles folgt dem durchgebildet guten Charakter“. (Resp 400d6ff.) Charakterliche Möglichkeiten in konkreter Darstellung – der platonische und aristotelische Mythos-Begriff Über die uns ungewohnt, ja sachfremd erscheinende These Platons, dass nur ein guter Charakter auch ästhetisch gut dargestellt werden könne, wäre noch viel zu sagen.51 An diesem hohen Anspruch jedenfalls hat Platon nicht nur die Dichtungen gemessen, die in einen gut konzipierten Staat aufgenommen werden sollten, diesem Anspruch versuchte er in seinen Dialogen zu genügen, die in lebendigem Gespräch nachvollziehen, was zur Erkenntnis von Ideen im Allgemeinen gehört, und er hat auch Mythen im engeren Sinn, d.h. Erzählungen von handelnden Menschen gedichtet, die diesen Anspruch erfüllen sollen, z.B. den sogenannten Er-Mythos am Ende des Dialogs Politeia (Resp 614b-621d) oder die Geschichte von Atlantis in den Dialogen Timaios und Kritias (Ti 20d-25d; Krit passim). In diesem Atlantis-Mythos wird nach Platons eigenen Worten (Ti 19b-c) erzählt, wie ein Staat in Aktion sein müsste, d.h. welche Menschen mit welchen konkreten Handlungen in ihm aktiv sein müssten, wenn diese Menschen in ihren einzelnen Handlungen nachzuvollziehen, d.h. nachzuahmen versuchen würden, was in dem Dialog über den Staat als allgemeine Bedingungen des optimalen Vollzugs menschlicher Handlungsmöglichkeiten ermittelt worden war. Die Konjunktive, die Platon hier gebraucht, um die Aufgabe seines Mythos von Atlantis zu charakterisieren – er möchte ja darstellen, „wie ein Staat in Aktion sein müsste, wenn er eine möglichst vollkommene Nachahmung seines idealen Staatskonzepts wäre“, hatte er analog auch schon gebraucht, um das Anliegen seines Staatsentwurfs zu beschreiben: „Wir suchen zu ermitteln, wie ein gerechter Mann ‚ins Werden treten‘, d.h. sich in konkret empirischen Handlungen darstellen würde (hoios an eiē genomenos), wenn er sich ganz an den Forderungen des Gerechtseins ausrichten würde“ (472c5f.). Genauso hatte er sich auch bei der Formulierung der Aufgabe eines guten Malers ausgedrückt: er müsse ein Bild malen, „wie der schönste Mensch wäre, d.h. aussehen würde, wenn...“ (472d5). Dieser Hinweis auf die konjunktivischen Formulierungen (im Griechischen handelt es sich um Optative) ist nicht philologischer Selbstzweck. In den Formulierungen, die Platon hier gewählt hat, ist vielmehr in prägnantester Form die Grundaussage einer Kunsttheorie enthalten, von der nicht nur die Theorie, sondern auch das Anliegen der ausführenden Künstler in Europa mehr als 2000 51
Vgl. dazu ausführlicher Schmitt [2008], [22011] dort die Kommentierung zum 2. Kapitel.
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Jahre lang intensiv beeinflusst war, auch wenn es neben Zeiten einer adäquaten Rezeption auch Zeiten einer erheblichen Um- oder Missdeutung gegeben hat. Der erste, der mit der prägnanten Formulierung auch das Grundanliegen der Kunsttheorie Platons wieder aufnahm, war Aristoteles in seiner Poetik. Aristoteles lehnt ganz im Sinn der Kritik zu Beginn des 10. Buches der platonischen Politeia in dem berühmten 9. Kapitel seiner Poetik52 eine Dichtung ab, die einfach die Wirklichkeit wiedergibt (und auch ebenda bereits im 8. Kapitel: 1451a16ff.). Wer meint, er könne bei der Gestaltung einer Dichtung einfach dem Ablauf der Ereignisse oder dem Verlauf des Lebens einer Person folgen, versteht nach Aristoteles nichts von dem, was Literatur überhaupt erst zur Literatur macht. Aristoteles verweigert solchen Darstellungen die Bezeichnung ‚Mythos‘. Denn ‚Mythos‘ ist für Aristoteles ein Ehrentitel, den er ausschließlich solchen Darstellungen vorbehält, die Platon als die schönste oder beste Kunst charakterisiert hatte. Aristoteles ist bei den Anforderungen an diese gute, mythische Form der Kunst – in der Poetik geht es ihm naturgemäß nur um die Dichtung – weniger streng als Platon, seine Auffassung liegt uns daher näher und kann so zugleich dazu dienen, uns dem Verständnis dessen, was Platon gemeint hat, näher zu bringen. Zunächst aber ein Wort zur Forschungssituation. Viele glauben, dass der Begriff von ‚Mythos‘, wie ihn Aristoteles in seiner Poetik verwendet, weder mit dem platonischen noch gar mit dem traditionellen, ursprünglichen Mythosverständnis bei den Griechen in Zusammenhang stehe. Mythos bezeichne bei Aristoteles einfach die Fabel oder den Plot, die formale Zusammenstellung der Handlungselemente.53 Ich glaube nicht, dass diese verbreitete Auffassung richtig sein kann. Neben vielen Argumenten, die wir hier nicht behandeln können, spricht dafür allein die Tatsache, dass Aristoteles das zentrale 9. Kapitel seiner Poetik, in dem er erklärt, was seiner Meinung nach Dichtung zu Dichtung macht, mit genau der Formulierung beginnt, in der Platon die Aufgabe eines guten Mythos beschrieben hatte. Er sagt nämlich, Aufgabe der Dichtung sei es nicht, wirklich Geschehenes darzustellen, sondern darzustellen, wie etwas geschehen müsste (hoia an genoito, Aristot. Poet. 9,1451a37). Außerdem teilt Aristoteles mit Platon die Überzeugung, dass es nicht die formalen Gestaltungsmittel sind, die die ästhetische Qualität eines Kunstwerks ausmachen, sondern dass dafür der Inhalt verantwortlich ist. Man könnte, so sagt er, den ganzen Herodot in Verse setzen, es bliebe trotzdem ein Geschichtsbuch, d.h. eine Darstellung des äußeren Geschehens, dem die Qualität des Mythos und damit das Prinzip einer einheitlichen Durchgestaltung fehlt (Poet.1451b2-4).
52
Dazu Schmitt [1995]. Z.B. Halliwell [1986] 138ff. Die gleiche Deutung schon beim ersten Kommentator der Poetik, bei Francesco Robortello, Explicationes in librum Aristotelis, qui inscribitur De poetica, München [1968 (=1548)], 73-83. 53
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Wodurch bekommt eine Darstellung diese Qualität, d.h. die Fähigkeit darzustellen, wie eine Handlung sein müsste? Aristoteles sagt: wenn alles, was ein Dichter jemanden sagen oder tun lässt, so ist, dass es als wahrscheinliche oder notwendige Äußerungsform seiner allgemeinen charakterlichen Vorlieben oder Abneigungen verstanden werden kann (Poet. 1451a36-38; 1451b6-9). Da Handeln immer konkretes Handeln in einer individuellen Situation ist, ist im Sinn dieser Aussagen des Aristoteles als Aufgabe, einen Mythos zu konzipieren, also gefordert, einen Entwurf zu machen, wie jemand auf Grund seiner charakterlichen Verfassung sich in einer bestimmten Situation für ein bestimmtes Handlungsziel entscheidet und dieses Ziel mit den Möglichkeiten, die er als dieser bestimmte Charakter hat, erreicht oder verfehlt. Alles, was zur Verfolgung dieses Ziels an Reden und Einzelhandlungen von diesem Charakter ausgeht, wofür er, wie Aristoteles sagt, selbst Prinzip und Ursache ist (Poet. 1450b8-9),54 gehört zu dem, was dieses Geschehen zu einem Mythos macht; alles andere behindert die mögliche inhaltliche und formale Einheit der Darstellung und ist deshalb literarisch uninteressant. Dass diese Maxime des Aristoteles keineswegs trivial ist, kann man nicht nur daran erkennen, dass die Forderungen, die Aristoteles aus ihr ableitet, und die mit diesen verbundene Konkretisierung des Literaturbegriffs von den meisten Literaturtheorien seit der Renaissance nicht mehr akzeptiert werden; man sieht es vor allem auch daran, dass Aristoteles das Verhältnis von Charakter und Handlung ganz anders bestimmt, als es im Sinn eines modernen, empirisch begründeten Urteils möglich scheint. Aristoteles behauptet ja, dass der Charakter für den Dichter eine Vorgabe, sozusagen ein Arsenal von Möglichkeiten bietet, von denen her der Dichter erkennen kann, wie er einzelne Handlungen und Handlungsfolgen gestalten muss, während wir eher denken würden, dass ein Dichter zuerst die Erscheinungsformen beobachten müsse, in denen sich ein Charakter äußert, um erst dann von ihnen auf den ihnen zugrundeliegenden Charakter zurück zu schließen oder eine Intuition und ein der konkreten Individualität gerecht werdendes, nicht rational überformtes und rationalistisch verkürztes Gefühl von diesem Charakter zu bekommen. Man hat es doch immer zuerst mit wirklich handelnden Menschen zu tun und kann nicht ohne Blick auf sie einfach konstruieren, wie sie handeln müssten. In der Tat verlangt dieses Letztere auch Aristoteles nicht, man soll einen Charakter nicht konstruieren, sondern begreifen. Er hätte aber gute Gründe, uns einige kritische Fragen zu stellen, v.a., woran wir denn unterscheiden, ob etwas, was ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut tut, Ausfluss gerade seines Charakters ist und nicht von beliebigen Einflüssen, denen er mehr oder weniger ausgesetzt war. Vor diesem Unterscheidungsproblem steht man sogar schon bei einzelnen Charakterzügen. Woran will man etwa erkennen, dass jemand zornig ist? An 54
Zum Begriff der prohairesis vgl. auch Aristoteles MA 701a4-5; EN III, 3-5. besonders 1111a22-24; 1112a11-2; 1113a4-7.
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bestimmten, sich immer wieder gleich wiederholenden Äußerungsformen kann man sich jedenfalls nicht orientieren. Denn Zorn äußert sich zwar nicht beliebig, aber sehr unterschiedlich. Seneca z.B. beschreibt den Zornigen als jemanden mit hochrotem Kopf, der laut wird, dem sich die Haare sträuben, der mit den Füßen stampft, der sich an der Lust auf die schrecklichste Rache weidet usw., und er folgt seinen eigenen theoretischen Vorgaben auch in seiner dichterischen Praxis, z.B. in seiner Darstellung der alles menschliche Maß übersteigenden Rachelust Medeas. Blicken wir dagegen auf das klassische Zorndrama der griechischen Antike, auf die Medea des Euripides,55 finden wir eine heftig zürnende Frau, die in besonnener, ruhiger, rhetorisch geschickt überlegter Rede mit den vornehmen Frauen von Korinth spricht, die den König durch ihre klaren Argumente und ihren Mann durch ihre Einsichtigkeit beeindruckt und die sich durch einen tapferen Appell an ihr Ehrgefühl überwinden muss, zur Rache zu schreiten und ihre Kinder zu töten – ganz anders als bei Seneca, dessen Medea von der Lust an der Rache übermannt und weggerissen wird. Es ist gar keine Frage, dass man bei Euripides auf eine ganz andere Weise über den Zorn Medeas informiert wird als bei Seneca. Euripides lässt nicht einfach jemanden feststellen, dass Medea zornig ist, oder stellt typische Erscheinungsformen des Zorns an ihr dar. Das, was er tut, ist, dass er Medea von den heiligen Eiden sprechen lässt, mit denen sie und Jason sich gegenseitig verpflichtet haben, davon, was sie für Jason alles aufgeopfert hat, was alles sie für ihn gewagt und an Gefahr auf sich genommen hat, wie sie ihre ganze Existenz allein auf ihn gegründet hat und wie sie jetzt durch seine Untreue und seinen Verrat ganz und gar verlassen und vernichtet ist. Euripides informiert, wie man sieht, über die Gründe von Medeas Zorn, und schon das Wenige, das ich genannt habe – das Drama als Ganzes ist natürlich noch viel genauer – genügt, um erkennbar zu machen, dass sich Medea in einem Zustand des Zorns und nicht etwa der Beschämtheit oder der Traurigkeit befindet: Medea ist über ein Unrecht empört. Aber Euripides zeigt noch viel mehr, er zeigt zugleich, in welcher besonderen Weise sich das, was Zorn im allgemeinen ist, gerade bei Medea äußert: Sie ist eine außergewöhnlich liebende Frau, die mit großer Klugheit und Konsequenz alles gewagt hat, um ihre Liebe durchzusetzen, die bereit ist, vieles zu opfern, aber auch in Kauf zu nehmen. Mit diesen und einer Reihe weiterer von Euripides subtil exponierter Charakterzüge muss man also auch rechnen, wenn eine verletzte Medea sich im Zorn zur Wehr setzt. Worin liegt der Gewinn dieser Darstellungsweise des Euripides? Zunächst einmal darin, dass sie das einende Band liefert, das erst erkennbar macht, dass die verschiedenen Handlungen Medeas, ihre Gespräche mit den Frauen, dem König, mit Jason, ihr Verhalten gegenüber den Kindern usw. überhaupt 55 Vgl. meine Gegenüberstellung der beiden Medea-Tragödien des Euripides und Senecas und der in diesen vorausgesetzten Konzepte von Leidenschaft und Affekten: Schmitt [1994].
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Äußerungen dieser einen bestimmten, von diesen seelischen Haltungen und Tendenzen individuell bestimmten Frau sind, die ganz von heftigsten Zorngefühlen beherrscht ist. Beinahe nichts von dem, was Medea sagt und tut, könnte ein Psychologe in ein Lehrbuch aufnehmen, um seinen Studenten signifikante Verhaltensmuster von Zornigen vorzuführen (ähnliche Erfahrungen könnte man im Übrigen bei der Affektdarstellung beinahe jeder griechischen Tragödie des 5. Jahrhunderts machen); dennoch weiß man an jeder Station des Dramas, dass das, was sie gerade sagt und tut, Ausdruck der erzürnten Medea ist, weil bei allen von Euripides ausgewählten und gestalteten Handlungen deutlich ist, dass und wie sie im Dienst der inneren Intentionen stehen, die von dem Medea eigentümlichen Gefühl des Zorns bestimmt sind. Alle diese Handlungen bringen zum Ausdruck, wie eine erzürnte Medea sich in dieser Situation gegenüber diesen Personen verhalten müsste, wenn das, was sie Euripides gerade tun lässt, etwas sein soll, was wirklich aus ihrem Charakter kommen kann, d.h. etwas, das man wirklich als notwendigen oder wahrscheinlichen Ausdruck ihrer charakterlichen Disposition begreifen kann. Zum Verständnis der poetischen Verfahrensweise dieser Art von Darstellung ist der Vergleich zwischen Künstler und Handwerker durch Platon durchaus hilfreich. So wie etwa bei einer Laute die für sich isolierten Einzelstücke, Boden, Deckel, Bügel, Saiten, Griffe usw., selbst wenn sie schon geformt sind, nicht von sich her Lautenteile sind und als solche zu erkennen sind, sondern erst für den dazu werden, der ihr Verhältnis untereinander und zum Ganzen vom Blick auf das Werk, auf die Funktion, der sie dienen, beurteilen kann, so ist es auch bei der Darstellung innerer Motive eines Menschen. Der Zorn ist so wenig mit seinen Erscheinungsformen identisch wie die äußeren empirischen Gegenstände. Man sieht daher auch nicht einfach, dass jemand zornig ist, sondern man begreift es. Für dieses Begreifen bietet aber das, was Platon und Aristoteles Mythos nennen, eine substantielle Hilfe. Denn der Mythos ist das einheitliche Gestaltungselement, das bewirkt, dass die einzelnen Handlungsteile nicht beliebig nebeneinander stehen, sondern als wahrscheinlicher oder notwendiger Ausfluss einer charakterlich begründeten Entscheidung folgerichtig auseinander hervorgehen und untereinander und zum Ganzen einer Handlung zusammenstimmen. Der in diesem prägnanten Sinn definierte Mythos ist als systasis tōn pragmatōn, als Anordnung einzelner charakterlich in bestimmter Weise motivierter Handlungen, das Prinzip und Kriterium der Einheit und Qualität einer jeden erzählten oder auf der Bühne dargestellten oder schriftlich niedergelegten Geschichte. Er ist also der Maßstab, an dem die (pädagogische ebenso wie ästhetische) Qualität jeder einzelnen mythischen Erzählung, jedes einzelnen Mythos gemessen werden kann, oder für Platon formuliert: anhand dessen Platon zwischen guten und minderwertigen Mythen unterscheidet. Die durch die Verwendung dieses Maßstabes vom Dichter, vom ‚Mythen-Produzenten‘, erzielte Folgerichtigkeit und dieses einheitliche Zusammenstimmen ist für den Zuschauer oder Leser – modern gesprochen – die Rezeptionssteuerung, die ihn von den äußeren
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Erscheinungsformen der Handlungen auf das Innere, das ‚Werk‘ eines Charakters verweisen, das in ihnen gleichsam als ihr Grund verborgen ist. Die Rede vom Verborgensein darf man aber nicht metaphysisch missverstehen. Es geht nicht um einen Grund jenseits oder hinter den Dingen und Handlungen oder um etwas, was in ihrem tiefsten Inneren verborgen liegt, sondern es geht einfach um den Unterschied zwischen sehen und begreifen. Es ist eben vieles für das Auge verborgen, was der Verstand sieht, und zwar an eben demselben empirischen Gegenstand, den die Wahrnehmung auch vor sich hat. Vielleicht reicht dieser Hinweis schon, um deutlich zu machen, dass Platon einige Gründe hat, die sittliche Wirkung einer Dichtung, in der dieses Begreifen nicht geleistet ist, für bedenklich zu halten. Wer sich einfach an die äußeren Erscheinungsformen von Handlungen hält und an das, was an ihnen konventionell, typisch, regelhaft ist, wird nur zu leicht geneigt sein, nur den Zorn dessen, der laut schreit, und nicht dessen, der freundlich lächelt, zu bemerken und dem Mitleid zu geben, der geschickt zu jammern versteht, hingegen dem gegenüber, der tapfer sein unverdientes Unglück erträgt, kein Mitleid zu zeigen. Dass derartige Darstellungen einer Kultur der Gefühle dienen, die Platon wie Aristoteles als die eigentliche Aufgabe der Kunst und außerdem überhaupt jeder Form der Erziehung (vgl. Aristot. EN 1172a16-b2) in einer Gesellschaft ansehen, wird man mit Recht bezweifeln. Im Unterschied zu solchen äußerlichen Handlungsdarstellungen werden von Aristoteles und auch von Platon (auch wenn er die Gefahren v.a. für die, deren Verständnisfähigkeit noch ungeübt ist, am Äußeren haften zu bleiben, stärker heraushebt) die alten, aus der Vergangenheit überlieferten Mythen oft hoch geschätzt, und zwar nicht deshalb, weil sie so alt und ursprünglich sind, sondern gerade umgekehrt, weil sie von vielen klugen Köpfen immer und immer wieder neu durchdacht sind und so in eine Form gebracht sind, in der Wirklichkeit begriffen und nicht nur widergespiegelt ist. Naturwissenschaft als Mythos und die Kluft zwischen Mythos und Naturwissenschaft Ich hatte zu Beginn auf den erstaunlichen Befund hingewiesen, dass Platon die Darstellung naturwissenschaftlicher Lehren (und zwar durchaus ohne geringschätzigen Unterton) als Mythen, genauer: als ‚wahrscheinliche Mythen‘ bezeichnet. Für die Erklärung dieser Merkwürdigkeit bleiben mir nur noch wenige Sätze. Einen Mythos verfassen kann nach Platon und Aristoteles, wie wir gesehen haben, wer dort, wo es eine Differenz zwischen Erscheinungsform und Sache gibt, die Elemente und Strukturen der Phänomene im Blick auf die Sache so ordnen kann, dass die Phänomene durch diese Ordnung als Nachvollzug, Verwirklichung der Sache selbst begriffen werden können. Ein physikalisches Beispiel wäre etwa, wenn die ständig sich neu formierenden und struktu-
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rierenden Elemente in der inneren Bewegung eines Atomkerns als immerhin wahrscheinlicher Nachvollzug eines mathematischen Prinzips erwiesen werden könnten. Das Besondere der platonischen Auffassung ist, dass er das mathematische Prinzip nicht als ein immanentes Strukturprinzip verstanden wissen will, sondern als eine rational begreifbare Maßgabe, der sich die konkreten Strukturen mehr oder weniger annähern oder von der sie abweichen können. Deshalb ist die Beschreibung der Strukturen ein Mythos, die Darstellung eines Nachahmungsvollzugs, nicht der Sache selbst. Wenn Platon der Naturwissenschaft die Qualität des Mythischen zuweist, dann meint das nicht (oder nicht in dem für uns naheliegenden Sinn), die Naturwissenschaft stelle ihren an und für sich begrifflichen, ‚logischen‘ Gegenstand wegen eines Mangels an Abstraktionsvermögen anschaulich durch mythische Bilder dar, sondern es macht eine Aussage über die empirisch beobachtbaren und beschreibbaren Naturdinge selbst: Diese selbst seien nur anschaulicher Nachvollzug, und in diesem Sinn Bilder von etwas an sich Begrifflichem, das in ihnen (in der Weise der Nachahmung, d.h. mit Einschränkungen und ungenau) verwirklicht und das an ihnen erkennbar sei. Die wahrnehmbare Natur, die einzelnen physischen Dinge und Vorgänge haben selbst den Charakter mythischer Bilder und der für den Mythos charakteristischen Redeweise. Sie sind etwas, das an Zeitlichkeit gebunden ist, sie sind wahrnehm- bzw. vorstellbar, verwirklichen bestimmte einsehbare Sachgehalte nur so weit, wie es ein bestimmter Einzelfall zulässt, niemals in allen seinen möglichen Aspekten. Die angemessene Redeweise über die empirische Natur (sc. sofern es eine empirisch vorgehende Beschreibung von Wahrnehmungsdaten ist) ist also deshalb der Mythos, weil das, was an der Natur empirisch wahrnehmbar ist, selbst mythisch ist. Die Naturphänomene selbst sind für Platon nur Teilverwirklichungen von etwas Begrifflichem und nicht rein begrifflich erkennbare Sachgehalte. Die Wissenschaften der frühen Neuzeit haben diese Differenz eingeebnet und dadurch, platonisch gesprochen, Wahrscheinlichkeiten zur Wissenschaft gemacht. Dadurch entsteht erst die moderne Kluft zwischen mythischem und rationalem Denken56 und die scharfe Alternative zwischen einer rationalen 56
In der Neuzeit gilt die empirische Naturforschung als Inbegriff von Wissenschaft und rationaler Methodik schlechthin. Ihre experimentell gewonnenen Erkenntnisse werden zum Maßstab für alles, was den Titel der Wissenschaft oder des Wissens beanspruchen möchte. Charakteristisch für das Selbstverständnis der Naturwissenschaften in der Neuzeit (und zwar auch noch bis in die ‚naturwissenschaftliche Postmoderne‘, also in die Zeit nach der Entdeckung der Quantenphysik, der Chaos- und Relativitätstheorien, nach der (vermeintlichen) Entdeckung der konstitutiven Rolle des beobachtenden Experimentators für die Versuchsergebnisse und die aus diesen erschlossenen Gesetzmäßigkeiten) ist die Annahme, die Eigenschaften und das Wesen der Naturdinge ließen sich bei entsprechend effektiven Instrumentarien und unter im Labor kontrollierten Beobachtungsbedingungen eindeutig und exakt als Faktenwissen ablesen, d.h. die Natur gebe die Erkenntnis dessen, was sie ist, „was sie im Innersten zusammenhält“, wenn man
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Wissenschaft von der Natur und einer dann scheinbar nur noch poetischkünstlerischen Rede über die Welt, die sich nicht an denselben absoluten Maßstäben der Notwendigkeit und Eindeutigkeit messen lassen kann oder will.57 Von Platon her gesehen sind diese Eindeutigkeitsforderungen58 überzogen und den empirischen Untersuchungsobjekten nicht angemessen, die behauptete Kluft zwischen dem wissenschaftlichen und dem anschaulich bildhaften Zugang zur Wirklichkeit ist in seinem Sinn übertrieben – der empirischen Wissenschaft wird zu viel, der mythischen Rede zu wenig an begrifflichem Gehalt zugetraut. Denn, wie wir gesehen haben, konnte Platon zeigen, dass alle empirischen Einzeldinge (ob nun technisch hergestellte oder natürliche) immer nur mehr oder weniger genaue Repräsentanten einer bestimmten Sache sind. Alle Erkenntnisse über Regelmäßigkeiten und ‚Mathematisches‘ in der empirischen Natur sind demnach nur wahrscheinliche Sacherkenntnisse und erlauben nur einen induktiven Zugang zu einer Erkenntnis des bestimmten Seins der Dinge. sie nur richtig befrage und beobachte, von selbst preis. Diese Basisthese verbunden mit der ihr wesentlichen ausschließlich empirisch-induktiven Untersuchungsmethode führt dazu, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse die Formulierung abstrakter Regeln und Gesetzmäßigkeiten zum Ziel haben, dass also die einzelnen beobachteten Daten in eine Form gebracht werden, die ihre leichte Anwendbarkeit garantiert, d.h. die die Ergebnisse leicht auf andere Gegenstandsbereiche übertragbar sein lässt, weil sie von allen konkreten wesentlichen Besonderheiten ebenso wie von allen möglichen kontingenten Abweichungen absieht. Die Kehrseite der hohen unmittelbaren Effizienz dieses Verfahrens ist der Eindruck einer Reduktion der Erfahrungswelt (und des Menschen) auf abstraktrationale Regelmäßigkeiten, die der konkreten Lebenswirklichkeit nicht gerecht zu werden vermögen. Und so war es wahrscheinlich, dass man nach einem Gegengewicht zu dieser reduzierten Rationalität und Wissenschaftlichkeit suchen würde – ein solches meinte man in dem Mythos und insbesondere im antiken Mythos wiederfinden zu können. So führt die (nach platonischen Maßstäben bemessen) Überforderung der Möglichkeiten der Empirie und die Überforderung der wahrnehmbaren Natur zu der scharfen Alternative zwischen zwei möglichen Zugangsweisen zu dieser Welt: zwischen dem absolut rationalen, abstrakt-begrifflichen naturwissenschaftlichen Logos und dessen Gegenbild, dem Mythos. Wenn man also den neuzeitlichen Mythos-Begriff einer kritischen Analyse unterziehen will, ist es erforderlich (oder zumindest ein möglicher Weg), zuerst den Anspruch der in der Frühen Neuzeit neu konzipierten Naturwissenschaften auf seine Berechtigung hin zu überprüfen. Die Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Platons Aussage, die Lehre von der wahrnehmbaren Natur sei ein wahrscheinlicher Mythos, könnte hierzu ein möglicher Anfangspunkt sein. 57 Vgl. die Analyse dieser Zusammenhänge bei W.F. Gutmann, bei dem diese ambivalente Oppositionsbewegung allerdings als ein in der Sache begründetes und notwendiges Faktum beschrieben und angenommen wird: Gutmann [1991]. 58 Zur Bedeutung der verschiedenen Formen der symbolischen Verschriftlichung der beobachteten Daten im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. die Studien von Anneliese Maier [1964/1967/1977].
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Daher bezeichnet Platon seine Physik auch als einen wahrscheinlichen Mythos, einen eikōs mythos, also als eine wissenschaftlich-rationale Darstellung, die auf Wahrscheinlichkeit beruht. Man versteht nach dem bisher Gesagten leicht, was damit gemeint ist. Der Gesichtspunkt, der ihm wichtig ist, ist, dass eine Rede über etwas zunächst einmal dem Gegenstand, von dem sie handelt, angemessen sein muss. Bei den empirisch wahrnehmbaren Einzeldingen aber handelt es sich um etwas, was nicht eine notwendig und exakt erkennbare Sache ist, sondern etwas, was in höherem oder geringerem Grad von dem, was die Bestimmtheit einer Sacherkenntnis ausmacht, abweichen kann und daher als ganzes, empirisch zugängliches Objekt nur wahrscheinlichen Charakter hat. Dass man nach Platon dennoch zwischen einem mythischen und einem streng rationalen Zugang zur Wirklichkeit unterscheiden kann, hat seinen Grund eben in der Differenz von Erscheinungsform und Sache. Das mythische Denken nähert sich der Sache von ihren Erscheinungsformen her, d.h., es ist ein empirisches Denken. Die angemessene Darstellungsweise dieses Denkens ist daher narrativ, sie gibt oder findet Sacherklärungen durch die Schilderung von zeitlichen Abfolgen einzelner Handlungen oder Ereignisse, ist anschaulich, verwendet Bilder, die das Darzustellende vorstellbar machen, und ist überhaupt so angelegt, dass sie mit allen ihren (formalen) Eigenschaften dem Ziel dient, zwar ein begriffliches Wissen zu vermitteln, aber unter Berücksichtigung des Bedürfnisses der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nach anschaulichen Vorstellungsbildern. Die logisch rationale Darstellung stellt gegenüber dieser eher didaktisch-subjektiven Vorgehensweise die Sacherkenntnis, die Erkenntnis der Funktion, des Werks selbst in den Vordergrund und orientiert sich an der sachlichen Priorität und mutet damit den Rezipienten mehr zu und erfordert die Bereitschaft und Fähigkeit zu nicht-anschaulicher begrifflicher Erkenntnis. Mythos und Vernunft sind daher, um unsere bisherigen Überlegungen in zwei Sätzen zusammenzufassen, nicht wie Rationalität und Irrationalität voneinander verschieden, sondern lediglich dadurch, dass sie einen verschiedenen Ausgangspunkt nehmen. Der Mythos beginnt bei dem, was uns näher liegt, bei den beobachtbaren Phänomenen, und versucht auf die sie bestimmende Funktionalität zurück zuschließen – und das tut er um so besser, je rationaler er dabei vorgeht. Im Unterschied dazu überprüft der Begriff aus der Kenntnis der Funktion die möglichen Formen, wie sie in der Realität erfüllt werden können – und das gelingt dem Begriff um so besser, je konsequenter er das begriffliche Mögliche bis in seine anschaulichen Verwirklichungsformen verfolgt. Der beste Mythos ist also ein didaktischer Logos, der beste Logos ein rationaler Mythos.
PLATONS MYTHENERZÄHLER Bernd Manuwald Die Mythen, die in den platonischen Schriften begegnen,1 werden, wie aufgrund der Dialogform nicht anders zu erwarten, jeweils von einer der Dialogfiguren erzählt. Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht alle Mythen in Platons Formulierung und Sinndeutung vorliegen, auch soweit er sich dabei mehr oder weniger auf Quellen stützen sollte.2 Dennoch kann man beobachten – und das ist, wie es scheint, bisher nicht zureichend gewürdigt worden –, dass Platon bei der Verwendung von Mythen durch die von ihm konzipierten Figuren signifikante Unterschiede macht. Die Unterschiede sind sowohl in Bezug auf die Sprecher selbst und ihr Verhältnis zu dem von ihnen vorgetragenen Mythos als auch hinsichtlich der Art der Mythen festzustellen. Um näheren Aufschluss zu erhalten über Platons Einsatz von mythischen Erzählungen und/oder Schilderungen, die als tradiert bezeichnet werden und/oder bildlichen Charakter haben,3 soll versucht werden, dieses Phänomen durch eine systematisierende Untersuchung zu strukturieren. Ordnet man – zunächst rein äußerlich betrachtet – die Mythen im Hinblick auf die erzählenden Personen und deren Bezug zu dem von ihnen erzählten Mythos, ergeben sich zwei Gruppen, die in sich wieder zu unterteilen sind: (1) Platon lässt nicht nur Sokrates Mythen erzählen, sondern auch andere Dialogfiguren, so Protagoras (im gleichnamigen Dialog), Aristophanes (im Symposion) als Gesprächsteilnehmer, Diotima (im Symposion), den Fremden aus Elea (im Politikos), Timaios (im nach ihm benannten Dialog), den Athener (in den Nomoi)4 als Gesprächsführer, wobei Sokrates in den jeweiligen Dialogen teils als ein weniger Kundiger, teils nur als Zuhörer, teils überhaupt nicht teilnimmt. Für alle diese Erzähler gilt, dass der von ihnen vorgetragene Mythos (sc. der literarischen Fiktion nach) von ihnen selbst stammt. Es gibt 1
Eine Liste von Texten „qui sont unanimement considérés comme des mythes“ bietet Frutiger [1930] 29–31. Vgl. auch seine Ergänzung S. 97. Vgl. ferner die Zusammenstellung von Kytzler [1997]. – Zusammenfassend zu den Mythen vgl. u.a. Kobusch [1990]; Szlezák [1993] 132–136, bes. 136 Anm. 1 (Lit.). Ausführlichere Behandlungen (mit reichen bibliographischen Angaben) aus jüngerer Zeit finden sich bei Moors [1982], Cerri [1996] und Morgan [2000]. 2 Vermutlich wird man insgesamt mit einem nicht unbeträchtlichen Anteil platonischer Erfindung rechnen dürfen. Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es aber nicht, das Übernommene und das Platonische gegeneinander abzugrenzen. 3 Dass es ein zu einfaches Kriterium wäre, lediglich das als Mythos einzustufen, was im Text ausdrücklich als màqoj bezeichnet wird, zeigt Morgan [2000] 156–161. – Gegenstand des Folgenden ist auch nicht der Wortgebrauch von màqoj und lÒgoj in den Dialogen Platons, es geht ausschließlich um Textpassagen, die im eben genannten Sinne als eigens eingefügte mythische Ausdrucksformen abgrenzbar sind. 4 Lg 903bff., vgl. aber unten Anm.68.
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aber auch Dialogfiguren wie Kritias im Timaios oder in dem Dialog, der seinen Namen trägt, und an einer Stelle auch der Athener in den Nomoi,5 die sich ausdrücklich darauf berufen, dass sie das von ihnen Erzählte gehört hätten bzw. dass es sich um eine alte Geschichte handle. (2) Wenn Sokrates selbst Mythen erzählt, so zeigt er meist ein ähnliches Verhalten wie die zuletzt genannten anderen Dialogfiguren, z.B. gibt er an, die Jenseits-Mythen im Gorgias, im Phaidon und in der Politeia von anderen gehört zu haben. Nur ein einziges Mal trägt Sokrates einen Mythos ganz aus sich heraus vor – allerdings mit einer speziellen Begründung –, den Seelen-Mythos im Phaidros. Die Berufung auf eine Quelle thematisiert Platon sogar, indem er im Zusammenhang mit dem Theuth-Mythos Phaidros behaupten lässt, Sokrates habe – entgegen seiner eigenen Darstellung – seine Ausführungen (in Wirklichkeit) selbst erdichtet (Phdr 275b3f.). Diese Szene zeigt, dass Platon offenbar ganz bewusst vorgeht, wenn er seine Dialogfiguren sich für Mythen teils auf eine Autorität berufen lässt, teils aber auch nicht. Man muss daher versuchen, über die einst von L. Edelstein getroffene Feststellung, dass die platonischen Mythenerzähler ihre Berichte gewöhnlich auf der Grundlage der Autorität anderer gäben6 (wie auch von späteren Interpreten gelegentlich beobachtet wurde7), hinauszukommen, und fragen, ob sich Gründe für die unterschiedliche Verfahrensweise Platons finden lassen, die vielleicht auch mit der inhaltlichen Bedeutung und Funktion der Mythen in den Dialogen in Zusammenhang stehen. Das kann nur durch eine Betrachtung im Einzelnen geschehen, die hier auf der Grundlage der bereits genannten Gruppierungen für eine größere Anzahl von Mythen, die als repräsentativ gelten können, geleistet werden soll. Die Beschränkung auf die genannte überwiegend philologisch-literaturwissenschaftliche Fragestellung bringt es mit sich, dass die vielfältigen inhaltlichen Probleme der jeweiligen Mythen allenfalls am Rande erwähnt werden können.8 Begonnen sei mit den Gemeinsamkeiten aufweisenden Mythen, die Protagoras und Aristophanes erzählen. Beider Geschichten sind in ihre längeren 5
Lg 713a–714b, vgl. unten S. 123f. Edelstein [1949] 466: „… and those who recount the tales, be they Socrates or any other of the interlocutors, usually give their report on the authority of other people“. Aber es ist eben nicht immer so (vor allem häufiger nicht bei den „interlocutors“ oder anderen Gesprächsführern als Sokrates). Edelstein gebührt das Verdienst, auf den Sachverhalt überhaupt allgemein hingewiesen zu haben. Den unterschiedlichen Verfahrensweisen und den Gründen ist er nicht nachgegangen. 7 Vereinzelte Hinweise finden sich z.B. in der letzten mir bekannt gewordenen umfassenden Untersuchung zu Platons Mythen, derjenigen von Morgan ([2000] 187; 193; 248 mit Anm. 8), ohne dass aber das Phänomen systematisch behandelt worden wäre. 8 Ebenso wenig kann die Verflechtung der Mythen in das Dialog-Ganze im Einzelnen untersucht werden. Diesem Gesichtspunkt widmet sich besonders Morgan [2000]. 6
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Ausführungen integriert, die insgesamt jeweils im Verlauf des Gesprächs mit Sokrates bzw. Diotima einer kritischen Prüfung unterzogen werden, d.h., der Mythos wird als vollgültiger Teil der Argumentation insgesamt akzeptiert,9 die freilich im weiteren Gespräch inhaltlich nicht Bestand hat. Der Mythos des Protagoras ist vermutlich der früheste in einem Dialog Platons ausgeführte Mythos überhaupt.10 Dabei wird diese besondere Form der Äußerung von Platon darstellerisch in den Blick gerückt: Denn er lässt Protagoras auf die Bitte des Sokrates hin nachzuweisen, dass das Gut-Sein (¢ret») etwas Lehrbares sei (320b8f.), zunächst – in der selbstverständlichen Gewissheit, den gewünschten Nachweis bieten zu können (320c2) – die Frage stellen, ob er ihn führen solle, indem er, wie ein Älterer Jüngeren, eine Geschichte (màqoj) erzähle oder indem er Punkt für Punkt eine Erörterung (lÒgoj) anstelle.11 Als man ihm das freistellt, entscheidet er sich für den Mythos, weil das reizvoller sei. Der Mythos, dessen Funktion Protagoras gönnerhaft abqualifiziert, ist also nach Ansicht Platons für Protagoras keine sachbedingte Darstellungsform.12 So lässt Platon ihn denn auch faktisch bald ohne Rechtfertigung zum Logos übergehen (323a5ff.), für einen späteren Teil seiner Ausführungen ausdrücklich nur noch die Form des Logos wählen (324d6f.) und Protagoras am Ende seiner Epideixis, die, wie es sich für einen Sophisten gehört, vor einem recht großen Kreis von Zuhörern vorgetragen wird,
9 Das zeigt sich im Protagoras auch daran, dass sich Sokrates am Ende des Dialogs ausdrücklich auf diesen Mythos bezieht und sich Prometheus als Vorbild für ein vorausdenkendes Sorgen für sein Leben nimmt (Prot 361d). 10 Allerdings ist Kahn [1988] entschieden dafür eingetreten, dass der Gorgias früher als der Protagoras sei. Das lässt sich vielleicht nicht völlig ausschließen, aber auch nicht zwingend beweisen (vgl. auch McPherran [1990], bes. 226–229), was Kahn [1996] 46f. inzwischen selbst eingeräumt hat. 11 Es kommt hier nicht allein auf den Gegensatz màqoj – lÒgoj an (Ausdrücke, die jedenfalls im Sprachgebrauch Platons auch geradezu füreinander eintreten können, vgl. z.B. Ti 29c8 e„kÒtaj [sc. lÒgouj, vgl. c6] mit d2 e„kÒta màqon, Lg 713a6; c1 mit 713e4; 714a8), sondern auf màqon l š g w n im Unterschied zu lÒgJ d i e x e l q è n. 12 Friedländer [1964] 187 spricht zu Recht von der „Willkür des Verfahrens“ und grenzt es vom sokratischen Mythengebrauch ab. – Protagoras’ in seinem Vorgehen implizierte Behauptung, dass er seinen Nachweis alternativ entweder mit einem Mythos oder einem Logos führen könne, kann nicht dadurch als widerlegt gelten (wie offenbar Morgan [2000] 138–147 annimmt), dass in der Epideixis Mythos und Logos faktisch nicht alternativ sind, sondern Protagoras’ nachfolgende Überlegungen auf dem Ergebnis des Mythos, der Notwendigkeit von Dike/Dikaiosyne und Aidos/Sophrosyne für den Bestand der menschlichen Gemeinschaft, aufbauen. Im Übrigen hat das Ergebnis des Mythos eine nicht-mythische Grundlage, nämlich die aus Kulturentstehungstheorien rekonstruierte Anfangsphase eines Kampfes aller gegen alle, ohne deren Überwindung es keine menschliche Gesellschaft gibt. Es ließe sich durchaus vorstellen, dass Protagoras allein mit solchen Überlegungen hätte argumentieren können.
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zusammenfassend selbst von Mythos und Logos sprechen (328c3).13 Ein solch ins Belieben gestellter Umgang mit der Form weist auf den Redner zurück, und daraus ist, wie ich meine, ein Argument dafür zu gewinnen, dass Platon wenigstens im Kern den Mythos vom historischen Protagoras übernommen hat.14 Zur Annahme eines auf Protagoras zurückgehenden Kerns passt auch die Anlage des Mythos selbst. Denn die von ihm erzählte aitiologische Geschichte, die letztlich demokratische Verhältnisse rechtfertigen soll, stellt eine Verbindung von (jedenfalls dem Typus nach) traditionell mythischen Elementen und rational ableitbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen dar, wie sie einem Protagoras durchaus zuzutrauen ist. „Mythisch“ ist die Vorstellung von den durch die Götter aus den Elementen geformten Lebewesen, das Auftreten von Prometheus und Epimetheus (allerdings in einer teilweise bis dahin für sie so nicht belegten Funktion), das Vorkommen von Göttern in ihren traditionellen Zuständigkeitsbereichen (Athena und Hephaistos), das schließliche Eingreifen des Zeus mit Hilfe seines Boten Hermes mit wiedergegebenen wörtlichen Reden. Die Stilistik betont das Traditionelle: Denn der Mythos beginnt im Märchenton („Es war einmal …“), und nur in diesem Mythos finden sich so ausgeprägte Merkmale der lšxij e„romšnh, besonders Satzverknüpfungen durch Wiederholung desselben Wortes. Als „wissenschaftlich“ kann man den Gedanken eines Ausgleichs im Sinne eines biologischen Gleichgewichts bei der Verteilung der Merkmale an die einzelnen Lebewesen sowie die Elemente einer Kulturentstehungslehre (vom Aszendenztyp) ansehen, mit denen Protagoras spielt, um eine größere Bedeutung der gemeinschaftsbildenden Fähigkeiten gegenüber den technischen zu erweisen. Insoweit diese komplexe Mythenkonstruktion einen Teil der großen Epideixis des Protagoras bildet, diese aber insgesamt auf die Elenktik des Sokrates stößt, ist auch der Inhalt des Mythos, ohne ausdrücklich genannt zu werden, von Sokrates’ Kritik mitbetroffen. Unmittelbarer wird im Symposion durch Diotima die von Aristophanes vorgetragene Geschichte (189d6–191c8), die seiner Position zugrunde liegt, als unzureichend herausgestellt. Aristophanes will in seinem Redebeitrag vor den Symposiasten (189c2–193e2) mit dem Mythos von den Kugelmenschen, die – 13
„Nicht anders [sc. als Protagoras] macht es Platon mit den eigenen Mythen“ bemerkt Szlezák [1993] 133 zum Theuth-Mythos (Phdr 274c–275b), weil er Phaidros Sokrates für die Erfindung dieses ägyptischen Logos tadeln lasse. Doch steht hier nicht ein lÒgJ diexelqe‹n in terminologischem Gegensatz zu màqon lšgein (Prot 320c3f.), vielmehr heißt im Theuth-„Mythos“ (wo der Ausdruck màqoj nicht fällt) lÒgoj (Phdr 275b4) einfach „Geschichte“ (vgl. die Übersetzung von Heitsch [1997]), und vor allem spielt Sokrates nicht mit einer Wahlmöglichkeit zwischen Mythos und Logos. 14 Zu weiteren Argumenten vgl. Manuwald [1996]; Manuwald [1999] 171; 173ff. – Vgl. zuletzt Morgan [2000] 136; sie neigt (ohne Kenntnis dieser Arbeiten und ohne neue Argumente) zu der Annahme, dass Platon in der Substanz Protagoras’ eigene Ansichten wiedergebe.
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von Zeus in zwei Hälften geteilt – wieder zusammenstreben, als Leistung und Wesen des Eros erweisen, er sei ein Streben nach einer verloren gegangenen Ganzheit, die er durch sein Wirken tendenziell wiederherstellen könne. Auch Aristophanes tritt mit dem Anspruch auf, das Richtige zu sagen, und sogar mit der Aufforderung, sein Wissen weiterzuverbreiten (Symp 189cd), aber mit ganz unreflektiertem Einsatz des Mythos, den er nicht als Mythos bezeichnet und nicht als etwas Besonderes hervorhebt. Ebenso wie Protagoras verwendet Aristophanes Versatzstücke, die – der Art, nicht dem genauen Inhalt nach – aus traditionellen Mythen- oder Märchenerzählungen bekannt sind,15 jedoch zum Teil in eine für den Mythos uncharakteristische Erzählweise16 und – wie nicht anders zu erwarten, wenn Aristophanes der Erzähler ist – ins Komische transponiert und z.T. auch noch mit gelehrten Details angereichert werden.17 Insgesamt ist auf der Argumentationsebene des Aristophanes das aitiologische Erklärungs- und Deutungspotential des von ihm vorgetragenen Mythos sehr vielfältig. Durch ihn wird nicht nur verständlich gemacht, warum es verschiedene Formen körperlicher Liebe gibt, sondern es wird auf seiner Grundlage auch eine Wesensbestimmung des Eros möglich: „Es ist also seit uralter Zeit der Eros zueinander den Menschen eingepflanzt; zu ihrem ursprünglichen Wesen führt er sie wieder zurück und sucht aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen“ (Symp 191c8–d3).18 Gegen diese Auffassung von Liebe, die die innerweltliche Liebe als ein Streben nach verloren gegangener (physischer oder personaler?) Ganzheit definiert,19 setzt Diotima ihre Vorstellung, wonach die Liebe auf den immer 15
Vgl. auch Dover [1966] 42–47. Dover bemerkt zur ganzen Rede des Aristophanes (nicht nur zum Mythos): „… I suggest that Plato means us to regard the theme and the framework of Aristophanes’ story as characteristic not of comedy but of unsophisticated, subliterate folklore“ (45). – Zu den Berührungen dieses Mythos insbesondere mit Anschauungen des Empedokles vgl. Frutiger [1930] 237–240 und jetzt O’Brien in diesem Band S. 265-282. 16 Aristophanes benutzt nicht das typische „Es war einmal …“ (anders Dover [1980] 112), sondern gibt eine geradezu systematische, in „erstens“ und „zweitens“ gegliederte Analyse, die in einem Spannungsverhältnis zur Komik des Inhalts steht (189d7–e5). prîton mὲn ... œpeita begegnet zwar auch Prot 322a3 u. 5, aber zur Bezeichnung einer zeitlichen Folge, nicht einer systematischen Gliederung. 17 Die drei Geschlechter ebenso wie die kreisförmige Fortbewegungsmöglichkeit erklärten sich, weil die Menschen Abkömmlinge der männlichen Sonne, der weiblichen Erde und des an beiden Geschlechtern teilhabenden Mondes seien. Vgl. im Einzelnen die Belege bei Bury [1932] 58 zu 190b. 18 Übersetzung Schmidt-Berger [1997]. 19 Mit Recht stellt Rowe ([1998] 157f. zu 192b5–c1; e6–9) in kritischer Auseinandersetzung mit Dover [1980] 113 die Frage, ob sich hinter dieser Konzeption eine im modernen Sinne idealistische Vorstellung von Liebe verbirgt oder „an urge towards ,union‘ which is more akin to unconscious biological processes (indeed is an unconscious biological process …)“.
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währenden Besitz des Guten gerichtet ist (206a11f.). Bei ihrer Polemik bezieht sie sich inhaltlich auf das von Aristophanes im Mythos gegebene Bild, obwohl sie der Szenerie nach seine Erzählung nicht gehört haben konnte:20 „Es geht nun zwar die Rede, sprach sie weiter, daß diejenigen lieben, die ihre eigene Hälfte suchen. Meine Lehre aber lautet, daß Eros weder auf ein Halbes aus ist noch auf ein Ganzes, es sei denn gerade ein Gutes, mein Freund. Lassen sich doch Menschen sogar ihre eigenen Hände und Füße abhauen, wenn ihre eigenen Gliedmaßen ihnen von Übel zu sein scheinen. Nicht am Eigenen, meine ich, hängt ein jeder, er nenne denn das Gute sich zugehörig und sein Eigen und das Schlechte sich fremd. Nichts anderes nämlich lieben die Menschen als das Gute“ (205d10–206a1).21 Angesichts dieser deutlichen Zurückweisung der im Mythos des Aristophanes angelegten Position wird man daher kaum, wie G. Reale, an eine Anspielung auf die ungeschriebene Lehre Platons denken, die sich hinter der „masquera emblematica“ des Aristophanes verstecke, wenn im Mythos mehrfach von Zweiteilung die Rede ist, in den sich anschließenden Ausführungen öfter von der Herstellung von einem (›n) aus zweien.22 Indem diese Einheit gerade nicht notwendig auf das Gute weist, wie Diotima feststellt, schon gar nicht auf ein transzendentes Gutes abzielt,23 wird allenfalls vorgeführt, dass man diese Begriffe auch völlig unprinzipiell und innerweltlich gebrauchen kann. Das überrascht nicht, wenn Platon einem Dichter eine 20
Vgl. Sier [1997] 104: „mit spielerischem Anachronismus“. Übersetzung Schmidt-Berger [1997]; vgl. zu dieser Stelle Sier [1997] 104ff. – Auch aus 212c4–6 geht hervor, dass die Rede des Aristophanes gemeint ist; vgl. Dover [1980] 113. Dass Platon die von Aristophanes vertretene Konzeption nicht für zureichend hält, wird noch durch ein Indiz in der Rede selbst deutlich. Aristophanes benutzt, um klar zu machen, was die Liebenden eigentlich wollen, ein Gedankenexperiment: Indem er auch in der Deutung des Mythos ein mythisches Element verwendet, lässt er Hephaistos, der mit seinen Werkzeugen in der Lage wäre, die Wünsche der Liebenden zu erfüllen, einen fiktiven Dialog mit ihnen führen. Wenn ihr Begehren die möglichst größte und dauernde Einheit sei, werde er sie zusammenschmelzen. Wollten sie das und wären sie damit zufrieden (™xarke‹)? Der Erzähler Aristophanes nimmt selbstverständlich eine rückhaltlose Zustimmung an (192d2–e9). Damit ist ein Abschnitt eines ebenfalls fiktiven Gesprächs zu vergleichen, das Sokrates und Protagoras im Dialog Protagoras mit der Menge führen (Prot 354e8ff.). Dort wird die Menge gefragt, ob sie damit zufrieden sei (¢rke‹), ein angenehmes Leben ohne Unlust zu führen, und auch dort haben die Befragten nichts entgegenzusetzen, weil sie kein höheres tšloj kennen. Man kann daraus schließen, dass auf der Autorebene jeweils ein Sich-Zufrieden-Geben mit einem Sachverhalt bezeichnet wird, der hinter den Vorstellungen Platons zurückbleibt. 22 Vgl. Reale [1995]. – Im Übrigen fungieren Eins und Zwei in der Rede des Aristophanes nicht wie Prinzipien, sondern bezeichnen Zustände, die verloren gegangen sind oder wiederhergestellt werden sollen. 23 Insbesondere ist ein „salire a quel primum assoluto“ (Reale [1995] 1010) den Bemerkungen des Aristophanes nicht zu entnehmen. 21
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strukturell dem Mythos des Protagoras vergleichbare Geschichte in den Mund legt. Der Mythos erfüllt hier – wie der des Protagoras – eine Kontrastfunktion zur Klärung des Argumentationszieles im Gedankengang des Dialogs.24 Außer den von Protagoras und Aristophanes vorgetragenen Mythen finden sich in den Dialogen Platons keine anderen, deren Aussage widersprochen wird. Jedoch gibt es weitere Mythenerzähler, die „eigene“ Mythen vortragen, interessanterweise jeweils in der Funktion von Gesprächsführern, denen damit – auch gegenüber dem ihnen zuhörenden Sokrates – Autorität zukommt. Im Politikos verbindet der Fremde aus Elea seinen Mythos25 (Plt 268dff.) mit einem bemerkenswerten Neuheitsanspruch, indem er ihn von bereits bekannten Überlieferungen absetzt: Bekannt, altüberliefert (und zu Unrecht angezweifelt) seien die Geschichten von der Veränderung des Auf- und Untergangs der Sonne und der Gestirne, von der Herrschaft des Kronos und von den erdgeborenen Menschen (268e8–269b8; 271a7–b3), die (entscheidende) Ursache von all dem, die es jetzt darzulegen gelte, habe aber noch keiner erzählt (269b8–c1). Die (angebliche) Funktion des Mythos im Dialog wird schon vorweg benannt: Er diene zur ¢pÒdeixij toà basilšwj (vgl. 269c2), und am Ende wird deutlich, dass mit seiner Hilfe zwei Fehler der vorausgehenden Erörterung über den basilikÒj te kaˆ politikÒj bereinigt werden können. Man hatte nämlich einen göttlichen statt eines menschlichen Hirten bestimmt und auch die Art seiner Herrschaft nicht genau genug bezeichnet (274eff.).26 24
Warum Platon den Mythos, dessen konkreten Inhalt mit dem historischen Aristophanes zu verbinden es kein Indiz gibt, gerade Aristophanes vortragen lässt, ist schwer zu sagen. Dover [1980] 113 meint, dass Platon glaubte, Komödie, Märchen und Fabeln repräsentierten dieselben volkstümlichen Haltungen und Werte, und verweist für die Verwendung von Märchenmotiven in der Komödie auf Aristophanes’ Vögel. Aber einerseits gibt es vergleichbare volkstümliche Elemente auch im Mythos des Protagoras, der keine Komödien verfasste, und andererseits ist die Quintessenz der Aristophanes zugeschriebenen Deutung zwar von Platons eigener Auffassung weit entfernt, aber ebenso wenig „volkstümlich“ wie die Schlussfolgerung, die Protagoras aus seinem Mythos gezogen hatte: Die Liebenden wissen aus eigener Überlegung gar nicht, was sie eigentlich erwarten. Dass ein Mythos mit traditionellen Elementen auch zu Leuten ganz anderer Couleur passt, zeigt eben Protagoras. Vielleicht liegt der Grund, Aristophanes, der als Komiker wegen des Schlussgesprächs neben dem Tragiker Agathon ohnehin gebraucht wurde, mit einem bizarren Mythos auftreten zu lassen, eher darin, dass er für seine phantastischen (auch Mythisches einbeziehenden) Einfälle bekannt war (Einen „Mythos“ von der Entstehung der Vögel und Götter usw. bietet der echte Aristophanes Av 688ff.) und sich daher für eine solche Lösung besonders anbot; überhaupt ist ein Mythos die einem Dichter gemäße Form (Phd 61b3f.). Möglicherweise hat der formal und strukturell vergleichbare Protagoras-Mythos als Vorbild für den von Platon fingierten Mythos des Aristophanes gedient. Allerdings müssen solche Überlegungen notwendig spekulativ bleiben. 25 Der Ausdruck màqoj fällt mehrmals: Plt 268d9; e4; 274e1; 275b1; 277b5; b7. 26 Vgl. Janka [2002] 192 Anm. 18.
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Nun hätte der dadurch bewirkte Fortschritt in der Definition wohl auch durch ein rein dialektisches Verfahren geleistet werden können, und nimmt man noch hinzu, dass der Fremde den Mythos als paidi£ einstuft (268d8), dem der jüngere Sokrates wie ein Kind lauschen soll (268e4f.), könnte unter diesen Aspekten der Politikos-Mythos mit der Beliebigkeit des Protagoras-Mythos in Verbindung gebracht werden, der auch als eine Geschichte angeboten wird, wie sie ein Älterer Jüngeren erzählt (Prot 320c3).27 Jedoch wird man aus einer Äußerung im Text, dass der Mythos einen größeren Umfang angenommen habe als nötig (277b; 286bc),28 aus dem Missverhältnis von Umfang des Mythos und jedenfalls unmittelbarem argumentativen Ertrag29 schließen dürfen, dass „die kleine Änderung in der Definition des Staatsmanns“ nicht „das Wesentliche sein“ kann für die Funktion des Mythos.30 Vielmehr bietet der aitiologische Mythos eine ontologische Erklärung der Gegebenheiten in der Welt,31 die entweder im Dialogzusammenhang nur angedeutet werden soll oder (wenigstens zum Teil) die Möglichkeiten eines rational exakten Nachweises übersteigt. Während Protagoras mit dem Hinweis auf den größeren Reiz des Mythos offenbar meint, was er sagt, spielt Platon im Politikos mit dem Gegensatz zwischen vorgeblich zur „Unterhaltung“ (paidi£, 268d8) eingelegter „Kindergeschichte“ (268e4–6) und darin verborgener Weltdeutung. Anders als im Politikos liegt im ebenfalls aitiologischen (vgl. Ti 29d7) Mythos im Timaios der Fall vor, dass nicht eine abgegrenzte mythische Erzählung in einen dialektischen Zusammenhang eingefügt ist, sondern die ganze Darlegung des Timaios (27cff.) einen e„këj màqoj (29d2; 68d2; vgl. auch 69b1) bildet. Wesentliche Grundlage für den Einsatz des Mythos ist: Die der gšnesij unterworfene Welt lässt eine noetische Erfassung nicht zu, so dass man sich – auch angesichts der Begrenztheit der menschlichen Natur – mit wahrscheinlichen Erklärungen, eben einem e„këj màqoj, zufrieden geben muss, was Sokrates in einer Zwischenbemerkung ausdrücklich bestätigt (27d5–29d6).32 Dass Timaios nicht einfach nur von einem „wahrscheinlichen Logos“ spricht (vgl. 29c8), dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Erzählweise der Art
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Vgl. auch Brisson [1982] 141. Vgl. Rowe [1995] 11. 29 Vgl. im Einzelnen Janka [2002] 191–193. 30 So schon Friedländer [1975] 264. 31 Und damit auch den ontologischen Hintergrund zu den erwähnten mythischen Geschehnissen (Plt 268e8–269b4) und nicht eine Erklärung von Mythen durch etwas noch Fabulöseres (so aber Morgan 254). Zum Politikos-Mythos und seinen schwierigen Deutungsproblemen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. (u.a.) Effe [1996] 204–206, sowie die Beiträge von Horn und Rowe in diesem Band. 32 Daraus ist nicht zu schließen, „that all philosophical accounts are in some sense mythoi“, wie Morgan [2000] 271 meint. – Zur methodischen Haltung Platons, die sich hier äußert, vgl. Kullmann [1998] 137ff. 28
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nach Elemente traditionell mythischen Charakters aufweist (vgl. das Wirken des Demiurgen, die Götter).33 Zu den platonischen Gesprächsführern, die einen Mythos erzählen, gehört auch Diotima im Symposion. Man könnte zwar auch denken, dass ihr Mythos über die Herkunft des Eros (Symp 203b2–e5) zu den noch zu behandelnden Mythen gehört, für die sich Sokrates auf eine Autorität beruft. Denn Sokrates macht sich die gesamten Ausführungen der Diotima, die er wiedergegeben hat, überzeugt zu Eigen und will, wie er sagt, auf dieser Grundlage auch andere überzeugen (212bc). Andererseits ist aber der Diotima-Abschnitt gewissermaßen ein Dialog im Dialog zwischen Diotima und dem „Schüler“ Sokrates, so dass sie innerhalb dieses Abschnittes in derselben Position agiert wie etwa der Fremde aus Elea im Politikos. Der Mythos der Diotima wie seine Auswertung haben, nachdem das grundsätzliche Wesen des Eros als eines Daimon, der zwischen dem Sterblichen und dem Unsterblichen steht, bereits bestimmt ist (202de), die Funktion, diese Zwischenstellung im Einzelnen differenzierter darzulegen. Dabei bedient sich auch Diotima – typologisch gesehen – traditioneller Motive: Geburtsfest der Aphrodite, Schmaus der Götter, Garten des Zeus, Erklärung von Merkmalen durch genealogische Herleitung.34 Aber die entscheidenden Gestalten, die Eltern des Eros, Poros und Penia, durch welche die Eigenschaften des Eros erklärt werden sollen, sind keine traditionellen Götter, sondern (erstmals bei Platon in dieser Benennung als Paar auftretende) allegorische Personifikationen,35 so dass schon der aitiologische Mythos selbst etwas Gleichnishaftes hat.36 Ging es im Mythos des Aristophanes auch darum, die tatsächlichen Verhältnisse der Gegenwart zu erklären, zielt der Mythos der Diotima auf die komplexen, sein Wesen ausmachenden Eigenschaften des Eros an sich als eines Bildes der philosophischen Existenz.37 Der Mythos bringt so mehr zum Ausdruck als die weithin an die plastische Vorstellung appellierende Darstellung bei Aristophanes. 33
Entscheidender als die Klassifizierung der Ausführungen als Mythos oder Logos ist ihr Wahrscheinlichkeitscharakter. Den häufigen Gebrauch von e„kèj usw. belegt Morgan [2000] 272 mit Anm. 52. Sie (275–277) bestreitet mit Recht eine systematische Unterscheidung des Gebrauchs von Mythos und Logos und meint, „that Plato/Timaios uses the phrase eikos mythos when he wants the reader to keep in mind specifically the problematic nature of the cosmology as an account of the sensible world“ (276f.). 34 Vgl. Sier [1997] 75ff. – Zu Eros als Begleiter Aphrodites verweist Frutiger [1930] 240 Anm. 2 auf Hesiod, theog 201, Sappho fr. 159 LP, Orph. fr. 184 Kern. 35 Poros anscheinend zuerst bei Alkman fr. 1,14 PMGF (Konjektur von Blass); vgl. fr. 5 col. III PMGF; Penia bei Aristophanes, Plutos. Vgl. Frutiger [1930] 240 Anm. 3. 36 Aus der Tatsache, dass keine theologischen Vorstellungen impliziert sind – man vergleiche die in der Politeia aufgestellten Regeln, wie man über Götter reden darf (Resp 376e–383cf., bes. 379b–380c), und die damit verbundene Kritik an Homer und Hesiod –, erklärt es sich auch, dass Platon Poros trunken sein und ihn sich in diesem Zustand von Penia zur Zeugung von Eros überlisten lässt (vgl. dazu Sier [1997] 78). 37 Vgl. Sier [1997] 51; 58.
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Überblickt man sämtliche bisher besprochenen Mythen, ergibt sich als Gemeinsamkeit, dass sie alle aitiologisch sind. Sie werden ohne Berufung auf Autoritäten38 mit teils unverhohlen vertretenem, teils mehr oder weniger verhülltem Wissensanspruch vorgetragen, wobei sich der eine Teil der Sprecher (Protagoras und Aristophanes) im Verlauf des Dialogs als scheinwissend herausstellt, indem ihren Ausführungen die Grundlage entzogen wird, die der anderen aber unangefochten bleiben. Sokrates kann sich sogar auf der Basis des Überzeugt-Seins damit identifizieren. Während die aitiologischen Erklärungen der Scheinwissenden im Wesentlichen einen empirisch feststellbaren, bestehenden Sachverhalt aus einem einmaligen, gewissermaßen historischen Ereignis ableiten, erklären die Mythen der „platonischen“ Gesprächsführer für Platons Lehre zentrale, immer geltende ontologische Sachverhalte, die entweder sachbedingt nicht – zumindest nicht in allen Einzelheiten – in apodeiktischer Form dargestellt werden können oder jedenfalls an Ort und Stelle nicht sollen.39 War die Wahl eines Mythos bei Protagoras eine Frage der Beliebigkeit und soll sie bei Aristophanes vielleicht als Zeichen seines dichterischen Naturells angesehen werden,40 handelt es sich bei den Mythen des Fremden aus Elea, des Timaios und der Diotima erkennbar nicht einfach um beliebige Alternativen zu einer streng diskursiven Erörterung.41 Platon lässt aber nicht alle Erzähler, die Mythen in seinem Sinn erzählen, so vorgehen, sondern arbeitet mit der vorgeblichen Tatsache, dass jemand von einer Geschichte erfahren hat und sie wiedergibt. Ein besonders markanter Fall ist die Geschichte von Ur-Athen (und Atlantis), die Kritias im Timaios (20d–
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Wenn Timaios für den speziellen Punkt der Göttergenealogie nicht ohne gewisse Ironie auf Kompetentere, angebliche Abkömmlinge von Göttern, verweist (Ti 40d6–e4), so ist das für den Gesamtcharakter seines großen Mythos nicht bestimmend. 39 Es geht dabei zumindest teilweise um Dinge, die man nicht im strengen Sinne wissen kann. Vgl. Edelstein [1949] 467f.; Brisson [1982] 127f. – Das soll natürlich nicht heißen, dass bei Platon der Mythos im Gegensatz zum Logos stünde. Vgl. Edelstein 467 („Reason to Plato is supreme; myth is subservient to reason.“) und im gleichen Sinne Kobusch [1990] bes. 20f., nach dem der Mythos entsprechend neuplatonischer Auffassung „nur an defizienten Einzelheiten und nur für die Phantasie“ reicher ist als der Logos. Aber kann hierin nicht auch eine sachliche Ausgestaltung der rationalen Grundlage gegeben sein über das exakt Wissbare hinaus? Vgl. Szlezák [1993] 136, der eine Unterordnung des Mythos unter den Logos ablehnt: „… erweist sich der Mythos als ein zweiter Zugang zur Wirklichkeit, der zwar inhaltlich nicht unabhängig sein kann vom Logos, ihm gegenüber jedoch ein Plus aufweist, das durch nichts anderes ersetzt werden kann“. 40 Ist doch nach Phd 61b3f. der Mythos die ihm gemäße Ausdrucksform des Dichters. 41 Gill [1993] verkennt diesen Status der Wissenden, wenn er generell für die Mythen Platons feststellt, „… that the myth-teller is not fully in possession of the truth of the idea conveyed through this vehicle“ (57).
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26e) erzählt.42 Sie hat klarerweise die Funktion zu belegen, dass es so etwas wie die platonische Idealverfassung im Prinzip in Urzeiten schon einmal gegeben habe (vgl. 25e2–5).43 Nun bezeichnet nicht nur Kritias seine Geschichte als (wahren) lÒgoj (20d7f.; 21a7; 26d7; vgl. auch 21c5; d3; 26c8f.) – und das, was gesagt wird, wird sogar gegen „Mythen“ abgegrenzt (22c7f.; 23b5; 26c8f.) –, auch Sokrates benennt sie, gewiss cum grano salis, als wahren lÒgoj im Unterschied zu einem erdichteten màqoj (26e4f.). Aber das ist vielleicht für den Charakter dieser Geschichte noch nicht einmal das Entscheidende, sondern dass sie mit genauer Bezeichnung des Überlieferungswegs vom Erzähler Kritias über seinen Großvater Kritias und den mit dem Urgroßvater Dropides befreundeten Solon44 auf ägyptische Priesterberichte,45 denen letztlich sogar schriftliche Quellen zugrunde liegen,46 zurückgeführt wird.47 Diese „belegte“ Historizität48 ist es, die der Berufung darauf ihre Qualität geben und die Geschichte eben vom (sc. erdichteten) Mythos unterscheiden soll. – Das gilt auch für die Geschichte, die Kritias in dem nach ihm benannten Dialogfragment erzählt und in der es ebenfalls um Ur-Athen und insbesondere um Atlantis geht (Krit 108c–121c). Diese wird auf Solon zurückgeführt, der sie von Priestern gehört habe (108d5f.), ägyptischen, wie sich im Laufe der Erzählung herausstellt. Kritias beruft sich für seine Geschichte auf Aufzeichnungen, die Solon anhand ägyptischer Quellen angefertigt habe und die über seinen Großvater in seinen Besitz gelangt seien (113a3–b4). Es handelt sich hier wiederum um eine Art historischer Beispielsgeschichte, die – soweit im Fragment erkennbar – offenbar darauf hinauslaufen sollte, die Folgen zu zeigen, die sich ergeben, wenn ein ursprünglich gesetzestreuer Staat entartet (120d6ff.). – In die Reihe solcher Geschichten lässt sich auch einordnen, was der Athener in den Nomoi als Mythos bzw. wahren Logos49 bezeichnet (713a–714b), seine Ausführungen über das glückliche Leben der Menschen zur Zeit des Kronos, als die Menschen von göttlichen Wesen beherrscht wurden. Der Athener beruft sich dabei auf eine 42
Sie wird in der Art eingeführt, wie ein Geschichtenerzähler üblicherweise Aufmerksamkeit erregen will (”Akoue d», 20d7). Vgl. Gorg 523a1 (fas…); Tht 201d8; Dodds [1959] 376 (zu Gorg 523a1). – Zu den epideiktischen Zügen der Rede des Kritias (an den Panathenäen, Ti 21a2) vgl. Morgan [2000] 265–267. 43 Wie das Resp 499c8f. für möglich gehalten wird. Vgl. dazu und insgesamt zu den beiden von Kritias erzählten Geschichten Wilke [1997] 166–177; ferner Gill [1993] 64–66. 44 Vgl. Ti 20d7–e4; 21a6; d7f.; 23d1f.; 25e1; 27b1. 45 Vgl. Ti 22a2; b3f.; 23d3f.; 26d3. 46 Vgl. Ti 23a4; 23e2–24a2; 24d7; e1; 27b4. 47 Nichtsdestoweniger dürfte eine Erfindung Platons vorliegen. Vgl. Taylor [1928] 49f. 48 Zu den tatsächlichen chronologischen Problemen dieser Belegreihe im Einzelnen (handelt es sich bei dem Erzähler um Kritias den Tyrannen oder um einen zwischen diesem und Kritias, dem Sohn des Dropides, anzusetzenden Kritias?) vgl. Brisson [1982] 33ff. 49 màqoj: 713a6; c1; lÒgoj: 713e4 (¢lhqe…v crèmenoj); 714a8.
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überkommene Kunde (713c2f.).50 Die Geschichte dient zum Beleg für die These, dass man auf alle Weise das Leben zur Zeit des Kronos nachahmen und die Herrschaft dem Unsterblichen in uns folgen müsse (713e3–714a2). Die Legitimationsfunktion, die der Berufung auf ein altes Geschehen eignen kann, wird auch genutzt in der bekannten, von Glaukon in der Politeia (Resp 359c6–360b2) erzählten Geschichte von der durch einen unsichtbar machenden Ring gegebenen Macht, die Gyges,51 wie man sage (fas…n), einst zuteil geworden sei. Am konkreten Fall soll die von Glaukon als advocatus diaboli vorgetragene These illustriert werden, dass die Menschen nur unfreiwillig – aus Ohnmacht, Unrecht tun zu können – gerecht sind, sich aber anders verhielten, wenn sie ungehindert tun könnten, was sie wollten (vgl. 359b6ff.). Die Geschichte ist gewissermaßen Teil eines bloßen Gedankenexperiments, als das sie anschließend tatsächlich fortgesetzt wird: Wenn es nun zwei solche Ringe gäbe, und der eine einem Gerechten, der andere einem Ungerechten gegeben würde, dann würden sich beide in nichts unterscheiden (360b3ff.).52 Die GygesGestalt dient mit dem Gewicht ihrer Bekanntheit zur Bestärkung eines argumentativen Standpunktes. Die Geschichte weist aber weder aitiologisch noch in Bezug auf die Sinndeutung des Gesagten über sich hinaus. Es handelt sich also in diesen Fällen der Art nach um (gewiss fingierte) mehr oder weniger „historische“ Belege, die – abgesehen von der GygesGeschichte – zur Beglaubigung von Auffassungen dienen, die im Sinne der platonischen Konzeption richtig sind. Bei diesen Geschichten ist für ihren Wert als Beleg die Berufung auf Quellen wesentlich, und sie sind eher als Berichte über angeblich historisch Geschehenes denn als eigentliche Mythen einzustufen, wie sie auch Platon mit seiner Terminologie nicht eindeutig als Mythen festlegt. In ihrer Struktur und Aussagefunktion sind diese „Mythen“ deutlich verschieden von den aitiologischen, ontologisch bedingten oder transzendentalen Mythen sonstiger platonischer Erzähler.
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f»mhn ... paradedšgmeqa, vgl. auch lšgetai (713b2; c4), legÒmenon (e7). Zu f»mh vgl. Brisson [1982] 39–41. 51 Dass ein Gyges als Träger des Ringes gemeint ist, ergibt sich aus Resp 612b4. Der überlieferte Text (tù GÚgou toà Ludoà progÒnJ, 359d1) weist den Ring dem Vorfahren eines Gyges zu. Will man nicht zwei Träger dieses Namens mit der Geschichte verbinden (so Adam [1963] 126f.) und annehmen, dass Platon einen anderen Usurpator namens Gyges meine als Herodot, muss man konjizieren, wofür mit guten Gründen Slings [1989] 381–383 eintritt. Slings hält tîi progÒnwi für eine Glosse und schlägt als ursprünglichen Text GÚghi tîi Ludîi vor. 52 Zur Gyges-Geschichte in der Politeia vgl. Pichler [1986] 47–70, die vor allem die märchenhaften Züge und die Unterschiede zu Herodot heraushebt. Es bleibt demgegenüber aber festzuhalten, dass Platon die Geschichte bei allen märchenhaften Merkmalen mit einer historischen Persönlichkeit verbindet. – Nach Schubert [1997] 256 muss man nicht annehmen, dass Platon gewisse Elemente seiner Erzählung vollständig erfunden habe.
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Wenn Sokrates selbst Mythen erzählt, so verhält er sich dabei im Prinzip strukturell wie die zuletzt betrachteten Dialogfiguren: Er beruft sich für den Inhalt und damit zur Gewährleistung meist auf andere, ist er doch, wie er im Phaidon einmal sagt, kein muqologikÒj (61b5).53 Man könnte meinen, es sei bei dem nicht-wissenden Sokrates gar nicht anders zu erwarten, als dass er sich auf eine Autorität stütze, und er trete damit in einen ihm gemäßen Gegensatz zu anderen, in verschiedener Weise „wissenden“ Mythenerzählern. Damit ist sicher ein wichtiger Aspekt der platonischen Figurenkonzeption erfasst, doch stellt sich der Sachverhalt bei einer Analyse im Einzelnen differenzierter dar. Als es im Phaidros darum geht, ob das Thema des schönen und schlechten Redens und Schreibens behandelt werden soll – statt unter dem Summen der Zikaden in der Mittagshitze zu schlafen, gibt Sokrates Phaidros deren Geschichte wieder, wie sie erzählt werde (lšgetai, Phdr 259b6): Danach sind aus ursprünglichen Menschen, die über dem Gesang der Musen Essen und Trinken vergaßen und so vergingen, ohne es zu merken, die Zikaden entstanden, die von den Musen mit der Gabe geehrt wurden, von Geburt bis zum Tode ohne Speise und Trank singen zu können und dann den Musen zu melden, welcher Mensch welche Muse ehre. Je nach der Art der Ehrung seien jeweils andere Musen die Adressaten. Den beiden ranghöchsten Musen, Kalliope und Urania, melden sie diejenigen, die ihr Leben der Philosophie widmen, „sind es doch unter den Musen gerade diese beiden, die am meisten sich mit dem Universum befassen und mit Reden über Götter und Menschen und die daher den schönsten Gesang vernehmen lassen“. Daher gebe es viele Gründe, etwas zu reden und nicht in der Mittagszeit zu schlafen (258d7–259d8).54 Die Pointe der Erzählung ist nicht allein, dass man unter der Beobachtung der Musenboten sich geistig betätigen soll, statt zu schlafen, vielmehr wird eine Rangfolge der Musen nach ihrer Thematik eingeführt, die so an Hesiod, wo die dort genannten Themen für alle Musen gleichermaßen gelten, keinen Anhalt hat, und – anders als bei Hesiod – ist der höchste Rang mit der ganzen Palette philosophischer Themen verbunden.55 Damit gibt Platon nicht nur seiner (ganz unabhängig von diesem Mythos bestehenden) Überzeugung Ausdruck, dass die Philosophie der höchste Musendienst sei (Phd 61a3f.),56 er deutet mit den genannten Themenbereichen auch an, dass es im Phaidros um mehr geht als um 53 Dies steht nicht im Widerspruch zu Sokrates’ Worten an späterer Stelle im Phaidon (61e1f. pršpei ... diaskope‹n te kaˆ muqologe‹n perˆ tÁj ¢podhm…aj tÁj ™ke‹), weil er sich für den Inhalt des muqologe‹n auf andere berufen wird; vgl. dazu unten S. 129f. 54 Der eigentliche Mythos steht in 259b7–d7, das Zitat 259d5–7 (Übersetzung Heitsch [1997]). 55 OÙranÒj ist bei Hesiod (theog 45) nicht das Universum, sondern bildet mit Gaia zusammen das Elternpaar des ersten Göttergeschlechts. Auch ist der Rang der Kalliope anders begründet. Sie „ist die Hervorragendste von allen. Denn sie gesellt sich auch den ehrwürdigen Königen“ (theog 79f.; Übersetzung Marg [1984]). 56 æj filosof…aj mὲn oÜshj meg…sthj mousikÁj. Vgl. auch Resp 411c; Ti 88c (Stellen nach Heitsch [1997] 114 Anm. 214).
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das rechte Reden und Schreiben. Der Mythos ist hier ein literarisches Mittel, in Ausnutzung der szenischen Situation der Mittagszeit eine eigene These als etwas auch unabhängig davon Beglaubigtes erscheinen zu lassen. Und vor allem: Es handelt sich bei der von Sokrates erzählten Geschichte trotz der strukturellen Entsprechung nicht um einen wie auch immer gearteten historischen Beleg wie bei den anderen Erzählern angeblich alter Geschichten, indem durch etwas, was es schon einmal gegeben hat, die Richtigkeit und (soweit als möglich) Konkretisierbarkeit einer Auffassung nachgewiesen werden soll, sondern die referierte Geschichte hat platonische Lehre zum unmittelbaren Inhalt. Noch deutlicher wird die Doppelfunktion eines Mythos als Ausdruck eigener Überzeugung und zugleich ihrer Beglaubigung durch die Fiktion der Tradierung einer überlieferten Geschichte bei dem in Ägypten lokalisierten, in der Platon-Forschung nur allzu bekannten Theuth-Mythos erkennbar, den Sokrates als alte Überlieferung,57 deren Wahrheit nur die Alten selbst kennten, gehört haben will (Phdr 274c1–275b2). Sokrates lässt durchblicken, dass man sich um menschliche Vermutungen – und damit ist wohl die Kunde der Alten gemeint – nicht kümmern würde, wenn man die Wahrheit selbst finden könnte (274c2f.).58 Seine Geschichte gibt sich also (ganz sokratisch) als Ersatz für die von ihm selbst angeblich nicht zu findende Wahrheit. Dagegen ist die Erzählung für Phaidros, den Sokrates’ Behauptung, er habe sie gehört, in keiner Weise beeindruckt, eine Kreation des Sokrates (275b3f.), ein Hinweis, dass Sokrates – der dies freilich nicht selbst beansprucht – doch in der Lage ist, das Richtige selbst zu finden. Platon wird die Geschichte, die er Sokrates erzählen lässt, wenngleich er Anleihen bei ägyptischen Realien macht,59 so nicht vorgefunden haben. Das zeigt sich auch an der Besonderheit, dass die Aussage des Mythos zur Problematik der Schriftlichkeit nicht nur vollkommen der auch sonst feststellbaren Auffassung Platons entspricht, sondern bereits im Mythos argumentierend formuliert wird, so dass sich eine Deutung oder Auswertung durch Sokrates erübrigt und die Argumentation nach der Erzählung des Mythos nahtlos fortgesetzt werden kann. Zum argumentativen Charakter der Geschichte passt es, dass sie weder gleichnishaft noch aitiologisch ist noch etwas historisch begründet wird.60 Am Ende wird 57
'Ako»n g' œcw lšgein tîn protšrwn, Phdr 274c1. „Könnten wir das [sc. tÕ ¢lhqšj] selbst finden, würde uns dann wohl noch etwas an menschlichen Vermutungen liegen?“ Die Antwort des Phaidros („Eine lächerliche Frage“, c4) zeigt, dass die Frage selbstverständlich mit „nein“ beantwortet werden soll. (Übersetzung Heitsch [1997]). 59 Vgl. zu den ägyptologischen Bezügen Heitsch [1997] 189, der aber im Ganzen Erfindung durch Platon annimmt. Zu Thamus vgl. jetzt Thissen [2002] 57–61. 60 Sc. in dem Sinn, dass eine für richtig gehaltene Konzeption schon einmal realisiert war. Das ist zu bedenken, wenn man von diesem Mythos als „piece of pseudo-historical writing“ (Rowe [1988] 208) spricht. 58
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deutlich, dass es auch gar nicht darauf ankommt, vom wem sie stammt, wichtig ist nur, ob sie zutrifft,61 was aber offenbar allein durch das Urteil und die Übereinkunft der Gesprächspartner entschieden wird (275b5–c4),62 ein Hinweis, wie sich eigene Überzeugung, Beglaubigung und sachorientiertes Urteil durchdringen.63 Ganz anders geht Sokrates bei dem Mythos vor, mit dem er die Verschiedenartigkeit der seinen Idealstaat tragenden Gruppen in der Politeia erklären möchte. Danach kommen die Menschen, die in dem Staat leben sollen, fertig ausgebildet aus der Erde, sind aber verschieden und gehören jeweils einem der drei Stände an, je nachdem, ob der Gott bei ihrer Erschaffung Gold, Silber oder Kupfer und Eisen beigemischt hat (Resp 414b–415d),64 d.h., es wird eine Aitiologie sowohl für die gleiche Herkunft, ja brüderliche Zusammengehörigkeit der Bürger als auch für ihre unterschiedliche Standeszugehörigkeit gegeben. Auch hier erzählt Sokrates, wie er sagt, „nichts Neues“, sondern „etwas Phoinikisches, wie es früher schon oft sich zugetragen hat, wie die Dichter erzählen und dabei Glauben gefunden haben; zu unserer Zeit geschah Derartiges nicht, ja ich weiß nicht, ob es überhaupt geschehen könnte, wohl aber, dass es großer Überredungskunst bedarf, es glauben zu machen“ (414c4– 7).65 Dieser Mythos wird gerade nicht, wie andere, mit dem Anspruch des Wissens oder der Wahrheit versehen – handelt es sich doch ausdrücklich um ein yeàdoj, das vorzutragen Sokrates vorgeblich größte Scheu hat (414b8–c2; e7). Die Adressaten sind aber auch nicht, wie sonst, die Dialogpartner oder Zuhörer, die belehrt werden sollen, sondern Sokrates überlegt zusammen mit Glaukon, wie es möglich sei, mit dieser „nützlichen und edlen Täuschung“, an deren Akzeptanz in der Gegenwart Glaukon Zweifel hat (415d1), „wenn möglich auch die Herrscher, ansonsten zumindest den übrigen Staat zu überzeugen“66. Es geht also um den didaktisch-psychologischen Zweck, den Bewohnern des (künftigen) Staates die Wahrheit einsichtig zu machen, dass jeder für den anderen eintreten und in dem Stand bleiben muss, in den er gehört, d.h., es wird mit dem Mittel des Mythos, der als yeàdoj benannt ist, für eine Ansicht 61
Erler [2001] 129 mit Anm. 22 weist treffend auf Charm 161c hin. Vgl. auch die Geschichte von Zalmoxis (Charm 156d–157c), wenn man sie denn als Mythos einstufen will (so Kytzler [1997] 20–23). Der Vorrang der Seele und ihre Behandlung durch Besprechung in Gestalt von schönen Reden (157a) ist platonische Lehre, die durch die Beglaubigung betont wird, aber rein sachlich dieser Beglaubigung eigentlich nicht bedarf. 63 Der Theuth-Mythos zeigt auch, dass das Motiv der Berufung auf eine Autorität nicht zu verwechseln ist mit dem Hinweis auf eine inhaltliche Quelle. Dies ist nicht zureichend beachtet bei Görgemanns [1994] 69 mit Anm. 88. 64 Zu den traditionellen Elementen dieses Mythos vgl. Frutiger [1930] 235f. 65 Übersetzung in Anlehnung an Vretska [1982]. 66 Vgl. Resp 414b8–c2 (Übersetzung Vretska [1982]); die Nützlichkeit ergibt sich aus 389b (vgl. 382d), worauf 414b9 zurückverweist. Vgl. auch Lg 663c–664b (Wilke [1997] 163 Anm. 34).
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geworben, von deren Richtigkeit Platon natürlich überzeugt ist, die aber von den Betroffenen nicht leicht akzeptiert wird.67 Die Beglaubigungswirkung, die der Rückgriff auf überkommene Geschichten ausübt, wird also von Sokrates sogar erkennbar bewusst eingeplant, wie Platon auch grundsätzlich den politischen Einsatz von Mythen gegenüber der Menge (anstelle von didac») im Politikos thematisiert (304c10–d2).68 Von den bisher besprochenen Formen von Sokrates’ Rückgriff auf Tradiertes unterscheiden sich grundlegend diejenigen im Zusammenhang der drei eschatologischen Schlussmythen im Gorgias, im Phaidon und in der Politeia.69 Auch den Mythos vom Totengericht im Gorgias (523aff.) hat Sokrates, wie er einfließen lässt, gehört (524a8). Diese Bemerkung bezieht sich auf die im Stil eines „folk tale“ – so Dodds70 – vorgetragene, von Zeus einmal neu eingeführte Regelung, nicht mehr Lebende richten zu lassen, bei denen die Seele vom Körper verhüllt ist, sondern Nackte von Nackten, unmittelbar Seelen 67
Zum Verhältnis von Wahrheit und Lüge bei diesem Mythos vgl. auch Gill [1993] 52–54. 68 Vgl. Cerri [1996] 84. Der Stände-Mythos spielt eine zentrale Rolle in der MythenTheorie Cerris, die er als „teoria psico-sociale del mito come strumento primario di acculturazione“ bezeichnet und auch auf andere Mythen anwendet (72ff., Zitat 83; 68–71 bietet er eine instruktive Klassifikation der in der Forschung vertretenen MythenTheorien). Jedoch geht die Theorie Cerris, wie gezeigt, von einer Sonderverwendung des Mythos aus, die nicht repräsentativ ist. – Eine gewisse Parallele hat der Stände-Mythos allerdings in einem „Mythos“ des Atheners in den Nomoi (903b–905d): Zu den lÒgoi (903a10), die im dialšgesqai (a7) bereits zu einem Ergebnis im Sinne einer ¢pÒdeixij (vgl. 905d3) geführt haben, werden auch noch ™pJdoˆ màqoi (903b1f.) für nötig gehalten, die aber ebenfalls als lÒgoi (b4) bezeichnet werden können, nur dass es jetzt nicht um ein dialšgesqai, sondern um ein pe…qein (b4; 905c4) geht. Diese màqoi/lÒgoi haben eine mahnende, bekehrende Funktion und richten sich, indem sie u.a. auf das Schicksal im Jenseits eingehen, ebenfalls nicht an die Gesprächspartner, sondern an einen imaginierten jungen Mann, der bezweifelt, dass sich die Götter um die Menschen kümmern. Tatsächlich ist dieser „Mythos“ aber recht untypisch und möglicherweise (jedenfalls als literarische Form) gar kein eigentlicher Mythos: Er hat als einziger die Gestalt einer Mahnrede (die freilich durch einen dialogischen Abschnitt zwischen dem Athener und Kleinias unterbrochen ist) an ein außerdialogisches Gegenüber, das im Anfangs- und Schlussteil (903b4–e1; 904e5–905d1) ständig angeredet wird, und es handelt sich auch nicht um eine mythische Erzählung oder Schilderung – es gibt auch keine bildhafte Ausgestaltung –, sondern es wird mit theologischen und auch JenseitsVorstellungen gewissermaßen wie mit Versatzstücken argumentiert. Es empfiehlt sich daher nicht, diesen Text mit Gaiser ([1984] 140ff.) als exemplarischen Fall eines platonischen Mythos anzusehen. 69 Vgl. zu diesen Mythen im Einzelnen Alt [1982]; Alt [1983]. Zum Jenseits-Mythos im Phaidon vgl. jetzt auch Frede [1999] 152–167. 70 Vgl. Dodds [1959] 373. Vgl. auch die Einleitung der Geschichte mit ”Akoue d», dazu oben Anm. 42.
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von Seelen, Tote von Toten, von den Richtern Minos, Rhadamanthys und Aiakos (523a3–524a7). Aus „diesen lÒgoi“, die Sokrates gehört hat, zieht er Schlussfolgerungen (log…zomai, 524b1) u.a. über das Schicksal der einzelnen Seelen je nach ihrem Verhalten im Leben und über das Gerichtsverfahren in der Unterwelt, die auch mit mythischen Elementen im engeren Sinn durchsetzt sind (Rhadamanthys, Tartaros, Unterweltsbüßer der Odyssee), um sich am Ende als von „diesen lÒgoi“, wie er sagt, überzeugt zu erklären (526d3f.), so dass etwas in der Schwebe bleibt, inwieweit die lÒgoi das Gehörte und inwieweit sie das Gefolgerte sind.71 Was Sokrates nur gehört hat, hält er trotzdem für wahr (524a8f.), ja, was für seinen Gesprächspartner Kallikles ein Mythos ist, gar eine Art Ammenmärchen (523a1f.; 527a5f.), ist für Sokrates ein wahrer Logos72 (523a1–3), der für sein Leben bestimmend sei und es für andere sein sollte (526d4ff.). Warum lässt Platon dann Sokrates nicht (gänzlich) aus Eigenem sprechen wie etwa Timaios, sondern ihn sich auf andere berufen? „This is certainly, in part at least, a device to avoid making Socrates responsible for opinions which he did not in fact hold“, wie Dodds meint.73 Aber diese Erklärung kann allenfalls auf Äußerlichkeiten der Einkleidung im Stil traditioneller Mythen zutreffen, von der Sache selbst gibt sich der sonst mit Festlegungen so zurückhaltende Sokrates geradezu emphatisch überzeugt. Die Berufung auf andere muss also noch einen weiteren Grund haben, und vor allem ist auch zu fragen, wie Platon seinen Sokrates Gehörtes aus diesem Bereich ohne weitere Prüfung für wahr erklären lassen kann.74 Die Klärung dieser Probleme wird erleichtert, wenn man den JenseitsMythos des Phaidon (107c–115a) hinzunimmt. Auch hier beruft sich Sokrates mehrfach auf ein allgemeines „es wird gesagt“75 und speziell für seine – von den gewöhnlich darüber gemachten Aussagen abweichenden – Ausführungen über die Gestalt der Erde auf jemanden, von dem er sich habe überzeugen lassen (108c7f.).76 Auf die Bitte des Simmias auszuführen, was ihn überzeuge, sagt 71
Zu den Schlussfolgerungen gehört auch, durch æj ™moˆ doke‹ (524b2; vgl. d3) hervorgehoben, die rationale Überlegung, dass der Tod eine Trennung von Körper und Seele ist und dass die im Leben vorhandenen Merkmale bei Körper und Seele noch nach dem Tode kenntlich sind, wobei vom Körper analog auf die Seele geschlossen wird (524b2–d7). 72 Jedenfalls ist nach Sokrates keiner der Gesprächspartner in der Lage, Besseres und Wahreres zu finden als den Inhalt des Mythos (Gorg 527a5–b2). 73 Dodds [1959] 373. 74 Überzeugt ist Sokrates freilich auch nach der Rede Diotimas (Symp 212b2), aber auf der Grundlage der im Ganzen rationalen, teilweise dialogisch verfahrenden Ausführungen einer im Wissen überlegenen Gestalt. 75 lšgetai 107d4; d5; 110b5; 113b8. 76 ØpÒ tinoj pšpeismai, vgl. auch d3; e1; e4; 109a7. Man beachte auch den ausgedehnten Gebrauch der oratio obliqua (109a9ff.). – Da sogar Simmias, ein Schüler des Pythagoreers Philolaos (61d), obwohl er über die Erde schon viel gehört habe, noch nicht
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Sokrates: „Nun, mein Simmias, den bloßen Sachverhalt darzulegen, dazu scheint es mir keiner Kunst des Glaukos77 zu bedürfen; jedoch den Wahrheitsbeweis zu führen, scheint mir so schwierig, dass es selbst die Kunst des Glaukos übersteigt, und ich dürfte vielleicht nicht dazu in der Lage sein, und selbst wenn ich das Wissen hätte, glaube ich, dass das mir noch vergönnte Leben für die Länge der Argumentation nicht ausreicht“ (108d4–9).78 Und am Ende des Mythos heißt es: „Nachdrücklich zu behaupten, dass sich das (genau) so verhalte, wie ich es dargelegt habe, passt nicht zu einem Mann, der Verstand hat. Dass jedoch, was unsere Seelen und ihre Wohnstätten angeht, da ja die Seele evidentermaßen etwas Unsterbliches ist, dieses oder Derartiges zutrifft, das (zu behaupten) scheint mir passend und des Wagnisses wert für einen, der glaubt, dass es sich so verhalte – denn schön ist das Wagnis –, und es ist notwendig, sich Derartiges wie einen Zauberspruch79 vorzusagen; das ist der Grund, warum ich den Mythos80 schon so lange ausgedehnt habe“ (114d1–7). Nimmt man diese Informationen zusammen, ergibt sich Folgendes: Die gewisse Grundlage der Mythen ist die sichere Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele (für Platon ein offenkundig beweisbarer Sachverhalt). Daraus folgt, dass es ein Schicksal der Seele nach dem Tode geben muss, und in Kombination mit der sokratisch-platonischen Überzeugung, dass Gott gut (und damit das kennt, was Sokrates überzeugt (108d1–3), muss man wohl schließen, dass Platon den Anspruch erhebt, hier etwas Neues vorzutragen (vgl. auch Phdr 247c3–6; Plt 269b8f.), jedenfalls nichts, was in seiner Gesamtheit in dieser Form aus einer seinen Lesern bekannten Quelle kommt. Das schließt natürlich übernommene Elemente nicht aus. Aber wie auch sonst ist der Verweis auf eine „Autorität“ nicht als solche schon eine Quellenangabe. Der dialogische Einschub (108d1–109a8) und die mehrfachen Hinweise auf die Überzeugtheit des Sokrates haben möglicherweise die Funktion, die Ausführungen über die Gestalt der Erde als eine wichtige Lehrmeinung des Autors hervorzuheben (die vielleicht einen höheren Gewissheitsgrad hat als andere Details im Mythos). – Vgl. auch Rowe [1993] 270 (zu 108c8), nach dem es sich um eigene Vorstellungen Platons handelt (mit Verweis auf Furley [1989] 18). Anders Kingsley [1995] 89f., der allerdings das im Text erkennbare Neuheitssignal nicht beachtet. 77 Zu diesem offenbar sprichwörtlichen Ausdruck vgl. Burnet [1911] 150 (Appendix II); Rowe [1993] 270 (zu 108d4–5). 78 Übersetzung mit Anleihen bei Apelt [1923]. 79 Vgl. Phd 77e8f. 80 Der Ausdruck màqoj fällt zuerst 110b1: e„ g¦r d¾ kaˆ màqon lšgein kalÒn (sc. ™stin); vgl. auch b4. Das bedeutet aber nicht, dass zwischen dem Voraufgehenden und dem nunmehr Angekündigten ein grundsätzlicher Unterschied besteht (vgl. auch Rowe [1993] 274f. [zu 110b1]). Denn die Ausführungen über die wahre Erde werden über einen größeren Abschnitt als Referat (wie schon 109a9–110a1) fortgesetzt (110b5– 111e6; dann direkte Rede, jedoch 113b8 eingeschobenes æj lšgetai), allerdings mit größerem Detailreichtum und freierem Spiel der Phantasie (und insofern mit geringerem Gewissheitsgrad, vgl. Rowe [1993] a.O.); vgl. Hackforth [1955] 175. Hackforth weist mit Recht darauf hin, dass 114d7 mit màqoj die ganze Erzählung ab 107d lšgetai dὲ oÛtwj gemeint ist. Vgl. auch Morgan [2000] 200.
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auch gerecht) ist (Resp 379b1), dürfte für Platon auch die Vorstellung eines gerechten Gerichts über die vom Körper getrennte Seele eine rationale Grundlage gehabt haben. Insofern kann er seinen Sokrates im Gorgias, dessen Mythos im Kern eben in der Tatsache des jenseitigen Gerichts besteht, so nachdrücklich den Wahrheitsanspruch vertreten lassen. Wenn sich Sokrates im Phaidon zurückhaltender äußert, so vermutlich deswegen, weil der Mythos über den Gorgias hinaus in Details geht, die nicht mehr in gleicher Weise rational erschließbar sind (das Aussehen der „wahren“ Erde, die Struktur der Unterwelt, die Schicksale der Seelen im Einzelnen). Für Derartiges (und das gilt auch für die Einzelheiten des Gerichts im Gorgias) sich auf Zeugnisse anderer zu berufen enthebt ihn (und seinen Schöpfer Platon) der Notwendigkeit, die präzise inhaltliche Verantwortung für Dinge zu übernehmen, die man so genau eigentlich wohl überhaupt nicht wissen kann: Man kann nur postulieren, dass es „Derartiges“ geben müsse, und sein Leben auf dieses Postulat hin – das schöne Wagnis – entsprechend einrichten. Während Platon im Gorgias und im Phaidon Sokrates sich auf ungenannte Autoritäten beziehen lässt – im kurzen „Jenseits-Mythos“ im Menon (81a–e), der hier nur erwähnt sei, sind es immerhin weise Männer und Frauen, die sich in den göttlichen Dingen auskennen (81a5f.)81 –, hat er in der Politeia einen anderen Weg gewählt, Kenntnisse vom Jenseits zu vermitteln: Der JenseitsMythos in der Politeia (Resp 614a–621d) gibt sich als Augenzeugenbericht einer gleichsam „historischen“82, temporär ins Jenseits entrückten und dort als Boten für die Menschen bestimmten Person, des Armeniers Er, den Sokrates nur zu referieren braucht (614b2–8).83 Dadurch wird besonders deutlich, dass Sokrates nicht aus eigenem Wissen spricht. Wenn Sokrates die Wahrheit dieses Mythos dadurch bekräftigt, dass er den Bericht des Er von den Erzählungen des Odysseus bei den Phäaken absetzt (614b2f.), und die Heilsamkeit dieses Mythos für uns betont, wenn wir ihm Glauben schenken (621c1),84 so kehren in anderer Form Elemente wieder, die aus dem Umgang mit den schon besprochenen Jenseits-Mythen bekannt sind. Für sie ist also charakteristisch, dass sich Sokrates als des Jenseits unkundiger Mensch und als nicht-wissende SokratesGestalt auf Informationen von anderen berufen muss, dass er aber gleichzeitig ihre Wahrheit versichert und sie als lebensbestimmend anerkennt und empfiehlt.
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Auch hier betont Sokrates die Wahrheit ihrer Aussagen (81a8). – Für den ebenfalls kurzen Mythos vom Fass und Sieb (Gorg 492e–493c) beruft sich Sokrates auf einen muqologîn komyÕj ¢n»r (493a5). – Um keinen eigentlichen Jenseits-Mythos, sondern um eine Art Gedankenexperiment mit mythischen Anleihen handelt es sich Ap 40d–41c (anders z.B. Kytzler [1997] 24–26). 82 Vgl. Ój pote ™n polšmJ teleut»saj (614b4). 83 Vgl. auch Alt [1983] 16. – Zur Bestimmung als Boten durch die Totenrichter vgl. Resp 614d1–3; vgl. auch 619b2; e2 ¢paggellomšnwn. 84 Vgl. auch die Zwischenbemerkung des Sokrates an Glaukon Resp 618b6–619b1.
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Wenn ich recht sehe, gibt es nur einen von Sokrates vorgetragenen Mythos, bei dem er sich nicht auf andere beruft,85 so dass sich die Frage aufdrängt, was hier anders ist. Es handelt sich um den Seelen-Mythos im Phaidros (246a– 257a): Die Beschaffenheit der Seele zu bestimmen, so leitet Sokrates im Phaidros zu seinem Mythos86 über, wäre Sache „einer göttlichen und langen Darlegung, wem sie aber gleicht, einer menschlichen und kürzeren“ (Phdr 246a4–6). Ausdrücklich tritt hier an die Stelle einer diskursiven Erörterung, welche (angeblich) die Möglichkeiten des Sprechers übersteigt oder jedenfalls jetzt nicht gegeben werden soll, der Mythos. Er wird explizit als etwas Gleichnishaftes bezeichnet, wie es dann besonders in den Bildern der Seelengespanne und der geflügelten Seele zum Ausdruck kommt.87 Soweit dabei die Präexistenz der Seele, ihre Erkenntnismöglichkeiten, die möglichen Formen der Wiedergeburt und der Rückkehr der Seelen an ihren ursprünglichen Ort berührt werden, verlässt der Mythos den Bereich des empirisch Zugänglichen, soweit Götter vorkommen, bei aller Anspielung auf übliches mythisches Verhalten (Zeus mit Gefolge, gemeinsames Mahl) im Ganzen insoweit den traditionellen Göttermythos, als die Götter für die ungehinderte Erkenntnismöglichkeit des wahren Seins stehen und in ihrer Pluralität die unterschiedlichen seelischen Ausprägungen der jeweiligen Menschenseelen in ihrem Gefolge repräsentieren. Auch dieser Mythos hat aitiologische Elemente, aber er erklärt nicht durch ein gewissermaßen einmaliges „historisches“ Ereignis einen dann fortwährenden Zustand, sondern die immer gültigen, seinsmäßigen Bedingungen der menschlichen Seele, sei sie inkorporiert, sei sie vom Körper gelöst. Insofern der Mythos gleichnishaft ist, steht er auf einer Stufe mit den großen Gleichnissen in der Politeia, die ebenfalls einen unmittelbaren dialektischen Zugang, soweit in der Form des Gleichnisses möglich, ersetzen und angesichts der für die Sokrates-Gestalt vorausgesetzten Möglichkeiten ersetzen müssen. Weil eben der Seelen-Mythos kein – so wird es jedenfalls gesagt – dem Menschen nicht zugängliches Wissen voraussetzt, kann Platon ihn Sokrates genauso aus sich heraus vortragen lassen wie die Gleichnisse in der Politeia – sogar mit
85 Der Mythos ist Bestandteil der zweiten Rede des Sokrates (Phdr 243e9–257b6), die sich als Rede des Stesichoros gibt (244a2f.). Aber dies ist nicht zu verwechseln mit der Angabe einer – hier sogar namentlich benannten – Autorität, von der Rede (und Mythos) herrührten. Denn genauso wenig wie Sokrates’ erste Rede (237b2–241d1) von Phaidros stammt (so aber der Wortlaut 243e9f.), sondern von diesem veranlasst (und in dessen Geist) gehalten ist (242a7–b5; d4f.), soll die zweite inhaltlich auf Stesichoros zurückgeführt werden. Vielmehr ist sie nur insofern eine „Rede des Stesichoros“, als es sich auch bei der Rede des Sokrates um eine Palinodie handelt. – Anders, wenn ich sie recht verstehe, Morgan [2000] 215 u. 248 Anm. 8. 86 Der Ausdruck fällt 253c7. 87 Dass jedenfalls d i e s e r Mythos gleichnishaft ist, sagt Platon selbst (Phdr 246a5). Edelsteins ([1949] 467) grundsätzliche Ablehnung einer allegorischen Deutung platonischer Mythen geht daher zu weit.
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(partiellem) Wahrheits- und Neuheitsanspruch (247c4–6)88. Ob man das in diesem Mythos und in den Gleichnissen implizierte Wissen allerdings wirklich als konsistent mit einer nicht-wissenden Sokrates-Gestalt ansehen soll, ist eine Frage, der hier nicht nachgegangen werden kann.89 Fasst man die vorgetragenen Beobachtungen zusammen, ergibt sich, dass zwar jeder Mythos für sich genommen auch spezielle Merkmale aufweist, sich aber übereinstimmende Indizien dafür feststellen lassen, dass Platons Entscheidung für unterschiedliche Erzähler und die unterschiedliche Beziehung zu den von ihnen vorgetragenen Mythen – ob sie sie aus sich heraus erzählen oder sich auf Autoritäten berufen – in Korrelation steht zu Inhalt und Funktion der Mythen in den Dialogen. Erzähler, die sich für ihren Mythos nicht auf andere stützen, geben damit mehr oder weniger deutlich einen Wissensanspruch zu erkennen, aus dem heraus sie ihre Lehre oder Auffassung verkünden. Das ist besonders ausgeprägt bei Protagoras und Aristophanes, die sich dann freilich im Dialogverlauf als Scheinwissende herausstellen. Es treten aber auch Sprecher mit platonischem Gedankengut ohne Berufung auf eine Autorität, d.h. zumindest insofern als Wissende, auf, bemerkenswerterweise jedoch nur in mittleren bis späten Dialogen: Diotima, der Fremde aus Elea, Timaios. Sie unterscheiden sich weniger in ihrer Haltung als durch Gegenstand und Beweisziel ihrer Mythen von Protagoras und Aristophanes: Während diese beiden durch ein einmaliges Ereignis einen bestehenden, empirisch fassbaren Zustand erklären, aber nicht im platonischen Sinne den Kern der Sache treffen und deshalb als nicht eigentlich kompetent erwiesen werden, erhellen die anderen mit ihren Mythen weltdeutend ontologische Sachverhalte. Dabei ist für sie im Unterschied zu Protagoras der Mythos nicht eine beliebig wählbare Darstellungsform, sondern er ist entweder sachbedingt nicht durch eine streng dialektische Erörterung zu ersetzen, oder er soll jedenfalls nicht – zumindest nicht an Ort und Stelle – ersetzt werden. Man könnte vermuten, dass Sokrates als der notorisch Nicht-Wissende unter denen, die einen Mythos ohne Rückhalt durch eine Autorität erzählen, überhaupt nicht vorkommen kann. Wenn es beim Seelen-Mythos des Phaidros doch so ist, liegt gerade kein Widerspruch zur platonischen Konzeption der Sokrates-Gestalt vor, weil dieser Mythos die Funktion hat, gleichnishaft eine nur eingeschränkte, menschengemäße Erörterung statt einer, wie es dem Gegenstand eigentlich angemessen wäre, umfassenden und göttlichen zu geben. Diesen Mythen steht die große Gruppe derer gegenüber, bei denen sich die Erzähler auf eine – zumeist aus alter Zeit stammende – Quelle berufen, wie das 88 Vgl. auch Alt [1983] 22. – Vgl. den Neuheitsanspruch des Fremden aus Elea (Plt 269b8f.). 89 Zur Gleichnishaftigkeit des Seelen-Mythos im Phaidros verweist Morgan [2000] 223 auf Phdr 273d4–6 (vgl. 262a5–c3), wonach derjenige die Ähnlichkeiten am besten zu finden versteht, der die Wahrheit kennt.
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fast immer bei Sokrates, aber auch bei anderen der Fall ist. Bei Sokrates – wenn wir die Jenseits-Mythen zunächst einmal beiseite lassen – und den anderen geht es dabei in der Regel inhaltlich nicht um eine aitiologische Erklärung, vielmehr um eine vom Sprecher unabhängige Beglaubigung einer von ihm als richtig erkannten Auffassung. Eine Gemeinsamkeit könnte ferner in der (nicht ganz ohne Ironie) vom platonischen Sokrates vertretenen Ansicht bestehen, die Alten seien noch näher bei den Göttern und damit uns überlegen (Phlb 16c; Ti 40d).90 Ein Unterschied ist allerdings darin zu sehen, dass die einen durch ein quasihistorisches Beispiel, für das daher eine Quellenangabe essentiell ist, zeigen können, dass eine platonische Theorie schon einmal verwirklicht bzw. an der empirischen Realität zu beobachten war, während Platon Sokrates die Aufgabe zuweist, durch Mythenerzählung die Geltung auch unabhängig vom erzählten Mythos bestehender platonischer Überzeugungen nachdrücklich zu bekräftigen und darstellerisch zu akzentuieren. Mit diesem inhaltlichen Unterschied hängt es wohl zusammen, dass Platon beim Theuth-Mythos mit dem Motiv der Beglaubigung so spielen kann, dass er als Erfindung des platonischen Sokrates durchsichtig wird. Handelt es sich beim Theuth-Mythos um eine mehr implizite Reflexion über den eigenen MythenGebrauch, kann die Funktionalität einer sich auf eine Quelle stützenden Mythenerzählung auch regelrecht thematisiert werden, wenn vorgeführt wird, dass Sokrates mit seinem Gesprächspartner überlegt, wie ein Mythos, den sie als yeàdoj einstufen, der aber paradoxerweise zugleich einen wesentlichen Punkt der Staatslehre transportiert, zur politischen Erziehung für außerdialogische Adressaten eingesetzt werden kann. Was die – eben noch ausgesparten – Jenseits-Mythen angeht, so hat Sokrates’ Berufung auf eine Autorität bei diesen im Wesentlichen nichtaitiologischen91 Mythen (außer mit seinem Nicht-Wissen) damit zu tun, dass es, bei aller rationalen Grundlage, die der Jenseits-Glaube für Platon gehabt haben dürfte, zumindest im Einzelnen um Dinge geht, die sich exaktem menschlichen Zugriff entziehen, an die als wahr zu glauben und sein Leben entsprechend auszurichten Sokrates aber mit Vehemenz vertritt und seinen Gesprächspartnern anempfiehlt. Der Umgang des Sokrates mit dem Mythos ist insofern von den anderen, die als „Wissende“ (im platonischen Sinne wahre) Mythen erzählen, verschieden, als diese – sieht man von einem gewissen Vorbehalt des Timaios ab (Ti 29b–d) 90
Vgl. Heitsch [1997] 188f. (zum Theuth-Mythos). Kytzler ([1997] 103) stuft den Jenseits-Mythos im Gorgias als aitiologisch ein und sieht diesen Mythos offenbar typologisch als auf einer Ebene mit den Mythen des Protagoras und des Aristophanes stehend. Er bildet in der Tat insofern eine gewisse Ausnahme, als das jetzige Verfahren des Richtens über Tote als Neuerung des Zeus erklärt wird. Doch liegt der Akzent mehr auf der Beschreibung und existentiellen Bedeutung des neuen und immerwährenden Zustandes als auf seiner „historischen“ Herleitung, und vor allem wird kein empirisch erfassbarer Sachverhalt erklärt. 91
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– sich mit dem Inhalt ihres Mythos identifizieren, Sokrates aber in einen Beurteilungsprozess zur Sache eintritt bzw., wenn er selbst sich auf Mythen beruft oder gar einen eigenen erzählt, einen bewussteren methodischen Umgang erkennen lässt.92 Bei Platon gibt es eben keine Beliebigkeit, weder in der Entscheidung zwischen Mythos und Logos noch in der Wahl des Erzählers noch in der Frage, ob er einen Sprecher einen Mythos als eigene Geschichte oder mit Berufung auf andere erzählen lässt.
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Dieser ganz bewusste Umgang, den Platon seine Sokrates-Gestalt haben lässt, zeigt sich auch in der Mythenkritik in der Politeia (Resp 376e–383c) und in Sokrates’ Äußerungen im Phaidros, wonach er keine Zeit hat, sich mit rationalistischer Deutung üblicher Mythenerzählungen zu befassen, solange er noch nicht dem Selbsterkenntnisgebot der delphischen Inschrift zu folgen in der Lage ist (Phdr 229b–230a). Vgl. dazu auch Kobusch [1990] 16f. Er gibt sich also dann mit Mythen ab, wenn sie für ihn Wesentliches enthalten. – Eine Rationalisierung des Phaethon-Mythos findet sich (freilich nicht durch Sokrates) allerdings Ti 22cd.
ZU EINIGEN PROBLEMEN IN PLATONS JENSEITSMYTHEN UND DEREN KONSEQUENZEN BEI SPÄTEREN PLATONIKERN Karin Alt Aus Platons Jenseitsmythen, die ein reiches Spektrum an Motiven, Vorstellungen, visionären Bildern und philosophischen Überzeugungen in sich bergen, sollen hier verschiedene spezielle Probleme betrachtet werden, die manche offene Fragen enthalten, welche zum Teil von späteren Interpreten und Fortsetzern der platonischen Lehren aufgegriffen werden und dabei in einem neuen Licht erscheinen. Bevor ich jedoch auf diese Probleme zu sprechen komme, halte ich es für sinnvoll, einige allgemeinere Bemerkungen zu den Mythen voranzustellen. Platons mythische Darstellungen stehen in der Regel in einem engen Bezug zum Thema des Dialogs, sie führen das Gespräch sinngemäß dort weiter, wo die behandelten Fragen sich argumentativ nicht mehr klären oder die intendierten Lösungen sich nicht beweisen lassen.1 Deutlich ist dies besonders im Gorgias: Die These, es sei besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, bleibt für Kallikles absurd, der vielmehr meint, man müsse nur jeweils sich der Strafe entziehen können. Da nun nach menschlicher Erfahrung die Gerechtigkeit im irdischen Bereich keineswegs immer dominiert oder durchsetzbar ist, muss man – so argumentiert Platons Sokrates – über die Grenze unseres Lebens, über den Tod hinausschauen, um die Überzeugung zu begründen, es gebe eine unbedingte Gerechtigkeit im Sinne einer göttlichen Ordnung. Darum genügt es nicht, unsere hiesige Lebenszeit im Blick zu haben, sondern es handelt sich „um die gesamte Zeit“, wie Sokrates es im Phaidon formuliert.2 In diesem Dialog werden die verschiedenen Versuche, die Unsterblichkeit der Seele rational zu beweisen, am Ende überhöht von einer grandiosen Vision jenseitigen Geschehens. Dass diese Ausblicke in andere Welten, die Schilderungen der vom Körper befreiten Seelenexistenz im Kern eine Wahrheit enthalten, nicht als Mythos, sondern als Logos, als wahre Rede zu gelten haben, wie es im Gorgias heißt,3 betont Platon wiederholt, auch wenn er im Phaidon hinzufügt, dass nicht alle Einzelheiten für einen verständigen Menschen als authentisch anzusehen seien.4 In der Politeia wiederum wird das jenseitige Geschehen als ein Erfahrungsbericht, als das wahrhaft Erlebte des für zwölf Tage scheintoten Pamphyliers Er dargeboten, der im Jenseits den Auftrag erhielt, 1
Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet der Mythos des Phaidros, der als eine „Palinodie“ zur ersten Sokrates-Rede eingeführt wird (243 a–b) und auf den auch keine inhaltliche Reaktion folgt: Phaidros stellt nur fest, diese Rede sei „schöner ausgearbeitet als die frühere“ (257c). – Ich zitiere die Werke Platons ohne Namen des Autors, die anderen Autoren werden namentlich angegeben. 2 Phd 107c Øpὲr toà pantÕj crÒnou. 3 Gorg 523a, 524 a8 pisteÚw ¢lhqÁ e nai, 527 a–b. 4 Phd 114d; vgl. zuvor aber pšpeismai 108 c8, e1, e4, 109 a7.
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alles, was er sah und hörte, später den Menschen zu berichten.5 Bei allen diesen unterschiedlichen Entwürfen bleibt ein Gedanke immer dominant: Unser Tun und Verhalten im irdischen Leben hat Konsequenzen in einer künftig neuen Phase der personalen Existenz, in der wir je nach Verdienst oder Schuld hohe Freuden oder aber Strafen und Qualen erfahren werden. Zu dieser Fortdauer unseres Daseins gehört für Platon nicht allein ein gerechter Ausgleich im Jenseits als Folge eines Totengerichts, sondern die Vorstellung der Reinkarnation, die im Gorgias nicht wörtlich erwähnt, aber offenbar vorausgesetzt wird6, während sie in allen späteren Mythen ausdrücklich dominiert. Für die Reinkarnationslehre besitzen wir einige vorplatonische Zeugnisse, bei denen sich zwei unterschiedliche Versionen erkennen lassen. Die eine – beschrieben von Pindar in seiner 2. Olympischen Ode von 476 v.Chr.7 – spricht von einem unerbittlichen Richter in der Totenwelt, der den Seelen Glück oder entsetzliche Qualen zuteilt, von neuerlichen Inkarnationen der Seelen, aber auch von der Chance, dass diese bei edlem Verhalten nach dreimaligem Erdenleben endgültig in ein wunderbares Jenseits, auf die Insel der Seligen, gelangen dürfen. Die andere Version, bezeugt zuerst bei Herodot und allgemein als pythagoreische Lehre verstanden8, bezieht in den Kreislauf der Inkarnationen, der nie endet, die Tiere mit ein; nach dreitausend Jahren des Daseins in vielerlei Tiergestalten kann man erneut Mensch werden, doch setzt der Zyklus sich weiter fort. Ein reines, körperloses Seelendasein wird hierbei so wenig erwähnt wie ein Totengericht (welches für Tiere wohl auch schwierig sein dürfte). Das Motiv der Gerechtigkeit scheint hier zu fehlen. Eine Variante dazu bietet Empedokles, der Grundlegendes der pythagoreischen Lehre übernimmt, aber die Spannweite der Inkarnationen bis zu den Pflanzen und andererseits bis zum Aufstieg zu einem Götterdasein reichen lässt;9 dieses ist allerdings nur aufgrund besonderer Leistungen zu erlangen, zu denen primär der Verzicht auf jegliches Blutvergießen, fÒnoj, gehört, was die Abkehr nicht allein vom Fleischgenuss, sondern von aller traditionellen Opferpraxis bedeutet. Platon hat in seinen Mythen unterschiedliche Elemente überkommener Vorstellungen (von denen wir nur wenige Zeugnisse besitzen) aufgenommen, umgeprägt, seiner Intention im jeweiligen Dialog zugeordnet und Neues hinzu5
Resp 614b–621b. Vgl. Gorg 525b: Der Sinn jeder Strafe sei, dass der Bestrafte Besserung und insofern selber Nutzen erfährt oder aber anderen zum (warnenden) Exempel wird, da diese beim Anblick seiner Qualen aus Furcht sich bessern. Wobei aber sollte diese Besserung anderer sich erweisen als in deren künftiger Inkarnation? 7 Pindar Ol II 58–80, vgl. Frg. 33 Snell-Maehler. 8 Herodot 2,123 = Pythagoras Frg. 1 DK (Bd. I S. 96,17ff.), vgl. Frg. 8a (aus Porphyrios Vita Pyth. 19). 9 Empedokles, vor allem Frg. B 115, 118, 119, 124, 127, 128, 136, 137, 139, 145–147 DK. 6
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erfunden, wie z.Β. die geographische oder kosmographische Neudeutung jenseitiger Regionen in Phaidon und Politeia. Überwiegend lässt er die Seelen im Jenseits vor einen Richter treten und gemäß dem Urteilsspruch in finstere Straforte oder selige Gefilde gelangen; gelegentlich aber übernimmt er auch jene andere Version, die ohne ein Gericht und ohne Jenseitsaufenthalt die Seelen einer sofortigen oder baldigen Reinkarnation, welche die Tiere einbezieht, zuführt, doch dominiert für Platon auch dabei der Gedanke der Gerechtigkeit; entsprechende (freilich stark ironische) Aussagen lesen wir in der mythischen Partie in der Mitte des Phaidon und im Timaios.10 Dass sich also zwischen den platonischen Mythen gewisse Unstimmigkeiten befinden, bedeutete für ihren Schöpfer kein Problem, wohl aber für seine späteren Nachfolger, die davon überzeugt waren, Platon müsse eine einheitliche Lehre vertreten haben. Häufig hielten sich diese dann an eine der Aussagen und ignorierten die anderen; gelegentlich ergaben sich Streitfragen, etwa ob Platon die Tierinkarnationen ernst gemeint habe oder ob diese allegorisch zu verstehen seien. Am ernsthaftesten hat Plotin sich bemüht, gewisse Widersprüche bei Platon (die für ihn nur scheinbare sein konnten) miteinander in Einklang zu bringen, indem er nach dem wahren Sinn divergierender Aussagen suchte, wie er dies besonders eindrücklich in der Schrift „Über den Abstieg der Seele in die Körper“ durchführte.11 Aber neben derlei Unstimmigkeiten finden sich zuweilen auch Fragen in Platons Mythen, für die keine Lösung angedeutet ist und die nicht leicht zu beantworten sind. Manche späteren Platoniker haben solche Fragen aufgegriffen und für deren gedankliches Substrat im Geiste einer anderen Zeit und Weltsicht Antworten gesucht. Auf einige dieser Probleme möchte ich im Folgenden eingehen. Dabei werde ich Platoniker bis zum vierten Jahrhundert n. Chr. einbeziehen, nicht aber die späteren neuplatonischen Kommentatoren. I. Gibt es ein Ende der Inkarnationen? Kann man diesem Kreislauf irgendwann entrinnen? Im Gorgias wird diese Frage nicht erkennbar; als jenseitige Aufenthaltsorte der Seelen werden nur die Alternativen des Tartaros und der Inseln der Seligen genannt, und über die Dauer des dortigen Verbleibens verlautet nichts. Dass hier der Reinkarnationsgedanke jedoch impliziert sein müsse, wurde bereits erwähnt.12 Anders und sehr differenziert werden die jenseitigen Regionen im Schlussmythos des Phaidon dargestellt. Da die Geschicke der Seelen durch diese verschiedenen Bereiche differenziert und charakterisiert werden, kommt der Beschreibung der Regionen große Bedeutung zu. Platon unterscheidet hier fünf Arten von Seelen, drei von ihnen gelangen in unterirdische Tiefen, zwei
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Phd 81d–82b; Ti 42b–c und 90c–92c. Plotin IV 8 [6] vor allem c. 1,23ff. und c. 5. 12 Gorg 523 a–b, vgl. Anm. 6. 11
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dagegen in lichte Höhen.13 In der Unterwelt befindet sich eine mittlere Region am Gestade des Acheronsees, wo die Seelen von „mittlerer“ Wesensart, mit mäßigen Vorzügen und Vergehen, ihre Strafen und Reinigungen erfahren. Die Frevler aber müssen im Tartaros leiden, die „heilbaren“ unter ihnen können nach einem Jahr, wenn die Strömung der unterirdischen Gewässer sie in die Nähe des Acheronsees spült, die Opfer ihrer einstigen bösen Taten anflehen, dass diese sie am Acheronsee aufnehmen; haben sie Erfolg, entrinnen sie dem Tartaros, wenn nicht, werden sie wieder hinabgezwungen. (Es ist die einzige Stelle in Platons Mythen, wo mitmenschliches Vergeben eine wichtige Funktion erhält). Die absolut „Unheilbaren“ bleiben für immer den Tartaros-Qualen überantwortet. Dagegen ist den Seelen, die überaus fromm, also den Göttern gefällig gelebt haben, ein wunderbares Dasein in einem lichten Jenseits beschieden, das Platon die „wahre Erde“ nennt und detailliert beschreibt; dort verweilen diese glücklichen Seelen lange, aber nicht für ewig, sie werden demnach künftig in eine irdische Existenz zurückkehren. Aus dieser Gruppe wird eine weitere abgegrenzt und herausgehoben: Jene Seelen, die sich durch die Philosophie hinreichend gereinigt haben, leben gänzlich ohne Körper für alle Zeit in noch wundersameren Bereichen, die sich schwerlich schildern oder vorstellen lassen. Von derartig reinen Seelen war bereits zuvor in der mythischen Partie in der Mitte des Phaidon berichtet worden; dort werden sie beschrieben als körperlose Wesen, dem Nicht-Wahrnehmbaren, Unsichtbaren, ¢idšj, zugehörig, die darum in das Reich des Unsichtbaren gelangen, in den „wahren Hades“, der hier etymologisch als das „Unsichtbare“ gedeutet und mit dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernunftreichen identifiziert wird, wo diese Seelen künftig vereint mit den Göttern leben werden.14 - Im Phaidon wird also die alte, bei Pindar bezeugte Vorstellung eines seligen Jenseits einbezogen, nach welcher manchen Seelen – es dürften nur wenige sein – ein endgültiges Dasein höherer, nahezu göttlicher Art verheißen wird, ohne Rückkehr zur Erde. Neu ist aber bei Platon die strikte Vergeistigung dieser Konzeption: Keine Idylle von Inseln der Seligen wird imaginiert, sondern es handelt sich um die Welt des Unsichtbaren, Geistigen, für Menschen nicht mehr Vorstellbaren. Die Möglichkeit, durch intensives geistiges Bemühen für immer den Nöten der irdischen Inkarnationen enthoben zu werden, gibt es bei Platons JenseitsAusblicken allein im Phaidon. In allen späteren Mythen ist der neue Eintritt ins Erdenleben mit seinen Aufgaben und Chancen der Bewährung unausweichlich. Im Gleichnis der Politeia müssen jene Bewohner der Höhle, die das Licht schauen durften, ins Dunkel zurückkehren; entsprechend müssen auch im Mythos alle Seelen nach dem Jenseitsaufenthalt sich der erneuten Inkarnation – hier aufgrund eigener Wahl – unterziehen15 (dazu später). Im Timaios werden 13
Phd 113d–114c; zur Unterwelt 111c–113c, zur oberen „wahren Erde“ 110b–111c (zum dortigen „langen Leben“ 111b). 14 Phd 114c; 80d–81a, vgl. 82c. 15 Resp 517c–e; 617d–621b.
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die Seelen der Einzelwesen vom Demiurgen eigens mit dem Ziel geschaffen, dass die Welt mit lebendigen Wesen erfüllt werde; es wäre undenkbar, dass sie die Erde etwa für immer wieder verlassen könnten.16 Ein Dasein in absolut geistigen Höhen ist hier nicht vorgesehen; das äußerste erreichbare Stadium für die Geistseele – denn nur diese ist nach dem Timaios unsterblich – bedeutet, dass sie die himmlischen Umläufe auf demjenigen Fixstern, dem sie zugehört, für eine gewisse Zeitspanne mitvollzieht. Es besteht also in Platons nach dem Phaidon entworfenen Mythen keine Hoffnung auf ein endgültiges höheres Seelendasein. Es sei jedoch noch nach dem Kontrast gefragt: Wie steht es um die Seelen der schlimmsten Frevler? Platon nennt sie die „Unheilbaren“, ¢n…atoi, ¢ni£twj œcontej. Dass ihnen im Phaidon quasi als dem Gegenpol zu den ins ewige lichte Jenseits gelangenden Philosophen-Seelen ein ewiges Tartaros-Los zuteil wird, mag eher akzeptabel erscheinen, als dass solche Seelen auch in der Politeia, wo alle übrigen sich erneut inkarnieren, niemals aus dem Tartaros entlassen werden. Vermutlich sah Platon in diesen unrettbar Bösen eine Gefahr für die menschliche Gemeinschaft und wollte sie, in den Bildern seines Mythos, dieser nicht erneut eingliedern. Dazu lässt sich eine Aussage aus dem Protagoras-Mythos vergleichen. Dort heißt es, dass man Menschen, die unfähig sind zur Teilhabe an Ehrfurcht und Rechtsempfinden, a„dèj, d…kh, töten solle als eine Krankheit der Stadt, æj nÒson pÒlewj, ähnliche Aussagen finden sich in den Nomoi.17 Hoffnungslose Übeltäter sind auszugliedern, auf Erden durch Tötung, im Jenseits durch ewiges Verbleiben im Tartaros (wie dies nach den alten Mythen für die Titanen galt). Für die späteren Platoniker war die Kosmos-, Menschen- und Seelenlehre des Timaios in vieler Hinsicht maßgebend; so blieb die Vorstellung des nie endenden Inkarnationen-Zyklus, den auch die Politeia zeigt, dominant. Dennoch gibt es gelegentlich Versuche, der anscheinend kaum ganz zu tilgenden Sehnsucht nach einem ewigen lichten Dasein Ausdruck zu verleihen. Plutarch, der in drei Werken Jenseitsmythen in Anlehnung an Platon (aber mit zahlreichen neuen Elementen) verfasst hat, zeigt, wie Menschenseelen im Jenseits nach erfolgter Reinigung sich in höhere Wesen, in Daimones verwandeln (was es bei Platon niemals gibt). In einem dieser Mythen, in der Schrift Über das Gesicht im Mond, erfolgt die Wandlung zum Daimon, der ein ätherisches Wesen ist, auf dem Mond, der ebenfalls ätherische Natur besitzt. Der a„q»r galt als eine sehr feine Substanz, die sich von den vier irdischen Elementen unterschied. Plutarch lässt seinen Sprecher hier die neuartige Lehre von einem zwiefachen Tod verkünden: Wie auf Erden sich der Körper auflöst, nachdem Seele und Geist sich abtrennten, so löst später bei einem zweiten Tod auf dem Mond die zum Daimon gewordene Seele sich in dessen Äther-Substanz auf, während der Geist weiter emporsteigt in eine geistige Sonnensphäre. Schließlich 16 17
Ti 41b–42e. Prot 322d; Lg 735e, 854e, 942a.
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kommt es aber zu einer neuen Inkarnation, indem der Geist auf dem Mond wiederum eine Seele erhält und beide auf Erden in einen neu sich bildenden Körper eintreten.18 Bei dieser überraschenden These eines doppelten Todes, nach welcher auch die Seele stirbt, ist immerhin an den Timaios zu erinnern, der allein den geistigen Seelenteil, nicht aber die emotionalen Seelenbereiche für unsterblich erklärt. Später vertrat Numenios (2. Hälfte 2. Jh. n. Chr.) geradezu die Lehre von zwei Seelen.19 Plutarch war kein Dogmatiker, und in seinen Mythen variiert er die Konzeptionen des Jenseits. So ist seine Darstellung des Seelengeschickes in der Schrift Über das Daimonion des Sokrates von anderer Art.20 Hier erreichen nur sehr wenige, herausragende Seelen, die sich im Verlauf zahlloser Inkarnationen, mur…oi genšseij, bis zum Äußersten vervollkommnet haben, das höchste Ziel, und dieses besteht darin, dass die Seelen sich auf dem Mond in Daimones verwandeln und für immer dort verbleiben mit der Aufgabe, solchen Menschen auf Erden, die dem Ziel nahe sind, zu helfen. Weder gibt es für diese Daimones eine höhere erreichbare Sphäre als den Mond noch eine Rückkehr ins irdische Dasein. Bei den Neuplatonikern finden wir zu diesem Problem unterschiedliche Positionen. Plotin ist ein strenger Interpret Platons; für ihn ist ein endgültiges Verbleiben der Seele im geistigen Bereich nicht denkbar, so sehr ihm die Tatsache ihres Abstiegs aus höherer Sphäre in die Sinnenwelt nahezu als ein Rätsel erscheint, wie er es selber bei der Rückkehr aus der höchsten geistigen Erfahrung, der ›nwsij, dem Einswerden mit dem Göttlichen ins normale Dasein erlebte und eindrücklich beschrieben hat.21 Plotin hat sich offenbar primär für die Möglichkeit geistiger Erhebung in diesem Leben interessiert, aber weniger für das Seelendasein nach dem Tod. Dies hat jedoch nicht verhindert, dass nach seinem Tod sein Schüler Amelios an das Orakel von Delphi die Anfrage richtete, wohin Plotins Seele jetzt gelangt wäre. Das Orakel antwortete in einem langen hexametrischen Gedicht, das Porphyrios überliefert hat.22 Hier wird Plotin von Apollon als Daimon angesprochen, Da‹mon, ¥ner tÕ p£roiqen, und er scheint sich in einem Gefilde nach Art der Inseln der Seligen zu befinden, umgeben von Minos, Rhadamanthys, Aiakos, Platon, Pythagoras und in Gemeinschaft weiterer „seliger Daimones“. Hier ist also im Umfeld Plotins, der selber allem Mythischen fern stand, der Mythos zurückgekehrt. Porphyrios scheint bei der Frage eines endgültigen Seelenaufstiegs schwankend gewesen zu sein. Zu erwähnen ist noch Kaiser Julian, der als Neu18
Plutarch De facie in orbe lunae c. 28–30, 943A–945D. Numenios ed. Des Places (1973) Frg. 44, Auflösung der niederen Seele beim Aufstieg Frg. 35, 21ff. 20 Plutarch De genio Socratis c. 24, 593A–594A; zum Mond als Ort der Daimones c. 22, 591C. 21 Plotin IV 8 [6] 1. 22 Porphyrios Vita Plotini c. 22, mit anschließender Interpretation c. 23. 19
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platoniker und Anhänger Jamblichs den Gott Helios in philosophischer Weise ehrte und in einem hymnischen Essay gepriesen hat. An dessen Ende richtet er eine Bitte an Helios23, dieser möge ihm gnädig sein, ihm vollendeteres Denken und göttlichen Geist schenken sowie zur rechten Zeit einen sanften Tod und danach den Aufstieg zu Helios und das Verbleiben bei ihm, wenn möglich für immer, wenn dies aber nach seinen bisherigen Lebensverläufen zu viel wäre, so doch für zahlreiche Perioden vieler Jahre. – Julian erhofft also ein ewiges oder zumindest ein sehr langes Seelendasein im Jenseits. Ganz anders und nüchtern wird diese Frage beurteilt von Salustios, der nach Julians Tod (2. Hälfte des 4. Jh.) einen Abriss der platonischen Lehren verfasste. Es ginge nicht an, schreibt er24, dass die Seelen nach dem Austritt aus dem Körper für alle Zeit in Untätigkeit, ™n ¢rg…v, verblieben (von geistiger Schau verlautet hier nichts!). Auch müsse man dann ja annehmen, dass die Zahl der Seelen entweder unendlich wäre oder aber der Gott immer erneut Seelen herstellte. Beides sei undenkbar, denn in einem endlichen Kosmos könnte nichts Unendliches, Unbegrenztes existieren, noch wäre es möglich, dass neue Seelen entstünden, da der Kosmos dann unvollendet wäre. Diese Deutung basiert auf der Lehre des Timaios, nach welcher der Gott die Seelen einmalig in sehr großer, aber endlicher Zahl, der der Fixsterne, geschaffen habe und der Kosmos in Ewigkeit in höchster göttlicher Vollendung bestünde.25 II. Kann das Geistige in der Menschenseele sich verändern, vielleicht schwächen? Kann es etwa leiden? Könnte es gar vergehen? Für Platon ist alles Geistige unveränderbar und immer gut, wie auch das Göttliche ewig und ausschließlich gut ist. Bei späteren Autoren wird es als ¢paqšj, nicht affizierbar, nicht veränderbar definiert und insofern abgegrenzt vom Bereich des Seelischen oder dem der Daimones, zu welchem die p£qh, Affekte, Emotionen gehören.26 Die Gliederung der Seele in eine rationale Instanz und zwei verschiedene emotionale Bereiche, die Platon noch nicht im Phaidon, aber seit der Politeia in allen späteren Seelen-Beschreibungen durchführt, teilt dem geistigen Element die Aufgabe des Leitens und Zügelns zu, wie dies besonders anschaulich im Phaidros-Mythos am Bild des Lenkers zweier ungleicher Pferde und seinen Mühen, sie zu bändigen, dargestellt wird. Nun kann man fragen, wie es um diese geistige Kraft steht, wenn sie von den Emotionen überwältigt wird und vielleicht an der Führung scheitert. Im Timaios 23
Julian Or IV, 158 b–c. Salustios, Des dieux et du monde, ed. Rochefort (1960), c. XX 2–3. 25 Ti 41 d5ff.; 92 c5ff.: der Kosmos ist e„kën toà nohtoà qeÕj a„sqhtÒj, mšgistoj kaˆ ¥ristoj k£llistÒj te kaˆ teleètatoj. 26 Erstmals werden in der ps.-platon. Epinomis 985a Götter und Daimones in dieser Weise unterschieden: Der Gott besitzt nur die Kräfte des Denkens, nicht aber die Fähigkeit zu Schmerz und Freude, während die Daimones an allem Anteil haben. 24
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hat Platon von der Situation des kleinen Kindes gesprochen, bei dem zunächst die Nahrungsaufnahme dominiert und die Seele geradezu vernunftlos, ¥nouj, erscheint, und er hat die Bedeutung der richtigen Erziehung betont, welche die geistigen Kräfte stärkt und wachsen lässt.27 Aber bei allem Bemühen gibt es offenbar Situationen, in denen das Geistige in der Menschenseele der niederen Kräfte nicht Herr wird. Nach dem Phaidros besteht diese Gefahr sogar im Jenseits. Berichtet wird, dass die Auffahrt der Seelen in der Himmelskuppel im Gefolge der Götter misslingen kann wegen der kak…a des Lenkers. Man sollte diesen Begriff kak…a nicht zu streng interpretieren, er dürfte weniger eine Schlechtigkeit meinen als eine Schwäche, ein Versagen des Lenkers, dem es aus Unvermögen nicht gelingt, das Gespann bis zur Öffnung des Himmels und zur Ideenschau empor zu führen; wenig später ist auch von suntuc…a, von Zufällen die Rede.28 Und nach den Bildern dieses Mythos ist die Konstitution der Menschenseele, zu der ein widerspenstiges Pferd gehört, generell verschieden von jener der Götterseelen mit ihren beiden lenkbaren Pferden. Dies bedeutet, dass das Wesen der Menschenseele den immer wiederkehrenden Sturz zur Erde in die neue Inkarnation bedingt, sie also nicht für ein ewiges Jenseitsdasein geschaffen ist. Ein schwierigeres Problem bieten Platons „Unheilbare“ in der Politeia. In welchem Zustand mag deren Geisteskraft sein? Leidet die Seele im Tartaros lediglich in ihren emotionalen, also leidensfähigen Bereichen, und verbleibt ihr geistiger Teil davon unberührt? Schon die drastische Schilderung der SeelenTorturen – diese werden im Dornengestrüpp geschunden und anderes mehr – ist verblüffend;29 ein christlicher Autor (Ps.-Justin, wohl im 3. Jh. schreibend) meinte daraus folgern zu können, Platon habe an die körperliche Auferstehung geglaubt.30 Aber wie sollte ein Geist es ertragen, in Koexistenz mit der gequälten, ihm verbundenen Seele für ewig im Tartaros auszuharren? War seine geistige Kraft geschwunden? Oder war er etwa selber böse geworden? Platon unterlässt jegliche Erklärung. Im Timaios wird eine andere Sicht geboten. Hier gibt es kein Gericht, keine Unterweltsstrafen, sondern die rasche neue Inkarnation in Menschen- oder Tiergestalt als Konsequenz des Verhaltens im abgelaufenen Leben. Diese Veränderungen, so lesen wir, geschehen gemäß dem Verlust oder Gewinn von Geist oder Geistlosigkeit, noà kaˆ ¢no…aj ¢pobolÍ kaˆ kt»sei, und ein solcher
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Ti 44 a–b. Phdr 248 b2, c6. 29 Zu den Tartaros-Qualen vgl. besonders Resp 615d–616a. 30 Ps.-Justin Cohortatio ad Graecos c. 27, 1 und 3. Chr. Riedweg hat diese Schrift 1994 ediert unter dem neuen Titel: Ps.-Justin (Markell von Ankyra?), Ad Graecos de vera religione (bisher „Cohortatio ad Graecos“), und er datiert sie auf die Zeit zwischen 312 und 322. 28
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Auf- oder Abstieg sei seit je und immer erneut möglich.31 Die Skala des Abstiegs vom Menschsein reicht über die Vögel und die verschiedenen Landtiere, von Vierbeinern bis zu Kriechtieren, und endet bei den Fischen und Muscheln, den Wassertieren, die nicht einmal die reine Luft atmen, sondern im trüben feuchten Element leben. Dieses Stadium entspricht etwa dem Tartaros in den anderen Mythen, doch muss hier kein Wesen für immer in der Tiefe bleiben. Nach der Version des Timaios ist von der Seele allein das Geistige unsterblich, die emotionalen Teile sind vergänglich wie der Körper. Im Geistigen liegt also das Prinzip des Lebens sowie der Individualität, und jedes Lebewesen hat daran Anteil. Was aber bedeutet es, dass „Verlust oder Gewinn von Geist“ die Reinkarnation bestimmen? Wird das Geistige hier quantitativ verstanden, ist es vielleicht reduzierbar bis auf einen minimalen Kern? Denn erlöschen kann es nicht, vorhanden ist es auch noch in der Muschel. Aber wie könnte die Muschel ihre Geisteskraft steigern, um zu einer Existenz als Landtier aufzusteigen und gar dereinst wieder ein Mensch zu werden? Lassen wir diese Fragen offen. Platons Bild der Reinkarnationen im Timaios entspricht einem Schema, das in seinen konkreten Details nicht ernst zu nehmen ist (z.B. werden Männer, die ungerecht und feige waren, im folgenden Leben zu Frauen!), jedoch enthält es als wahren Kern die Aussage, dass alles in dieser Welt vom Geistigen durchdrungen und geprägt ist; dies gilt für die Kosmologie, die als „wahrscheinliche Lehre“, e„këj lÒgoj, dargeboten wird, und ebenfalls für den phantastischen Mythos vom Seelengeschick. Auf die Fragen, inwiefern Geistiges versagen kann, wenn es doch in seinem Wesen immer gut ist, welche Einflüsse es schwächen, ob es seine Kraft etwa gänzlich verlieren mag, findet sich bei Platon keine eindeutige Antwort. Ins Böse wandeln kann das Geistige sich nicht (anscheinend gibt es für Platon keine gezielt böse geistige Planung), und vergehen kann es niemals, selbst wenn es ewig dem Tartaros verfallen bleibt. Plutarch, der stark am Phänomen des Bösen interessiert war, hat von solchen Fragen ausgehend Konsequenzen gezogen, die über Platons Seelenauffassung hinausführen. Im Mythos seiner Schrift Über die späte Vergeltung durch die Gottheit schildert er jenseitige Qualen böser Seelen, die an schauriger Drastik Platons Bilder weit übertreffen. Vollstreckerinnen der Strafen sind drei göttliche Instanzen, Poine, Dike und bei den „Unheilbaren“ Erinys.32 Für jene Übeltäter, die bereits im Erdenleben Bestrafung erfahren hatten, sind die jenseitigen Strafen weniger heftig, und sie werden nur am „vernunftlosen und leidenschaftlichen“ Seelenteil vollzogen, am ¥logon kaˆ paqhtikÒn. Demnach gibt es aber auch eine Bestrafung an der Geistseele! Weiter wird berichtet: Andere werden gezwungen, das Innere der Seele nach außen zu kehren, wie es den Meerwürmern geschieht, die sich am Angelhaken umstülpen; am schlimmsten aber ergeht es jenen, bei denen „die Schlechtigkeit im geistigen 31 32
Ti 92c (sowie 90e–92b). Plutarch De sera numinis vindicta c. 25, 564 E–F.
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und höchsten Teil der Seele“ verankert ist, ™n tù logistikù kaˆ kur…J t¾n mocqhr…an œcontej.33 Für Plutarch existiert also beim Menschen das Böse auch im Geistigen. Wenn solche bösen Seelen sich aber als unheilbar erweisen, so werden sie nicht nur gequält, sondern schließlich vernichtet: Erinys, so hören wir, „jagt die Umherirrenden und Fliehenden und vernichtet sie auf je verschiedene Weise, alle aber jammervoll und entsetzlich, und sie stürzt sie hinab ins Unnennbare und Unsichtbare“.34 – Anders als bei Platon können nach dieser Darstellung Seelen, geistige Wesen, ausgelöscht werden. Allerdings gibt es in der Weltsicht dieser Zeit auch keinen Tartaros, keinen unterirdischen Ort ewiger Verbannung, sondern der Bereich für Reinigung wie Strafen wurde im Luftraum zwischen Erde und Mond angenommen, wo der Verbleib von unrettbar Bösen wohl schwer einzuordnen wäre. Dennoch ist es bemerkenswert innerhalb der Tradition des Platonismus, dass für Plutarch entgegen den Lehren Platons das Bösewerden des Geistes wie auch dessen Vernichtung möglich erscheint. III. Welche Verantwortung hat der Mensch? Erhält er eine göttliche Führung? Dass der Mensch die Aufgabe hat, sich auf das Geistige hin zu orientieren – im Phaidon heißt es, er solle zu sterben lernen –, ist selbstverständliche Grundlage von Platons Auffassung unseres Daseins. Wir sind verantwortlich für die Art, wie wir unser Leben führen, und im Sinne der Mythen werden wir die Folgen dereinst erfahren, sei es durch einen Richterspruch nach dem Tod und erfreulichen oder bitteren Phasen in einer jenseitigen Existenz, sei es in einer neuen Inkarnation, die sich als unmittelbare Konsequenz des jetzigen Lebens ergibt. Nun hat Platon das Motiv unserer Verantwortung im Mythos der Politeia in besonderer Weise gestaltet und herausgehoben. Nach dieser Version werden alle Seelen nach einem tausendjährigen Aufenthalt in finsteren Abgründen oder lichten Höhen im Jenseits erneut zusammengeführt und zu einem höchsten kosmischen Ort geleitet, wo sich das Zentrum allen kosmischen Geschehens, nämlich der Sphärenumläufe, befindet und wo ebenfalls die Menschenschicksale entschieden werden. Dies erfolgt aber nicht von außen her durch fremde Schicksalsmächte, sondern das künftige Leben wird von der Menschenseele selber bestimmt, wie es ein Sprecher der Göttin Lachesis verkündet; aus einer großen Zahl vorgegebener Lebensmodelle, parade…gmata, wählt eine jede Seele ihr Leben aus. Klar wird betont: „Die Verantwortung liegt beim Wählenden; der Gott ist ohne Schuld“, a„t…a ˜lomšnou, qeÕj ¢na…tioj.35 33
Plutarch De sera numinis vindicta c. 30, 567 A–B. Plutarch De sera numinis vindicta c. 25, 564F: Erinys ... ¥llon ¥llwj o„ktrîj dὲ kaˆ calepîj ¤pantaj ºf£nise kaˆ katšdusen e„j tÕ ¥rrhton kaˆ ¢Òraton (¢fan…zw in der Bedeutung „beseitigen“ auch c. 32, 567E). Die Vernichtung von Unheilbaren wird ebenfalls erwähnt c. 6, 551D. 35 Resp 617e.
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Platons Sokrates ergeht sich danach in ausgiebigen Ermahnungen, man müsse bedenken, wie bedeutsam diese Entscheidung sei, und müsse sich schon hier auf sie vorbereiten, um in diesem und jedem künftigen Leben glücklich zu sein. Im Zusammenhang mit der Lebenswahl, wie Platon sie schildert, ergeben sich manche Fragen. Die Wahl als eine Entscheidung ist ein geistiger Akt, jedoch zeigt sich hierbei, dass die Geisteskraft der Seelen getrübt sein kann. Am deutlichsten wird dies am ersten Beispiel demonstriert, da eine Seele ein Tyrannenleben wählt, ohne zu bedenken, welche Greuel darin impliziert sind, das Verschlingen der eigenen Kinder und sonstige Übel, pa…dwn aØtoà brèseij kaˆ ¥lla kak£. Demnach kann der Geist auch im Jenseits sich irren oder verblendet sein. Tausend Jahre der Läuterung scheinen nicht immer erfolgreich zu wirken! Platon erklärt hierzu, dass gerade jene Seelen, die im Jenseits die Freuden des himmlischen Daseins erfuhren, zu falschen Entscheidungen neigten, da sie „ungeübt im Leiden“ seien, pÒnwn ¢gÚmnastoi, während die anderen, die unterirdische Qualen erlitten, zumeist ihre Wahl mit mehr Bedacht träfen. Generell aber dominiere die Gewohnheit, sun»qeia, vom früheren Leben her, welche sich, wie die angeführten Beispiele zeigen, in der Wahl eines ähnlichen oder aber konträren Lebens äußert.36 Zu fragen ist weiterhin, wieviel Freiheit dem Menschen auf Erden nach der jenseitigen Entscheidung bleibt. Könnte der Tyrann den Kindermord, den sein Lebensmodell einschließt, vielleicht doch vermeiden? Immerhin betont der Sprecher der Lachesis, als er den Seelen die Wahl erklärt, dass die Tugend herrenlos sei, ¢ret¾ dὲ ¢dšspoton, und es an jedem Einzelnen liege, ob er mehr oder weniger von ihr erlangen werde. Bliebe also selbst für den Tyrannen ein Spielraum der Besserung und Vervollkommnung offen? Allerdings verlautet später, die Seele verändere sich aufgrund der Wahl, denn ihre t£xij, ihre Ordnung oder ihr Rang, sei im Lebensmodell nicht mitenthalten.37 Wieweit ist dann aber von einer Kontinuität der Person, der Individualität auszugehen? Ein anderes Problem resultiert aus einem Phänomen, das ich bisher nicht erwähnt habe. Die Seelen werden zuerst gar nicht zur Wahl ihres Lebens, sondern zur Wahl ihres Daimons aufgerufen: „Nicht euch wird der Daimon erlosen, sondern ihr werdet den Daimon wählen.“ Mit dieser Formulierung korrigiert Platon die Version des Phaidon, nach welcher der Daimon den Menschen fürs Erdenleben erloste und danach die Seele in den Hades führt.38 Im Mythos der Politeia ist nun der Daimon unmittelbar an das Lebensmodell gekoppelt, denn zugleich mit dem Daimon wählt die Seele ihr künftiges Leben, oder mit dem Leben ihren Daimon. Diesen sendet die Schicksalsgöttin Lachesis zusammen mit der Seele in die neue Inkarnation als den Wächter über das Leben und als Erfüller, Vollstrecker dessen, was gewählt wurde, ... Ön e†leto da…mona toàton
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Resp 619 b–e; 620 a–d. Resp 617e; 618b. 38 Resp 617e; Phd 107d. 37
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fÚlaka sumpšmpein toà b…ou kaˆ ¢poplhrwt¾n tîn aƒreqšntwn.39 Wenn der Daimon also für den Ablauf des Lebens gemäß der getroffenen Wahl zu sorgen hat, so stellt sich die Frage, ob er tatsächlich einwirkt beim Handeln des Menschen, ihn vielleicht beeinflusst, inspiriert, und ob er dann etwa auch zu bösem Tun anregen könnte und für die Frevel eines Tyrannen mit verantwortlich wäre. Platon gibt in diesem Mythos keinen Hinweis, wie das Wirken des Daimons zu verstehen ist. Da aber für Platon höhere Wesen, insofern auch Daimones, immer nur Gutes verursachen, bleibt die Frage, in welcher Weise der Daimon beim Tyrannen fungiert, ungeklärt. Eine hilfreiche ergänzende Notiz findet sich in anderem Zusammenhang bei Platon, in keinem Mythos, sondern einem juristischen Kontext. In den Nomoi wird der Fall erörtert, dass ein Mensch trotz seiner Mordabsicht sein Opfer nur verwundet hat. Ihn solle man, so heißt es, einem Prozess wegen Mordes unterziehen, jedoch solle man Rücksicht darauf nehmen, dass sein Daimon es nicht so schlecht mit ihm gemeint habe, indem er nämlich aus Mitleid mit ihm und seinem Opfer für dieses den Tod verhinderte, für den Täter aber, dass er von einem fluchbeladenen Geschick betroffen würde. Daher solle dieser nur in die Verbannung geschickt, nicht aber getötet werden.40 Hier vermag es also der Daimon, Schlimmstes zu verhüten. Allein an dieser Stelle erwähnt Platon dessen milderndes Einwirken auf böses Planen, jedoch erklärt er auch im Übrigen gar nicht, wie sich die leitende Funktion des Daimons auf die von ihm betreute Seele bekundet. Auch wird lediglich in den Mythen von Phaidon und Politeia dieser persönliche Daimon eingeführt und je in unterschiedlicher Weise dargestellt. Im Phaidon erfahren wir nur von den Seelen der Verstorbenen, wie verschieden sie sich im Hadesbereich gegenüber dem sie leitenden Daimon verhalten; manche Seelen widerstreben oder zeigen sich so störrisch, dass sie ohne Führer bleiben und nur gewaltsam an ihren gebührenden Strafort gezogen werden, während andere dem Daimon willig folgen und manche sehr reine Seelen sogar Götter als Führer erhalten. In anderen Werken Platons (abgesehen von der oben genannten Passage der Nomoi) kommt dieser Daimon, der einer Seele persönlich als Geleiter zugehört, nicht vor. Im Timaios hat Platon eine Umdeutung vorgenommen: Hier erklärt er den Geist, noàj, im Menschen als seinen Daimon.41 Es ist daher nicht verwunderlich, dass spätere Platoniker die Vorstellung des persönlichen Daimons keineswegs generell übernommen haben. Plutarch, der in seinen Werken ausgiebig das Daimon-Thema behandelt, spricht von einem solchen individuellen Seelenführer allein in der Schrift Über das Daimonion des Sokrates, wobei er als neue Version einführt, dass nur sehr wenige, ausgewählte Menschen von einem Daimon geleitet werden.42 Interessanterweise gilt eben39
Resp 620d. Lg 876e–877a. 41 Phd 108 a–c; Ti 90 a und c. 42 Plutarch De genio Socratis c. 16, 585F–586A; c. 24, 593A–594A. 40
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falls für die beiden Mittelplatoniker des zweiten Jahrhunderts, Maximos von Tyros und Apuleius, dass sie jeweils nur in Texten, die sich mit dem sokratischen Daimonion befassen, auf das Phänomen des persönlichen Seelenführers eingehen; Maximos verzeichnet dabei die Einschränkung, dass schändliche Seelen keinen Daimon als Führer erhielten, wodurch das Problem, das sich für Platons Tyrannen ergibt, entfällt.43 Von einer Wahl des Daimons sprechen alle diese Autoren nicht. Alkinoos schließlich, der in seinem Didaskalikos (im 2. Jahrh.) alle wichtigen Lehren des Platonismus dargestellt hat, erwähnt den persönlichen Daimon überhaupt nicht. Erneut wird dieser der Seele zugeordnete Daimon behandelt bei Neuplatonikern; dazu sollen hier nur einige Bemerkungen folgen. Porphyrios berichtet in seiner Plotin-Biographie, dass ein ägyptischer Priester in Rom sich erboten habe, den persönlichen Daimon Plotins durch Beschwörung zum Erscheinen zu bringen. Die Beschwörung fand im Isis-Tempel zu Rom statt und hatte Erfolg; erschienen aber sei, so hören wir, kein Daimon, sondern ein Gott oder (wie es später heißt) einer der „göttlicheren Daimones“.44 Weiter notiert Porphyrios, Plotin habe aufgrund dieses Geschehens seine Schrift Über den Daimon, der uns erloste verfasst. Plotin hat sich allein in diesem Werk, nirgends sonst zu diesem Thema geäußert. Entgegen dem Titel, den Porphyrios dem Traktat gab, sagt Plotin, dass wir den Daimon selber wählen (gemäß Platons Politeia), und hebt die Bedeutung dieser Wahl hervor.45 Ferner vertritt Plotin die Lehre, dass es Daimon-Wesen von verschiedenen Graden oder Stufen gebe und dass die Leitung erfolgen könne durch einen Gott oder durch Daimones von höherer oder niederer Art.46 Während Platon allein im Phaidon erwähnt, dass Seelen – freilich nur im Jenseits – auch von Göttern geleitet werden könnten, gibt es für Plotin die unterschiedlichen Grade der höheren Führer für die Menschen in diesem Leben, und seine Theorie der möglichen Führung durch einen Gott stimmt mit der bei der Beschwörung bekundeten Epiphanie eines Gottes überein. Plotin wendet sich aber auch der Frage der Führung geringerer Seelen zu, zwar nicht hinsichtlich der Frevler, wohl aber der Tiere, da er diese in die Skala der Reinkarnationen mit einbezieht. Er überlegt, welcher Daimon bereit wäre, ein Tier zu führen, und vermutet, dieser müsse 43
Maximos von Tyros Or 8 und 9. Zum Fehlen des Daimons bei bösen Seelen Or 8 Z. 212f. Ferner wird gesagt, es gebe Daimones von vielerlei Wesensarten, die denen der Menschen entsprechen, Or 8 Z. 207ff.; Apuleius De deo Socratis 150–167. Hier findet sich 155 eine sonst nicht bezeugte Version: Der Daimon wirkt mit beim Totengericht als Beistand der Seele und Zeuge, und gemäß seinem Zeugnis wird das Urteil gefällt, illius testimonio ferri sententiam. 44 Porphyrios Vita Plotini c. 10, 15–53. Porphyrios hatte diese Beschwörung selber nicht miterlebt; die Biographie verfasste er Jahrzehnte später, nach Plotins Tod, in seinem 68. Lebensjahr (vgl. Vita Plotini c. 23,13), also ca. 302 n. Chr. 45 Plotin III 4 [15] 3, 8ff.; 5, 1ff. 46 Plotin III 4 [15] 6, 1ff.
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wohl schlecht oder töricht sein, À ponhrÒj ge À eÙ»qhj.47 Niemals sonst in seinen Schriften erwägt Plotin auch nur die Möglichkeit, es könne böse Daimones geben. Diese singuläre Äußerung dürfte als eine Konsequenz aus Platons unbeantworteter Frage nach der Daimon-Führung bei niederen, unverständigen Seelen zu verstehen sein; zum Problem, wer die Tiere leitet, sagt Platon freilich nichts. Als Führer der Menschen sind nach Plotin die Daimones gute, hilfreiche Wesen, die jeweils der geistigen Entwicklungsstufe des Einzelnen entsprechen. Den geistigen Aufstieg aber muss der Mensch selber aus eigener Kraft vollziehen, dann kann er auch einen Gott als Führer erhalten. Für die Aktivierung unserer geistigen Kräfte plädiert auch Porphyrios, wie sich deutlich in seiner Altersschrift zeigt, dem an seine Frau gerichteten Brief an Markella, in welchem er den Weg der Philosophie und damit den Aufstieg zum Göttlichen, die „Angleichung an Gott“ (nach Platons Formel), als das wahre Ziel des Menschseins darstellt.48 Daimones als Geleiter fehlen hier, vielmehr wird die eigene Verantwortung des Menschen betont, und diese betrifft primär das Böse. Denn als Urheber alles Guten, so lesen wir, haben wir den Gott anzusehen, doch „schuldig am Bösen sind wir, die wir gewählt haben; der Gott ist ohne Schuld“, heißt es in Anlehnung an die vielzitierte Aussage in Platons Politeia.49 Noch schärfer wird später formuliert: „Kein Gott ist schuldig am Bösen für den Menschen, sondern der Geist, der es für sich gewählt hat“, kakîn ¢nqrèpJ oÙdeˆj qeÕj a‡tioj, ¢ll¦ noàj ˜autù Ð ˜lÒmenoj.50 Dass der wählende, sich entscheidende Geist das Böse verursacht, geht über Platons Denken hinaus, doch werden dabei wohl nur die Folgerungen gezogen aus dessen Jenseitsbild, wonach Seelen bei der Wahl sich für Schlimmes entscheiden können, wie im Tyrannen-Beispiel, sei es auch aus Unverstand, geistiger Schwäche. Porphyrios setzt hier klar die bewusste, vom Geist zu verantwortende Entscheidung für das Böse ein und bezieht den Vorgang offenbar auf sich wiederholende Situationen in unserem Leben. Auch in den wenigen anderen erhaltenen Schriften des Porphyrios ist von einem persönlichen Daimon nirgends die Rede, wohl aber in einer verlorenen frühen Schrift, dem Brief an Anebo, der an einen fiktiven ägyptischen Priester adressiert war. Darin hat Porphyrios vielerlei philosophische und religiöse 47
Plotin III 4 [15] 6, 18f., vgl. 3, 16ff. Porphyre, Vie de Pythagore. Lettre à Marcella, ed. Des Places (1982). Zum Aufstieg der Seele passim, zur Ðmo…wsij qeù (nach Plat. Tht 176a) Porphyrios Ad Marcellam c. 16 (S. 115, 8), vgl. c. 17 (S. 116, 7). Dass Porphyrios bei der Abfassung der Schrift an der Schwelle des Alters stand, sagt er c. 1 (S. 104, 12). 49 Porphyrios Ad Marcellam c. 12 (S. 112, 14ff.). 50 Porphyrios Ad Marcellam c. 24 (S. 119, 23ff.). Der sic überlieferte Text ist nicht zu ändern; manche Herausgeber korrigieren noàj, so coni. mÒnoj Nauck, aÙtÕj Mai und Pötscher. – Mit der Frage des persönlichen Daimons im Sinne von Platons Politeia und dem Problem unserer Freiheit hat Porphyrios sich in einer verlorenen Schrift auseinandergesetzt, von der einige Passagen erhalten sind, vgl. Porphyrios Fragmenta ed. A. Smith (1993) F 268, bes. Z. 15ff., 74ff. 48
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Fragen gestellt sowie eigene Ansichten, dabei auch zum persönlichen Daimon, vorgetragen. Erhalten ist die umfangreiche Antwortschrift Jamblichs, bei uns unter dem Titel De mysteriis bekannt, die Zitate aus Porphyrios, Kritik daran sowie eigene Lehren Jamblichs (häufig im Gewand ägyptischer oder chaldäischer Traditionen) enthält. Im neunten Buch, das dem Daimon als Seelenführer gewidmet ist, widerlegt Jamblich verschiedene Thesen des Porphyrios, darunter auch die dem Timaios folgende Annahme, der Geist in uns, der noàj, sei der Daimon; für Jamblich ist diese „philosophische Lehre“, filÒsofoj dÒxa, etwas Unmögliches, da somit die Eigenexistenz der Daimones aufgehoben wäre.51 Dagegen legt Jamblich als „wahre Lehre“, ¢lhq¾j lÒgoj, über den Daimon dar, dieser sei im Jenseits präexistent und die Seele wähle ihn sich dort als ihren Führer; er sei der „Erfüller“ der Lebenswege, ¢poplhrwt»j (wie bei Platon), dazu habe er die Funktion, die Seele mit dem Körper zu verbinden, doch gebe er dem Menschen auch die Antriebe zu allem seinem Tun und Denken ein. Solche präzise Aussagen finden sich bei Platon und anderen Platonikern nicht, sondern es bleibt jeweils offen, in welcher Weise der Daimon wirkt. Jamblich aber scheint davon überzeugt, dass wir weitgehend von unserem Daimon inspiriert und abhängig sind. Jedoch zeigt er auch dessen Grenzen auf, denn – so meint er – der Mensch vermag es, einen geistigen Aufstieg über die Ebene der Daimones hinaus zu erreichen: Dann nämlich gewinne er einen Gott als Führer. Eine besondere Hilfe dazu bietet eine sowohl rituelle wie geistige Praktik, die Theurgie, auf die hier nur kurz hingewiesen werden kann. Sie bedeutet ein Zusammenwirken göttlicher und menschlicher Kräfte. Mittels der Theurgie wird es möglich, anstelle eines Daimons einen Gott als Führer zu erhalten, vor dem dann der Daimon weicht oder sich ihm unterordnet.52 Nach der Vorstellung Plotins ist außergewöhnlichen Menschen ein Gott als Führer zugeordnet; dagegen kann bei Jamblich der Mensch selber durch geistiges Bemühen und spezielle religiöse Riten diese höhere Führung erlangen. – Von Platon sind wir hier weit entfernt. IV. Wie wird die Seele aufgefasst? Wie sind die Tiere einzuordnen? Während Platon im Mythos des Gorgias die Seele zwar als verschieden vom Körper, aber doch mit quasi körperlichen Symptomen darstellt, behaftet mit Narben und Schwielen, die freilich von seelischen Verfehlungen herrühren53, vollzieht er im Phaidon einen entscheidenden philosophischen Schritt, indem er alles Seiende in zwei Bereiche unterteilt, dÚo e‡dh tîn Ôntwn, in das Sichtbare, Körperliche sowie das Unsichtbare, Geistige, und die Seele als dem Unsichtbaren ähnlich und verwandt erklärt, ohne sie aber den Ideen
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Jamblique Les Mystères d’ Égypte, ed. Des Places (1966), IX 8 (282, 6–15). Jamblich De mysteriis IX 6 (280, 1–281, 4). 53 Gorg 524d–525a.
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zuzurechnen.54 Diese Seelen-Definition wirkt sich in den mythischen Entwürfen des Dialogs aus, besonders deutlich in der auf diese philosophische Klärung folgenden mythischen Partie, in welcher es heißt, dass die völlig reine Seele unmittelbar in das Reich des Unsichtbaren, den wahren Hades (als ¢idšj) eingehen darf.55 Die anderen Seelen dagegen werden „schwer“ und von „Erdartigem“ und „Körperhaftem“, geîdej, swmatoeidšj, durchdrungen. Sie trachten nach dem Sichtbaren, irren eine Zeitlang umher, um sich bald erneut zu inkarnieren, und zwar ihrem Wesen, Ãqoj, gemäß in unterschiedliche Tiere oder bestenfalls mittelmäßige Menschen. Es ist evident, dass diese Version der Tierinkarnationen ironisch gemeint ist (die Gefräßigen werden „natürlich“ Esel, die Tyrannischen Wölfe oder Habichte, ordentliche Bürger werden Bienen oder Ameisen etc.).56 Wie aber soll man sich das Wesen der Seele, ihre Substanz, oÙs…a, vorstellen, wenn sie schwer werden, von Körperlichem durchdrungen sein kann? Mit Platons Dreigliederung der Seele seit der Politeia werden zwar viele seelische Gegebenheiten, auch Konflikte klarer erfassbar, aber die Frage, was die Seele eigentlich sei, bleibt weiter ungewiss. Dass der Mythos der Politeia von ihren grausamen, quasi körperlichen Qualen im Tartaros erzählt, wurde schon erwähnt. Weiter erfahren wir, dass bei der neuen Inkarnation der Übergang zwischen Menschen- und Tierdasein offenbar problemlos erfolgt; Orpheus wird ein Schwan, Agamemnon ein Adler, und viele Tiere werden Menschen.57 Nach welchen Kriterien aber sollten Tiere gerichtet werden, und wie könnten sie ihr Leben wählen? Besitzen sie dieselben drei Seelenbereiche und sind sie verantwortlich für ihre Lebensführung wie die Menschen? Viele Elemente dieses Mythos werden in dem des Phaidros aufgenommen, so auch der mögliche Wechsel zwischen Menschen- und Tierdasein bei einer jenseitigen Lebenswahl. Hier hat Platon jedoch modifiziert: Nicht jede Tierseele kann zum Menschen werden, sondern nur jene, die zuvor schon einmal Mensch gewesen ist. Denn als Bedingung für das Menschsein gilt, dass die Seele einst die Ideen geschaut hat bei der Himmelsumfahrt mit den Göttern und sich im Leben daran zu erinnern vermag.58 – Unter Platons verschiedenen Aussagen zur Tierinkarnation dürfte diese die einzige sein, die ein ernstes Fundament besitzt. Anscheinend war Platon von der pythagoreischen Lehre der Verwandtschaft alles Lebendigen, also zwischen Mensch und Tier, stark berührt und ist daher auf dieses Thema variierend wiederholt zurückgekommen; die Pflanzen bezieht er nicht mit ein, er hat sie im Timaios ausdrücklich als eine andere Art von
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Phd 79a–80b. Phd 80d–81a (vgl. 114c). 56 Phd 81b–82b. 57 Resp 620 a–d. Einschränkend wird zu diesem Wechsel 620 d4 nur gesagt: t¦ mὲn ¥dika e„j t¦ ¥gria, t¦ dὲ d…kaia e„j t¦ ¼mera. 58 Phdr 249 b–c. 55
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Lebewesen abgesondert.59 Was aber das Wesen der Seele sei – so heißt es im Phaidros –, ließe sich auf der menschlichen Ebene nicht sicher klären, sondern man könne nur im Bild und Vergleich sprechen; dennoch wird Wichtiges ausgesagt, vor allem, indem die Unsterblichkeit der Seele von ihrer ewigen Selbstbewegung her bewiesen wird.60 Dabei handelt es sich um das Unsterblichsein der Gesamtseele; nach dem Bild des Mythos hat der Lenker auch im Jenseits das Gespann zu zügeln und scheitert vielleicht am Eigensinn des einen Pferdes. Eine neue Sicht auf die Natur der Seele bietet der spätere Timaios. Hier wird erklärt, dass die Einzelseelen nur in ihrem geistigen Kern unsterblich sind, denn darin seien sie der Allseele verwandt; nach dieser mythischen Beschreibung habe der Schöpfergott sie aus den Resten der Mischung der Allseele gebildet, und sie seien nur in ihrem Mischungsgrad etwas weniger rein. Dagegen werden die emotionalen Seelenbereiche ihnen von den „gewordenen“ Göttern für die Inkarnation hinzugefügt, und diese Seelenteile bestehen aus den vier irdischen Elementen und sind sterblich wie die Körper.61 An der Geistseele – von rein geistiger Natur wie die Weltseele – haben alle Lebewesen Anteil, bis hin zu den niedersten Tieren, wobei die Geisteskraft sich vermindern oder steigern kann – wie auch immer dies zu verstehen sein mag. Wenn jedenfalls nach dieser Version alle Tiere geistiges Vermögen besitzen, stellt der Übergang zwischen der Menschen- und Tierexistenz kein prinzipielles Problem dar. Von der Ideenschau, die im Phaidros das Kriterium für das Menschsein bildet, ist im Timaios nicht die Rede. – Ergänzend sei hierzu eine doxographische Notiz erwähnt, die sich bei Aëtios findet.62 Als Lehre des Pythagoras und Platon wird angeführt, dass auch die Seelen der Tiere, die man vernunftlos nennt, vernünftig seien, logik¦j e nai ... t¦j yuc£j, dass sie sich nur nicht vernunftgemäß betätigen könnten wegen der ungünstigen Mischung, duskras…a, der Körper und weil ihnen das Sprachvermögen fehle, wie sich dies bei Affen und Hunden zeige: Sie denken zwar, sprechen aber nicht. Für die späteren Platoniker war nach dem Befund bei Platon die Frage der Seelennatur und der Tierinkarnation nicht leicht zu beantworten. Alkinoos, der im zweiten Jahrhundert den Didaskalikos, ein Schul-Lehrbuch des Platonismus, verfasste, schreibt,63 evident sei, dass die Vernunftseelen, logikaˆ yuca…, nach Platon unsterblich sind, ob aber auch die unvernünftigen Seelen, ¥logoi, dies wäre zweifelhaft, umstritten. Er selber argumentiert, sie könnten nur sterblich und vergänglich sein, da ihnen nicht dieselbe Wesensart, oÙs…a, eigne wie den Vernunftseelen. Für Salustios, der im vierten Jahrhundert platonische Lehren aufzeichnete, sind die unvernünftigen Seelen unbedingt sterblich;64 Tierin59
Ti 77 a–c. Phdr 245c–246c. 61 Ti 41b–42c (zur „Mischung“ 41 d4ff.). 62 Aëtios V 20,4. 63 Alkinoos Didask c. 25 (178, 24–32). 64 Salustios (vgl. Anm. 24) VIII 1 und XX 1. 60
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karnationen hält er insofern für möglich, als die Vernunftseele (die ja als einziges unsterbliches Element die personale Fortdauer bedingt) dabei von außen her, œxw, das Lebewesen begleite, in der Funktion, die unser Daimon bei uns hat, denn ein Wandel einer Vernunftseele ins Vernunftlose könne niemals erfolgen. Plutarch hat die Möglichkeit der Tierinkarnation nur einmal in seine Jenseitsbilder einbezogen, im Mythos der Schrift Über die späte Vergeltung durch die Gottheit.65 Hier schildert er höchst ironisch, wie die Seelen für ihre neue irdische Existenz von einer Art himmlischer Handwerker zurechtgebogen und -gehobelt werden; dabei sollte die Seele Neros die Gestalt einer Schlange erhalten, doch habe eine bei strahlendem Licht ertönende Stimme geboten, Nero solle statt dessen in ein singendes Tier, das an Seen lebt – einen Schwan – gewandelt werden zum Lohn für seine Wohltaten für Griechenland, denn gebüßt habe er schon genug. – Als sehr viel seriöser sind, trotz der Phantastik des Mythos, Plutarchs Gedanken über die Wesensart der Seele zu bewerten, wie er sie in der Mond-Schrift entwickelt hat (worüber schon berichtet wurde).66 Danach unterscheidet sich die Seele mit ihrer ätherischen, also quasi-materiellen Natur vom Geist; sie löst sich nach einer gewissen Zeit in der Äther-Substanz des relativ erdnahen Mondes auf, während der unzerstörbare Geist in höhere Sphären emporsteigt. Die Frage, ob die nicht-geistigen Seelenteile sterblich sind, erhält somit eine neue Antwort: Sie sind nicht im Sinne des Timaios sterblich, wo sie aus den vier Elementen bestehen und sich wie der Körper im Erdbereich auflösen, aber ihre andersartige, feinere Substanz ist dennoch nicht unvergänglich, sondern sie gelangt nur bis zu einer bestimmten Region des Kosmos, hier bis zum Mond, von wo sie auch herstammt. Diese Vorstellung, dass es nicht nur die platonischen dÚo e‡dh tîn Ôntwn, gebe, das Geistig-Erfassbare und das Sinnlich-Wahrnehmbare, sondern dass zwischen dem rein Geistigen und dem Irdisch-Materiellen etwas Mittleres existiere, eine Art feinerer Materie, scheint sich in jener Zeit verbreitet zu haben. Da man ebenso die Daimones wie die Seelen als nicht absolut geistige Wesenheiten vom Göttlichen unterschied, ordnete man ihnen jene Art von Substanz zu, die man ätherisch, a„qšrioj, oder glanzartig, aÙgoeid»j, nannte; so berichtet der christliche Autor Hippolytos (um 220) in seiner Darstellung der platonischen Lehren67, dass manche Platoniker annähmen, die Seele habe einen glanzartigen Körper, sîma aÙgoeidšj, (allerdings ohne zu verstehen, dass dies nicht für die Geistseele galt). Später wird für diesen „Seelenkörper“ oft der Begriff Ôchma, „etwas, das trägt“, gebraucht.68 65
Plutarch De sera num. vind. c. 32, 567 E–F. Plutarch De facie in orbe lunae c. 28–30, vgl. oben Anm. 18 und den zugehörigen Text. 67 Hippolytos Refut. I 19, 10. 68 Vgl. dazu E.R. Dodds (ed.): Proclus. The Elements of Theology. Oxford 21963/1992, 313–321: Appendix II „The Astral Body in Neoplatonism“. 66
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Diese Aufgliederung in eine kosmisch bedingte und eine höhere geistige Seele, die Plutarch bereits im Gewande des Mythos vorgetragen hat, wird nun von den Philosophen als ernsthafte Lehre, eingebettet in zeitgenössische Vorstellungen vom Kosmos, vertreten, so von Numenios69 und vor allem Plotin70, worauf hier nur noch kurz hingewiesen werden kann. Nicht mehr wird, wie bei Plutarch, von einem „zweiten Tod“ gesprochen, auch ist die Grenzregion für den Fortbestand der nicht-geistigen Seele nicht der Mond, sondern die Fixsternsphäre, der äußerste Bereich des Kosmos. Während in Platons Timaios auch die Geistseele nicht höher als allenfalls bis zu ihrem Fixstern gelangen kann, scheint es den späten Platonikern möglich, dass sehr vergeistigte Seelen die Grenzen unserer sichtbaren Welt transzendieren und ins absolut Geistige eingehen können. Allerdings werden sie auch von da wieder in eine neue Inkarnation zurückkehren. Ergänzend sei noch angegeben, wie Plotin sich zur Frage der Tierinkarnationen verhält. Erstaunlicherweise nimmt er nicht nur Platons mythische Berichte darüber im Wortsinne ernst, bis hin zu den Seelen braver Bürger, die zu Bienen werden, sondern er bezieht auch noch die Pflanzen als Inkarnationsformen mit ein, wie es sonst nur Empedokles gelehrt hat, während Platon sie ausschließt.71 Er erklärt dazu, dass Menschen, die im hiesigen Dasein sich nicht dem Geistigen zuwandten, sondern nur gemäß der sinnlichen Wahrnehmung lebten, zu Tieren werden, wobei die seelischen Verschiedenheiten die unterschiedlichen Tierarten bedingen; jene Menschen aber, bei denen selbst die Wahrnehmungskraft durch stumpfe Trägheit geprägt war, würden zu Pflanzen, denn da in ihnen das Vegetative überwog, war ihr Leben wie eine Vorübung dazu, ein Baum zu werden, ¢podendrwqÁnai. Diese seltsame Vorstellung wird bei Plotin dadurch gestützt, dass er eine Lehre einführte, die sich von der anderer Platoniker unterschied (par¦ dÒxan tîn ¥llwn, wie er sagt); nach dieser Lehre inkarniert sich die Geistseele nie vollständig, sondern etwas von ihr verbleibt immer im oberen, geistigen Bereich, ™n tù nohtù.72 Wenn das Geistige sich in unterschiedlichem Grade inkarniert, lässt sich nicht nur die variierende geistige Energie und Wirksamkeit der einzelnen Menschen erklären, auch der Abstieg der Seele in niedere Existenzweisen von Tieren und sogar Pflanzen erscheint eher möglich. Jedoch ist auch nach Plotins These nicht leicht vorstellbar, wie eine Pflanze durch eigene Anstrengung bis zum Tierdasein und danach noch weiter aufsteigen könnte; das alte Problem aus dem Timaios, wie der Wechsel bei den Reinkarnationen zwischen der untersten und der höchsten 69
Zu Numenios vgl. oben Anm. 19. Plotin III 4 [15] 6,21–34; IV 3 [27] 24, 21–38. 71 Plotin III 4 [15] 2, 16–30 (zu den Bienen vgl. Phd 82b); zu Empedokles s. oben Anm. 9, zu Platons Aussage zu den Pflanzen Anm. 59. Die Reinkarnation in Pflanzen wird sonst nur noch in einem späten Referat zu Pythagoras bezeugt, Pythagoras Frg. 8 DK (I S. 100, 14) aus Diog. Laert. VIII 4. 72 Plotin IV 8 [6] 8, 1ff., vgl. IV 7 [2] 13, 13ff. sowie III 4 [15] 3, 24f.; IV 3 [27] 12, 35ff. 70
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Ebene durch den „Verlust oder Gewinn von Geist“ erfolgen solle, bleibt auch hier ungelöst. ______________________ Abschließend ist zu konstatieren: bei allen Varianten, die sich in Platons Mythen sowie deren späterer Ausdeutung oder Weiterentwicklung zeigen, auch bei den Ungewissheiten, die sich für manche kaum lösbaren Fragen ergeben, es liegt allen Visionen vom jenseitigen Seelengeschick oder der künftigen erneuten Erdenexistenz die feste Überzeugung zugrunde, dass wir für unser Dasein verantwortlich sind und nicht allein der Gerechtigkeit verpflichtet bleiben, sondern immer im Bewusstsein unserer geistigen Herkunft unser Leben gestalten und auf Geistiges hin orientieren sollen. Platon und alle Anhänger seiner Philosophie glaubten, dass nur darin die Erfüllung liegen könne und die eÙdaimon…a.
MYTHOS ALS KONKRETISIERTER LOGOS PLATONS VERWENDUNG DES MYTHOS AM BEISPIEL VON NOMOI X 903B–905D Christian Pietsch I. Seit dem Archegeten der modernen Mythos-Forschung im 18. Jh., Chr.G. Heyne, war man es gewohnt, im Mythos die vor- oder irrationale Ausdrucksform einer noch kindlichen Menschheit zu sehen, die im Laufe der Geschichte durch den begrifflich, kausalanalytisch verfahrenden Logos überwunden wird.1 Der wohl bekannteste altertumskundliche Vertreter dieser bis heute weiterwirkenden Position im 20. Jh. ist W. Nestle: „Jenes [das Mythische, C.P.] ist – unwillkürlich und aus dem Unbewußten schaffend und gestaltend – bildhaft, dieses [das Logische, C.P.] – absichtlich und bewußt zergliedernd und verbindend – begrifflich.“2 Sicher repräsentiert Nestle nicht die aktuelle Mythos-Forschung. So gibt es inzwischen einen weitgehenden Konsens, dass auch der Mythos auf seine Weise eine kausale Analyse der Phänomene leistet. Etwa W. Burkert definiert den Mythos als „eine traditionelle Erzählung, die als Bezeichnung von Wirklichkeit verwendet wird“, als erzählende „Verbalisierung komplexer, überindividueller, kollektiv wichtiger Gegebenheiten“. Er sieht in ihm ein biologisch oder kulturell bedingtes „Aktionsprogramm“, das für bestimmte Lebenssituationen ein je bestimmtes Handlungsschema vorgibt. So wird die Fülle der Erfahrungen bio- bzw. anthropomorph in Form von Handlungsfolgen auf wenige Deutungselemente zurückgeführt.3 Doch bei allem Bemühen, die spezifische Leistungsfähigkeit des Mythos als Mittel der Wirklichkeitsdeutung herauszuarbeiten, halten sich in der Mythos-Forschung doch auch wesentliche Konstanten der herkömmlichen Deutung in der Art Nestles: 1. Mythos und Logos wollen denselben Sachverhalt erklären; 2. der sinnlich konkrete Mythos und der abstrakt allgemeine Logos sind gegensätzliche, einander ausschließende mentale Aktivitäten; 3. beide treten – zumindest prinzipiell – sukzessiv auf, wobei der Logos den Mythos verdrängt.4 1
Heyne [1785]; siehe dazu Graf [1993]; zu Umfeld und Weiterwirkung Heynes Horstmann [1984] 288ff. 2 Nestle [1940] 1. Die noch immer weit verbreitete Präsenz dieser Sicht zeigt jüngst etwa Dreyer [1998] 8–10. 3 Burkert [1979] 29; vgl. auch Burkert [1981] 12; Burkert [1993], v.a. 17; ähnlich bei Kirk [1980]; Bremmer [1988] 1–9 („traditional tales relevant to society“); Graf [1985] 11–14; Buxton [1994] 9–17. 4 Hierzu seien nur einige ausgewählte, auf die Verhältnisbestimmung des antiken Mythos zum Logos bezogene Titel genannt. Mit positiver Bewertung der Überwindung des My-
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Wendet man sich speziell den Mythen zu, die Platon im Dienste der eigenen philosophischen Absichten verwendet,5 so zeigt sich, dass diese Verhältnisbestimmung von Mythos und Logos nicht passt. Denn Platon integriert seine Mythen in dialektische, also logisch-argumentative Diskurse. Im Gegensatz zur Auffassung, Mythos und Logos schlössen einander aus, kann Platon beide gleichzeitig und für dasselbe Beweisziel verwenden. Dieser Umstand hat den Interpreten nicht geringe Schwierigkeiten bereitet. So führte z.B. die Entwicklungshypothese zur Annahme einer geistigen Entwicklung Platons. Der Mythos wird zu einer „ersten Ahnung“, zu einer „vorbegriffliche[n] Anschauung“ Platons von dem, was er nicht oder erst später im Logos zu fassen vermochte.6 Ähnlich auch die These Schleiermachers vom Mythos als Mittel der – in der Sache verzichtbaren – Leserpädagogik.7 Im Gegenzug gibt es den in der Romantik gründenden Versuch, die rationalistische Abwertung des Mythos umzukehren. Dem Mythos wird ein durch den Logos nicht einholbarer, eigenständiger, etwa religiöser Bedeutungsgehalt zugesprochen.8 Beide Deutungen können jedoch dann nicht zutreffen, wenn Mythos und Logos, wie gesagt, gleichzeitig und in Bezug auf dasselbe verwendbar sind. thos durch den Logos: Snell [1980] 202f.; Kirk [1980] 263–288; Topitsch [1958]; Topitsch [1979]; mit negativer Bewertung: Hübner [1979]; Graf [1985] 7–57 (übersichtlicher Forschungsbericht); Schäfer [1996] 33–49. Auch Most [1999], der eine Wiederentdeckung des Mythos in der Philosophie der letzten 200 Jahre und deren Rückwirkung auf den Logos nachweist, stellt zumindest prinzipiell die herkömmliche Verhältnisbestimmung sowie die historische Sukzession von Mythos und Logos nicht in Frage (v.a. 25f.). 5 Hierzu zählen Krit 108e–121c (Staatsentstehung); Gorg 493a–c (Hadesstrafe für Zügellosigkeit); Gorg 523a–527e (Totengericht); Nomoi 644d–645c (Marionettenmenschen); Nomoi 677a ff. (große Flut); Nomoi 681e–682a (Gründung Ilions); Nomoi 713b–e (Staat zur Zeit des Kronos); Nomoi 903b–905d (Seelengericht, Metempsychose, Theodizee); Men 81b–c (Persephone); Phd 107c–115a (Seelenweg); Phdr 246a–249d (Lebensursprung); Phdr 259c–d (Zikaden); Phdr 274c–275b (Theuth); Plt 269c–274e (Umkehr des Weltlaufs durch Gott); Resp 359d–360b (Gyges); Resp 414c–415d (Seelenmetalle); Resp 514a–517a (Höhlengleichnis); Resp 614a–621d (Wahl der Lebenslose); Symp 203a–204a (Geburt des Eros); Ti 20d–25d (Staatsuntergang); Ti 27c–92 (Weltentstehung). Nicht berücksichtigt sind die nicht Platons Ansichten wiedergebenden Mythen, wie sie von Protagoras (Prot 320c–322d) und Aristophanes (Symp 189d–193d) vorgetragen werden. Die platonischen Mythen sind gesammelt bei Brisson [1983] 297. 6 Stöcklein [1937] 1–5; so bereits Hegel [1971] 108f.: „Man meint oft, die Mythen des Platon seien vortrefflicher als die abstrakte Weise des Ausdrucks … Genauer betrachtet ist es zum Teil das Unvermögen, auf die reine Weise des Gedankens sich auszudrücken …“; Zeller [1922] 580f.; in jüngster Zeit etwa bei Rudolph [1994], v.a. 97–103 (im Anschluss an Cassirer und Kolakowski). 7 D.F. Schleiermacher, Einleitung zu ‚Platons Werke‘, Berlin 1804, 34; Hirzel [1871]; Dreyer [1998] 9; Müller [1986] 110–125. 8 Vgl. etwa die in Schlegels [1956] ‚Gespräch über die Poesie‘ enthaltene ‚Rede über die Mythologie‘. Diese Position wirkt in der Platon-Forschung weiter bei Wili [1925] 18 (Überordnung des Mythos über den Logos in der Spätphase Platons); Wiggers [1927]
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Doch selbst eine sehr viel differenziertere dritte, vor allem in jüngerer Zeit vertretene These, die Mythos und Logos als gleichwertig und komplementär beschreibt, ruht noch immer auf der herkömmlichen Entgegensetzung logischer Rationalität und mythischer Irrationalität auf. So stellt etwa Szlezák u.a. der dialektischen Durchdringung der Wirklichkeit durch „den argumentierenden Logos“ als letztem Ziel des Philosophen einerseits die „Fähigkeit von Bildern und Geschichten, einen Sachverhalt ganzheitlich und intuitiv darzustellen“, als unentbehrliche Ergänzung der begrifflichen Analyse andererseits gegenüber.9 Dieser Ausgleich gelingt, weil unvermerkt nicht zu Vereinbarendes miteinander verbunden wird. Wird doch der Mythos einmal dem Logos als dem eigentlichen philosophischen Ziel untergeordnet, und werden ihm doch zugleich gleichsam als eigenem Weg zur Wahrheit auch intuitive Einsichten zugetraut, die die Fassungskraft des Logos übersteigen. Folgende Überlegungen knüpfen an erst jüngst erreichte grundlegende Fortschritte an. Etwa die Arbeiten von Kobusch, Büttner und Morgan konnten zeigen, wie sehr der platonische Mythos nicht Konkurrenz, sondern integratives Moment philosophischer Darstellung bei gleichzeitiger Orientierung am Logos ist.10 Dialektischer Diskurs und mythische Darstellung leisten eine Aufgabenteilung. Der Mythos setzt den Logos gleichsam in einen visualisierten Schattenriss um, transportiert ihn auf die Ebene bildhafter Vorstellung. Um Systemstelle und Funktion dieser Leistung des Mythos präzise bestimmen zu können, soll – anstelle der vielfältigen, methodisch schwer beherrschbaren Bedeutungen des Wortes mythos11 – im Sinne der methodischen Forderung Morgans in strikt kontextbezogener Interpretation eine Passage, der in der Forschung kaum berücksichtigte Mythos in Nomoi X 903b–905d, behandelt werden.12 Wie sich 12–26 (v.a. 16f., 25f.), 27; Reinhardt [1927]; Frutiger [1930] 215–225 (zumindest bei den sog. „Mythes parascientifiques“, zu denen auch der von Frutiger [1930] nicht behandelte Mythos Nomoi 903b–905b zu zählen wäre); Loewenclau [1958]; Pieper [1965]; Dönt [1995]; Nesselrath [1999] 20f. 9 Szlezák [1993] 136; Lain-Entralgo [1958] (Logos ist auf den rationalen, Mythos auf den irrationalen Seelenteil bezogen); Hirsch [1971], z.B. 218f. (Mythos bringt die durch Logos nicht fassbare Lebendigkeit der Idee bzw. der Seele zum Ausdruck); Papadis [1989] 26f.; Brisson [1994] 144–151; Gaiser [1984] 125–152, v.a. 134–136 und 140– 150; Graf [1985] 9f.; Murray [1999]; Rowe [1999a]. Die beiden letztgenannten Arbeiten mildern den Gegensatz von Mythos und Logos insofern, als das Vorhandensein des Mythischen auch im Logos nachgewiesen wird. Die Bestimmung von Mythos und Logos als Elemente dieser Mischung beruht jedoch weiter auf der – undiskutiert vorausgesetzten – herkömmlichen Entgegensetzung von ‚rational‘ und ‚irrational‘. 10 Kobusch [1990]; Büttner [2000]; Morgan [2000] 155–291. 11 Bei Brisson [1994] 177–183 findet sich eine hilfreiche Übersicht über die Fülle der Bedeutungsschattierungen dieses Begriffs im Corpus Platonicum. 12 Die von mir eingesehenen Arbeiten zur Stelle geben durchweg für die Klärung der Funktion des Mythos und seines Verhältnisses zum Logos wenig her: Kucharski [1954] (die noch immer genaueste Analyse des Gedankenganges und methodische Einordnung
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zeigen wird, erweist er sich aufgrund der dort deutlich durchgeführten Relationierung von Mythos und Logos als besonders geeignet. II. Das 10. Buch bildet das inhaltliche Zentrum der Nomoi. Gegen positivistische Vorstellungen wird die Naturgegebenheit des menschlichen Rechts theologisch begründet und das Verfassungswerk Platons erst eigentlich legitimiert. Dieser Diskurs, „das schönste und beste Prooemium für alle Gesetze“ (887b–c), weist erstens die Existenz der Götter (885e–899d), zweitens deren Fürsorge für die menschlichen Dinge (899d–905c) und drittens ihre Unbestechlichkeit (905d– 907b) nach. Dabei fällt auf, dass beim zweiten Schritt, der sich mit der göttlichen Providenz befasst, auf den eigentlichen Beweisgang noch ein Mythos folgt (903b–905b). Dieser Umstand könnte Aufschluss über die Funktion des Mythos bei Platon gewähren. Dazu ein Vergleich der ersten beiden Beweisschritte. Im ersten Schritt wird ein kosmologischer Gottesbeweis geführt.13 Der zeitgenössische Atheismus, so zeigt der Athenische Fremde (886b–891c), hat seine Wurzeln in einem popularisierten Gemisch vorsokratischer Naturphilosopheme und deren sophistischer Konsequenzen.14 In einem Zusammenspiel von Natur (physis) und Zufall (tychē) vollzögen die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft mechanisch je spezifische Bewegungen, die teilweise zu belebten Materialkomplexen führten. Die Seele werde so zum Epiphänomen zufällig entstandener Materialstrukturen. Produkt wiederum der Seele, also menschliche Setzung, seien die Kulturtechniken (technai), unter ihnen die Staatskunst (889b– 890a; 891c). Der Athenische Fremde sieht darin freilich eine Verkehrung der Kausalitäten. Denn jede physikalische Bewegung ist eine fremdbewegte Bewegung. Zur Vermeidung eines infiniten Regresses muss daher als erste Ursache eine selbstbewegte Instanz angenommen werden, die ‚Seele‘ (893b–896b), die so zur Bedingung der Möglichkeit kosmischer Ordnung wird. Anschließend wird aus der Vollkommenheit der seelenbedingten Weltordnung auf ihre Göttlichkeit geschlossen (897c–899b). Die antike Doxographie berichtet, Platon habe dem Astronomen Eudoxos die Aufgabe gestellt, die empirisch unregelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper auf regelmäßige Bewegungen zurückzuführen. Was als Ergebnis von Willkür oder Zufall erschien, sollte als rational und notwendig verstehbar gemacht werden. Dieses philosophische Programm der ‚Rettung der Phänomene‘,
in die platonische Dialektik); Görgemanns [1960] 213–218; Mohr [1978]; Steiner [1992] 173–178. 13 Der Argumentationsgang des ersten Beweisschrittes wird umfassend nachgezeichnet bei Görgemanns [1960] 193–207; Steiner [1992] 111–169. 14 Muth [1956] 146 spricht zu Recht von einer „materialistische[n] philosophische[n] koin»“; ihm folgt Steiner [1992] 109f.
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des sōzein ta phainomena,15 findet hier eine Entsprechung. Denn die Annahme einer göttlichen Schöpfungs- und Ordnungsinstanz ist nicht Ergebnis bloßer Spekulation. Gegenüber der materialistischen Deutung, die die Ordnung der empirisch zugänglichen Weltstrukturen mit Hilfe von Zufall und unzureichenden Kausalinstanzen erklären muss, kann sie mit dem planvollen Handeln von Göttern die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der zu erklärenden Ordnung benennen und so allein erst die Empirie verstehbar werden lassen. Der anschließende zweite Beweisschritt wechselt thematisch zur Frage nach menschlichem Handeln und göttlicher Providenz. Seine Voraussetzungen sind: 1. das Resümee des ersten Beweisganges: „weil eine Seele oder Seelen sich als Ursachen von all dem [d.h. des Kosmos, C.P.] erwiesen haben, die gut in jedweder Vollendung sind, werden wir sagen, sie seien Götter, ob sie in Körpern innewohnend als Lebewesen den ganzen Himmel ordnen, oder in sonst irgendeiner Weise“ (899b); 2. analog zum ersten Beweisschritt die scheinbare Widerlegung einer gerechten göttlichen Fürsorge für die Menschen durch gegenläufige Phänomene: durch die scheinbar glücklichen „Lebensläufe schlechter und ungerechter Menschen privat und öffentlich“ (899d–e). Die Frage ist nun, ob der zweite Beweisschritt analog zum ersten die Phänomene mit der Annahme gerechter göttlicher Fürsorge zusammenbringen kann. Für die Leugnung einer solchen Fürsorge hält der Athenische Fremde folgende Begründungen für denkbar: 1. moralische Defekte der Götter wie Feigheit, Trägheit und Leichtsinn (900d–901e); 2. Unkenntnis der menschlichen Dinge (902a); 3. Bedeutungslosigkeit alles Menschlichen in den Augen der Götter (902a– e). Diese Annahmen widersprechen jedoch der von allen zugestandenen Voraussetzung, dass „die Götter doch gut, ja sehr gut sind“ (901e; vgl. 899b). Das bedeutet umgekehrt, dass eine Vernachlässigung der menschlichen Angelegenheiten durch die Götter undenkbar ist. Doch endet der zweite Schritt damit noch nicht. Der Athenische Fremde fügt in 903b noch einen weiteren Abschnitt hinzu. Als Grund dafür gibt er an (903a–b), der Gegner habe zwar durch den Zwang des Logos (tōi biazesthai tois logois) die Verfehltheit seiner Behauptungen zugegeben (auton mē legein orthōs). Dennoch seien zusätzlich noch bestimmte Mythen (mythōn tinōn) im Sinne von Zaubergesängen (epōidōn) erforderlich. Zwischen beiden Textabschnitten besteht also eine methodische Differenz, und doch bilden beide offenkundig keinen einander ausschließenden Gegensatz. Vom Logos heißt es, er sei in der rechten Weise, im rechten Maß vorgebracht worden (metriōs dieilechthai). Er war also offenbar notwendig und als solcher fehlerfrei. Von den My15
Eudemus, Frg. 148 Wehrli (= TP 16 in: Gaiser [1968] 464).
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then dagegen wird gesagt, sie schienen noch zusätzlich notwendig zu sein (prosdeisthai). Der Logos bedarf also einer Ergänzung, die er als Logos nicht leisten kann. Logos und Mythos können keineswegs nach Belieben und mit jeweils demselben Effekt verwendet werden. Im Dienste desselben Beweisziels leisten beide Unterschiedliches.16 Was aber kann selbst ein vollkommener Logos allein nicht leisten? In 903b tritt dem biazesthai des Logos das peithein des Mythos gegenüber.17 Dies ist ja überhaupt für den Athenischen Fremden kennzeichnend, dass er Zustimmung nicht durch Zwang, sondern aus Überzeugung wünscht. Dabei fehlt keineswegs grundsätzlich jedem Logos die peithō. Im ersten und dritten Beweisschritt reichen, wie das dortige Fehlen von Mythen zeigt, offenbar die Logoi aus, um peithō zu bewirken. Nicht so beim zweiten Beweisschritt. Grund dafür ist, dass sich bei ihm trotz aller Korrektheit der Beweisführung keine Harmonie mit den Phänomenen einstellt. Es bleibt die Diskrepanz zwischen der durch den Logos bewiesenen göttlichen Providenz einerseits und der immer wieder empirisch konkret erfahrenen vermeintlichen Ungerechtigkeit in den menschlichen Dingen andererseits. Dabei unterscheiden sich die Voraussetzungen des zweiten Beweisschrittes von denen des ersten charakteristisch. Der erste Beweisschritt hatte vom unbestrittenen Phänomen kosmischer Ordnung auf einen umstrittenen Logos zu schließen. Dabei erwies sich der Gottesbeweis als der beste Logos, da er die Phänomene am stimmigsten erklären konnte. Die Untersuchungsrichtung wies gleichsam ‚von unten nach oben‘. Der zweite Beweisschritt geht umgekehrt von einem bereits gesicherten Logos, nämlich vom Ergebnis des ersten Beweisganges, aus. Dann aber muss eine gegenläufige Evidenz der Phänomene entweder falsch oder unvollständig sein. Die spezifische Leistung des Mythos im Rahmen des zweiten Beweisganges könnte also etwas zu tun haben mit einer Korrektur der unzureichenden empirischen Evidenz zwecks Gewinnung einer Harmonie mit dem Logos. Wie geht er dabei vor? Er weicht – für Platon nicht untypisch – von traditionellen Mythen insofern ab, als deren anthropomorph gestaltete Inhalte – Götter, Dämonen, Hadesbewohner, Heroen und Menschen18 – nicht in einen linearen Geschehensablauf von einem Anfang bis zu einem Ende eingepasst sind. Es wird ein situatives, 16
Es ist daher klar gegen die von Platon nachdrücklich hervorgehobene Abgrenzung von ‚Mythos‘, wenn Müller [1951] 94 in der Begrifflichkeit der vorliegenden Stelle keinen Unterschied mehr glaubt feststellen zu können: „Strenges Wissen mit Dialektik und Apodeiktik, wahrscheinlicher Logos, mythisches Erzählen, diese drei sind jetzt eins geworden.“ 17 Auch sonst wird von Platon dem Mythos eine spezifische Überzeugungskraft zugesprochen, speziell in Nomoi 804e5, 887d2, 913c1f., 927c7f.; weitere Stellen bei Brisson [1994] 144–151; Brisson [1996] 25. 18 Zu den Gegenständen der Mythen siehe Resp 377e–392c, zusammenfassend 392a4–9; vgl. Büttner [2000] 145–150.
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‚statisches‘ Geschehen ohne Weiterentwicklung berichtet. Trotz der akribischen Beaufsichtigung durch göttliche Kräfte (903b4–7) erscheine dem Einzelnen der Verlauf der menschlichen Dinge ungerecht, da ihm wegen seines beschränkten Blickfeldes die Relation zwischen dem für das Ganze und dem für den Einzelnen Besten verborgen bleibe. Obwohl nur ein winziger Teil des Ganzen (morion … pansmikron, 903c1f.), halte der Einzelne sich in perspektivischer Verzerrung selbst für Zentrum und Ziel des Weltgeschehens (heneka sou, 903c4). Er begreife nicht, dass allein das Wohl des Ganzen als Maßstab alles Werdens (genesis heneka ekeinou gignetai pasa, 903c3) letztlich auch dem Einzelnen wirklich nützt. Entgegen dem partiellen menschlichen Eindruck bleiben nach Ansicht des Athenischen Fremden Recht und Unrecht nicht ohne Folgen. In Wahrheit modifizierten nämlich die Handlungen und Interaktionen der Seelen deren jeweiligen charakterlichen Zustand immer wieder (903d3–5). So sorge Gott für immer neue Inkorporationen der Seelen und entsprechende Anpassungen ihrer individuellen Stellung innerhalb der Ordnung. Nicht die Phänomene an sich widersprechen also dem Logos, sondern die Mangelhaftigkeit des subjektiven Zugangs zu ihnen. Der Mythos korrigiert das, indem er eine umfassende phänomenale Perspektive bietet. Dabei verschiebt Gott, einem Brettspieler gleich (tōi petteutēi, 903d6), die seelischen Spielsteine (903d5–e1). Die Welt: ein Brettspiel, Gott: der Spieler. Hieraus ergeben sich die beiden ersten Botschaften des Mythos, nämlich dass 1. die Ordnung des Kosmos bestmöglich ist (to beltiston, 903c7; to ariston, 903d2), 2. innerhalb dieser Ordnung jede Menschenseele einen charaktergemäßen Platz erhält (903d6–e1). Dieses Grundmodell wird noch weiter ausgestaltet. Gott sieht, dass die seelenbedingten Handlungen in der Welt teils auf großer Vollkommenheit, teils auf großer Schlechtigkeit beruhen (904a6f.). Als Handlungssubjekte fungieren leibseelische Lebewesen. Seele und Körper sind je für sich unvergänglich (anōlethron), der aus ihnen gebildete leibseelische Komplex dagegen nicht (ouk aiōnion), er unterliegt der genesis (904a8–b2).19 Dabei finden Werden und Vergehen nur an den Einzellebewesen statt. Im Ganzen aber bleibt die kosmische Ordnung unverändert. In ihr haben das moralisch Gute und Schlechte menschlicher Handlungen ihren Platz. Die Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gütern erfordert auch kontrastierendes Böses, das aber letztlich nie die Oberhand erhält. Die handelnden Individuen werden von Gott so platziert, dass sich „im ganzen der Welt am meisten, leichtesten und besten die Vollendung durchsetzt, die Schlechtigkeit aber überwunden wird“ (904b4–6). Das Böse ist offenbar nötig, damit das Gute siegen und in allen seinen Möglichkeiten aktualisiert werden kann. Es ergibt sich als weitere Botschaft des Mythos, dass 19
Ich folge der Erklärung des nicht unproblematischen Textes durch England [1921] vol. II 494.
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3. zu der unveränderlichen, bestmöglichen Ordnung des Kosmos im Bereich menschlichen Handelns Gutes und Schlechtes gehören.20 Doch das Bild vom göttlichen Brettspiel wird noch weiter präzisiert durch die Bestimmung der bisher vernachlässigten menschlichen Verantwortlichkeit. Denn die Orientierung Gottes am jeweiligen seelischen Charakterzustand verweist auf die Ursächlichkeit des Beseelten selbst (en heautois kektēmena tēn tēs metabolēs aitian, 904c7). Es ergibt sich als weitere Aussage des Mythos, dass 4. die Seele für die Verschiebung an einen anderen kosmischen Ort selbst verantwortlich ist. „Für die Entstehung der bestimmten charakterlichen Eigenart (tou poiou tinos) überließ er [Gott, C.P.] die Ursachen dem Willen eines jeden von uns“ (aphēke tais boulēsesin hekastōn hēmōn, 904b8–c2). Jeder erhält den Platz, der ihm entspricht und den er selbst sich wünscht (904c2–4), mitsamt dem hierfür spezifischen Maß an Gutem und Schlechtem, das die Seele dort erfährt (904e5–905a1). Dieses Ineinander von Eigenverantwortung und festgesetzter Ordnung (heimarmenē, 904c7) findet sich auch an anderen Stellen des Corpus Platonicum, etwa im Er-Mythos der Politeia.21 Die Ausgestaltung des Mythos wird abgeschlossen dadurch, dass das bisher zweidimensionale Brettspiel dreidimensional wird. Es wird unterschieden zwischen geringfügigen und bedeutenden charakterlichen Veränderungen. Geringfügige Veränderungen ziehen lediglich Verschiebungen der Seelen in der Fläche nach sich (904c9f.), bedeutende Veränderungen dagegen bewirken bei Verschlechterung eine Bewegung nach unten (eis bathos, 904d1), volkstümlich gesprochen in den Hades, bei Verbesserung hingegen nach oben an einen „gänzlich heiligen Ort“ (904e1). Schließlich erfolgt noch die Applikation des Mythos auf die Aporie des jungen Mannes, von der der zweite Beweisschritt ausgegangen war. Die Botschaft des Mythos ist, so erfahren wir, gültig für jeden Menschen, auch für die in ihrem Leben allem Anschein nach glücklichen Übeltäter. Denn ihre für die Vollkommenheit des Ganzen offenbar notwendige Bosheit ändert ja nichts an der Verwerflichkeit ihrer persönlichen Intentionen. Dies wird von der Gottheit mit einer entsprechenden Umsetzung innerhalb der Gesamtordnung geahndet (905a1–c4). Daraus ergibt sich als letzte Botschaft, dass 5. die moralische Weltordnung umfassend ist und kein gutes oder schlechtes Handeln unberücksichtigt bleibt. Damit ist der Mythos zu Ende. Lässt man sich auf ihn ein, verschwindet der Gegensatz der Phänomene, d.h. des als ungerecht erfahrenen Ganges der menschlichen Dinge, zum Logos von der göttlichen Providenz. Das Unglück der Guten und das Glück der Bösen zeigt sich jetzt als kleiner, zu Unrecht verabsolutierter Ausschnitt einer endlosen Abfolge immer neu vollzogener Be20
Zur Integration des Bösen in den Gesamtkosmos im Rahmen dieser platonischen Theodizee vgl. Mohr [1978] 572f. 21 Resp 617e: a„t…a ˜lomšnou, Ð dὲ qeÕj ¢na…tioj. Vgl. Steiner [1992] 176f.
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wertungen menschlichen Tuns durch Gott und der selbstverantworteten Einpassung der Seelen in die göttlich garantierte Ordnung. Jetzt erst erhält der zuvor nur durch den Zwang des Argumentes, aber gegen die eigene Überzeugung zugestandene Logos eine Evidenz, die ihn akzeptabel macht. Um zu verstehen, warum erst eine derartig bildhaft anthropomorph ausgestaltete Erzählung die überzeugungsmächtige Eindringlichkeit (peithō) besitzt, die dem vorausgehenden, zugehörigen Logos abging, ist nunmehr ein Blick auf deren psychische Bedingungen zu werfen. III. Einen wichtigen Hinweis gibt der Begriff der epōidē, mit dem in 903b der Mythos charakterisiert wird. Sicher nicht zufällig kommt dieser Ausdruck in den Nomoi recht häufig vor.22 An der vorliegenden und an analogen Stellen bezeichnet dieser ursprünglich ‚magische Besprechung‘ oder ‚Bezauberung‘ bedeutende Begriff bei Platon die nicht-argumentative, suggestive Beeinflussung der Seele.23 Um sein Verhältnis zum Logos genau bestimmen zu können, sei auf das zweite Buch verwiesen, wo es um die Rolle musischer Erziehung geht. Im Folgenden eine kurze Zusammenfassung des Gedankengangs.24 Da nur ein guter Charakter gerechtes Handeln garantiert, muss die wichtigste Aufgabe der Gesetzgebung eine entsprechende Erziehung sein: „Ich behaupte“, so der Athenische Fremde (643b–644b), „wer als Erwachsener in irgendetwas vollkommen sein will, muss eben das gleich von Kindesbeinen an einüben in Spiel und Ernst … Das Wichtigste also an der Erziehung ist, sagen wir, die richtige Ausbildung, die die Seele des Spielenden am meisten zum Verlangen nach dem bringt, worin er, wenn er erwachsen geworden ist, vollkommen sein soll in vollendeter Beherrschung der Sache.“ Konkret besteht eine derartige Erziehung in der „Bildung zu der Vollkommenheit vom Kindesalter an, die erpicht und begierig macht, ein vollkommener Bürger zu werden, der dem Recht gemäß zu herrschen und beherrscht zu werden versteht“ (643e). Charakterbildung hat also etwas mit Gewöhnung zu tun. Doch besteht sie nicht im wiederholten Aufsagen allgemeiner Grundsätze oder in Beweisführungen, nicht in Logoi, sondern in der Vermittlung von Lust und Unlust. Daher kommt der musischen Komponente der Erziehung eine besondere Rolle zu. „Ich behaupte“, heißt es in 653a–c, „ … bei Kindern sei die erste, kindgemäße Wahrnehmung Schmerz und Lust, und diese seien dasjenige, wodurch zuerst (charakterliche) Vollkommenheit (aretē) und Schlechtigkeit (kakia) in den 22 Nur der Charm hat mit 20 Belegen mehr als die Nomoi mit 14 Belegen aufzuweisen; vgl. Lain-Entralgo [1958] 299. 23 Lain-Entralgo [1958] 308f.; vgl. Charm 157a–b; Euthyd 289e–290a; Phd 77e–78a, 114d. In gleicher Bedeutung ist von f£rmakon die Rede (Charm 157b; Resp 382c, 389b); vgl. Brisson [1996] 25. 24 Vgl. die wichtige Analyse des Gedankengangs bei Büttner [2000] 233–245.
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Seelen erzeugt wird; was aber Klugheit und wahre, feststehende Meinungen betrifft, so sei es glückhaft für den, dem sie auch nur zum Alter hin zuteilwerden. Vollkommen ist also derjenige Mensch, der diese Güter und alles, was in ihnen liegt, besitzt. Als Erziehung (paideian) bezeichne ich also die zuerst den Kindern zuteilwerdende Vollkommenheit. Wenn aber Lust und Liebe, Schmerz und Hass auf die rechte Weise in den Seelen derer entstehen, die das noch nicht mit Logos fassen können, und wenn, nachdem sie Logos erlangt haben, diese Gefühle [Lust, Liebe etc., C.P.] dem Logos zustimmen, ihre Gewohnheiten mittels der angemessenen Gewöhnungen (hypo tōn proshēkontōn ethōn) erworben zu haben, dann ist diese Harmonie die ganze Vollkommenheit, und der Teil von ihr, der in Lust und Schmerz korrekt ausgebildet ist, so dass er sogleich von Anfang an bis hin zum Ende hasst, was man hassen, und liebt, was man lieben muss – wenn man eben diesen Teil begrifflich abgrenzt und Erziehung nennt, dann bezeichnet man es meiner Ansicht nach richtig.“25 Sinnlich erfahrbare Lust bzw. Schmerz bilden für den, der keinen oder, wie Kinder, noch keinen Logos besitzt, das alleinige Kriterium für die Beurteilung des Erstrebens- bzw. Ablehnenswerten. Aus der Wiederholung derartiger Erfahrungen entstehen im Laufe der Zeit Gewohnheiten und Charakterzüge. Allerdings ist derartige Lust bzw. Unlust allein kein sehr sicheres Kriterium. Denn man kann alles Mögliche als lustvoll oder unangenehm empfinden und entsprechend alle möglichen Charakterzüge entwickeln. Aufgabe der Erziehung ist es daher, den Zögling mittels angemessener Lust und Unlust zur Ausbildung angemessener Gewohnheiten zu bringen. Da Kinder noch keinen ausgereiften Logos besitzen, der über die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit bestimmter Lust- und Unlusterfahrungen entscheiden könnte, muss die Erziehung die Auswahl leisten, d.h. sie muss den fehlenden Logos des Zöglings gleichsam ersetzen. Nur so kann es zur Ausbildung von Charakteren kommen, die mit dem später auch im Zögling selbst hinzukommenden Logos übereinstimmen. Die Ausbildung von Charakterzügen, so gilt es festzuhalten, ist also nicht Ergebnis eines reinen Logos, sondern logosgemäßer Lust- und Unlusterfahrungen. Doch ist sich Platon über die Anfälligkeit erziehungsbedingter Charakterzüge im Klaren. Derartiges, so sagt er in 653c–d, lockere sich und gehe den Menschen verloren bei vielen Gelegenheiten des Lebens. Die Beschreibung des Menschengeschlechts als ‚mühselig‘ (epiponon) verrät, warum. Die Mühen des Daseins sorgen für Erfahrungen, die den durch Erziehung grundgelegten Glauben an eine gerechte Weltordnung im Laufe der Zeit untergraben. Dies geschieht umso leichter, als die Erziehung der Kinder lediglich zu auf richtiger, aber unbegründeter Meinung beruhenden Gewohnheiten führt. Wirkliche, begründende Einsicht und entsprechend unerschütterliche wahre Meinungen – und damit auch feste Charakterzüge – stellen sich nach Platon, wenn überhaupt, 25 Die Übersetzung folgt der syntaktischen Analyse des Satzes von England [1921] vol. I 272f. (ad loc.).
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erst im Alter ein (653a). Wie Platons Kritik am Missbrauch der Dialektik in anderen Dialogen zeigt, führt – besonders bei jüngeren Menschen – gerade der noch nicht hinreichend gefestigte Logos oft auf Abwege.26 Er destruiert die durch den höheren, vollkommenen Logos des Gesetzgebers bewirkte Charakterbildung, die aber, weil nur auf Gewohnheit beruhend, rationalen – oder pseudorationalen – Angriffen hilflos ausgesetzt ist, die die Lust- und v.a. Unlusterfahrungen des menschlichen Lebens mit einem anderen, atheistischen Logos scheinbar stimmiger zu erklären scheinen. Hier setzt die Aufgabe der Musenkunst ein. Bei den Götterfesten, die die Menschen von der Mühe des Alltags freistellen, werden Chorlieder bzw. von den Männern über 60 Jahren mit gleicher Zielsetzung (664d) Mythen vorgetragen. Sie sollen den Zuhörern eine Rede nahebringen, „die ‚angenehm‘, ‚gerecht‘, ‚gut‘ und ‚schön‘ nicht trennt und so davon überzeugt … , ein heiliges und gerechtes Leben zu führen“ (663a–b). Die verbale Botschaft wird mit den Mitteln der Dichtung als Mythos gestaltet, bei den Chorgesängen treten zusätzlich noch „Tonweise und Rhythmen“ sinnlich erfahrbar hinzu (669b2f.). Auch hier wird also u.a. mit Hilfe der Mythologie ein allgemeiner Logos mit sinnlichen Erfahrungen oder quasi-sinnlichen, anthropomorphen Vorstellungen verbunden. Die psychagogische Wirkung, die peithō dieser Verbindung ist so unwiderstehlich wie die eines Zaubergesangs, einer epōidē. In 665c ist von einer „Unersättlichkeit und Lust auf Hymnen für die, die sie singen“ die Rede. In 670d–e heißt es noch genauer, dass die Sänger beim Vortrag „für den Augenblick selbst eine harmlose Lust empfinden und für die Jüngeren zu Führern in der angemessenen Wertschätzung rechter Charakterzüge werden“. Sicher sind die Adressaten in erster Linie Kinder. Aber der Athenische Fremde sagt auch, „dass jeder, Erwachsener und Kind, Freier und Sklave, Frau und Mann, ja die ganze Stadt für die ganze Stadt, sie selbst für sich selbst, niemals aufhören dürfe, das, was wir besprochen haben, in Zaubergesängen (epaidousan) darzustellen, in irgendwie immer neuer Gestaltung und gänzlich mit Buntheit versehen, so dass daraus für die Sänger eine Art von Unersättlichkeit und Lust auf Hymnen erwächst“ (665c). Erwachsene und Kinder, ja die ganze Stadt muss immer wieder der nachlassenden Festigkeit der in der Kindheit gebildeten Charaktere und Meinungen durch Mythen entgegenwirken, die den Logos gleichsam versinnlichen, d.h. die zum Logos passende sinnliche Evidenz bilden. In diesem Zusammenwirken von Logos und sinnlicher Evidenz, oder genauer: in dieser Hinführung zum rechten Logos von – sei es unmittelbarer, sei es mythisch gebildeter – mit Lust- und Unlusterfahrung verbundener und darum protreptisch wirkender, sinnlicher Evidenz aus scheint ein Merkmal
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Vgl. z.B. Resp 537e–539d; Tht 196e.
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menschlichen Erkennens zu liegen, das auch sonst die platonische Erkenntnistheorie bestimmt.27 IV. Wendet man sich nun dem Mythos des 10. Buches zu, erweist er sich als weitgehend analog. Die fiktiven jungen Gesprächspartner haben als Kinder eine Erziehung genossen, die den Vorstellungen des Athenischen Fremden durchaus entspricht. „Sie pflegten von der frühesten Kindheit an, als sie noch mit Milch ernährt wurden, von ihren Ammen und Müttern [Mythen] zu hören, die wie bei Zaubergesängen (hoion en epōidais) in Ernst und Scherz vorgetragen wurden. Auch bei Opfern hörten sie sie [die Mythen, C.P.] in Gebeten und sie sahen dementsprechende visuelle Darstellungen, die der junge Mensch am liebsten sieht und hört, wenn sie von Opfernden vollzogen werden, wie nämlich ihre Eltern sich mit größtem Ernst für sich und jene bemühten, wie sie durch Gebet und Bitten mit den Göttern sprachen … so als ob sie in höchstem Maße Sein besäßen und keinesfalls Verdacht erweckten, dass die Götter nicht wirklich seien“ (887d–e). Doch was in Kindertagen an richtigen Gewohnheiten und Meinungen entstand, war nicht von Dauer, wie der Athenische Fremde mit unterdrücktem Ärger feststellt. Die jungen Leute lassen sich als Herangewachsene von den Mythen ihrer Kinderzeit nicht mehr überzeugen (ou peithomenoi, 887d). Dieser Mangel an peithō hatte, wie gesagt, seinen Grund darin, dass die neue vorsokratisch-sophistische Deutung die empirisch erfahrbare Welt ohne Götter scheinbar stimmiger erklären konnte. Ihr folgend ließen sich die jungen Leute in ihren Meinungen über die Götter ‚umüberzeugen‘ (anapepeismenoi, 886d). Philosophische Logoi destruierten also die wehrlosen Mythen aus Kindertagen und bewirkten eine atheistische Gegen-peithō. Die Parallelität dieser Situation zum zweiten Buch der Nomoi macht die Zuordnung des Weiteren leicht. Den Chören und Mythen des zweiten entspricht der Mythos des zehnten Buches. Zwar verzichtet der Athenische Fremde auf Melodie und Rhythmus. Doch das Entscheidende, der verbale Bestand der Darbietung, bleibt.28 Mit den narrativen Möglichkeiten eines Mythos, v.a. mit seiner vorstellungsbezogenen Visualisierung des Logos von der göttlichen Providenz, erzeugt auch er eine entsprechende Lust. Die Konkretheit des Sehens (horan) und Hörens (akouein) hatte einst die jungen Leute bei den religiösen Zeremonien ihrer Kindheit am meisten beeindruckt. Hierauf rekurriert der My-
27
Treffend Beierwaltes [1989] 278: „In der Stabilisierung und Intensivierung des Logos verwirklicht der Mythos im Blick auf die Phantasie oder Einbildungskraft des Denkenden bestimmte rhetorische Elemente.“ 28 Zur Vorrangigkeit der Sprache, an der Melodie und Rhythmus sich orientieren müssen, siehe Resp 398c–400a; vgl. Brisson [1996] 23f.; Büttner [2000] 155–157.
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thos des Athenischen Fremden. So kann auch er als epōidē, als Zaubergesang, wirken. Eins aber muss sichergestellt sein – im Unterschied zu den Mythen, die die jungen Leute als Kinder zu hören bekamen, und überhaupt zu den traditionellen Mythen: Der neue Mythos darf nicht ebenso hilflos gegenüber atheistischen Logoi sein wie jene. Daher übernimmt Platon nicht einfach vorhandene Mythen, sondern gestaltet sie selbst. Der Mythos des Athenischen Fremden ist zwar nicht selbst ein Logos, aber er beruht auf einem vorgängigen Logos, auf dem zweiten Beweisschritt von der göttlichen Providenz. Von diesem höheren Reflexionsniveau aus kann sich der Mythos entfalten, ohne noch einen widerlegenden Logos fürchten zu müssen. Er kann auf diese Weise eine gleichsam sinnlich erfahrbare, konkrete phänomenale Evidenz liefern und diese einem Logos gemäß formen, dessen Gültigkeit bereits vorab erwiesen war. Der Mythos setzt den Logos als Maßstab seiner Gestaltung voraus.29 Den abstrakten Satz von der göttlichen Fürsorge für die menschlichen Belange setzt er um in eine visualisierte Gesamtschau der Seelenschicksale. Ein dreidimensionales Kosmosgebäude, nach oben und unten gleichsam von Himmel und Hölle begrenzt, in dem Gott mittels Metempsychose Menschenseelen immer neu in horizontaler oder vertikaler Richtung verschiebt: So wird wie auf einem Gemälde anthropomorph die göttliche Ordnungsleistung in der Welt gemalt. Der Mythos führt phänomenal vor, dass und wie in concreto funktionieren kann, was der Logos in allgemeiner Form bewiesen hatte. Die scheinbar gegenläufige Erfahrung vom Erfolg des Bösen und vom Misserfolg des Guten wird als Teil der umfassenden göttlichen Gerechtigkeit im prägnanten Wortsinn lustvoll ‚sichtbar‘. Diese über die partiellen und relativen Erfahrungen des Einzelnen weit hinausgehende, erweiterte phänomenale Evidenz vermag es nun wieder neu, die verloren gegangene, aber für das Zustandekommen einer Einsicht, einer Meinung oder einer Gewohnheit erforderliche Harmonie zwischen dem Logos von der göttlichen Providenz und den Phänomenen herzustellen. Diese Bereitstellung einer Evidenz, wo eine adäquate empirische Erfahrung nicht möglich ist, scheint überhaupt eine Aufgabe der platonischen Mythen zu sein, wie auch die thematisch verwandten Nekyien zeigen (Phdr 523a–527a, Resp 614b–621b, Phd 112e–114c).30 Bereits der spätere antike Platonismus hat hierin ein Charakteristikum der platonischen My-
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Zum philosophisch geläuterten Mythos, der als notwendiger Beginn des menschlichen Erkenntnisweges fungiert, siehe Kobusch [1990] 17–20; Figal [2000]. 30 So Olympiodor, In Aristotelis Meteora 144,11–145,5, v.a. 21f. Ohne erkenntnistheoretische Einordnung äußern diesen Gedanken bereits Kobusch [1999] 17–20; Brisson [1994] 109–138; Murray [1999] 254f.
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then gesehen, die er als Umsetzung des Intelligiblen in die Ebene der raumzeitlich bestimmten menschlichen Vorstellung verstand.31 V. Es war eben von einer erweiterten phänomenalen Evidenz die Rede. Hierauf sei zum Schluss noch etwas genauer eingegangen. Da eine derartig umfassende Darbietung des Phänomens nicht Inhalt der gewöhnlichen Erfahrung des Einzelnen sein kann, lässt sie sich nur poetisch leisten. Es handelt sich um eine idealisierte Empirie, um eine verdichtete, archetypische Wirklichkeit, wie sie als wesentliches Merkmal des Mythos von der modernen Forschung anerkannt wird. Platons Schüler Aristoteles hatte die Leistung mythologisch-narrativer Dichtung bestimmt als den Bericht von Ereignissen, „wie sie geschehen könnten sowie von dem, was möglich ist, sofern es wahrscheinlich oder notwendig ist“ (Poetik 1451a37f.). Die berichteten Ereignisse werden, im Unterschied zur auch von Zufälligem bestimmten Empirie, auf das beschränkt, was sich als wahrscheinlicher oder gar notwendiger Ausdruck eines bestimmten, individuellen Charakters begreifen lässt. In der Präsentation einer derartigen mythischen Handlung oder systasis pragmatōn liegt die spezifische Leistung poetischer Wirklichkeitsnachahmung (mimēsis). In dieser archetypischen Wirklichkeit kann jeder Betrachter analoge Situationen seiner eigenen Persönlichkeit und seines eigenen Lebens wiederfinden und durch Bezug darauf bewerten. Für Platon wäre anhand des zweiten Buches der Nomoi ein ähnlicher Nachweis möglich.32 So ähnlich ist es auch beim vorliegenden Mythos. Zwar könnte er nicht Gegenstand eines Dramas oder eines Epos sein. Er bietet keine durchlaufende Handlung bestimmter Individuen mit Anfang, Mitte und Ende, keine systasis pragmatōn im aristotelischen Sinne, sondern überblickshaft ein statisches Geschehen. Dennoch schafft er eine umfassende, in dieser Form nie empirisch erfahrbare Wirklichkeit, auf die alle Einzelerfahrungen im Bereich menschlichen Handelns – mit gut und böse, mit Erfolg und Misserfolg, mit Recht und Unrecht bezogen und in die sie eingefügt werden können. Der Betrachter kann sich so aus der Beschränktheit seiner partikulären Empirie befreien und glaubt nun, dass das, was der Logos allgemein behauptet, auch tatsächlich ‚geht‘. Sicher kann ein derartiger Mythos keine bis in alle Einzelheiten exakte Wiedergabe der göttlichen Providenz sein. Darauf weist Platon selbst bei der Nekyie des Phaidon 114d hin: „Mit Nachdruck zu behaupten, dass es sich ge31
Vgl. Plotin Enn. III 5,9,24–29; Proklos, In Platonis Rempublicam I 77,13ff.; Olympiodor, In Platonis Gorgiam 237,14–23; 249,8–16; Scholia in Platonis Gorgiam 523a (323 Hermann); Salustios, De diis et mundo IV 9. 32 Dies im Einzelnen näher auszuführen, ist im Rahmen dieser Arbeit unmöglich. Es ist daher zu verweisen auf die für die platonische Literaturtheorie grundlegende Arbeit von Büttner [2000], v.a. 131–254; Schmitt [1996]; Schmitt [2000a].
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nauso verhält, wie ich es geschildert habe, das gehört sich nicht für einen verständigen Menschen. Dass freilich dies oder derartiges für unsere Seelen und ihre Wohnstätten gilt, da die Seele ja doch offensichtlich etwas Unsterbliches ist, das scheint sich mir zu gehören und des Versuches wert zu sein für den, der glaubt, es verhalte sich so, und solches muss man sich selbst gleichsam wie Zaubergesänge vorsingen“ (epaidein). Insofern die Einzelheiten der mythischen Gestalten auch anders sein könnten, verbleibt der Mythos auf der Ebene des bloß Wahrscheinlichen.33 Doch auf völlige Exaktheit kommt es auch nicht an. Wesentlich ist, dass die Variabilität der mythischen Gestaltung innerhalb des vom Logos vorgegebenen Rahmens verbleibt. VI. Die zurückliegenden Überlegungen befassten sich in strikt kontextbezogener Interpretation fast ausschließlich mit dem Mythos im 10. Buch der Nomoi. Dennoch könnte ihre Erprobung auch an den anderen platonischen Mythen lohnen. Die Ergebnisse seien abschließend zusammengefasst: 1. Der erste Beweisschritt schloss von den Phänomenen auf den die Existenz der Götter beweisenden Logos, also induktiv. Dagegen verfährt der zweite Beweisschritt umgekehrt: Aus dem ersten Beweisschritt wird der zweite Logos von der göttlichen Fürsorge für die Menschen abgeleitet. Zu ihm gilt es die passenden Phänomene hinzuzugestalten, die den Logos weder falsifizieren noch verifizieren, sondern nur illustrieren können. 2. Die zum Logos passenden Phänomene werden durch einen Mythos geboten, da die Phänomene, die eine logosgemäße Evidenz verschaffen, nicht Inhalt einer tatsächlichen Empirie sein können. Der sinnenfällige Überblick über die Seelenschicksale ist eine idealisierte, archetypische Empirie unter dem Gesichtspunkt gerechter göttlicher Lenkung. 3. Ein Unterschied der platonischen ‚Kunstmythen‘ zu den überlieferten Mythen besteht darin, dass sie aus einem unmittelbar vorgängigen Logos resultieren. Sie intendieren, was prinzipiell auch Leistung herkömmlicher Mythen sein kann: richtige Meinungen über Götter und ihre Providenz. Doch die von den herkömmlichen Mythen bewirkten Meinungen sind nicht durch einen Logos abgesichert und daher gegenüber falschen Logoi wehrlos. Dagegen befindet sich der Mythos des Athenischen Fremden auf der höheren Reflexionsstufe einer nicht bloß richtigen, sondern begründeten Meinung.
33
Brisson [1996] 33–35 spricht von der Kontingenz der mythischen Geschehensabfolge. In Ti 28d und 59d parallelisiert Platon die nicht-notwendige Wahrscheinlichkeit des Mythos als darstellerisches Mittel mit dem kontingenten Seinsbereich des Werdens. In letzteren ist auch die menschliche Seele eingebunden. Der Mythos ist daher seinem Wesen nach besonders gut zur archetypischen Wiedergabe des kontingenten Seienden geeignet.
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4. Die Merkmale der platonischen Mythen bestätigen einerseits die neuere Mythen-Forschung. So lässt sich auch der platonische Mythos charakterisieren als „eine traditionelle“ – oder traditionell gestaltete – „Erzählung, die als Bezeichnung von Wirklichkeit verwendet wird“, stellt er als erzählende „Verbalisierung komplexer, überindividueller, kollektiv wichtiger Gegebenheiten“ eine archetypische Wirklichkeit dar. Andererseits ist das Verhältnis des Mythos zum Logos nicht durch evolutionäre Sukzession oder intellektuelle Höherentwicklung bestimmt noch lässt es sich in den ausschließenden Gegensatz von ‚rational‘ und ‚irrational‘ pressen. Die Zusammengehörigkeit von erklärendem Logos und erklärtem Phänomen ist für die menschliche Weise des Erkennens konstitutiv. Nur ein Zusammenwirken beider verbindet sachliche Gewissheit mit Überzeugung (peithō). Ist eine dem Logos adäquate Empirie nicht verfügbar, tritt der Mythos ein. Beweisender Logos und narrativ illustrierender Mythos sind so auf simultan im Menschen wirksame, aber unterschiedliche Erkenntnisebenen bezogen, wie Platon sie in der Lehre von den Seelenteilen oder im Liniengleichnis der Politeia durch die Unterscheidung von aisthetisch meinungshaftem und rationalem Bereich beschreibt.34 Ohne sachlich dem Logos etwas hinzuzusetzen, orientiert sich der Mythos an ihm. Er ist nicht selbst Logos, aber logosbedingt.35 Er faltet den Logos gleichsam versinnlichend in die raumzeitliche Ebene der Vorstellung hinein aus mitsamt der zugehörigen Erfahrung von Lust. Er ist in diesem Sinne eine Konkretion des Logos.
34
Resp 509d ff. Daher lässt sich der wahre Mythos (in sekundärem Sinne) auch als Logos bezeichnen (903b4; vgl. Charm 157a–b; Gorg 523a). Er kann nur vom wahren Philosophen gestaltet werden; vgl. Phdr 273d: pantacoà Ð t¾n ¢l»qeian e„dëj k£llista ™p…statai eØr…skein [sc. t¦j ÐmoiÒthtaj]. 35
3. TEIL: EINZELNE MYTHEN UND IHRE INTERPRETATION
DER MYTHOS IM PROTAGORAS Robert Bees In Platons Dialog Protagoras findet sich ein Mythos (320c8-322d5), der mit der Erschaffung der Lebewesen beginnt, dann die Schaffung einer menschlichen Kultur in den Blick nimmt und schließlich die Gesellschaftsbildung beschreibt, die zunächst scheitert, letztlich aber durch das Eingreifen des Zeus gelingt, der an die Menschen Scham und Recht verteilt. Dieser Mythos ist vielbeachtet, insbesondere wegen der Frage, ob und inwieweit das vom platonischen Protagoras Dargelegte mit der Lehre des historischen Protagoras übereinstimmt. Man ist heute allenthalben der Auffassung, dass der Mythos im Wesentlichen auf den Anschauungen des Protagoras von Abdera gründet.1 Vielfach wird auch sein Werk Peri tēs en archēi (Über den Urzustand) genannt, aus dem der Mythos mithin ein Extrakt wäre.2 Dass es dieses – im Schriftenkatalog (DK 80 A 1) bezeugte – Werk tatsächlich gegeben hat, muss nicht bestritten werden. Anders allerdings steht es nach meiner Auffassung bei dem Mythos: Weder ist er zur Gänze noch zum Teil noch in Grundzügen auf den historischen Protagoras zurückzuführen, auch als „Imitation“ ist er nicht zu verstehen.3 Die communis opinio beruht offenkundig auf einer petitio principii: Es müsse, was die platonische Dialogfigur vorträgt, mit der Lehre des Protagoras übereinstimmen. Wahrscheinlich wäre dieser Schluss, sofern Übereinstimmung mit der sonstigen Bezeugung vorläge. Doch ist das in keiner Weise der Fall, selbst Platons ausführliche Besprechung der protagoreischen Erkenntnistheorie samt ihren Konsequenzen für Ethik und Staatslehre im Theaitet zeichnet ein evident anderes Bild. So überrascht nicht, wenn die Diskussion sich nicht auf haltbare Belege stützt, vielmehr hinein- und herausliest, was ihr gemäß der Vorbedingung passend erscheint. Die wenigen
1
Die communis opinio z.B. bei Manuwald [1996], der zu dem Ergebnis kommt, es dürfe nach seinen Überlegungen „als wahrscheinlich gelten“: „daß Platon sowohl die Form des Mythos von Protagoras übernommen als auch sich inhaltlich relativ eng an ihn angeschlossen hat“ (S. 127). Entsprechend wird im wenig später erschienenen Kommentar [1999] der Mythos als Ausdruck genuiner Lehre des Protagoras erklärt (S. 172ff.). In seinem Überblickswerk zu den Kulturentstehungslehren hielt Müller [2003] fest: „Nach unendlichen Diskussionen, die von Philosophiehistorikern und Philologen geführt wurden, können wir heute mit einiger Gewißheit davon ausgehen, daß die Auffassungen, die Platon dem Sophisten in den Mund legt, mit dessen Lehren im wesentlichen übereinstimmen. Das gilt besonders von einem Mythos, den Platon den Sophisten vortragen läßt ...“ (S. 71f.). 2 Vgl. z.B. Kerferd, Flashar [1998] 31. 3 So Diels, Kranz [61952] 269f. (80 C 1).
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kritischen Äußerungen hat man dabei geflissentlich beiseitegeschoben, jedenfalls nicht weiterverfolgt.4 Die vorliegende – gänzlich unbefriedigende – Situation erfordert gewiss eine umfassende Kritik, eine Neubehandlung nicht nur des Mythos, sondern des gesamten Dialogs. Dass dies in dem hier begrenzten Rahmen nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Einige Argumente mögen aber genügen, um die Auffassung zu begründen, dass der Mythos nicht auf Protagoras zurückgeht. I. Methodische Vorüberlegungen Bei dem Mythos handelt es sich um einen Abriss, hinter dem eine Kulturentstehungslehre steht.5 Bereits der Anfang (Ēn gar pote chronos hote – „Es war also einmal eine Zeit, da ...“)6 macht deutlich, in welches Genre er sich eingeordnet wissen will.7 Danach sind auch die Aussage des Mythos und die Haltung des Denkers zu bewerten, der ihn konzipiert hat. Antike Kulturentstehungslehren und davon abgeleitete Kulturgeschichten basieren nicht auf empirischer Forschung, wissenschaftlich verifizierbaren Ergebnissen, sie sind Gebilde freier Spekulation. Sowohl die Grundlinien wie die Ausgestaltung im Einzelnen entspringen dem Denken des Autors. In besonderem Maße gilt dies für die Kulturentstehungslehren der Philosophen, bei denen offensichtlich ist, dass sie innerhalb eines Systems stehen, dass Urzeit und Entwicklung des Menschen nach einer vorgegebenen Anthropologie gezeichnet werden (Prinzip der Systemimmanenz).8 Stehen sich in unserer heutigen Gesellschaft zwei Deutungen der Menschheitsgeschichte gegenüber: der Kreationimus und Darwins Evolutionslehre, so war die Antike an Formen um einiges reicher. Dies gilt für die Kulturentstehungslehren einzelner Schulen wie die unzähligen Varianten und Versionen des Mythos. Ob Prometheus’ Raub des Feuers nun etwa einen Aufstieg oder Abstieg des Menschen bezeichnet, ist allein abhängig von der Haltung des Autors.9 Und zwar von der Haltung zur Gegenwart, die vermittels einer konstruierten Vorgeschichte gedeutet wird. Beim Mythos im Protagoras bezieht sich die Deutung auf die Lehrbarkeit der Tugend. Als philosophische Frage ist dies der Ausgangspunkt (320b4ff.), 4
Skepsis findet sich etwa bei Gomperz [41925] 246; Friedländer [31964] 187 und Anm. 7. Nach Maguire [1977, 104] ist die Angabe der Profession (318ef.) „the only authentic pronouncement of Protagoras in the entire Dialogue“. 5 Nach Manuwald [1996] 120 wären lediglich „Elemente aus entwicklungshypothetischen Zusammenhängen“ verwendet, allerdings basierend auf der Annahme gedanklicher „Inkonsistenzen“. Es kann jedoch gezeigt werden, dass der Mythos in sich schlüssig ist. 6 Übersetzungen Platons, wenn nicht anders angegeben, nach Rufener. 7 Die Übereinstimmung mit Kritias DK 88 B 25, Orphicorum fragmenta 292 Kern und 2 Moschion, fr. 6 N = TrGF 97 F 6 (v. 3) hat man längst gesehen, und sie ist nicht zufällig. 8 Vgl. hierzu Bees [2005] 25. 9 Vgl. Bees [1999].
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und im Anschluss wird das im Mythos Dargelegte an aktuellen Verhältnissen verifiziert (322d5ff.). Für die Frage, ob hinter dem Mythos der historische Protagoras steht, wird sich eine befriedigende Antwort nur dann ergeben, wenn das Prinzip der Systemimmanenz Berücksichtigung findet. Vergleicht man also die Aussage des Mythos mit der andernorts bezeugten Lehre des Protagoras, so wird sich systemimmanente Übereinstimmung zeigen oder eben nicht. Gewiss hat man das eine oder andere gesehen, freilich nicht das Ganze in den Blick genommen, geschweige denn den Mythos konsequent an Protagoras’ philosophischem System gemessen, d.h. seiner skeptischen Erkenntnistheorie, auf der auch die Staatslehre basiert. Dieser Weg soll im Folgenden beschritten werden. II. Das philosophische System des Protagoras Die Lehre des Protagoras von Abdera ist nur in wenigen Fragmenten und Zeugnissen für uns greifbar.10 Allerdings ergibt sich aus dem Wenigen (abgesehen von Platons Protagoras) ein einheitliches Bild von der Grundlegung seines Systems. Danach ging Protagoras von einer relativistischen Erkenntnistheorie aus, die ein übergeordnetes Kriterium ausschließt und allein die Wahrnehmung des einzelnen Menschen zum Maßstab nimmt. Erkenntnistheorie Vielbeachtet, bereits in der Antike, ist der sogenannte Homo-mensura-Satz (HMS), wonach der Mensch das Maß aller Dinge ist. Sextus Empiricus bezeugt ihn mit wichtigen Erläuterungen: Auch Protagoras von Abdera rechneten manche zu dem Kreis der Philosophen, die das Kriterium aufheben, da er alle Vorstellungen und Meinungen für wahr erklärt und die Wahrheit zu den Dingen zählt, die relativ sind: denn alles, sobald es jemandem erschienen sei oder von jemandem gemeint werde, verhalte sich sogleich relativ zu jemandem. Am Anfang seiner Schrift Über die niederringenden (Reden) erklärte er also: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind“ (Adversus mathematicos 7,60 = DK 80 B 1).11
Das Maß ist der Mensch, d.h. jeder einzelne Mensch, insofern eine übergeordnete, transzendente Wahrheit nicht existiert, die Wahrnehmung jedes Einzelnen vielmehr ‚wahr‘ ist. Da aber alle Wahrnehmungen, so verschieden sie sind, ‚wahr‘ sind, so muss die Wahrheit selbst relativ sein. 10
Unzureichend ist die Sammlung in DK 80; besser, jedoch wenig beachtet ist die Zusammenstellung bei Capizzi [1955] 151ff. 11 Übersetzung des HMS nach Diels, Kranz [61952].
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Protagoras hat diesen Ansatz bis ins Extrem durchgeführt. Im Anschluss an das Zeugnis zum HMS gibt Sextus Empiricus Erläuterungen (§ 61-64),12 wonach jeder Mensch, gleich in welchem Zustand er sich befindet, gleich in welchem Stadium seines Lebens, Wahrnehmungen beanspruchen kann, die als ‚wahr‘ zu gelten haben: „Deshalb ist sogar der Wahnsinnige ein glaubhaftes Kriterium des im Wahnsinn Erscheinenden, der Schlafende des im Schlaf, das Kleinkind des im Kleinkindalter und der Alte des im Alter Begegnenden“ (§ 61).13 Jeder Mensch ist für sich ‚glaubhaftes Kriterium‘ (piston kritērion) der Dinge, aber eben nicht ‚sicherer Beurteiler‘ (bebaios kritēs), und das gilt auch für den ‚Wachen‘ und ‚Besonnenen‘. Es ist denn so, dass jeder Mensch ‚in einem bestimmten Zustand sich befindet‘ (en poiai kathestēke diathesei), deshalb ‚jedem Einzelnen zu vertrauen ist‘ (hekastōi pisteuteon) hinsichtlich des von ihm Erfassten (§ 63). So ist nicht ‚angemessen‘, die Wahrnehmung des Einen mit der Wahrnehmung des Anderen zu widerlegen, also nicht etwa „mit dem bei Verstand Begegnenden das im Wahnsinn Erscheinende“ (§ 62). Protagoras hat dem auch eine naturwissenschaftliche Grundlage gegeben, wie ausführlich wiederum Sextus Empiricus bezeugt (Pyrrhoniarum Hypotyposes 1,216-219 = DK 80 A 14), der im Anschluß an den HMS erläutert: die Materie sei in stetem Fluss (tēn hylēn rheustēn einai), ebenso die Wahrnehmungen nach Zustand und Alter des Menschen. Da nun aber keine ‚Gründe‘ außerhalb der Materie existieren, vielmehr die Logoi der Wahrnehmungen in der Materie selbst sind, so ‚kann die Materie an sich selbst sein, was allen erscheint‘ (§ 218).14 Da dies ‚Erscheinen‘ abhängig ist vom Zustand des Menschen, so ergibt sich daraus der HMS: „Also wird nach ihm der Mensch zum Kriterium des Seienden. Denn alles, was den Menschen erscheint, ist auch, und was keinem Menschen erscheint, ist auch nicht“ (§ 219).15 Damit ist die Annahme eines unveränderlichen Seins, einer übergeordneten, transzendenten Norm (welcher Gestalt auch immer) aufgehoben. Sextus sagt richtig am Anfang des Abschnittes: „Damit erkennt er nur an, was jedem erscheint, und führt so die Relativität ein“ (§ 216). Darin liegt nun in der Tat die geistesgeschichtliche Leistung des Protagoras, dass er das Konzept eines konsequent durchgeführten Relativismus entwickelt hat, von dem alle nachfolgende Skepsis tief beeinflusst ist.16 12
Der Passus findet sich nicht in den Sammlungen, ist aber nach den Parallelzeugnissen (etwa dem gleich zu betrachtenden Zeugnis DK 80 A 14) mit Gewissheit auf Protagoras zu beziehen. 13 Übersetzung Flückiger (auch im Folgenden). 14 Eine gute Erläuterung gibt Bury [1933] 132 Anm. a: „i.e., in brief, all ‚appearances‘ (sensations, opinions, etc.) are due to inter-action between the matter of the percipient subject and the matter of the objective world, both of which are in constant flux. Thus ‚matter‘ is potentially the ‚phenomenon‘“. 15 Übersetzung Hossenfelder. 16 Zur Auseinandersetzung vgl. Lee [2005].
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Seine Zielrichtung wäre unschwer zu erschließen, ist aber explizit auch bezeugt: Sein Werk Über das Seiende war gegen die gerichtet, ‚die das Seiende als das Eine einführten‘ (DK 80 B 2). Das sind die Eleaten, insbesondere Parmenides, und es ist gewiss kein Zufall, wenn Protagoras den HMS in einer Schrift mit dem Titel Alētheia (Wahrheit) entwickelte, wie Platon, Tht 161c mitteilt (= DK 80 B 1), zu Recht wohl allgemein identifiziert mit der von Sextus genannten Schrift Über die niederringenden Reden.17 Der einen Wahrheit bei Parmenides stellt Protagoras so viele Wahrheiten entgegen, wie es Menschen gibt. Aus dieser Zielrichtung – wir können auch von einer Kampfansage sprechen – erklärt sich der Widerspruch Platons, wie er in dem Dialog Theaitet ausgearbeitet ist. Protagoras erscheint hier nicht als Dialogfigur, seine Lehre wird vielvielmehr von Sokrates vorgestellt und von diesem dann ausführlich widerlegt. Es ist kein Zweifel, wie einleitend bereits gesagt, dass Platon hier ein authentisches Bild der Lehre zugrundelegt. Das zeigt schlicht die Übereinstimmung mit der sonstigen Bezeugung, und ganz folgerichtig sind zahlreiche Passagen in die Sammlungen des Protagoras aufgenommen. Mit Recht findet sich also Platons Auseinandersetzung mit dem HMS (Tht 151eff., 161c-d) unter DK 80 B 1 (neben dem oben zitierten Zeugnis des Sextus). Agnostizismus/Atheismus Es ist eindeutig, dass Protagoras’ Formulierung des HMS in einem kohärenten philosophischen System formuliert wurde. Und in dieses gehört auch der sogenannte Satz über die Götter, der sich als zwangsläufige Folge der skeptischen Erkenntnistheorie versteht. Es ist daher kein Zufall, wenn Diogenes Laertius den Satz in Zusammenhang mit dem HMS mitteilt (9,51). In der mit Eusebius, Praeparatio evangelica 14.3.7 ergänzten Rekonstruktion lautet er: Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen (festzustellen?) weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles gibt es, was das Wissen (Feststellen?) hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und daß das Leben des Menschen kurz ist. (DK 80 B 4)18
Der entscheidende Begriff ist adēlotēs – bei Diels, Kranz [61952] mit „Nichtwahrnehmbarkeit“ wiedergegeben. Man kann die Götter nicht wahrnehmen, doch Wahrnehmung ist die Voraussetzung, um eine Aussage über ihre Existenz und ihr Wesen treffen zu können. Und selbst wenn es die Götter gäbe, so bliebe die Wahrnehmung der Menschen verschieden, die Antwort also bliebe ‚unklar‘.
17 18
Vgl. hierzu etwa Dietz [1976] 93ff. Übersetzung Diels, Kranz [61952].
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Der Begriff ist zweifellos authentisch, findet sich auch in einem anderen wörtlichen Fragment des Protagoras, das erst in jüngerer Zeit aus einem Psalmenkommentar des Didymos publiziert wurde: Höre aber, warum die Anhänger des Protagoras eine andere Ansicht vertraten! Protagoras war ein Sophist. Er sagt, dass das Sein für die Dinge im Schein besteht. Er sagt: ‚Ich erscheine dir, dem Anwesenden, als Sitzender. Dem Abwesenden aber erscheine ich nicht als Sitzender. Somit ist ungewiss, ob ich sitze oder ob ich nicht sitze‘. Und sie sagen, dass alle Dinge im Schein bestehen. Z.B. ich sehe den Mond, ein anderer aber sieht ihn nicht. Somit ist ungewiss, ob er da ist oder ob er nicht da ist. Ich, der ich gesund bin, empfinde den Honig als süss, ein anderer aber empfindet ihn als bitter, wenn er Fieber hat. Somit ist also ungewiss, ob er bitter oder süss ist. Und so wollen sie die Unmöglichkeit einer sicheren Wahrnehmung lehren. 19
Dem Glauben an die Götter, der nicht nur in der Volksreligion verankert war, sondern – in verschiedener Form – auch in philosophischen Systemen, ist mit der protagoreischen Skepsis der Boden entzogen. Auch wenn Protagoras nicht offen bekennt: ‚es gibt keine Götter‘, so liegt seinem Ansatz die Leugnung zugrunde und führt konsequent gedacht auch dorthin: „Aber hier empfand der Instinkt der Allgläubigen, dass schon das Aufwerfen der Frage, ob es Götter gebe, und die bloße Zulassung ihrer Verneinung im Sinne einer Möglichkeit eine grundsätzliche Erschütterung der Volksreligion bedeutete“.20 Es verwundert nicht, wenn man Protagoras zu den Atheisten zählte.21 Ebenso aber auch, wenn er den Atheismus angesichts der Stimmung in Athen (Asebieprozesse)22 nicht offen benannte. Berichtet wird, dass er gleichwohl wegen des Satzes über die Götter verbannt wurde, seine Bücher eingesammelt und auf der Agora verbrannt wurden (DK 80 A 1; dazu A 3).23 III. Unvereinbarkeit des Mythos im Protagoras mit der Lehre des historischen Protagoras Form der Darstellung In der Einleitung bezeichnet die Dialogfigur Protagoras die dann folgende Erzählung von Göttern und Menschen als ‚Mythos‘ (320c7), wobei er zunächst
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Text und Übersetzung: Gronewald [1968] (vorab publiziert aus der Ausgabe des Didymos [1969] 380f.). Zur Diskussion vgl. Kerferd, Flashar [1998] 31. 20 So Nestle [1956] 67f. Man vergleiche bereits die Kritik bei Diogenes von Oinoanda (DK 80 A 23). 21 Die Zeugnisse bei Winiarczyk [1984] 177f. 22 Siehe hierzu Kerferd, Flashar [1998] 24f. 23 Zur Frage der Historizität vgl. Bolonyai [2007].
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den Anwesenden zur Wahl stellt, ob es nicht auch ein ‚Logos‘ sein könne (320c2ff.). Es ist richtig beobachtet, dass eine solche Wahl, die Austauschbarkeit der Darstellungsformen, nicht mit Platons Verständnis übereinstimmt, fraglich hingegen ist die Richtigkeit der von Manuwald gezogenen Schlussfolgerung: Es ergebe „dieses Verfahren nur einen Sinn, wenn sich auch der historische Protagoras der mythischen Form bedienen konnte“.24 Da ist Platon als Schriftsteller doch ein wenig unterschätzt, und nichts anderes gilt für den Stil, in dem bereits Philostrat eine Charakterisierung der protagoreischen Prosa erkennen wollte (DK 80 A 2). Capizzi25 sah darin einen Beweis für die Authentizität des Mythos, auf der anderen Seite hat man freilich Übereinstimmungen mit dem Stil Platons erkannt.26 Es lässt sich also keineswegs ausschließen, dass die Dialogfigur Protagoras eine von Platon geschaffene (Kunst-)Figur ist, die in einer Weise vorträgt, die dem historischen Protagoras fremd war. Manuwald ging in einem späteren Beitrag27 soweit, aus der unplatonischen Wahl der Darstellungsformen „ein Argument dafür zu gewinnen, dass Platon wenigstens im Kern den Mythos vom historischen Protagoras übernommen hat“. Und im nächsten Schritt wird auch gleich „die Anlage des Mythos selbst“ für protagoreisch erklärt. All dies aufgrund eines Wahrscheinlichkeitsschlusses, der sich auf die Darstellung im Protagoras stützt. Die Überlieferung zum philosophischen System des historischen Protagoras und die Tradition, in der dieses stand, bleiben unberücksichtigt. Bezieht man beides in seine Überlegungen ein, wird man zu anderen Schlüssen kommen. Die Entwicklung der ionischen Philosophie ist gekennzeichnet durch die Abkehr vom Mythos, von anthropomorphen, in das irdische Geschehen eingreifenden Göttern, wie sie uns in der Dichtung Homers und Hesiods erscheinen. Fränkel nennt sie „Mythenfreie Philosophie“.28 Auch in dem Wenigen, das überliefert ist, lässt sich erkennen, dass die Angriffe der sogenannten Naturphilosophen sich auf die Götterwelt der Volksreligion richten, die in den Mythen lebhaften Ausdruck gefunden hat. Demokrit etwa ereifert sich gegen Menschen, die „von der Auflösung der menschlichen Natur nichts wissen“, sich eben deshalb im Leben abmühen, „indem sie erlogene Fabeln über die Zeit nach dem Ende erdichten (pseudea ... mythoplasteontes)“.29 Im Schriftenkatalog des Protagoras (DK 80 a 1) findet sich ein Werk mit dem Titel Peri tōn en Haidou (Über die Dinge im Hades). Über den Inhalt ist nichts bekannt, doch wird man gewiss vermuten dürfen, dass es Protagoras nicht darum gegangen ist, den Volksglauben zu bestärken. Viel24
Manuwald [1996] 109. Capizzi [1955] 64f. 26 Norden [1913] 368ff. 27 Manuwald [2002] 60f. = S. 115f. im vorliegenden Band. 28 Fränkel [31969] 289ff.; vgl. 293. 29 DK 68 B 297 (Übersetzung ebd.). 25
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mehr wird man der Vermutung Leskys zustimmen, dass es darum ging, „die Schreckbilder des Mythos zu entwerten“.30 Keine andere Absicht also als jene, die der Atomist Demokrit in einer gleichnamigen Schrift (DK 68 A 33) verfolgt haben wird.31 Soweit Spekulation. Sicher ist, dass Protagoras seiner Erkenntnistheorie mit der Lehre vom Fließen eine naturwissenschaftliche Grundlage gegeben hat und dass von ihm Einfluss auf Demokrit ausging. Aristoteles etwa behandelt in der Metaphysik (1009a6ff.) sehr ausführlich zunächst Protagoras’ Ansatz, wonach jede sich aus der Wahrnehmung speisende Meinung wahr sei, um dann auf Demokrit zu blicken („Aus diesem Anlaß sagt auch Demokrit, daß entweder nichts wahr sei, oder es sei uns unerklärlich“, 1009b11f. = DK 68 A 112).32 Die Verpflichtung gegenüber Protagoras, insbesondere dem HMS, ist offenkundig, wie mehrere Zeugnisse zeigen (B 6ff.).33 Signifikant etwa das folgende: „daß wir in Wirklichkeit von nichts irgendetwas wissen, sondern Zustrom (der Atome oder Wahrnehmungsbilder) ist allen einzelnen Menschen ihr Meinen“ (B 7). Wie sollte vom Urheber des Mythos im Protagoras eine Linie hierhin zu ziehen sein? Wenn Protagoras angibt, er könne keine Aussage treffen zur Gestalt der Götter (hopoioi tines idean DK 80 B 4), so ist das nichts anderes als Kritik an den anthropomorphen Göttern des Mythos. Eine derartige Kritik findet sich bekanntermaßen bei Xenophanes (DK 21 B 14ff.), und diese Kritik ist ausdrücklich begleitet von Polemik gegen Homer und Hesiod (B 11f.) und einer Abwertung der Mythen als „Erfindungen der Vorzeit“ (plasmata tōn proterōn B 1,22). Kein Mensch habe ‚Genaues‘ (saphes) gesehen von den Göttern, und es werde auch nie einen solchen geben (B 34). Nun hat Xenophanes dies zum Ausgang genommen, um den Volksgöttern eine neue, andersgeartete Gottheit entgegenzustellen: Sie hat keine menschliche Gestalt, ist ganz Geist und wirkt allein mit der Denkkraft (B 23ff.). Für Protagoras, der zweifellos von Xenophanes’ Ansatz beeinflusst ist (man vergleiche auch das relativistische Argument in B 38), gibt es aber de facto keine Gottheit, und so ist allein aus Gründen der Logik auszuschließen, dass er seine Lehre in mythischer Form präsentierte, dass er von Göttern sprach, die auf Erden walten und Einfluss nehmen auf das Handeln der Menschen, dass er seine Kulturentstehungslehre (oder jedenfalls ein Extrakt daraus) in mythischer Form entwickelte, in der die Götter eine Rolle spielten.34 Der einzige Ausweg, um diese Schwierigkeit zu beseitigen, ist die Methode der Mythenrationalisierung
30
Lesky [31971] 391. Vgl. Lesky [31971] 385. 32 Übersetzung Schwarz. 33 Vgl. hierzu Kullmann [1969] 132ff. 34 Richtig bemerkt Graf [51999] 173 zum Satz über die Götter: „wer so denkt, kann dem Mythos keine gültigen Aussagen mehr zutrauen“. 31
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bzw. allegorische Deutung. Verschiedentlich hat man denn auch zu diesen Mitteln gegriffen. Ein nicht geringer Teil der Interpreten geht demnach von einer mythischen Einkleidung aus, hinter der sich der historische Protagoras verberge, konkret: Hinter den wirkenden Göttern stehe in Wirklichkeit Agnostizismus. Formuliert ist dieser Ansatz etwa bei Uxkull-Gyllenband: „Bei dem Mythos selbst wird man sich wundern, so viel von Göttern zu hören ... Aber hier darf man sich nicht täuschen lassen, denn die mythische Einkleidung, die Protagoras schließlich wählt, nachdem er sagt, er könne es auch verstandesmäßig darlegen, bedeutet natürlich nichts für seinen Glauben“.35 Nach Kleingünther ist der Mythos lediglich „einkleidende Hülle“,36 die nichts mit dem Glauben des Sophisten zu tun habe: „die göttlichen Kräfte sind realiter bedeutungslos“. Viele Stimmen ließen sich anfügen.37 Allerdings: Wenn die Götter keine Wirkung haben, der Mensch ohne deren Hilfe den Fortschritt der Kultur bewerkstelligt, weshalb ist die Geschichte der Menschheit dann nicht in dieser Weise erzählt?38 Betrachtet man den Mythos im Protagoras genauer, so ist klar: Der Autor will uns sagen, ohne göttliches Eingreifen wäre der Mensch ohne Städte geblieben, wäre die Gesellschaftsbildung nicht gelungen (wie unten noch näher zu betrachten sein wird). Schlechterdings bliebe von dem Mythos und seiner Aussage als Erklärung für die Lehrbarkeit der Tugend (so der Ausgangspunkt 320b4ff.), das heißt also: für einen Zustand in der Gegenwart, nichts übrig, entfernte man die Götter. Die Gabe des Zeus (Scham und Recht) erschöpft sich nicht in einem einmaligen Akt, vielmehr soll ein Gesetz in seinem Namen aufgestellt werden, dass derjenige getötet wird, der an dieser Gabe nicht Anteil haben kann (322d4f.). Und dieses Gesetz, wie sich aus der Erläuterung des Protagoras ergibt, soll auch in der Gesellschaft der Gegenwart gelten.39 Kerferd, Flashar [1998] 25 stellen den Mythos des Protagoras („Einkleidung seiner Vorstellung von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft“) neben die Homerallegorese des Metrodor von Lampsakos. Hier steht Agamemnon für den Äther, Achill für die Sonne usf. (DK 48 fr. 4), Zeus wird als Nous, Athene als Technē verstanden (fr. 6). Die Götter Hera, Athene und Zeus seien ‚Ausgestaltungen der Elemente‘ (fr. 3). Derartige rationalistische Interpretation der Mythen lässt sich weithin verfolgen, war etwa Bestandteil der stoischen Theologie – und das seit Zenon, wie die ausführliche Kritik bei Cicero (De natura deorum 1,36ff.) zeigt. Danach hat der Schulgründer gelehrt, dass ‚die Bezeich35
Uxkull-Gyllenband [1924] 16. Kleingünther [1933] 103. 37 Z.B. Nerczuk [2010] 81, der richtig feststellt, dass der bezeugte Agnostizismus ein Eingreifen der Götter unmöglich macht, ebendeshalb schließt, der Mythos sei eine Allegorie. 38 Belege für derartige Kulturentstehungslehren gibt es zur Genüge, es sei nur auf die atomistische Sicht bei Lukrez 5,925ff. verwiesen (siehe unten S. 192). 39 Vgl. unten S. 200f. 36
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nungen der Götter leblosen und stummen Dingen nach ihrer eigentlichen Bedeutung zugeteilt wurden‘ (rebus inanimis atque mutis per quandam significationem haec docet tributa nomina § 36 = SVF I 167). Auf diese Weise, so heißt es hier, hat Zenon die Theogonie des Hesiod, d.h. den Ursprung der Götter, erklärt. Steinmetz erläutert in seinem Beitrag zur stoischen Methode: „Unter allegorischer Deutung oder Allegorese wird dabei der Versuch verstanden, unter der Annahme, hinter dem wörtlichen Sinn einer Dichtung habe der Dichter bewußt einen tieferen Sinn verborgen, eben diesen verborgenen Sinn als das vom Dichter in Wahrheit Gemeinte zu erkennen“.40 Es ist nun von Bedeutung, dass der platonische Protagoras offenkundig diese Deutung anwendet. Er behauptet in der Einleitung des Dialogs (316d3ff.), die Kunst der Sophisten sei schon alt, es hätten sich die Früheren freilich wegen der allgemeinen Ablehnung versteckt: ‚einen Vorwand geschaffen und einen Deckmantel darüber gelegt, die einen die Dichtung, wie Homer, Hesiod und Simonides‘ (316d6f.). „Natürlich haben wir hier platonische Satire vor uns“, bemerkt Wehrli [1928] 82, um im Folgenden dann allerdings zu schließen: „Protagoras lehrte zweifelsohne, daß Homer Sophist gewesen sei“. Erstere Deutung trifft wohl zu, wird bestätigt durch Tht 152c, wo Sokrates angibt, Protagoras habe dem großen Haufen seine Lehre nur angedeutet, seinen Schülern im Verborgenen jedoch die ‚Wahrheit‘ gesagt. Das ist ein Scherz (gewiss ausgehend von Protagoras’ Schrift Alētheia)41 – historisch gesehen schlichtweg Unsinn, denn die in Frage stehende Lehre vom Fluss, wonach es das Eine nicht geben kann, ist Grundlage der gegen die Eleaten gerichteten Erkenntnistheorie. Und es ist wohl anzunehmen, dass Protagoras all dies in der bereits erwähnten Schrift Über das Seiende (DK 80 B 2) ausgeführt hat. Auch war die Lehre ja offenkundig auch den Späteren bekannt.42 Aber unabhängig davon: Der platonische Protagoras will ja gerade nicht ‚verbergen‘, dass er Sophist ist, vielmehr dies offen bekennen (317b3ff.). Und so gibt es auch keinerlei Anzeichen dafür, dass der von ihm erzählte Mythos irgendetwas versteckte, das wir zu entschlüsseln hätten. Es handelt sich bei derartigen Interpretationen des Mythos vielmehr um den Versuch, seinen Inhalt mit der Position eines Sophisten des 5. Jahrhunderts in Einklang zu bringen. Bei R. Müller liest man dann so: „Die Form der Einkleidung will nichts besagen: Die göttlichen Mächte, die hier gestaltend eingreifen, sind nicht mehr die mythischen Kulturstifter, die den Menschen als passiven Empfänger ihrer Segnungen erscheinen lassen. Sie sind nur noch Repräsentanten einer Naturkraft, die den Menschen mit spezifischen Veranlagungen und Fähigkeiten in den Lebenskampf entläßt ...“.43 Es wird im Weiteren noch zu
40
Steinmetz [1986] 18f. Vgl. Hardy [2001] 56f. mit Anm. 19. 42 Vgl. das oben zitierte Zeugnis bei Sextus Empiricus (DK 80 A 14). 43 R. Müller [1976=1980] 73. 41
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zeigen sein, dass der Urheber des Mythos diese Sicht der Kulturentwicklung gerade nicht geteilt hat. Gelegentlich wird, um die mythische Form auf Protagoras zurückzuführen, verwiesen auf die Geschichte von Herakles am Scheideweg, die Xenophon für den Sophisten Prodikos bezeugt (DK 84 B 2). Prodikos wurde zu den Atheisten gezählt, aber wohl zu Unrecht, weil er die Götter nicht abschaffen will, sondern eine Erklärung für den Glauben gibt.44 Als Gott werde angesehen, was dem Leben des Menschen nütze (DK 84 B 5).45 Das ist allegorische Deutung, die für den historischen Protagoras nicht bezeugt ist. Auch nicht anzunehmen ist, sofern er gemäß seinem skeptischen Ansatz über die Götter nichts aussagen will. Schon gar nicht lässt sich von Herakles bei Prodikos auf die Kulturentstehungslehre des Protagoras schließen. Das hat richtig C.W. Müller festgestellt: „Er zeigt lediglich, daß der Mythos als literarische Form der Sophistik nicht fremd war“.46 Gewiss sind ‚Sophistenmythen‘ kenntlich: der Troische Dialog des Hippias von Elis (DK 86 A 2), Lobrede auf Helena und Verteidigung des Palamedes des Gorgias (DK 82 B 11, 11a). Aber hierbei handelt es sich um literarisches Spiel, und man wird in Gorgias’ Lob der Helena nun sicherlich nicht die Anwendung seiner Erkenntnistheorie erwarten (die in der Skepsis noch weiter ging als Protagoras, DK 82 B 3). Erwarten müssen wir allerdings nach den Vorgaben, dass Protagoras bei Platon eine ernsthafte Darlegung seiner Auffassung vorlegt, und wenn es eine Verbindung zum historischen Protagoras gibt, so muss sie dessen Kulturentstehungslehre entsprechen. Der Versuch bei Morgan [2000] 132ff., den Mythos im Protagoras in eine Reihe mit den sophistischen Epideixeis zu stellen, ist schon deshalb wenig überzeugend (im Übrigen ist zwar festgestellt: „Plato is substantially reproducing Protagoras’ own views“47, doch ist das mit äußeren Indizien eben nicht belegt).48 Schöpfung durch Gott Der Mythos beginnt mit den Worten: „Es war also einmal eine Zeit, da gab es schon Götter, aber noch keine sterblichen Wesen“ (320c8f.). So spricht kein Skeptiker, der bezeugtermaßen (DK 80 B 4) über die Existenz der Götter keine Aussage treffen will. Bereits die Anfangsworte lassen erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass wir es hier mit der Lehre des historischen Protagoras zu tun haben.
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Vgl. Winiarczyk [1990] 6f. Weitere Zeugnisse in B 5 sowie im Kommentar zu Cicero, De natura deorum 1,118 bei Pease [1955] 514f. 46 C.W. Müller [1967] 141 Anm. 1 47 Morgan [2000] 136. 48 Nichts anderes ist Manuwald [2003] 41 zu entgegnen. 45
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Betrachtet man den Mythos, so ist gewiss die Gabe des Zeus (Scham und Recht) der Kern, auf den die Geschichte hinausläuft, der Punkt, der für das Beweisziel, die Lehrbarkeit der Tugend, von Bedeutung ist. Selbst wenn dies allegorisch zu deuten wäre (wie einige versuchen), so ist damit nicht erklärt, weshalb in dem gesamten Mythos die Götter als lebende Wesen erscheinen, der Mensch als von Gott geschaffenes und von diesem behütetes Geschöpf, und dieser Ansatz bis in Einzelheiten ausgearbeitet ist. So wird erklärt, es habe für die Erschaffung der sterblichen Wesen eine ‚vom Schicksal festgesetzte Zeit‘ (chronos heimarmenos 320d1f.) gegeben (später ist die Rede von einem ‚schicksalhaften Tag‘, an dem die Menschen ans Licht treten sollten, 321c6f.). Offensichtlich steht dieses Schicksal über den Göttern (eine alte Vorstellung), denn als die Zeit gekommen war, da schufen sie die Menschen „im Schoß der Erde aus einem Gemisch von Erde und Feuer und allem, was sich mit Feuer und Erde verbinden läßt“ (320d2f.). Vergleicht man Hesiods Erga, wonach die erste Frau (Pandora) im Auftrag des Zeus geschaffen wird: „Und dem Hephaistos gebot er, dem rühmlichen, daß er in Eile Erde mit Wasser vermenge ...“ (v. 60f.),49 so ist eindeutig, in welche Tradition sich unser Mythos stellen will. Dieser Tradition aber, die den Volksglauben ausmacht und die sich in zahlreichen Varianten findet,50 war zur Zeit des Protagoras längst eine naturphilosophische Erklärung des Ursprungs entgegengestellt worden, die der Götter als Schöpfer nicht bedurfte. Gemeint ist die spontane Entstehung, etwa aus dem Schlamm des Meeres bei Anaximander (DK 12 A 30), oder einer Urmasse, aus der die Menschen durch Abscheidung und Zusammenfügung hervorgehen, so Anaxagoras (DK 59 B 1-4). Nach Xenophanes ‚entstanden wir alle aus Erde und Wasser‘ (DK 21 B 33) und werden, wie alles, am Ende zu Erde werden (B 27). Von Göttern ist in diesem Zusammenhang keine Rede. Von Demokrit, der, wie erwähnt, von Protagoras vielfach beeinflusst ist, wissen wir: „die Menschen seien ursprünglich aus Wasser und Schlamm entstanden“ – „die Lebewesen seien dadurch entstanden, daß ursprünglich das Feuchte Leben hervorgebracht habe“ – „die Menschen seien nach Art der Würmer aus der Erde ausgeworfen worden, ohne Schöpfer und ohne Vernunftgrund“ (DK 68 A 139).51 Wir erkennen in zwei Berichten (DK 60 A 1, 4), dass Archelaos, der die Naturphilosophie aus Ionien nach Athen gebracht haben soll, eine Kulturentstehungslehre konzipierte, die von der Entstehung des Menschen aus dem Schlamm bis zur Gesellschaftsbildung reichte. Sollte Protagoras etwa zur selben Zeit von der göttlichen Schöpfung gesprochen haben?52 Der Urheber des My49
Übersetzung von Scheffer. Man denke an Prometheus als Menschenschöpfer; vgl. hierzu Bapp [1902-9] 3044ff. 51 Übersetzung Jürß, Müller, Schmidt [41991] 157 (Nr. 167-169). 52 Bei Archelaos schaffen sich die Menschen, nachdem sie sich von den Tieren ‚trennten‘, eine Kultur (‚Führer, Gesetze, Künste, Städte‘ usf.). Von Göttern ist keine Rede, vielmehr vom Verstand, der zwar allen Lebewesen eigne, freilich in verschiedener Ausprägung (A 4 (6)). Dem Menschen also in höherem Grad, weshalb er aus der tierhaften Urzeit auf50
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thos beginnt damit, weil die von ihm skizzierte Menschheitsgeschichte auf das Eingreifen des Zeus zielt, der die von ihm (oder jedenfalls nach seinem Auftrag) geschaffenen Menschen vor dem Untergang bewahren will. Teil der Schöpfungsgeschichte ist die Erzählung von Prometheus und Epimetheus (320d3-322a2), eine Version, die sich in Konkurrenz zu den Versionen bei Hesiod und im pseudo-aischyleischen Prometheus Desmotes stellt.53 Hier ist berichtet, wie die Götter den Auftrag erteilen, die Menschen mit ‚Vermögen‘ (dynameis) auszustatten, dass Prometheus diesen Auftrag aber an seinen dummen Bruder abgibt. Dieser nun verbraucht die zur Verfügung stehenden ‚Vermögen‘ schon bei der Ausstattung der Tiere und gerät dadurch in Schwierigkeiten. Da tritt Prometheus auf (321c3) und beschließt, dem Menschen, der „nackt, ohne Schuhe, ohne Decken und ohne Waffen geblieben ist“ (321c5f.), zu helfen, indem er „dem Hephaistos und der Athena ihr kunstreiches Handwerk samt dem Feuer“ (tēn entechnon sophian syn pyri 321d1f.; dazu 321e1ff.) stiehlt. Zu dieser Tat wird Prometheus also nur wegen des Versagens des Epimetheus veranlasst, und seine Strafe, die nur kurz erwähnt ist, erhält er also dessentwegen (322a1f.). Es ist deutlich, dass der Autor die Rolle des Prometheus als Gegner des Zeus, als der er im Prometheus Desmotes erscheint, bewusst verändert hat. Später ist davon die Rede, dass Zeus fürchtete, es könne das menschliche Geschlecht zugrunde gehen (322c1), und dass er deshalb eingegriffen habe (dazu unten). Wer das so konzipiert hat, der wollte einen Zeus vorstellen, der sich entschieden von dem Tyrannen abhebt, der in der Tragödie aus nicht näher genannten Gründen die Menschheit vernichten will und damit Prometheus’ Eingreifen und den Raub des Feuers erst provoziert (PV 231ff.). Die Frage ist nur, was sollte den historischen Protagoras veranlassen, einen Mythos zu korrigieren? Nicht indem er etwa rationalisiert oder allegorisiert, sondern eine Version schafft, die sich auf der traditionellen Ebene handelnder Götter bewegt. Glaube an Gott Sofern die Menschen mit den von Prometheus vermittelten Gaben ausgestattet sind, kann ihre kulturelle Entwicklung beginnen: „Nachdem nun der Mensch am göttlichen Los Anteil hatte, begann er erstens wegen dieser Verwandtschaft mit dem Gott als einziges Lebewesen an Götter zu glauben und machte sich daran, Altäre und Götterbilder zu errichten“ (322a3-5).
steigen kann. Wenn man den Mythos im Protagoras in Bezug setzen will, dann kann in der Andersartigkeit nur Widerspruch erkannt werden. Ein Beleg, dass nicht der historische Protagoras der Urheber ist (Manuwald [1996] 120 Anm. 41 sieht die Differenz, zieht indes keine Schlussfolgerungen für die Echtheitsfrage). 53 Vgl. hierzu Bees [1999].
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Den Interpreten hat diese Passage einige Probleme bereitet. So hat man versucht, die Bemerkung bezüglich der Verwandtschaft zu tilgen.54 Eine textkritische Begründung fehlt, der Wunsch, einen Protagoras gemäßen Text herzustellen, reicht aber nicht. Auch ‚rettet‘ der Eingriff nicht viel, weil die gesamte Geschichte auf der Voraussetzung fußt, dass der Mensch mit den Göttern verbunden ist: Er ist ‚verwandt‘, weil die Götter ihn geschaffen und ausgestattet haben. Man suchte daher nach anderen Wegen. C.W. Müller entwickelte eine häufiger rezipierte Deutung, die sich auf die Methode der Mythenrationalisierung stützt: „Entkleidet man dagegen den Gedanken seiner mythischen Form und versteht ihn ‚anthropozentrisch‘, so bleibt die Relation der Verwandtschaft bzw. Gleichartigkeit bestehen, nur verkehrt sich der Aspekt. Der Mensch wird nun zum ‚Maß‘, an dem die Götter gemessen werden. Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch heißt dann – bei Ausklammerung der Frage nach der Existenz der Götter (VS 80 B 4) – nichts anderes, als daß die Vorstellungen des Götterglaubens Projektionen oder Spiegelungen des Menschlichen sind. Erkennt man, daß es sich bei Platon nur um die mythische Transposition der Anwendung des Homo-mensura-Satzes (VS 80 B 1) auf die Götterwelt handelt, so werden die Einwände, die man gegen die protagoreische Provenienz von Prot. 322a geltend gemacht hat, gegenstandslos“.55 Protagoras’ Satz über die Götter ergibt sich aus der skeptischen Erkenntnistheorie.56 Die Behauptung ihrer Existenz mag als Wahrnehmung des Einzelnen erscheinen, die dann eben wahr ist wie jede andere Äußerung über die Dinge. Aber wenn Protagoras in seinem Namen sagt, er habe eine derartige Wahrnehmung nicht (adēlotēs), und demgemäß sich nicht über die Götter äußern will, so schließt dies aus, dass er Götter zu handelnden Wesen macht, die die menschliche Entwicklung begleiten. Götter sind nach der Aussage des Mythos keine bloßen „Spiegelungen“. Wenn die Huldigung der Götter das ‚Erste‘ ist, das die ins Licht der Erde tretenden Menschen unternehmen, so ist die Erläuterung ‚aufgrund ihrer Verwandtschaft‘ die Begründung dafür, dass die Menschen nicht warten (können oder wollen), bis sie ihr eigenes Dasein entwickelt haben. Auch dies gelingt freilich nur aufgrund einer göttlichen Gabe, die Fähigkeit, mit Hilfe des Feuers eine Technik zu entwickeln, die von Prometheus den Göttern Hephaistos und Athene entwendet und den Menschen gegeben wurde (321d1f., e1ff.). ‚Anteil am Göttlichen haben‘ (theias metesche moiras) muss sich darauf beziehen, so dass die Religion als Gegengabe verstanden werden kann. Auch wenn das nicht ausgesprochen wird, so ist das auch ein Motiv für Zeus, die Menschen später zu retten. Es ist also keineswegs so, dass die Betonung der ‚Verwandtschaft‘, rich-
54
Deuschle athetierte dia tēn tou theou syggeneian. C.W. Müller [1967] 142ff. 56 Siehe oben S. 176f. und 179f. 55
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tig gelesen („entmythologisiert“), uns lediglich sagen soll, dass der Mensch „sich grundsätzlich von den Tieren unterscheidet“.57 Was nach aller Wahrscheinlichkeit der historische Protagoras lehrte, geht hervor aus einem Abschnitt in Platons Nomoi (889ef.): Die Götter, mein Bester, so behaupten diese Leute als erstes, verdankten ihr Dasein der Kunst, nicht der Natur, sondern bestimmten Gesetzen, und diese seien jeweils verschieden je nachdem, wie die einzelnen Leute bei der Gesetzgebung miteinander übereingekommen seien.58
Nach dieser Kritik, die mit Recht auf Protagoras bezogen wird, auch wenn er namentlich nicht genannt ist,59 ist Religion Ergebnis einer Vereinbarung (synōmologēsan). Der Glaube an Gott ist Teil eines ‚Gesellschaftsvertrags‘ (dazu unten), er ist dem Menschen nicht angeboren (ou physei). Von einer irgendwie gearteten ‚Verwandtschaft‘ kann hier keine Rede sein.60 Klar zeigt uns ein Zeugnis des Sophisten Kritias, das berühmte Fragment aus dem Satyrspiel Sisyphos (DK 88 B 25),61 wie Religionskritik in die Kulturentstehungslehre eingebettet war: Die Menschen lebten einst wie die Tiere, geben sich dann ‚Gesetze als Zuchtmittel, damit das Recht herrsche‘ (v. 5f.). Um aber auch heimlich verübten Vergehen entgegenzuwirken, erfindet ein ‚schlauer und weiser Mann‘ die Furcht vor den Göttern. Er führt ein göttliches Wesen ein, das alles wahrnimmt, was auf Erden geschieht (v. 12ff.). Und so, resümiert Kritias, ‚hat er mit lügnerischem Wort die Wahrheit verhüllt‘ (pseudei kalypsas tēn alētheian logōi v. 26). Ob der historische Protagoras sich auf dieser Ebene bewegte und eine Deutung gegeben hat, die sich zu der bei Kritias erkennbaren stellte, wissen wir nicht, auszuschließen ist das freilich nicht (der vom weisen Mann einstmals verdeckten ‚Wahrheit‘ hätte er dann eben Wahrscheinlichkeit gegeben). Sicher ist, dass Glaube und Kult erst in einem späteren Stadium der Entwicklung auftreten können, jedenfalls nicht vor Ausbildung der Sprache, weil diese Voraussetzung für die ‚Vereinbarung‘ ist. Im platonischen Mythos ist das zeitliche Verhältnis aber umgekehrt, und das sicherlich nicht aus Versehen, sondern in bewusstem Widerspruch. Manuwald erkennt wohl das Problem, das sich auch darin äußert, dass die Herstellung von Götterbildern vor dem Hausbau erscheint, doch kommt er lediglich zur Feststellung, es sei hier keine Rücksicht genom57
So Manuwald [1996] 114. Übersetzung Schöpsdau. 59 Entscheidend ist die Übereinstimmung mit Tht 172a-b (unten S. 191 und 198 besprochen); vgl. Schöpsdau [2011] 390 mit Literatur. 60 Dies ist etwa Auffassung der Stoa, allerdings basierend auf der Voraussetzung, dass die Seele des Menschen ein ‚Stück‘ des Gottes ist (vgl. z.B. Epiktet, Dissertationes 2.8.11); hierzu Bees [2004] 156. 61 Dass es nicht Euripides zuzuschreiben ist, dürfte heute anerkannt sein. Ein Kommentar findet sich bei Pechstein [1998] 319ff. 58
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men „auf eine plausible Entwicklung“.62 Gewiss aber nicht vom historischen Protagoras in dieser oder jener Vorlage.63 Gründung von Städten Die entscheidende Etappe ist der Versuch der Menschen, Städte zu gründen (322b6ff.). Veranlasst werden sie dazu durch die Angriffe der Tiere, die sie nicht abwehren können, weil ihnen noch die ‚Staatskunst‘ (politikē technē) fehlt, deren Teil die Kriegskunst ist (322b5). ‚Noch‘ (oupō) ist mit Bedacht gesagt, weil in der Prometheusepisode ausführlich begründet ist, warum die Menschen über die Staatskunst nicht verfügen (322d4ff.): „Denn diese lag bei Zeus“ (ēn gar para tōi Dii), und Prometheus war es nicht möglich in die Burg des Zeus zu gelangen; außerdem seien dort furchtbare Wachen aufgestellt gewesen, wie es heißt.64 Aus diesem Grund scheitert der Versuch, Städte zu gründen: „Doch als sie nun beisammen waren, taten sie einander unrecht, weil sie ja die Staatskunst noch nicht besaßen; die Folge war, daß sie sich wieder zerstreuten und weiter umkamen“ (321b7ff.). Eine derartige Konstruktion scheint innerhalb der antiken Kulturentstehungslehre singulär. Mit der Gesellschaftslehre des Protagoras ist sie gänzlich unvereinbar. Denn hier sind die Menschen selbstverständlich nicht auf eine Staatskunst göttlichen Ursprungs angewiesen. In einem längeren Referat im Theaitet findet sich folgende Skizze (von Sokrates als Lehre des Protagoras vorgetragen): daß weise und gute Redner bewirken, daß auch den Städten das Tüchtige anstelle des Schlechten als gerecht erscheint. Denn was einer jeden Stadt als gerecht und schön vorkommt, das – behaupte ich – ist es auch wirklich für sie, solange sie es dafür hält; der Weise aber bringt zustande, daß anstelle des Schlechten nun das Gute tritt und ihnen auch als das erscheint (Tht 167c2-7 = DK 80 A 21a [23ff.]).
Das ist zweifellos authentisch berichtet und steht in völligem Einklang mit der rekonstruierten Erkenntnistheorie des Protagoras. Die menschliche Gesellschaft orientiert sich nicht an unveränderlichen, transzendenten, gar göttlichen Normen und Gesetzen, sondern bestimmt selbst, was gerecht und sittlich gut sein soll. Hier geht es um ein ‚Meinen‘ (dokein), nicht um die Erkenntnis eines außerhalb der Wahrnehmung liegenden Seins. Deshalb kann jede einzelne Stadt, wie eben jeder einzelne Mensch, etwas anderes für wahr und richtig halten, und dies 62
Manuwald [1996] 114. Selbst bei Xenophon, Memorabilia 1,12f., wo die Existenz der Götter Inhalt einer ‚ersten‘ Wahrnehmung darstellt (man bemerkt die Übereinstimmung zu 322a3f.), erscheint die Sprache zuvor. 64 Man erkennt hier eine liebevolle Ausmalung, die ja den ganzen Mythos auszeichnet. Warum sollte gerade ein Agnostiker so verfahren? Warum sollte er von den ‚Jahreszeiten des Zeus‘ (321a3f.) sprechen, wenn er nicht einmal weiß, ob es ihn gibt?
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gegebenenfalls auch wieder ändern (sofern eben eine andere Wahrnehmung an die Stelle der alten tritt). Die Aufgabe des weisen Redners, in dem unschwer der Sophist zu erkennen ist (im Anschluss an das zitierte Stück ist von ihm die Rede, wird die Erziehung seiner Schüler verglichen), ist folglich eine Meinung zu schaffen über das, was gerecht erscheinen soll, was also – aktuell – dem Zusammenleben förderlich ist.65 Und dieses Meinen, so kann man sagen, wird zu einem Gesetz, das eine Zeitlang gelten kann, aber nicht muss (in der Formulierung heōs an auta nomizēi wird man den Begriff Nomos hören dürfen). Und wenn ausdrücklich betont ist: jede einzelne Stadt, so gilt das Prinzip der Relativität sowohl unter verschiedenen Menschen wie verschiedenen Städten. Dass die Konsensbildung zwischen den einzelnen Menschen mit je eigenen (wahren) Meinungen im sogenannten Gesellschaftsvertrag Ausdruck findet, lässt sich unschwer erkennen: Und ebenso ist es doch auch in der Politik: schön und schimpflich, gerecht und ungerecht, fromm und unfromm ist in Wahrheit für jede Stadt das, was sie dafür hält und demnach als gesetzmäßig festlegt, und in diesen Fragen ist nicht der eine Bürger weiser als der andere und die eine Stadt weiser als die andere (Tht 172a15).
Die Wendung thētai nomima hautēi (vgl. 172b1), die Schaffung eines positiven Rechts, weist auf den Gesellschaftsvertrag.66 Wir kennen das Konzept aus zahlreichen Zeugnissen.67 Ausführlich diskutiert ist es bei einem Zeitgenossen des Protagoras, dem Sophisten Antiphon (DK 87 B 44, fr. A). Neben den Gesetzen der Stadt, die ‚gesetzt‘ (epitheta)‚ die ‚vereinbart‘ (homologēthenta) sind, stehen die Gesetze der Natur. Diese sind nach Antiphons Auffassung höher zu bewerten, weil die Übertretung der durch bloße Übereinkunft zustande gekommenen Gesetze nicht sanktioniert wird, sofern man denen verborgen bleibt, die sie ‚vereinbart‘ haben. Anders ist das bei den Gesetzen der Natur, weil sich hier in jedem Fall ein Übel einstellt: „denn der Schaden beruht nicht auf bloßer Meinung, sondern auf Wahrheit“ (col. 2, 21ff.). Die Begrifflichkeit ist gewiss nicht zufällig, Antiphon greift vielmehr in eine Diskussion ein, in der wir auch Protagoras sehen. Seine Auffassung allerdings ist derjenigen Antiphons entgegengesetzt: Es muss hier das ‚Meinen‘ genügen, das vereinbarte Recht, weil es eine außerhalb der verschiedenen Wahrnehmungen liegende Wahrheit eben nicht gibt. Aufschlussreich sind die Belege der epikureischen Philosophie, die Götter zwar kennt, doch diese ohne jeglichen Einfluss auf das irdische Geschehen 65
Richtig erkennt Hardy [2001] 78 in der vorliegenden „Selbstdarstellung der sophistischen Rhetorik“ die „authentischen Intentionen“ des Protagoras. 66 In der zuweisbaren Stelle Nomoi 889ef. erscheint der Begriff der ‚Vereinbarung‘ (synōmologēsan, siehe oben S. 189), der eine ‚fortwährende Diskussion‘ (amphisbētountas diatelein allēlois, siehe Anm. 92) zugrundeliegt. 67 Vgl. hierzu Kahn [1981]; Sprute [1989] 25ff.
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bleiben lässt. In den sogenannten Hauptlehrsätzen Epikurs heißt es: „Das der Natur gemäße Recht ist ein den Nutzen betreffendes Abkommen mit dem Ziel, einander nicht zu schädigen noch sich schädigen zu lassen“ (RS 31) – „Es gibt keine Gerechtigkeit an sich, sondern es gibt sie in den gegenseitigen Beziehungen der Menschen in Gebieten gleich welcher Größe als eine Art Vertrag, einander nicht zu schädigen noch sich schädigen zu lassen“ (RS 33).68 Das ist sicherlich auch Widerspruch gegen Platons Lehre vom Recht, das sich aus der Idee als einer transzendenten Norm speist. Epikur hat dies verworfen und das Recht zu einer Vereinbarung unter den Menschen gemacht. Gerechtigkeit an sich gibt es somit nicht, sie ist lediglich „ein Produkt historischer Entwicklung“.69 Wir sehen bei Lukrez (5,925ff.), wie Epikurs Konzept des Vertrags in der Kulturentstehungslehre erscheint, das heißt: systemimmanent verwendet wurde. In der Urzeit erkennen die Menschen nicht das gemeinsame Gute, verstehen weder Sitten noch Gesetze zu gebrauchen (v. 958f.). Ausführlich wird geschildert, wie sie den Tieren zum Opfer fallen (v. 982ff.). Weiter fortschreitend (v. 1011ff.) verfügen sie jedoch über Hütten, Felle, das Feuer, und in dieser Phase beginnt auch die Vergesellschaftung: tunc et amicitiem coeperunt iungere aventes / finitimi inter se nec laedere nec violari („Damals fingen sie an, auch Freundschaft zu schließen, begierig, weder einander – die Nachbarn – zu schaden, noch Schaden zu leiden“, v. 1019f.).70 Das entspricht der Formulierung bei Epikur (RS 31, 33). Nicht alle Menschen waren einträchtig, doch ‚ein guter Teil hielt die Verträge‘ (servabat foedera, 1025). Ansonsten wäre das Menschengeschlecht gänzlich verschwunden. In einer zweiten Phase (v. 1105ff.) befinden sich die Menschen in zunehmender wirtschaftlicher Stärke, die zur Gründung von Städten führt, aber auch zum Sturz der Könige und der Herrschaft des Pöbels. Doch hier ist es die Einsicht, sind es Gesetze, unter die man sich freiwillig, ‚aus eigenem Antrieb‘ (sponte sua) stellt, und daraus resultierend die Furcht vor Strafe, die das Faustrecht beendet (v. 1143ff.). Wir wissen nicht, wie der historische Protagoras seine Kulturentstehungslehre konzipierte (sofern er eine solche überhaupt konzipierte), doch klar scheint, dass sie in etwa dem in der atomistischen Philosophie Epikurs erkennbaren Typus entsprochen haben muss. Es ist sehr bemerkenswert, dass man die Gesellschaftsbildung vermittels eines Vertrags, offenkundig beeinflusst von der Darstellung im Theaitet, auch in dem Mythos sehen will, den der platonische Protagoras vorträgt.71 Doch dies ist nicht mehr als eine textfremde Interpretation, die von dem geschilderten Gang 68
Übersetzung Jürß, Müller, Schmidt [41991]. Jürß, Müller, Schmidt [41991] 64, hier ausführlich zur Zielrichtung gegen Platon. 70 Übersetzung Büchner. 71 So etwa R. Müller [2003] 82. Ältere Literatur nennt Sprute [1989] 8 Anm. 11; dass im Mythos die Vertragstheorie nicht vorliegt, schließt Sprute zu Recht, allerdings ist unzutreffend, dass dies auch für die Theorie des historischen Protagoras gelte (S. 18).
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der Entwicklung widerlegt wird. Denn das Scheitern der ersten Städtegründungen wird lapidar damit begründet, dass die Menschen einander Unrecht taten (321b7ff.). Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass sie etwa versuchten, sich zu verständigen (dabei steht die Ausbildung einer Sprache ganz am Anfang ihrer Entwicklung, 322a5f.), etwa Gesetze aufstellten, die dann gebrochen wurden, und was man sonst sich in diesem Zusammenhang vorstellen könnte.72 Es ist zu schließen, dass neben dem Konzept des Vertrags auch der Redner eine Rolle in der Kulturentstehungslehre des historischen Protagoras gespielt hat (oder hätte, wie man vorsichtig sagen muss). Ist es doch der ‚weise Redner‘ in den Städten der Gegenwart, der das Brauchbare gerecht erscheinen lässt (Tht 167c2-7). Für diesen Schluss sprechen Zeugnisse, in denen Redner, in der typischen Weise der Rückprojektion, die Rede zum kulturstiftenden Faktor machen bzw. die Menschen von Rednern zusammenführen lassen. Ein interessanter Beleg findet sich bei Isokrates, Nikokles 5-7. Wir stehen den Tieren in vielem nach, heißt es da, in Schnelligkeit, Kraft usf., doch: ‚weil uns die Kraft gegeben ist, andere zu überzeugen, verständlich zu machen, was wir wollen, entfernten wir uns nicht nur vom tierhaften Leben, sondern kamen zusammen, gründeten Städte, stellten Gesetze auf und erfanden die Künste. Und fast alles, was von uns eingerichtet wurde, hat der Logos bewerkstelligt‘. Der Ausgangspunkt entspricht der These vom Menschen als Mängelwesen – im Mythos des Protagoras als Folge von Epimetheus’ fehlerhafter Verteilung erklärt, doch anders als dort genügt den Menschen Sprache und Verstand (Logos), um sich kulturell über die Tiere zu erheben. Isokrates braucht keinen Gott, der den Menschen die Gründung von Städten ermöglicht. Und er braucht auch keine göttliche Norm, um Gesetze zu erlassen, die sich auf Gerecht und Ungerecht, sittlich Schlecht und sittlich Gut beziehen, denn auch dies wird als Leistung des Logos erklärt (§ 7). Ähnliches findet sich in Ciceros Kulturgeschichten, so der Einleitung zu De inventione I. Die tierhafte Urzeit, die durch Gesetzlosigkeit gekennzeichnet ist, beendet ein ‚offenkundig bedeutender und weiser Mann‘ (magnus videlicet vir et sapiens § 2). Der führte die zerstreut lebenden Menschen an einem Ort zusammen und machte sie aus Wilden zu sanften Wesen propter rationem et orationem – ‚aufgrund seiner Vernunft und seiner Redegabe‘ (die zwei Seiten des griechischen Logos). Dann werden Städte gegründet, und auch hier ist es die Kraft der Rede, die die Menschen lehrt, Treue zu pflegen, Gerechtigkeit zu wahren (§ 3). In De oratore (1,32f.) beginnt Cicero mit der Feststellung, dass der Mensch vor den Tieren den Vorzug hat, sprechen und sich mitteilen zu können. Und eben diese Fähigkeit habe die Menschen einst ‚von einem wilden, rohen Dasein zu dieser menschlichen und gesellschaftlichen Gesittung geführt‘ (a fera agrestique vita ad hunc humanum cultum civilemque deducere), dieselbe Kraft der Rede sei es auch, die ‚schon bestehenden Staatswesen Gesetze, Ge72
Man vergleiche etwa, was Döring [1981] 111 zu einem „entmythologisierten“ Mythos des Protagoras ausführt.
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richte und das Recht vorschreibe‘ (iam constitutis civitatibus leges iudicia iura describere). Hier ist in typischer Weise zurückprojiziert: Die konstruierte Vorgeschichte dient der Erklärung der Gegenwart. Nichts anderes ist für den historischen Protagoras zu erwarten, berücksichtigt man die Rolle, die dem weisen Redner in seiner Theorie zukommt. Wir finden aber dergleichen nicht im Mythos, den die Dialogfigur vorträgt. Sie folgt einer gänzlich anderen Auffassung. Denn die Menschen sind unfähig, sich selbst Gesetze zu schaffen, bedürfen einer göttlichen Norm und eines göttlichen Gesetzes. Und beides muss ihnen von Zeus selbst geschenkt werden. Staatskunst als Geschenk des Zeus Nachdem die Menschen die Städte aufgeben mussten, weil sie die ‚Staatskunst‘ nicht besaßen, und weil sie eben nicht fähig sind, sich diese selbst zu schaffen, werden sie wieder in den Anfangszustand zurückgeworfen (322b7 muss den Rückfall in die 322a8ff. geschilderte Urzeit bezeichnen). Dieser ist geprägt von dem ‚Kampf gegen die Tiere‘ (322b4). Der Mensch, so heißt es in der Prometheusepisode, ist wegen des Versagens des Epimetheus ‚ohne Waffen‘ (aoplos 321c6). Im Gegensatz zu den Tieren hat er keine natürliche Abwehr, allerdings besitzt er Feuer und technische Weisheit (321d1f.), eine ‚Lebenskunst‘ (321d4), ist mithin in der Lage, Altäre zu errichten, Wohnungen zu bauen, Kleidung und Schuhe herzustellen (322a5ff.). Nur ist er offenkundig nicht in der Lage, Waffen herzustellen und sich gegen die Tiere zu verteidigen. Ihm fehlt die ‚Kriegskunst‘, die Teil der ‚Staatskunst‘ ist (322b5), und diese liegt ja noch bei Zeus. Wer dies so konzipiert hat, der wollte jedenfalls eines nicht: den Menschen als autonomes Wesen vorstellen, das in der Lage ist, ohne göttliche Hilfe, ohne eine Verbindung zu Gott, eine Kultur zu schaffen. Das Überleben der Menschen wird folglich damit erklärt, dass Zeus in das irdische Geschehen eingreift: ‚Zeus also fürchtete, daß unser ganzes Geschlecht zugrundegehen könnte und sendet daher Hermes, zu den Menschen Scham und Recht zu bringen‘ (322c1f.). Mit den Gaben aidōs und dikē (ich übersetze, wie noch zu erläutern, mit ‚Scham‘ und ‚Recht‘) muss die den Menschen noch fehlende ‚Staatskunst‘ (politikē technē) gemeint sein. Ihr Fehlen war der Grund, warum sie bei den ersten Städtegründungen scheiterten und warum sie von den Tieren dezimiert wurden (was Zeus ja erst zum Eingreifen bewegt hat). Nun allerdings werden die Menschen in der Lage sein, in ‚Ordnung‘ und ‚Freundschaft‘ zusammenzuleben (322c3). Zumal die Verteilung der Gaben ausdrücklich an alle erfolgen soll und Zeus auch noch ein Gesetz verfügt, das die Nicht-Teilhabe mit der Todesstrafe belegt. Der Schlusspassus wird mit Recht als Kern des Mythos angesehen. Anderes, das die Interpreten erkennen wollten, ist unzutreffend. Im Allgemeinen werden die Gaben des Zeus als menschliche Eigenschaften gedeutet: „den Menschen sei zu ihrem Schutze der Sinn für Gerechtigkeit und die Scheu vor dem Unrecht (dikē und aidōs) von den Göttern verliehen; diese Eigenschaften seien jedem
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von Natur eingepflanzt“.73 So schloss Zeller. Ähnlich interpretierende Wiedergaben finden sich in der nachfolgenden Literatur: ‚Rechtsgefühl‘ – ‚Achtung vor dem Mitmenschen‘74; ‚rechtliches Verhalten‘ – ‚Respektierung des anderen‘75; ‚Rechtsgefühl‘ – ‚gegenseitige Rücksichtnahme‘.76 Zeus hätte also die minderausgestatteten Menschen sozusagen komplettiert, indem er ihnen durch Hermes Sozialtriebe einpflanzen ließ.77 Mag sein, dass der Autor des Mythos soweit hätte gehen können, Menschen, die schon länger auf der Erde weilen und deren Erschaffung folglich länger zurückliegt, nachträglich mit bestimmten Eigenschaften zu versehen, die dann erst ihr Überleben ermöglichen.78 Protagoras könnte das freilich nicht gewesen sein, denn wie Diogenes Laertios (9.51) zutreffend mitteilt: mēden einai psychēn para tas aisthēseis (‚die Seele sei nichts über die Wahrnehmungen hinaus‘). Die Seele ist damit „nur die Summe aller Sinneseindrücke“,79 und deshalb ist alles wahr, wie Diogenes weiterhin mitteilt. Das schließt aus, dass im Menschen Anlagen, schon gar gleichartige, vorhanden sind.80 Allerdings geht aus dem Text ohnehin Anderes hervor. Auf die Frage des Hermes, ob er die beiden Gaben ‚wie die Künste verteilen solle‘ (322c5f.), antwortet Zeus: an alle, denn Städte könnten nicht entstehen ‚wenn nur wenige von ihnen daran teilhätten wie an den übrigen Künsten‘ (322d3f.).81 Der Vergleichspunkt sind die Künste, wie die Kunst des Arztes, die vielen dient, wenn einer sie besitzt, und Künste der Handwerker, für die dasselbe gilt (322c6f.). Es ist danach kein Zweifel, dass aidōs und dikē zur Klasse der Künste / technai gehören. Sie sind die Komponenten der politikē technē, der ‚Staatskunst‘, die schon immer bei Zeus war und von diesem also verliehen wird.82 Dieser Akt 73
Zeller [61920] 1387. Pohlenz [1923] 36. 75 Manuwald [1999] 174f. 76 Müller [2003] 82. 77 So Pohlenz [1923] 36. 78 Die Schwierigkeit ist angesprochen bei Müller [1972] 51. 79 Jürß [1998]. 80 Wir finden ein gegensätzliches (vermutungsweise im Widerspruch gegen Protagoras entstandenes Konzept) in der Stoa. Als ‚Kriterium der Wahrheit‘ gilt hier die ‚von einem existierenden Objekt ausgehende Vorstellung‘ und von der Natur dem Menschen eingesetzte ‚Vorbegriffe‘ (SVF II 105); hierzu Bees [2004] 299f. 81 Entscheidend ist diese Stelle, nicht die vorhergehende, in der das Attribut allos fehlt; dies zu Manuwald [1999] 197f. 82 Für dieses Verständnis spricht wohl auch, dass nicht von ‚Vermögen‘ (dynameis) die Rede ist, wie die Eigenschaften heißen, die zunächst bei der Ausstattung der Lebewesen zu verteilen waren (320d5f., 321c1). Dementsprechend ist im Mythos nicht die Rede von dikaiosvnē, der Eigenschaft ‚Gerechtigkeit‘, sondern von dikē. In den Erläuterungen, die Protagoras im Anschluss an den Mythos gibt, ist dies der Fall (zuerst 323a1), aber selbst hier wird ausdrücklich betont, dass es nicht um etwas geht, das ‚von Natur aus‘ da ist, das ‚automatisch‘ entsteht (323c5f.); vgl. hierzu unten S. 200. 74
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stellt sich – sozusagen das menschliche Leben vervollständigend – neben die Vermittlung der ‚Künste‘, die Hephaistos und Athene eignen83 – die aber nicht ausreichen, um das Leben zu sichern. Es ist also die Gabe der ‚Staatskunst‘ so zu verstehen, dass die Menschen nun auch in ihrer sozialen Organisation ‚am Göttlichen Anteil haben‘ (der Begriff theia moira 322a3 kann hier gewiss verwendet werden). Es mag an dieser Stelle der Blick zu Hesiods Erga genügen, um die Tradition zu bezeichnen, in der Vorstellung und Begrifflichkeit stehen. Das Gedicht stellt sich als weitausgreifende Mahnung an Hesiods Bruder Perses dar, das Recht zu wahren. Der Weltaltermythos endet mit dem 5. Geschlecht, dem eisernen der Gegenwart, in dem der Dichter gar nicht leben möchte (v. 174ff.). Es ist von Rechtlosigkeit geprägt, kann ebenso wie die früheren von Zeus wieder ausgelöscht werden. In der Schilderung vermischt sich der gegenwärtige Zustand mit einer Zeit fortschreitender Verschlechterung, die das Ende einleitet: „Keiner wird mehr geschätzt, der wahr geschworen, und keiner, / Der gerecht und gut. Den Übeltäter, den Frevler / Ehrt man weit höher, es herrscht das Recht der Fäuste und keine Ehrfurcht und Scham“ (v. 190ff.).84 Es ist das Fehlen von aidōs, das diese Zeit charakterisiert. Versinnbildlicht darin, dass ‚Scham‘, nun als Göttin verstanden, von der Erde entschwindet, zusammen mit Nemesis, der ‚Vergeltung‘ (v. 197ff.). Beide werden ‚die Menschen verlassen‘ (prolipont’ anthrōpous v. 199) und zum Olymp aufsteigen, wir können sagen: zurückkehren. Nach diesem Verständnis jedenfalls ist ‚Scham‘ als eine göttliche Kraft zu sehen, die im Menschen wirkt, die ihm nicht angeboren ist und deshalb auch wieder verschwinden kann. Noch ist es nicht so weit, denn noch wacht Zeus über das Recht. Ausführlich mahnt Hesiod die ‚Könige‘, die rechtsprechen, sich dessen zu erinnern (v. 248ff.): Es schauen die Götter auf die Menschen, es wandeln die Wächter des Zeus auf Erden und seine Tochter Dike wird sich, wenn sie gekränkt wird, zur Seite des Vaters setzen und ihm berichten. Nach dieser Vorstellung ist das Recht nicht etwas von Menschen Geschaffenes, es ist nicht unabhängig von Gott. Vielmehr hat Zeus es den Menschen gegeben (anthrōpoisi d’ edōke dikēn v. 279); wie ausgeführt wird: im Gegensatz zu den Tieren, die einander auffressen. Das weist zurück zu dem düsteren Zustand, in dem die Menschen einander schaden, weil sie das Recht nicht achten. Das heißt: Gott nicht achten, weil er Sorge trägt für das geordnete Zusammenleben der Menschen. In der Theogonie kommt dies durch genealogische Konstruktion zum Ausdruck: „Zweite Gemahlin des Zeus war Themis, die Mutter der Horen, / Sie gebar Eunomia und Dike, die zarte Eirene, / Die da sorgend die Werke der sterblichen Menschen betreuen“ (v. 901ff.). 83
Bemerkenswert ist die Betonung des Umstandes, dass es sich um technai handelt: entechnon sophian 321d1, epsilotechneitēn 321e1, empyron technēn ... kai tēn allēn 321e1f. 84 Übersetzung von Scheffer.
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Lesky bemerkt: „Mit der Macht einer religiösen Idee taucht hier die Überzeugung von der Heiligkeit, Unzerstörbarkeit und rettenden Idee der Dike auf, die von nun ab zu einem Grundthema griechischen Dichtens und Philosophierens wird“.85 Um Weniges zu nennen: Aischylos stellte seine Tragödien noch im 5. Jahrhundert unter das Thema „Die Gerechtigkeit des Zeus“. Wir sehen hier Dike zu den Menschen kommen, über ihre Taten wachen, den guten Menschen Belohnung und den schlechten Strafe in Aussicht stellen (fr. 281a R).86 In Sophokles’ Ödipus auf Kolonos erscheint Aidos als ‚Beisitzerin am Thron des Zeus bei allen Werken‘ (v. 1267f.), aber sie tritt auch den Menschen zur Seite, und ebendies wird Ödipus hier gewünscht. Im selben Drama spricht Ödipus ‚von der nach alten Gesetzen gefeierten Dike als Beisitzerin des Zeus‘ (v. 1381f.). Es scheint mir kein Zweifel zu bestehen, dass der Mythos im Protagoras an die alte Tradition angeknüpft hat, folglich Dike als das göttliche Recht zu verstehen ist und Aidos als die göttliche Kraft, die die Menschen durch Scham zur Beachtung des Rechts anhält. Dass dahinter Lehre des historischen Protagoras steht, ist auszuschließen. Diese Folgerung ist in der vorliegenden Literatur nicht gezogen, die Schwierigkeit freilich erkannt. In Anwendung der Mythenrationalisierung schließt man etwa, dass Scham und Recht „sich erst im Verlaufe der Geschichte herausgebildet“ hätten,87 oder „daß in jedem Menschen Sittlichkeit und Rechtsempfinden von Natur aus angelegt sind“.88 R. Müller folgert aus dem zeitlichen Abstand zwischen Schöpfung und Schenkung des Zeus, aidōs und dikē seien als „Entwicklungsprodukte“ aufzufassen, die unter äußerem Druck entstanden sind. Dass sie als Geschenk des Zeus erscheinen, dies sei lediglich „ein Zitat altehrwürdiger Vorstellungen, die mit einem neuen Inhalt erfüllt werden“.89 Wenn es lediglich ein Zitat wäre, so könnte man vielleicht zustimmen, indes ist die gesamte Struktur der Geschichte darauf angelegt, das Überleben der Menschheit vom Eingreifen des Zeus abhängig zu machen. Sicher scheint mir dabei der Einfluss von Hesiods Erga, die im ersten Teil eine Geschichte vom Abstieg des Menschen darstellen, beginnend mit der Täuschung des Zeus durch Prometheus und der darauf erfolgten Trennung von Menschen und Göttern.90 Der pessimistischen Sicht ist in unserem Mythos der Aufstieg der Menschen entgegengestellt und dem vorhergesagten Entschwinden der göttlichen Gerechtigkeit in Aidos und Nemesis deren Konstituierung für alle Zeit. Dass der „Kern“ bereits bei Hesiod vorliegt, führt Decleva Caizzi aus, geht dann aber fehl, wenn sie schließt, Protagoras habe Hesiod auf seine Zeit und 85
Lesky [31971] 125. Vgl. hierzu Bees [2009] 25ff. 87 Pohlenz [1923] 36f. 88 Lesky [31971] 393. 89 Müller [1972] 52ff. 90 So explizit Th. 535; vgl. hierzu Bees [1999] 2ff. 86
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seine Lehre übertragen. Es gehe ihm letztlich nur darum zu zeigen, dass Gerechtigkeit im Respekt für die Normen bestehe, die „jedes Gemeinwesen zu seinem eigenen Vorteil aufstellt“.91 Die Lehre von örtlich und zeitlich wechselnden Gesetzen ergibt sich für Protagoras aus der skeptischen Erkenntnistheorie, und damit notwendig verbunden ist der Gesellschaftsvertrag. Er erstreckt sich auch auf die Festlegung dessen, was als sittlich gut und nicht-gut anzusehen ist (so im Anschluss an die betrachtete Stelle Tht 172a bezeugt, mit direkter Nennung des Protagoras): was gerecht und ungerecht, was fromm und unfromm sei – da wollen sie mit aller Gewalt behaupten, daß nichts von alledem von Natur ein bestimmtes Wesen besitze, sondern daß das, was einer gemeinsamen Meinung entspricht, dann zu Wahrheit wird, wenn es dafür gehalten wird und solange es dafür gehalten wird (Tht 172b3ff.).92
Was ‚Wahrheit‘ im System des Protagoras bedeutet, geht aus dieser Stelle mit voller Klarheit hervor: Sie ist lediglich Ergebnis einer Vereinbarung. Der Gegensatz zwischen einer immerwährenden göttlichen Wahrheit und der schwankenden Meinung der Masse ist damit aufgehoben. Es gibt für Protagoras, so wenig wie für Epikur, eine Gerechtigkeit an sich, schon gar keine auf göttlichen Ursprung zurückzuführende. Der Relativismus gilt vielmehr auch für den Bereich des Sittlichen. Dass dies die Grundlage für den HMS ist, führt etwa Aristoteles, Metaphysik 1062b12-19 (= DK 80 A 19) aus: „der Mensch sei das Maß aller Dinge, womit er nichts anderes sagt, als daß es das, was jedem Einzelnen zu existieren scheint, auch fest und sicher gibt. Wenn dem aber so ist, so folgt daraus, daß dasselbe sowohl ‚ist‘ als auch ‚nicht ist‘, sowohl schlecht als auch gut ist“. So ergibt sich „daß ein Das dem einen schön, dem anderen entgegengesetzt erscheint, und das, was jedem Einzelnen erscheint, Maß ist“.93 Es führt kein Weg von diesem Ansatz zur göttlichen ‚Staatskunst‘ in unserem Mythos.94 Denn das Maß ist hier nicht der Mensch, sondern der Gott. 91
Caizzi [1999=2001] 292f. In der zutreffend auf Protagoras bezogenen Stelle Nomoi 889ef. (siehe oben S. 191 mit Anm. 66) heißt es: „Und so sei auch das Schöne von Natur etwas anderes als das Schöne nach dem Gesetz, und das Gerechte gebe es überhaupt nicht von Natur, sondern die Menschen würden fortwährend darum streiten und es immer wieder neu festsetzen; was sie aber festsetzten und sobald sie es festgesetzt hätten, das sei dann jeweils gültig, obwohl es durch Kunst und Gesetze, aber nicht durch die Natur zustande gekommen sei“. 93 Übersetzung Schwarz. Zu vergleichen 1009a38ff. (unten S. 200f. zitiert). 94 Lesky [31971] 393f. sah das Problem: „Aber es ist nicht zu übersehen, daß die vom homo-mensura-Satz zum Relativismus führende Linie an einer entscheidenden Stelle einen Bruch aufweist und die Einführung von allgemein gültigen Werten wie Sittlichkeit und Recht in eine Welt, in der der Mensch allein das Maß bedeutet, die größte Schwierigkeit bedeutet“. 92
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Ausdrücklich wird betont, dass Scham und Recht an ‚alle‘ zu verteilen seien, weil andernfalls Städte nicht bestehen könnten (322d1ff.). Vielfach wird daraus abgeleitet, Protagoras habe seine Vorstellungen von Demokratie darin zum Ausdruck gebracht. So hält R. Müller (2003: 83) fest: „Es ist die partizipatorische Demokratie, die Staatsform Athens, die hier Protagoras im tiefsten Fundament seiner auf Allgemeingültigkeit zielenden Anthropologie verankert“. Viele weitere Stimmen ließen sich anfügen.95 Sie machen den Schluss aber nicht wahrscheinlicher. Denn im Mythos geht es doch um eine Denkungsart, die allen verordnet und zudem strafrechtlich durchgesetzt wird. Dies ist weder Kennzeichen einer Demokratie noch passt dies zur Auffassung des historischen Protagoras: Jeder einzelne Mensch und jede einzelne Stadt haben ihre je eigene Wahrheit, und noch nicht einmal der Einzelne kann eine feste Meinung haben („und jedem einzelnen für sich erschienen nicht immer aufgrund der Sinneswahrnehmung dieselben Dinge. Also sei es unklar, was davon wahr sei und was falsch“).96 Es gilt: ‚ein jeder ist selbständig in seinem Denken‘ (autarkē hekaston eis phronēsin Tht 169d5f.). Ich kann in der betonten ‚Verteilung an alle‘ (kai pantes metechontōn 322d2) nur einen gezielten Widerspruch gegen den historischen Protagoras erkennen, der nie von ‚Allen‘, sondern immer nur vom ‚Einzelnen‘ ausgeht. Gesetz des Zeus Dass es in dem Mythos um eine Konstituierung der Demokratie gehe, darin Protagoras seine Staatstheorie begründe, dem widerspricht das Gesetz, das Hermes überbringen soll: „Und stelle in meinem Namen das Gesetz auf, daß man den, der an Scheu und Recht keinen Anteil haben kann, umbringen soll als eine Krankheit am Leibe der Stadt“ (322d4f.). Unter der Voraussetzung, dass es sich bei Scham und Recht um (angeborene) Eigenschaften handelt, wird auf ‚entartete Naturen‘ geschlossen: „einzelne abnorme Menschen ..., welche der sittlichen Empfindung oder des Rechtsgefühls entbehren“.97 Gegen diese „abnormalen Menschen“ habe die Gesellschaft „ein Notwehrrecht“.98 Welchen Sinn soll freilich eine Strafandrohung haben, wenn ausdrücklich alle Menschen ‚teilhaben‘ sollen, das hieße: bestimmte soziale Triebe besitzen sollen? Dies trifft, wie gezeigt, nicht zu. Und 95
Vgl. z.B. Witte [1970] 35 („Unter dem mythischen Gewand“ verberge sich „eine philosophische Grundlegung der Perikleischen Demokratie“). Einflussreich scheint Menzel [1929] 188 gewesen zu sein, demzufolge Protagoras lehrte, „daß alle Menschen von Natur gleich sind, daß daher die Demokratie die natürliche Staatsform sei“. Kritisch Sprute [1989] 14ff. 96 Aristoteles, Metaphysik 1009b8ff. (Übersetzung Schwarz); dieses wichtige Zeugnis findet sich allerdings im Abschnitt zu Demokrit (DK 68 A 112). 97 Menzel [1929] 189. 98 Pohlenz [1923] 37.
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auch das Gesetz und die anschließenden Ausführungen bestätigen, dass es nicht um Eigenschaften im Menschen geht. Auch wenn die Dialogfigur Protagoras nun nicht mehr mit Normen und einer Kunst operiert, sondern mit Eigenschaften und einer Tugend (322e2ff.; 323b2), so ist doch klar, dass er mit ‚Teilhabe an dieser Tugend‘ (323a3, 323c1) die Teilhabe an der von Zeus gestifteten ‚Staatskunst‘ meint. Diese Teilhabe ist für jeden (panti) notwendig, weil es sonst keine Städte geben kann, betont Protagoras (323a2f.) und nimmt damit die Erläuterung des Zeus auf (322d2f.). Und an seinem Gesetz orientiert sich die Forderung: Es sei notwendig, dass es keinen gebe, der nicht an der Gerechtigkeit (und der sonstigen bürgerlichen Tugend) teilhat (ein Rückgriff auf die ‚Verteilung an alle‘), andernfalls solle er nicht unter Menschen sein (ē mē einai en anthrōpois 323b7ff.). Hier nun wird ausdrücklich betont, die in Rede stehende Tugend, an der jeder teilhat und haben muss, ist nach allgemeiner Auffassung weder angeboren noch kommt sie spontan zu, sondern sie ist lehrbar und wer sie hat, der hat sie mit Anstrengung erworben (323c5ff.). Was hier formuliert ist und im Weiteren von Protagoras begründet, ist nichts weniger als das Beweisziel der gesamten sogenannten Großen Rede (320c2-328d2): die Lehrbarkeit der Tugend, die Protagoras gegen den Widerspruch des Sokrates zu erweisen sucht (320b4ff.). In einem als Logos bezeichneten Teil greift Protagoras wiederum auf die im Mythos entwickelte Teilhabe an Scham und Recht zurück (324d7ff.). Auch wenn er nun von dem Einen und von Tugend spricht,99 so ist klar, dass er sich am Gesetz des Zeus orientiert: „denn ohne das geht es nicht, und wer keinen Anteil daran hat, den muß man belehren oder züchtigen, Knabe, Mann oder Weib, bis er durch die Strafe besser wird, und wer sich der Strafe und Belehrung nicht unterzieht, den muß man als unheilbar aus der Stadt hinausjagen oder töten“ (325a5ff.). Der Begriff ‚unheilbar‘ (aniaton) greift zurück auf Zeus’ Formulierung ‚Krankheit der Stadt‘ (noson poleōs). Sowohl der gedankliche Aufbau des Mythos wie der Großen Rede erscheint konsistent, sofern Zeus’ Gabe nicht als den Menschen eingesetzte Eigenschaft fehlgedeutet wird.100 Aber: Weder das Erziehungsprogramm noch seine Aitiologie in der Erzählung von Zeus’ Gesetz im Mythos haben irgendetwas mit der Auffassung des historischen Protagoras zu tun. Jeder hat nach ihm das Recht, sozusagen erkenntnistheoretisch abgesichert, dass seine Meinung wahr ist: In gleicher Weise entsprang auch bei einigen Denkern aus den Sinnesdingen die Meinung, Wahrheit liege in den Erscheinungen. Die Wahrheit nämlich, meinen sie, könne nicht nach der größeren oder kleineren Zahl der Stimmen beurteilt werden, die eine bestimmte Meinung haben, da doch ein und dasselbe den einen 99 Der historische Protagoras kritisierte freilich diejenigen, ‚die das Seiende als das Eine einführten‘ (DK 80 B 2); dazu oben S. 179. 100 Von „Inkonsistenz“ sprach Manuwald [1996] 120.
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beim Kosten süß, anderen wieder bitter erscheine, so daß also, wenn alle krank oder alle verrückt wären und nur zwei oder drei gesund und bei Sinnen, eben diese als die Kranken und Verrückten erschienen, die anderen jedoch nicht. Weiter aber erschiene vielen Lebewesen ein und dasselbe uns gegenüber gegenteilig, und jedem einzelnen für sich erschienen nicht immer aufgrund der Sinneswahrnehmung dieselben Dinge. Also sei es unklar, was davon wahr sei und was falsch. Denn ‚das‘ sei nicht mehr wahr als ‚das‘, sondern beides in gleicher Weise (Aristoteles, Metaphysik 1009a38-b11).101
Wo auch den Wahnsinnigen zu vertrauen ist, sie nicht widerlegt werden können, weil sie ein ‚glaubhaftes Kriterium‘ sind,102 da hat eine gewaltsame Umerziehung keinen Platz, geschweige denn die Tötung. Wie könnte dies auch mit einer Demokratie zu vereinbaren sein, deren Konstituierung im Mythos vollzogen werde? Die Schwierigkeiten, die das Gesetz aufwirft, sind besprochen bei Manuwald [1999] 198f., freilich ohne befriedigendes Ergebnis. Richtig ist festgestellt, dass es um eine „Norm“ geht, aber wie kann dies mit dem HMS vereinbar sein? Die Norm, um die es geht, ist von Gott gegeben und wird von diesem vermittels des Gesetzes bewahrt. Dass verschiedene ‚Gerechtigkeitsbegriffe‘ möglich seien, wenn auch nur „im Einzelnen“, ist auszuschließen. Das Maß ist Gott, nicht der Mensch. Denkbar ungeeignet, um das Gesetz zu erklären, ist die angeführte Stelle Tht 167c (= DK 80 A 21a). Hier wird als Aufgabe des weisen Redners vorgestellt, dafür zu sorgen, dass etwas in den Städten als gerecht erscheint.103 Mit einem Zwang kann dies nicht erfolgen. In Protagoras’ System geht es vielmehr darum, unter der erkenntnistheoretischen Voraussetzung: „Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen (Meinungen)“, die „schwächere Meinung zur stärkeren zu machen“.104 Gefragt ist Redekunst, nicht der Einsatz eines Henkers. IV. Schlussfolgerungen Der Mythos, den die Dialogfigur Protagoras vorträgt, ist mit der Lehre des historischen Protagoras unvereinbar. Er widerspricht der Grundvoraussetzung, dass Kulturentstehungslehre systemimmanent ist. Und dies gilt nicht nur für Einzelheiten, sondern den gedanklichen Aufbau und die darin entwickelte und im Anschluss weiter besprochene Kernthese, dass staatliche Gemeinschaften der Menschen sich auf göttliche Normen und Kräfte stützen müssen, um Bestand zu haben. Darin ist eines nicht zu erkennen: ein ‚anthropologischpolitisches Credo‘ des Protagoras, das sich neben das im HMS formulierte 101
Übersetzung Schwarz. Nicht bei DK; teilweise A 17 Capizzi. Dass Aristoteles sich hier auf Protagoras bezieht, der 1009a5 eingeführt wird, ist klar. 102 Vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 7.61ff. (s. oben S. 177). 103 Dazu oben S. 193. 104 DK 80 B 6a, b.
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erkenntnistheoretische stellte.105 Zu erkennen ist vielmehr vehementer Widerspruch, Widerlegung der skeptischen Grundhaltung des Protagoras. Es gibt nur einen, dem dies zuzutrauen ist. Der Urheber des Mythos, der geistige Vater ist zweifellos Platon selbst. Und was er intendierte, ist offenkundig: Parodie des Sophisten.106
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So Manuwald [1996] 125; [1999] 175. Man vergleiche bereits Menzel [1929] 186: „Die große Rede des Protagoras ... enthält das politische Glaubensbekenntnis unseres Philosophen“. 106 Der Mythos ist Teil einer ‚Prosa-Komödie‘, wie man den Protagoras zu Recht genannt hat; vgl. Arieti, Barrus [2010] 8ff. mit guten Beobachtungen.
HERRSCHEN UND SELBSTBEHERRSCHUNG: DER MYTHOS DES POLITIKOS Christian Schäfer Der Politikos gilt allgemein als einer der „schwierigen“ Altersdialoge Platons. Dabei scheint sein Thema zunächst recht anspruchslos zu sein: Der geheimnisvolle Fremde aus Elea, der schon im Dialog Sophistes eine dihäretische Bestimmung des Sophisten vorgenommen hat, will im Gespräch mit einem jungen Eleven der Philosophie, dem (mit Platons Lehrer namensgleichen, aber nicht personidentischen) „jüngeren Sokrates“, definieren, was denn den politikos, also – lässig übersetzt – den „Staatsmann“, gemeint als gesellschaftliche Führungspersönlichkeit im besten Sinne, ausmache (Plt 258b). I. Die Dihärese und ihr „Scheitern“1 Zur Eingrenzung der politikē technē, also der „Politikerkompetenz“ oder der spezifischen Fähigkeiten des Staatsmanns soll – wie in anderen Spätdialogen auch – die Methode der Dihärese, der definitorischen Unterteilung, angewendet werden (Plt 258c). Vorab einigt man sich als Ausgangspunkt darauf, im politikos eine Art Hirten sehen zu wollen, ähnlich wie Homer einst im Herrscher den ‚Völkerhirten‘ (vgl. etwa Il 2,85 u.ö.). Also jemanden, dem eigenverantwortlich (autepitaktikos) die Aufzucht (agelaiotrophia) und Fürsorge einer Herde, d.h. einer im Großen und Ganzen homogen zu bestimmenden Gemeinschaft von Lebewesen, obliegt (Plt 259d–261e). Die Dihärese soll nun abgrenzen, worin sich der „politische“ Hirte von anderen unterscheidet. Ziel wird also zunächst sein, so die Gesprächsteilnehmer, die dem politikos spezifische Herde festzulegen. Nun wäre es wohl der einfachste Weg, und den will der junge Sokrates auch unmittelbar einschlagen (Plt 262a), den politikos schlicht als Hirten von Men1
Im Folgenden verweise ich immer wieder, v.a. aber immer wieder hinsichtlich des Mythos, auf Probleme und Fallstricke der Dihäresemethode. Zum Begriff „Scheitern“ konnte ich mich nur schwer durchringen und verwende ihn eher plakativ und jedenfalls vorläufig. Die Diskussion um Reichweite und Defizienzen der Dihärese im Politikos ist noch in vollem Gange. Dihäreseskeptisch etwa Scodel [1987] sowie Dorter [1987] 105–122. Dasselbe gilt für Benardete [1963] 226: „the defects in the Stranger’s diaeresis“, etc. Dagegen jedoch Effe [1996] 201, u.ö. In ganz eigener Weise, auf die näher einzugehen hier nicht der Ort ist, sieht Gadamer [1968a] 73–80 eine „Vorläufigkeit aller Diairesis“ in Platons Dialogen. – Aus der Entwicklung des vorliegenden Beitrags wird hoffentlich hervorgehen können, dass ich hier eher auf die gegenseitige Ergänzung von Mythos und Dihärese im Politikos abziele, also auf ihre definitionsdienliche Verklammerung im Dialog, ohne damit aber gleichzeitig den Selbstand und inneren Sinn beider Darstellungsformen von vornherein antasten zu wollen. Keinesfalls sollte die Gegenüberstellung von Dihäresevorgehen und Mythenerzählung dabei als Variante des weit grundlegenderen und umfassenderen Problems von Logos und Mythos verwechselt werden.
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schen zu bezeichnen, die übrigen Hirten dagegen als Hüter von anderen ‚Herdentieren‘.2 Allerdings will das der Fremde nicht zugeben: Dihärese nämlich sei die Kunst, nach der Maßgabe der mesotomia, der mittigen Teilung, zu unterscheiden. So eine Teilung erbringe aber zwei gleich große Hälften. Eine Aufteilung der Lebewesen in Menschen und Nicht-Menschen dagegen sei dysproportional, wie eine Aufteilung aller Zahlen in die Menge 1–10000 und alle übrigen Zahlen, statt, wie eigentlich richtig, etwa in gerade und ungerade (Plt 262b– 263b). Zudem lege Sokrates wohl auch ein inwendig falsches Kriterium der Unterscheidung an: Wahrscheinlich vermeine er nämlich, so der Eleate tadelnd, mit der Mensch-Tier-Differenzierung die verständigen Lebewesen von den unverständigen (die phronima von den a-phronima) zu trennen; dass er damit aber ein unzureichendes Unterscheidungsmerkmal zum ausschlaggebenden erhebe, sehe man daran, dass es neben dem Menschen noch andere einsichtsbegabte Lebewesen gebe, nämlich – wie man erstaunt erfährt – z.B. die Kraniche.3 Der Eleate setzt also seine Methode der 50/50-Teilung durch: Wassertiere werden zunächst in penibler Mesotomie von Landlebewesen unterschieden, bei diesen dann später z.B. gehörnte von ungehörnten etc., und dabei jeweils gefragt, was wohl das auf die Politikerherde Zutreffende sei, bis man endlich zu einer solchermaßen dihäretisch gewonnenen Bestimmung des Definitionsgegenstandes durchdringt: Der politikos soll demnach im Wesentlichen (ich verkürze, um nicht zu ermüden) der Hirte kreuzungsresistenter, zweibeiniger, ungehörnter und ungefiederter Landlebewesen sein (Plt 267ab). Doch eigenartig: Obwohl diese so schön sine ira et studio, rein technisch und am Maßstab „quantitativer Gerechtigkeit“ gewonnene Bestimmung eindeutig und abdeckend zu sein scheint (im „biologischen Spektrum“ der Antike lässt sich der Definition des ungefiederten zweibeinigen Landlebewesens offenbar wirklich nur der Mensch zuordnen) – obwohl diese Bestimmung also nur auf den Menschen zutrifft und ihn somit zu definieren scheint, lässt sie doch ein ziemliches Unbehagen zurück.4 Diesem Unbehagen wohl hat Diogenes von Si2 Einiges an Diskussion war da schon vorausgegangen: Etwa, dass sich die technē des Hirten auf Lebewesen bezieht, und nicht auf Unbelebtes, wie etwa die des Architekten (Plt 261a ff); dass es sich um die Führung einer Gemeinschaft handeln muss, nicht um die Führung Einzelner, wie es etwa von Privatlehrern angenommen werden müsste; und dass der politikos in Eigenkompetenz und -verantwortung handelt, ohne übergeordnete Anweisungsinstanzen für seinen Tätigkeitsbereich zu kennen: Plt 259e, etc. 3 So Plt 263 c–e. Zur Einschätzung der Kraniche in der Antike vgl. etwa u.a. Aristoteles, Historia Animalium 614 b 18ff. sowie 487b–488a (zum Kranich als „politischem Tier“). 4 Oder vielleicht doch nicht so eigenartig: Der Politikos hatte schon mit einer Warnung „aufgemacht“, die den Leser in Bezug auf die Richtigkeit der Mesotomie hinsichtlich der Bestimmung des Menschen gegenüber anderen Lebewesen stutzig werden lassen musste: Der Mathematiker Theodorus begehe nämlich einen Fehler, so (der ältere!) Sokrates, wollte er nach selbem Wertmaßstab bemessen, was dem Wert nach unterschiedlicher ist, als mathematische Proportionen ausdrücken können (Plt 257b). Auch Plt 266d wird darauf hingewiesen, die Dihärese lasse die Frage nach der timē des Dihäresegegenstandes
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nope mit einem etwas groben Scherz Ausdruck verleihen wollen, als er einmal ein Huhn bei lebendigem Leibe bis auf die letzte Feder rupfte, laufen ließ, und ausrief: Seht her, hier läuft Platons Mensch! (Diogenes Laertios VI 40) Auch Platons Dialogpartner sehen sich in eine Sackgasse geraten: Ihre Definition des politikos ist bei näherer Betrachtung enttäuschend und beinhaltet, um es mit Nachsicht zu formulieren, eigentlich keinen großen Erkenntnisfortschritt. Sie mutmaßen allerdings, und das erscheint kurios, der Fehler liege in zwei Unklarheiten des Begriffs „Hirte“. Dieser Begriff lasse nämlich erstens offen, worin der Kompetenzunterschied zwischen dem Staatslenker als Hirten einer Gesamtherde, nämlich des Gemeinwesens, und etwa einem Schiffskapitän, einem Arzt oder einem Sporttrainer als Hirten einer „Teilherde“ (seiner Besatzung, seiner Patienten, seiner Mannschaft) liege (Plt 267e–268c). Außerdem seien Hirten zweitens ja nicht Exemplare der Gattung ihrer Herdentiere (also der Kuhhirt nicht selber eine Kuh). Beim politikos aber sei das anders.5 II. Die Funktion des Mythos Angesichts der unbefriedigenden Situation wird (wie so oft bei Platon) die ursprüngliche Methode zunächst wieder verlassen und ein anderer Weg der Erklärung gewählt. Dieser andere Weg ist der berühmt-berüchtigte Mythos des Politikos, der „sonderbarste aller Platonischen Mythen“, wie Olof Gigon ein wenig resigniert festgestellt hat. Noch bevor der Mythos erzählt wird, macht der Eleate auf einige bezeichnende Eigenheiten der nun folgenden Geschichte aufmerksam; sie sind zur Beurteilung des Stellenwerts und der Absichtshaltung der Mythenerzählung in diesem thematischen Zusammenhang und an diesem spezifischen Ort des Dialogverlaufs von besonderer Bedeutung, wie mir scheint: – Der Mythos sei zum einen im Vergleich zur für den Anfänger trockenen und schwierigen Dihäresemethode gewissermaßen als Auflockerung oder als Spiele-
methodisch außer Acht und erinnert an Sophistes 227ab, wo dieses methodische Desinteresse eingeführt wurde. Miller [1980] 34 sieht generell einen „hidden conflict between Theodoran geometry and socratic philosophy“ im Dialog. Zu vergleichen übrigens Aristoteles in NE 1131a, wo von der gerechten „proportionalen“ Beurteilung und Verteilung kat’ axian gesprochen und ein Vorgehen nach absoluten Ziffern oder numerisch fixer „gleichgroßer“ Aufteilung als unangebracht abgelehnt wird (genauso wie NE 1103b 34ff. generell das Bestreben nach mathematischer Genauigkeit in ethischen Fragen). 5 Richtig sagt Miller [1980] 35: „The cowherd, for example, rules without dispute; he is all things to his cattle, serving as feeder, doctor, matchmaker, midwife, even as provider of play and soothing music (268ab). In the statesman’s case, however, all these forms of nurture are provided by members of his herd“, etc. Ein dem Plt ähnliches Problem stellt sich Aristoteles, Politik 1259b: Wie kann der Herrscher seinen Herrschaftsanspruch begründen und gleichzeitig demselben genos angehören wie seine Untergebenen?
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rei zu betrachten (Plt 268de), als paidia (beachtenswert aber die wohl gewollte lautliche Anspielung zur paideia, zur „Bildung“/„Erziehung“).6 – Der Mythos soll außerdem die Fehler der Dihärese aufdecken und korrigieren helfen: Plt 268d, 274c. – Mehrmals wird drittens auf die im Verhältnis zum offensichtlichen Argumentationsertrag dysproportionale Länge und ungeschlachte Größe des sperrig erzählten Mythos hingewiesen (Plt 268d, 277b). – Der Mythos soll schließlich mehrere alte Geschichten und unabhängig voneinander tradierte Erzählungen auf einen Schlag zusammenfassen, „auf einen Nenner bringen“, und somit erklären (Plt 269bc). Alle diese Vorwarnungen (auch Nachbetrachtungen) und Vorabcharakterisierungen lassen durchscheinen, dass der Mythos, obgleich in Funktion der Dihärese-Aporie eingeführt, in Wirklichkeit nicht als bloße Ergänzung oder allein als Stütze oder als parallele Erklärmöglichkeit Desselben zum vorangegangenen philosophischen Gespräch aufzufassen ist. Einige Jahrzehnte (wohl) vorher lässt Platon seinen Protagoras die freie Austauschbarkeit von Erzählen und Argumentieren vertreten: ‚Soll ich mit der Darlegung des Gegenstands erzählend oder argumentativ fortfahren?‘, heißt es dort, ‚es ist im Hinblick auf das gewonnene Ergebnis einerlei‘ (Prot 320e). Anders, und zwar gewollt und akzentuiert anders, hier im Politikos. Irgendwie beschwört Platon wieder die „alte Feindschaft der Dichter und Philosophen“ (Resp 607b) herauf, die offenbar nicht ganz auszumerzen ist: Der Mythos wird als spielerisch charakterisiert, nicht so die komplizierte Dihärese; vom Mythos wird eine Korrektur der Dihärese erwartet, dass er also ein von der Dihärese abweichendes (besser erfasstes?) Ergebnis erbringt; der Mythos ist ein dysproportionales Riesenstück, das dem symmetrischen Proportionsprinzip der dihäretischen Methode seiner ganzen äußeren Aufmachung und seinem ganzen Wesen nach entgegensteht; der Mythos zergliedert nicht durch Aspektunterscheidungen in Einzelnes, wie es die Dihärese tut, sondern im Gegenteil: Er fügt zusammen, er bringt Vieles auf einen Nenner und subsumiert verschiedene Aspekte unter einen einzigen Gesichtspunkt. Nimmt man außerdem etwa hinzu, dass sich der Mythos als weitgehend monologisch vom Dialogstil der Dihärese absetzt und dass im Gegensatz zum vorausgegangenen Dihäresethema der Definition des Staatsmanns in der mythischen Erzählung des Wort politikos gar nicht erst vorkommt, so bietet sich für die Einordnung und die Gesamtbeurteilung des Erzählstücks folgender Schlüssel, den ich als festen Ausgangspunkt meiner Auslegung des Mythos voranstellen will:
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Der „junge Sokrates“ hat beides nötig, die Spielerei, weil er noch ein halbes Kind ist (Plt 268e), und die Erziehung, da er ja ein Lernender ist (257c). Zur häufigen dialektischen Gegenüberstellung von spoudē und paidia bei Platon siehe ergänzend auch die Bemerkungen bei Erler [1996] 33.
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Mythos und Dihärese sind als formal konkurrierende, wenn auch in der Sache wohl nicht in allem unvereinbare Erklärungswege innerhalb des Dialogs anzusehen. Die dysproportionale Größe, mit der sich der Mythos sperrig im Dialogganzen querlegt, zeigt äußerlich an, dass wir es hier mit einer – gewissermaßen schwelgerischen (vgl. Plt 277b) – Darlegung sinnenfällig beanspruchten eigenen Rechts gegenüber der eher asketischen Logikübung zu tun haben. Der Mythos des Politikos kann somit schon vorweg bei aller Spielerei, paidia, der Darstellung als ernst zu nehmendes Kontrastprogramm, als eine Art eigener paideia, eben als eigenständige Größe mit eigenen Erwartungen, Ansprüchen und eigener Ertragszusage betrachtet werden – und, was das Ergebnis seiner Interpretation dann bestätigen können wird, nicht nur als Funktion einer Dihäresekorrektur, sondern sehr viel mehr als umfassendere Alternative zu dieser Dihärese. Der Anspruch des Mythos wird also nicht bloß eine dienliche Korrektur des bisher Gesagten sein, sondern erbringt auf alternativem Weg eine der Definitionsarbeit am „Staatsmann“ dienliche Verbesserung. Diese „radikale“ Andersheit des Mythos gegenüber dem bisherigen Definitionsversuch spricht auch die Einführung des Mythos deutlich an: von einem anderen Anfang her oder prinzipiell anders (ex allēs archēs) soll das Ganze nochmal aufgerollt werden: Plt 268c. III. Der Mythos (Plt 268d–274d) Der Mythos selbst versucht also einige alte und bei den Gesprächsteilnehmern des Dialogs als bekannt vorausgesetzte Einzelgeschichten und Mythologeme durch eine einzige Erklärung7 zusammenzubringen. Gleichzeitig will er zudem durch diese einzige Erklärung den jetzigen Zustand der Welt ausdeuten – was ja auf gewisse Weise ein Grundzug allen mythischen Erzählens ist. Die in eins gebrachten einzelnen Mythenelemente im Politikos sind die Motive und Erzählungen von der Umkehrung der Gestirnbahnen in der Atreussage (Plt 269a), vom Goldenen Zeitalter unter Kronos (Plt 269a, 271e–272b), von den erdgeborenen Menschen (Plt 269b, 270e–271c), von Prometheus und anderen Kulturbringergestalten als Vermittlergottheiten zwischen Olympiern und Menschen (Plt 274cd), sowie vom Übergang der Weltregierung von Kronos auf Zeus.8 Das alles habe seinen erklärenden Grund, seine eine aitia, so hebt der Fremde mit seinem Mythos an: Das Weltall werde nämlich bisweilen von der
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Plt 270b. In 269b war vorausgegangen, der Mythos gebe an, wie so vieles aus einem „Umstand“ (pathos) erklärbar sei, und erzähle diesen „Umstand“. 8 Mythische Motive, die bei Platon öfter auftauchen; vom Protagoras und seinen möglichen Verbindungen zum Politikos-Mythos wird noch die Rede sein. Allein für die Erzählung von den Erdgeborenen verweist Ruíz Yamuza [1986] 132, weiter auf Symp 190b, 191c, Resp 414a ff., Soph 248c, Ti 23b, Krit 190c.
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Gottheit9 gleichmäßig und zum Besten der Weltordnung in eine bestimmte Richtung gedreht, nach einer gewissen Zeit aber ziehe sich der Gott von dieser Tätigkeit zurück, und die Drehung des Kosmos kehre sich um: Unter großen Erschütterungen, viel Durcheinander und wahnwitzigen Verlusten an Lebewesen finde die Welt jedoch zurück zu ihrer eigenen, den göttlichen Richtungsvorgaben entgegengesetzten Drehbewegung, ähnlich vorzustellen vielleicht wie das Aufziehen und die losgelassen im Gegensinn ablaufende Drehbewegung eines Uhrwerks.10 Das sei auch der Grund für die Umkehr der Gestirnlaufbahnen, von der die mykenische Königssage erzähle. Der göttliche Weltenlenker betrachte diese Umkehrbewegung indes genau. Sobald sich die Welt aber durch ihre alleingelassene Gegendrehung zu weit vom guten Zustand entferne, in den er sie einst gerollt hatte, greift er selbst wieder umkehrend ein, und alles beginnt von vorne. Die natürliche Entwicklung auf der Erde aber, so der Mythos weiter, folge jeweils der Drehrichtung des Alls.11 Daher kommt es, dass vordem die Menschen nicht von anderen gezeugt, als Kinder geboren und schließlich alt dem Tod und der Verwesung anheimgegeben werden, sondern umgekehrt aus der Erde hervorsprossen und im Verlauf ihres Lebens jünger wurden: Womit die verschiedenen alten Geschichten um die Erdgeborenen erklärt wären. Die Erzählungen vom Goldenen Zeitalter unter Kronos und vom jetzigen unter Zeus dagegen hätten ihre Erklärung darin, dass der jeweils herrschende Gott eines Zyklus das Weltall jeweils anders regiere. Unter Kronos lebten die Menschen wie im Schlaraffenland, sie mussten sich um nichts Sorgen machen: Kronos ließ ihnen alles in den Mund wachsen, sie kannten keine Krankheiten und Kriege und lebten in Eintracht mit den Tieren, deren Sprache sie auch redeten, und brauchten weder Familie noch Städte, denn sie wurden von sorgenden Untergöttern (Daimones) durchs für sie sorgenfreie Leben geführt.12 Unter Zeus dagegen sei das Leben eine Plackerei. Zu Beginn des Zeus-Zyklus seien die Menschen sogar kurz vor der Ausrottung gestanden: Eine erneute Umkehrung der Weltumlaufrichtung habe wie gewöhnlich einen hohen Zoll gefordert, und die menschliche Eintracht mit den Tieren war zerbrochen; keine hütenden Dämonen hätten das Leben mehr organisiert, die Menschen seien sich selbst überlassen gewesen und dem Unbill ihrer Umwelt ausgeliefert. Statt dessen hätten sich 9
Genannt theos (269ce), patēr (273b), dēmiourgos (270a; 273b); vgl. die Parallelen zur Nomenklatur des Timaios, die u.a. Brisson [1995] 355, herausstellt. 10 Dagegen aber Brisson [1995] 357ff. und Scodel [1987] 75, die mit Recht in ihren sehr anschaulichen Deutungen die Beseelung und Fähigkeit zur Selbstbewegung des Kosmos in Platons Darstellung herausheben, um allzu mechanistische Vorstellungen abzuwehren. 11 Als „Isopathologie“ hat Scodel [1987] 84, und zwar im Hinblick auf die dem Mythos eigene Wortwahl vielleicht gar nicht ungeschickt (Plt 269b: ek tautou pathous), diese Verklammerung bezeichnet. 12 Dasselbe Motiv der sorgenden Untergötter oder göttlichen Herdenhüter erscheint auch in anderen Dialogen (etwa Kritias 109b und Nomoi 713a ff), allerdings ohne dass im Stellenvergleich viel Erhellendes über deren nähere Bestimmung zu erfahren wäre.
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aber immerhin einige Gottheiten erbarmt, den Menschen wenigstens das Feuer als Kulturgut sowie gewisse Fähigkeiten und Kompetenzen (technai) zu vermitteln, damit sie sich zu helfen wüssten. Soweit der Mythos. Eine vereinzelte Schwierigkeit aber noch am Rande: Es wird im Verlauf der Erzählung nie ganz klar, ob Zeus ein weltlenkender Gott ist, dessen Weltdrehung nur defektuöser ist als die des Kronos, oder der antizyklische Gott, der die Eigendrehung des Kosmos in die dem Kronos-Zyklos entgegengesetzte Richtung von unbeteiligter Warte aus lediglich eingreifbereit beobachtet. – Oder ob beide gar nicht mit der höchsten Weltdrehergottheit gleichgesetzt werden dürfen, was ja durchaus plausibel aussieht. Viele Gelehrte streiten sich nach wie vor um diese Frage der Zyklenzahl und -abgrenzung, deren besonderes Interesse darin liegt, festzustellen, ob denn auch den Mythos letztlich eine Dihärese (Kronos/Zeus) beherrscht.13 Für meine weitere Auslegung, und das ist, wie ich hoffe, einer ihrer Vorteile, ist die Entscheidung dieses Problems aber recht unerheblich. In der Einleitung zu dieser eigenartigen Erzählung war zu sehen, wie sich der Mythos gegenüber anderen Darstellungsformen durch seinen Reichtum an Aspekten und Blickwinkeln auszeichnen sollte, durch seine Vielschichtigkeit und dadurch, dass er in appellativ offen gehaltenen, schillernden Bildern vielerlei auf einen Schlag erklären kann. Der Mythos ist sozusagen die Erklärform, die es erlaubt, sich mit einem Mal „einen Reim auf die Welt zu machen“14, und wie die Laute und Silben beim Reimen, so müssen sich auch hier die verschiedenen Motivblöcke und Bedeutungsebenen aufeinander abstimmen lassen, um ein in sich verwobenes kunstvolles und nicht zuletzt deswegen auf eigene Art intuitiv welterklärendes Ganzes zu ergeben.15 Der Mythos des Politikos hat gezeigt, wie man sich mit Hilfe einer einzigen Ursacheangabe, der Weltumlauftheorie, auf eine Vielzahl disparater Mythen einen Reim machen kann. Man könnte anhand dieses Mythos auch zeigen, wie er verschiedene traditionell mythische Erklärebenen in bruchlose Übereinstimmung bringt: Denn unschwer ist auszumachen, dass Anthropologie, Theologie, Aitiologie und Geschichte hier im Blick auf die Kosmologie koordiniert werden. – Dass es ausgerechnet der Blick auf das All ist, der hier die verschiedenen Einzelmythen zusammenbringt und gleichzeitig die eigentlich recht alltägliche Problemvorgabe des 13
Vgl. Scodel [1987] 80, Brisson [1995] 351ff. sowie Erler [1995] 375ff. Zur Zyklenzahl-Debatte vgl. die Beiträge von Horn und Rowe im vorliegenden Band. Bemerkenswert erscheint mir die gänzliche Verabschiedung von ernsthaftem Nachdenken über die Umschwungsphasen bei Apelt [1914] 8: „So wenig – das ist die vernehmliche Predigt, die dieser Mythus an uns richtet – so wenig der Himmel selbst je eine seinem jetzigen Umschwung entgegengesetzte Drehung erfahren hat, so wenig hat es je Menschen gegeben, die unmittelbar unter Gottes Hut ein glückseliges Leben geführt haben. Hilf dir selbst, dann, aber auch nur dann, wird auch der Gott dir helfen.“ 14 Diese recht treffende Formulierung ist übernommen aus Buchheim [1994] 9. 15 Vgl. dazu auch weiter unten Anm. 40 zu Platons Kompositionsmaßstäben.
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Dialogs ins Kosmische verlängert, ist im Übrigen ein weiteres Merkmal vieler platonischer Mythen: Der Mythos ist es ja meist, der es Platon erlaubt, die Perspektive aus der Befangenheit des Alltäglichen und Partikulären zu lösen, von dem aus die Dialoge mehrheitlich ihren thematischen Ausgang nehmen; der Mythos schafft es somit, den Blick auf das Gesamt zu öffnen und die Probleme richtig einzuordnen, ihre Bedeutung zu relativieren oder auch im Hinblick auf das Ganze zu unterstreichen – man denke nur an den Schlussmythos des Phaidon, wo die Menschenwelt geradezu dantesk wie sub specie Dei betrachtet wird zugunsten einer zwischen ironischer Destruktion und positiver Rekonstruktion oszillierenden Neueinschätzung der menschlichen Angelegenheiten und ihres Werts. IV. Ausdeutungen des Mythos Auf diesem Hintergrund ist durchaus an mehrere Alternativauslegungen des Mythos zu denken. Man findet verschiedene Spielarten solcher Auslegungsvarianten in der Sekundärliteratur, und um sie zu gewinnen, bedarf es meist nur einer geringfügigen Akzentverschiebung von Standpunkt zu Standpunkt der einzelnen Interpreten: So hat Fritz-Peter Hager etwa die apologetische Erklärung des Bösen in der Welt bei Platon anhand der Motive von guter Gottführung und degenerierender gottentfremdender Eigenbewegung des Kosmos herausstellen wollen.16 In der Sekundärliteratur unterrepräsentiert17 ist eine bestimmte „verfassungstheoretische“ Anspielung des Mythos, die durchaus den Anspruch erheben kann, eine eigene Bedeutungsebene der Erzählung darzustellen: Auf einen Nenner gebracht, scheint die facettenreiche Geschichte18 von einem höchsten Verweser16
Vgl. Hager [1963] 206ff., sowie Ruíz Yamuza [1986] 136f. Dillon [1995] 365, macht auf die Tradition aufmerksam, die diesen Gedanken Platons mit der Lehre des Empedokles von einem zerstörerischen und einem positiv schaffenden Prinzip kontrastieren will. (Zum „Empedokleischen“ im Plt siehe auch O’Brien [1969] 90ff.) 17 Solche „politiktheoretischen“ Auslegungsversuche sind in der Tat auffallend vernachlässigt worden (außer vielleicht z.B. Brisson [1995], der nahelegt, der mythische Zyklenablauf würde den revolutionären Umschlag von einer Verfassungsform zur anderen zum Ausdruck bringen; sowie die etwas kruder politische Auslegung bei Ferrari 389–397). Diese Vernachlässigung erklärt sich wohl z.T. aus der richtigen Beobachtung, dass der Mythos sehr viel weiter gehende, welterklärende Ansprüche der Interpretation stellt, die jede bloß politische Theorie hinter sich lassen (das ja auch der Hintergrund von Platons Verfassungsformen-Kritik später in Plt 291c–303d). Dass dem Mythos jedoch trotzdem diese politologische Doppelbödigkeit gewollt untergelegt sein kann, sollte (bei allem Problemen, die bleiben) nicht vorschnell von der Hand gewiesen werden. 18 Zu diesem Facettenreichtum mag gehören, dass das Gewaltvolle der Herrschaftswechsel teils bedeutsam verschwiegen, teils nur vielsagend angedeutet wird. So darf trotz Platons Schweigen als bekannt vorausgesetzt werden, dass Zeus den Kronos nur durch eine parrizidähnliche Gewalttat ablösen konnte: vgl. Scodel [1987] 76 (die Theoprepie,
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gott, mehreren leitenden Daimones und selbstverwaltender Menschenherde auf die 3-Stufen-Theorie der zyklischen Abfolge von Monarchie, Oligarchie und Demokratie vorauszuweisen, die später im Dialog zum Thema des Gesprächs wird. Viel später zwar (Plt 291c–303e)19, aber eben in der dem Mythos eigenen Motivik bereits allusiv und sinnbildreich angekündigt und somit ein verwertender Rückgriff auf die Erzählung, wie so viele andere thematisch anscheinend grundverschiedene Dialogpassagen auch, die sich dem Mythos eben nicht nur kompositorisch nachgeordnet, sondern gerade auch motivisch zugeordnet finden. Wieder andere Auslegungen des Mythos scheinen dagegen den ehrgeizigen und hochinteressanten Gedanken verfolgen zu wollen, dass hier in der Gegenüberstellung der perfekt geordneten Musterwelt des Kronos-Zyklus und ihrer vergleichsweise strukturierungsbedürftigen Neuumsetzung im Zeus-Zeitalter das Problem der dialektisch durchgegliederten Ideenwelt und ihrer Umsetzung in unserer vielfach unzureichenden diesseitigen Körperwelt erzählerisch angesprochen wird.20 Tatsächlich taucht das Umsetzungsproblem später im Dialog noch einmal in anderer Gestalt auf, wenn vom Wert der Paradigmen für das Lernen die Rede ist (Plt 277a–279a).21 Doch das ist ein Thema für sich. An dieser Stelle muss der vorsichtige Hinweis genügen, dass sich hier auch das Problem von streng durchgegliederter Welterfassung der Dihärese gegenüber dem „spielerisch“-pädagogischen Durch- und Ineinander welthaltigen mythischen Erzählens in neuer Larve in Erinnerung ruft: Kronos- und Zeusäon, Jenseits und Diesseits, Aseptik der Dihärese und schwelgerische Motivkonfusion des Mythos bilden parallele Bedeutungsebenen verschiedenen Aussageinhalts und verschiedener Überzeugungsrichtung in ein und derselben Erzählung. die hier eine explizite Erwähnung verbietet, findet sich ja bei Platon in Plt 299e angesprochen; ihr entspricht Platons Empfehlung aus Resp 378a, diese Geschichte gegebenenfalls besser zu verschweigen). Schließlich geht die Wortwahl des Mythos schwanger mit typisch „revolutionären“, gewaltvollen Vokabeln, deren Verwendung sehr gut auf eine Konstante der antiken Theorie von der Abfolge der drei Regierungsformen abzielen könnte. In den englischen (wie den französischen) Übersetzungen ist der „politische“ Beigeschmack des Vokabulars vielleicht noch ein wenig besser nachzuempfinden, wenn sie etwa die „Umwälzungen“ als „revolutions“ wiedergeben. Zu den „revolutionären“ verba regentia des Abschnitts vgl. auch die Liste bei Ruíz Yamuza [1986] 135. 19 Eine politisch-politologische Interpretation bietet in diesem Sinne z.B. Miller [1980] 43ff. Das Thema darf aus der Ausarbeitung der Verfassungszyklentheorie im achten Buch der Resp als bekannt und als im platonischen Sinne vorbereitet vorausgesetzt werden. 20 Und zwar als Aufgriff des Grundthemas des ganzen Dialogs, das etwa Benardete [1963] im Zwiespalt von Eidos und Dihärese sieht, oder Cherniss [1944] darin, dass die Dihäresemethode die Gültigkeit der Ideenlehre in Zweifel ziehen lässt. Ähnlich Apelt [1914] 8: [der Mythos ist] „das gerade Widerspiel zur Ideenwelt“. Als Großentwurf dieser Interpretationslinie darf Scodel [1987] gelten. 21 Differenzierter als ich es hier kann, und mit interessanten ergänzenden Hinweisen führt Ruíz Yamuza [1986] 137f., das Verhältnis Dihärese-Paradigma-Mythos im Plt aus.
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Aus der offenen Vielfalt der denkbaren Interpretationsmöglichkeiten möchte ich nun eine – bislang noch ungenannte – herausgreifen und exemplarisch vorführen. Ich komme dazu noch einmal auf den Anlass zur Erzählung des Mythos zurück: Die Gesprächspartner hatten den politikos als Hirten einer Herde ungefiederter, ungehörnter und zweibeiniger Landlebewesen bestimmt und waren mit diesem Dihäreseergebnis verständlicherweise unzufrieden gewesen. Nachdem das undifferenzierte Riesenteil von Mythos (onkos tou mythou) der Weltumläufe erzählt ist, belehrt der eleatische Dialogführer den erstaunten Leser, dass damit nun doch wohl die Fehler des differenzierenden Argumentationsgangs der Dihärese als aufgedeckt gelten dürften (Plt 274e[–277a]): Erstens habe nämlich der Mythos gezeigt, dass man das Verhältnis des Hirten zu seiner Herde eingehender bestimmen müsse, um nicht dem Irrtum zu verfallen, den „göttlichen Hirten“ des Gesamtweltumlaufs zu definieren statt des menschlichen politikos – denn zu diesem Fehler habe man offensichtlich tendiert22. Dass also (in Abgrenzung zu jenem wie auch zu Kuh- oder Schafhirten) die Frage der Einordnung des Hirten in die Gruppe der Lebewesen, die seine Herde bilden, bei gleichzeitiger Bestimmung seiner Führungslegitimation als primus inter pares im Sinne der Lehren des Mythos der Lösung bedarf. Die zweite erreichte Fehlerkorrektur durch den Mythos hängt an der ersten und wird als untergeordnet oder vergleichsweise venial eingestuft: Für die Verhältnisbestimmung der Führungskompetenzen des politikos zu den Aufgaben und Qualifikationen anderer Führungspersönlichkeiten wie Tierhirten, Steuermännern, Therapieleitern usf. habe die Mythenerzählung einen geeigneten Lösungsschlüssel angegeben. Man steht diesen vollmundigen Aussagen angesichts des seltsamen Mythos zunächst perplex und mit Zweifeln bezüglich der optimistischen Einschätzung des Eleaten gegenüber. Umso mehr, als auch im weiteren Verlauf des Dialogs, in den verschiedenen dem Mythos angeschlossenen neuerlichen Dihäresen, Gleichnissen und Nachfolgeüberlegungen vorderhand kein allzu großer Erkenntnisfortschritt in der Definition des politikos erreicht zu werden scheint. Und doch hat der eleatische Fremde Recht: Der Mythos, und das ist das Wichtige, hat als Darlegungsform eigenen Anspruchs und eigenen Rechts gegenüber den anderen Dialogelementen einige grundlegende Einsichten vermitteln können; ob diese nun im weiteren zur Genüge wieder aufgegriffen und verwertet werden oder nicht, ist für den selbständigen Wert und die Beachtlichkeit dieser auf ganz verschiedene Weisen vermittelten Einsichten nicht allein ausschlaggebend. Jedenfalls sind sie für sich bereits einer näheren Betrachtung wert. Zu beachten wäre hier zuerst das vom Eleaten zweitgenannte Ergebnis des Mythos: Die Korrektur in der Lösung des Verhältnisses von politikē technē und anderen Führungskompetenzen. Tatsächlich bietet der Mythos hierfür eine doppelte Lösungsvorgabe. – Zunächst einmal das Offensichtliche, wenn nicht gar Banale: Das Verhältnis der Aufgabe des politikos zu der eines Schiffskapitäns 22
Plt 275bc wird das deutlich herausgestellt und als Ertrag des Mythos zur Einsicht in die Korrekturbedürftigkeit des vorherigen (Dihärese-)Ansatzes verbucht.
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oder Sanatoriumsleiters ist – analog aufzufassen – das des Weltenlenkers23 zu den Partikular- oder Vermittlergottheiten. Der Blick aufs Gesamt und die Sorge ums Ganze hebt den politikos wie den höchsten Weltengott von den perspektivisch beschränkten Leitungskompetenzen der anderen Menschenversorger, wie z.B. im Mythos der Untergötter und der kulturbringenden Spartengottheiten, ab; – genauso wie die Tatsache, selbstherrschend zu sein, also keine weisungsbefugte Instanz mehr über sich zu haben. Was hier vorgenommen wird, ist, wie wir vielleicht sagen würden, eine Unterscheidung von Richtlinienkompetenz und Ressortverantwortung.24 Auffällig ist auch hier wieder das allgegenwärtige Thema von Zergliederung ins leicht fassbare und verwaltbare Einzelne und koordinierender Gesamtsicht, das als zugrunde liegende Opposition diesen ganzen Dialogteil beherrscht und seinen stilistischen Ausdruck in der Gegenüberstellung von Dihäreseteil und mythischer Erzählung hat.25 Und weiterhin, wie hier die bereits angesprochene funktionale Kompetenz des Mythos bei Platon, nämlich den Blick aufs Gesamt zu öffnen, erneut zur Darstellung gebracht ist. – Was dann noch ergänzt werden muss, betrifft die Frage (die bereits zur noch zu verhandelnden erstgenannten Lösungsvorgabe des Mythos überleitet), worin denn dann in der auf der Abgrenzung von Partikularverwaltern konstruierten Analogie zwischen politikos und höchstem Gott die Übereinstimmung zu finden sei und worin (noch wichtiger) die Unterschiede. Denn die Kompetenz des politikos gleicht ja zwar analog der des Gottes, sie ist doch aber nicht mit dieser identisch. Eine weitere Dihärese wird diese Frage anschließend klären, und diesmal macht sie es auf sehr hilfreiche Art und Weise: hier, wo es um partikuläre Unterscheidung in einer einzelnen Hinsicht geht, ist die Dihäresemethode in ihrem Element. Was sie lehrt, ist der Unterschied von Aufzucht und Führung einer Herde (agelaiotrophia / technē epimelētikē), ein Unterschied, der dann tatsächlich für die Bestimmung des politikos ein wenig weiterhilft.26
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Oben wurde offengelassen, ob Zeus und Kronos mit dem Weltenwälzer gleichgesetzt werden dürfen; es erscheint ja tatsächlich deutungsbedürftig. Je nachdem wäre im Folgenden jeweils die Analogie zur Definition des politikos in der Nomenklatur anzugleichen. 24 Einen besseren Vergleich bietet Platon selbst in Resp 416a, wo dem Hirten der Herde die Hirtenhunde beigesellt werden, deren Tun aber ganz vom leitenden Überblick des Hirten über das Ganze abhängt. Das nimmt die Herrscher/Wächter/Volk-Stufung des „Idealstaats“ plastisch vorweg. Gleichzeitig entspricht dieses Bild gut dem henotheistischen Geist, der durch den Politikos-Mythos weht. 25 Hier und im Folgenden insistiere ich (oft zur Verdeutlichung oder argumenti causa) ganz akzentuiert auf den synoptischen Vorteilen des Mythos gegenüber dem Dihäresevorgehen. Ausgleichend dagegenzuhalten wären jeweils natürlich immer auch dessen Vorteile: Präzision, Handhabbarkeit, empathieunabhängige Kommunikabilität u.a. 26 Vgl. Bröcker [1967] 478f. Im Übrigen zählt Platon auch in Resp 412c das kēdesthai, also das „sich betreuend jemandes Annehmen“, neben Einsicht und Umsetzungsfähigkeiten zu den Grundeigenschaften des Herrschers.
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Und auch für dieses Dihäreseergebnis war der Mythos der Lösungsanstoß. Während dem göttlichen Hirten nämlich (genauso wie dem von Tieren) die Führung seiner Herde sowie deren Aufzucht (trophē), also deren stete Lebensmittelversorgung, Prokreation(srate) und Gesundheitszustand, kurz deren Gesamtbetreuung obliegt, begnügt sich der politikos im Wesentlichen mit einer Anleitungs- oder Führungsrolle. Er kann nicht selber den Gesundheitszustand seiner Schutzbefohlenen am Puls fühlend überwachen oder wiederherstellen, den monatlichen Warenkorb jedes Einzelnen zusammentragen und wahrscheinlich auch nicht allein den gesamten Nachwuchs des Gemeinwesens hervorbringen: Plt 275de. Die Zeiten des Schlaraffenlands unter Kronos, als die durch göttliche Grundanlage und dämonische Aufzucht ewig gesunden Menschen genauso wie die nötigen Nahrungsmittel aus der Erde hervorsprossen, sind vorbei. Für Nahrung, Gesundheit und Wachstumsregelungen müssen jetzt eben einzelne Spezialisten wie Ökonomen, Bauern, Ärzte kompetent als Substitute der Untergötter sorgen. Der politikos ist dagegen als Führungspersönlichkeit mit der Koordination des Ganzen mit unspezifischem Blick aufs Gesamt betraut, und das ist seine Kompetenz.27 ( – Und als kleiner Blick voraus: Genau das Unspezifische ist es ja auch, was das natürliche „Mängelwesen“ Mensch ohne spezifisch-ökologische Nische von den Tieren unterscheidet, wie in Platons eigenen Ausführungen in Prot 320d–321c.) Unterscheidungstechnik und Mythenvorgabe führen also zu einem ersten Ergebnis: Der politikos gleicht dem göttlichen Herrscher durch seine Kompetenz, den Blick aufs Ganze zu haben. Durch diese Gesamtkompetenz unterscheidet er sich gleichzeitig von den partikulär Führungskompetenten wie etwa der Allherrscher von den Partikulargöttern. Vom Allherrscher, bzw. vom höchsten Gott des traditionellen Mythos, vom „Vater der Götter und Menschen“, unterscheidet sich der politikos dagegen darin, in der Anleitung bzw. Führung (diagōgē kai epimeleia: Plt 274d), nicht aber gleichzeitig in der Aufzucht (trophē), der Versorgung und Hervorbringung der ihm anvertrauten Lebewesen kompetent zu sein. Das ist gleichzeitig der limitierende Unterschied zu den Tierhirten. – Und damit ist dann auch schon das erste, das Hauptergebnis der Mythenauswertung thematisch angesprochen. Es geht um das Führungsverhältnis bei gleichzeitiger Selbsteinordnung des politikos gegenüber den seiner Leitungsgewalt unterstehenden Lebewesen. Einer diese beiden Aspekte integrierenden, nicht aussondernden Bestimmung des führungskompetenten Men27
Deshalb wird am Ende des Dialogs der politikos nachgerade wie ein übermenschlicher, quasi-allmächtiger Super-Experte definiert, der aller menschlich-partikulären Interessen und Anschauungsweisen enthoben alle Aspekte öffentlichen Lebens souverän in der Hand hält und zum übergeordneten Besten zusammenbringt (oder, im Anschluss an die im Text vorangegangene Webstuhlmetapher: „verwebt“): Plt 305e–311c. Im Philebos taucht ein ähnlicher Gedanke auf: Die „Wissenschaft“ des Regierens ist eine Art ÜberWissenschaft mit Anweisungskompetenz für die Einzelwissenschaften (vgl. Jowett [1892] 437).
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schen, insbesondere des politikos, auf den Weg zu helfen, ist m.E. die erste der eigentlichen Leistungen des Mythos; und das nicht zuletzt, weil am Ende dieses Wegs ein wichtiges quoad nos der Mythenerzählung offenbar wird, ein appellativer Hinweis darauf (und das ist die zweite große Leistung), dass hier letztendlich eben nicht nur um die Bestimmung des politikos gerungen wird, sondern um eine Bestimmung des Menschen allgemein. Eine Bestimmung, die es dem Menschen erleichtern soll, sich einen Reim auf sein eigenes Wesen und auf sein wesensgemäßes Sollen im Gesamt der Welt zu machen. Der „Staatsmann“, um zunächst bei dessen problematischer Definition zu verweilen, ist also in der Tat selbst ein Mensch und somit selbst ein Mitglied seiner Herde; das ist ein Spezifikum, das ihn vom Weltenlenker genauso wie vom Tierhirten trennt. Er ist aber gegenüber den anderen Mitgliedern der Menschengemeinschaft ausgezeichnet durch seine besondere integrative und koordinierende Führungskompetenz mit Blick aufs Gesamt28, die ihn nun wieder auf analogem Weg dem göttlichen Weltenlenker des Mythos annähert. Wie kommt es zu dieser Führungskompetenz, die also offenbar die göttliche auf untergeordnetem Niveau imitiert? Der Mythos erzählt den Grund dafür in aitiologischen Bildern: Der Mensch, der sich nach dem ungetrübten, leichtlebigen Kronos-Zyklus auf einmal hilflos sich selbst überlassen sah, musste, um überleben zu können, den göttlichen Führungsausfall mit eigenen Mitteln kompensieren: Er musste also mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln die göttliche Herrschernachfolge antreten, sowohl die (zumindest führende) des gesamtlenkenden Gottes (als politikos) wie die der (ver)sorgenden Untergötter (als spezialisierter Partikularhirt). Dass er diese Nachfolge allerdings nicht aus eigener Kraft antreten kann, sondern von den Göttern übernimmt, dass also in dem, was die Menschen kompetent zum Überleben anstellen, ein Funken Teilhabe am Göttlichen glüht, unterstreicht dann u.a. der hier eingepasste Teilmythos der Kulturbringergottheiten, die den Menschen ihre technai, ihre Fertigkeiten und Kompetenzen, vermitteln. Der Politikos-Mythos erzählt nur von einzelnen solcher Techniken und Fertigkeiten, die einzelne Götter verschenkt haben sollen. Man darf aber wohl (bei allen zugestandenen Problemen dieser Verbindung) zur schlüssigen Auslegung einen weiteren Dialog heranziehen, in dem dieselbe Geschichte von der göttlichen Kulturvermittlung erzählt wird: Im Protagoras-Mythos (Prot 321cd) sind es ebenfalls Prometheus, Hephaistos und Athene, die über die einzelnen technai verfügen, derer sich auch die Menschen dann bedienen. Angefügt wird dort allerdings, was der Politikos-Mythos verschweigt, aber wohl als bekannt voraussetzt: Dass nämlich die höchste Kompetenz, die einsichtige Fähigkeit der Koordination gemeinsamen menschlichen Lebens und Handelns, nicht von einer der untergeordneten Gottheiten kommt, sondern exklusiv vom höchsten Gott (in 28 Resp 427d–428a ist es gerade der Blick aufs Gesamt, der die Herrscherelite aus der Masse der übrigen Menschen aussondert, und zwar als Voraussetzung und Eigenart der sophia, der dianoetischen Tugend par excellence. Vgl. Aristoteles, Politik 1260a 17–20.
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diesem Fall von Zeus), der sie die Menschen gelehrt hat (Prot 322cd).29 Platon mag hier an den Spruch Homers denken, die verschiedenen Berufe und Gnadengaben der Menschen kämen von verschiedenen Gottheiten, die Könige allein aber kämen von Zeus (Hymnos an die Musen und Apollon 4; vgl. Il 2,196f. und 205f.). Der Mythos weist so betrachtet also tatsächlich einen Weg aus der Aporie, die das erste Dihäresenergebnis heraufbeschwor: Er zeigt, in welcher Beziehung das menschliche Herrschen zum göttlichen steht. Wie das Herrschen des höchsten Gottes, das sie auf Erden ersetzt, ist die politikē technē nämlich ein „Selbstherrschen“ (autokratia)30, das nicht der weiterblickenden Anleitung durch übergreifende Instanzen bedarf (Plt 274a) wie das bloße Mitherrschen (synarchē) der Untergötter oder anderer partikulär Führungskompetenter (Plt 272e). Gleichzeitig zeigt der Mythos aber auch, dass der politikos zwar Mitglied seiner eigenen Betreuungsgemeinschaft, seiner Kompetenz nach aber aus der Herde herausgehoben ist, gleichsam „wie ein Gott aus den Menschen“ (Plt 303b). Was der Mythos narrativ als zeitliche Abfolge darstellt, dass es eben gelingen muss, sich aus dem für sich hilflosen, anleitungsbedürftigen Menschsein allgemein betrachtet aufgrund einer bestimmten Fähigkeit zum selbstherrschenden, leitungskompetenten Wesen hochzuarbeiten, muss nun auch definitorisch eingefangen werden; für den weiteren Verlauf der Definitionsbemühungen hieße das also: Den politikos anhand seiner allgemeinen Einordnung in die Gemeinschaft, der er natürlicherweise angehört (sein ‚genus proximum') bei gleichzeitiger Festlegung seiner herausgehobenen Führungskompetenz über diese Gemeinschaft (seiner ‚differentia specifica‘ also) zu bestimmen. Diese differentia specifica ist es nun auch, die im weiteren Dialogverlauf wieder aufgegriffen und näher erklärt wird: Elemente dieser Erklärung sind, wie gesehen, die säubernde Abgrenzung von anderen göttlichen und menschlichen Führungsformen, die Unterscheidung von souveräner Anleitung und Fürsorge gegenüber betreuender Aufzucht und Versorgung, aber auch eine nähere Darle29 Zu Parallelen mit dem Protagoras-Mythos vgl. Brisson [1995] 362f. Beachtlich auch die Übereinstimmung im Vokabular: Vgl. hierzu die Wortkonkordanz bei Ruíz Yamuza [1986] 135f. Dass die politikē technē auch im Politikos gleichzeitig mit den übrigen technai vergeben wurde, zeigt sich schließlich darin, dass von den Menschen des KronosZeitalters gesagt wird, sie lebten weder in Familien(-verbänden) noch in Poleis: Plt 271e–272a. Zudem stellt Platon anderswo deutlicher als hier im Mythos heraus, dass Einzelkompetenzen (des Bauern, des Arztes, etc.) und deren Verwirklichung nur im koordinierten Gemeinschaftsverband möglich sind: vgl. Resp 369b. – Gleiches gilt für die Souveränität des Einzelnen über sein Leben, die erst in koordinierter Interaktion zu anderen entfaltet wird (dazu u.a. Schmitt [2000] 41): Wiederum eine Verwiesenheit der Aufgabe des Einzelnen als Selbstführer auf die des politikos als Gemeinschaftskoordinator. 30 Diese „Autokratie“ weist auch auf das Selbstüberlassensein des Menschen zurück: Ausgesagt wird nämlich dieses „Über-sich-selbst-Herrschen“ zuerst im Text vom „losgelassenen“ Kosmos, der sich in seine[r] „Eigendrehung“ selbst zurechtfinden muss.
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gung der nötigen Koordinationskompetenz, wie sie in einer späteren Passage der Schrift im Bild von der Webkunst noch einmal auftaucht (Plt 279a–283a), etc. Was aber mit dem genus proximum des politikos? Von den gerupften Zweibeinern der Herdentierdihärese ist nach dem Mythos kaum mehr ernsthaft etwas zu hören.31 Irgendetwas muss der „synoptische“ und subsumierende Mythos also, und sei es nur als impliziter Hinweis für den aufmerksamen Leser, über das genus proximum des Staatsmanns ausgesagt haben; allein schon als Grundlage für die dann wieder aufgenommene Festlegung der erwähnten differentia specifica in neuerlichen unterscheidenden Dihäresen. – Während der anfänglichen dihäretischen Definitionsversuche des politikos als Hirten tauchte die Frage auf, ob und wie man denn in Hinblick auf die Herdenbestimmung Mensch und Tier unterscheiden dürfe. Der Vorstoß des jungen Sokrates, diese Unterscheidung als grundsätzliche anzunehmen, wird dort zwar vom eleatischen Fremden als dihäreseunverträglich abgewiesen. Doch fällt in diesem Zusammenhang ein Satz, den Platon kaum zufällig eingefügt haben wird. Sokrates habe nämlich trotz seines Methodenverstoßes gegen die Mesotomie richtig intuiert, so heißt es, dass die ganze zu leistende Definitionsarbeit der Argumentation eigentlich auf die Menschen hinauslaufe (ton logon ep’ anthrōpous poreuomenon) – Schleiermacher übersetzt „auf den Menschen losgehe“: Plt 262b. Diesen Fluchtpunkt der Definitionsbemühungen verfehlt das sterile Dihäresefazit: Naturalistische Abgrenzungsvorstöße wie Federlosigkeit oder Zweibeinigkeit geben offenbar kein Kriterium zur Bestimmung des Menschen her, Kreuzungsresistenz wohl auch nicht, und das alles umso mehr, als das Känguruh, der Tyrannosaurus und das gerupfte Huhn des Diogenes auch die Eindeutigkeit dieser Definitionszuweisung an den Menschen allein aufheben.32 Was ist aber dann wohl das Kriterium zur Bestimmung des Menschen, das Platon vorschwebt? Der Mythos scheint sich zunächst darüber wieder einmal auszuschweigen, seine „Definitionskorrekturen“ berühren „lediglich“ die Führungsfrage des politischen Hirten, und auch der folgende Dialogverlauf konzentriert sich auf diese Problematik. Betrachtet man den Mythos aber näher, so bietet er wiederum in zeitlichen, geschichtlichen und kosmologischen Bildern eine zeitunabhängige, geschichtslose und „innerpsychische“ Deutungsvorgabe für die Frage nach dem Menschen. Eine Vorgabe, die, wenn ich sie richtig verstehe, auch auf einen Schlag erklärt, warum es gerade die Führungsproblematik sein muss, die dann im Weiteren den Dialog beherrscht.33 31
Die dipodos agele kommt zwar etwa in Plt 263c noch einmal vor; allerdings im Rückblick auf alte Fehlleistungen der Definition. 32 Richtig Benardete [1963] 196: keine der dihäretischen Unterscheidungen sei kat' e‡dh fÚsei getroffen. 33 Die Befürchtung des Eleaten in Plt 277b, der Mythos sei ein unproportional riesiger Erzählstoff gemessen an seinen wenigen und geringfügigen Ergebnissen, ist also m.E. keineswegs in allem gerechtfertigt. Man muss hier unterscheiden zwischen dem, was die Gesprächsteilnehmer des Politikos-Dialogs tatsächlich dem Mythos als Bauholz für ihre
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Unter Kronos war die Erde ein Schlaraffenland, in dem der Mensch sorglos, ohne Not für familiäre oder staatliche Organisation, aber von guten Dämonen geführt, ohne Arbeit und besondere Herausforderungen ins Blaue hineinleben konnte. Ein „Goldenes Zeitalter“ sei das gewesen, in dem Mensch und Tier ununterschieden friedlich miteinander lebten, ohne einander zu fürchten, ohne in Konkurrenz zueinander zu stehen, ja sogar dieselbe Sprache sprachen und sich offenbar auf gleicher Verständigungsebene begegneten. Der eleatische Mythenerzähler konfrontiert den jungen Sokrates nach der Beschreibung solcher Paradieszustände mit der Frage, wer wohl als glücklicher (eudaimonesteros) anzusehen sei, die Menschen heute oder jene damals? Die Antwort, auf die man sich einigt, ist beachtlich: Der Wert menschlichen Lebens wird an der Neigung oder Ausrichtung hinsichtlich Episteme und Logos gemessen, also an Wissenserwerb und Vernunftbetätigung: Plt 272b. Sollten die Menschen des Kronos-Zeitalters in ihrem privilegierten Einklang mit Natur und Tieren Episteme und Logos gepflegt und danach gelebt haben, sollten sie also „philosophiert“ haben, so wird zusammengefasst, dann seien sie wohl glücklicher zu preisen. Hätten sie aber ihren privilegierten Umgang mit der Natur nicht zur Ausrichtung am Logos, an der Mehrung und Pflege ihrer geistigen Fähigkeiten genutzt, dann hätten sie wohl nicht zufällig so einträchtig mit den Tieren gelebt, sondern eben nicht mehr gewusst noch mehr zu wollen vermocht als Tiere: Plt 272c.34 Sage mir, mit wem Du umgehst, und ich sage Dir, wer Du bist. – In diesem befürchteten Fall also: Nichts anderes als ein weiteres Landtier, das sich von den übrigen Tieren eigentlich nur etwa durch Federlosigkeit und Zweibeinigkeit abgrenzen lässt. – Nebenbei: Auch Aristoteles meint, vielleicht mit einem Seitenblick auf den Politikos, es sei der Gedankenaustausch, der die Menschengemeinschaft ausmacht, nicht das einträchtige Weiden wie die Kühe: NE 1170b.
weiteren philosophischen Konstruktionen entnehmen, und dem Potential, das darüber hinaus in der reichen Bilderwelt des Politikos-Mythos schlummert und den Leser der Schrift auf vielen Wegen einlädt, weiter in den Reichtum der hier verborgenen Motive und intuitiven Appelle einzudringen – Friedländer [1964] 219 spricht von einer „Vordergrundaufgabe“ des Mythos in Abgrenzung zu dessen wahrer „Absicht, den Blick von der Vordergrundaufgabe in die Tiefe zu führen“. Nicht gleichwertig richtig erscheint mir dagegen die Behauptung bei Zeller [1922] 582f., was der Mythos über das Definitionsdienliche „sonst noch von philosophischen Gedanken enthält, war für seinen nächsten Zweck entbehrlich“. 34 Vielleicht hat Zeller [1922] 893, gar nicht so Unrecht damit, diese Stelle mit Politeia 372d zu verbinden, wo eine ideal friedvolle und bestens versorgte Bilderbuch-Gemeinschaft von Menschen als ein schönes Gemeinwesen für Schweine an immer vollen Futtertrögen verunglimpft wird. Möglicherweise nimmt Plt 266c auf diese „Schweine“ bezug. Benardete [1963] 193 bezeichnet die in Plt 267ac gegebene Erstdefinition der Herde des Politikos (vielleicht daher?) als „two-footed swine“. – Gänzlich missglückt scheint mir dagegen Volkmann-Schluck [1966] 313f. mit seiner „Ehrenrettung“ der politischen Schweine.
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Was uns Menschen des jetzigen Weltumlaufs von den Tieren unterscheidet, ist, im Erzählbild des Mythos, dass wir uns nicht an der Lebensweise der rundum naturversorgten Tiere orientieren, sondern an dem, was wir von den Göttern wissen und mit ihnen durch gütige Vermittlung und aktive Imitation gemeinsam haben: Dem Unbill der losgelassenen Welt ausgeliefert war es die Verfügung über die gottgegebenen technai, die göttlichen Fähigkeiten, die es dem Mängelwesen Mensch ermöglichte, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu sichern. Der Mensch füllte die vakante Führungsgewalt über die Angelegenheiten, die vordem den leitenden Göttern oblagen, also selbst aus, und entschied sich somit eher lernend und sich mühend an die Stelle der Götter zu treten als in doch wohl nur scheinbar paradiesischer gleichrangiger Gemeinschaft mit den Tieren zu verharren. Der dumpfe, anleitungsbedürftige und fremdversorgte Schlaraffe, dessen geistige Interessen, wie im Dialog befürchtet wird35, wohl kaum über die der Tiere hinausgingen, wurde also durch den selbstbeherrschten, zur eigenen Lebensanlage führungskompetenten Menschen ersetzt, der sich im Sinne dieser Selbstanleitung für die Ausübung seiner Neigung zu Wissen und Vernunftbetätigung entschieden hat. Diese Entscheidung zwischen göttlichem und tierischem Bereich sahen im Übrigen auch die Neuplatoniker an der Wurzel des Menschseins. Wie Amphibien, die in zwei Lebensbereichen existieren könnten, seien die Menschen bald dem göttlichen Bereich zuzuordnen (wenn sie ihre geistigen, gottähnlichen Anlagen verwirklichen), bald in Gefahr, durch Selbstvergessenheit und Abkehr von dieser höheren Bestimmung ins Tierhafte abzurutschen. So Plotin (Enn. IV.8.4,32). Und Augustinus stellt den Menschen des ungetrübten Naturzustands im Paradiesgarten zwischen die Möglichkeiten engelgleicher und bestialischer Existenzform, je nachdem, ob er sich nun in seiner eigenverantwortlichen Lebensführung Gott zuwendet oder sich vom Göttlichen abkehrt (De civitate Dei XII 22). Kein Wunder, dass sich auch die Deutung des Politikos-Mythos bei Proklos genau auf diese Interpretationsmöglichkeit stützte36: Proklos war der Ansicht, das souveräne Regieren des Weltherrschers über die Gesamtnatur und über die gefährlich eigendynamische Welt stehe als Bild für die nötige Vernunftleitung der koordinationsbedürftigen Gefühls- und Empfindungswelt, der Passionen und körperverwiesenen Bedürfnisse. Die Konvulsionen und der gegenläufige, menschengefährdende Zustand der Wegdrehung der Welt von der göttlichen Vorgaberichtung seien dagegen mit der Auflehnung der Begierden und widervernünftigen Inklinationen und letztlich mit deren Überhandnehmen gegenüber dem Führungsanspruch des Geistigen zu deuten. 35
Plt 272cd legt das nahe. Die Einschränkung, man könne über diese alten Geschichten nichts Genaues sagen, da kein Mensch über diese Urzeiten noch sichere Auskunft geben könne, trifft zwar auf den Mythos zu. Auf die Auslegungsebene, die den ungeschichtlichen Wesenszustand der conditio humana anspricht, jedoch wohl kaum. 36 Platonische Theologie V 6–10; vgl. dazu auch Dillon [1995] 365ff., und Schicker [1995] 381–388.
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Ich möchte zum Abschluss meiner eigenen Interpretation des Mythos diese proklische Deutung bewusst als Inspirationsvorgabe hernehmen. Sie hat nämlich den Vorteil, sich der geläufigen (wenn auch meist etwas stereotyp interpretierten) platonischen Motivik von der optimal führenden Vernunftregelung der Impulse und irrationalen Neigungen anzuschließen, sie zu absorbieren und auf eigene Art weiterzuentwickeln. Man kennt ja die korrespondierenden platonischen Metaphern und Bilder: das Seelenwagengleichnis aus dem Phaidros etwa oder die „Seelenaspekt-Trichotomie“ aus der Politeia, um nur die gängigsten zu nennen.37 Gerade diese letztgenannte zeigt aber auch, worin die Verbindung der Bestimmung des politikos mit der von Menschsein liegt: Die rechte Lebensführung des Einzelnen wird ja in der fraglichen Passage der Politeia mit der Bestform staatlicher Organisation parallelisiert, ähnlich wie im PolitikosMythos die Parallele von Organisation menschlichen Lebens mit der Organisation des Gesamt der Welt gezogen wird.38 Allen diesen drei Verständnis- und Vergleichsebenen von individueller Lebensführung, Staatsleitung und Weltlenkung ist gemeinsam, dass es jeweils einen führungskompetenten Aspekt oder Teil (wie auch immer meros adäquat zu übersetzen sein sollte) gibt, dem der Blick und die Koordinationskompetenz für das Ganze eignet.39 Und jedes Mal gelingt eine adäquate Realisierung dieses Ganzen – des Menschenlebens, des Staatswesens, des Weltverlaufs – im Sinne seiner Bestverwirklichung nur unter Leitung und Orientierung durch dieses Führungselement, das seinerseits eben durch die Vernunftentscheidung gekennzeichnet ist.40 Diese (im Bild der Phai37
Phdr 246a ff; ähnlich wie in der Webstuhlmetapher des Politikos (279a–283a) geht es auch hier um die Koordinierung von Zuwiderlaufendem oder einzeln Haltlosem durch die ordnende Vernunft. Zur thematischen Nähe von Politikos und Phaidros vgl. auch Rowe [1986] 130–137. Dass „Herdenführung“ des Staatsmanns und des Gottes sowie Webkunst als Koordination von Widerstrebendem oder -laufendem zu einem gelungenen Ganzen ein und demselben „Paradigma“ entsprechen, das den ganzen Politikos-Dialog durchzieht, zeigt sehr schön Ruíz Yamuza [1986] 138f. 38 Auf die Trichotomie der Politeia (441c–444a), wo sich Gerechtigkeit als Koordinationsresultat darstellt, das die Klugheit (der/s Regierenden) in Übereinstimmung mit Tapferkeit und Mäßigung hervorbringt, spielt ja auch ganz deutlich das Ende des Politikos (306ab) an, wo als Aufgabe des Staatsmanns das „Verweben“ von zwei Menschentypen, „Tapferen“ und „Maßvollen“ genannt wird: vgl. Schmidt Osmanczik [1986] 42. 39 In Plt 261b war schon von einem meros epitaktikon tou gnōstikou die Rede gewesen, allerdings war dieser Ansatz, wie so oft bei Platon, nachdem er für den Leser einmal als Andeutung für das Richtige genannt war, im Sande verlaufen lassen geworden. 40 Eine ähnliche Interpretation bietet Ferrari [1995] 392f: „there is in the myth an intended analogy between the Demiurge’s task and our own“, etc. Und auch hier gibt es wieder eine Verbindung zu kompositorischen Überlegungen, also zur Frage nach dem Mythos, und wie er vieles in Übereinstimmung bringen soll. Diese Übereinstimmung hatte Platon im Phaidros (264c) nämlich tatsächlich anhand des Bildes vom Menschen dargestellt und eingefordert: Ein Text müsse komponiert sein wie ein lebendiger Organismus, dessen verschiedene Organe und funktionalen Aspekte eine zum Besten und Sinn des
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dros-Auriga) koordinative „Zügelung“ durch die Vernunft – sei sie nun individual-menschlich, auf die Gemeinschaft bezogen oder auf die göttliche Weltregierung – diese überlegene Zügelung jedenfalls ist es, die eine inwendige Harmonie herstellt, eine immer neu erkämpfte, kraftvoll ausgeglichene Koordination, deren Wert der Mythos somit höher bemisst als die verräterisch ans Idyllische grenzende äußere Harmonie von Mensch und nichtmenschlicher Umwelt im Schlaraffenland des Kronos.41 Was den politikos wie jeden einzelnen Menschen ausmacht oder ausmachen sollte, ist die Fähigkeit, sein Leben und gegebenenfalls das der Gemeinschaft vernünftig zu führen.42 Das genus proximum des politikos wäre nach Aussage des Mythos mithin das autonome, zur vernünftigen Lebensführung fähige Lebewesen. Die differentia specifica zu anderen, falls man von einer solchen sprechen will, ist dagegen offenbar die Kompetenz, diese vernünftige Führungsleistung auch über eine Gemeinschaft solcher Lebewesen zu erstrecken. Als Grundlage dieses Verhältnisses wird im Dialog (Plt 276e) festgelegt, die Unterordnung von Menschen unter Menschen müsse also freiwillig43 sein, eine Unterordnung autonomer Lebensführer unter einen spezifisch ausgezeichneten anderen autonomen Lebensführer. Das ist dann der Schnittpunkt, an dem die Frage der vernünftigen, koordinierenden Führungsgewalt in die Frage nach der Bestimmung von Menschsein überhaupt umschlägt. (– Und zwar „Bestimmung“ jetzt doppeldeutig zu verstehen im Sinne von „Definition“ wie von „Endziel“). Der Bestimmung also, auf die der gesamte vorherige Dialogverlauf im Politikos zustrebte. Es ist daher kein Zufall, keine Lässigkeit oder Vergesslichkeit, wenn der Politikos sich im weiteren Verlauf dem Problem der koordinierenden Leitungsfähigkeit widmet. Dieses Problem ist es nämlich, dessen Beantwortung auf verschiedene Ebenen ange-
Ganzen aufeinander abgestimmte Einheit bilden (zu dieser Stelle vgl. auch Schmitt [2000] 36). 41 Auch hier gilt, was in Anm. 39 angedeutet wurde: Der Lösungsansatz für die Deutung der Politikerkompetenz als Geistesleistung statt als instinkthafter Umsetzung einer unreflektierten Fähigkeit war schon einmal angesprochen worden: In Plt 258b ist von der epistēmē, dem fundierten Wissen, des politikos als Definitionsziel die Rede gewesen, bevor der lautlose Umschwung auf die politikē technē auf einige Abwege hin zu Tierhirten und gerupften Hühnern führte. 42 Vielleicht ein Hinweis auf ein reales Grundpostulat im Athen des fünften Jh.: Dass jeder freie Bürger in der Lage sein musste, gegebenenfalls politische Leitungspositionen zu übernehmen; vgl. die Praxis der Ämterzuteilung nicht nur durch Wahl, sondern u.U. auch durch ein gebräuchliches Losverfahren, das jeden treffen konnte. 43 Diese Freiwilligkeit wird darauf basieren, dass ja Plt 275e ff. eine Unterscheidung zwischen leitender Fürsorge und bemutternder Grundversorgung gemacht wird, und die politische Führung der ersteren zugeschlagen wird. Die Angewiesenheit auf Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern ist unfreiwillig. Sich der Leitung zu darüber hinausgehenden, „ranghöheren“ Zielen zu fügen, ist dagegen ein freiwilliger Akt.
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wendet die entscheidenden Aussagen über die wünschenswerte politische Kompetenz wie über gelungenes Menschsein generell treffen wird.44 V. Fazit: Hühner, Kraniche, Menschen Was könnte – wenn ich es bei diesen (freilich nicht endgültigen) Überlegungen belasse – als Fazit dieser kleinen Etüde zum Politikos-Mythos stehen? Ein Ausblick auf die Wiederaufnahme und Weiterverarbeitung der Mythenelemente im beträchtlichen Restbestand des Dialogs?45 Der Hinweis auf die Möglichkeit, über die Erzählform des Mythos viele Ebenen und Aspekte eines Problems mit einem Schlag erklären zu können? Oder darauf, wie sich moderne Interpretation und neuplatonische Deutung eines platonischen Mythos sinnvoll ergänzen können? Wohl alles das, und all das hoffentlich auch als weiteres Indiz für die Richtigkeit der Ausgangsthese, dass der Mythos innerhalb des Dialogs eine Darstellungsform eigenen Rechts, eigener Vorgehensweise und selbständig gewonnener „Ergebnisse“ oder vielleicht besser: „erzeugter Einsichten“ ist. Und das, ohne Mythos und Logos hier zwanghaft gegeneinander ausspielen zu müssen, da sie hier in der Sache nämlich auf dasselbe hinzielen, ja möglicherweise jeder auf seine Weise, als Menschheitserzählung in Feststellung eines „genus proximum“, als Dihärese durch Erarbeitung „spezifischer Differenzen“, dem Bestimmungsgegenstand des Dialogs aufeinander abgestimmt zuarbeiten. – Vielleicht ist es aber besser, zusammenfassend und rückblickend noch einmal auf den Schwerpunkt der geleisteten Interpretationsarbeit zu insistieren: Auf die implizite Bestimmungsbemühung von exemplarischem Menschsein46 über die Definition des politikos. Wenn im Zurückliegenden die Andeutungen und narrativen Bilder des Mythos richtig ausgelegt sein sollten, oder zumindest eine von wohl einigen richtigen Auslegungen getroffen wurde, so konnte dadurch eine klare, adäquate Abgrenzung des Menschseins vom Widerlegungsergebnis des üblen Scherzes des Diogenes auf den Weg gebracht werden. Die Anlage zur 44
Und auch hier fehlt die „kosmologische“ Verklammerung mit dem Mythos nicht: Wenn vom politikos später gesagt wird (Plt 277a–287b; 305e–311c), er müsse die „politische“ Webkunst beherrschen, so war diese Fähigkeit im Mythos bereits dem Weltlenkergott als Handwerker (dēmiourgos) zugesprochen worden, der zusammenfügt (273b), richtig oder schön (an)ordnet (273a), und Verschiedenes in Harmonie bringt (269d). 45 Genannt war z.B. schon das Motiv der Verfassungsformen im Mythos und deren explizit aufgenommene Umsetzung im späteren Gesprächsverlauf ( – vielleicht eines der ganz wenigen Beispiele, wo sich ein Mythenbild a posteriori durch die Diskussion erhellt; vgl. oben Anm. 17) sowie die Wirkung des mythischen Weltenlenker-Motivs auf den politischen Super-Experten des Dialogschlusses (siehe Anm. 27); hinzuzählen ließe sich die Wiederaufnahme der mythischen Opposition von Autonomie und Anleitungsbedürftigkeit des Menschen in verschiedenen Weltzyklen durch die Diskussion von Gesetzespositivismus und souveräner Gesetzesgestaltung (Plt 293e–303d; vgl. Nomoi 875c), etc. 46 Richtig hat Benardete [1963] daher bemerkt: „The Stranger, then uses the myth to reveal the difficulty in grasping the e doj of man“ (Zitiert bei Scodel [1987] 81f).
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Führung des eigenen Lebens durch die Vernunft kommt einem gerupften Huhn nicht zu. Was bleibt, sind – nicht weniger grotesk vielleicht – die Kraniche. Platon hatte zu Anfang des Dialogs (man weiß nicht so recht, ob spaßeshalber oder aus welchem Grund auch immer) nicht ganz ausschließen wollen, dass auch Kraniche verständige Wesen (phronima) sein könnten. Stehen oder stünden sie dann also gleichrangig mit dem Menschen da? Ich glaube, der Mythos kann auch hier zumindest einen Antwortweg andeuten: Die phronēsis, die Einsicht(sfähigkeit), allein scheint es nämlich nicht zu sein, die von selbst schon eine vernünftige Führung des eigenen Lebens, die Selbstbeherrschung ausmacht. Auch von der Welt als ganzer wird nämlich z.B. im Mythos gesagt, sie habe ihren Teil an phronēsis, und doch ist sie letztendlich der Führung bedürftig, da sie sich allein nicht hinreichend verwalten kann (Plt 269de).47 Vielmehr ist es offenbar, wie der Mythos nahelegt, es sei die Teilhabe und Orientierung48 am Göttlichen, oder die Verinnerlichung dessen, was auch die Götter tun, was Menschenleben erst zu solchem selbstbeherrschten Leben macht. Was den Menschen über die Tiere hinaushebt, wird im Verlauf des Mythos, geschickt in einen Nebensatz und in einen eher ablägigen Zusammenhang eingebaut, denn auch tatsächlich gesagt: Er habe mehr Göttlichkeit an sich als die anderen Lebewesen (Plt 271e).49 Die göttliche Vermittlung der technai sowie das Bild vom Menschen als sein eigener Regent, dem die Stelle des Herrschergottes eingeräumt oder abgetreten wird, sprechen metaphernreich dafür. Gelungenes Menschsein ist also zwar in Selbstverantwortung entlassen, und die führenden guten Dämonen, die für die – eher fragwürdige – Eudaimonie im Schlaraffenland des Kronos sorgten, gibt es nicht mehr. Das Bild von den vermittelten und zu eigen gemachten Fähigkeiten, die der menschlichen Suche nach aus eigenen Kräften erreichbarer Eudaimonie, oder zumindest der aussichtsreichen Arbeit daran50, auf die Sprünge helfen, zeugen aber davon, dass es einer Art göttlicher 47
Phronēsis muss ja nicht eindeutig verwendet sein. Ebert [1995] 165 unterscheidet die Bedeutung im Sinne von „Wissen (um oder von etwas)“, von einer der „Fähigkeit zur Orientierung eigenen und fremden Handelns“; welche wir wohl dem Weltganzen und welche wir den Kranichen zusprechen dürfen? Für die Bestimmung von Menschsein ist jedenfalls (im Sinne des Mythos) offenbar die zweitgenannte die ausschlaggebende. 48 Vielleicht sogar eher der Orientierung. Teilhabe am Göttlichen hat die Welt nämlich auch. Doch offenbar versäumt sie es, sich auf dieser Grundlage am Göttlichen hinreichend zu orientieren (sie geht ja in einer entgegengesetzten „Eigenbewegung“ vom Göttlichen weg) – und gerät daher vom guten Zustand ab hin zum Chaos. 49 Der Würde oder dem Einschätzungsgrad nach (tÍ timÍ, Plt 257b) sind Mensch und Tier also so weit verschieden, dass sie eigentlich nicht mehr in einem Vergleichsschema untergebracht werden können, wie es die Anfangsdihärese in ihrer mesotomen Unterteilung der Lebewesen vorausgesetzt hatte (vgl. oben Anm. 4 zu Plt 257b). 50 Ich übernehme hier von Schmitt [2000] 42, den Hinweis, dass bei Platon ja oft eine Sache primär an ihrem ergon, an ihrem ‚Werk‘, oder sagen wir besser: an ihrer Verwirklichung erkennbar sein soll (Resp 477c, vgl. 352dff), weniger vielleicht an ihrer Anlage (dazu auch oben Anm. 48 zu Teilhabe und Orientierung). Zu seiner Verwirklichung, sei-
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Maieutik bedarf, die diesem Gelingen initiativ vorausliegt, damit der Mensch lernt, seinen eigenen göttlichen Funken entfachen zu können – so, wie er ja auch gelernt hat, es immer wieder mit seinem Herdfeuer zu tun, nachdem Prometheus ihm einmal das Feuer vom Himmel geholt hatte.51 – Und auch das ist übrigens ein Gedanke, der sich bei den späten Nachfolgern Platons findet, von den ersten Neuplatonikern bis zu christlichen Autoren der Scholastik und der Renaissance. Mein nun doch sehr stark in eher modernen Termini moralisierendes Fazit zur Konzeption von Menschsein und Selbstbeherrschung und dieser Blick auf die „Rezeptionsgeschichte“ müssen sich aber schließlich auch der Frage nach Reichweite und Programmatik meiner Interpretation stellen. Die philosophische Deutung, so hoffe ich vielleicht plausibel gezeigt zu haben, kann hier nämlich weiter gehen als etwa die philologische und sich das leisten, was sich dieser verbietet: Nämlich das quoad nos, das Appellative, das heutig Interessante aus Platons Mythen herauszulesen statt des epochegebunden Unwiederbringlichen, das Platon wohl gemeint hat oder haben könnte (die Vermessenheit, zu diesem überhaupt begreifend durchdringen zu können, vorausgesetzt). – Das gleichwohl, ohne gegen das Prinzip des sensus efferendus, non inferendus zu verstoßen. Bestenfalls hat meine Interpretation des Politikos-Mythos einen Weg zeigen können, wie es paradoxerweise gerade die platonische Mythenwelt ist, in der die Philosophie diesen weitergehenden Anspruch gegenüber der strengen Textauslegung erheben kann. Vielleicht weil, wie Hans-Georg Gadamer meint, „die im Mythos gestaltete Welt gar keine Welt ist, sondern das ins Kosmische ausgezogene Lineament der sich im Logos deutenden Seele selbst“52.
nem spezifischen ergon aber ist der Mensch dem Mythos zufolge tatsächlich erst als politikos, als Meister seiner selbst und/oder der Gemeinschaft im „losgelassenen“ Zeus-Äon gekommen; von erga der Menschen unter Kronos kann gar keine Rede sein. 51 Richtig daher auch Scodel [1987] 81: „In alluding to the situation prevailing in the present cycle between man and the baser animals, the Stranger contradicts [...] his analogy concerning the crane“. 52 Gadamer [1968] 202.
WARUM ZWEI EPOCHEN DER MENSCHHEITSGESCHICHTE? ZUM MYTHOS DES POLITIKOS Christoph Horn Die Politikos-Forschung hat in den letzten zehn Jahren bedeutendere Fortschritte erzielt als in irgendeinem Jahrzehnt seit Beginn der modernen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Platon. Es sind besonders die Beiträge zum III. Symposium Platonicum von 1992, der Kommentar von Christopher Rowe und die Monographie von Melissa Lane, die unser Verständnis des diffizilen Spätdialogs spürbar erweitert haben.1 Dennoch wirft der Politikos noch immer gravierende Interpretationsprobleme auf, welche mit seiner Form, seiner Methode und seinem doktrinalen Gehalt zusammenhängen: Der Dialog wirkt spröde und literarisch unattraktiv, sein Verfahren einer methodischen Dihairese scheint intransparent und sachlich zweifelhaft zu sein, und schließlich bleibt die implizite Politische Philosophie skizzenförmig und dunkel, zumal was ihr Verhältnis zur Politeia und zu den Nomoi anlangt. Man ist daher versucht anzunehmen, dass der Text einfach ein dialektisches Training spiegelt und allenfalls zu Übungszwecken zu gebrauchen ist.2 Als besonders schwer zu interpretieren erweist sich der Mythos des Politikos (268d–274e), den ich im Folgenden eingehender behandeln werde. Im Dialogkontext besitzt er die Aufgabe zu klären, weshalb der erste Versuch, das Wesen des Staatsmanns zu bestimmen, nämlich ihn als einen Menschenhirten zu kennzeichnen (267a8–c4), unter Gegenwartsbedingungen nicht mehr angemessen ist. Im Detail scheint mir der Mythos folgenden Inhalt zu haben: In einer früheren Epoche wurde der Kosmos direkt von einem Gott gesteuert. Doch in der Zwischenzeit hat sich dieser von der Weltfürsorge zurückgezogen (ohne ganz verschwunden zu sein), woraus sich gravierende Konsequenzen ergaben. Hauptsächlich kehrte sich seitdem die Drehrichtung des Kosmos um. Nennen wir dies die kosmologische Folgewirkung; sie wird als Ereignis mit weitreichenden Konsequenzen geschildert. So kam es sekundär zur Ablösung des bis dahin bestehenden Goldenen Zeitalters, traditionell als das des Kronos deklariert, durch eine nicht-ideale Epoche des Zeus. Bezeichnen wir diesen Aspekt als die theologische Folgewirkung (obwohl nichts darüber gesagt wird, ob die Namen von Kronos und Zeus mehr als nur Etiketten für zwei Zeitabschnitte sind). Außerdem schlug die Verlaufsform menschlicher Biographien in ihr Gegenteil um: Während in der Kronos-Zeit die Menschen als Greise aus der Erde geboren wurden und sich als Kleinkinder gleichsam auflösten, entstehen die 1
Rowe [1995a] und Lane [1998]; die Beiträge des Symposiums sind publiziert von Rowe [1995b] sowie von Nicholson/Rowe [1993]. Weitere wichtige Arbeiten zum Politikos stammen von Dorter [1994], Miller [1980] und Skemp [1952/21987]. Eingeschränkt zu empfehlen sind Herter [1958/21975], Rosen [1979] und [1995] sowie Scodel [1987]. 2 Für diese Annahme vgl. Plt 285d7 und 287a3.
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Menschen der Zeus-Zeit durch Sexualität und durchlaufen ihre Biographien in der uns bekannten Weise. Wir können von einer anthropologischen Folgewirkung sprechen. Als weitere Konsequenzen aus der umgekehrten Drehrichtung des Kosmos führten die Menschen des Kronos-Zeitalters ein problemloses und friedfertiges Leben unter der Obhut von Göttern und Dämonen, während die Bewohner der Zeus-Epoche zur Selbstversorgung gezwungen sind und folglich auf handwerkliche und technische Hilfsmittel zurückgreifen müssen. In diesen Kontext gehört auch die Feststellung, dass gegenwärtig – anders als früher – Menschen über ihre Artgenossen herrschen; politische Herrschaft ist in der Zeus-Epoche zum Regime von Gleichen über Gleiche geworden. Nennen wir diese die kulturgeschichtlich-politischen Auswirkungen. Die Folgerung aus dem Mythos lautet, dass eine Definition des Staatsmanns und seiner technē gegeben werden muss, welche der neuen kosmologischen, theologischen, anthropologischen und kulturgeschichtlich-politischen Lage entspricht. Nicht alle Politikos-Forscher werden auch nur dieser Inhaltsangabe zustimmen. Und in der Tat weist der Mythos eine verwirrende Fülle von Nuancen und Details auf, die seine Interpretation zu einem heiklen Unternehmen machen. Im Folgenden werde ich mich auf drei Probleme konzentrieren: (I) Wie ist es möglich, dass ein so rationalistischer Autor wie Platon die Ergebnisse eines methodischen Verfahrens im Dialogverlauf ausgerechnet durch einen Mythos korrigiert, noch dazu durch eine so lange und komplizierte Erzählung? Worin besteht die Funktion des Mythos? Nach meiner Auffassung enthält die Politikos-Passage nicht so sehr eine Erzählung als vielmehr eine Reihe philosophischer Thesen sowie eine Mythenexegese. (II) Was genau wird im Mythos dargelegt: eine Abfolge von zwei Epochen (so die traditionelle Lesart) oder aber von drei Stufen (so L. Brisson und Ch. Rowe)?3 Mit meinen Ausführungen versuche ich die traditionelle Interpretation zu stützen, die m.E. deutliche Vorzüge gegenüber Brissons und Rowes Deutung besitzt. Und (III): Was bedeutet der Mythos für die Politische Philosophie, die im Politikos entfaltet wird? Wie mir scheint, geht es Platon darum, das Bild einer perfekten Steuerung menschlichen Lebens durch einen lenkenden Gott zu zeichnen. I. Welche philosophische Bedeutung besitzen die zahlreichen narrativen Passagen, die Platon in seine Dialoge eingestreut hat? Wie ernst meint er seine Mythen? Kommt ihnen eine bloß spielerisch-literarische Funktion zu oder vermitteln sie wirkliche Erkenntnis? Im ersten Fall wären sie ohne eine philosophische Bedeutung; sie hätten dann für die Dialoge einen ähnlich bescheidenen Wert wie die zahlreichen szenischen Schilderungen oder die ironischen Anspielungen auf Zeitgenossen. Träfe dagegen letzteres zu, so müsste man weiter unterschei3
Brisson [1974/21994], 478–496 und [1995] sowie Rowe [1995a], 13 und 188 ff. Vgl. zudem Rowes Beitrag in diesem Band.
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den zwischen einer substantiellen und einer instrumentellen Erkenntnisfunktion. Das heißt: Entweder meint Platon, mithilfe von Mythen ließen sich genuine philosophische Erkenntnisse oder zumindest Intuitionen darstellen; möglich wäre es dann sogar, dass er sie für ein Darstellungsmittel hält, das die rationale Präsentationsform transzendiert und sich gleichsam für die Vermittlung höherer Wahrheiten eignet. Oder aber er glaubt, philosophische Einsichten seien allein auf argumentativem Weg zu gewinnen; dann blieben für die mythischen Passagen mehrere mögliche subsidiäre Aufgaben übrig. Beispielsweise könnten sie zur Illustration einer philosophischen Erkenntnis dienen oder an die traditionelle, geteilte Weltsicht der Griechen anknüpfen. Gehen wir die genannten Möglichkeiten bezogen auf unsere Erzählung der Reihe nach durch. Trotz seiner einleitenden Kennzeichnung als Spiel (paidia: 268d–e) ist es sicher auszuschließen, dass dem Politikos-Mythos eine rein spielerisch-literarische Funktion zukommt. Er markiert ja einen sachlichen Wendepunkt im Dialog; folglich muss in ihm irgendein philosophisch relevanter Gesichtspunkt enthalten sein. Nehmen wir also an, Platon wiese ihm die Aufgabe einer substantiellen Erkenntnisvermittlung zu. Soweit ich sehe, gibt es drei Möglichkeiten, den Mythos in einem solchen Sinn zu interpretieren. [i] Es wäre etwa denkbar, dass Platon eine spezifisch narrative Form von Kognitivität ins Spiel bringen will. Nach dieser Konzeption müsste das Geschichtenerzählen eine selbständige und irreduzible Erkenntnisform darstellen. Nun mag es stimmen, dass sich bestimmte Einsichten ausschließlich durch orale oder literale Erzählformen vermitteln lassen, z.B. wenn es um das Nachempfinden von subjektiven Gefühlslagen, um das Nachvollziehen von menschlichen Erfahrungen oder um das Erfassen individueller Biographien geht. Aber Platons philosophische Interessen scheinen nicht auf Erkenntnisse dieses Typs gerichtet zu sein; seine wichtigsten Themen liegen in den Bereichen Moralphilosophie, Epistemologie, Sprachphilosophie und Ontologie. Gegen eine solche Deutung des Mythos sprechen ferner Gründe, die mit Platons Wissensbegriff, seiner philosophischen Methodologie sowie mit seiner Poetik zusammenhängen. Zunächst ist zu beachten, dass er (besonders in seiner frühen und mittleren Erkenntnistheorie) einen äußerst anspruchsvollen Wissensbegriff entwickelt. Sowohl seine technē-Konzeption als auch die Antithese von epistēmē und doxa setzen ungewöhnlich strenge Standards für wahres Wissen an, das er folglich allein den Philosophen vorbehält.4 Im Politikos ist eine solche Wissenskonzeption unverändert präsent, nämlich im Begriff einer basilikē oder politikē technē, welche als kognitiv anspruchsvoll und extrem elitär dargestellt wird.5 Es ist 4
Danach können nur die von der Vernunft erfassbaren invarianten Ideen Objekte wahren Wissens sein. 5 Vgl. die Darstellung der basilikē oder politikē epistēmē in Plt 292b ff. und 305e. Unter der Bezeichnung „das Genaue selbst“ (auto takribes: 284d) wird ferner ein Erkenntnisobjekt thematisiert, das vergleichbar der Idee des Guten in der Politeia den Endpunkt eines mühsamen Erkenntniswegs markieren soll. Zudem wird im Politikos eine „doppelte
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nicht einzusehen, wie man durch Narrativität einen derartigen Kenntnisstand erreichen könnte. Weiterhin ist festzuhalten, dass Erkenntnis für Platon nur auf methodischem Weg zu gewinnen ist; zentrale Stichworte hierfür sind die Methodenbegriffe elenchos, hypothesis, dialektikē und dihairesis. Natürlich unterscheiden sich diese Verfahrensweisen beträchtlich voneinander, doch besitzen sie die Gemeinsamkeit, dass alle vier Erkenntnismethoden in kleinen Überlegungsschritten vorgehen und aus begrifflich-argumentativen Untersuchungen bestehen. Beispielsweise lässt Platons Zurückweisung der rhetorischen makrologia und das entsprechende Lob der philosophischen brachylogia wenig Raum dafür, eine genuin narrative Erkenntnisform anzunehmen. Und schließlich ergibt sich aus der Dichter- und Mythenkritik von Politeia II, III und X eine Poetik, nach welcher Mythen lediglich einen äußerlich-abbildenden Charakter aufweisen, für den Platon den Ausdruck mimēsis gebraucht; danach üben Mythen eine non-kognitive, suggestive Überredungskraft auf die Seele aus. Philosophisch minderwertige Mythen besitzen daher eine verheerende, charakterlich depravierende Wirkung auf ihre Rezipienten. Aber auch für philosophisch akzeptable Mythen gilt, dass sie sich auf ihre Adressaten in nicht-rationaler, suggestiver und manipulativer Form auswirken – wie das Beispiel der „edlen Lüge“ des Metallmythos bestätigt.6 Auch in unserem Dialog wird ein stark wertender Gegensatz zwischen der für die breite Masse und das Volk bestimmten mythologia und einer philosophischen Lehre (didachē) vorgenommen (Plt 304d1 f.). [ii] Möglich scheint es ferner, dass Platon in seinen Mythen ein freies Spiel von Phantasie und Imagination praktiziert, bei dem er sich von der Pflicht befreit fühlt, präzise Begriffe zu verwenden, strenge Beweise zu führen und überlegte Argumente vorzubringen. Seine Mythen wären so betrachtet Gedankenexperimente ohne strikten Wahrheitsanspruch, nämlich Sammlungen von Einfällen; sie bildeten eine imaginative Vorstufe zur theoretischen Erfassung der Wahrheit, die vielleicht als unverzichtbar zu gelten hätte. Für diese müsste dann in einem zweiten Schritt philosophisch argumentiert werden. Ich glaube, dass diese Sicht des Politikos-Mythos auszuschließen ist, weil die Erzählung dann für sich genommen keinen Wert innerhalb der Argumentation des Politikos haben könnte. Außerdem versuche ich in diesem Beitrag zu zeigen, dass der Mythos massiv mit Argumenten und Theorien durchsetzt ist. Wenn ich Recht habe, kann es sich hier keineswegs um ein experimentell-imaginatives Spiel oder eine Vorstufe zur philosophischen Thesenentwicklung handeln. [iii] Zudem könnte man dem Politikos-Mythos eine intuitive oder eine transrationale Erkenntnisfunktion unterstellen. Gelegentlich sympathisiert Platon explizit mit non-kognitiven Einsichtsformen dieses Typs, wie besonders der Phaidros und das Symposion mit Blick auf den Wahnsinn (mania) bzw. die Messkunst“ (285b f.) erwähnt, wovon die eine es mit den Inhalten der Mathematik zu tun haben soll, während die andere das Angemessene, Gebührliche oder Erforderliche zum Gegenstand hat. 6 gennaion pseudos: Resp III 414c–415d.
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Liebe (erōs) zeigen.7 Um unseren Mythos in diesem Sinn deuten zu können, müsste sein Akzent so liegen, dass hier mit mythischen Mitteln wahre (oder zumindest überzeugende) Thesen, Gedanken und Intuitionen vorgetragen würden, ohne dass dafür noch Begründungen gegeben werden könnten oder müssten. Doch der Politikos-Mythos erhebt nirgends den Anspruch, auf eine besondere Einsichtsform, etwa auf göttliche Inspiration, zurückzugehen. Überdies wäre es ein generelles Missverständnis anzunehmen, Platon erkenne in den genannten Fällen einen Eigenwert irrationaler Inspiration an; der volle Wert intuitiver Einsichten scheint sich für ihn erst aus einer rationalen Rekonstruktion des mythischen Gehalts zu ergeben.8 Was die drei betrachteten Deutungsvarianten anlangt, können wir eine substantielle Erkenntnisfunktion für den Politikos-Mythos ausschließen. Somit bleibt der andere Flügel der Alternative, wonach Platon eine instrumentelle Erkenntnisfunktion im Auge hat. Diese Deutung lässt sich, wenn ich richtig sehe, in vier Varianten ausformulieren (im Folgenden [iv]–[vii]). [iv] Eine instrumentelle Erkenntnisvermittlung wäre etwa dann gegeben, wenn sich der Politikos-Mythos einer allegorischen Lesart unterziehen ließe, d.h. wenn man ihm irgendwelche verschlüsselten, hintergründigen Aussagen entnehmen könnte. Denn dann handelte es sich bei der mythischen Form zwar um ein wichtiges Darstellungsmittel; dennoch wäre der allegorisch präsentierte Inhalt mit argumentativen Mitteln gewonnen. Eine solche Politikos-Interpretation besitzt eine gewisse historische Dignität, insofern sie von den Neuplatonikern zwischen Iamblichos und Proklos verfolgt worden ist.9 Allerdings scheint mir eine allegorische Dechiffrierung im Fall des Politikos-Mythos kaum angemessen zu sein, da der narrative Gehalt zu komplex ist, als dass er sich ohne beträchtliche Reste entschlüsseln ließe. Auf welches einheitliche Phänomen hin sollten sich die vielen im Mythos angeführten Details interpretieren lassen? Nach neuplatonischer Lesart sind die zwei Epochen von Kronos und Zeus auf den Gegensatz von intelligibler und sensibler Welt zu beziehen; aber mit dieser Deutung würde man beispielsweise alle geschichtlichen Aspekte des Mythos eliminieren. Auch grundsätzlich scheint Platon, wie die Mythenreflexion aus dem Phaidros zeigt, nicht mit einer rationalistisch-allegorischen Interpretation sympathisiert zu haben.10 [v] Weiterhin könnte man dem Politikos-Mythos einen instrumentellen kognitiven Wert zuschreiben, indem man etwa behauptete, er vermittle durch seine 7
Phdr 243e ff. Weitere Beispiele für dasselbe Phänomen sind Platons Lob der poetischen Inspiration, sein Respekt für althergebrachte Erzählungen, religiöse Orakelsprüche oder auch Träume. Einige der platonischen Mythen sind zweifellos von einer solchen archaisierenden Tendenz oder einer religiösen Aura geprägt. 8 Vgl. dazu die Analyse von Janaway [1995], Kap. 7. 9 Vgl. die Beiträge von J. Dillon und R. Schicker in Rowe [1995b]. 10 Vgl. Phdr 229c–230a. Eine weitere Belegstelle ist Resp II 378d6 f., wo sich Platon von den ‚Hintergedanken‘ (hyponoiai) distanziert, die Mythen angeblich aufweisen.
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ästhetisch-suggestive Form eine auf argumentativem Weg gewonnene Erkenntnis. Damit dies richtig sein könnte, müsste er so angelegt sein, dass er durch seine literarische Attraktivität besticht, oder aber so, dass von ihm eine erwünschte suggestive oder manipulatorische Wirkung auf den Gesprächspartner bzw. den Leser ausgeht. Der Wahrheitsgehalt des Textes ergäbe sich dann aus philosophischen Überlegungen, die an der vorliegenden Stelle ungenannt bleiben. Jedoch überzeugt unser Text sicher nicht durch seine ästhetische Attraktivität; er wirkt vielmehr umständlich und theorielastig. Zwar enthält er die knappe Bemerkung, er sei zu dem Zweck erzählt, damit wir denjenigen „deutlicher sehen“ (enargesteron idoimen: 275b4), auf den die Vorstellung einer Hirtenfunktion allein zutreffe; damit scheint auf seine illustrative Funktion verwiesen zu werden. Gleichwohl kann er nicht primär auf eine suggestive Wirkung hin angelegt sein; denn wie wir in einer nachgeschobenen Reflexion erfahren (274e–275b), dient der Mythos der Aufgabe, eine bestimmte Erkenntnis überhaupt erst zu erzeugen – nämlich die Einsicht, dass der Begriff eines Hirten nur auf den Gott, nicht aber auf den König zutrifft und dass die bis dahin geleistete Dihairese falsch ist. In einer weiteren Reflexion (277a–c) tadelt der eleatische Fremde sogar die illustrative Breite und Ausführlichkeit des Mythos, setzt ihn aber immerhin noch darin von der Malerei ab, dass er für auffassungsstarke Personen adäquater sei. Beide zuletzt genannten Textstellen implizieren, dass der Mythos, auch wenn er weitschweifig und blumig geraten sein mag, dennoch nicht bloß veranschaulichend konzipiert, sondern argumentativ gehaltvoll ist. [vi] Eine instrumentelle Erkenntnisfunktion käme dem Mythos auch dann zu, wenn er eine pädagogisch-adressatenrelative Aufgabe zu erfüllen hätte – gemäß dem Phaidros-Diktum von der psychagogischen Kraft der richtig eingesetzten Rede (Phdr 271c10 ff.). So gesehen hätte die hier erzählte Geschichte den Sinn, Vehikel oder Transportmittel für einen kognitiven Gehalt zu sein, welcher wegen der beschränkten Auffassungsgabe des jugendlichen Gesprächspartners in eine narrative Form gekleidet wäre. Tatsächlich bezieht sich der eleatische Fremde auf den Umstand, dass sich ein Mythos für den jungen Sokrates, der bis vor kurzem noch Adressat von Kindergeschichten war, als geeignete Darstellungsform erweist (268e). Jedoch geht der Eleat keineswegs so weit zu sagen, er traue Sokrates lediglich diese narrative Form von Argumentation zu – worauf er sich im gesamten Dialogverlauf auch tatsächlich nicht beschränkt. Vielmehr gebraucht er den Mythos und konstatiert nur zusätzlich die Angemessenheit dieser Präsentationsform für den jetzigen Adressaten. Zwar handelt es sich bei dem Mythos um ein bloßes „Kinderspiel“ (paidia), wie bereits zitiert. Aber die spielerische Form kann sich nicht allein der Person des jungen Sokrates verdanken. [vii] Nach einer abschließenden Deutung des instrumentellen Typs könnte der Mythos unseres Dialogs eine beglaubigende oder autorisierende Funktion besitzen, indem er eine Sichtweise unter Rückgriff auf den common sense rechtfertigen würde. Sollte dies zutreffen, so müsste er eine allgemein anerkannte,
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kollektive Wahrheit wiedergeben, die keiner weiteren Begründung bedarf. Aber auch dies scheint unplausibel, weil sich der Mythos (wie ich noch zeigen möchte) in starkem Maß auf argumentative Prämissen stützt. Zudem verweist der eleatische Fremde darauf, dass er den vorliegenden Mythos erstmals erzählt; er beansprucht also, selbst sein Erfinder oder zumindest Neugestalter zu sein (269b–c). Zwar knüpft er an Bekanntes an, indem er den jungen Sokrates nach dem Mythos von Atreus und Thyestes fragt (268e10 f.). Er erzählt dann jedoch, wie er betont, unbekannte Aspekte dieser Geschichte und er verbindet sie mit der Kronos-Erzählung vom Goldenen Zeitalter sowie mit der traditionellen Autochthonie-Vorstellung. Kennzeichnend für den Politikos-Mythos ist also gerade der freie Umgang mit dem narrativen Material, nicht der Rekurs auf Autoritatives, Selbstverständliches oder auf allgemein Geteiltes.11 Bislang gingen wir den verschiedenen Deutungsformen nach, nach denen der Politikos-Mythos einen kognitiven Wert besitzt, und zwar entweder in einem substantiellen oder aber in einem instrumentellen Sinn. Es bleibt jetzt noch eine Interpretationsmöglichkeit übrig, die sich weder klar der einen noch der anderen Seite zuordnen lässt, sondern beide Aspekte miteinander verbindet. [viii] Möglicherweise bildet unser Mythos ein Surrogat; er verdankt sich vielleicht der Schwierigkeit, dass sich nach Platons Auffassung unter nichtidealen Bedingungen und bei schwankenden Erkenntnisobjekten keine strikte Methode anwenden lässt. So betrachtet wäre der Mythos als narrativer Text zwar epistemisch mangelhaft, böte aber zugleich eine relativ adäquate, vielleicht sogar die bestmögliche Erkenntnisform für schwer fassbare Sachverhalte (z.B. weil diese historisch weit zurückliegen) oder für Objekte von minderem ontologischen Rang (d.h. für die sinnliche Welt). Platon ist bekanntlich der Meinung, dass die sinnlich gegebene Realität keinen Gegenstand echten Wissens (epistēmē) bilden kann, sondern nur ein Objekt der Meinung (doxa).12 Er gesteht einer wahren und fest verankerten doxa durchaus einen gewissen epistemischen Rang zu (Plt 309c; vgl. Men 97a–98a). An eine solche Surrogatfunktion scheint z.B. bei seinen Ausführungen im Timaios gedacht zu sein, wo die Darstellung der Weltentstehung als eikōs mythos (29d2) bezeichnet wird. Allerdings muss man hier vor einer Verwechslung warnen: Die Tatsache, dass Platon wissenschaftliche oder philosophische Positionen mythoi nennen kann, heißt natürlich nicht, dass er das, was wir unter Mythen verstehen (nämlich archaische Götter-, Helden- und Familiengeschichten), als philosophische Theorien gelten lassen würde. Sicher kann man behaupten, dass der Politikos-Mythos, soweit er vergleichbar dem Timaios irgendwelche Annahmen zur 11
Generell scheint Platon mit seinen Mythen nicht zu beabsichtigen, konventionelle Erzählungen und traditionelle Motive zur Bestätigung seiner philosophischen Theorien heranzuziehen. Mit Blick auf die Mythenkritik der Politeia hat etwa J. Annas [1982] 121f. plausibel gemacht, dass seine Absicht umgekehrt in der Zurückweisung konventioneller mythischer Vorbilder liegen muss. 12 Vgl. bes. Resp V 474b–480a.
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Kosmologie, zu den historischen Epochen oder zur Kulturgeschichte enthält, auch eine philosophisch akzeptable Theorieform darstellt, wenn es sich dabei auch nicht um ein methodisch adäquates Vorgehen handelt. Dagegen kann man den bloß narrativen Elementen des Mythos mithilfe dieser Interpretation keinen Sinn verleihen. Ich denke, dass unser Überblick über die Deutungsvarianten [i]–[viii] zu dem Ergebnis führt, dass Platon mythologische Erzählungen, besonders den vorliegenden Mythos, allenfalls als eine Schwundstufe der abstrakt-rationalen Präsentationsform angesehen haben kann. Doch wenn dies so weit zutrifft, warum gewährt Platon dann einem Mythos so viel Raum, wie dies im Politikos der Fall ist? Und warum konzediert er ausgerechnet einer Erzählung eine so wichtige kognitive Funktion für den weiteren Dialogverlauf? Zunächst sei angemerkt, dass sich diese Fragen nur dann stellen, wenn wir akzeptieren, dass der eleatische Fremde als Gesprächsführer im Politikos grundsätzlich im Namen Platons auftritt. Hierfür scheint mir u.a. zu sprechen, dass der eleatische Fremde bereits im Sophistes als akzeptierter Dialogführer auftritt und dass der Politikos eine Staatsphilosophie entwickelt, die als platonisch gelten kann. Wozu dann also ein langer Mythos inmitten einer methodischen Dihairese? Die genannten Interpretationsmöglichkeiten tragen mit Ausnahme der zuletzt erwähnten Variante [viii] wenig zur Erschließung des Politikos-Mythos bei. Doch auch diese Deutung charakterisiert die Eigenart dieses Mythos nur teilweise. Was Platon im vorliegenden Mythos unternimmt, scheint mir nichts Geringeres zu sein als eine konzentrierte, narrative Präsentation wichtiger Elemente seiner Theologie, Kosmologie, Geschichtstheorie und Politischen Philosophie. Ich denke daher, dass die Politikos-Passage eine ungleich größere doktrinale Bedeutung aufweist als etwa die Jenseitsmythen aus Gorgias, Phaidon, Phaidros und in Politeia X. Der Politikos-Mythos besitzt einen lehrhaften Charakter und er spielt im Argumentationskontext eine wichtige Rolle. Ich möchte den Politikos-Text daher als einen doktrinalen Mythos bezeichnen – womit ich nicht behaupte, alle Details spiegelten Platons Meinung wider, und schon gar nicht, er weise auf Erkenntnisse hin, die mit argumentativen Mitteln unerreichbar wären. Mit dem Text scheint jedoch ein ernsthafter und sogar weitreichender Wahrheits- und Erklärungsanspruch erhoben zu werden. Für meine These berufe ich mich auf die Beobachtung, dass die Mythenerzählung mit erstaunlich vielen Begleitreflexionen verknüpft ist. An mindestens fünf Stellen wird auf die Herkunft, den Inhalt, die Glaubwürdigkeit und den Ertrag des Mythos reflektiert.13 Zunächst ist zu beachten, dass der eleatische Fremde nach eigener Auskunft mit der konventionellen Überlieferung instrumentell umgeht (vgl. proschrēsasthai: 268d9), sie also für einen philosophischen Kontext nutzt. Dabei will er den Mythos bemerkenswerterweise direkt in das dihairetische Verfahren integrieren, indem er nämlich die methodische An13
Vgl. Plt 268d–269c; 271d–e; 273e–274e; 275b sowie 277a–c.
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weisung gibt, man müsse von der Erzählung „immer Teil für Teil wegnehmen“ (meros aei merous aphairoumenous: 268e1).14 Weiterhin beansprucht der eleatische Fremde für seine Geschichte, dass sie den verbindenden Hintergrund für drei vorhandene Mythenstoffe liefert – nämlich für das Thema einer Umkehrung der kosmischen Bewegungszyklen, für den Topos vom Goldenen Zeitalter unter Kronos und für das Motiv der Erdgeburten (269b5 f.). Überdies nimmt er für sich in Anspruch, die Verbindung dieser Mythenstoffe hier als erster umfassend darzustellen (269b9 f.), und zwar im Sinn einer erstmals enthüllten Wahrheit. Dass der Politikos-Mythos einen Wahrheits- und Korrekturanspruch für die tradierten mythischen Erzählungen erhebt, lässt sich ferner aus einigen kleineren Bemerkungen im Text ersehen. So heißt es etwa, die jetzige Erzählung benenne zum ersten Mal die „Ursache der erstaunlichen Phänomene“ (tōn thaumastōn aition: 270b4; gemeint sind das Goldene Zeitalter und die Erdgeburten). An einer anderen Stelle (271c1) ist davon die Rede, dass die Bezeichnung (onoma) und die ganze Erzählung (logos) der Erdgeborenen auf den hier erzählten Mythos zurückgeführt werden müsse. Eine ähnliche Bemerkung fällt im Zusammenhang des Motivs vom Goldenen Zeitalter; auch über dieses bemerkt der eleatische Fremde, die Geschichten von einem mühelosen („automatischen“) Leben beruhten auf jenen Fakten, die erst der von ihm erzählte Mythos adäquat darstelle (271e3–5). Weiterhin wird bei der Beschreibung des Zeus-Zeitalters auf den Prometheus-Mythos und verwandte „alte Erzählungen“ (ta palai lechthenta: 274c5 f.) Bezug genommen. Es kennzeichnet also die Intention des eleatischen Fremden, dass die überlieferten Geschichten hier erstmals in ihren richtigen Kontext gestellt werden. Später tadelt der eleatische Fremde sich selbst dafür, mehr erzählt zu haben als im Rahmen der augenblicklichen Intention notwendig (277a–c). Auch dies impliziert, dass das Erzählte nicht bloß narrativen, sondern philosophischen Ansprüchen genügt. Zusätzlich enthält der Text eine Beglaubigungspassage, in der es heißt, die verbreiteten Geschichten (von den beiden Zeitaltern) würden zwar von vielen bezweifelt, ließen sich aber zuverlässig auf „Berichterstatter“ (kērykes) zurückführen, die den Zyklenwechsel überlebt hätten (271b2–4). Wie die Auswertung der Begleitreflexionen zeigt, verwendet der eleatische Fremde den mythischen Stoff im Dienst einer philosophischen Argumentation. Die Reflexionen bestimmen den Textcharakter so sehr, dass man vielleicht die gesamte Passage 268d–274e richtiger eine philosophische Erklärung, Einordnung und Richtigstellung konventioneller Mythen nennen sollte als eine narrative Mythenpräsentation. Die vielen Überlegungen, die unseren Mythos begleiten, erweisen sich durchgehend als affirmativ bezüglich seines Gehalts. Dieser 14 Der Ausdruck aphairein wird im Politikos in einem semi-technischen Sinn zur Bezeichnung der jeweils uninteressanten Seite einer Dihairese gebraucht. Lane [1998] 120f. argumentiert mit Blick auf 277b4 dafür, dass der Mythos als ein „zu großes Paradeigma“ preisgegeben werde. Aber m.E. wird hier lediglich die Ankündigung wahr gemacht, den Mythos in die Dihairese einzubeziehen.
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Einschätzung widerspricht nur scheinbar eine selbstreflexive Stelle im Erzählzusammenhang des Kronos-Zeitalters: In 272b–c lässt der eleatische Fremde offen, ob die Menschen dieser Epoche philosophische Unterredungen gepflegt hätten oder nicht, stellt aber fest, sie hätten damals in gesättigtem und angetrunkenem Zustand einander sowie den Tieren Geschichten (mythoi) erzählt, „wie sie auch noch gegenwärtig über sie erzählt werden“ (272c7 f.). Zweifellos bedeutet dies eine klare Abwertung der mythischen Erzählform. Doch nichts zwingt uns dazu zu folgern, die Stelle enthalte eine ironische Selbstdestruktion des aktuell Erzählten. Denn beim Politikos-Mythos handelt es sich wohl kaum um eine Geschichte, die im trägen Zustand der kulinarischen Sättigung und des Alkoholrauschs verstanden werden kann. Dafür ist sie zu komplex und zu theoriebezogen. Man kann die Pointe, die Platon im Auge hat, stattdessen so beschreiben: Die Philosophie ist um soviel wertvoller als bloße Geschichten, dass sie sogar das schlechtere gegenwärtige Zeus-Zeitalter besser machen würde als die Kronos-Zeit, sollte damals keine Philosophie betrieben worden sein. Wie stark theoriebezogen der Politikos-Mythos tatsächlich ist, zeigt sich weiterhin daran, dass der eleatische Fremde die Vorstellung zweier gegenläufiger kosmischer Zyklen rationalistisch konstruiert zu haben scheint, und zwar auf der Basis folgender vier metaphysischer Überlegungen:15 – Etwas, das nicht göttlich, sondern körperlich ist, kann keine vollkommene Unveränderlichkeit oder Gleichförmigkeit aufweisen (269d5–7). – Der Himmel oder Kosmos ist zwar von seinem Erzeuger hervorragend ausgestattet, kann jedoch aufgrund seiner Körperlichkeit nicht völlig veränderungsfrei sein (269d7–e2). – So weit wie möglich versucht der Kosmos eine gleichförmige Kreisbewegung in eine Richtung beizubehalten; denn dabei handelt es sich um die kleinstmögliche Abweichung von der Selbstbewegung (269e2–5). – Der sich selbst Bewegende darf sich nicht in entgegengesetzte Richtungen bewegen; eine reine Selbstbewegung kommt nur dem Gott zu, der alles Bewegte „anführt“ (269e5–7). Der eleatische Fremde schließt aus den genannten Überlegungen zum einen, dass sich die Welt nicht selbst bewegen kann, und zum anderen, dass sie nicht immer vom Gott gesteuert werden kann. Ferner erklärt er es für unmöglich, dass es zwei Götter sind, die sie in entgegengesetzte Richtungen bewegen (269e– 270a). Also bleibt allein die Möglichkeit übrig, dass der Kosmos zwei gegenläufige Bewegungen ausführt, die eine unter der Leitung des Demiurgen, die entgegengesetzte aufgrund seiner Eigenbewegung (270a). Der junge Sokrates stimmt dem Ausgeführten als „sehr plausibel gesagt“ zu (mala eikotōs eirēsthai: 270b1). Der Mythos des Politikos wird somit nicht allein mit dem Anspruch erzählt, traditionelle Mythen zu korrigieren und richtig zu stellen, sondern erweist sich zudem als Derivat aus ernsthaften metaphysischen Prämissen. Es handelt 15
Vgl. die etwas andere Rekonstruktion des Arguments bei Lane [1998] 102.
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sich, wie wir vorhin sahen, um eine aus dem Überlieferungsmaterial kritisch ausgewählte Erzählung und es handelt sich, wie sich jetzt zeigt, um eine aus metaphysisch-kosmologischen Hintergrundannahmen konstruierte Geschichte. Bemerkenswerterweise wird auch an der engsten Parallelstelle zu unserem Mythos in Nomoi IV (713a–714b) für den dort erzählten Mythos Wahrheit in Anspruch genommen (vgl. alētheiai chrōmenos: 713e4). Seine Glaubwürdigkeit wird zudem dadurch herausgestellt, dass von einer Notwendigkeit, an ihn zu glauben, gesprochen wird (vgl. anankē dēpou peithesthai: 714b2). Der entscheidende Textpassus, in dem sich eine Wiederaufnahme und Fortführung unseres Mythos findet, ist folgender: Und so behauptet denn auch heute noch diese Geschichte und trifft damit die Wahrheit, dass es für alle Staaten, über die nicht ein Gott, sondern irgendein Sterblicher herrscht, kein Entrinnen vor Unheil und Leiden gibt; vielmehr müssten wir, meint sie, mit allen Mitteln die Lebensweise, die unter Kronos bestanden haben soll, nachahmen (mimeisthai) und dem, was an Unsterblichkeit in uns ist, folgend, im öffentlichen wie im persönlichen Leben unsere Häuser und Staaten verwalten, indem wir die Verteilung der Vernunft als Gesetz bezeichnen (713e3–714a2; Übers. K. Schöpsdau, leicht modifiziert).
Der athenische Fremde aus den Nomoi vertritt mit hoher Wahrscheinlichkeit Platons eigene politische Spätphilosophie. Sollte dies ebenso richtig sein wie die Präsenz platonischer Überzeugungen im Politikos-Mythos, so liegt folgender Schluss auf die gemeinsame Intention der Texte nahe: In beiden Texten werden zwei kosmologische und historische Epochen gegeneinander abgesetzt, deren Hauptunterschied darin liegt, dass im ersten Zeitalter der Gott (Kronos) die Menschen betreut hat, während im zweiten Menschen über Menschen herrschen; die in der zweiten Epoche notwendigen menschlichen Staatsformen können lediglich auf bessere oder schlechtere Weise das Regiment des Kronos imitieren (mimeisthai). II. Wie viele kosmologische und historische Epochen müssen innerhalb des Politikos-Mythos unterschieden werden? Wie bereits angekündigt, wende ich mich gegen die Deutung von Brisson und Rowe, die beide zu dem Schluss gelangen, in der Passage sei nicht von zwei, sondern von drei Epochen die Rede. Meiner Meinung nach existiert ein gutes prima-facie-Argument gegen diese Interpretation: Die Mythos-Passage soll eine Erklärung dafür liefern, warum im augenblicklichen Zeitalter die Definition des Staatsmanns als Menschenhirten unbrauchbar geworden ist (vgl. Plt 274e); diese Intention kann sie in plausibler Form nur erfüllen, wenn sie auf einer einfachen Antithese zwischen dem gegenwärtigen Zeitalter und einer früheren Epoche beruht. Mehr als zwei Epochen anzuführen und die Epochen jeweils mit schillernden Eigenschaften auszustat-
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ten, wäre gemessen an dieser Gesamtabsicht unökonomisch, ja irreführend. Die Funktion des Mythos besteht ja darin, den grundlegenden Fehler des gegenwärtigen Zeitalters vor Augen zu führen. In der Tat findet sich im Text eine ausdrückliche Gegenüberstellung von zwei Zeitaltern: dem „jetzigen Umlauf“ (hē nyn periphora: 274e9) und „der entgegengesetzten Umdrehung“ (hē enantia perihodos: 274e10 f.). Auch wenn man einwenden mag, dass nach Platons allgemeiner Geschichtsauffassung mehr als zwei historische Epochen anzusetzen wären, bliebe es dennoch dabei, dass deren Aufzählung gemessen an der Gesamtintention dysfunktional wäre. Im Kontext der Politikos-Debatte kommt es allein auf dasjenige Merkmal an, in dem sich der heutige Zustand von einem, mehreren oder allen früheren Situationen unterscheidet, nicht auf eine allgemeine Geschichtstheorie. Brisson und Rowe müssten demgegenüber zeigen, welchen Sinn eine dreiteilige Präsentation für die Definition des Staatsmanns haben könnte, und dies ist ihnen m.E. weder bisher gelungen noch scheint es überhaupt aussichtsreich zu sein. Mit diesem prima-facie-Argument verbindet sich die Beobachtung, dass sich die Erzählung 268d–274e am natürlichsten als eine Einheit von vier Elementen verstehen lässt: nämlich [A] der kosmologischen, [B] der theologischen, [C] der anthropologischen und [D] der kulturgeschichtlich-politischen Ebene. Wie bereits am Beginn dieses Aufsatzes vorgeschlagen (vgl. oben S. 225f.), lässt sich der Mythos m.E. so rekonstruieren, dass er eine einfache Antithese präsentiert, gemäß der der Gott entweder das Steuerrad des Kosmos in seinen Händen hält oder aber sich auf seinen Aussichtsturm zurückgezogen hat. Ist das erste der Fall, so dreht sich der Kosmos in der von Gott bestimmten Richtung; die Menschen leben dann im paradiesischen Zeitalter des Kronos, sie werden aus der Erde geboren und werden von göttlichen Menschenhirten betreut. Trifft das zweite zu, so dreht sich der Kosmos selbständig in die Gegenrichtung. Die Menschen leben dann im mühsamen Zeitalter des Zeus, entstehen auf sexuellem Weg und altern, bis schließlich ihr Tod eintritt; sie müssen sich selbst versorgen und eine politische Herrschaftsordnung etablieren. Nach meiner Interpretation vertritt der eleatische Fremde also eine Konnex-These. Ihr zufolge muss man einen scharfen Kontrast zwischen zwei Epochen annehmen, welche jeweils durch einen vierfachen Konnex charakterisiert sind: In der Epoche I gilt, dass sich [a] der Kosmos in einer idealen, von Gott gesteuerten Richtung bewegt, dass [b] Kronos herrscht, dass [c] die biographische Entwicklungsform vom Greisenalter zur Kindheit zu durchlaufen ist und dass [d] ein Goldenes Zeitalter der göttlich-dämonischen Leitung besteht. Demgegenüber ist die Epoche II dadurch charakterisiert, dass es [a’] zur entgegengesetzten kosmischen Bewegungsrichtung kommt, dass [b’] Zeus herrscht, dass [c’] Biographien in der gewöhnlichen Weise verlaufen und dass [d’] Selbstversorgung und politische Herrschaft erforderlich sind. So betrachtet erklärt der Politikos-Mythos die Vorgänge monokausal: Die Eigenschaften beider Zeitalter lassen sich allein mit Blick auf die An- oder Abwesenheit des Gottes am Steuerrad erklären. Brisson
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und Rowe müssten somit auch eine Antwort auf die Frage geben, nach welchem übergreifenden Prinzip die historische Abfolge gemäß ihrer Deutung erzählt wird. Es ist sicherlich die größte Schwäche der Drei-Epochen-Interpretation, dass sie gezwungen ist, die Konnex-These abzulehnen. Bestreitet aber jemand den Konnex von [a], [b], [c] und [d] bzw. von [a’], [b’], [c’] und [d’], so gerät er in Konflikt mit der Feststellung, dass sich alle Veränderungen auf ein und dieselbe Ursache zurückführen lassen (tauta toinyn esti men sympanta ek tautou pathous: 269b5 f.; vgl. c1). Epoche I unterscheidet sich von Epoche II also präzise durch die An- oder Abwesenheit des Gottes am bzw. vom Steuerruder. Nach Brissons und Rowes gemeinsamer Ansicht decken sich das Zeitalter des Kronos und das des Zeus nicht mit der Antithese der beiden kosmischen Umlaufrichtungen. Brisson und Rowe nehmen vielmehr zwei kosmische Umkehrungen an (269c–d und 273e) und gelangen folglich zur Ansetzung eines dritten Zeitalters: Dieses soll zwischen den Epochen des Kronos und des Zeus liegen und es soll von Gott und den Dämonen vollständig verlassen sein. Man könnte also von einem Sandwich-Modell sprechen; in der nach diesem Modell anzunehmenden Zwischenphase verläuft die kosmische Bewegungsrichtung entgegengesetzt zu der des Kronos-Zeitalters und ebenso entgegen dem uns vertrauten Drehsinn. Hingegen handelt es sich bei unserer gegenwärtigen kosmischen, anthropologischen und politischen Situation um eine daran anschließende dritte Epoche, in welcher Gott (nämlich nunmehr Zeus) wie bereits in der ersten Phase den Weltlauf bestimmt, während die für einzelne Regionen zuständigen Dämonen nicht zurückgekehrt sein sollen. Für eine vorläufige Kritik der Drei-Stufen-Interpretation ist es unerheblich, dass die Positionen Brissons und Rowes näher betrachtet in zahlreichen Details voneinander abweichen. Bereits jetzt lässt sich wie folgt argumentieren: Wäre das gottverlassene Zeitalter nicht mit demjenigen des Zeus identisch, dann entstünde ein konfuses Bild von den Eigenschaften der im Text unterschiedenen Epochen. Dieses Bild hätte einen zweifelhaften argumentativen Wert, weil dann zum einen die kosmische und die biographische Verlaufsrichtung nicht mehr miteinander korreliert wären und weil dann zum anderen in der Gegenwart zwar die kosmische, nicht aber die politisch-soziale Harmonie wiederhergestellt wäre. Verzichtet man wie Brisson und Rowe auf die Konnex-These, so kann man nicht mehr erklären, warum sich die gegenwärtigen kosmologischen Bedingungen immer noch ruinös auf den Zustand der Politik auswirken sollten. Zu begründen wäre nämlich, wie es kommt, dass der Gott (nämlich Zeus) bei seinem Machtantritt zwar die kosmische Bewegungsrichtung wieder in Ordnung brachte, die umfassende Fürsorge für die Menschen dagegen nicht wieder übernehmen wollte oder konnte. Soweit ich sehe, wird im Text keinerlei Erklärung dafür angeboten, warum trotz der göttlichen Weltregierung immer noch Menschen über Menschen regieren (und nicht Gott, Götter oder Dämonen) und warum Menschen augenblicklich immer noch für ihren Lebensunterhalt arbei-
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ten müssen. Im Text wird nicht einmal das Bestehen einer Erklärungslücke eingeräumt – was man bei der Deutung Brissons und Rowes klarerweise erwarten würde. Dass der Politikos-Mythos auf der Konnex-These beruht, lässt sich anhand einiger weiterer Beobachtungen erhärten. Zunächst kann man darauf hinweisen, dass die beiden entgegengesetzten Verlaufsrichtungen alternierend aufeinander folgen (270b7 f.); aus dem jeweiligen Wechsel entstehen dem Text zufolge die größten Wandlungen (megistas ... metabolas: 270c4 f.). Damit kann nicht einfach gemeint sein, dass es bei jeder Richtungsänderung zu Katastrophen kommt; denn gleich anschließend heißt es, diese vielen großen metabolai schadeten den Lebewesen, verursachten also die Katastrophen (270c7–9). Also muss bei den metabolai an Folgewirkungen der geänderten Bewegung gedacht sein, welche sich tiefgreifend auf die Lebensbedingungen auf der Erde auswirken. Daraus lässt sich schließen, dass die Umlaufrichtung maßgeblich für die Lebensbedingungen der jeweiligen Epoche ist. Und wenn es genau zwei solche Umlaufrichtungen gibt, muss es sich auch um genau zwei Sets von Lebensbedingungen handeln. Verstärkend kann man anführen, dass nach den Aussagen von 271b7 f. und 274d7 f. die Menschen jeweils den Kosmos nachahmen und ihm in jeder der beiden Epochen insofern folgen, als sie zum einen Zeitpunkt auf die eine Art leben und wachsen, zum anderen Zeitpunkt auf die andere Art. Auch hier ist klar von einer dichotomischen Gegenüberstellung und von einem Konnex von kosmologischer und anthropologischer Situation die Rede. Zu beachten ist weiter eine Nachfrage des jungen Sokrates, in der von genau zwei Umläufen die Rede ist (271c4–7); sie wird mit der Zuordnung des „automatischen“ Lebens zur Kronos-Epoche beantwortet (vgl. panta automata gignesthai tois anthrōpois: 271d1). Die Antwort impliziert ebenso wie die Frage eine zweiteilige Alternative. Auch kurz darauf wird wiederum eine historische Dichotomie aufgebaut, in welcher das Zeitalter des Kronos mit dem des Zeus kontrastiert wird (272b1–3). Die Epoche des Zeus ist die gegenwärtige (ton nyni: 272b2), und die Dialogpartner müssen die Frage entscheiden, welches von beiden Zeitaltern das glücklichere sei (krinai d’autoin ton eudaimonesteron ktl.: 272b3 f.). Nun könnte man vielleicht annehmen, hier würden lediglich die zwei von Göttern regierten Epochen miteinander verglichen. Aber wäre dann nicht erneut zu erwarten, dass der Verzicht auf eine Bewertung der dritten Epoche wenigstens erwähnt würde? Überhaupt schiene es dann erklärungsbedürftig, warum der eleatische Fremde nirgendwo einen ausdrücklichen Hinweis auf die Ansetzung dreier Zeitalter gegeben hat; auch die vorhin erwähnte Vergleichspassage aus Nomoi IV enthält keine derartige Erwähnung. Und schließlich lassen sich noch zwei weitere Stellen als Indizien für die Zwei-Epochen-Deutung anführen. Zum einen ist in dem Textstück 271a8–b2 von „unseren ersten Vorfahren“ die Rede, die den Wechsel der Epochen lebend überstanden haben sollen und die daher – wie bereits erwähnt – als glaubwürdige Berichterstatter (kērykes) der Erdgeburten gelten können. Wenn unser Zeitalter aber an das der
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anfänglichen Erdgeburten heranreicht, kann es nur zwei Epochen geben. Zum anderen wird in 274c–d die handwerklich-technische Hilfeleistung der Götter beschrieben, die in unserem Zeitalter zur Selbstversorgung erforderlich sein soll. Nun heißt es aber in 274c1–4, die Menschen seien zunächst hilflos gewesen, weil sie sich anders als zuvor ihre Nahrung selbst beschaffen mussten. Läge jedoch zwischen Kronos- und Zeus-Zeit eine gottverlassene Epoche, wie Brisson und Rowe annehmen, so wäre es unerklärlich, warum die Menschen zu Beginn unserer Zeit hilflos waren – nachdem sie doch bereits eine schlimme Zeit hinter sich gebracht hatten. Auch daraus lässt sich schließen, dass das Leben unter Kronos direkt an unsere gegenwärtige Epoche grenzen muss. Was die These von der Existenz dreier Stufen als attraktiv erscheinen lässt, ist der Umstand, dass der Mythos eine Reihe von traditionell schwer zu interpretierenden Details umfasst. Folgt man Brisson [1995], so gelingt es seiner Neuinterpretation des Politikos-Mythos, vier Schwierigkeiten zu bewältigen, die im alten Modell nicht auflösbar seien. Erste Schwierigkeit: Warum sollte sich das gottverlassene Zeitalter zugleich als dasjenige des Zeus beschreiben lassen (nach 272b–d)? Wie könnten in dieser Epoche Prometheus, Hephaistos u.a. den Menschen zu Hilfe kommen, wenn es sich doch um eine gottverlassene Epoche handelte (nach 273e–274e)? Warum sollte das Zeitalter des Zeus aufgrund des technischen und philosophischen Vernunftgebrauchs, der in ihm stattfindet, möglicherweise sogar höher bewertet werden als das des Kronos (nach 272b)? Zweite Schwierigkeit: Wären nur zwei Epochen gemeint, so ergäbe sich eine Spannung in der Beschreibung jener Umstände, die zu Beginn der zweiten Epoche geherrscht haben. Einerseits heißt es nämlich, „anfangs“ habe sich der gottverlassene Kosmos noch in einem guten Zustand befunden, weil er sich an die Lehre (didachē) seines „Demiurgen und Vaters“ erinnert habe (273b2 ff.). Andererseits ist davon die Rede, die Menschen hätten „in den ersten Zeiten“ unter Schutzlosigkeit und Hunger gelitten, da sie noch ohne Techniken der Selbstversorgung auskommen mussten (274b–c). Dritte Schwierigkeit: Im Zeitalter des Zeus entstehen Menschen auf sexuellem Weg; wäre dies die Umkehrung der Kronos-Zeit, so bestünde eine Asymmetrie, da die aus der Erde entstandenen Menschen einfach verschwinden. Nach Brisson bietet der Text keinen Hinweis darauf, dass Entstehung und biographische Verlaufsrichtung mit der Richtung des kosmischen Umlaufs korreliert sind. Vierte Schwierigkeit: Brisson addiert drei Textstellen, um zu zeigen, dass das Zeitalter des Zeus eines der göttlichen Lenkung, nicht aber der dämonischen Fürsorge ist. Nach der ersten (271d3–6) habe der Gott (in der Epoche des Kronos) für den gesamten Umlauf gesorgt „wie auch jetzt“.16 An der zweiten Stelle (272e6–273a1) wird konstatiert, die Dämonen hätten ihre regionale Fürsorgepflicht zugleich mit dem Gott fallen gelassen. Die dritte schließlich (274d2–5) spricht von einem Fehlen der dämonischen Fürsorge unter Gegenwartsbedingungen mit der Konsequenz, dass 16
An dieser Stelle (d4) bestehen allerdings gravierende textkritische Probleme, sodass es nicht zwingend ist, hierin einen Vergleich mit der Gegenwart zu sehen.
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die Menschen anfangs Not gelitten hätten. Daraus folgert Brisson, dass das dritte Zeitalter, dasjenige des Zeus, zwar wiederum einen Gott als Weltlenker aufweist, aber keine dämonische Fürsorge für die Menschen einschließt. Ich denke, man kann auf Brissons Bedenken Folgendes erwidern. Am ersten Einwand ist richtig, dass die traditionelle Sichtweise behaupten muss, das gottverlassene Zeitalter sei gleichzeitig dasjenige des Zeus. Dies führt aber deswegen nicht zu einem Problem, weil die Kronos-Zeus-Antithese einen rein konventionellen Charakter aufweist.17 Die an Hesiod orientierte Gegenüberstellung enthält nicht mehr als eine Etikettierung der beiden Epochen – und keine sachliche Charakterisierung. Würde der eleatische Fremde sie wörtlich meinen, so entstünde auch für Brisson ein Problem: Warum nämlich spricht der Mythos immer nur von einem Gott oder Demiurgen, wenn er sowohl Kronos als auch Zeus ernsthaft ins Spiel bringen wollte? Von einem, nicht von zwei Göttern, wird gesagt, er ziehe sich auf den Aussichtspunkt zurück und kehre, wenn die Bedrohung des Kosmos zu groß werde, wieder ans Steuer zurück. Brisson löst diese Schwierigkeit, indem er vorschlägt, man solle ‚Kronos‘ und ‚Zeus‘ als zwei epochenspezifische Namen für ein und denselben Gott verstehen.18 Doch diese Lösung unterstellt ebenso wie die hier vertretene, dass die Verwendung der Kronos-Zeus-Antithese einen rein konventionellen Charakter besitzt. Somit verliert Brissons Bedenken seine argumentative Kraft. Kommen wir damit zur zweiten Schwierigkeit Brissons: Wie kann eine einzige Epoche einerseits durch einen sukzessiven Verfall nach anfänglicher Wohlgeordnetheit und andererseits durch technische Errungenschaften und Philosophie nach anfänglicher Notlage gekennzeichnet sein? Mir scheint darin keinerlei Problem zu liegen. Zieht man nämlich in Betracht, dass der geschilderte Verfall derjenige des Kosmos ist, während die gegenläufige Tendenz des technischen und philosophischen Fortschritts eine (von Göttern unterstützte) menschliche Leistung darstellt, so spricht nichts dagegen, dass es sich zwar um zwei gegenläufige, nicht aber unvereinbare Phänomene eines einzigen Zeitalters handelt. Tatsächlich scheint es plausibel anzunehmen, dass sich die menschlichen Lebensbedingungen beim Rückzug des Gottes schlagartig verschlechterten, während der von Gott belehrte, vernünftige Kosmos lediglich einem langsamen Verfallsprozess ausgesetzt war. Auch liegt nichts Absurdes in der Annahme, dass der Kosmos augenblicklich immer weiter degeneriert, bis der Zeitpunkt seiner Restitution durch den Gott eintritt, während es gleichzeitig zu einem Fortschritt menschlicher Kulturentwicklung und Autonomie kommt. Es macht gerade in einem Zeitalter der fehlenden göttlichen Weltregierung und nur angesichts zunehmenden kosmischen Verfalls einen guten Sinn, dass vereinzelte göttliche Helfer die Menschen mit technischen Hilfsmitteln unterstützen. Im Gegenteil: Wäre das sogenannte Zeitalter des Zeus bereits mit der Rückkehr 17
Vgl. bereits Erler [1995] 377. Erler weist überdies auf die Distanznahme hin, die in der Formulierung tonde d’hon logos epi Dios einai (272b2) liegt. 18 Brisson [1995] 350 Anm. 4.
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des Gottes ans kosmische Steuer gleichzusetzen, dann wäre diese Form der situativen Hilfeleistung unverständlich. In jenem längerem Satz 274d2–8, der auf die Erwähnung der Hilfeleistung durch Prometheus und Hephaistos folgt, wird daher ausdrücklich auf die fehlende göttliche Fürsorge verwiesen. Zu beachten ist überdies, dass der Gott und die einzelnen Dämonen weder verstorben noch auch nur verschwunden sind. Sie haben sich lediglich vorübergehend von der vollständigen Weltfürsorge distanziert. Es spricht somit nichts dagegen, dass es zu Einzelinterventionen und damit zu einem partiellen Fortschritt innerhalb einer Verfallszeit kommen kann. Auch was die Rolle der Philosophie betrifft, kann man damit argumentieren, dass sie erst dann ihre volle Bedeutung erhält, wenn sie unter ungünstigen äußeren Umständen vollzogen wird. Zur dritten Schwierigkeit, also zur Frage nach der Korrelation der Zeitalter mit der Entstehung der jeweiligen Menschen: In der für dieses Problem entscheidenden Passage (272d6–e3) wird festgestellt, zum Zeitpunkt der Umkehrung der kosmischen Bewegungsrichtung sei auch „das aus der Erde stammende Geschlecht“ (to gēinon genos) bereits ganz zerstört gewesen, nachdem „jede Seele so viele Inkarnationen durchlaufen hatte, wie sie vorschriftsmäßig als Samen auf die Erde gefallen war“. Ist hier von einer anderen Sorte Menschen die Rede als im Fall jener Erdgeborenen aus 271a–c, wie auch Rowe wegen der zuvor unerwähnt gebliebenen Samenvorstellung annimmt?19 Ich gebe zu bedenken: Wenn ganz andere Menschen gemeint wären, so wäre es irritierend, dass von dem Erdgeschlecht mit einem bestimmten Artikel (to) gesprochen wird, welcher auf die zuvor erwähnten Erdgeborenen Bezug nehmen dürfte. Die Vorstellung einer Erdgeburt und die Samenvorstellung schließen einander nicht aus, zumal im Text offen bleibt, auf welche Weise die Erdgeborenen zugrunde gehen; es ist nur davon die Rede, dass sie „verschwinden“ (exēphanizeto: 270e9). Es könnte ja beispielsweise so sein, dass die Seelen der verstorbenen Erdgeborenen als Same in die Erde zurückfallen und damit eine neue Inkarnation vorbereiten. Der Schluss auf zwei verschiedene Arten erdgeborener Menschen ist also nicht besonders plausibel; erst recht bildet er kein zwingendes Argument für die Drei-Stufen-Argumentation. Und schließlich zur vierten Schwierigkeit: Man kann Brissons Hinweis auf die drei genannten Textstellen m.E. dadurch entkräften, dass man die Vereinbarkeit der beiden letzten Aussagen zu zeigen sucht. Zentral scheint mir in diesem Zusammenhang die Frage, ob Brisson mit Recht behauptet, in der Textpassage 273e vollziehe sich ein Übergang von der zweiten zur dritten kosmischen Periode. Dazu einige Beobachtungen. Im Umfeld der Stelle lässt sich keinerlei Hinweis darauf finden, dass der Gott den von ihm bestiegenen Aussichtspunkt (periopē: 272e5) nach Ansicht des eleatischen Fremden bereits verlassen hätte, um wieder ans Steuer zurückzukehren. Ebenso wenig findet sich etwas darüber, dass der historische Tiefpunkt augenblicklich bereits überwunden sei, dass also 19
Rowe [1995a] 194.
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die gegenwärtige Menschheit in einer Post-Katastrophen-Zeit leben würde. Festgestellt wird nur, dass die kosmische Unordnung schließlich so groß wird, dass der Kosmos „ins grenzenlose Meer der Unähnlichkeit zu versinken“ droht (eis ton tēs anhomoiotētos apeiron onta ponton dyēi: 273d6–e1). Ich verstehe dies als Feststellung einer Regularität, und d.h. im Kontext: als eine historische Prognose der Rückkehr Gottes, die im schlimmstmöglichen Augenblick erfolgen wird. Zu diesem Zeitpunkt etabliert der Gott wieder die frühere Bewegungsrichtung und stellt den ursprünglichen Zustand des von ihm gestalteten Kosmos wieder her. Dafür, dass hier auf kein zurückliegendes Ereignis Bezug genommen, sondern eine kosmische Gesetzmäßigkeit dargestellt wird, spricht die präsentische Darstellungsform an der vorliegenden Stelle. So betrachtet besteht an der Stelle 273e4 kein markanter Texteinschnitt, wie Brisson und Rowe annehmen. Um eine Zäsur handelt es sich nur insofern, als die Darstellung nunmehr zum Thema Politik zurückkehrt. Der Text lässt sich also dahingehend verstehen, dass beginnend mit 273e4 die politischen Zustände unserer Epoche unter dem Blickwinkel der kosmischen Gesetzmäßigkeit eines Wechsels zweier Epochen thematisiert werden. Rowe setzt in seiner Argumentation etwas andere Akzente als Brisson, teilt aber dessen Grundmodell. Er will die asexuellen Erdgeburten und die rückwärts laufenden Biographien (270d6–271c2) ebenfalls auf jene Phase beziehen, die beginnt, wenn der Gott den Kosmos loslässt (vgl. seinen Beitrag im vorliegenden Band). Diese Phase soll vor unserem Zeitalter liegen; unsere Epoche ist folglich dadurch charakterisiert, dass der Kosmos erneut von Gott gesteuert wird. Entsprechend meint Rowe, dass die Goldene Zeit des Kronos (271c8– 272d4) einer noch älteren Epoche angehört, sodass zwischen ihr und unserer Zeus-Epoche jene Zwischenphase liegt, die durch einen kosmischen Richtungswechsel gekennzeichnet ist. Folglich weisen Kronos- und Zeus-Zeit für Rowe dieselbe kosmische Drehrichtung auf: die uns vertraute Bewegung von Ost nach West. Auch die Kronos-Zeit ist für ihn asexuell, aber anders als die Zwischenphase durch eine Samenvorstellung geprägt. In Rowes Deutung beginnt mit dem Ende der Zeus-Zeit ein neuer Gesamtzyklus; es kommt danach also zu einer Neuauflage der Zeit des Kronos. Zwischen der jetzt noch bestehenden Zeus-Epoche und dem daran anschließenden Kronos-Zeitalter findet kein kosmologischer Richtungswechsel statt (273d4–e4). Folgt man Rowe, so liegt der entscheidende Nachteil einer Zwei-Stufen-Interpretation darin, dass sie annehmen muss, ein göttlich gelenktes Zeitalter impliziere (anders als unsere gegenwärtige gottlose Zeit) eine umgekehrte biographische Entwicklungsrichtung sowie Asexualität – was eine bizarre Annahme sei, weil sich mit diesen Merkmalen keine erkennbaren Vorteile verbinden ließen. Ferner wendet er gegen die Zwei-Epochen-Interpretation ein, dass der junge Sokrates ihr zufolge gar nicht fragen dürfte, welcher kosmischen Verlaufsrichtung die Kronos-Zeit angehört (271c), weil es selbstverständlich sein müsste, dass sie der Phase entgegengesetzter Bewegung zuzurechnen sei. Demgegenüber liege der wichtigste
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Vorteil einer Drei-Stufen-Interpretation darin, der Darstellung des körperlichen und begehrlichen Kosmos einen besseren Sinn geben zu können. Zunächst fragt man sich, warum der körperlich-begehrliche Kosmos nach Rowes Meinung nicht ebenso problemlos (oder sogar besser) im Rahmen einer Zwei-Stufen-Theorie interpretiert werden könnte. Aus der Tatsache, dass der Kosmos „eine ihm zugeloste und ihm angeborene epithymia“ (272e6) aufweist, folgt noch nicht Rowes Interpretation, wonach der Kosmos (vergleichbar einem Menschen) intellektuelle Selbstbeherrschung lernen bzw. verlieren kann. Im Gegenteil, es wird bei Rowe gar nicht deutlich, aufgrund welcher Umstände sich der Kosmos positiv ordnet oder aber ins Chaos versinkt. Sodann scheint mir fragwürdig, weshalb Rowe die Interpretation für bizarr hält, wonach die Verfallszeit des Zeus von Sexualität und Alterung bestimmt ist, während die positiv bewertete Kronos-Zeit die Merkmale Asexualität und biographische Verjüngung aufweist. Auch er selbst bestreitet ja nicht, dass die Kronos-Epoche günstiger beurteilt wird als die Zeus-Zeit und dass sie durch Asexualität und Verjüngung charakterisiert ist. Also muss Platon (vorausgesetzt, er spricht hier nicht ironisch) in diesen Merkmalen auch nach Rowe irgendetwas Positives gesehen haben – so schwer uns dies auch nachvollziehbar scheint. Weiter: Wenn Asexualität und Verjüngung sowohl der Epoche des Kronos als auch der Zwischenphase zuzurechnen sind (wenn auch mit gewissen Detailunterschieden), sprengt dies natürlich jenen Konnex auf, für den ich vorhin argumentiert habe. Kosmologie und Anthropologie sind dann nicht mehr miteinander korreliert. Aber genau darin scheint mir die Intention des Mythos zu liegen. Ebenso problematisch scheint mir an Rowes Interpretation, dass sie weder die suboptimalen Lebensbedingungen in der Zeus-Epoche noch deren allmählichen Verfall erklären kann. Wie ist es möglich, dass wir in einer Zeit leben, in der ungünstige politische Verhältnisse herrschen – wenn doch der Gott am Steuerruder des Kosmos steht? Und in welchem Sinn kann man dann verstehen, dass der Gott bei der Wiederkehr des Kronos-Zeitalters erneut nach der Weltregierung greift? Kann man die Kronos-Zeus-Antithese tatsächlich soweit abschwächen, sie als zwei aufeinander folgende Teilepochen innerhalb zweier kosmischer Großepochen zu verstehen? Besteht das explanandum des PolitikosMythos nicht in der Differenz zwischen den Herrschaftsverhältnissen im Kronos-Zeitalter und denen im Zeus-Zeitalter? Wodurch wird diese Differenz in Rowes Modell erklärt? Und wozu würde im Mythos die kosmologische Dimension herangezogen, wenn sie den Epochenunterschied gar nicht plausibel macht? Ich glaube insbesondere, dass Rowes Deutung nur schwer mit der schon zitierten Stelle 269b5 f. vereinbar ist (tauta toinyn esti men sympanta ek tautou pathous). Denn diese Feststellung bezieht sich auch auf den Kronos-Mythos (vgl. 269a7 f.). Also muss die Beschaffenheit dieses Zeitalters durch die kosmische Drehrichtung zu erklären sein. Daraus folgt aber, dass sich die Kronosund die Zeus-Epoche durch eine kosmische Richtungsänderung voneinander unterscheiden. Was die wörtliche Textbasis anlangt, so ergibt sich vielleicht die
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größte Schwierigkeit aus der Gegenüberstellung von hē nyn ... kathestēkyia phora und hē emprosthen (271d2 f.); Rowe erkennt das Problem an, löst es aber m.E. nicht überzeugend. III. Abschließend möchte ich in knapper Form die Frage berühren, welche Bedeutung der Mythos für die Politische Philosophie besitzt, die Platon im Politikos entwickelt. Soviel ist klar: die Figur des Staatsmanns kann nach Auffassung des eleatischen Fremden unter Gegenwartsbedingungen nicht einfach mit der eines Menschenhirten gleichgesetzt werden. Die kosmologischen Bedingungen haben sich seither allzu dramatisch verschlechtert. Als die bestmögliche Ersatzfigur erscheint im Verlauf des Politikos derjenige, der über die politikē epistēmē verfügt; diese wird als „königliche Webkunst“ bestimmt, welche eine ganze Reihe von Teil- und Einzelkompetenzen umfasst, die sie miteinander zu verknüpfen versteht (305e). Träger dieser integrativen Wissensform ist der „königliche, mit Einsicht begabte Mann“ (andra ton meta phronēseōs basilikon: 294a8). Erst in zweiter Linie plädiert der Politikos für eine Herrschaft der Gesetze. Näher besehen nimmt der Dialog sogar eine ambivalente Stellung zum Wert von Gesetzen ein: Sie gelten einerseits als mangelhaft, weil sie nicht imstande sind, zugleich das Beste und Gerechteste für alle Rechtsbetroffenen festzulegen; gegenüber der Vielfalt der Personen und der Situationen verhalten sich die Gesetze nämlich starr und unveränderlich (294a–b). Andererseits besitzen sie zwei Vorzüge: Zum einen kann ein nicht philosophisch gebildeter und einsichtsgeleiteter Herrscher nicht jedem einzelnen Bürger präzise Vorschriften für eine angemessene Lebensführung machen; die Allgemeinheit der Gesetze stellt für ihn eine beträchtliche Erleichterung dar. Zum anderen sind Gesetze dann notwendig, wenn ein tatsächlich einsichtsgeleiteter Herrscher vorübergehend abwesend ist. Auch wenn das Philosophenkönigtum der Politeia im Politikos nicht wörtlich wieder aufgenommen wird, erscheint es doch der Sache nach in der Herrschaft des basilikos. Der Dialog Politikos wiederholt damit die Charakterisierung dieser Herrschaftsform als eines extrem unwahrscheinlichen Ausnahmefalls. Natürlich fragt man sich an dieser Stelle, welche Eigenschaft es ist, die der königliche Herrscher mit dem leitenden Gott im Kronos-Zeitalter gemeinsam hat, und was es ist, das durch die Gesetze in nicht so vollkommener Form imitiert wird. Worin liegt jene Eigenschaft, um die sich nach Platon ein gegenwärtiger Politiker bemühen müsste, um soweit wie möglich das Vorbild der Kronos-Zeit zu erreichen? Zur Beantwortung dieser Frage wähle ich folgenden Umweg: Vergleicht man die Motive, die im Politikos-Mythos verwendet werden, mit Platons andernorts entwickelten Theorien oder Modellen, so fällt besonders das merkwürdige Motiv der asexuellen Entstehung und biographischen Rückwärtsentwick-
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lung der Bewohner der Kronos-Zeit ins Auge. Es ist in Platons Werk nahezu isoliert;20 es wirkt skurril, wenn nicht gar absurd, und es scheint nur als scherzhaftes Element interpretierbar zu sein. Demgegenüber steht außer Frage, dass z.B. die theologischen Aspekte des Mythos Platons tatsächlichen Auffassungen nahe kommen. Die Feststellungen über Gott (theos), den Verfertiger (dēmiourgos) sowie Vater (patēr) des Kosmos, lassen sich eng mit entsprechenden Aussagen aus dem Timaios parallelisieren. Eine deutliche Übereinstimmung zwischen Politikos und Timaios besteht auch in einer Art von Zwei-PrinzipienKonzeption, welche in beiden Texten zu der Annahme führt, das Universum sei geordnet, sofern der Gott es hervorgebracht hat bzw. lenkt, aber zugleich chaotisch-ungeordnet, sofern es sich selbst überlassen, materiell oder körperlich beschaffen sei. Plausibel scheint ferner, dass Platon in unserem Mythos einen ernsthaften Abriss seiner Kosmologie bieten will. Zwar ist weder im Timaios noch irgendwo sonst in Platons Werk von zwei gegenläufigen kosmischen Bewegungen die Rede, aber in zahlreichen wichtigen Details stimmt unser Mythos doch mit der Kosmologie des Timaios überein.21 Und schließlich gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die Vorstellung verschiedener historischer Epochen und eines anfänglichen Goldenen Zeitalters zu Platons Überzeugungen gehört; Brigitte Wilke hat umfangreiches Material zusammengetragen, an dem sich plausibel machen lässt, dass Platon Vergangenheit als Norm und Orientierungspunkt für eine angemessene politische Ordnung betrachtet. Daraus ergibt sich die Frage: Ist es überzeugend anzunehmen, dass die vier genannten Elemente – also Platons Theologie, Prinzipienkonzeption, Kosmologie und Geschichtstheorie – im Politikos-Mythos ernsthaft dargestellt werden, während man allein das Motiv der umgekehrten Biographien ironisch-scherzhaft zu verstehen hätte? Ich denke, dies wäre wenig glaubhaft, zumal dann Ernst und Scherz eine logisch inkonsistente Synthese bilden würden. Sollte ausgerechnet das markanteste, hervorstechendste Merkmal der Geschichte unernst gemeint sein? Deutlich vorziehenswert wäre m.E. eine Interpretation, die der asexuellen Entstehung und der umgekehrten biographischen Entwicklung einen positiven Sinn abgewinnen könnte. Ich schlage deshalb vor, die göttliche Regelung, Planung, Ordnung und Determination, die im Fall der Kronos-Biographien besteht, als den entscheidenden Vorzug anzusehen, den Platon im Visier hat. Denn dass sich menschliche Biographien rückwärts entwickeln, impliziert ja zunächst, dass der Zeitpunkt ihres Lebensendes (ihr Verschwinden) für sie absehbar ist. Ebenso absehbar scheint die Reinkarnation der Betroffenen zu sein. Da von keinen anderen To20
Das Autochthonie-Motiv in Mx 237c–238b gehört zu einem Ursprungsmythos, nicht zu einem kosmologischen Zwei-Stufen-Mythos. 21 Auch nach Ti 36c umfasst der Kosmos zwei Kreise, einen inneren und einen äußeren. Der äußere führt eine gleichförmige Bewegung aus, weil er an der „Natur des Selben“ partizipiert, der innere eine ungleichmäßige, da er an der „Natur des Verschiedenen“ teilhat. Für weitere Übereinstimmungen mit dem Timaios vgl. Rowe [1995a] 188.
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desursachen die Rede ist, ist wohl zu schließen, dass es in der Kronos-Zeit keine verfrühten Todesfälle gibt. Angesichts der Präsenz eines göttlichen Beschützers wären physische Bedrohungen für die Menschen ohnehin unwahrscheinlich. Das Motiv der Asexualität ließe sich entsprechend als Freisein von heftigem Verlangen interpretieren. Es ist somit plausibel anzunehmen, dass die Bewohner der Kronos-Zeit nicht nur ein friedliches und problemloses, sondern zudem ein geregeltes, absehbares, sich wiederholendes, unbedrohtes und begierdefreies Leben führen konnten. Das suboptimale Zeitalter des Zeus wird dagegen als Epoche geschildert, in der es Arbeit und Güterknappheit gibt, Krieg und Aggression, die Wildheit von Tieren, Sexualität, den Tod, Familien- und Staatenbildung. Die Menschen sind auf sich selbst gestellt, Konflikten ausgesetzt, von verfrühtem Tod bedroht, mit permanenten Lebensgefahren konfrontiert und von heftigen Begierden gequält. Zwar mag es für uns irritierend sein, dass Platon den göttlichen Paternalismus der menschlichen Herdenhaltung so gesehen günstiger bewertet als eine individuelle Autonomie, aber es liegt auf der Hand, dass man bei Platon nicht mit einem politischen Liberalismus rechnen kann. Diejenige Eigenschaft, auf die es für den Staatsmann hauptsächlich ankommt, ist folglich die der Regelung, Planung, Festlegung und Ordnung; ist er selbst nicht einsichtsgeleitet, so sollte er auf das Surrogat einer Gesetzesordnung zurückgreifen, die das menschliche Leben möglichst weitgehend zu ordnen vermag. Diese Sichtweise wird durch einen interessanten Aufsatz unterstützt: John Ferrari hat für das Detail der Erdgeburten eine ganz ähnliche Interpretation entwickelt; was die beiden Lebensverläufe in der Kronos- und der Zeus-Epoche voneinander unterscheidet, ist nach Ferrari das Fehlen eines historischen Gedächtnisses im ersten Fall und seine Präsenz im zweiten. Danach kennzeichnet es die politische Situation im Zeitalter des Zeus, dass politische Herrschaft nur durch das strenge Festhalten an einer Gesetzestradition ein akzeptables Niveau erreicht. Diese Beobachtung scheint mir richtig zu sein; unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen besitzen Menschen eine offene Zukunft, sie sind autonom, weisen aber eine mangelhafte Einsicht auf. Die einzige Gewähr für eine halbwegs angemessene politische Orientierung scheint da ein striktes Traditionsbewusstsein zu bilden. So betrachtet liegt die Pointe des Politikos-Mythos darin, eine Erklärung dafür bereitzustellen, wie ein Zeitalter eintreten konnte, das wie das jetzige von einer reduzierten kosmischen und politischen Harmonie bestimmt ist, und wie man eine angemessene Kompensation dieser Situation leisten kann. Die entscheidende Konsequenz aus dem Mythos besteht also darin, dass die Politische Philosophie einer Verfallssituation Rechnung zu tragen hat. Man kann den Mythos – zugegebenermaßen etwas pointiert – als eine Art Modernitätstheorie bezeichnen, weil er die gegenwärtigen politisch-sozialen Bedingungen aus einer allgemeinen historischen Entwicklung abzuleiten und als spezifisch aktuelle zu charakterisieren versucht. Vergleicht man Platons Ursachenanalyse der gegen-
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wärtigen ungünstigen Lebensbedingungen mit der biblischen Sündenfallerzählung oder mit dem gnostischen Mythos vom Seelenfall, so fällt auf, dass dabei weder menschliches Versagen noch ein göttliches Drama eine Rolle spielen. Erzählt wird vielmehr ein quasi naturgesetzlich ablaufender Vorgang. Vielleicht versucht Platon auf diese Weise die Vorstellung einer göttlichen Fehlleistung, welche im sophistischen Protagoras-Mythos dem Epimetheus zugeschrieben wird, zu vermeiden und seine rationalistische Theodizee aus der Politeia zu stabilisieren. Zu beachten ist zudem die Tatsache, dass Platon zu einer vorsichtig positiven Einschätzung des Zeus-Zeitalters gelangt, das durch handwerklichtechnische Entwicklungen, durch wachsende Autonomie und durch Philosophie als Kompensationen der Mängellage charakterisiert ist. Das ändert nichts daran, dass Platon einen Zustand bevorzugt, in dem solche Kompensationen gar nicht erst erforderlich sind.
ZWEI ODER DREI PHASEN? DER MYTHOS IM POLITIKOS Christopher J. Rowe* I. Es erscheint sinnvoll, zu Beginn meine eigene Deutung des Mythos im Politikos (Plt 268e4–274e4),1 die von drei wiederkehrenden Phasen ausgeht, in fortlaufender Gegenüberstellung mit einer Spielart der gängigen (Zwei-Phasen-) Deutung zusammenzufassen.2 Die Beschränkung auf lediglich eine einzige *
Ich danke Markus Janka für die Übersetzung meines Aufsatzes ins Deutsche. In diesem Beitrag werde ich nicht den Kontext des Mythos innerhalb des Politikos diskutieren – nicht etwa, weil ich dieses Thema für unwichtig erachte, sondern weil ich den früheren Ausführungen zu dieser Frage in meinem Kommentar zum Dialog (= Rowe 1995) nur wenig hinzuzufügen habe. Die Hauptpunkte meiner Deutung des Mythos selbst sind ebenfalls dort niedergeschrieben. Indes ist diese Deutung unter ziemlich heftigen Beschuss geraten (vgl. etwa McCabe [1997], [2000]; Lane [1998]; Morgan [2000]), und es scheint daher an der Zeit zu sein, meine Interpretation nochmals zu bedenken und, falls möglich, zu bekräftigen. Tatsächlich werde ich im folgenden Aufsatz meine 1995 vorgelegte Interpretation in wesentlichen Punkten modifizieren. (Ich bin den Organisatoren der Regensburger Tagung Platons Mythen, Christian Schäfer und Markus Janka, außerordentlich dankbar dafür, dass sie mir die Gelegenheit dazu geboten haben.) Zugleich habe ich mir vorgenommen, einige Anmerkungen der Frage zu widmen, warum es von Belang ist, ob der Mythos im Politikos einen Zyklus mit zwei oder drei wiederkehrenden Phasen beschreibt. (Ich habe meine Übersetzung des Politikos in Rowe 1995 weiter überarbeitet und ausgefeilt; die neueste und, wie ich glaube, beste Fassung ist diejenige, die Hackett 1999 – mit neuer Einleitung – als eigenständige Publikation veröffentlicht hat [= Rowe 1999]. Aber diese Übersetzung bleibt strenggenommen Stückwerk ohne den ursprünglich beigegebenen Kommentar von 1995, der zur Erklärung und Rechtfertigung zahlreicher zentraler Gesichtspunkte der englischen Übersetzung – nicht zuletzt im Fall des Mythos – unverzichtbar ist.) 2 Ich werde diejenige Spielart der gängigen Deutung zugrunde legen, welche Denis O’Brien im Jahr 2000 im Rahmen einer von Frau Professor Suzanne Stern-Gillet vom Bolton Institute veranstalteten Diskussion vorgetragen hat. Unglücklicherweise musste die Diskussion selbst in zwei Phasen ablaufen, da O’Briens Einwände gegen meine Deutung und meine Antwort auf diese Einwände bei zwei getrennten Anlässen, wiewohl innerhalb derselben Forschungsgruppe (der Liverpool/Manchester Reading Group für Antike Philosophie), zu hören waren. Ich danke den Mitgliedern dieser Forschungsgruppe für den lebhaften Meinungsaustausch an einem sonnigen Samstag Nachmittag in Manchester – und O’Brien, besonders für seine Zusammenfassung, die ich hier (in modifizierter Form) in Gegenüberstellung mit meiner eigenen abgedruckt habe (siehe unten). Ich bediene mich O’Briens Ansatz nicht etwa deshalb, um dagegen zu polemisieren, sondern hauptsächlich aus Gründen der Bequemlichkeit. Kein anderer ist den Text mit solcher Sorgfalt Stück für Stück durchgegangen, um zu erklären, wie jedes Stück sich mit den anderen bei einer „Zwei-Phasen-These“ zusammenfügt. 1
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Zusammenfassung der einzelnen Textabschnitte verweist auf Übereinstimmung hinsichtlich Inhalt und Funktion dieses Abschnittes; wo hingegen zwei Zusammenfassungen vorliegen (voneinander abgegrenzt durch einen doppelten Gedankenstrich: //), stellt die erste die gängige Deutung vor, die zweite meine eigene: 1) 268e4–269c3: Die drei „Quellen“ des Mythos: Die Geschichten vom Richtungswechsel des Kosmos, von einem Zeitalter des Kronos und von einem Geschlecht der Erdgeborenen. 2) 269c4–d2: Die Abwechslung gegenläufiger Bewegungen // Die Existenz von gegenläufigen Bewegungen als Ursache für die drei Arten von Phänomenen, auf welche die unter 1) genannten Geschichten Bezug nehmen. 3) 269d2–270b2: Die Notwendigkeit einer Kreisbewegung (269d2–e4);3 zwei Ursachen für die Abwechslung gegenläufiger Bewegungen (269e5–270b2) // Erklärung der Notwendigkeit einer Umkehr-/Rückwärtsbewegung (ganzer Abschnitt). 4) 270b3–271c2: Turbulenzen während des Wechsels von einer Bewegungsrichtung zur anderen (270b3–d1); Beginn der Bewegung von West (W) nach Ost (O); eine der unseren entgegengesetzte Zoogonie (270d1–271a1); die „Geburt“ alter Menschen aus der Erde (271a2–c2) // Die Umkehr-/ Rückwärtsbewegung, die eintritt, wenn die Gottheit die Welt sich selbst überlässt,4 und die Folgen dieser Katastrophe (in welcher der Ursprung derjenigen Geschichten liegt, von denen der Besucher aus Elea [EB] ausgegangen war), darunter weitreichende Zerstörungen, die nur wenige Lebewesen überstehen, eine Umkehrung in der Ausrichtung ihrer Entwicklung (sie werden kleiner statt größer) und Wiedergeburt der Toten aus dem Erdboden (ganzer Abschnitt). 5) 271c3–7: Die Frage des jungen Sokrates (JS) („Also [sagt JS] haben wir die Umkehrung der Himmelskörper und die aus der Erde Geborenen erklärt; wo
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O’Brien fasst 269e3–4 folgendermaßen auf: „deshalb vollführt er (scil. der Kosmos) eine Kreisbewegung (anakuklēsis), da das Rotieren die geringst mögliche Abweichung von der ihm eigenen Bewegung erforderlich macht“ (ich zitiere aus unveröffentlichten Notizen, die sich in meinem Besitz befinden; die Kursivierungen stammen von mir); mir scheint die Stelle hingegen eindeutig folgendes zu besagen: „deshalb ist sein (scil. des Kosmos) Los eine rückwärtsgerichtete Kreisbewegung, die kleinstmögliche Abweichung von der ihm eigenen (Kreis)Bewegung“ (im neuen Oxford-Text steht pro tou anstelle von hautou, eine Änderung, die m.E. weder hilfreich noch gerechtfertigt ist). Sollte es irgendeinem Zweifel unterliegen, dass anakuklēsis – in vielleicht ungewöhnlichem Sprachgebrauch, aber es ist kaum ein geläufiges Wort – die ihm von mir zugeschriebene Bedeutung haben kann, dann böte der Gebrauch von sunanakuklousthai in 271b7 zumindest eine gewisse Beglaubigung. 4 Es wird nicht ausdrücklich gesagt, dass gerade diese Umkehrung geschildert wird (und auf jeden Fall muss es mehr als eine in jedem Zyklus geben), aber bislang ist von keiner anderen die Rede gewesen. Tatsächlich ist es meiner Meinung nach der jüngere Sokrates (JS), der als erster die zweite Umkehrung einführt (271c6–7; vgl. die folgende Anm.).
Zwei oder drei Phasen?
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aber kommt die dritte Geschichte, die über das Zeitalter des Kronos, ins Spiel? In diesem Umlauf [tropai] oder in jenem?“). 6) 271c8–272d4: Antwort – die Herrschaft des Kronos deckt die Periode der Bewegung von W nach O ab (271c8–d3). Beschreibung des Kronos-Zeitalters (271d3–272b3); Vorhandensein (oder Fehlen) von Philosophie unter Kronos’ Herrschaft (272b3–d4) // Antwort – die Herrschaft des Kronos gehört zu dem Zeitalter, das vor unserem jetzigen (scil. welches mit der Periode der Umkehrung begann) lag (271c8–d3).5 Die Herrschaft des Kronos (271d3–272b3); hat man damals Philosophie betrieben? (272b3–d4) 5
Hier liegt der wesentlichste Unterschied zwischen der „Drei-Phasen“-Deutung und der gängigen Ansicht: Kronos’ Herrschaft gehörte nicht zur eben (d.h. 270c11–271c2) beschriebenen Periode der Bewegung von W nach O, sondern zum Zeitalter vor dieser und geht somit den Umkehrungen, mit denen diese Periode der W-O-Bewegung begann und endete, voraus. Mithin war Kronos’ Herrschaft eine Periode der Bewegung von O nach W wie unsere eigene. Ich gebe unumwunden zu, dass dieser Textabschnitt die von mir vorgeschlagene Deutung vor die größten Schwierigkeiten stellt: Scheint es doch vollauf natürlich, hē nun ... kathestēkuia phora (271d2) einfach auf die Herrschaft/das Zeitalter des Zeus (vgl. 270d4) zu beziehen, so dass hē emprosthen (scil. phora) in d2–3 auf die unmittelbar vorausgehende phora Bezug nimmt, d.h. auf die Periode der Umkehrung selbst (folglich bewegte sich der Kosmos von W nach O, als Kronos herrschte). Dies ergibt sich umso zwangsläufiger, werden die Vertreter der gängigen These einwenden, als wir in hē protera phora (271a8–b1) einen unbestreitbaren Bezug auf die Periode der Bewegung von W nach O vorfinden. Ergibt es sich daraus nicht ganz natürlich, den Ausdrücken hē emprosthen (phora) und hē protera phora denselben Bezugspunkt zuzuschreiben? Weiters bezieht sich der Einwurf des JS in 271d auf lediglich zwei Bewegungen („... in diesem oder jenem Umlauf? Denn ... in jedem der beiden [hekaterai] tropai“). Ich behaupte dagegen, (i) dass es genügend gegenteilige Hinweise an anderen Stellen des Mythos insgesamt gibt (vgl. bes. unten Anm. 6), die es erforderlich machen, von dieser scheinbar offenkundigen Lesart von 271d abzurücken; und (ii) dass der Kontext als solcher meine Lesart durchaus rechtfertigt, auch wenn man sich diese Rechtfertigung mühsam erarbeiten muss. JS erklärt (?) seine Frage („in welchen tropai [d.h. ,welcher Bewegung‘: = periphora, phora?] lag die Herrschaft des Zeus, in diesen oder jenen?“), indem er sagt, dass („Denn ...“) Umkehrungen stattfinden „in jedem der beiden Umläufe“ (en hekaterais ... tais tropais, 271c6–7). Bei der „Zwei-PhasenDeutung“ ist das nicht mehr als ein Signal, er habe verstanden, dass es zwei deutlich voneinander abgegrenzte Zeitalter gibt, von denen jedes mit einer Umkehrung endet. Aber in dieser Auffassung liegt m.E. insofern etwas Missliches, als sie nahelegt, JS denke, das Zeitalter des Kronos könnte zu unserer Epoche gehören; und wie könnte er zu dieser Annahme kommen, da (a) er ja weiß, dass sich das Zeitalter des Kronos von unserem eigenen ziemlich stark unterscheidet und (b) die gesamte Vorstellung einer Umkehr u.a. zur Erklärung der Frage eingeführt wurde, wie wir von dort nach hier gelangt sind (die Geschichte der Kronos-Zeit war einer der Vorgänge, die im pathos der Umkehr eine Erklärung finden sollten: 269b8–c1)? Die Frage wird noch dringlicher dadurch, dass EB ihn augenblicklich beglückwünscht, offenkundig ohne jede Ironie, weil er ihm so schön gefolgt sei. Ich schlage nun – weitgehend im Einklang mit, aber auch als Verfeinerung von meinem Lösungsansatz von 1995 – vor, dass „jene tropai“ und „diese“ „die ersteren“
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und „die letzteren“ bedeuten, und zwar in der Reihenfolge, welche die Exposition vorgibt; und dass weiterhin „die ersteren“ auf den Vor-Umkehrungs-„Umlauf“ Bezug nimmt (worin auch immer der exakte Bezugspunkt von „Umlauf“ liegt, wenn es denn überhaupt einen solchen gibt), während „die letzteren“ auf den Nach-Umkehrungs„Umlauf“ rekurriert. JS fügt dann hinzu „denn natürlich gab es eine Umkehr – ,einen Richtungswechsel der Sterne und der Sonne‘ – in beiden tropai“ (in denen nach der Umkehr deshalb, um uns in „die jetzige tropē“ [270d4] zurückzubringen): So gesehen, könnte das Zeitalter des Kronos nach der (ersten) Umkehr eingetreten sein, d.h. nach der Umkehr, welche der Epoche ein Ende setzte, in der die Gottheit noch am Steuer war, vorausgesetzt, dass es zudem derjenigen Umkehr vorausging, die dann den Kosmos wieder auf seinen (ursprünglichen) Kurs brachte. Bei dieser Deutung würde JS tatsächlich davon ausgehen, dass „das Zeitalter des Kronos“ nicht in unserer Weltepoche lag, und würde daher die Anerkennung des EB für sein Mitdenken bei der Erzählung vollauf verdienen. Nachdem er ihm diese Anerkennung ausgesprochen hat, fährt EB mit der Beantwortung seiner Frage fort: „Nun zu deiner Frage: Kronos’ Herrschaft gehört (scil. natürlich?) mitnichten zu der jetzigen phora; sie gehörte vielmehr zu der vorigen phora“. D.h. (nach meiner These) das sog. Zeitalter des Kronos gehört „mitnichten“ zu der phora (Zeitspanne der Bewegung), die bis zu dem Augenblick zurückreicht, als die Gottheit das Weltall sich selbst überließ – eine Zeitspanne, die sowohl die gegenwärtige Weltepoche, in der wir derzeit leben, als auch die Umkehrungszeit mit umfasst. Siehe 269c4–d3, wo die Weltgeschichte ungefähr so untergliedert wird, lediglich ohne Verweis auf einen neuerlichen Umschwung „zurück“; dieser wird dort übergangen, weil EB an dieser Stelle das außergewöhnliche Einzel„faktum“ einer kosmischen Umkehr als solches einführt (die erste explizite Bezugnahme auf einen „Rückfall“ erfolgt durch JS in 271c). Das mag trotz allem nach einem eher unwahrscheinlichen Verständnis von hē nun ... kathestēkuia phora aussehen, zumal sich in 270d4 hē nun kathestēkuia ... tropē ganz genau und unmissverständlich auf eine Bewegung von O nach W bezieht. Und weiter: Wie sollte ein Sprachgebrauch möglich sein, demzufolge phora sich auf zwei gegenläufige Bewegungen bezieht? Meine Entgegnung lautet: (a) phora muss hier in jedem Fall ebenso sehr „Zeitspanne der Bewegung“ wie „Bewegung“ heißen (was noch eindeutiger auf periphora in 271b1 zutrifft, auf das ja unmittelbar der Ausdruck ton hexēs chronon folgt). (b) Die von Anfang an zentrale Bedeutung des Gegensatzes zwischen OW- und W-O-Bewegungen (d.h. es gibt Zeitspannen mit Rückwärts-/Umkehrbewegung) rührt von einem anderen, grundlegenderen Gegensatz her: dem Kontrast zwischen Vorhandensein und Fehlen direkter göttlicher Lenkung (letzteres ist der eigentliche, tiefer liegende Stand der Dinge, wie er jetzt vorwaltet oder „etabliert ist“, auch wenn er noch einer detaillierten Ausführung harrt). (g) EB hat – nach meiner Deutung – bereits in 271a4–c7 über die Zeitspanne der Umkehrung zusammen mit ihrem „Nachspiel“ (dem Zeitalter des Zeus) gesprochen, und JS bezieht sich auf beide zusammen („diese“, d.h. „die letzteren“ tropai), so dass ein solcher (wenngleich nicht wortwörtlicher) Bezug in 271d2 bereits gut vorbereitet ist. (d) Der Gegensatz zwischen einer unmittelbar von Gott gelenkten und einer von ihm sich selbst überlassenen Welt ist das nächste Thema, dem sich EB jetzt sofort zuwendet (271d3ff.). Ja, ich meine, er hat es bereits im Kopf: „Auch (kai) Kronos’ Herrschaft gehörte zur früheren phora“ (271d2–3), d.h. ebenso wie die unmittelbare göttliche Lenkung. (Bei der „Zwei-Phasen-Deutung“ muss man sich dazudenken: „ebenso wie das Wiederaufleben aus der Erde, wie es eben beschrieben wurde“; freilich wird, auch im Rahmen dieser Deutung, eben dieses Wiederaufleben aus
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7) 272d5–273b2: Ende der Bewegung von W nach O (272d5–273a1); Turbulenzen am Übergang von der W-O-Bewegung zur O-W-Bewegung (unserer eigenen Zeitspanne: 273a1–4); die Welt beginnt sich ihrer Bewegung von O nach W anzupassen (273a4–b2) // Das Zeitalter des Kronos geht zu Ende (272d5–273a1), als jede Seele des „Erdgeschlechtes“6 von Menschen, die es damals gab, „die Vollzahl ihrer (Wieder)geburten abgeleistet hat, indem sie in Form von Keimzellen/Samen so oft in die Erde gefallen war, wie es einer jeden zugedacht war“ (272d8–e2); dann kommt die/eine Zeitspanne der Umkehrung (273e6–7, 273a1–6), gefolgt von der Wiederkehr der O-W-Bewegung (273a4– b2). 8) 273b2–d4: Bewegung von O nach W als Abstieg und Verfall // Das Zeitalter des Zeus, das gut anfängt, sich aber kontinuierlich verschlechtert.
der Erde als Teil der Beschreibung von Kronos’ Herrschaft auftauchen: 272a1 ek gēs ... anebiōskonto pantes. Siehe unten meine ausführlichere Behandlung dieses Einwandes.) (e) Eine (momentane) Angleichung der Umkehrungsperiode an das darauf folgende Zeitalter des Zeus wird m.E. dadurch natürlicher, dass sie dieses Zeitalter ja einläutet, es von der Kronos-Epoche abgrenzt und zudem nur sehr kurz dauert (siehe unten Anm. 7) verglichen mit den ihr vorangehenden und folgenden Zeitaltern. (Sie ist ein phasma wie das in der Geschichte von Atreus und Thyestes, 268e10. In dieser Geschichte war die Umkehrung ein auf die Königsherrschaft bezügliches Omen; in ihrem neuen Kontext ist sie ein „Omen“, das auf eine andere – menschliche, nicht mehr göttliche – Art von Königsherrschaft und Machtausübung hindeutet.) – Einmal mehr bestreite ich nicht im geringsten, dass die „Drei-Phasen-Deutung“ hier auf Schwierigkeiten stößt. Aber der „Zwei-Phasen-Deutung“ ergeht es genau so. Abgesehen von dem oben erhobenen Einwand darf man sich legitimerweise fragen, warum EB als Entgegnung auf die Frage von JS nicht einfach antwortet: „Ich hab’s dir doch gerade erzählt“ – denn die Erdgeborenen in 271a–c gehören im Rahmen der „Zwei-Phasen-Deutung“ zu Kronos’ Zeitalter, und unsere Vorfahren, Leute wie wir, lebten in der „nachbarlich angrenzenden“ Zeit (271a7– b2). (Mithin lag das Zeitalter des Kronos offenkundig in „jenen“ tropai.). Anders gesagt: Träfe die „Zwei-Phasen-Deutung“ zu, dürfte EB den JS in 271c8 nicht belobigen, sondern müsste ihn eher tadeln, weil er nicht mitgekommen ist. (Oder spricht EB wirklich ironisch? Ich sehe dafür kein Anzeichen.) 6 In der meinem Kommentar beigegebenen Übersetzung (in Rowe [1995]), nicht aber im Kommentar selbst, ist to gēinon ... genos (272e1) unglücklicherweise und – vom Blickwinkel meiner eigenen Deutung aus – missverständlich wiedergegeben mit „das erdgeborene Geschlecht“. (Dieselbe Übersetzung ist auch noch in Rowe [1999] zu lesen.) Tatsächlich wird bei meiner Interpretation menschliches Leben in der beschriebenen Zeitspanne durchaus aus der Erde geboren, doch legt die Übersetzung „erdgeboren“ einen Rückbezug auf gēgenes in 269b2, 271a5 und b8 nahe, wohingegen es sich in Wirklichkeit (immer auf der Grundlage der von mir vorgeschlagenen Deutung) eher auf ein anderes „Erdgeschlecht“, namentlich das Geschlecht, von dessen Angehörigen gesagt wird, sie kämen (im Zeitalter des Kronos) „alle zurück zum Leben aus der Erde“ (272a1, wo der Akzent wohl auf dem „alle“ liegt; siehe unten Anm. 8). Das gēgenes-Geschlecht von 269b2 etc. gehört eher der Übergangsperiode mit umgekehrter Bewegung (von W nach O) an. Unten Anm. 8 werde ich diese Gesichtspunkte vertiefen.
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9) 273d4–e4: Ende der Bewegung von O nach W und Beginn der gegenläufigen Bewegung (von W nach O) // Gott übernimmt wieder die Kontrolle, und das Zeitalter des Kronos beginnt von Neuem; Anfang eines weiteren vollen Zyklus (ohne Umkehrung zu Beginn, da die Bewegung sowohl im gerade ausklingenden Zeitalter des Zeus als auch im neuen Zeitalter des Kronos von O nach W gerichtet ist). 10) 273e4: Die Geschichte von einem Einzel-„Zyklus“ ist somit vollständig. 11) 273e5–274e4: Bedeutung dieser Geschichte für die Argumentation über politische Theorie (273e5–6); Ursprünge der menschlichen Gesellschaft am Anfang einer Zeitspanne der Bewegung von O nach W (unsere eigene Weltepoche) (273e6–274a1); Geburten in unserer Welt: damit eine Zoogonie, die der in 270d1–271a1 referierten7 entgegengesetzt ist (274a2–b1); das menschliche Leben in unserer Welt (274b1–d6); Schlussfolgerung (274d6–e4) // Der Erzählfaden wird bei der zweiten Umkehrung aufgegriffen, d.h. am Ende der Zeitspanne einer Bewegung von W nach O, dem für den Aufweis des Wesens des Königs entscheidenden Punkt der Geschichte also (273e5); die Moral wird dann Schritt für Schritt hergeleitet (273e5–274e1): wir müssen – wie das Weltall insgesamt (274d6–e1) – lernen, wie wir alles alleine bewerkstelligen können,8 wenn es keine Götter gibt, die es für uns erledigen. Und von dieser Erkenntnis (die Geschichte verabschiedet sich von uns dort, wo wir uns, dialogdramatisch gesehen, befinden, im fünften Jahrhundert v. Chr.) müssen wir Gebrauch machen, um unsere Darstellung des Königs und Staatsmanns ins rechte Lot zu bringen... (274e1–4). Ich rekapituliere die obigen Zusammenfassungen: Es gibt also der „gängigen“ Ansicht nach lediglich zwei Arten von Bewegung pro Zyklus (von W nach O; von O nach W) und zwei Zoogonien. Meiner Deutung zufolge beschreibt der Mythos hingegen drei Arten von Bewegung (von O nach W nach Art des Kronos; von W nach O in der Übergangszeit; von O nach W nach Art des Zeus) und drei Arten der Fortpflanzung/Entstehung von menschlichem Leben: zwei asexuelle – eine im Zeitalter des Kronos, die aus der „Aussaat“ von Seelen „wie Samen/Keimzellen“ in die Erde hervorgeht, mit Wachstum in der normalen Richtung (vom Baby zum Erwachsenen-/Greisenalter), und eine in 7
Hier und bei Nr. 4 oben (zu 270b3–271c2) macht O’Brien Anstalten, zwischen der „Zoogonie“ (angeblich in 270d1–271a1) und der Beschreibung der Erdgeborenen („der ,Geburt‘ alter Menschen aus der Erde“) in 271a4–c2 zu unterscheiden. Doch in der ersten Textstelle fehlt ein Hinweis auf Geburt oder Entstehung, während die Frage, wie Lebewesen geboren wurden, tatsächlich die zweite Passage einleitet. Es spricht mithin alles dafür, dass die Darstellung „der ,Geburt‘ alter Menschen aus der Erde“ eigentlich darstellt, wie Lebewesen in der fraglichen Zeitspanne (welche auch immer es war) generell entstanden sind; dass dabei lediglich menschliches Leben erwähnt wird, ist Ausdruck des Anthropozentrismus des Mythos insgesamt. 8 Wir müssen uns sogar selbst um unsere Fortpflanzung kümmern; aber das ist für das Argument weniger wichtig (vgl. 274a2–b1; b1–2).
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der Übergangszeit der umgekehrten Bewegung, wo sich menschliches Leben auch in umgekehrter Richtung entwickelt (Leichen leben aus der Erde wieder auf und werden immer jünger: die mythische Epoche der „Erdgeborenen“);9 und 9
Diese müssen sich vom „Erdgeschlecht“ in Kronos’ Zeit aus folgenden Gründen unterscheiden (die ich weitgehend unabhängig von der allgemeinen Deutung des Mythos entwickle): (i) Wenn Pflanzen in dieser Zeit in normaler Richtung wachsen, was offensichtlich der Fall ist (272a4–5: „die Erde ließ sie ganz von selbst emporwachsen“), dann scheint kein Grund dafür ersichtlich, warum es bei Menschen anders sein sollte. (ii) Die einzigen Erdgeborenen, auf welche die gängige Deutung ihr Augenmerk richtet, werden solange immer jünger, bis sie sich einfach in Luft auflösen (270e9–10), so dass diese Menschen nicht in der Erde wieder zusammengesetzt werden können – oder jedenfalls können sie dann nicht als „in der Erde Liegende“ wiederaufleben (271b5–7). Folglich scheint es in dieser Zeitspanne für niemanden Wiedergeburt zu geben, der/die nicht auch/bereits in seinem/ihrem Grab lag, bevor diese Zeitspanne begann. Wenn die Menschen in Kronos’ Zeitalter „alle aus der Erde wiederauflebten“ (272a1–2), dann handelt es sich entweder um eine sehr kurze Zeitspanne, oder es gibt in ihr über weite Strecken kein menschliches Leben auf Erden – doch die letztgenannte Möglichkeit entfällt durch die Tatsache, dass das Zeitalter des Kronos genau zu dem Zeitpunkt aufhören soll, wenn „jede Seele die Vollzahl ihrer (Wieder)geburten abgeleistet hat“ (272e1–2: also nicht irgendwann lange Zeit nach der letzten dieser Geburten). (Auf der Grundlage der Drei-Phasen-Deutung hingegen ist die Zeitspanne umgekehrter Bewegung und umgekehrter Entwicklung tatsächlich eher kurz, ja kurz genug, dass es für sie kein Problem oder doch ein erheblich geringeres Problem darstellte, wenn die einzigen lebenden Menschen diejenigen wären, die in der vorhergehenden Epoche gestorben waren. Sie ist nur ein kurzes Intermezzo zwischen den beiden Hauptepochen, der des Kronos und der des Zeus: umgekehrte Bewegung dauert 270a7 zufolge „viele Zigtausende von Umläufen“ – und selbst wenn wir murias hier beim Wort nehmen sollten, wären zehntausend Umläufe nur wenig mehr als 30 Jahre.) (iii) Schließlich müssten die in 270e10–271a1 erwähnten „gewaltsamen“ Todesfälle gemäß der gängigen Zwei-Phasen-Deutung im Zeitalter des Kronos stattgefunden haben. Indessen gibt es in diesem Zeitalter keine Gewalt (271d–e), außer an seinem Ende, wenn die Umkehrung einsetzt, aber „zur damaligen Zeit“ (en tōi tote chronōi) in 270e10–271a1 scheint sich ganz natürlich auf die gesamte Zeitspanne zu beziehen, in der menschliche Entwicklung rückwärts ablief, d.h. – wieder gemäß der gängigen Deutung – im gesamten Zeitalter des Kronos. Zugegeben, es mag attraktiv erscheinen, anabiōskesthai in 272a ganz selbstverständlich auf anabiōskesthai in 271b zurückzubeziehen (ebenso wie gēinon in 272d auf gēgenes in 269b usw.; siehe oben Anm. 6). Doch ich halte dagegen, dass ein solcher Bezug, wenn wir den Mythos sorgfältig lesen, nicht beabsichtigt gewesen sein kann. Und tatsächlich spielt Wiedergeburt bei meiner Deutung in beiden Arten der (Wieder-) Entstehung aus/in der Erde eine Rolle, freilich unterschiedliche Formen von Wiedergeburt (von Seele und Leib im einen Fall, Wiedergeburt allein der Seele im anderen Fall). Bleibt nur die Frage, ob wir den Mythos mit einer solchen Sorgfalt in Detailfragen lesen sollen, oder besser: ob Platon mit einer solchen Sorgfalt geschrieben hat. Ich selbst neige zu der Ansicht, dass eine Deutung, die keine Nachlässigkeit auf Seiten des Autors voraussetzen muss, nach allen normalen Maßstäben einen natürlichen Vorteil gegenüber einer Deutung verbuchen kann, die solches voraussetzen muss.
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eine sexuelle Art der Fortpflanzung, die zu unserer, d.h. zu Zeus’, Epoche gehört.
ZWEI-PHASENMODELL:
DREI-PHASENMODELL:
Zeitspanne
Bewegung
Anthropogenie
1. Kronos
von W nach O
aus der Erde (aus Leichen)
2. Zeus
von O nach W
ex allēlōn
1. Kronos
von O nach W
aus der Erde
2. Umkehrung
von W nach O
aus der Erde (aus Leichen)
3. Zeus
von O nach W
ex allēlōn
Schaubild: Die Zwei-Phasen- und Drei-Phasen-Deutung im Vergleich10
II. In diesem zweiten, diskursiven Abschnitt meines Aufsatzes möchte ich einige Fragen zum Mythos des Politikos aufwerfen und beantworten: A. Warum ist es von Belang, ob es im Mythos zwei oder drei Phasen gibt? Meine eigenen Beweggründe für meine Beschäftigung mit der Frage „zwei oder drei?“ liegen, abgesehen von purer Neugier (oder, um es feierlicher auszudrücken, vom Ringen um Wahrheit), im Bereich einer bizarren Folge, die sich aus der Zwei-Phasen-Deutung ergibt. Wenn diese Deutung stimmt, dann scheint uns Platon mitteilen zu wollen, dass die Welt, auf sich selbst gestellt, wie sie (so
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Andere Drei-Phasen-Vertreter – sie sind nicht sehr zahlreich – sind Lovejoy und Boas ([1935] 156–159, wo der Mythos nur in aller Kürze behandelt wird), und – ganz besonders – Luc Brisson [1994]; [1995]. Es war Brisson, der mich davon überzeugte, meiner ursprünglichen Anhängerschaft zu einer Zwei-Phasen-Deutung zu entsagen und ein „Drei-Phasen-Mann“ zu werden, obgleich sich unsere Deutungen in wichtigen Einzelheiten unterscheiden, die hier nicht erneut diskutiert zu werden brauchen, da sie bereits der Öffentlichkeit zugänglich sind (Brisson [1995]; Rowe [1995]); doch siehe die folgende Anm.
Zwei oder drei Phasen?
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dürfen wir annehmen) jetzt ist11, es bestenfalls fertigbringt, dass eine Reihe von Dingen auf dem Kopf steht. Wenn es nämlich nur zwei Phasen gibt, dann laufen einige wichtige12 Dinge jetzt rückwärts ab, d.h. in einer Ausrichtung, welche derjenigen, in der sie (in der Vorstellung des Mythos) in einem göttlich gelenkten Universum ablaufen würden, entgegengesetzt ist, während andere Dinge einfach nur anders ablaufen. In einem göttlich gelenkten Universum würden, so scheint es, Sonne und Sterne in die umgekehrte Richtung wandern; und wir würden, anstatt klein anzufangen und größer zu werden, groß anfangen und immer kleiner werden – bis wir einfach verschwänden.13 Somit müsste man sich nicht mit dem leidigen Geschäft des Sterbens abplagen. Ebensowenig müsste man sich mit dem (ebenso leidigen?) Geschäft der Fortpflanzung eines Geschlechtes aus dem anderen mittels Begattung abplagen. Vom Weltall wird angenommen, es behalte die Unterweisung seines „Herstellers“/Erbauers14 so gut im Gedächtnis, wie es ihm nur irgend möglich ist.15 Offenkundig war es kein guter Schüler. Dies aber scheint in deutlichem Widerspruch zu dem Bild der körperlichen Welt zu stehen, das andere Stellen des Corpus Platonicum nahelegen, etwa im Phaidon, den Gesetzen oder (am klarsten) im Timaios. Ist eine Welt, die im Vergleich mit der Ordnung, die göttliche Vernunft ihr auferlegen würde, rückwärts abläuft, wirklich die beste aller möglichen
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D.h. sollte es wirklich jemals in der Weltgeschichte eine Zeit geben, zu der Gott tatsächlich „am Steuerruder des Ganzen“ steht (was nach meiner Auffassung der Stelle niemals der Fall sein wird noch jemals war), dann ist diese Zeit nicht jetzt. Anders Brisson [1995] 351f.: „Die Herrschaft des Zeus, in der der Gott sich neuerlich mit dem Umlauf des Himmels in seiner Gesamtheit befasst, nur mit dem Unterschied, dass die zweitrangigen Götter keinen unmittelbaren Einfluss mehr auf die ihnen zugewiesenen Weltgegenden ausüben“ (scil. die sie während der Herrschaft des Kronos innehatten). Aber das scheint mir gegen den Geist und die Beschreibung des Zeus-Zeitalters (bes. in 273a4–b2 und 274c4–e1) zu verstoßen (274c4–d2 erwähnt lediglich ta palai lechthenta para theōn dōra, und der Text zwingt uns nicht zu der Annahme, EB beglaubige diese alten Erzählungen über Prometheus und den Rest. Eine alternative Erklärung solcher „Gaben der Götter“ liefert Gesetze 677c ff.). 12 Die Himmelskörper sind, wenn schon nicht selbst Götter, so doch jedenfalls das Gottähnlichste, was unserer körperlichen Welt erreichbar ist; dass sie sich in umgekehrter Richtung bewegen, ist sicherlich eine ernst zu nehmende Angelegenheit (oder wäre es zumindest aus dem Blickwinkel des Timaios oder des 10. Buches der Gesetze). 13 Ich folge Abschnitt 1 oben und werde den Inhalt der Textpassage des Politikos im Weiteren als bekannt voraussetzen, ohne – außer bei den wichtigsten Punkten – auf Einzelheiten zu verweisen. 14 Die Erwähnung eines Demiurgen/„Herstellers“/Erbauers wird erklärt durch 273b6–7 tou sunthentos: Die Welt wurde zu Anfang „zusammengesetzt“ (ein Punkt, den der/die mit dem Timaios vertraute Leser/in ganz natürlich als Querverweis auf diesen Dialog auffassen dürfte, wie es zweifellos Platons Absicht entspricht). 15 273b1–2.
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Welten?16 Falls nun jemand die Nützlichkeit von Vergleichen mit anderen Dialogen bezweifeln sollte (Könnte Platon denn nicht im Politikos bloß eine andere Ansicht vertreten haben?), dann könnte man sich einfach fragen, was es genau bedeuten würde, dass die Dinge rückwärts ablaufen. Vielleicht ist das alles ja nur ein Teil der paidiá, mit der die Geschichte gewürzt ist. Doch in diesem Fall scheint sie denn doch etwas zu viel an Spielerei zu bieten: Die halbe Weltgeschichte wirkt nun absurd – und da das Zeitalter des Kronos als besser hingestellt wird als das Zeitalter des Zeus, ist es eindeutig unsere Hälfte, von der ein solches Bild gezeichnet wird. Tatsächlich ist aber die Darstellung der anderen Hälfte gewitzter und phantasievoller geraten und mithin weniger leicht ernst zu nehmen.17 Es ergibt sich, dass die Zwei-Phasen-Deutung aufs Ganze gesehen18 mehr Schwierigkeiten hervorruft, als sie zu lösen vermag. Dagegen gewinnt eine Drei-Phasen-Deutung der Art, wie ich sie vorschlage, dem Mythos eine zusammenhängende und in sich schlüssige Aussage ab, die sowohl die Geschichte insgesamt als auch die meisten ihrer Einzelheiten sinnvoll erscheinen lässt. Indessen wirft dieses Ergebnis sogleich zwei weitere Fragen auf: Was genau ist ein Mythos? Und muss der Mythos im Politikos eine Aussage haben, die über die Punkte hinausgeht, die ganz ausdrücklich und mühsam aus ihm hergeleitet werden (und sich auf Argumentationsfehler vor der Einführung des Mythos beziehen)?19 Wozu setzt Platon Mythen ein? Schließlich macht EB mehr als einmal20 darauf aufmerksam, dass die Geschichte länger geraten ist, als das für die Zwecke der Argumentation notwendig wäre; könnte Platon nicht einfach die Gelegenheit genutzt haben, um sein Talent als Autor fiktionaler Prosa vorzuführen? B. Was heißt und welchem Ende dient „ein platonischer Mythos“? Hier handelt es sich – das liegt auf der Hand – um riesige und umkämpfte Themengebiete, zu denen ich lediglich eine Position andeuten kann, die ich
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Ich übergehe die Frage, ob sich der stetige Prozess der Verkleinerung und äußerlichen Verjüngung mit dem Philosophieren vereinbaren lässt, das offensichtlich für die im Kronos-Zeitalter Lebenden ebenso wichtig ist wie für uns; nun werden die KronosMenschen zwar kleiner usw., aber es wird uns nicht mitgeteilt, dass sie damit in anderer Hinsicht, d.h. in ihren geistigen Kapazitäten, an Reife einbüßten. (Wir neigen vielleicht zu der Vermutung, dass die Menschen allein durch jüngeres Aussehen glücklicher würden, doch diese Ansicht teilt Platon offenkundig nicht.) 17 Für ein Beispiel vgl. meinen Kommentar (= Rowe [1995]) zu 270e9–271a1. 18 D.h. abgesehen von den Einzelproblemen, die sich aus dieser Deutung ergeben, siehe vor allem oben Anm. 5 und 9. 19 Natürlich unterzieht sich EB dieser Aufgabe sofort nach dem Schluss der Geschichte in 274e1–2. 20 268d8–9; 286b7–9.
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freilich anderswo im Einzelnen entwickelt habe.21 Was ich nun als Antwort auf die erste Frage vorschlage, ist schwerlich neu: Mag das Konzept des „Mythos“ bei Platon auch in hohem Maße variieren, die Unterscheidung zwischen muthos und anderen, nicht-„mythischen“ Formen des Diskurses behält – zumindest im richtigen Kontext angesiedelt – dennoch ihren Wert. Um die Sache abzukürzen, biete ich hier gleich mein Ergebnis: Wir dürfen uns schließlich fragen, was denn von der Unterscheidung zwischen dem Mythischen und dem Nicht-Mythischen bei Platon eigentlich noch übrig bleibt. Auch wenn er ständig mit dieser Unterscheidung spielt [wie er das m.E. tut], indem er sie verwischt, verunklärt und überspielt, muss sie nicht trotzdem in irgendeiner Weise überleben, angeschlagen zwar, aber unzerstört, wenn wir dem Spiel überhaupt Sinn abgewinnen sollen? Meine Antwort lautet: Das, was bleibt, ist ein großzügig auszulegender Gegensatz zwischen Geschichtenerzählen bzw. (mehr oder minder) bildhaftem Diskurs und solchen Diskursformen, denen – zumindest vergleichsweise – eine (solche) bildhafte Dimension fehlt.
Diesen „bildhaften Diskurs“22 – in welchem der Philosoph sich von den Erfordernissen von Beleg und Beweis befreit fühlen darf – hält Platon in (zumindest) zwei Belangen für zweckdienlich: In dem Maße, wie Platon den Gebrauch von muthoi als Alternative zur rationalen Argumentation ins Auge fasst, um auf diese Weise Meinungen und Haltungen einem nichtphilosophischen Rezipientenkreis einzuschärfen, gewinnen auch die Begriffspaare „mythisch“ und „nicht-mythisch“ sowie „rational“ und „irrational“ als korrespondierende Gegensätze klares Profil. Doch das bedeutet nicht, dass ich „das Mythische“ schlichtweg als „Irrationalität“ definiere. Es heißt lediglich, dass das Geschichtenerzählen aufgrund der Schlichtheit und Unmittelbarkeit seiner Wirkung als Mittel der Beeinflussung im Umfeld von Leuten brauchbar ist, bei denen andere Mittel aufgrund der Defizite ihrer eigenen ratio nicht greifen.23 In einem anderen Kontext kann der Mythos aber auch als Werkzeug der Dialektik fungieren, wie es bei der Geschichte im Politikos der Fall ist, die deswegen eingeführt wird, um Fehler aufzuspüren, die in der vorhergehenden Teilungsprozedur unterlaufen sind. So wie also das Rationale durch seine Aufbereitung als Erzählmaterial gewissermaßen in das Mythische umgeformt werden 21
Rowe [1999]. Oder eher „bildhafte Erzählform“; siehe dazu unten. Mir liegt es natürlich fern, das als eine Definition von Mythos vorzuschlagen: als ob es keine anderen bildhaften Elemente in platonischer Schriftstellerei gäbe, oder als ob platonische Mythen keine anderen typischen Merkmale aufwiesen. Doch als Arbeitsgrundlage taugt diese Bestimmung wahrscheinlich mindestens ebenso gut wie irgendeine präzisere, gerade wegen der Schwammigkeit der Kategorie (abgesehen im Übrigen von Platons Vorliebe dafür, uns jede Handhabe, die wir vermeintlich für die Definition hatten, sofort wieder zu entziehen; siehe oben). 23 Mein unmittelbarer Beleg ist hier Plt 304c–d2, wo der Rhetorik die Fähigkeit zugesprochen wird, „die Masse und Volksmenge eher durch das Erzählen von Geschichten (muthologia) zu beeinflussen als durch Belehrung“. Vgl. auch Phdr, bes. 277bc (mit Rowe [1986b] zu 277c2–3). 22
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Christopher J. Rowe kann, so kann das Mythische als solches ein Teilstück auf dem Weg werden, den der Philosoph in Richtung Wahrheit zurücklegt. Erzählungen, Bilder, Metaphern, Gleichnisse: Das alles mag dazu beitragen, wenn auch vielleicht nur für den Augenblick, auf etwas hinzuweisen, was auch für „die seienden Dinge“ wahr ist.24
Das einschränkende „wenn auch vielleicht nur für den Augenblick“ wird dann in folgender Anmerkung erklärt: „Nur für den Augenblick“ in dem Sinne, dass der Philosoph auf seinem Weg zur Wahrheit und zu den Dingen an sich – so hofft er – immer größere Fortschritte macht. Einige spezielle Passagen, wie beispielsweise die Gleichnisse von Staat 6–7 (vgl. v.a. 506c–e), mögen den Eindruck hervorrufen, Bilder und Gleichnisse seien eine Art Zweitbestes; aber im Allgemeinen bleiben sie als nützlicher, vielleicht sogar notwendiger Bestandteil des philosophischen Diskurses bedeutsam. Wie [EB] es [JS] gegenüber in Plt 277d1-2 formuliert: „Es ist schwierig, irgendeinen der wichtigeren Gegenstände zu erklären, ohne Modelle [paradeigmata] zu verwenden“: Auch wenn „Mythen“ keine paradeigmata im Sinne des Politikos sind, so können (und werden) sie gleichwohl demselben Zweck dienen, nämlich „Hilfe bei der Erklärung der wichtigeren Gegenstände zu leisten“.
Was der Politikos-Mythos nun „zu erklären hilft“ oder worauf er zumindest hinweist, ist m.E. eine spezielle Vorstellung vom Wesen des Weltalls und vom Platz, den menschliches Leben innerhalb dieses Weltalls einnimmt. Generell eröffnet der „mythische“ Diskurs die Chance, einen dicken Pinsel anstelle der feinen Feder der Dialektik zu gebrauchen; hier eröffnet er die Chance, diese Dialektik im Rahmen eines weiteren Kontextes zu verorten – und gleichzeitig, indem er sich selbst als „mythisch“ abstempelt (und sich ganz offen mit paidiá garniert, wo auch immer diese genau zu finden ist), ganz bewusst jeden Anspruch auf Autorität abstreitet. Eindeutige Parallelen bieten hier die großen kosmischen Mythen im Phaidon und im Staat.25 Wenn dem so ist, dann ist es sicherlich von Belang (siehe oben A), dass wir den Mythos richtig begreifen und seine Grundstruktur verstehen; eine Skizze, die der Autor mit noch so breitem Pinsel verfertigt hat, lohnt jede Menge kreativer Anläufe von uns, den Interpreten. Vorausgesetzt, Platon habe uns ge-
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Rowe [1999] 278. Ich lasse hier den eikōs muthos des Timaios beiseite, hauptsächlich, weil ich weiterhin nicht davon überzeugt bin, dass es sich hier um einen „Mythos“ in dem Sinne handelt, in dem die anderen genannten Beispiele „Mythen“ sind. (Und wenn er es wirklich sein sollte, dann wäre die Begrifflichkeit des „Mythos“ bei Platon derart umfassend und elastisch, dass sie praktisch bedeutungslos würde.) Dies schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, dass sich darin mythische Aspekte finden lassen; aber das ist ja keineswegs verwunderlich in Anbetracht der Schwammigkeit der einschlägigen Begriffe bei Platon. Siehe dazu oben.
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nügend Hinweise gegeben, um ihn angemessen zu lesen,26 dann könnte uns der Mythos sehr viel über Platons Weltbild verraten: Ist es – im Politikos – seine Sicht der Dinge, dass die körperliche Welt in wesentlichen Belangen einfach auf dem Kopf steht? Sollte dies die einzige verfügbare Lesart sein, so fühlte ich mich zu dem Schluss geneigt, dieses spezielle Stück des „bildhaften Diskurses“ sei (abgesehen von seinem unmittelbaren Dienst an der dialektischen Argumentation in seinem Umfeld) ein bloßes jeu d’esprit.27 So schwer es fällt, sich des Verdachtes zu erwehren, dass Platon das Schreiben des Mythos – in all seiner Brillanz und Extravaganz – Spaß machte, so fällt die Vorstellung doch noch schwerer, dass das (ziemlich große) Teilstück des Mythos, das für das Hauptargument entbehrlich ist, nicht mehr sein sollte als ein Stück eitlen Schwelgens im eigenen Talent oder jedenfalls ein eitles Mittel zur Verdeutlichung der Lektion, die man später teilweise aus dem Mythos lernen soll, über das richtige Maß oder die Angemessenheit im Unterschied zu im strengen Sinn quantifizierbaren Maßen.28
26
Man sollte vielleicht auch die Möglichkeit bedenken, dass Platon uns einfach wichtige Indizien, die wir zur Entzifferung des Ganzen benötigten, vorenthalten hat. Oder hat er die ganze Geschichte bewusst so gestaltet, dass sie mehr als eine Auslegung zulässt? Die erste Alternative wird durch die Menge dessen, was uns der Text tatsächlich bietet (wahrlich eine Überfülle von Indizien), widerlegt. Die zweite wirkt attraktiver, namentlich unter der Prämisse, dass der Mythos sowohl prinzipiell als auch in diesem Einzelfall ein eher literarisches Unterfangen ist und dass Geschlossenheit – vielleicht – in der „Literatur“ vernünftigerweise weniger zu erwarten oder schwieriger zu finden ist als in der „Philosophie“. Wie dem auch sei: In jedem Fall müsste man sich fragen, warum genau sich Platon eine derartige Strategie der Doppeldeutigkeit zueigen gemacht hat. Das heißt nicht, dass das Fehlen einer eindeutigen Antwort auf eine solche Frage diese Alternative obsolet machte oder gar, dass Platon niemals mit bewusster Doppeldeutigkeit arbeitete; es heißt lediglich, dass diese Position die Auseinandersetzung um unseren speziellen Text schwerlich voranzubringen scheint (und freilich bin ich selbst der Meinung, dass das Ergebnis des Ganzen durchaus klar genug ist). 27 T.M. Robinson, ein Zwei-Phasen-Mann, scheint zu behaupten, dass Platon wirklich an den Richtungswechsel des Weltalls geglaubt habe – dies impliziert zumindest sein Vergleich der Politikos-Geschichte mit der „Oszillationstheorie“, d.h. „der Form der Ausdehnungs- (oder Urknall-)theorie des Raumes und seines Inhalts“ (Robinson [1995] XXV). Doch dies berücksichtigt viel zu wenig die Art und Weise, wie die Geschichte eingeführt, vor allem den ausdrücklichen Hinweis darauf, dass sie mit paidiá gewürzt sein wird (Plt 268d8). Liegt denn wirklich überhaupt keine Ironie in der Vorstellung, dass EB einen Bericht aus dem Ärmel schütteln kann, der wirklich all die anderen Mythen erklärt? Robinsons Versuch, den Mythos zu retten, strebt zu weit in die Gegenrichtung zu der Position, die ich soeben flüchtig in meinem Text gestreift habe; d.h., er nimmt die Geschichte viel zu ernst. Siehe dazu weiter Anm. 31. 28 284d ff. (auf den Mythos wird in 286b7–9 Bezug genommen).
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C. Was würde uns der Mythos gemäß der alternativen Drei-Phasen-Deutung lehren? Der Kern des Mythos – Kern deswegen, weil dieser Punkt so stark betont wird – scheint die „Tatsache“ des Richtungswechsels und seine Ursache zu sein. Warum durchlebt das Weltall diesen Richtungswechsel? Ständige Stabilität des Aufenthaltsortes, des Zustandes und des Wesens steht nur dem Göttlichsten von allem, was es gibt, zu, körperliche Geschöpfe gehören aber nicht zu dieser Kategorie. Das, was wir mit „Himmel“ und „Welt“ (Kosmos) benannt haben, hat sicherlich viel Überirdisches von seinem Erzeuger mitbekommen, doch es hat durchaus auch ein Gutteil Körper an sich. Daher ist es ihm auch unmöglich, gänzlich unberührt zu bleiben vom Wechsel; freilich bewegt es sich nach allem, was ihm möglich ist, immer am gleichen Ort in einer gleichmäßigen und einförmigen Bahn. Deshalb ist das Rückwärtsrotieren sein Los, weil es nur die winzigste Abweichung von seiner Bewegung mit sich bringt. Sich immerfort selbst zu drehen, ist, so wage ich zu behaupten (schedon), keinem möglich außer dem, der all die Dinge lenkt, die, anders als er29, bewegt werden/in Bewegung sind. Und für ihn ist es nicht statthaft, Bewegung mal in die eine Richtung und mal in die entgegengesetzte auszulösen. Aus all dem ergibt sich, dass man nicht behaupten darf, die Welt drehe sich ständig in eigener Verantwortung, und schon gar nicht, dass sie von Gott in zwei entgegengesetzte Umlaufbahnen gebracht werde, und schließlich auch nicht, dass zwei Götter, die gegensätzliche Prinzipien vertreten, sie in entgegengesetzte Umlaufbahnen brächten; es trifft vielmehr die eben erläuterte und einzig übrige Möglichkeit zu: Mal wird sie (die Welt) von einer äußeren, göttlichen Ursache angeschoben, erwirbt sich so wieder Leben und bekommt vom Hersteller/Erbauer ihre Unsterblichkeit zurück, mal bewegt sie sich, wenn sie losgelassen ist, eigenverantwortlich, wobei sie zu einem solchen Zeitpunkt losgelassen worden ist, dass sie viele zigtausend Rückwärtsumläufe durchmachen kann, weil sie sich bei ihrer riesigen Größe und perfekten Balance auf winzigstem Fuße (auf kleinster Basis) fortbewegt (269d5–270a8).
Also: Weil es Körper(liches) im Weltall gibt, kann es nicht unveränderlich bleiben; so dass (so wollen wir unter allen verfügbaren Möglichkeiten annehmen) es sich bisweilen rückwärts bewegt. Wieso sollte es das tun? Nun (so wollen wir weiter annehmen), weil die Gottheit es manchmal steuert, manchmal hingegen loslässt (269c4–d2, mittlerweile bekräftigt durch den Wegfall der anderen beiden Erklärungsmöglichkeiten für einen Wechsel der Bewegungsrichtung). Wenn das Weltall sich selbst überlassen ist, bewegt es sich rückwärts, und diese Rückwärtsbewegung „ist ihm angeboren infolge der Notwendigkeit“ (269d2–3) aus dem in 269d5–270a8 dargelegten Grund (dia tode, 269d2) – d.h. wegen des Vorhandenseins von Körper(lichem) in ihm. (Doch es ist auch „ein Lebewesen und hat Verstand erhalten von dem, der es zusammengebaut hat am Anbeginn“ (269d1–2); also kann es, wenn auch erst 29
Oder „ihrerseits/auf ihre Weise“ (au).
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nach „vielen zigtausenden Rückwärtsumläufen“, die ihm eigene Bewegung in die Richtung, die ihm die Gottheit ursprünglich zugedacht hat, wiedererlangen. Das ist der entscheidende Zeitpunkt, der in 273a4–b2, der Schlüsselpassage für meine Drei-Phasen-Deutung, geschildert wird.) Aber das ist nicht die einzige Stelle, an der die Ursache für die Umkehrung beschrieben wird. Zusätzlich zu den behandelten umfänglichen Ausführungen gibt uns EB im Weiteren einen etwas rätselhaften Hinweis: Denn nachdem für dies alles (scil. die Zustände im „Zeitalter des Kronos“) die Zeit abgelaufen und die Stunde des Umschwungs gekommen war, zumal ja auch das „Erdgeschlecht“30 schon restlos aufgebraucht war, weil jede Seele ihre sämtlichen (Wieder-)Geburten abgeleistet hatte und sooft wie für jede vorgesehen in Form von Samen/Keimzellen in die Erde gefallen war, da ließ der Steuermann des Weltalls gleichsam den Griff seines Steuerruders los und zog sich auf den Ausguck zurück. Das Weltall aber kehrte infolge seiner schicksalhaften und angeborenen Neigung wieder in die Gegenrichtung um (272d6–e6).
So rätselhaft dieses Textstück scheinen (und sein) mag, es füllt dennoch eine wichtige Lücke. Denn bisher wissen wir lediglich, dass das Weltall deshalb nicht unverändert bleiben kann, weil es Körper(liches) in sich hat, und dass „es seinen eigenen Weg in eigener Verantwortung geht“, sobald die Gottheit es loslässt. Jetzt wird uns erzählt, warum „seinen eigenen Weg in eigener Verantwortung gehen“ „Rückwärtsbewegung“ bedeutet: wegen „seiner schicksalhaften und angeborenen Neigung“. Wie sollen wir das verstehen? Ich schlage als Lösung vor, dass der Mythos das Weltall nach dem Modell eines menschlichen Wesens konstruiert. Es ist ein mit Intelligenz begabtes Lebewesen (269d1), aber es ist ebenso ein Lebewesen mit einem Körper; und die Körperlichkeit bringt notwendigerweise („schicksalhafte und angeborene“) Neigungen mit sich, die unter Umständen der Vernunft zuwiderlaufen. In all den Jahren der Lenkung durch die Gottheit hat sich nun ein lange unterschwelliger Widerstand im „körperlichen“ Bereich des Weltalls aufgestaut, ein Widerstand, der in der Zeit von völligem Aufruhr und Chaos zum Ausbruch kommt, bis Vernunft und Verstand (des Weltalls selber) sich (neuerlich) behaupten können.31 So gesehen verläuft die Entwicklung des Weltalls parallel zu der Entwicklung menschlicher Wesen. Das Weltall, der Kosmos, muss lernen, 30
Vgl. oben Anm. 6. In welchem Sinn dieses „Erdgeschlecht“ restlos „aufgebraucht“ ist, wird sofort angegeben (ihre Seelen haben die ihnen zugedachte Anzahl an „Geburten“ absolviert); das andere erdgeborene Geschlecht (in der Übergangszeit der Umkehr) wird genau zu dem Zeitpunkt zwangsläufig aufgebraucht sein, wenn keine Leichen zur „Wiederverwendung“ vorhanden sind. 31 Das mechanische Modell, auf das 270a5–8 verweist, egal, welches es sein mag (vgl. oben Anm. 27 und Robinson [1995] XXVII), ist, aus dieser Perspektive betrachtet, nur ein Hilfsmechanismus, aber nicht der Zweck der Übung.
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allein zurechtzukommen und sich selbst zu verteidigen, genau wie wir – wozu er fähig ist so wie wir, weil wir mit Intelligenz begabt sind. Doch die Parallele erstreckt sich auch auf die Zukunft. Sobald wir uns selbst und unser Leben nicht mehr mit Hilfe unserer Intelligenz beherrschen, werden wir einmal mehr eine Abwärtsbewegung zum Chaos hin erleben, und es wird der heilenden Hand der Gottheit bedürfen, um uns zu erretten. Wieso? Weil notwendigerweise auch wir körperliche Geschöpfe mit Neigungen und Begierden sind, die, so wir sie nicht unter Kontrolle halten, die Weisungen der Vernunft ihrer Wirkung berauben. Das Eigentümliche an dem Mythos (eines seiner „spielerischen“ Momente?) ist die Anwendung dieses vertrauten platonischen Bildes von der menschlichen Seele – ein Bild, das konkret im 4. Buch des Staates32 argumentativ entfaltet wird und das eine ganze Reihe von Dialogen bis hin zu den Gesetzen beherrscht – auf das Weltall insgesamt. Den Gedanken, dass das Weltall ein Lebewesen sei, sollten wir unbedingt als durch und durch platonisch akzeptieren (zumindest, wenn die Seele die letzte und einzige Ursache für Bewegung ist); dass es aber angeborene Neigungen oder ein angeborenes Begehren haben sollte, welches an die bekannten nicht vom Guten gesteuerten Begierden der menschlichen Seele erinnert33, ist eine neue und eindeutig befremdliche Vorstellung – von allem anderen abgesehen, wo genau sollten wir ein solches Begehren lokalisieren? Oder ist es bloß eine Metapher für die „Notwendigkeit“, „die unstete Ursache“ des Timaios, welche die Widerspenstigkeit des Materials widerspiegelt, mit dem der göttliche Weltenerbauer arbeiten musste? Vielleicht. In dieser Frage ist man auf reine Spekulation angewiesen. Doch eines hat sich m.E. bereits jetzt klar genug herausgestellt: Falls wir aus dem Mythos Lehren ziehen sollen, dann sind die Lehren, die er bei der Drei-Phasen-Deutung auf Lager hat, kohärenter als diejenigen, die sich aus der rivalisierenden ZweiPhasen-Deutung zu ergeben scheinen.34
32
Vgl. dazu die nächste Anm. Ich beziehe mich hier konkret auf die Argumentation für das Bestehen von drei Seelenteilen im vierten Buch des Staates, die sich als Argumentation für das Bestehen von drei Formen des Begehrens entpuppt, nämlich einem (rationalen und) vom Guten gesteuerten und zwei (irrationalen und) nicht vom Guten gesteuerten. 34 Ich möchte betonen, dass ich die Drei-Phasen-Deutung hier nicht etwa deshalb vertrete, weil sie uns in eine Art theoretischer Landschaft entführt, die uns bereits aus anderen Dialogen vertraut ist (obwohl sie uns unleugbar in diese Richtung führt); vielmehr empfehle ich sie, weil sie einen Zusammenhang ergibt und eine klare Aussage enthält, wie man sie mir bei der Zwei-Phasen-Deutung erst noch nachweisen müsste. 33
DIE ARISTOPHANES-REDE IM SYMPOSION: DER EMPEDOKLEISCHE HINTERGRUND UND SEINE PHILOSOPHISCHE BEDEUTUNG∗ Denis O’Brien Aristophanis [...] sententia, verbis obscuris involuta, enodationem adhuc aliquam lucemque requirit. Commentarium Marsilii Ficini Florentini in Convivium Platonis, de Amore, Oratio IV, capitulum 1.
Die ausufernde Literatur, welche die Beschäftigung mit Platons Symposion in den letzten Jahren hervorgebracht hat, krankt, wie ich glaube, daran, einen wesentlichen Punkt nicht zur Genüge erhellt zu haben. Der Grund dafür ist recht einfach. In seinen Dialogen, und nicht zuletzt da, wo er Mythen einsetzt, haben Platons Gedanken ihre Gestalt als Antwort auf diejenigen seiner Vorläufer aus dem fünften Jahrhundert angenommen. Die modernen Kommentatoren haben es versäumt, auf diese Gedanken einzugehen, zum Teil wohl deswegen, weil so wenig über die vorsokratische Philosophie bekannt ist, und andernteils, weil Platon selbst dann, wenn er auf seine Vorgänger Bezug nimmt, oft genug darauf verzichtet, sie mit Namen zu nennen. So verhält es sich nach meinem Dafürhalten auch im Fall des Empedokles, dessen ungenannte Gegenwart im Timaios, im Mythos des Politikos, aber vor allem in der Rede, die Aristophanes zum Symposion beisteuert, häufig durchscheint. Eine ungenannte Präsenz deswegen, weil Platon (oder seine jeweilige dramatis persona: Aristophanes im Symposion, der Fremde aus Elea im Politikos, Timaios im Timaios) nirgendwo in diesen drei Schriften Empedokles namentlich anführt. Die modernen Ausleger haben sich daher natürlicher- und unvermeidlicherweise davor gescheut, ihre Kommentare mit Verweisen auf einen Denker aufzublähen, auf den Platon selbst in den fraglichen Passagen nicht nennend Bezug nimmt, jemanden, den er – wohlwollend formuliert – vorgezogen hat nicht zu erwähnen. Um diesem Missstand abzuhelfen, werde ich deshalb mit einigen Texten anzufangen haben, die nicht bei Platon zu finden sind, von denen ich aber glaube, dass sie, so sie recht verstanden werden, offenlegen können, was jedem zeitgenössischen Leser des Symposion ersichtlich gewesen sein musste: dass nämlich die Aristophanes-Rede als eine wohldurchdachte Parodie der eigenartigen zoogonischen Theorien des Empedokles gemeint ist, und dass diese zoogonischen Theorien ihrerseits als eine wohldurchdachte philosophische Folie für die Dio-
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Deutsche Übersetzung von Christian Schäfer. Zitate aus Platons Schriften nach der Schleiermacher-Version, Vorsokratikerzitate nach den Übersetzungen in DK.
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tima-Rede, und somit auch für die Hauptstoßrichtung von Platons eigenem philosophischen Neuvorschlag, eingebracht wurden.1 I Für die zoogonischen Theorien des Empedokles verfügen wir über zwei Quellen.2 Die eine ist ein Kapitel aus Pseudo-Plutarchs De placitis philosophorum. Die andere besteht in einer Kombination von Texten aus Aristoteles und Simplicius. Der Text des Pseudo-Plutarch, der, wie ich geneigt bin anzunehmen, vom Doxographen Aëtius aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert stammt, listet drei Stufen im Vorfeld der Entstehung von Menschen als Männern und Frauen auf: Einmal die der losen Einzelteile von Lebewesen (einzelne Köpfe, Hände, Augen und so weiter), dann die Anordnung dieser Einzelteile zu absurden und monströsen Kombinationen (menschliche Köpfe auf Kuhkörpern, Wesen, die Hunderte von Händen und Füßen mit sich herumschleppen), und schließlich, unmittelbar vor dem Auftreten von Mann und Frau, Geschöpfe, die „miteinander verwoben sind“ (tîn ¢llhlofuîn).3 Aristoteles und Simplicius erzählen jedoch eine andere Geschichte. Insbesondere von Simplicius ist zu erfahren, dass die „vier Entwicklungsstufen“ aus Aëtius nicht auf eine einzige Zoogonie beschränkt waren. Die losen Einzelgliedmaßen und die Ungeheuer wurden demnach in Buch eins des als Physika oder Peri physeōs bekannten Lehrgedichts des Empedokles beschrieben. „Ganzartige“ Wesen (die ich für jene nehme, die „miteinander verwoben sind“) wurden in Buch zwei beschrieben. Männer und Frauen aber tauchten in beiden Entwicklungsreihen auf, also in Buch eins wie in Buch zwei. In Buch eins entstanden männliche und weibliche Menschen, als die Einzelglieder der Lebewesen nicht mehr wirr zu Monstren zusammengefügt wurden, sondern zu überlebensfähigen Geschöpfen, die keinen Menschenkopf mehr auf einem Kuhkörper trugen, sondern ein Menschenhaupt auf einem Menschenleib (und, wie anzunehmen, obgleich Simplicius seine Erzählung nicht weiter ausführt, mit Kuhköpfen auf Kuhkörpern). Ein vollkommen anderer Ablauf wurde in 1
Als kurzen Abriss zur Frage der Präsenz des Empedokles in den drei oben genannten Dialogen (Timaios, Politikos und Symposion) wird der Leser vielleicht O’Brien [1997] einsehen mögen. Die Präsenz des Empedokles im Timaios ist ein wenig ausführlicher dargestellt in O’Brien [1999]. – Als Danksagung: Ich bin Suzanne Stern-Gillet äußerst dankbar dafür, den vorliegenden Beitrag durchgesehen und verbessert zu haben. 2 Im Folgenden werde ich in Anbetracht der Rahmenvorgaben für diesen Artikel notwendigerweise nur dürre Andeutungen machen können. Eine mehr ins Detail gehende Analyse des Befunds zu den zwei Zoogonien des Empedokles ist in O’Brien [1969] 196– 236, zu finden. Ich werde auf das Thema in einer demnächst erscheinenden Veröffentlichung, À la recherche d’Empedocle, Fragments et témoignages, noch näher eingehen. 3 Aëtius (Pseudo-Plutarch), V 19.5. Die neueste Diskussion der vexata quaestio des „Aëtius“ als Quelle der einander überlappenden Textpartien, die Stobaeus und PseudoPlutarch festgehalten haben, liefern Mansfeld/Runia [1997].
Die Aristophanes-Rede im Symposion
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Buch zwei geschildert. Hier entstanden Frauen und Männer nicht als Ergebnis einer Verbindung, sondern einer Trennung. In der in Buch zwei beschriebenen Zoogonie gingen sie aus einer Aufspaltung der „ganzartigen“ Geschöpfe hervor, die so vonstatten ging, dass dabei Wesen – nämlich wir selbst – herauskamen, die als männlich und weiblich geschlechtsverschieden sind.4 Die Wahl heißt nun schlicht: Glauben wir Pseudo-Plutarch oder Simplicius? Die meisten Kommentatoren nehmen den einfacheren Weg und schließen sich Pseudo-Plutarch an. Einfacher deshalb, weil man sich in Pseudo-Plutarchs Fassung der Geschehnisse nicht mit zwei verschiedenen Vorkommnissen von Frauen und Männern herumschlagen muss, nämlich als einmal entstanden aus einem Einungsprozess und einmal aus einem Trennungsprozess. Ein einfacherer Weg, vor allem für einen voreiligen Historiker wie etwa Malcolm Schofield im überarbeiteten Empedokles-Kapitel von Kirk und Ravens The Presocratic Philosophers. Jeder Doxograph scheint es ja für bequemer zu befinden, sich einem anderen anzuschließen, und auch der Verfasser eines modernen Handbuchs zur vorsokratischen Philosophie findet es natürlich leichter und zeitsparender, einfach die Ansichten seines Mitbruders aus der Antike wiederzugeben.5 Für den weniger voreiligen Historiker muss die Entscheidung dagegen zweifelsohne zugunsten des Simplicius ausfallen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Pseudo-Plutarch oder Aëtius selbst (oder von welchem Quellenautor 4 Simplicius (Physica 300.19–20) nimmt auf „das erste Buch“ der Physika des Empedokles für eine Beschreibung der Herausbildung von Knochen Bezug (fr. 96). Knochen, so ist von Aristoteles zu erfahren (De caelo III 2, 300 b 25–31), wurden zu Beginn einer Zoogonie, in der die Lebewesen durch die Verbindung von Einzelgliedmaßen entstanden, im Innern der Erde geformt (Aristoteles, De anima III 6, 430 a 28–30, und De generatione animalium I 18, 722 b 19–21; Simplicius, Physica 371.33–372.2). Simplicius zufolge waren unter den genannten Lebewesen auch Männer und Frauen (Physica 372.6–7). Er erwähnt (Physica 381.29) noch ein „zweites Buch“ desselben Gedichts mit einer Erzählung darüber, wie Männer und Frauen aus einer Zertrennung „ganzartiger“ Geschöpfe hervorgingen (Physica 381.29–382.21, fr. 62 zitierend). Da man aber von Aristoteles (De generatione et corruptione II 6, 334 a 5–9) weiß, dass unsere Welt eine Welt zunehmender Auftrennung ist, darf angenommen werden, dass die Männer und Frauen, deren Ursprung in Buch zwei geschildert wurde, menschliche Frauen und Männer wie wir, also der Jetztzeit, sind. Wie bemerkt, halte ich die „miteinander verwobenen“ Wesen aus Aëtius V 19.5 für dieselben wie die „ganzartigen“ aus fr. 62. Das jeweils verwendete Wort in diesen beiden Texten ist nicht dasselbe (¢llhlofu»j bei Aëtius, oÙlofu»j im Fragment). Ob man deswegen den von Pseudo-Plutarch überlieferten Text korrigieren sollte, ist eine heikle Frage, die ich in À la recherche d’Empedocle anzugehen versuche. 5 Zu Schofields Empedokles-Kapitel siehe Kirk/Raven/Schofield [1983/1995] 280–321. Zur Zoogonie dort insbesondere 302–305. Ravens Darstellung des Empedokles in der Erstauflage desselben Werks (Kirk/Raven [1957] 320–361) enthielt bereits zahlreiche Fehler (s. dazu die Hinweise im Index zu O’Brien [1969]), wies aber wenigstens eine zweifache Zoogonie vor (335–339). Schofields Überarbeitungsversuch von Ravens Kapitel lässt, angesichts der Tatsache, nur eine Zoogonie aufzuweisen, Zweifel darüber aufkommen, ob der letzte Stand des Kapitels wirklich besser ist als der erste.
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näherhin der von diesen beiden Schriftstellern aufgezeichnete Text auch immer herstammen mag) das Gesamtwerk des Empedokles, oder auch nur der ein oder andere Teil davon, zugänglich war. Pseudo-Plutarch und Aëtius sind bloß ein erhaltenes Kettenglied einer doxographischen Tradition, die herausragende Anfänge gehabt haben mag (vielleicht sogar Theophrast), aber im Laufe der Zeit von Autoren neugeschrieben und umgemodelt wurde, denen die Texte, die sie zusammenfassend darzustellen hofften, nicht mehr verfügbar waren. Anders Simplicius. Dieser besaß noch einen Großteil, wenn nicht gar das Gesamt, von Empedokles’ Gedicht Über die Natur, und das ist der Grund dafür, dass er, hier wie andernorts, in der Lage ist, seine Zitate richtig einzuordnen, und in diesem bestimmten Fall einen qualifizierten Unterschied zwischen einem ersten und einem zweiten Buch von Empedokles’ Gedicht zu machen. Zusätzlich überzeugend, ist Simplicius auch in der Lage, ansonsten unbekannte Verse zu zitieren, die seinen Bericht stützen – wiewohl auf diese auch von Aristoteles angespielt wird. Daher kommt es, dass Simplicius aus dem Gedicht des Empedokles eine detaillierte Beschreibung der „ganzartigen“ Geschöpfe zitiert, die entzwei gespalten werden, um weibliche und männliche Menschen herauszubilden.6 Den von Simplicius zitierten Versen ist zu entnehmen, dass diese „ganzartigen“ Wesen je einen „Anteil“, sehr wahrscheinlich einen gleich großen Anteil, an Feuer und Wasser aufwiesen. Feuer und Wasser sind, wie aus verschiedenen Quellen bekannt, die beiden Elemente, deren Vorherrschen den Grund für männliche und weibliche Eigenschaften ausmachen (wobei männliche vom Feuer, weibliche vom Wasser herstammen).7 Ein Anteilhaben im gleichen Ausmaß an beiden Elementen würde daher Wesen hervorbringen, die genauso sehr männlich wie weiblich wären. Und das ist auch ziemlich sicher das, worauf Empedokles abzielte, denn in den letzten beiden Versen der von Simplicius zitierten Passage ist zu hören, dass die aus der Erde hervorgegangenen Geschöpfe „noch nicht der lieblichen Gliedmaßen Gestalt aufweisen“, „noch auch das Männern eigene Glied“. Die „Gestalt mit lieblichen Gliedmaßen“ ist der Körper der Frau, „das Männern eigene Glied“ ist, was man leicht erraten kann, und der springende Punkt, dass die „ganzartigen“ Wesen diese männlichen und weiblichen Unterscheidungsmerkmale „noch nicht“ aufweisen (fr. 62.8), wird durch Simplicius’ Hinweis erklärt, dass Männer und Frauen erst aus der „Aufspaltung“ der „ganzartigen“ Wesen auf einer späteren Stufe zunehmender Trennung in der Zoogonie hervorgehen.8
6
Simplicius, Physica 381.31–382.3 (fr. 62 ed. Diels). Vgl. Aristoteles, Physik II 8, 199 b 7–9. 7 Zur Verteilung männlicher und weiblicher Elemente s. Aristoteles, De gen. anim. IV 1, 764 a 1–b 27 und 765 a 3–10, zusammen mit den Fragmenten 65 und 67. 8 Diese Deutung des Fragments wird von der halbzerstörten Darstellung sexueller Begierde bestätigt, die sich in den Schlusszeilen des bereits zitierten Aëtius-Kapitels findet
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Das eigentümliche Wort „ganzartig“ (oÙlofu»j) soll besagen, dass diese Geschöpfe als zweigeschlechtlich, oder vielleicht eher vorgeschlechtlich, anzusehen sind. Die „Ganzheit“ ihres Wesens liegt genau darin, noch nicht in männlich und weiblich, als Mann und Frau unterschieden zu sein. Ihre „Ganzheit“ lässt sich also durch ihren gleich großen Anteil am männlichen und am weiblichen Element erklären. Das Vorherrschen eines Elements als Folge der Aufspaltung dieser Geschöpfe wird den Verlust dieser „Ganzheit“ mit sich bringen in der Hervorbringung solcher Wesen – wie wir selbst –, die nicht „Ganze“, sondern „Hälften“ sind, und zwar männliche, wenn Feuer überwiegt, und weibliche, wenn Wasser. II Das einzige Wort, das ich hier selbst hinzugefügt habe, ist „Hälfte“. Und ich habe es nur getan, um unmittelbar die Verbindung zum Symposion herstellen zu können. Denn die Gemeinsamkeit der Rede des Aristophanes mit Empedokles liegt natürlich, wie bereits zu erraten, in der Aufspaltung zweigeschlechtlicher Wesen in Hälften.9 Wie von einem solchen Redner nicht anders zu erwarten, kann das nicht ohne einen Schuss Parodie vonstatten gehen. Die Doppelwesen des Aristophanes gibt es demnach in drei Spielarten, nämlich nicht nur als die empedokleischen Doppelgebilde, aus denen Männer und Frauen entstehen, sondern auch als eingeschlechtliche „Ganze“, seien sie nun männlich oder weiblich, im Sinne einer abschätzigen Seitenbemerkung von Aristophanes auf einige der Anwesenden gemünzt und auf Leute, die gerne herumpolitisieren.10 Soviel ist nun auch bei den meisten Kommentatoren zu finden. Um nur zwei der aktuellsten zu nennen: Luc Brisson von französischer und Christopher Rowe von englischer Seite.11 Luc Brisson greift Aristophanes’ Gebrauch des Wortes sÚmbolon heraus. Jeder von uns, sagt Aristophanes (191 D 4), ist das sÚmbolon eines ganzen Menschen (¢nqrèpou), und deswegen sucht jeder von uns das sÚmbolon, von dem er getrennt wurde (seine „andere Hälfte“). Brisson bemerkt zu Recht, dass Aristoteles dasselbe Wort verwendet, wenn er von der Zoogonie des Empedokles spricht. Dieser behauptet, so Aristoteles, dass es in Mann und (Aëtius [Pseudo-Plutarch], V 19.5). Ein ins Einzelne gehender Vergleich der beiden Texte wird dann in À la recherche d’Empedocle zu finden sein. 9 Zur Hälftung ursprünglicher Doppelwesen s. Symp 189 D 6–191 C 8. Zur Begrifflichkeit von „Hälfte“ und „Hälften“ s. 191 A 6, B 2, B 4, 192 B 6. Die Doppelwesen sind für Aristophanes (189 E 5, 191 B 4, 192 E 10) wie für Empedokles (fr. 62.4; oÙlofue‹j) „Ganze“. Beide Begriffe werden in Diotimas Bezugnahme auf die Rede des Aristophanes ablehnend verwendet: 205 D 10–E 3. 10 „Drei Spielarten“: 189 D 6–191 C 8 und 191 D 3–192 B 5. Politiker (als herkömmlicher Seitenhieb): 192 B 6–7. Die anwesenden Symposiasten (Pausanias und Agathon): 193 B 6–C 1. 11 Brisson [1998/2000] und Rowe [1998].
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Frau jeweils ein sÚmbolon des ganzen Wesens vor seiner Zerteilung gibt.12 Rowe sagt im Grunde dasselbe, wenn auch weniger eindeutig, wenn er Empedokles als eine der drei möglichen Quellen für Aristophanes’ Doppelwesen nennt (wobei als die anderen beiden das zweigeschlechtliche Flügelwesen, das in einigen orphischen Kosmogonien auftaucht, und das offenkundige Zerrbild des orphischen Phanes in Aristophanes’ Schauspiel Die Vögel zu gelten hätten).13 Und das ist auch schon alles, was uns Brisson und Rowe zu erzählen haben – oder doch nicht ganz alles, denn Rowe ruft zusätzlich noch in Erinnerung, dass einige der Monstren des Empedokles ebenfalls männliche und weibliche Teile in sich vereinigten, und daher bringt er auch diese Monstren noch großzügig ein. „Es wird nicht schaden“, so schreibt er, „wenn man für das Gesamtbild“ – der Abrundung der urzeitlichen Doppelwesen des Aristophanes – „‚groteske‘ (monströse) Elemente“ in Betracht ziehe, wie sie ja in anderen Fragmenten des Empedokles vorkommen.14 „Es wird nicht schaden“ ... Wie pedantisch muss ich wohl erscheinen, auf so einer harmlosen und wohlmeinenden Bemerkung herumzuhacken. Es wird nicht schaden ... Die Quellenforschung war schon immer eine Art diebische Elster der Wissenschaften. Und natürlich wird es nicht schaden, mehr als eine Quelle vorweisen zu können. Ja, man möchte fast sagen: je mehr, desto lustiger. Eigentlich liegen als Quellenmaterial bereits eine orphische Weltentstehungslehre und ihre Parodie in den Vögeln vor. Und sobald wir dann auch noch Empedokles auf die Bühne zerren, wie könnte es da wohl noch schaden, mehr als nur einen Gesichtspunkt seiner Zoogonie ins Spiel zu bringen, also nicht nur die „ganzartigen“ Wesen, sondern auch noch gleich die „monströsen Verbindungen“ verschiedenster Gliedmaßen? Wer allerdings, anders als ganz offensichtlich Christopher Rowe, seine Hausaufgaben zu Empedokles gemacht hat, der wird sofort bemerken, dass die Vermengung der Ungeheuer mit den „ganzartigen“ Wesen in den Folgen verheerend wirken kann, da sie einer Billigung der von Pseudo-Plutarch niedergelegten Zoogonie in gefährlicher Weise gleichkommt, in der solche Ungeheuer und die „ganzartigen“ Geschöpfe jeweils die zweite und dritte Stufe einer einzi12
Brisson [1998/2000], 200, Anm. 242. S. Aristoteles, De generatione animalium I 18, 722 b 8–30 (sÚmbolon, b 11). Der Vergleich (mit 191 D 4) ist auch in Diels/Kranz [1934] I, 336 (ad fr. 63) vermerkt. 13 Rowe [1998] 154. S. Orphicorum fragmenta 76, 80, 81 und 98 (ed. Kern) und Aristophanes, Aves 690–702 (= Orphicorum fragmenta 1 ed. Kern). Rowe tut dem Leser nicht den Gefallen, direkte Verweise auf diese Texte zu liefern. Sie müssen aus der neueren Literatur erschlossen werden, auf die Rowe weiterverweist. 14 Rowe [1998] 154: „wenn wir uns daran erinnern, wer der Autor sein soll, wird es für ein Gesamtbild nicht schaden, ‚groteske‘ (monströse) Elemente dazuzunehmen“. Rowe bezieht sich hier auf Empedokles, fr. 61 (Ungeheuer mit weiblichen sowie männlichen Merkmalen). In derselben Anmerkung und für denselben Vorsatz bezieht sich Rowe auf „ganzartige Gestalten“ in fr. 62.
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gen zoogonischen Sequenz hin zur Entstehung von Mann und Frau bilden.15 Wenn solch eine Verbindung jedoch statthaft wäre, beide Stufen also zweigeschlechtliche Wesen aufwiesen, die in einer einzigen Entwicklungsrichtung auf die Entstehung männlicher und weiblicher Menschen als je eines sÚmbolon des anderen zuliefen, so müsste unsere ursprüngliche Entscheidung für den zoogonischen Bericht des Simplicius und zu Ungunsten des bei Aëtius überlieferten revidiert werden. Doch zur Beruhigung: Es besteht meines Erachtens keinerlei Notwendigkeit dafür. Christopher Rowe will ja, so sagt er selbst, niemandem von Schaden sein. – Es ist ja auch vollkommen richtig, dass einige dieser Monstren weibliche und männliche Merkmale auf sich vereinen. Aber diese männlich-weiblichen Ungeheuer sind nicht dieselben wie die „ganzartigen“ Wesen. Nur diese letzteren, „ganzartigen“ Geschöpfe werden jedoch zu Männern und Frauen zweigeteilt. Und daher sind es auch allein diese „ganzartigen“ Wesen, die den Verständnisschlüssel für Aristophanes’ aufteilbare und von Zeus zweigeteilten Wesen hergeben. „Na gut“, kann ich Christopher Rowe in seiner so ausgesprochen vernünftigen und verständnisvollen Stimme jetzt sagen hören: „Dann lassen wir die Monstren eben weg. Sie waren ja nur als ein obiter dictum gemeint. Ich wollte sie sowieso bloß aus Gefälligkeit erwähnt haben. Und ich kann dieses Gefälligkeitsgeschenk, wenn es nicht behagt, auch wieder zurücknehmen. Ein wenig mehr oder weniger Empedokles macht keinen Unterschied. Der empedokleische Hintergrund ist ohnehin geringfügig genug, mit oder ohne Ungeheuer ...“. Doch genau da liegt der Hase im Pfeffer: Der empedokleische Einfluss ist weit davon entfernt, auf die Zweiteilung von Doppelwesen in Frauen und Männer beschränkt zu sein. Doch bleibt der wesentlich bedeutendere Gesichtspunkt des empedokleischen Hintergrunds im Symposion ausgeblendet, wenn man, wie Rowe es tut, Monstren an falscher (von Pseudo-Plutarch übernommener) Stelle in den Erzählverlauf einfügt. Um hingegen die wirklich bedeutsamen Gesichtspunkte im empedokleischen Hintergrund zum Symposion zu erkennen, ist ein kurzer Rückblick auf Simplicius und die Fragmente vonnöten.16 15
S. nochmals Aëtius (Pseudo-Plutarch), V 19.5 (wie oben paraphrasiert). Wenn ich Christopher Rowe dafür zur Verantwortung ziehe, seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben (s.o.), so will ich ihm damit nicht den Vorwurf machen, die Fragmente und Sekundärquellen für Empedokles’ zoogonische Theorien nicht bearbeitet zu haben. Non omnia possumus omnes. Rowe ist vielmehr vorzuhalten, sich nicht der Mühe unterzogen zu haben, die Literaturlisten zu den bekannteren Werken zum Thema durchgegangen zu sein. Hätte er das, so wäre er in denkbar kürzester Zeit auf eine prägnante und klare Aussage zum offensichtlichen empedokleischen Hintergrund der AristophanesRede im Symposion gestoßen. (S. O’Brien [1969] 227–229, und den Eintrag ins Gesamtverzeichnis 454: „PLATO. Symposium. Influence of the zoogony on Aristophanes’ speech“). – Christopher Gill [1999] 72 macht es wenig besser. Gill erwähnt Empedokles zwar gar nicht, erkennt aber an, dass die Aristophanes-Rede „eher eine Intellektuellenversion eines Mythos“ ist. So nah dran, und doch so weit gefehlt. 16
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III Es gibt noch ein weiteres Fragment, auch dieses bei Simplicius zitiert, das erklärt, warum es um zwei verschiedene Zoogonien geht, eine durch Auseinandertrennung und eine andere durch Verbindung verursachte: Diese beiden Zoogonien werden von den zwei kosmischen Gottheiten des Empedokles gesteuert, nämlich Liebe als Grund der Vereinigung und Streit als Grund der Trennung.17 Die Zoogonie der Vereinigung (Einzelgliedmaßen und Monstren, die zu Frauen und Männern werden) wird durch die Liebe bedingt, die Zoogonie der Trennung („ganzartige“ Wesen, die entzwei geteilt werden, um Männer und Frauen herauszubilden) durch den Streit. Zumindest glaube ich, dass es das ist, was Empedokles meint, wenn er in den von Simplicius zitierten Versen (fr. 20) von zwei entgegengerichteten Prozessen spricht, einem von Liebe und einem von „bösen Geistern der Zwietracht“ gelenkten. „Zu einer Zeit, durch Liebe“ kommt es zu einer „Zusammenkunft“, in dem Sinne, dass „Gliedmaßen, die auf der Höhe des blühenden Lebens Körpergestalt erlangt haben“ nun „alle vereint werden“ (vv. 2–3). „Zu einer anderen Zeit“ waren diese selben Gliedmaßen „von bösen Geistern der Zwietracht wieder auseinandergerissen worden und wandern jedes für sich getrennt entlang der Brandung des Lebensufers“ (vv. 4–5). Abschließend ist in den beiden letzten Versen des Bruchstücks zu vernehmen, dass „es ganz ebenso ist mit den Sträuchern, den im Wasser Behausung habenden Fischen, den bergbewohnenden Waldtieren und den von Fittichen getragenen Tauben“. Zugegebenermaßen ist die Bedeutung dieser Verse auf den ersten Blick alles andere als offenkundig. Was sind diese Gliedmaßen, „die Körpergestalt erlangt haben“? Was soll es heißen, wenn wir erfahren, dass sie „wieder auseinander gerissen werden“? Was in aller Welt soll denn zudem heißen, dass sie, wieder auseinander gerissen von den „bösen Geistern der Zwietracht“, dann „getrennt entlang der Brandung des Lebensufers wandern“? Und vor allem: Was mag es denn nur bedeuten, „es verhielte sich ebenso“ mit den Sträuchern, Tauben und Fischen? Belesene deutsche Gelehrte haben den Versuch unternommen, diese Fragen unter Hinweis darauf zu beantworten, dass die eben zitierten Verse als eine Beschreibung von Jugend und Alter, von Schwangerschaft und Geburt, von Krankheit und Tod zu sehen sind. Aber sollten wir wirklich annehmen, dass Gliedmaßen im Mutterleib „eine Körpergestalt finden“, dass in Krankheit und Alter diese Gliedmaßen „auseinandergerissen werden“, oder dass sie nach dem Tod „jedes für sich entlang der Brandung des Lebensufers“ wandern? Das alles ist sehr unplausibel, sobald man näher betrachtet, was Empedokles’ Verse tatsächlich aussagen. Ich habe das vor dreißig Jahren unternommen. Und nachdem ich Steinhart, Panzerbieter und andere abgehakt hatte, schrieb ich in der vorwitzigen Art eines frisch Promovierten, dass „diese Zeilen 17
Simplicius, Physica 1124.9–18.
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die abwechselnde Herrschaft von Liebe und Streit auf die Geschichte der vergänglichen Körper anwenden“, und dass sie daher „sehr wahrscheinlich kurz nach der Beschreibung des kosmischen Zyklus“ in fr. 17 standen.18 Ich konnte, als ich damals diese Worte zu Papier brachte, nicht ahnen, dass die zitierten Verse nicht nur im Kommentar des Simplicius standen, der aufgeblättert vor mir lag, sondern auch auf einem Papyrusbruchstück, das zu jener Zeit noch Staub in einer Schublade der Universitätsbibliothek von Straßburg ansammelte. Noch unmöglicher konnte ich ahnen, dass ich dreißig Jahre später, weit weniger vorwitzig, diese Verse in einer Ausgabe des Straßburg-Papyrus lesen sollte, wo ihnen in der Tat (obwohl nicht festzustellen ist, wie viele Verse dazwischen lagen) sehr wahrscheinlich Verse aus dem fr. 17 vorausgingen.19 Denn hier, wie schon vorher in unserer Betrachtung der Zoogonie, ist der Zusammenhang der Verse des Empedokles das alles Entscheidende. Falls nämlich, wie Simplicius erzählt und wie auch die Herausgeber des StraßburgPapyrus herauszustellen bestrebt sind, die fraglichen Verse Teil von Empedokles’ Beschreibung seines allgemeinen Zyklensystems sind, dann ist der zu berücksichtigende Themenzusammenhang für die Bedeutung dieser Verse nicht die Embryologie oder der von Krankheit und Tod des Individuums in der jetzigen Zustandswelt. Statt dessen ist der Kontext für diese Verse vielmehr ein kosmischer, und dieser kosmische Motivzusammenhang wird das ansonsten Unerklärliche zu erklären haben. Die Gliedmaßen, die sich hier in ein Körperganzes einfinden, dann wieder auseinander gerissen werden („wieder“ im Sinne von zurück zu dem Zustand, indem sie sich vordem befanden), und die dazu verurteilt werden, „jedes getrennt für sich entlang der Brandung des Lebensufers zu wandern“ sind zwar die Gliedmaßen, deren Beschreibung auch schon in der Zoogonie des Empedokles so weit vorzufinden war, doch mit einem entscheidenden Unterschied: Es ist hier nicht von Gliedmaßen die Rede, die zuerst zu Monstren und danach, so Simplicius zu trauen ist, in männliche und weibliche Menschen zusammengefügt werden. Diese Gliedmaßen sind vielmehr solche, die bereits einen Körper haben und die dann nochmals auseinander gerissen werden – „nochmals“, um neuerlich die getrennten Einzelgliedmaßen zu sein, die sie schon einmal waren. Sie werden von „bösen Geistern der Zwietracht zerrissen“ oder „entzwei ge18
O’Brien [1969] 218–229 (Zitat 224). Der Straßburg-Papyrus ist von Alain Martin und Oliver Primavesi (Martin/Primavesi [1999]) herausgegeben worden. Für unser Fragment, siehe Ensemble c 2–8 (Martin/Primavesi [1999] 142–143). Zur anzunehmenden Einpassung des Ensembles s. Martin/Primavesi [1999] 109–110. Es ist eines der neu aufgefundenen Fragmente, das die Frage nach den Verbformen in der ersten Person Plural stellt. Im Papyrus ante correctionem sind es „wir“, die „zu einer Zeit zusammenkommen, um alle vereint zu sein“ und daher mit den „Gliedmaßen, die auf der Höhe des blühenden Lebens Körpergestalt erlangt haben“ zu identifizieren sind (vv. 2–3). Die oben gegebene Paraphrase des Fragments ist vorsätzlich so gehalten, diesem Problem auszuweichen. 19
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schnitten“ (kakÍsi diatmhqšnt' 'Er…dessi). Das hier gebrauchte Verb (diatmhqšnta) ist ja gewissermaßen ein Synonym des Verbs, das Simplicius verwendet, um die Aufspaltung der „ganzartigen“ Wesen zu beschreiben.20 Der damit ausgedrückte Vorgang ist in beiden Fällen derselbe: Die Körperteile, die durch die Liebe zu Monstren und dann auch zu Frauen und Männern zusammengefügt waren, werden von der entgegen wirkenden kosmischen Kraft wieder auseinandergerissen, den „bösen Geistern der Zwietracht“, den Handlangern des Streits, oder dem Streit selbst in pluralischer Form. Das schließt die Erzählung von der Zoogonie des Streits ab. Zwei Trennungen werden von den kosmischen Mächten der Zwietracht vollführt: Ursprünglich „ganzartige“, zwei- oder vorgeschlechtliche Geschöpfe, die aus der Erde entstanden, werden in Männer und Frauen aufgetrennt. Das ist aber nur die erste Trennung. Es gibt danach noch eine zweite, wenn diese Männer und Frauen „nochmal“ auseinander gerissen werden, um „wieder“ getrennt Einzelkörperteile zu bilden, die schon im ersten zoogonischen Durchgang, dem der Liebe, vorlagen. Doch welch ein Unterschied! Die Einzelkörperteile im Liebeszyklus waren dazu auserkoren, sich zusammenzuschließen. Die des Streitzyklus waren in eins geformt und werden jetzt auseinander gerissen, und in den darauf folgenden Versen des Straßburg-Papyrus sind die verängstigten Schreie von Männern und Frauen zu vernehmen, die ein grausames und schreckliches Schicksal vorhersehen, das sie erwartet.21 IV Doch war die Warnung vor diesem grausamen Schicksal bereits vor Auffindung des Straßburg-Papyrus auf den Seiten des platonischen Symposion zu finden gewesen. Denn als Zeus dort anfänglich entscheidet, das Menschengeschlecht seiner Widerspenstigkeit wegen zu bestrafen, indem er die ursprünglich „ganzartigen“ Wesen in Hälften schneidet, zieht er schon die mögliche Notwendigkeit einer weiteren Zerteilung in der Mitte in Betracht: „Denn für jetzt“, so Zeus, „will ich sie jeden in zwei Hälften zerschneiden, so werden sie schwächer sein und zugleich uns nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind. Und aufrecht sollen sie gehen auf zwei Beinen. Sollte ich aber merken, dass sie noch weiter freveln und nicht Ruhe halten wollen, so will ich sie, sprach er, noch einmal zerschneiden, und sie mögen dann auf einem Bein hüpfend fortkommen.“22 Und auch ge20
Simplicius, Physica 382.20 (diaspasqšntoj). Zu Aristophanes’ Gebrauch des empedokleischen Verbs (diatemî, 190 D 1; vgl. fr. 20.4: diatmhqšnta) siehe unten unter IV. 21 Straßburg-Papyrus, Ensemble d (Martin/Primavesi [1999] 144–149). „Die darauf folgenden Verse“: Martin und Primavesi argumentieren dafür, dass Ensemble d auf Ensemble c folgt. S. Martin/Primavesi [1999] 110–111 und 283–284. 22 Symp 190 D 1–6. [Anm. d. Übers.: Für diese Übersetzung wurde die im Deutschen zum Standard gewordene (revidierte) Schleiermacher-Version zugrunde gelegt. O’Brien hat im englischen Original – „um die vorherigen bissigen Bemerkungen gegen ihn wieder-
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gen Ende seiner Rede bringt Aristophanes diesen Gesichtspunkt noch einmal zur Sprache: „Vordem“, so sagt er, „waren wir eins, jetzt aber sind wir der Ungerechtigkeit wegen von dem Gott [Zeus] auseinandergelegt und verteilt worden, wie die Arkadier von den Lakedaimoniern. Es steht also zu besorgen, wenn wir uns nicht sittsam betragen gegen die Götter, dass wir nicht noch einmal zerspalten werden und so herumgehen müssen wie die auf Grabsteinen ausgeschnittenen [halbplastischen Relieffiguren], die mitten durch die Nase gespalten sind.“23 Das Wort, das Aristophanes dem Zeus in den Mund legt (190 D 1: diatemî) ist dasselbe, das von Empedokles verwendet worden war (fr. 20.4: diatmhqšnta). Diese Wiederholung von Wort und Grundgedanken kann schwerlich bloß zufallsbedingt sein. Die bei Simplicius zitierten und im Straßburg-Papyrus aufgefundenen Verse zeigen ganz deutlich, dass die zweite Teilung bei Aristophanes, genauso wie die erste, aus Empedokles entnommen ist. Doch das ist noch nicht alles. In der Aristophanes-Rede findet sich, mit mehr als nur einer Prise Schrullenhaftigkeit und Parodie, der komplette Durchgang der Streit-Zoogonie wieder: In Frauen und Männer zerteilte Doppelwesen und Männer und Frauen, über deren Häuptern die stete Bedrohung – oder im Fall des Empedokles: die Gewissheit – einer weiteren Zweiteilung schwebt. Was aber passiert in der entsprechenden Liebes-Zoogonie, wo getrennte Einzelgliedmaßen zusammengefügt wurden, zunächst zu Ungeheuern, dann zu männlichen und weiblichen Menschen? Getrennte Einzelgliedmaßen, so wissen wir jetzt, kamen ja zwei Mal vor, am Anfang der einen Zoogonie und zu Ende der anderen – am Ende der des Streits nämlich und zu Anfang derjenigen der Liebe. Gilt dasselbe für die „ganzartigen“ Geschöpfe? Diese traten ja tatsächlich zu Beginn der Streit-Zoogonie auf. Taten sie das auch am Ende der Liebes-Zoogonie? Ich bin sehr geneigt, das anzunehmen, und auch, dass dies die Bedeutung, oder doch zumindest der implizite Hintergrund der Eröffnungsverse von fr. 20 ist, wo Empedokles von „Gliedmaßen, die auf der Höhe des blühenden Lebens Körpergestalt erlangt haben“ spricht, als zusammengekommen „durch Liebe, um alle vereint zu sein“ (vv. 2–3). Wenn dem so ist, dann passt sich auch das letzte Stück des empedokleischen Puzzles in den Text des Symposion ein. Denn auch im Symposion wird die Möglichkeit in Aussicht gestellt, dass unsere anfängliche Trennung wiedergutgemacht wird, die Aussicht, dass Hephaistos mit seinen Werkzeugen in Händen über uns stehen wird, um die Liebenden, wenn sie zusammenliegen, zu fragen: „Was ist es denn eigentlich, ihr Menschen, was ihr voneinander wollt? [...] Begehrt ihr etwa dieses, soviel wie möglich zusamgutzumachen“ – die Übersetzung von Christopher Rowe (Rowe [1998]) benutzt. Die Diskussion einzelner mit dieser englischen Ausgabe in Zusammenhang stehender Übersetzungsfragen im Anmerkungsapparat ist daher im Folgenden fortgelassen.] 23 Symp 193 A 1–7.
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men zu sein, dass ihr euch Tag und Nacht nicht verlassen dürftet? Denn wenn das euer Begehren ist, so will ich euch zusammenschmelzen und in eins zusammenschweißen, so dass ihr statt zweier eins seid, und solange ihr lebt, beide zusammen als einer lebt und, wenn ihr gestorben seid, auch dort in der Unterwelt nicht zwei, sondern, gemeinsam gestorben, ein Toter seid.“24 Die beiden aufeinander folgenden Trennungen und die Verheißung künftiger Vereinigung sind sämtlich, so möchte ich hier unterbreiten, empedokleische Motive.25 V Von dieser Warte aus sind der radikale Fehler von Pseudo-Plutarchs Empedokles-Referat wie die tiefe Bedeutung der empedokleischen Wurzeln des „Mythos“ des Aristophanes zu erkennen. Der radikale Fehler von PseudoPlutarchs Empedokles-Referat ist es, bei der Hervorbringung von Männern und Frauen stehen zu bleiben und dabei die ursprüngliche Reihung der zoogonischen Etappen so umgestellt zu haben, dass sie in dieser Hervorbringung kulminieren, jedoch ohne weiterzugehen, während Empedokles in Wirklichkeit einen Gedanken von verwirrender Originalität vorgelegt hatte (der seitdem nur bei einem modernen Philosophen wiederaufgelebt ist), dass nämlich Menschen, so wie wir sie kennen, nicht das letzte Wort, sondern nur eine Stufe in der sich entwickelnden Geschichte des Weltganzen sind. Und das gibt natürlich auch die Erklärung dafür her, dass Platon die Philosophie des Empedokles in seine Dialoge, und insbesondere ins Symposion, aufgenommen hat. Nicht dass Platon hier oder auch anderswo daran denkt, dass Menschen, wie wir sie kennen, eine weitere körperliche Veränderung erfahren werden. Doch glaubt Platon, genauso wie Empedokles, dass der gegenwärtige Zustand des Menschen nicht sein letztgültiges Ziel ist. In diesem Sinne ist Empedokles selbst noch in der Parodie seiner Lehren, die Platon dem Aristophanes in den Mund legt, ein Vorläufer der platonischen Lehre von der Anderen Welt, allerdings mit dem Unterschied, dass Platons „Andere Welt“ ontologisch in die 24
Symp 192 D 3–E4. Ich fasse zusammen: Die Aristophanes-Rede in Platons Symposion (189 C 2–193 D 5) erzählt von zwei aufeinander folgenden Zerteilungen sterblicher Wesen, einer wirklichen (190 D 1–191 D 5) und einer drohenden (193 A 3–7; vgl. 190 D 4–6), mit Hoffnung auf eine mögliche Wiedervereinigung (192 D 2–193 A 1). Alle drei Gesichtspunkte sind, wie ich behaupten möchte, ursprünglich empedokleisch und Rückblicke auf die beiden Zoogonien des Empedokles. In einer Zoogonie des wachsenden Streits werden „ganzartige“ Geschöpfe zweigeteilt in Männer und Frauen, die dann eines Tages in Einzelkörperteile zerlegt werden. In einer Zoogonie zunehmender Liebe werden getrennte Körperteile zu Ungeheuern und dann zu Frauen und Männern zusammengefügt, die dann eines Tages zu „ganzartigen“ Wesen zusammengepasst werden. Die beiden Trennungsvorgänge bei Aristophanes sind, so möchte ich zumindest unterstellen, der Zoogonie des zunehmenden Streits entnommen. Die Hoffnung auf mögliche Wiedervereinigung spiegelt die Endstufe der Zoogonie wachsender Liebe wider. 25
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Ferne gerückt bleibt, während die andere Welt des Empedokles diese selbe, nicht ontologisch, sondern in Zeit und Zustand ferne körperliche Welt ist.26 Das ist auch der entscheidende Punkt, der Diotimas ausdrücklicher Bezugnahme auf die Aristophanes-Rede zugrunde liegt, einer Bezugnahme, auf die Platon (nur für den Fall, wir hätten sie übersehen) unsere Aufmerksamkeit lenkt, indem er Aristophanes am Schluss der Diotima-Rede protestieren lässt, sie habe eine seiner Ideen gestohlen, wobei dann freilich der Protest im Tumult nach der Ankunft des trunkenen Alkibiades untergeht.27 Liebe, so sagt Diotima nämlich, ist weder das Begehren eines Teils noch des Ganzen, sondern des Guten. Diotimas Bezugnahme ist gleichermaßen eine Anerkennung wie eine Korrektur der empedokleischen Gedanken. Empedokles hatte die Erfüllung menschlichen Begehrens in die Vergangenheit und Zukunft gelegt. Diotimas Strebensziel liegt weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft noch eigentlich in der Gegenwart, sondern in einer Welt unveränderlicher Werte, die, wenn schon vielleicht nicht vom Lauf der Zeit, so doch wenigstens vom ewigen Veränderungskreislauf befreit ist, dem sich Empedokles’ Welt unterworfen sieht.28 VI Doch erfüllt der Hinweis auf das „Gute“ noch einen weiteren Zweck. Die Verbindung von Begehren und Gutem ist der einzige Part von Diotimas Philosophie, der dialektisch eingeführt wird, und zwar in dem kurzen Gedankenaustausch zwischen Sokrates und Agathon vor dem eigentlichen Beginn von Diotimas Rede. Es ist ein ganz besonders einfaches Stück Dialektik, aber eben doch nichtsdestoweniger dialektisch. Und sein Auftauchen zeigt einen zweiten bedeutenderen Unterschied an, der Platon oder Sokrates vom Empedokles des Aristophanes und vom geschichtlichen Empedokles trennt.29 Der Sophistes ist eine der seltenen Stellen im platonischen Corpus, wo Empedokles genannt wird – zumindest beinahe. Er tritt unter dem durchschaubaren Alias der „Sizilischen Musen“ auf. Der dort vorgebrachte Vorwurf gegen die Sizilischen Musen und ihre Mitschwestern, die Ionischen Musen (eine gleichermaßen durchschaubare Anspielung auf Heraklit), ist genau der, dass sie uns bevormunden, als ob sie mit kleinen Kindern sprächen, ganz unbekümmert,
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Diese sibyllinischen Bemerkungen werden gänzlich nur dem einleuchten, der das letzte Kapitel von O’Brien [1969] gelesen hat. 27 Diotimas Bezugnahme auf Aristophanes: 205 D 10–E 3. Der Protest des Aristophanes: 212 C 4–6. 28 Meine Einschätzung von Platons Begriff von Zeit und Zeitlosigkeit wird wiederum nur im Lichte einer früheren Arbeit, O’Brien [1985], verständlich sein. 29 Zur dialektischen Passage im Vorfeld der Diotima-Rede s. Symp 199 C 3–201 C 9, und die Ausdeutung bei Nussbaum [1979/1985]; s. [1979] 145–147 und [1985] 177–199 respektive.
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ob wir begreifen und gutheißen, was sie sagen, oder nicht.30 Und das hat auch in der Tat seine Berechtigung für den Empedokles, den wir aus den Fragmenten heraushören, das neue Straßburg-Fragment miteingeschlossen: Empedokles heißt seinen Schüler Pausanias, nicht dösglotzend herumzusitzen, sondern aufzupassen und auf das Gesagte Acht zu geben.31 Doch nirgendwo unterbricht sich Empedokles, um nachzufragen, ob der arme Pausanias das Gesagte wirklich versteht. Und nirgendwo denkt er auch nur im Traum daran, Pausanias’ Zustimmung einzuholen. Keine Spur ist hier zu finden vom Geben und Nehmen des sokratischen Gesprächs oder von platonischer Dialektik. Beide Unterschiede stehen natürlich miteinander in Verbindung. Es ist die Dialektik, die uns die Welt der Formen entdecken lässt, und die dialektische Analyse des Begehrens, die den Weg bereitet für die Erkenntnis des Guten. Empedokles versagt in beiderlei Hinsicht. Die Andersweltlichkeit bei Empedokles ist zwar eben nicht in der gegenwärtigen Welt angesiedelt, aber dennoch in der Sinneswelt; und sie wird nicht dialektisch erschlossen, sondern als Offenbarung der Muse und des Empedokles selbst mitgeteilt. Von diesen beiden Standpunkten aus ist die der Aristophanes-Rede zugrunde liegende Philosophie in Platons Augen sowohl materialistisch als auch mythisch. Deswegen habe ich behauptet, dass die Präsenz des Empedokles im Symposion als Folie für Platons eigene Philosophie gedacht ist, deren Methode dialektisch ist und deren Dialektik dem Vorsatz entspricht, uns zur (An-)Erkenntnis einer anderen Welt als der sinnenfälligen zu verhelfen. VII Freilich kann ich jetzt bereits die Einwände gegen diese Schlussfolgerung sich im Geiste und auf den Lippen meiner Leserschaft zusammenbrauen sehen. Nur zwei davon möchte ich gerne kurz anschneiden: Sicherlich wird man meinen, dass ich übertreibe mit der Behauptung, Aristophanes’ lächerliche Zoogonie sei irgendwie mit Diotimas weitaus geschliffeneren Erwägungen über das menschliche Begehren vergleichbar. Was 30 Die beiden Musen (Heraklit und Empedokles: Sophistes 242 D 6–243 A 2) sind in eine allgemeinere Kritik früherer Denker eingebettet (242 C 4 ff.). Der Eleatische Fremde beschwert sich, dass diese älteren Schriftsteller uns eine „Geschichte“ (mythos) erzählen, als ob sie zu Kindern redeten (242 C 8–9), ganz egal, ob wir dem Gesagten folgen können (243 A 6–B 1). 31 S. den dreimaligen Gebrauch des Imperativs in der 2. Person Singular in fr. 17.14, 21 und 26 (bei Simplicius, Physica 158.13, 20 und 25 zitiert), gefolgt vom dreimaligen Gebrauch des Imperativs im Straßburg-Papyrus, der dort anschließt, wo Simplicius’ Zitat abbricht (Ensemble a [ii] 21–22 und 29). Dieser sechsmalige Gebrauch des Imperativs in der 2. Person Singular ist gewiss an Pausanias gerichtet, der genauso in fr. 1 und (falls wir, wie wir es auch sollten, dem trauen, was Plutarch in seinen Quaestiones convivales, VIII 8, 728 E–F sagt) in fr. 5 (mit der Emendation des Plutarch-Textes von Diels oder einer ähnlichen) angesprochen wird.
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haben wir denn tatsächlich für einen Beweis dafür, dass die Zoogonie des Empedokles überhaupt etwas mit „Liebe“ oder „Begehren“ zu tun hatte, es sei denn auf sehr indirektem Wege, insofern nämlich „Aphrodite“ einer der verschiedenen Namen war, der einem von Empedokles’ zwei kosmischen Gottheiten zukam?32 Um auf diesen Einwand zu antworten, gibt es ein Beweisstück, das ich bisher nur im Vorübergehen gestreift habe. In De generatione animalium erzählt Aristoteles, dass das Entstehen von Männern und Frauen aus „ganzartigen“ Wesen in der dem wachsenden Streit zufallenden zoogonen Sequenz von Empedokles’ Beschreibung heutiger geschlechtlicher Fortpflanzung widergespiegelt oder wiederholt wurde. In diesem Zusammenhang gebraucht Aristoteles kennzeichnenderweise das Wort „begehren“ (™piqume‹n). Begehren, sexuelles Begehren, ist gegenwärtig das Begehren einer verloren gegangenen Einheit.33 Die Philosophie des Empedokles beinhaltete folglich nicht nur eine mehr oder minder konventionelle Darstellung von Lust und Schmerz (wovon Details durch Theophrast auf uns gekommen sind), sondern auch eine Darstellung des Begehrens in kosmischer Größenordnung, eine Darstellung mithin von Begehren, und zwar von menschlichem Begehren, als eines wichtigen Grundzugs in der empedokleischen Darlegung all dessen, was ist.34 Als Ausnahme unter den Vorsokratikern (wenn auch nicht unter den vorangegangenen Rednern des Symposion) hat Empedokles eine Theorie des Begehrens, die kaum weniger allumfassend ist als Platons eigene. VIII Ein zweiter und letzter Einwand. Ein von Kenneth Dover 1966 im Journal of hellenic studies veröffentlichter Aufsatz ist bei weitem die detaillierteste Studie zum vorsokratischen Hintergrund der Aristophanes-Rede im Symposion.35 Tatsächlich wird er mit Regelmäßigkeit als das letzte Wort zum Thema angeführt.36 Und selbst dort, wo er nicht eigens angeführt wird, haben ihn doch offenkundig die meisten im Hinterkopf. Zum Beispiel Christopher Rowe. Dover befindet, 32
„Aphrodite“: fr. 17.24. S. auch die Fragmente 22.5, 71.4, 86, 87, 151. Aristoteles, De gen. anim. IV 1, 764 a 36–b 8 (™piqume‹n, b 6). Das von Aristoteles verwendete Wort (™piqume‹n) ist dasselbe (nur im nominalen, nicht verbalen Sinne), das in Aristophanes’ berühmter Definition von Liebe als „des dem Begehren (™piqum…a) und dem Streben nach dem Ganzen zugehörigen Namens“ auftaucht (192 E 10–193 A 1). 34 Zu Empedokles’ Ausführungen über Lust und Schmerz s. fr. 107 (das anzunehmenderweise gleich von fr. 109 an weitermacht), und Theophrast, De sensibus 9–10 (Theophrasts Zusammenstellung des Theoriegebäudes des Empedokles) und 16 (seine Kritik an dieser Theorie). 35 Dover [1966]. 36 Waterfield [1994] 80, schreibt ganz verklärt: „Dovers (1966) Analyse der Vorläufergedanken und ihres Widerhalls in der Aristophanes-Rede könnte wohl schwerlich übertroffen werden.“ 33
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dass „gewisse Ähnlichkeiten“ zwischen Empedokles’ Ungeheuern und der Aristophanes-Rede „unleugbar“ seien, und dass die „ganzartigen“ Wesen des fr. 62 „vielleicht ebenfalls etwas gemein haben“ mit den aristophanischen Urgeschöpfen. Rowe hat die Sachverhalte dann nur umgedreht, indem er für seinen eigenen Hauptvergleich die „ganzartigen“ Wesen aus fr. 62 beibehalten und einen guten Schuss vermischter männlich-weiblicher Ungeheuer dazu genommen hat.37 Was aber ist dann Dovers Schlussfolgerung zum empedokleischen Einfluss im Ganzen? „Ein Vorsatz Platons, Empedokles zu parodieren ist“, so Dover, „höchst zweifelhaft“. Empedokles’ „entwicklungsgeschichtliche Spekulationen sind Platon während der Abfassung der Aristophanes-Rede nicht in den Sinn gekommen“.38 Der Grund für Dovers Ausschluss einer Parodie des Empedokles ist recht schlicht: Dover verzweifelt an der Deutung von fr. 62 und gibt daher notwendiger Weise auch bei fr. 20 klein bei (das er tatsächlich noch nicht einmal erwähnt).39 Wenn diese beiden Fragmente beiseite gelassen werden und die ganze Beweislage bei Simplicius und Aristoteles nicht herangezogen wird, dann wird natürlich kaum Hoffnung bestehen, wahrzunehmen, worin die „entwicklungsgeschichtlichen Spekulationen“ des Empedokles bestanden, und deshalb auch nicht, zu entscheiden, ob sich Spuren davon im Symposion finden. Doch im Augenblick, da Empedokles’ entwicklungsgeschichtlicher Leitfaden – zweigeschlechtliche Wesen, zwei aufeinander folgende Trennungen, die Hoffnung auf künftige Vereinigung – aus den Fragmenten und Sekundärquellen wiedergewonnen wurde, denke ich, dass Dovers überstürztes Urteil als das angesehen werden kann, was es ist: ein Resultat von Unkenntnis.40 Es gibt jedoch noch einen anderen, davon verschiedenen Einwand von Dovers Seite, der uns noch aufhalten könnte: „Falls Platon uns wirklich zu ver37
Dover [1966] 45–46. Rowe [1998] 154. Der Fehler, die Doppelwesen des Aristophanes mit den Ungeheuern des Empedokles zu verwechseln, ist alt. Er taucht genauso etwa bei Stewart [1905] 409 Anm. 1, auf. Doch Stewart hat immerhin den Anstand, am selben Ort hinzuzufügen: „Die von Empedokles vorgelegte Theorie „organischer Vereinigungen“ ist voller Hinweise für den Leser des von Aristophanes im Symposion erzählten Mythos“. Hätte man seinen Worten doch nur Beachtung geschenkt. 38 Dover [1966] 46. Man kann Dovers Vertrautheit mit den inneren Abläufen in Platons Geist nur bewundern – seine Kenntnis dessen, was „Platon in den Sinn kam“, als er gerade bei der Schreibarbeit war, und was nicht. Minderbegabte Sterbliche müssen sich auf die Worte stützen, die Platon aus der Feder (oder dem Stylos) flossen. 39 Dover [1966] 46: „Die Bedeutung des Bruchstücks [fr. 62] ist nicht so klar, als dass irgend jemand sich sicher sein könnte, was Empedokles wohl vorgeschwebt sein dürfte.“ In einer Anmerkung (27 zu Seite 46), verweist Dover auf Raven in Kirk/Raven [1957] 338. Ein strahlendes Beispiel für einen Blinden, der einen Blinden führt. 40 Fünfzehn Jahre später bricht ein kleiner Schimmer durch Dovers Einleitungsbemerkungen zur Aristophanes-Rede in seiner Ausgabe und Übersetzung des Symposion, s. Dover [1980] 113–114. Ob Dover wohl inzwischen einen Blick in die entsprechenden Seiten meines Empedocles’ cosmic cycle geworfen hat?
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stehen geben wollte, dass die Aristophanes-Rede ein Fortschritt hin zu einem rechten Begreifen des Eros ist“, so erfährt man von Dover, „dann hat er seine Absicht in einen undurchdringbaren Schleier gehüllt, denn es ist ja gerade die Hauptaussage dieser Rede, die Diotima ausdrücklich verwirft.“41 Ist darin vielleicht ein Körnchen Wahrheit? Einmal zugestanden, dass Platons Absichten dieselben waren wie von mir behauptet: Hätten Empedokles’ Lehren, vernebelt wie sie sind von all der Schaumschlägerei und dem Schwindel der aristophanischen Komik, auch von einem Publikum im vierten Jahrhundert als diese wiedererkannt werden können? Waren die Lehren des Empedokles zu jener Zeit bekannt genug dafür? Auch hier gibt es ein Beweisstück, das ich bislang nicht zitiert habe. In der Nikomachischen Ethik nennt Aristoteles die empedokleischen Verse als ein Beispiel für jene Stücke, die von den Leuten in Übermut oder Trunkenheit deklamiert wurden.42 Die Verse des Empedokles waren also wohlbekannt, so sehr, dass sie auswendig gewusst wurden. Die merkwürdige Zoogonie – die entzwei gespaltenen Doppelwesen (wir selbst), bedroht mit einer weiteren Zerteilung, doch mit der Hoffnung auf Wiederherstellung der Einheit – würde demnach, so behaupte ich jedenfalls, einem zeitgenössischen Publikum unmittelbar wiedererkennbar gewesen sein. Aber noch mehr als das: Der Hinweis des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik stützt meine vorherige Behauptung. Aristoteles sagt, dass die Verse des Empedokles von Trunkenbolden heruntergeleiert wurden, die keinen Begriff der Bedeutung dessen hatten, was sie da aufsagten. Sie sagten die Verse des Empedokles ihrer kehrreimartigen und formelhaften Wirkung wegen her, desselben Effekts wegen, den man heute noch in mehr als einem der Bruchstücke verspüren kann.43 Ganz genau: Empedokles verfügte über eine Theorie kosmischen Strebens – als einziger Vorsokratiker, auf den das zutrifft –, aber sie wurde in Leierversen ohne dialektische Fundierung vorgelegt. So blieb sie ein Mythos, der auf die Existenz einer anderen und besseren Welt verwies, doch ein Mythos, der auch, eben als Mythos, und weil er deswegen der dialektischen Grundlegung entbehrte, darin versagte, eine weitab von Raum und Zeit gelegene Welt zu offenbaren.
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Dover [1966] 48. Aristoteles, Ethica Nicomachea VII 5, 1147 a 19–b 19. 43 S. etwa die sich wiederholenden Verse in den Fragmenten 17 und 26, und insbesondere den Gebrauch wiederholter Zäsuren nach dem dritten Trochäus das ganze zweitgenannte Fragment hindurch, welche die Verszeilen in Sinnstücke aufspalten, ein Kunstgriff, den man auch im Orpheus-Gesang bei Apollonios Rhodios wiederfindet (Argonautica I 496– 518). 42
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Dieses Fehlens jeder Dialektik wegen, und weil er daher nie mehr als ein Mythos zu sein vermochte, war der Lehrbericht des Empedokles vom kosmischen Streben nicht imstande, einen Blick auf das Gute zu eröffnen.44
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Das „Gute“ oder auch das „Schöne“. Beide Begriffe werden in den Schlusszeilen der dialektischen Vorbereitung zur Diotima-Rede gebraucht (201 A 2–C 9), obwohl es natürlich der letztgenannte ist, der wiederholtermaßen im großartigen Finale von Diotimas Erörterung auftaucht (209 E 5–212 A 7).
DAS WECHSELSPIEL VON ERZÄHLUNG UND ARGUMENTATION IM MYTHOS VON PENIA UND POROS IN PLATONS SYMPOSION1 Frisbee Sheffield Thema von Platons Symposion ist der Eros als Gegenstand der Reden von Teilnehmern am Gastmahl des Tragödiendichters Agathon. Unter den letzten beiden Rednern des Gelages sind Agathon selbst, der den Eros als den Gott preist, von dessen Schönheit alles Gute bei Menschen und auch Göttern stammt, und Sokrates. Dessen Darstellung des Eros beginnt mit einer Prüfung der vorangegangenen Rede des Agathon, geht dann jedoch über in die Erzählung eines Gesprächs zwischen ihm und der Seherin Diotima, in dessen Verlauf der Mythos von der Zeugung des Eros wegen der Verführung des betrunkenen Poros („Findigkeit“) durch Penia („Mangel“) auf der Geburtstagsfeier Aphrodites zur Sprache kommt. Eingeleitet wird diese Darlegung mit der Ankündigung, dass nun die Wahrheit über den Eros offenbart werden wird, eine Ankündigung, die in dieser Kühnheit als außergewöhnlich angesehen werden muss. Sokrates lief Gefahr, sich unangemessen zu benehmen, als er seine Rede mit der Behauptung begann, die anderen Bankettteilnehmer hätten nicht in erster Linie die Wahrheit im Auge gehabt (Symp 198d7–e6). Sie seien mehr damit beschäftigt gewesen, so zu wirken, als ob sie ein Loblied auf Eros sängen, als tatsächlich eines darzubieten. Die Sorge um den Anschein statt um die Wahrheit war es, die sie veranlasste, dem Eros alle möglichen Bestimmungsmerkmale anzudichten, ohne zu irgendeiner Klarheit über seine wirkliche Wesensnatur zu gelangen. Deren Bestimmung wird nur, wie sehr schnell deutlich wird, durch die Beachtung gewisser methodologischer Regeln und Unterscheidungen erreicht: dass nämlich zuerst die Eigenschaften von erōs dargestellt und anschließend seine Tätigkeit untersucht werden muss (199c mit 195a). Dieses Vorgehen tritt in dem Teil des Symposion, der in diesem Beitrag näher betrachtet werden soll, ein ums andere Mal deutlich zu Tage. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es eigentlich dieser Teil der Darstellung des Sokrates ist – Symp 201d1– 204c6 –, der die methodologische Herausforderung annimmt, wie das Wesen des Eros als des vorgegebenen Untersuchungsgegenstands zu bestimmen ist. Dieses Vorgehen widmet sich zuerst dem Elenchos des Agathon, dessen Rede (194e-197e) in dieser Hinsicht wohl als besonders herausstellenswert gelten kann, da Agathon zumindest versuchte, die Natur des Untersuchungsobjektes zu klären, bevor er davon ausgehend auf die segensreichen Wirkungen des Eros geschlossen hatte (199c). Dennoch herrscht hier noch zu viel Verwirrung über die genaue Natur des Eros. Agathon hatte behauptet, dass Eros von schönem 1
Übersetzung von Alexander Fischer und Christian Schäfer. Zuerst ist der Beitrag im englischen Original unter dem Titel „Symposion 201d1–204c6“ erschienen in: Horn [2012], 125–140. Die zitierten Passagen aus dem Symp und dem Men folgen der (revidierten) Schleiermacher-Übersetzung.
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Wesen sei und dass er das Schöne anstrebe (197b). Bei näherer Betrachtung scheint er auch zu glauben, dass Eros dasjenige fehlt, was er begehrt (200e1–5). Seine Vorstellungen sind jedoch inkonsistent. Beide, Agathon und Sokrates, bleiben bei der in allen Reden des Symp vorherrschenden Ansicht, dass Eros nach dem Schönen strebt. Dies führt zu dem vorläufigen Schluss, dass die Natur von Eros dergestalt ist, dass das Schöne fehlt, aber begehrt wird (201c). Zum Ende der Erzählung von der Geburt des Eros (204c6) wird dieser Gedanke wieder aufgegriffen, und zwar in einer Art und Weise, die deutlich macht, dass die Darstellung von 201d1–204c6 speziell von der Klärung der Natur von erōs her ihre Bestimmung erfährt. So beginnt dieser Teil der Darstellung mit der Einlösung des Versprechens, zunächst einmal die Natur des Untersuchungsgegenstandes zu ermitteln, bevor untersucht wird, wie er sich darstellt – eine Vorgehensweise, die, so möchte ich im Folgenden zeigen, genau der Auffassung des Sokrates davon entspricht, über den Eros „die Wahrheit zu sagen“.2 Es verbleiben gleichwohl zahlreiche Verwirrungsfragen, die sich um diesen Aspekt der Darstellung drehen. Sokrates fährt nämlich weder in elenktischer Weise fort, noch entscheidet er sich dafür, eine Rede von der Art zu halten, wie sie seine Vorredner geboten hatten. Stattdessen bringt er die mysteriöse Figur der Diotima ins Spiel, von der er offensichtlich einige Wahrheiten über erōs gelernt hat, als sie Sokrates einer prüfenden Unterredung unterwarf. Die Wiedergabe dieser Unterhaltung durch Sokrates hat die Form didaktischer Dialektik, in der Sokrates in einem Frage-Antwort-Spiel das durch seinen Gedankenaustausch mit Diotima Gelernte schildert. Darüber hinaus werden manche Teile als eine ‚ziemlich lange Geschichte‘ (makrologia) über die Entstehung und Geburt des Eros bezeichnet. Es ist nicht sofort klar, warum die Darstellungsweise diese Wendung nimmt, noch welcher Status ihr zugeschrieben werden sollte, wenn man bedenkt, dass sie als logos einer Figur präsentiert wird, die nicht anwesend ist und sich somit auch nicht weiter erklären kann. Zudem hat manches die Form eines mythos oder eben einer längeren Erzählung (makrologia, 203b1), doch ist dies eine Darstellungsweise, der sich Sokrates andernorts verweigert, da er sie mit der ununterbrochenen Darstellungsform bei den Sophisten vergleicht (Prot 334c–335c).3 Dieser Abschnitt stellt also nicht nur die Frage nach der unmittelbaren Rolle von Mythen und Erzählungen in Sokratesʼ Darstellung im Symp, sondern weitergehend auch nach deren Rolle in Platons Dialogen überhaupt. Unmittelbar nachdem Agathon zugibt, dass er eigentlich nichts über Eros weiß, gesteht Sokrates, dass es auch ihm so ging, bis er auf Diotima traf. Es gibt wenige Hinweise dafür, dass Diotima eine reale historische Figur ist. Eine Stützung der Ansicht, dass sie von Platon erfunden wurde, ergibt sich durch die vielfältigen Rückbezüge in der Rede des Sokrates auf die vorangegangenen 2
Diese Art der Untersuchung ist eine bekannte sokratische Methode; siehe hierfür beispielsweise La 190b7–c2, Men 71a5–b7 und Resp 354c1–3. 3 Makrologia wird von Aristoteles dem Gorgias zugeschrieben, Rhetorik 1418a36.
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Reden. Wenn wir glauben sollen, dass er den Inhalt seiner Rede von dieser Frau gelernt hat, muss sie tatsächlich eine Hellseherin gewesen sein, die offenbar den Inhalt aller Reden bei Agathons Symposion im Voraus gewusst hat.4 Aber wenn Diotima bloße Fiktion ist, warum wird sie dann eingeführt, warum an dieser Stelle und mit den besonderen Charakteristika, die ihr zugeschrieben werden? Sie ist eine Frau, eine Priesterin, eine Helferin Athens in der Zeit während der Pest und zudem ein weiser Mensch (201d3; vgl. 208c1). Noch rätselhafter ist außerdem, dass Sokrates, obwohl er seine Ausführungen als auf den Lehren Diotimas gründend darstellt (201d2), auch behauptet, damit gleichzeitig die Diskussion mit Agathon fortzuführen, und zwar auf Grundlage dessen, worin sie übereingekommen waren, mit der Begründung, dass auch er die Dinge behauptet habe, die Agathon jetzt sage, nämlich, dass Eros ein großer Gott ist und nach dem Schönen strebt (201e5). Und auch Sokrates wurde hier wiederlegt. Doch wenn Sokrates (vor seinem Treffen mit Diotima) und Agathon so viele gemeinsame Ansichten teilen: Warum fährt Sokrates dann nicht einfach mit dem Elenchos fort oder präsentiert geradeheraus seine Argumente für seine nachfolgenden Behauptungen? Die Tatsache, dass er dies nicht tut, erweckt möglicherweise den Anschein, dass er sich von diesen Wahrheiten distanzieren möchte, dass seine Weisheit in Form robuster Argumente zur Begründung seiner Behauptungen sich sozusagen erschöpft und er deshalb den deus ex machina, die weise Priesterin, benötigt. Aber das kann so nicht richtig sein. Ich hoffe im Folgenden zeigen zu können, dass Sokrates im weiteren Verlauf viele Argumente liefert und zum prüfenden Gespräch mit Agathon in 204c (mit 197b) in einer Art zurückkehrt, die zeigt, dass er weiterhin sehr darauf bedacht ist, die Diskussion mit Agathon fortzusetzen. Warum aber wird dann eine alternative Figur eingeführt? Warum begibt sich Sokrates in zwei Rollen: einmal in die Rolle des jugendlichen Sokrates vor den Unterweisungen durch Diotima und einmal in die des Sokrates nach Diotima, der sich als findiger im Suchen der Wahrheit herausstellt? Eine Untersuchung der Textsubstanz selbst und der Art der Interaktion des Sokrates mit Diotima wird Antworten auf diese Fragen bereithalten. 1. Sokrates füllt sowohl Agathons Rolle, der noch über den Status des Eros verwirrt ist, als auch die Rolle der gescheiten Diotima aus. Wenn Eros nicht im Besitz des Schönen ist, das er anstrebt, so fragt Sokrates vor der Aufklärung durch Diotima, bedeutet dies dann, dass er hässlich und schlecht ist (201e8–9)? Der von Diotima aufgeklärte Sokrates erläutert, dass es etwas zwischen diesen 4
Siehe weiter unten für die vielfältigen Rückbezüge auf Agathons Rede sowie die Bemerkung des Aristophanes in 212c5–6, die zeigt, dass er sich nicht von den einleitenden Worten der Rede in die Irre führen lässt, d.h. er hält die Rede gänzlich für eine des Sokrates.
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gegensätzlichen Möglichkeiten gibt – sozusagen einen Zwischenbereich, der anhand des Beispiels der „richtigen Meinung“ von Sokrates näher dargetan wird (202a5). So wie die richtige Meinung sich von Unwissen unterscheidet, da sie die Wahrheit trifft, und sich von Wissen unterscheidet, da ihm ein logos fehlt, befindet sich auch Eros in einem vergleichbaren Zwischenzustand in Bezug auf Schönheit und das Gute (202b1–2). Allerdings hilft uns diese Feststellung noch nicht, die Natur des Eros als Zwischenwesen zu klären. Alles, was die bisherigen Ausführungen soweit zeigen konnten, ist, dass etwas, das nicht gut ist, nicht zwingend gleich schlecht sein muss, da es noch eine andere Möglichkeit gibt. Jedoch bleibt unklar, warum wir diese Möglichkeit ergreifen sollten, statt mit dem Sokrates vor Diotima und Agathon anzunehmen, dass Eros hässlich und schlecht ist. Gründe hierfür werden erst später geliefert, sind aber bereits im gewählten Beispiel der richtigen Meinung angedeutet. Diejenigen, die die Weisheit begehren, stehen zwischen Weisheit und Unwissen, denn niemand, der bereits weise ist, philosophiert (204a1–2); der Weise begehrt nicht, was ihm nicht fehlt (dabei wird 204a6–7 ein Argument wiederholt, das schon früher, in 202d1–3, vorgebracht worden war). Auch philosophieren die Unwissenden nicht, denn sie werden ihrer fehlenden Weisheit nicht inne und beginnen daher gar nicht erst damit, diese Lücke schließen zu wollen (204a4–6). Doch Eros philosophiert und muss sich daher zwischen Weisheit und Unwissen befinden. Wenn wir dieses Argument auf all die guten und schönen Dinge hin ausweiten, die Eros begehrt (202c5 f.), haben wir eine weitere Voraussetzung für die Erklärung, warum Eros nicht das Gegenteil dessen sein kann, was er begehrt: „[Man] begehrt auch das nicht, dessen [man] nicht zu bedürfen glaubt“ (204a6–7). Wenn Eros sich im entgegengesetzten Zustand, dem vollständigen Mangel in Bezug auf das Gewünschte befände, dann hätte er weder Sinn für diesen Mangel, noch für irgendein Ziel, das als Ziel des Strebenden begriffen werden könnte. Insofern Eros also das Schöne und das Gute begehrt, scheinen ihm diese Dinge zu fehlen, aber nicht (wie bei den Unwissenden) in solch einer Weise, dass er nicht begriffe, dass sie ihm fehlen; er scheint sich also in einem Zwischenstatus bezüglich dieser Dinge zu befinden. Dieser Zwischenstatus wird nun genauer mithilfe einer einschränkenden Wendung gefasst, die für Lobreden durchaus ungewöhnlich ist. Da Götter alles Gute und Schöne besitzen, kann Eros kein Gott sein, da er nur in einem Zwischenstatus zu beidem verharrt; er ist vielmehr ein intermediärer daimōn.5 Seine Macht liegt in Folgendem:
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Eine solche Herabstufung im Status war in Lobreden eigentlich nicht üblich, siehe hierfür auch Isokrates Busiris, Nightingale [1995], 103; Aristoteles Rhetorik 1368a22–23. 26–9 und Rhetorica ad Alexandrum 1425b36–40 zu dem üblichen Vorgang der „Vergrößerung“, der charakteristischer für das Genre ist. Im Symposion zeigt dies, dass Sokrates – im Gegensatz zu seinen Mitunterrednern – die Wahrheit gegenüber dem rhetorischen Effekt privilegiert.
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Zu verdolmetschen und zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt, den einen Gebete und Opfer, und den anderen Befehle und Vergeltung der Opfer. In der Mitte zwischen beiden ist es also die Ergänzung, daß nun das Ganze in sich selbst verbunden ist. Und durch dies Dämonische geht auch alle Weissagung und die Kunst der Priester in bezug auf Opfer und Weihungen und Besprechungen und allerlei Wahrsagung und Bezauberung. Denn Gott verkehrt nicht mit den Menschen; sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses, sowohl im Wachen als im Schlaf. Wer sich nun hierauf versteht, der ist ein dämonischer Mann, wer aber nur auf andere Dinge oder irgend auf Künste und Handarbeiten, der ist ein gemeiner. Solcher Dämonen oder Geister nun gibt es viele und von vielerlei Art, einer aber von ihnen ist auch Eros (202e3–203a8).
Hier ergeben sich viele Fragen. Zunächst stellt sich die Frage danach, ob Platon, wie die Pythagoreer, eine eigene „Dämonologie“ hatte und, wenn dem so ist, welche metaphysischen Implikationen diese mit sich bringt.6 In der zitierten Textstelle wird deutlich gesagt, dass Gott „nicht mit den Menschen [verkehrt]“, so dass es gewissermaßen zwei verschiedenen Sphären gibt, die es nötig machen, dass es vermittelnde daimones gibt. Hier stellt sich dann wiederum die Frage, wie diese getrennten Sphären miteinander verbunden werden können. Traditionellerweise wurde das Prinzip „Gleiches zu Gleichem“, ein allgemeiner Grundsatz der antiken griechischen Philosophie, herangezogen, um zumindest eine Teilantwort auf dieses Problem zu geben: Der Mensch kann mit Gott in dem Ausmaß verkehren, wie er einen Anteil an der göttlichen Natur hat; er ist in gewisser Hinsicht wie ein Gott. In anderen platonischen Dialogen ist es die Seele, die Anteil am Göttlichen hat. Sie steht zwischen der diesseitigen Sphäre, an der sie Anteil hat, wenn sie in einem Körper ist, und der göttlichen Sphäre, der sie dank der steten Pflege ihres göttlichen Aspekts, nous, erfolgreich zustrebt. Im Timaios wird dieser noetische Teil der Seele daimōn genannt (Ti 90c). Da das Problem der Verbindung von göttlicher und endlicher Sphäre auch andernorts in Platons Dialogen zutage tritt, drängt sich die Frage auf, wie die für das Symposion eigentümliche Antwort – also die Dämonologie – sich zu dem übergeordneten Problem überhaupt und auch zu den anderen Antworten verhält, die Platon anderswo bereithält (z.B. im Timaios). Das Einklagen intermediärer daimones antwortet deutlich auf die Notwendigkeit einer Vermittlung. Doch wie verhält sich die Vorstellung von Eros als daimōn zu der weitverbreiteten Vorstellung von der Seele als Vermittlerin im pythagoreischen und platonischen Denken? Desweiteren: Wenn Eros als Vermittler das Menschliche mit dem Göttlichen verbinden soll, muss er dafür doch offenbar einen Anteil am Göttli6
Über den Zusammenhang von pythagoreischer und platonischer Dämonologie siehe Jensen [1966]. Jensen kommentiert die hier zitierte Passage wie folgt: „This succinct statement contains the essence of all later demonological theories, and is, furthermore, a direct rendering of the role imputed to the demons in the earlier Pythagorean school“.
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chen haben. In der Erzählung über die Geburt des Eros wird gleich noch zu sehen sein, dass er diesen Anteil tatsächlich hat: Von seinem Vater Poros (der selbst ein Gott ist) erbt Eros Eigenschaften, die dem Göttlichen zu eigen sind. Doch wenn wir die Erzählung von Eros und seiner Abkunft als eine Verbildlichung der Natur eines sterblichen, endlichen Verliebten verstehen sollen, wozu wir durchaus ermuntert werden (204c2–6, v.a. 204c5–6), wie ist dies alles dann für Sterbliche, die begehren und demgemäß handeln,7 zu verstehen? Welcher Aspekt, oder welche Aspekte, eines handelnden Menschen sind göttlich? Es ist dabei bemerkenswert, dass die Seele als solche im Symposion nicht als unsterblich angesehen wird. Dies erklärt vielleicht, warum es nicht die Seele ist, der die Rolle als Vermittlerin zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen zukommt. Später wird uns im Lauf der Darstellung mitgeteilt, dass Schwangerschaft und der Akt des Gebärens „göttliche Sache[n] und in dem sterblichen Lebenden etwas Unsterbliches“ sind (206c). Zudem wissen wir da schon, dass dies das charakteristische Werk (ergon) von erōs oder von endlichen Wesen als begehrenden Handelnden ist (206b1). Alle menschlichen Wesen sind gewissermaßen schwanger in Körper und Seele und verlangen, nachdem sie ein gewisses Alter erreicht haben, wesensgemäß danach zu gebären (206c). Alle Menschen haben auf diese Weise Anteil an etwas Göttlichem. Der Fokus der Darstellung liegt auf der Art, wie diese charakteristischen Beschäftigungen von erōs – Schwangerschaft und Geburt – es dem Menschen erlauben, einen Anteil an der Unsterblichkeit zu erlangen. Also ist erōs etwas, das den Menschen in vielfältiger Weise, je nach der Art von Schwangergehen und der gewählten Weise zu gebären,8 erlaubt, zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen zu vermitteln. Schwangerschaften und andere Hervorbringungsmöglichkeiten verschiedener Art (z.B. für Kinder oder Weisheit und die anderen Tugenden im Falle der Seele) sind der göttliche Aspekt im Menschlichen. Aber es ist Vorsicht geboten, bevor ein Keil zwischen die allgemeinere Vorstellung von der Seele als Vermittlerin und der Idee, dass erōs hier vermittelt, getrieben wird. Denn erōs ist ein seelisches Phänomen. Wie wir in Kürze in größerer Ausführlichkeit sehen werden, ist erōs die treibende Kraft der Seele hin zum Guten (206a1). Darüber hinaus wird im Text nahegelegt, dass es eine kontemplative Aktivität von genau der Art ist, die anderswo den nous charakterisiert, die es der Seele als erotischer erlaubt, ihre Rolle als Vermittlerin am besten auszuüben. Die charakteristischen Aktivitäten von erōs – Schwangerschaft und Geburt – ermöglichen es erōs, einen Anteil an Unsterblichkeit zu erreichen, und so gelten auch insbesondere diejenigen, deren Seele mit „Weisheit und Tugend“ schwanger geht und die diese Weisheit in der Betrachtung der Idee des Schönen entwickeln, als unsterblich und werden „von den Göttern geliebt“ (212a6). Dies legt nahe, dass es auch eine noetische Aktivität eines 7
Im englischen Original: „mortal desiring agents“, 129. Vgl. dazu den Artikel von C.D.C. Reeve: Plato on Begetting in Beauty (209e5-212c3), in: Horn, Christoph (Hrsg.) [2012]: Platon Symposion.. Berlin 2012, 159-189. 8
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bestimmten Typs ist, die, ähnlich wie im Timaios, es der Seele erlaubt, zwischen der endlichen und der göttlichen Sphäre zu vermitteln. Es gibt also keine Unvereinbarkeit von der geläufigeren Auffassung von der Seele als Vermittlerin des Göttlichen und der Vorstellung von erōs als Vermittler des Göttlichen im Symposion. Angesichts der nachfolgenden Textpassagen und der Anwendung der Darstellung auf sterbliche Handelnde, erweist sich erōs als von der Seele ununterschieden. Die Vorstellung von erōs kann somit als eine genauere Bestimmung dessen angesehen werden, wodurch die Seele ihre Vermittlerrolle ausführen kann, und bietet eine genauere Darstellung dieser Vermittlerrolle (als in Form einer gestalterischen Leistung von einer bestimmten geistigen Art). Da diese (kontemplative) geistige Tätigkeit an anderer Stelle mit dem nous assoziiert wird, scheint damit auch vorausgesetzt, dass es der nous ist, der es uns erlaubt, uns dem Göttlichen anzugleichen und „von den Göttern geliebt“ zu werden; anders gesagt: Die Voraussetzung des nous, hier und anderswo, entspricht dem Axiom von „Gleichem zu Gleichem“. Nach dieser Lesart ist die Seele eine Vermittlerin vermöge des erōs und der beste Ausdruck dieser vermittelnden Aktivität ist es, an der dem Göttlichen eigenen Kontemplation teilzunehmen. Dies lässt eine Nähe zu dem Gedanken erkennen, dass die Seele ein daimōn ist, und eine Verbindung zum Göttlichen also ermöglicht wird, wenn ihr noetischer Aspekt angemessen entwickelt ist (Ti 90a).9 Viele der vorhergehenden Annahmen können erst dann auf eine feste Basis gestellt werden, wenn spezifischere Fragen zum ‚dämonischen‘ Wirken des Eros ihre Antwort erfahren haben. Was ist die ausdeutende Tätigkeit, für die Eros, und somit die Menschen, insofern sie Begehren, zum Teil verantwortlich sind? Welches sind die ‚Riten‘, auf die in Platons Text Bezug genommen wird? Wie funktioniert das Verbinden der Sphären und was genau verbindet Eros? Die Sprache der Textstelle deutet auf einen Aufstiegsvorgang, einen gestuften Erkenntnisprozess hin, und bietet somit eine Darstellung der dem erōs eigentümlichen Riten (teletas, 202e3–8, mit ta telea kai epoptoka in 210a1). All das führt zur Berührungsaufnahme mit der göttlichen Idee des Schönen (211d1–3). Derjenige, der diesen Aufstiegsvorgang gänzlich bewältigt, kommuniziert mit dem Göttlichen und dem gebührt, von den Göttern geliebt zu werden (212a5–6). Da solche Riten von den sterblichen Einzelheiten weg hin zu den göttlichen Ideen führen, wird angedeutet, dass die verbindende Tätigkeit (202e6–7: syndedesthai) sich in der Tätigkeit des Philosophen manifestiert, der sich den 9
Dies ist eine Weiterentwicklung pythagoreischen Gedankenguts. Das Ziel der pythagoreischen Praktiken war es, den inneren daimōn zu erkennen oder durch Selbstreinigung und Kontemplation ein daimōn zu werden. Zur pythagoreischen Vorstellung siehe Detienne [1963]. Jensen [1966], 78, Nr. 4, schlägt vor, Diotima als „orphische“ Priesterin anzusehen, was durchaus mit ihrer lobenden Erwähnung pythagoreischer Lehren an dieser Stelle zusammenhängen mag: „Plato is very careful never to espouse openly the doctrines he seems to owe to the Pythagoreans“; als Belege zitiert er die Vorstellung der Seele als Harmonie im Phd, der Resp 524 ff. und im Ti.
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göttlichen Ideen annähert und die endlichen Einzelheiten in ihrem Licht erkennt, um so zu verstehen, dass das Ganze mit ihnen in Verbindung steht (210c4–5). Wenn man die beiden Textpassagen nun miteinander verbindet, wozu der sprachliche Duktus durchaus einzuladen scheint, ist die Vorstellung von Interesse, dass es die eigentümliche Funktion von erōs ist, wieder zurückzukehren und eine Vermittlung von den Göttern hin zu den Menschen zu vollführen. Dies ist ein entscheidender, doch in der Forschung zumeist unbeachteter, Punkt für diejenigen, die für eine inklusive Lesart bezüglich des Erkenntnisaufstiegs plädieren: als eines Aufstiegsvorgangs, der es dem Philosophen zur Aufgabe macht, sich nach der Begegnung mit den göttlichen Ideen wieder mit der menschlichen Sphäre zu beschäftigen.10 Dieser Rückbezug wird zusätzlich durch die Vorstellung von erōs als Interpret und Vermittler zwischen göttlicher und endlicher Sphäre und wieder zurück betont. Wenn also, wie nahegelegt wird, die Rede vom Erkenntnisaufstieg jemanden vor Augen führt, der den erōs einlöst, dann muss dieser jemand auch Dinge von den Göttern zu den Menschen vermitteln können. Da dies nur möglich ist, nachdem es den Kontakt mit den göttlichen Ideen auf der höchsten der Erkenntnisstufen gab, wenn der Philosoph also als „von den Göttern geliebt“ angesehen wird, läuft das Ganze offenbar darauf hinaus, dass eine solche Person wieder zurück in die endliche Sphäre muss, um die endlichen Einzeldinge im Lichte der göttlichen Ideen zu deuten. Das Ganze – die Sphäre der endlichen Einzeldinge und die göttlichen Ideen – wird in einem Zustand des Verstehens zusammengebracht und kann von dort her zurückkommend den Menschen vermittelt werden. Dass Vermittlungsteilhabe die Art und Weise ist, in der dies zum Ausdruck kommt, wird durch die Charakterisierung des Eros als eines Übersetzers, der zwischen Göttern und Menschen verdolmetscht, nahegelegt. Außerdem erlaubt das zu begreifen, warum Diotima einige ihrer spezifischen Charakterzüge besitzt: Als Seherin mit einer besonderen Verbindung zum Göttlichen und dem Wissen über die richtigen Riten, in denen erōs seine Rolle wahrnimmt, zeigt sie genau die Eigenschaften, die weiter oben herausgestellt wurden und bietet die besten Voraussetzungen, um die großen Rätsel um den daimōn Eros zu lüften. Möglicherweise spiegelt ihr eigenes Wirken bereits die vermittelnde Tätigkeit des erōs in der Rückkehr von den Göttern zu den Menschen. Wenn dem so ist, so bedeutet dieses Wirken zum Teil auch, andere von der eigentlich erotischen Handlungsart zu überzeugen, genauso wie Sokrates (212b5). In anderen Worten: Das Wirken von erōs schließt die Rückkehr aus der göttlichen Sphäre in die endliche genauso ein wie die sich daran anschließende Aufgabe, die Menschen zu erziehen, die anerkennen sollen, wie „das Ganze miteinander verbunden ist“. Sollte jemand besorgt sein, dass die Darstellung eines erōs, dessen Aufgabener10
Ich beziehe mich hier natürlich auf das, was als Vlastos-Problem größere Bekanntheit erlangt hat – durch seinen Artikel The Individual as an Object of Love, in Vlastos [1981], und die vielfältigen Antworten auf diesen Aufsatz, z.B. von Nussbaum [1986], 165–195; Kosman [1976], 53–69; Price [1989], 15–54.
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füllung in der Betrachtung der göttlichen Idee liegt, das Leben anderer nicht bereichert, sollte er diese Textpassage beachten, die die rechtverstandene Aufgabe von erōs skizziert. Angesichts der Ähnlichkeiten zwischen diesen dämonischen Praktiken und der Diotimafigur ist es naheliegend, dass die Fürsorge und Hingabe von Diotima als Führerin des Sokrates den erōs abbildet, der sich von den Göttern zu den Menschen zurückarbeitet.11 Obwohl diese Passage in Debatten um Auslegungsfragen entscheidend sein mag, so wird damit doch noch nicht klar, wie erōs sich am besten im Streben nach dem Göttlichen kundgibt, noch warum die Aufstiegsriten, die hier insgesamt nur angedeutet werden, der beste Ausdruck dieser Tätigkeit sein sollen. Argumente hierfür folgen später, sobald ein besseres Verständnis der Ziele und der Tätigkeit von erōs (205d f; 206b1 f.) erreicht ist. Warum jedoch erōs so einzigartig für die Verbindung des Ganzen mit sich selbst ist – gemeint sind damit, so verstehe ich es, die göttliche und endliche Sphäre – wird erst in der aitiologischen Erzählung geklärt, die auf seine Beschreibung folgt (203b1– 204c6). Laut dieser Erzählung wurde Eros als Resultat eines Mangels gezeugt von seiner Mutter Penia, die diesen Mangel sowohl erfahren musste als auch personifiziert, da sie zu einem Fest der Götter nicht eingeladen wurde, und dem findigen Poros, dessen Natur implizit als göttlich beschrieben wird (203b2–3). Dank seiner Mutter ist Eros bedürftig, doch dank seinem Vater ist Eros auch ein findiger Intrigant, um das zu erlangen, woran er Mangel hat (203d4–7). Als Folge davon ist er weder sterblicher noch unsterblicher Natur, doch lebt und gedeiht er, wann immer sich ihm das Erforderliche eröffnet, was ihm aber auch immer wieder entgleitet. – Dennoch kann er aufgrund der göttlichen Natur seines Vaters immer wieder ins Leben zurückkehren (203e3). Diese gemischte Abstammung beschreibt den Sinn, in welchem Eros als zwischen dem Endlichen und dem Unsterblichen stehend begriffen wird, und erklärt seinen Zwischenstatus. Der Mangel an Gutem und Schönem ist typisch für Sterbliches, aber der Einfallsreichtum, der es uns möglich macht nach dem Guten und Schönen zu streben (203d4) und die Lücken zu füllen, ist charakteristisch für etwas Göttliches in uns (siehe 206d für die Darstellung eines göttlichen Elements in uns). Das Schwanken des Eros zwischen den Eigenschaften legt nahe, dass begehrende Akteure zuerst die eine und dann die andere Eigenschaft an den Tag legen: Das zur Verfügung Gestellte (to porizomenon) verbleibt nicht lang genug, um behaupten zu können, es mache die begehrenden Akteure reich (ploutei), und doch verbleibt auch der Zustand des Mangels nicht lang genug, um zu behaupten, dass einer arm sei (aporei, 203e f). Der Zwischenzustand ist dann also kein Zustand zwischen zwei Extremen, so dass etwas weder das eine noch das andere wäre; auch hat es nicht gleichzeitig an beiden Extremen teil. Eros, 11
Vgl. den Euthyph, der die These durchgeht, dass Frömmigkeit einem Dienst an den Göttern entspricht (13d7), eine Tätigkeit, die einige mit der Beschreibung des Sokrates von seinem philosophischen Auftrag in der Ap (30a) als Dienst an den Göttern in Verbindung gebracht haben.
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und damit implizit alle begehrenden Akteure, befindet sich in einem Zwischenzustand in einem dynamischen Sinne, so dass er zwischen den Charakteristika seiner Eltern schwankt, einmal arm ist, ein andermal reich und so weiter.12 So ist erōs also ein Zustand der Bedürftigkeit und dennoch des produktiven Strebens nach den guten und schönen Dingen, die uns fehlen und die wir begehren. Die Erzählung löst das Versprechen ein, zu erklären was erōs also ist und wie er ist (201e1): Eros ist ein zwischenzuständlicher daimōn und als solcher ein Gemengsel des Begehrenden und des Findigen. Dies klärt einige der Fragen, die sich aus dem Elenchos des Agathon ergaben. Wenn begehrende Akteure begehren, was ihnen fehlt, können sie sich nicht im Zustand des Reichseins befinden, den Agathon beschrieben hatte (203c7 mit 195c6–196a1, besonders 197d7); andernfalls glichen sie nämlich dem schlummernden und trägen Poros aus der Erzählung. Doch trotzdem erōs das fehlt, was begehrt wird, hat er eine Ahnung davon, wie eine Behebung des Mangels zu bewerkstelligen sein könnte (so wie Penia, die den Geschlechtsverkehr mit Poros einleitet) und strebt somit in einer förderlichen Weise nach den ermangelten guten und schönen Dingen. Die Tatsache, dass Sokrates behauptet, seine Erzählung beschreibe das Wesen des Liebenden (204c2–6, v.a. 5–6) und korrigiere die Fehler aus Agathons Darstellung (204c2–3), lädt dazu ein, sie als Bestandteil seiner Gesamtdarstellung zu deuten. Dies wird später zusätzlich bestätigt durch die zahlreichen Parallelen zwischen Sokrates und Eros im Loblied des Alkibiades, das er auf Sokrates anstelle von erōs anstimmt.13 Darüber hinaus können wir hier sehen, wie die Fragen nach dem ti esti (Eros ist ein daimōn) und anschließend nach dem poios tis (er ist eine Mischung aus begehrend und findig) geklärt werden. Sterbliche als begehrende Akteure haben also eine Zwischennatur, einen intermediären Status zwischen dem Endlichen und dem Unsterblichen, was bedeutet, dass wir findige, strebsame Mangelwesen sind, menschlich in unseren Defiziten und doch fähig, das Göttliche anzustreben mit unserer mächtigen Findigkeit. 2. Die Bedeutung der Erzählung von der Geburt des Eros ist tiefgründig. Die Erzählung leitet die beiden Seiten von erōs von seinen Eltern Penia und Poros ab und legt nahe, dass erōs somit zwei Aspekte aufweist. Erstens gibt es die Erfahrung des Mangels, verkörpert durch Penia: „Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt“ (204a6–7). Die Erfahrung des Mangels gehört zum Ursprung von erōs, was dadurch illustriert wird, dass es Penia ist, die auf den schlafenden Poros zugeht (vgl. auch das Argument, das Agathons Elenchos in 200e2–5 aufbietet). Penia sieht Poros also als etwas, oder in diesem Falle als jemanden, der ihren Mangel beenden 12
Für weitere Ausführungen zur Vorstellung des Intermediären vgl. Lys 216c, Prot 351d, Grog 467d468c. Siehe auch Frede [1993], 397–402. 13 Für Beispiele siehe Sheffield [2006], 187–188.
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kann. Es wird später deutlich herausgestellt, dass das, was etwas (oder hier jemanden) so erscheinen lässt, als kalon oder agathon bezeichnet und auch als solches begehrt wird (201a8–10, b6–7, c4–5, 202d1–3). So also ist der Teil von erōs, der in der Erzählung von Penia abgeleitet ist, verantwortlich für das Erkennen eines Mangels und für das Erkennen des Mittels, das diesen Mangel beenden könnte. Dies ist etwas, was man als wohlinformierte Mangelempfindung bezeichnen könnte, versinnbildlicht in Penia, die einem Planschema nachgeht (in der Geschichte: ein Kind mit Poros zu zeugen), um ihren Mangel zu beenden (203b7). Es ist ein Zustand, in dem ein Mangel bewusst wird, das Fehlen von etwas Bestimmtem oder Festgelegtem, das irgendwie als kalon oder agathon wahrgenommen wird. Zweitens gibt es den Anteil, der durch Poros bedingt ist. Er ist hauptsächlich als ein überlegender Geist beschrieben. Poros „stellt [...] dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgendwelche Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist [...]“ (203d4–8). Poros ist in der Lage, die Mittel für Penias Zwecke zu finden und zur Verfügung zu stellen (to porizemenon, 202e2–3). Also ist die Seite des Begehrens, für die Poros verantwortlich ist, eine überlegend beratende. Die Erfahrung der wohlinformierten Mangelempfindung ruft eine Überlegung hervor, die versucht, das probate Mittel zu finden, um dem Mangel zu begegnen. Dies wird in der Darstellung später noch deutlicher, wenn Sokrates das Verb euporein und verwandte Wörter hernimmt und es auf begehrende Akteure anwendet, die versuchen, ein gutes Mittel zur Beendigung ihres Mangels zu finden (208e4–5; 209b8). Solche Einzelheiten machen deutlich, dass die Erfahrung von erōs nicht nur in einer Mangelerfahrung besteht; es ist vielmehr ein komplexer Zustand, der aus den eben beschriebenen beiden Seiten besteht, deren eine einer abwägenden Komponente zu entsprechen scheint (203d4: erōs ist ein Pläneschmied), die Mittel zur Befriedigung des anfänglich in Bewegung setzenden Begehrenszustands besorgen soll. Bestandteile dieser Darstellung werden sich als zentral für den Gedanken des Sokrates erweisen, dass erōs für einige nützliche Zwecke verwendet werden kann. Wenn es keine wertenden Urteile bei erōs gäbe – keine Wahrnehmung einer Sache oder Lage als kalon oder agathon –, dann hätte die philosophische Praxis nichts, womit sie in ihrem Bestreben, diese Erfahrung zu lenken oder darüber zu unterrichten, arbeiten könnte. Jeder erōs beinhaltet eine urteilende Aktivität; oder, anders gesagt: Niemand erfährt überhaupt erōs für etwas, sofern dieses nicht auch als in irgendeiner Weise gut oder schön aufgefasst wird. Da Tiere später in der Darstellung ebenfalls hinzugezogen werden (207b7), können wir davon ausgehen, dass es sich hier um keinen besonders komplizierten kognitiven Akt handelt (im Timaios wird gesagt, Tiere verfügten über doxa: Ti 77a– c). Der hervorstechende Punkt hier aber ist, dass diese kognitive Komponente von erōs auch die Möglichkeit eines Fehlurteils miteinschließt, was spätestens bei der Darstellung der Hierarchie der schönen Objekte durch Sokrates, von denen manche wertvoller sind als andere, wichtig wird. Wenn ein Akteur x
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begehrt, weil es in irgendeiner Weise als schön wahrgenommen wird, und es nicht bloß das Begehren ist, das es dazu macht, dann hat ein Akteur einige Mühe in die Entdeckung der Dinge zu investieren, die wirklich begehrenswert und anzustreben sind. Dies ist eine der antreibenden Voraussetzungen für den Erkenntnisaufstieg.14 3. Ein Hinweis auf diese Gedanken, die später näher erläutert werden, findet sich in der bemerkenswerten Behauptung, mit der die aitiologische Erzählung über Eros endet. Es wird hier behauptet, dass Eros ein Philosoph sei (204b2–4; vgl. 203d4–7), was darauf zurückgeführt wird, dass Eros sich mit dem Schönen beschäftigt (204b3) und Weisheit eines der schönsten Dinge sei (204b2–3). Also ist Eros ein Philosoph. Die Behauptung, dass Eros Weisheit zu erlangen versucht, erlaubt es uns zu behaupten, dass eben diese Weisheit eine der wichtigsten Aktivitäten von erōs ist, aber nicht notwendig die einzige. Genauso wie es andere schöne Dinge neben der Weisheit geben kann – Weisheit wird nur unter die schönsten Dinge gezählt – mag es also, abseits des philosophischen erōs, auch andere Formen von erōs geben.15 Doch die Argumentation beruht auf einer besonders starken Verbindung zwischen Schönheit und erōs. Zudem ist es von Bedeutung, dass etwas, wenn es als schön erscheint, begehrenswert ist, und zwar so, dass das Wahrnehmen von Schönem hinreichend, und nicht nur notwendig, für die Erklärung von erōs ist. Aufgrund dieser Feststellungen zeigt sich das Argument nun also wie folgt: Wenn x als schön wahrgenommen wird, dann begehrt Eros es; Weisheit wird als etwas unter den schönsten Dingen wahrgenommen, also begehrt Eros Weisheit. Wenn Weisheit begehrt wird, weil sie eines der schönsten Dinge ist oder sich unter den schönsten Dingen befindet, dann scheint es eine Korrelation zwischen dem Grad der wahrgenommenen Schönheit einer Sache und dem Grad an erōs, der für diese Sache erfahren wird, zu geben. Somit ist Eros um das Schöne bemüht (204b3); je schöner das Objekt ist, desto begehrenswerter erscheint es für Eros; und Weisheit ist eines der schönsten Dinge (204b2–3); Eros ist also ein in höchstem Grade weisheitsliebender. Dies weist in die Richtung der zentralen Idee der Darstellung vom Er14
In einer Hume’schen Perspektive, in der Dinge schön oder gut erscheinen, weil wir sie begehren und nicht anders herum, wäre keine rationale Entscheidung zwischen desiderata als solchen möglich. Der Vernunfteinsatz spielt erst dadurch eine Rolle, dass man der eigenen Präferenzen inne wird, und nicht im Wählen zwischen ihnen. Das ist die Möglichkeit, die sich hier eröffnet. 15 Ich deute tôn kallistôn in 204b2–3 als Genitivus partitivus und nicht als Genitivus obiecti, so dass Weisheit „unter die schönsten Dinge“ fällt statt die „der schönsten Dinge“ zu sein. Der Argumentationsgang erfordert den partitiven Genitiv, da nur so die Verbindung eines allgemeiner aufgefassten erōs bezüglich des Schönen mit Weisheit hergestellt wird.
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kenntnisaufstieg, wo wir erfahren haben, dass aller erōs, der den Namen auch verdient, im erōs bezüglich der Idee des Schönen gipfelt, die der einzig wahre und uneingeschränkt schöne Ausrichtungsgegenstand ist. Sokrates hat nun über die Anziehungskraft hin zum Schönen eine Verbindung zwischen erōs und Weisheit hergestellt und fährt fort zu erklären, wie sich die in der Eros-Erzählung dargestellten Aspekte des Wesens von erōs in diesem Streben manifestieren. Da sich Eros nun sowohl im Zustand eines Mangels, als auch der planvollen Findigkeit gegenüber den Dingen befindet, die ihm fehlen und die er begehrt, und Weisheit zu den schönen Dingen gehört, die er begehrt, muss Eros eine Zwischenposition in Bezug auf die Weisheit und das Unwissen im Besonderen innehaben (203e3–5). Für diese Behauptung gibt es eine Begründung: Diejenigen, die philosophieren, sind jene, die zwischen Weisheit und Unwissenheit stehen, im Gegensatz zu den Göttern, die weise sind (204a1–2), oder den Unwissenden, denen nicht klar ist, dass ihnen Weisheit fehlt (204a3– 7). Niemand der bereits weise ist, philosophiert, denn er begehrt ja nicht etwas, woran es ihm nicht mangelt (204a6–7 und 202d1–3). Auch philosophieren die Unwissenden nicht, denn sie wissen ja nicht, dass ihnen Weisheit fehlt, weshalb sie auch nicht danach streben, diese Lücke zu schließen (204a4–6). Eros ist „sein ganzes Leben lang philosophierend“ (203d7). Also befindet Eros sich zwischen Weisheit und Unwissen. Dieser Zwischenzustand wird nun in der Erzählung durch die ererbten Eigenschaften seiner Eltern näher ausgeführt: [...] Eros [ist] notwendig weisheitsliebend [...] und also, als philosophisch, zwischen den Weisen und Unverständigen mitteninne steh[end]. Und auch davon ist seine Herkunft Ursache; denn er ist von einem weisen und wohlbegabten Vater, aber von einer unverständigen und dürftigen Mutter (204b4–6).
Poros steht sprachlich und konzeptuell in direktem Zusammenhang mit euporia (204b6, 203d7); ähnlich steht Penia im Zusammenhang mit aporia (203b9, 204b7). Aus dem vorhergehend beschriebenen Schwanken zwischen diesen Zuständen lässt sich ableiten, dass Eros zumindest vorübergehend die Eigenschaften seiner Mutter aufweist – aporia –, um dann wiederum die seines göttlichen Vaters an den Tag zu legen – euporia –, dann wieder die seiner Mutter und so weiter. Für einen mit Platons sogenannten Sokratischen Dialogen vertrauten Leser klingt dies tief sokratisch. Zumindest die starke Assoziation mit aporia beim platonischen Sokrates ist jedem Leser der Sokratischen Dialoge klar, denn in ihnen stellt aporia typischerweise eine Voraussetzung für den Fortschritt im Philosophieren dar. Doch hier ist Vorsicht geboten. Wenn Sokrates hier eine dem Stand seiner eigenen Argumententwicklung entsprechend allgemeine Darstellung des Eros als Philosoph bietet, dann sollte es eine Darstellung sein, die auf alle zutrifft, die sophia als eines der schönsten Dinge, der kallista, wertschätzen. Das Publikum, vor dem Sokrates seine Darstellung entwickelt, besteht aus der geistigen Elite der Zeit; alle seiner Zuhörer würden für sich beanspru-
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chen, die Weisheit als eines der schönsten Dinge wertzuschätzen. In der Tat erwähnen viele von ihnen Weisheit und Philosophie in ihren Reden (siehe zum Beispiel Pausanias 182b7–c2, 184d1; Eryximachus 187c4–5; Agathon 196d5– 6). Um solche Charaktere aus den Rängen der Philosophen auszusondern, bedarf es einer Erklärung, was Weisheit ist, wie ein Mangel in diesem Bereich wahrgenommen wird und wie dieser Mangel schließlich behoben werden kann. Erst wenn dies durch den Erkenntnisaufstieg geglückt ist, lassen sich das Expertenwissen des Eryximachus oder die rhetorische Brillanz des Agathon als Kandidaten dafür ausschließen. Da die Darstellung zu diesem strengeren philosophischen Sinne führen wird und die Sprache von aporia und euporia so suggestiv in ihrem sokratischen Beiklang ist, wird sich die Überlegung lohnen, wie diese Phänomene in das sokratische Philosophieren einzubinden sind. Für den Sokrates vieler platonischer Dialoge beginnt das Philosophieren typischerweise mit der Erfahrung von aporia.16 Wir müssen aporia nicht exklusiv als Technik im Elenchos verstehen, aber in vielen Dialogen ist es genau diese Prozedur, die sicherstellt, dass all die, die nach Wissen suchen, auf ihre Defizite aufmerksam gemacht werden, in der gleichen Art wie auch die Wirkweise von Penia in der Eroserzählung gezeichnet wird.17 Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Elenchos mit Agathon und der berichtete Elenchos mit Diotima die Ausgangspunkte für Sokrates’ eigene Untersuchung der Natur des erōs bilden. Jemand, der die Kenntnis von einem ihn betreffenden Mangel hat, wie Penia in der Erzählung, muss ein Bewusstsein haben, was fehlt, und jeder Versuch, der es unternimmt, diesen Mangel zu beheben, steht unter der Maßgabe dieses Bewusstseins. Das wird typischerweise durch eine elenktische Erfahrung hervorgerufen. So war es beispielsweise die elenktische Erfahrung des Sokrates mit Diotima, die, so jedenfalls der Eindruck, die Erfahrung des Agathon spiegelt, welche nicht nur zum Innewerden eines Mangels führte, sondern auch zur punktgenauen Behebung dieses Mangelzustands: nämlich einer Klärung des Status von erōs in Bezug auf die Dinge, die ihm fehlen, wie das Schöne. Es war diese ‚wohlinformierte Selbstwahrnehmung ‘, die zu dem euporetischen Schluss auf den Zwischenstatus von erōs zu solchen Dingen führte.18 Dies wiederum deutet darauf hin, dass aporia nicht bloß aus Rätselhaftem besteht, auch wenn das für ihr Zustandekommen ein elementarer Bestandteil ist; vielmehr ist aporia ein Bewusstsein eines Mangels, vielleicht ausgelöst durch eine bestimmte Un16 Siehe Ap 21c7–8; La 200a; Charm 166c–d. Vgl. auch Alkibiades’ Beschreibung der sokratischen Prozedur in diesem Dialog, 216a5, und Sokrates’ selbstironische Haltung am Anfang des Dialogs (175e2–4). 17 Siehe z.B. Prot 361c, Lys 222c, La 200e. 18 Die Tatsache, dass die von Penia ererbte Erfahrung ein Zustand des informierten Bewusstseins ist, das die Suche nach Lösungen leiten kann, lässt sich durch die positive Beschreibung von ihr als ‚einem Plan nachgehend‘, um sich ein Kind von Poros zeugen zu lassen, begreifbar machen. Sie scheint sehr deutlich zu wissen, was sie zu tun hat, um ihr Ziel zu erreichen.
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gereimtheit, und motiviert dazu, diesen Mangel zu beseitigen – was für Akteure gilt, die ein Gespür für die Schönheit dessen haben, was ihnen fehlt. Wenn das Bewusstsein eines Mangel an solcher Weisheit entsteht, das heißt einer Weisheit, die einer elenktischen Überprüfung standhält, aber diese Weisheit nicht als eines von den kallista wahrgenommen wird, dann ist das nach dieser Darstellung keine ausreichende Motivation, um einen Akteur zum Handeln zu bringen, oder, im Erzählbild: um Penia auf ihren Poros anzusetzen. Deshalb vielleicht musste Sokrates den Agathon-Diskurs ab dem bewussten bestimmten Punkt der Erläuterung hinter sich lassen und sich in einen aporetischen Sokrates und ein euporetisches alter–ego in Gestalt von Diotima aufteilen. Die Weisheit, die Agathon schätzt, ist eine von der Art, wie sie gerne vor Tausenden von Leuten im Theater und im rhetorischen Einfallsreichtum bei diesem Symposion zur Schau gestellt wurde; nichts weist darauf hin, dass er Weisheit in der Weise wertschätzt, wie Sokrates sie versteht. Dies mag erklären, warum Agathon aus dem fortlaufenden Elenchos eigentlich ausscheidet und warum Sokrates dadurch gleichzeitig sein Gespräch mit ihm in einer Weise fortführt, die mehr dem Empfindungsvermögen seines Gesprächspartners entgegenkommt. Die von Poros ererbten Charaktereigenschaften stehen in Verbindung mit der Fähigkeit Pläne zu schmieden und die Mittel dafür aufzutreiben, das Wissen, von dem man weiß, dass es einem fehlt, zu erlangen. Wie äußert sich dies nun jedoch insbesondere beim Philosophieren? Gleich seinem Vater jagt Eros „dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgendwelche Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist“ (203d4–8). Dank seinem Vater hat Eros epiboulia, ein gutes vernünftig abwägendes Geschick, das ihn befähigt, das Wissen zu erlangen, das ihm fehlt. Diejenigen, die Weisheit begehren, sind nun intermediär in dem Sinne, dass ihnen Weisheit fehlt und sie sich darüber bewusst sind (aporia), dass sie jedoch auch Mittel in ausreichendem Ausmaße besitzen, um schlau beim Erlangen von Weisheit sein zu können (euporia) – sie können Pläne schmieden, um entsprechendes Wissen zu erlangen. Eros schwankt also nicht in einer Art zwischen den Gegensätzen von Weisheit und Unwissenheit, die bedeuten würde, dass, selbst wenn ihm Weisheit zur Verfügung stünde, sie bei ihm ins Schwanken geraten würde. Vielmehr schwankt Eros zwischen einem Zustand des Bewusstseins von einem Mangel und der Findigkeit, die es ihm erlaubt, diesem Mangel entgegenzuwirken. Dies ist etwas, das – so im Wortsinne der Erzählung von Poros und Penia genommen – aus der Ausgangserfahrung des Mangels geboren wird. In anderen Worten: Je größer die Klarheit über das, an dem es mangelt, desto größer die findige Schlauheit. Es ist an dieser Stelle noch nicht klar, wie das Wissen, wie man an Weisheit gelangt, aussieht. Aber da das erste Beispiel für einen Zwischenzustand der zwischen Weisheit und Unwissenheit war und da dies erforderte, dass das Wissen mit dem Haben von logos einhergeht, liegt es nahe, dass das Bewusstsein des Mangels an Weisheit auch das Bewusstsein des Mangels an einem
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bestimmten logos sowie den Versuch miteinschließt, geeignete logoi aufzuspüren und sich anzueignen. Vielleicht ist es genau das, was das Philosophieren „beschaffen“ kann (203e3–4). Es ist tatsächlich später im Text so, dass das weitere Streben nach Weisheit im Erkenntnisprozess die Aneignung von zahlreichen logoi mit sich bringt.19 Da aber gesagt wird, dass das „was er sich schafft, [...] ihm immer wieder fort [geht], so daß Eros nie weder arm ist noch reich“ (203e4–5), wird deutlich, dass, was auch immer zur Verfügung gestellt wird, stets wieder ins Schwanken gerät. Es ist bezeichnend für den Zustand des Vermeinens, dass hier nichts von der Art ist, dass es längere Zeit verbleiben würde (vgl. Men 98a1–3). Vielleicht ist es der Fall, dass alles, was hier zur Verfügung gestellt wurde, deswegen nicht bleibt, weil ihm die richtige Art von logos fehlt, der ihm Stabilität und Sicherheit verleihen würde. Der logos, der sich auf dem Höhepunkt des Strebens nach der Weisheit im Erkenntnisprozess ergibt, scheint ein definitorischer zu sein, denn die Bestimmung von logoi endet nicht, bis man „was schön ist, erkenne“ (211c8). Wenn dem so ist, wird die Findigkeit, die sich im Wissen darüber zeigt, wie man Weisheit erlangen kann, in der Suche nach definitorischen logoi zeigen und aporia darin, dass man erkennt, dass der bislang zur Verfügung stehende logos noch kein definitorischer ist, das heißt noch nicht gründlich genug oder einheitlich einberechnend das Wesen der Klasse der zur Betrachtung stehenden Dinge zu erfassen vermag. Eine nähere Betrachtung der Einzelheiten des Aufstiegs zu den verschiedenen Erkenntnisstufen wird also nötig sein, um weiteres Licht auf die philosophische Aktivität zu werfen, die für das Begehren der Weisheit charakteristisch ist. 4. Obwohl wir nicht endgültig klären können, wie das Wesen von erōs im Streben nach Weisheit bewirkend tätig ist, wird das doch im Verhalten des Sokrates im Verlauf dieses Symposions beispielhaft vorgeführt. In seiner Unterhaltung mit Diotima verkörpert er die dynamische Fluktuation zwischen den eben herausgearbeiteten Seiten des erōs. Sokrates teilt sich auf in zwei Rollenfiguren – die des Sokrates, der im Mangel ist und sich so im gleichen Zustand befindet wie Agathon derzeit – und die der findigen Diotima, die weiß, wie man die Defizite in den logoi von Sokrates heilt. Sokrates beginnt seine Darstellung mit einem Elenchos, der die Defizite der vorhergehenden Darstellung in das Bewusstsein der Zuhörer bringen soll. Er versichert Agathon, dass er selbst in einem ähnlichen Zustand voller Verwirrung über dieselben Fragestellungen gewesen sei (201e5). Der Grund für seinen Besuch bei Diotima, so erklärt er schließlich, sei 19
Es handelt sich dabei unter der Angabe der vereinheitlichenden Merkmale um eine bestimmte Klasse von schönen Dingen. Man hört nicht auf, diese zu bestimmen, bis man weiß, was das Schöne selbst ist. Dies deutet darauf hin, dass der erforderliche logos ein definitorischer ist.
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sein Bewusstsein eines Mangels gewesen (207c1 und 5). Dieses Bewusstsein trieb ihn dazu an, die findige Diotima aufzusuchen, ganz so wie auch Penia einen Mangel verspürte und deshalb ihren Poros aufsuchte. Diotima ist „weise“ (201d3) und als wissend ausgewiesen, eine sophistēs (208c1), ganz wie Poros, der „tapfer“, „keck“, „[...] nach Einsicht strebend“, „sinnreich“ und ein sophistēs (203d4) ist. Diotimas mantineische Herkunft und ihre Hinauszögerung der Pest legen eine Verbindung zum mantischen Fachwissen nahe. Das war im Zurückliegenden als Aspekt der erotisch-dämonischen Priesterkunst beschrieben (202e3–203a7). Diotima verkörpert den euporetischen Aspekt von erōs, der die Grenzen einer defizitären, endlichen Natur transzendiert. In seinem Rollenspiel mit Diotima zeigt Sokrates um wie viel besser man über logoi nach der Erfahrung einer aporia verfügt. Zur Verdeutlichung: Sokrates wählt im Gespräch als Beispiel für eine aporetische Erfahrung Agathons Frage danach, ob Eros, wenn es ihm an schönen und guten Dingen mangelt und er selbst nicht schön und gut ist, also hässlich und schlecht sei (201e10). Diese Frage veranlasst Sokrates dazu, einen Bereich von Zwischenzuständen ins Auge zu fassen und seinen logos entsprechend zu überarbeiten (202a1–2). Dies wiederum erzeugt eine weitere Schwierigkeit: Wenn Eros die guten und schönen Dinge nicht besitzt, dann kann er auch nicht göttlich sein. Und das wiederum führt zu einer erneuten Berichtigung: Eros ist tatsächlich ein intermediärer daimōn (202e1–2 zusammengenommen mit der Begründung für diese Behauptung weiter oben). Auch wenn wir nicht alle Elenchoi auf jeder Stufe des Wegs zu diesen Antworten nachvollzogen haben, so wurde doch eine Probe dieser Tätigkeit gegeben und eine Vorführung im Zusammenspiel von Sokrates und Diotima geboten, die zeigen, wie man es anstellen muss, um ertragreichere Antworten zu finden. Die Interaktion zwischen Sokrates und Diotima veranschaulicht in dramatischer Formgebung bestimmte Aspekte des Wesens von Eros als Philosoph. Dies ist von Bedeutung im Vergleich mit den Darstellungen von Sokrates als einer überwiegend aporetischen Figur in anderen Werken. Als Vergleich ließe sich der Versuch des Sokrates heranziehen, Menon aus seiner aporetischen Verzweiflung herauszuführen (Men 80a1–3): „Sieh nun aber auch zu, was er von dieser Verlegenheit aus, mit mir suchend, finden wird“, sagt Sokrates (84c9– d1). Dies ist etwas, was man nicht in vielen der sogenannten Sokratischen Dialoge findet, die in der Erfahrung einer Aporie enden und deutet so also darauf hin, dass das Symposion auch mit einer positiveren Charakterisierung des Philosophen arbeitet. Es ist etwas, das man von einer Darstellung erwarten kann, die dafürhält, dass erōs ein Zustand sowohl von Ermangelung wie von Hervorbringung im Streben nach dem Schönen ist, einer Tätigkeit, für die auch Weisheit als eines der schönsten Dinge zu zählen ist, und die folglich einen Zustand darstellt, der letztlich auch als ein produktiver Mangelzustand im Streben nach Weisheit zu sehen ist. Wie dies aber erreicht wird, wird das Thema der neuen Methode sein, die sich im Erkenntnisaufstieg kundtut.
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5. Die ‚ziemlich lange Geschichte‘ von Poros und Penia ist entscheidend für die Darlegungen des Sokrates. Sie beantwortet die Frage, was erōs ist, mithilfe einer Erörterung, die zeigt, dass Eros ein vermittelnder daimōn ist. Es werden klare Begründungen für die Behauptung vorgebracht, dass es Eros an dem mangelt, was er begehrt, dass seine Natur eine Zwischennatur ist, da Begehren notwendigerweise ein Zwischenzustand ist, und dass Eros ein Philosoph ist, mit der Begründung, dass Weisheit eines der schönsten Dinge ist. Die Erzählung erkundet also, was erōs ist, indem sie zeigt, dass erōs ein Gemisch von Mangel und Findigkeit ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Darlegung entscheidend für das Unterfangen, die Natur des Liebhabers zu erläutern, das mit dem Elenchos des Agathon angegangen wurde. Die Bemerkung, mit der Sokrates seine Darstellung beendet, bezieht sich auf den Elenchos des Agathon zurück (204c mit 197b) und zeigt, wie sehr Sokrates allzeit darum bemüht gewesen ist, den Gedankenaustausch mit Agathon nicht aus den Augen zu verlieren. Natürlich stellt sich hier folgende Frage: Wenn sich die erzählte Geschichte als so gut in den Gedankengang integrierbar darstellt, warum ist es bloß eine Erzählung? Makrologia (203b1) ist eine rhetorische Wendung, also zielt Sokrates vielleicht auf das rhetorische Feingefühl der Zuhörer (vgl. Prot 334c–335c zu makrologia und Phdr 266e1 für diēgēsis). Doch Sokrates ignoriert solche Dinge anderswo, zum Beispiel während der Widerlegung Agathons. Wenn nun Sokrates hier von seiner gewohnten Charakteraufmachung abweichend handelt, dann stellt sich die Frage nach dem Status dieses spezifischen Teils seiner Gesamtdarstellung nur noch dringlicher. Hinter solchen Überlegungen stehen Vorannahmen, die wiederum bestimmte Fragen herausfordern. So gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die Unterscheidung zwischen einer erzählten Geschichte und einem Argumentationsgang eine Unterscheidung zwischen einer narrativen Darstellungsart, für die eine ästhetische Wirkung oder der Unterhaltungswert die geeignete Entsprechung bieten würde, und einer Darstellungsart, für die eine philosophische Analyse geeignet scheint, voreinschließt. Für den Sokrates dieses Textes liegt der springende Punkt vielmehr zwischen den Erörterungen, die sich zu allererst der Wahrheit widmen und denen, die dieses Ziel nicht für sich beanspruchen können (198d7–e6). Diese Unterscheidung ist aber mit einer Reihe stilistischer Formen kompatibel. Sokrates könnte durchaus eine hinreißende Rede halten, die auf die rhetorische Empfänglichkeit seiner Zuhörer abzielt. Doch die Form, die er wählt, setzt markant die Wahrheit in der unverwechselbaren Art, die Sokrates für die seiner Aufgabe gemäße hält, an die erste Stelle, denn sie folgt einer ausgeprägt philosophischen Agenda, um so das ti esti (ein daimōn) und dann das poios tis (eine Zusammensetzung aus Mangel und Findigkeit) von Eros zu erhellen. Erzählung und Argumentation können im Verlauf der Gesamtdarlegung also nicht klar auseinandergehalten werden. Zudem bietet Sokrates, wie zu sehen war, durchaus Argumente innerhalb der Geschichte. Selbst jene Details, für die
Penia und Poros im Symposion
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in der Erzählung nichts Erläuterndes geleistet wird, beschäftigen sich mit Charakteristika des Eros, für die Sokrates bereits Begründungen angeführt hat – oder nehmen solche im Hintergrund an; so erklären beispielsweise die Eigenschaften, die Eros von Penia und Poros ererbt hat, die Art von Zwischenzustand, der für Eros bezeichnend ist und für den im Vorlauf zur erzählten Geschichte bereits explizite Begründungen angegeben worden waren. Es gibt also keinen Grund dafür, die Erzählung als weniger aussagewertig als die stark argumentativen Passagen, wie das Widerlegungsgespräch mit Agathon, zu betrachten. Man wird zudem kaum behaupten dürfen, dass die Erzählung nicht–falsifizierbare Aspekte von erōs präsentiert, denn man trifft auf mehrere Argumente in ihr. Auch ist die Behauptung wohl kaum zutreffend, dass die Erzählung Aspekte von erōs beschreibt, die außerhalb jeder Erfahrbarkeit von Seiten eines endlichen begehrenden Akteurs liegen, denn genau von solchen Erfahrungen durch menschliche Lebewesen handelt die Geschichte ja.20 Aber die Erzählung exemplifiziert die Forderung aus dem Phaidros, dass alles Gesagte auf die verschiedenen Arten von Seelen zugeschnitten sein sollte, an die es sich richtet (277b–c: vgl. Resp 377a ff. über den Nutzen des Mythos als effektive Form des Überzeugens, und Lg 903b über Mythen, die jemanden wie durch Zauber zur Zustimmung bringen).21 Sokrates bezieht sich auf sein Begehren, andere zu überzeugen, genauso wie auch er von einigen Wahrheiten in Bezug auf erōs überzeugt worden ist (212b), und die ‚ziemlich lange Erzählung‘ ist das perfekte Ausdrucksmedium zur Überzeugung all jener, die zu Agathons innerem Kreis gehören. Es sind dies Männer, die in ihrer Fähigkeit, die Wahrheit wertzuschätzen, Einschränkungen unterliegen (wie die Kritik des Sokrates in 198 f. zeigt) und dennoch nach (in bestimmter Weise verstandener) Weisheit trachten. In dieser Hinsicht verlangen diese Charaktere eine erzählte Geschichte, die berücksichtigt, dass wir endliche und mangelhafte Geschöpfe im Streben nach einer Weisheit sind, die eher Göttern entspricht, und eine Form sanfter Überzeugung in Gestalt von Erzählungen brauchen. Die ‚ziemlich lange Erzählung‘ gibt genau diesen Zwischenzustand in besonders schöner Weise wieder.
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Dies nimmt Bezug auf die beiden Arten des Gebrauchs von Mythen, die Catalin Partenie in der Einführung zu seinem Sammelband (Partenie [2010], 4) untersucht. 21 Siehe hierzu Rowe [2007], der diesen Punkt im Phdr als Strategie für die Interpretation einer Reihe von stilistischen Formen in den platonischen Dialogen sieht.
DIE BILDLICHKEIT DER PLATONISCHEN KOSMOLOGIE. ZUM VERHÄLTNIS VON LOGOS UND MYTHOS IM TIMAIOS Walter Mesch Platons Timaios entfaltet eine ideenfundierte Kosmologie, die schon im Ansatz schwer zu verstehen ist. Besondere Schwierigkeiten bereitet das Verständnis ihrer durchgängigen Bildlichkeit, die sich zwar an Platons üblichem Bildbegriff orientiert, im Umgang mit kosmologischen Bildern aber eine grundsätzliche Abweichung vom dialektischen Standardverfahren erkennen lässt. Verantwortlich ist dafür, dass der bewegte Kosmos nach Platon keinen Ideenstatus besitzt, sondern selbst nur als ein Bild von Ideen gelten kann. Im Folgenden soll ausgeführt werden, was dies bedeutet und welche Konsequenzen sich daraus für ein Verständnis der platonischen Kosmologie ergeben. Wie in einem ersten Schritt zu erläutern ist, besitzt die kosmologische Bildlichkeit keinerlei Vorläufigkeit. Vielmehr ist sie gegenstandsadäquat, und zwar sowohl im strukturellen wie im kausalen Aspekt des Bildbegriffs, was ein interessantes Licht auf das problematische Verhältnis von Logos und Mythos zu werfen verspricht, sobald man es auf die beiden Aspekte des Bildbegriffs bezieht (I). Um dies näher erläutern zu können, wird der strukturelle Aspekt des platonischen Bildbegriffs in einem zweiten Schritt anhand des Sophistes präzisiert und auf das Proömium der Kosmologie bezogen. Im Zentrum steht dabei der Begriff des eikōs logos, durch den Platon im Timaios den wissenschaftlichen Status der Kosmologie bestimmt. Er tut dies freilich nicht, ohne ihn zugleich als eikōs mythos zu bezeichnen, was in der Literatur zu manchen Irritationen geführt hat (II). Ein dritter Schritt geht der kosmologischen Umsetzung des eikōs logos nach, um den strukturellen Aspekt des Bildbegriffs an jener kosmischen Einzelstruktur zu verifizieren, die ihn in vollkommenster Weise realisiert. Gemeint ist die Zeit, die als ein ewiges Abbild der Ewigkeit dargestellt wird, das trotz größter Nähe zu seinem Vorbild von diesem unterschieden bleibt (III). Die Unmöglichkeit eines zeitlichen Entstandenseins von Zeit und Kosmos führt schließlich zum kausalen Aspekt der kosmologischen Bildlichkeit. Es wird danach zu fragen sein, worin der Sinn einer demiurgischen Weltgestaltung und ihrer sukzessiven Erzählung liegen kann, wenn sie weder wörtlich zu nehmen noch in eine statische Struktur zu übersetzen ist (IV). Vor diesem Hintergrund lässt sich abschließend erwägen, wie Platons gelegentliche Bestimmung der Kosmologie als eikōs mythos auf ihre maßgebliche Bestimmung als eikōs logos bezogen werden könnte (V).
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I Um den Timaios nicht misszuverstehen, ist es von entscheidender Bedeutung, sich über den besonderen Status der Kosmologie klar zu werden. Ein wichtiger Anhaltspunkt ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Dialogen, die an prominenter Stelle von bildlicher Rede Gebrauch machen. Obwohl dies nicht nur häufig, sondern auch auf vielfältige Weise geschieht, lässt sich unschwer ein allgemeines Merkmal des üblichen Bildgebrauchs aufweisen, von dem der Timaios auffällig abweicht. Platonische Dialoge zielen üblicherweise auf das Verständnis von Ideen bzw. einer sich sowohl theoretisch wie praktisch an Ideen orientierenden Seele, das in dialektischer Wechselrede von Frage und Antwort so genau ermittelt werden soll, wie es zur Klärung der jeweiligen Problemstellung notwendig ist. Zu diesem Zweck sind Ideen von anderen Ideen zu unterscheiden und mit anderen Ideen zu verbinden, ohne sich von ihren sinnlichen Abbildern, den wahrnehmbaren Einzeldingen, leiten zu lassen.1 Es gilt, die Ideen ausschließlich anhand ihrer selbst zu betrachten, indem ihre begrifflichen Verbindungen in der Sprache aufgedeckt und als solche zum Ausdruck gebracht werden. Der philosophische Umgang mit dem Logos, wie er in der dialektischen Gesprächsführung der platonischen Dialoge zur Darstellung kommt, zielt insofern auf eine durchgängig begriffliche Ideendialektik, die alles genau zu bestimmen vermag, was sich überhaupt genau bestimmen lässt.2 Wenn die begrifflichen Bestimmungsversuche dennoch so häufig unterbrochen werden, um Mythen, Gleichnissen und inspirierter Rede Platz zu machen, so liegt dies in erster Linie an vorläufigen Verständnisschwierigkeiten, die sich der gesuchten Ideenerkenntnis in den Weg stellen; und deren Vorläufigkeit stellt die Aufgabe einer gegenläufigen Übersetzung, die von den Bildern für Ideen wieder zu den Ideen selbst zurückführt. 1
Besonders deutlich geht dies aus der Erläuterung des Liniengleichnisses hervor, das den Unterschied von mathematischer und dialektischer Vorgehensweise erläutert, indem es der Mathematik bzw. Geometrie einen konstitutiven Bezug zu den sinnlichen Abbildern ihrer Ideen zuschreibt, den die Dialektik vermeiden kann und soll. Vgl. Resp 510b ff.: Was hier formuliert ist, kommt in der sokratischen Gesprächsführung durchgängig zur Darstellung. Es mag übertrieben sein, wenn Adeimantos kurz und bündig sagt, Sokrates pflege nicht durch Bilder zu reden (di’ eikonōn legein), zumal dieser es gerade für geboten hält, auf ein Bild zurückzugreifen (Resp 487e). Richtig ist aber, dass Bilder von Sokrates immer zurückhaltend, vorsichtig und mit einem gewissen Widerwillen ins Spiel gebracht werden. Und richtig ist auch, dass sie immer dem Vorbehalt unterliegen, nur Bilder zu sein, weshalb sie immer auf ihre Vorbilder bezogen werden müssen. In diesem Sinne dürfte Adeimantos also Recht behalten: Sokrates spricht zwar oft mit Bildern, aber nicht durch Bilder. 2 Wie ebenfalls das Liniengleichnis zeigt, wird darin zwar eine Noesis vorausgesetzt, die dem kosmischen Werden enthoben ist und sich deshalb überhaupt auf Ideen zu beziehen vermag. Vgl. Resp 511b–e. Dies sollte aber nicht dazu verleiten, die platonische Ideendialektik als bloßen Vollzug eines anschauungsanalogen Erkenntnisvermögens zu betrachten und ihre sprachlichen Voraussetzungen zu marginalisieren. Vgl. Stemmer [1992] 214 ff.
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Was in bildlicher Rede über Ideen in den Blick gebracht werden konnte, gilt es wieder in den begrifflichen Zusammenhang zu integrieren, in seiner Bedeutung für diesen Zusammenhang zu interpretieren. Dies ist unausweichlich, weil es sich in Wahrheit gar nicht um eine Unterbrechung des dialektischen Gesprächs, sondern nur um seine Verlagerung auf eine andere Ebene gehandelt hatte. Das Gespräch war auf eine andere Ebene verlagert worden, um es in einer schwierigen Situation weiterbringen zu können. Man hatte nicht einfach das Thema gewechselt und aufgehört, von Ideen zu handeln, sondern diese angesichts von Verständnisschwierigkeiten lediglich anders zu thematisieren versucht. Da sich die Gesprächspartner in platonischen Dialogen selten darauf verstehen, Ideen begrifflich zu bestimmen, liegt es nahe, sich von einer bildlichen Veranschaulichung Hilfe zu versprechen. Inwiefern auch der philosophische Gesprächsleiter dieser Veranschaulichung bedarf, um aus einer dialektischen Sackgasse herauszufinden, ist vor allem für Sokrates schwer zu entscheiden, weil sich auch in späteren, nicht mehr bloß elenktischen Dialogen oft genug Anspielungen auf das berühmte sokratische Nicht-Wissen finden. Noch schwerer zu entscheiden ist, ob und inwiefern die Bilder auch dort, wo es um Voraussetzungen der gesamten Ideendialektik geht, einer begrifflichen Interpretation zugänglich bleiben. Ein gleichermaßen wichtiges und umstrittenes Beispiel liefert die Gleichnispassage aus der Politeia, die in der Idee des Guten etwas bildlich zu erschließen sucht, das „jenseits des Seins“ und damit auch jenseits begrifflicher Bestimmbarkeit liegt (Resp 509b). Wir können in unserem Zusammenhang offen lassen, wie dies angemessen zu erläutern wäre. Wenn die Idee des Guten bildlich gesprochen zu hoch ist, um dialektisch thematisiert zu werden, weil sie in irgendeiner Weise über die Gesamtheit der Ideen hinausragt, bestätigt nämlich auch dies den zugrunde gelegten Befund, dass nach Platon Bilder von Ideen generell so weit wie irgend möglich in begriffliche Bestimmungen zu übersetzen sind. Natürlich kann eine Übersetzung bildlicher in begriffliche Rede niemals begrifflich eindeutig und vollständig sein. Es kommt darauf aber auch gar nicht an. Entscheidend ist allein, dass der philosophisch bedeutsame Aspekt des Bildgehaltes, der veranschaulichend in den Blick gebracht werden sollte, in begrifflicher Rede wiedererkennbar und präzisierbar aufgegriffen werden kann. Eine schlechthin vollständige Übertragung der einzelnen Bildgehalte ist dabei nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig. Außerdem begnügen sich die platonischen Dialoge zumeist damit, die Bedeutung der bildlichen Rede so weit zu verdeutlichen, wie es die jeweilige Gesprächssituation erfordert. Wie dasselbe Bild in einem anderen Kontext mit anderen Gesprächspartnern interpretiert werden könnte, bleibt dabei offen. Gelegentlich wird überhaupt keine explizite Interpretation gegeben, weil der ausschlaggebende Punkt vor dem Hintergrund des bisherigen Gesprächs ohnehin ins Auge springt. Auch die Jenseitsmythen, die am Schluss mancher Gespräche stehen, dürften in einen begrifflichen Zusammenhang integrierbar sein, und sei es auch nur mit ihrer ethischen Pointe, weil es über das Jenseits als solches keinerlei Wissen gibt. In der bildlichen Kosmologie des
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Timaios ist dies grundsätzlich anders. Hier wird keine bestimmte Interpretation der bildlichen Rede geliefert oder nahegelegt. Mehr noch: Eine begriffliche Integration ins Gespräch scheint hier weder beabsichtigt noch möglich. Es handelt sich um eine unübersetzbar bildliche Rede von eigenem Recht und nicht um den üblichen Fall einer dialektisch domestizierten oder doch prinzipiell domestizierbaren Bildlichkeit. Die bildliche Rede im Timaios spricht nicht auf eine andere Weise von denselben Gegenständen wie die Dialektik. Vielmehr thematisiert das kosmologische Bild andere Gegenstände, als es der dialektische Begriff vermag. Dabei ist der kosmologische Gegenstand bildlich gesprochen keineswegs zu hoch, sondern zu niedrig, um dialektisch thematisiert zu werden. Die Kosmologie ist unaufhebbar bildlich (eikōs), weil der Kosmos nach Platon selbst nur ein Bild (eikōn) ist, das ein göttlicher Demiurg anhand des Vorbilds von immer Seiendem gestaltet. Und der Kosmos ist ein Bild, weil er auch als schönstes unter dem Werdenden (Ti 29a), als bestgeordneter Zusammenhang aller kosmischen Bewegungen, ein körperlich Bewegtes bleibt, dem die vollkommene Ordnung der Ideen versagt ist. Der Kosmos kann seine defiziente Ordnung deshalb nur durch eine äußerliche Beziehung auf Ideen gewinnen, wie sie in ihrer Abbildung liegt. Versucht man zu verstehen, was es heißt, dass der Kosmos ein Bild ist, sind ein struktureller und ein kausaler Gesichtspunkt auseinander zu halten. Den Kosmos als Bild immer seiender Ideen zu verstehen bedeutet strukturell betrachtet nichts anderes, als die Differenz von Vorbild und Abbild mit ihrer Ähnlichkeit zusammenzudenken. Denn Bilder sind für Platon wesentlich Abbilder, Bilder von ontologisch und erkenntnistheoretisch primären Vorbildern, und damit letztlich Bilder von Ideen, auf die sie bezogen werden müssen, um überhaupt verständlich zu sein. In kausaler Hinsicht können Bilder darüber hinaus als hergestellt, als gemachte Dinge mit Abbildfunktion betrachtet werden. Jedenfalls gilt dies dann, wenn man von bloßen Spiegelungen auf Oberflächen und dergleichen absieht. Beide Aspekte des platonischen Bildbegriffs lassen sich nicht nur dem Sophistes entnehmen, wo das Bild als „das einem Wahren ähnlich gemachte (aphōmoiōmenon) andere Derartige (heteron toiouton)“ bestimmt wird (Soph 240a), sondern auch dem Proömium der Kosmologie des Timaios, sowie deren gesamter Umsetzung. Offenkundig ist sowohl der strukturelle wie der kausale Gesichtspunkt des Bildes zu untersuchen, wenn es darum geht, die Bildlichkeit der platonischen Kosmologie richtig einzuschätzen. Was sich darin zeigt, ist jedoch zugleich von allgemeinerer Bedeutung. Die beiden Gesichtspunkte erlauben nämlich auch, das spezielle Verhältnis von Logos und Mythos im Timaios zu erläutern und die platonische Kosmologie als eine besondere Weise des philosophischen Umgangs mit der Sprache verständlich zu machen. In dieser Hinsicht dürfte der Timaios den Schlüssel zum Verständnis des kosmologischen Aspekts vieler platonischer Mythen liefern. Blickt man auf ihre kosmologische Bedeutung, rücken Logos und Mythos wesentlich näher aneinander, als dies aus anderen Kontexten vertraut ist. Am deutlichsten zeigt sich dies daran, dass Platon die Kosmologie sowohl als eikōs logos
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wie als eikōs mythos bezeichnen kann. Da Platon ihre Differenz nicht ausdrücklich erläutert, sind sie häufig für Synonyma gehalten worden. Wie mir scheint, müssen Logos und Mythos aber auch in der Kosmologie eine gewisse Differenz behalten, wenn ihre Differenz für die platonische Philosophie nicht grundsätzlich fragwürdig werden soll. Und dies muss aus platonischer Sicht unbedingt vermieden werden, weil der philosophische Umgang mit dem Logos außerhalb der Kosmologie auf eine rein begriffliche Ideendialektik zielt und das philosophische Erzählen von Mythen dazu lediglich eine bildliche Ergänzung liefert, deren Bedeutung primär in veranschaulichender Vorbereitung, Hinführung und Überzeugung liegt. Eine simple Bedeutungsunterscheidung, die den schwierigen Sonderfall der Kosmologie als belanglos auszugrenzen versucht, ist als Ausweg zurückzuweisen, weil Platon die Wörter logos und mythos in der Kosmologie nicht bloß eigenwillig gebraucht, sondern durch den Zusatz eikōs mit dem üblichen Verständnis zu vermitteln versucht. Da es derselbe Zusatz ist, muss die kosmologische Nähe der beiden Begriffe, wenn sie auf ihr übliches Verständnis bezogen wird, solange irritieren, bis auch für ihre Differenz aufgekommen werden kann. Was schließlich dieses übliche Verständnis von Logos und Mythos betrifft, ist natürlich längst deutlich geworden, dass es bei Platon kaum überzeugen kann, wenn man sie in einen schematischen Gegensatz zu bringen versucht und in ihnen eine Nachwirkung jener vielbeschworenen Entwicklungsgeschichte der frühen Philosophie „Vom Mythos zum Logos“3 sieht. Gegen ein solches Schema spricht jedoch weniger die Tatsache, dass Platon sowohl das Wort mythos wie das Wort logos vieldeutig genug verwendet, um es bisweilen sogar auf seinen Gegenspieler zu beziehen und Logoi als Mythen oder Mythen als Logoi zu bezeichnen, wie es auch im Timaios geschieht.4 3
Vgl. Nestle [1941/1975]. Wenn Logoi als Mythen bezeichnet werden, zeigt sich darin nämlich immer noch eine Relativierung ihrer Geltung, wie sie für den philosophischen Umgang mit als trügerisch erkannten Mythen kennzeichnend ist. Und wenn Mythen als Logoi bezeichnet werden, zeigt sich darin immer noch eine Affirmierung ihrer Geltung, wie sie für den philosophischen Umgang mit als wahr erkannten Logoi kennzeichnend ist. Der Timaios lässt dies unschwer erkennen. So sagt Kritias, Sokrates habe den am Beginn des Gesprächs rekapitulierten Idealstaat „wie in einem Mythos“ (hōs en mythōi, 26c) vorgeführt, während der Rückgriff auf Urathen und Atlantis erlaube, ihn in Wahrheit umzusetzen. Auf den ersten Blick ist dies erstaunlich, zumal sich Kritias nicht auf die kurze Rekapitulation zu Beginn des Timaios bezieht, sondern auf das am Vortag geführte, ausführlichere Gespräch, das in weiten Teilen als Parallele zu Politeia II–V zu denken sein dürfte. Die Relativierung des bedeutenden Logos ergibt sich indes konsequent aus seiner von Sokrates beklagten Leblosigkeit als einer bloßen Idealstruktur (19b–c). Solange der Aufstieg zu den Ideen nicht durch eine Rückkehr zu den bewegten Einzeldingen ergänzt und für den Idealstaat eine konkrete Realisierungsmöglichkeit vorstellbar geworden ist, und sei es auch nur durch den Rückgriff auf einen historischen Mythos, muss die Geltung seiner idealen Verfassung im historischen Zusammenhang prekär bleiben. Der historische Mythos kann diese Bestätigung allerdings nur liefern, wenn er nicht als unbestätigter Mythos, sondern als verbürgter Tatsachenbericht auftritt. Eben4
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Gegen einen schematischen Gegensatz von Logos und Mythos spricht vielmehr, dass Platons Philosophie zwar auf einen bildtranszendierenden Umgang mit dem Logos zielt, sich ebendarin aber nicht zuletzt mithilfe von raffiniert konzipierten und aufwendig gestalteten Bildern artikuliert. Dies gilt vor allem für die Kosmologie, in der nicht nur der Mythos, sondern auch der Logos auf eine dialektisch unüberbietbare Bildlichkeit bezogen wird. Da es sich dabei um einen Sonderfall handelt, der die übliche Konkurrenz von Dialektik, Rhetorik und Dichtung unterläuft, muss dem Aneinanderrücken von kosmologischem Logos und kosmologischem Mythos eine interne Differenzierung des Logos- und des Mythosbegriffs entsprechen, in der sich die besondere Bildlichkeit der Kosmologie auswirkt. Der kosmologische Logos muss ebenso vom dialektischen Logos unterschieden werden wie der kosmologische Mythos vom historischen Mythos. Was den wissenschaftlichen Status betrifft, besitzen Logos und Mythos in der Kosmologie damit eine gemeinsame Mittellage zwischen dem begrifflich verfahrenden dialektischen Logos, der die Kosmologie ontologisch fundiert, und dem wenig verlässlichen historischen Mythos, der wie die vorweggenommene Erzählung von Atlantis und Urathen kosmologisch zu fundieren ist. Auch in einer unaufhebbar bildlichen Kosmologie müssen Logos und Mythos aber nicht schlechthin identifiziert werden. Wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, sind sie so zu unterscheiden, dass man den eikōs logos primär auf den strukturellen und den eikōs mythos primär auf den kausalen Aspekt der kosmologischen Bildlichkeit bezieht. Die Kosmologie ist ein eikōs logos, sofern es um das Verhältnis von Vorbild und Abbild, und ein eikōs mythos, sofern es um die Herstellung des Abbilds geht. Für beide Aspekte spielt das Zeitproblem eine wichtige Rolle. Denn in der Zeit kommt der Kosmos seinem Vorbild näher als in irgendeiner anderen Struktur, ohne seine Differenz zu den Ideen dabei gänzlich zu verlieren; während ein wörtliches Verständnis der erzählten Kosmogonie vor allem deshalb ausgeschlossen ist, weil eine wörtlich verstandene Entstehung der Zeit unsinnig wäre. II In struktureller Hinsicht ist zunächst festzustellen, dass es nach Platon darum geht, im Umgang mit Bildern darauf zu achten, inwiefern sie als Bilder zu verstehen sind. Dazu gehört, dass neben der im Abbilden vorrangig interessierenden Ähnlichkeit auch die Abweichung vom Vorbild nicht übersehen wird. Es handelt sich hierin um eine Grundbedingung für jeden Erkenntnis ermöglichenden, weil täuschungsfreien Umgang mit Bildern, die von Platon häufig eingeschärft wird. Besonders sprechend ist seine Auseinandersetzung mit der „trugbildnerischen“ darum geht es Kritias, der den aus Ägypten importierten solonischen Mythos von Urathen und Atlantis als einen Logos bezeichnet, der „ganz und gar wahr sei“ (20d). Ergänzend wird darauf verwiesen, dass die weit zurückliegende Vergangenheit, die den Griechen nur als Mythos bekannt sei, von den Ägyptern als Tatsache gewusst werde, weil Ägypten von wiederkehrenden Naturkatastrophen verschont bleibe (22c–d).
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Sophistik im Sophistes (235a ff.). Die einfachste Abweichung zeigt sich an der Stofflichkeit des Abbilds, die sich aus dem stofflichen Medium der Abbildung ergibt. Bereits auf dieser einfachsten Ebene wird der Reiz des Bildes durch die Gefahr der Täuschung erkauft. Gemalte Kirschen sind nicht essbar, und seien sie auch noch so schön gemalt. Des Weiteren folgt aus der Stofflichkeit der Abbildung eine Beschränkung ihrer Form, die umso schwerer zu durchschauen ist, je ähnlicher sich Form und Inhalt sind. Auch wer gemalte Kirschen nicht essen will, wird vielleicht versucht sein, dem Geheimnis der Illusion durch Betasten der Leinwand auf die Spur zu kommen. Dabei kommt es für den Rezipienten eigentlich nur auf den rechten Standort im Verhältnis zum Kunstwerk an, nämlich auf jenen Standort, im Hinblick auf den die Illusion vom Produzenten berechnet worden ist (235e–236b). Die größte Täuschungsgefahr geht schließlich davon aus, dass das Abgebildete auch im Inhalt der Abbildung so abgebildet werden kann, wie es nicht ist. Oft genug muss es sogar mit einer inhaltlichen Abweichung abgebildet werden, um die angestrebte Illusion erzeugen zu können. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der inhaltlichen und der formalen Abweichung, die ihrerseits mit den Beschränkungen des verwandten Stoffes zusammenhängt. Platons Kritik des täuschenden Bildes, wie sie sich im Sophistes findet, berücksichtigt alle drei Gesichtspunkte. Außerdem berücksichtigt sie das Ziel der Illusion, das in der Erzeugung des Scheins möglichst großer Ähnlichkeit besteht. Wie bereits erwähnt, wird das Bild nämlich als „das einem Wahren ähnlich gemachte andere Derartige (heteron toiouton)“ bestimmt (Soph 240a). Dass es gemäß dieser Bestimmung des Bildes um die Erzeugung eines Scheinbaren (eoikos) geht, lässt der Text ebenfalls deutlich werden (240b). Ausführlich erläutert wird indes nur die inhaltliche Abweichung des Abbildes vom Vorbild, die für Platons Sophistikkritik besonders wichtig ist. Die Sophistik ist nicht deshalb zu kritisieren, weil sie in ihrem Umgang mit der Sprache auf Bilder zurückgreift, die als solche immer missverstanden werden können. Sie ist zu kritisieren, weil sie Bilder verwendet, die etwas so abbilden, wie es nicht ist, und ebendarin den Schein erwecken, dass es so sei. Sophistische Bilder sind dadurch gekennzeichnet, dass sie etwas anderes zu zeigen vorgeben, als sie tatsächlich zeigen. Darin versuchen sie, eine perfekte Illusion zu erreichen, die darauf hinausläuft, dass die Bilder möglichst nicht mehr als Bilder erkannt werden, dass man also den Schein für Wahrheit ansieht. Nur weil dies so ist, handelt es sich beim sophistischen Schein um falschen Schein, den es philosophisch zu entlarven und vom verhältnismäßig harmlosen Schein der Erscheinung des Wahren zu unterscheiden gilt. Die Unterscheidung, um die es hier geht, wird im Text als Unterscheidung zweier Arten von Bilderherstellung bzw. Mimesis erläutert, einer ebenbildnerischen (eikastikē) und einer trugbildnerischen (phantastikē, 236c). Auf Anhieb mag man zu der Ansicht neigen, dass die Bilderkritik des Sophistes nicht viel mit der Bildlichkeit der platonischen Kosmologie zu tun haben kann. Denn eine sophistische Täuschungsabsicht ist hier natürlich nirgendwo zu befürchten. Der Demiurg ist alles andere als ein Sophist, der Trugbilder verferti-
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gen würde. Dennoch kann man sich für den unterstellten Bildbegriff an dessen Bestimmung aus dem Sophistes orientieren. Auch im Timaios gilt es, das Bild als dasjenige, das einem wahren Seienden lediglich ähnlich ist, in dieser Ähnlichkeit zu verstehen. Und auch hier bedeutet dies nichts anderes, als das Abbild primär im Ausgang von jenen Aspekten, in denen es mit dem Vorbild übereinstimmt, zu erkennen und es angesichts anderer Aspekte, in denen es vom Vorbild abweicht, zugleich von ihm zu unterscheiden. Dass dieser Bildbegriff auch für den Timaios maßgeblich ist, zeigt sich schon daran, wie er im Proömium der Kosmologie eingeführt wird. Das Proömium beginnt mit der ontologischen Unterscheidung des immer Seienden und immer Werdenden, die als Ideenhypothesis seit den mittleren Dialogen vertraut ist (Ti 27d). Nachdem in einem zweiten Schritt behauptet wurde, dass alles Werdende eine Ursache seines Werdens voraussetzt (28a), wird der Kosmos in einem dritten Schritt, da er wahrnehmbar ist und einen Körper besitzt, dem immer Werdenden zugeordnet (28b). Schließlich wird viertens betont, dass er das Schönste unter dem Werdenden sei (29a), weshalb er einen göttlichen Demiurgen als die beste aller Ursachen und das durch Vernunft zu erfassende immer Seiende als bestes Vorbild besitzen muss (29a). „Dies zugrunde gelegt, liegt nun jede Notwendigkeit vor, dass dieser Kosmos Bild von etwas (eikona tinos) ist“ (29b), nämlich Abbild jenes immer Seienden, in dem unschwer die Ideen wiederzuerkennen sind. Für den Kosmos ergibt sich damit genau die Struktur eines dem Wahren nur „ähnlich gemachten“ anderen Derartigen, die im Sophistes als Struktur des Bildes erläutert wird. Dass der Kosmos seinem Vorbild ähnlich ist, bedeutet erstens, dass es zwischen ihm und seinem Vorbild eine Aspektidentität geben muss. Worin diese liegt, ist leicht anzugeben. Sie liegt in jenen Aspekten, in denen das Abbild Eigenschaften des Vorbilds besitzt, wenn auch nur in eingeschränktem Maße. Angesichts dieser Einschränkungen ist damit zu rechnen, dass es sich hier nur um abstrakte Aspekte von Ideen handeln kann. Dies wird durch eine spätere TimaiosStelle bestätigt. Denn die Ideen selbst gehen, wie dort betont wird, ebensowenig in ein wahrnehmbares Einzelding oder überhaupt irgendwohin, wie sie etwas anderes von anderswoher in sich aufnehmen (52a). Ideen als solche sind dem Kosmos nicht immanent, sondern kommen ihm nur mit den Einschränkungen einer Abbildung zu. Alle diese Einschränkungen sind zweitens auf eine grundsätzliche Abweichung des Abbilds vom Vorbild zurückzuführen, die in seiner Stofflichkeit besteht. Auch dabei ist klar, worauf im Falle der Kosmologie zu blicken ist. Es kann letztlich nur die chōra sein, jenes Medium, in dem alles Werden geschieht, wodurch eine vollkommene Nachahmung von Ideen verhindert wird. Zwar besitzt die formlose chōra anders als ein konkreter Stoff keine bestimmten Eigenschaften, die sie an das Abbild weitergeben könnte. Die Ausführungen zur „Amme des Werdens“ lassen aber keinen Zweifel daran, dass es gerade diese Formlosigkeit ist, in welcher ihre rätselhafte Natur besteht (51a). Es ist also die Formlosigkeit, die sich als Quasi-Eigenschaft des kosmischen Stoffes dem geformten Abbild mitteilt und zum Grund für dessen Defizienz gegenüber dem Vorbild wird. Was die Ab-
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weichung in der Form der Abbildung betrifft, ist schließlich drittens nicht schwer zu sehen, dass angesichts der Formlosigkeit der chōra ein formaler und ein stofflicher Aspekt der Abweichung nicht zu unterscheiden sind, wenn man auf den Kosmos im Allgemeinen blickt. Für einzelne Herstellungsschritte kann dagegen durchaus ein konkreter Stoff der konkreten Formung angegeben werden. Nachdem festgestellt ist, dass der Kosmos als Bild verstanden werden muss, kommt Platon auf den wissenschaftlichen Status der Kosmologie zu sprechen. Wie üblich betont er dabei den Zusammenhang erkenntnistheoretischer und ontologischer Aspekte: „Die Erklärungen (logoi) sind mit den Gegenständen, deren Dolmetscher (exēgētai) sie sind, eben auch verwandt (syngeneis). Daraus folgt, die von Bleibendem, Beständigem, mit Vernunft Einsehbarem sind selbst bleibend, unumstößlich – soweit das überhaupt geht und Reden unwiderlegbar sein dürfen und unbesiegbar, dürfen sie es da an nichts fehlen lassen – , auf der anderen Seite, die von solchem, was auf jenes hin zwar abgeglichen (apeikasthentos), doch eben ein Abbild (eikōn) ist, sind selbst nur wahrscheinlich (eikōs), eben ihrem Gegenstand entsprechend. Was im Verhältnis zum Werden das Sein, das ist im Verhältnis zum bloßen Fürwahrhalten die Wahrheit“5 (29b–c). Die Rede über den Kosmos kann die Genauigkeit der Ideendialektik, wie sie in anderen platonischen Dialogen gegen Sophistik, Rhetorik und Dichtung ins Feld geführt wird, nicht erreichen, weil ihr Gegenstand dies nicht zulässt. Der Kosmos gehört nicht zum immer Seienden, dessen Wahrheit ideendialektisch zu erkennen wäre, sondern zum Bewegten, das grundsätzlich nur Gegenstand eines wahrnehmungsbezogenen Fürwahrhaltens sein kann. Da der Kosmos als Schönstes unter dem Bewegten als Bild des immer Seienden zu betrachten ist, vermag die Kosmologie aber immerhin Wahrscheinlichkeit zu erreichen. Wie häufig betont wurde, hat Wahrscheinlichkeit dabei nichts mit empirischer Erprobung und statistischer Berechnung zu tun, wie sie aus der neuzeitlichen Naturwissenschaft bekannt sind. „Wahrscheinlich“ (eikōs) bedeutet hier nicht probabilis, sondern verisimilis.6 Es handelt sich, wie man sagen könnte, um die ontologische Deutung eines Grundbegriffs der Rhetorik, die nachzuweisen versucht, dass ein nicht völlig erkenntnisgesichertes Überzeugen wegen der Bewegtheit des Kosmos kosmologisch unüberbietbar ist. Im Timaios wird die Rhetorik zu einer Verbündeten der Dialektik, weil sie weiterhilft, wo diese an eine Grenze in der dialektischen Thematisierbarkeit von Gegenständen stößt. Während Platon in anderen Dialogen unermüdlich betont, wie fatal es ist, wenn man sich mit bloßer Meinung zufrieden gibt, wo Wissen zu erreichen oder doch anzustreben ist, geht es in der Kosmologie um einen Gegenstand, der prinzipiell kein genaues Wissen zulässt. Dass es hier um eine wahre Rhetorik geht, klingt auch innerhalb der kosmologischen Rede an mehreren Stellen an. So wird etwa gesagt, die Vernunft herrsche über die Notwendigkeit, indem 5
Ich bediene mich hier und im Folgenden der Übersetzung von H.G. Zekl, Hamburg 1992, allerdings nicht ohne gelegentliche Abweichungen. Die Ergänzung griechischer Termini soll das Verständnis erleichtern. 6 Vgl. Gloy [1986] 35; Böhme [1996] 19.
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sie diese, soweit möglich, durch Überzeugung (hypo peithous, 48a, 51e) dazu bringe, ihr zu folgen. Nur weil es sich hier um den Sonderfall einer gegenstandsadäquaten Rhetorik handelt, kann der anwesende Sokrates überhaupt damit einverstanden sein, dass die Kosmologie durch eine ungewöhnlich lange Rede entfaltet wird und darin durch und durch bildlich ist. Ja nur aus diesem Grund kommt es überhaupt zur Rede des Timaios. Veranlasst wird sie nämlich durch den von Sokrates geäußerten Wunsch, den Idealstaat, wie er in einem tags zuvor geführten Gespräch bestimmt und in seinem grundlegenden Aufbau noch einmal rekapituliert worden ist, nun auch in Bewegung zu sehen (19b). Als reiner Ideendialektiker sieht sich Sokrates aber genau dazu nicht in der Lage. Er muss sich deshalb zugunsten einer wahren, weil philosophischen Rhetorik zurückziehen, die sich darauf versteht, jenen bewegten Kosmos, der nur ein Abbild von Ideen ist, auf der Grundlage von Ideen bildlich zu thematisieren. Es handelt sich dabei freilich um einen ganz besonderen Rückgriff auf die Überzeugungspotentiale der Rhetorik. Die wahre Rhetorik, die in der Kosmologie gefordert ist, kann sich nämlich keinesfalls schon dadurch realisieren, dass sie dialektisch Erkanntes möglichst geschickt an philosophisch Ungebildete vermittelt, wie dies in Platons politischer Rhetorik versucht wird.7 Denn der Mittellage der wahren Rhetorik zwischen philosophischer Erkenntnis und bloßen Meinungen entspricht hier und nur hier ein eigener mittlerer Gegenstandsbereich, der mit den bildlichen Mitteln des eikōs logos zu erschließen ist.8 Die Rhetorik muss in der Kosmologie eikōs logos werden. Wie kaum zu übersehen ist, liefert die mathematische Beschreibung kosmischer Strukturen dabei ein zentrales Hilfsmittel. In manchen Passagen scheint sie sogar das ganze Gewicht der platonischen Kosmologie zu tragen. Man denke nur an die Proportion der Elemente (31c–32c) und deren spätere Ableitung aus Elementardreiecken (53c ff.) oder an die Einteilung der Weltseele (35a–36d), die in der zeitlichen Verlaufsform der planetaren Perioden ihren deutlichsten Ausdruck findet (38e–39e). Vor dem Hintergrund des Liniengleichnisses, das der Mathematik eine Mittelstellung zwischen dialektisch zu thematisierenden Ideen und dem Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren zuweist (Resp 510b–511e), kann dieser mathematische Aspekt des eikōs logos natürlich nicht überraschen. Man muss sich allerdings deutlich machen, dass es hierin nur um den strukturellen Aspekt des eikōs logos gehen kann, in dem sich dieser keineswegs erschöpft. Bei der Umsetzung des eikōs logos spielt 7 Zu denken ist dabei primär an die Proömien der Nomoi (716e ff.), die eine schon im Gorgias (505d) und Phaidros (271a) geforderte politische Rhetorik auf dialektischer Grundlage zu realisieren versuchen. 8 Die faktisch vorgefundene Polis entspricht zwar in gewisser Weise dieser Mittellage des Kosmos. Während der Kosmos unverändert in dieser Mittellage verbleiben muss, rechnet Platon für die Polis aber zumindest mit der realen Möglichkeit ihrer ideenadäquaten Durchgestaltung durch die berühmt-berüchtigte Philosophenherrschaft (502c), und sei diese auch günstigstenfalls nicht schlechthin vollständig zu erzielen, weil die Praxis weniger das Wahre zu treffen vermag als der Logos (Resp 473a).
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offenkundig auch die Berücksichtigung der Erkenntnis und Überzeugungs begrenzenden Menschennatur eine wichtige Rolle, und zwar nicht zuletzt, wenn es um die schwer verständliche Entstehung des Kosmos geht. Dies zeigt sich bereits in der unmittelbaren Fortsetzung jener oben zitierten Stelle aus dem Proömium, die den eikōs logos zu erläutern versucht. Und genau in diesem Zusammenhang ist denn auch zum ersten Mal von einem eikōs mythos die Rede: „Wenn nun Sokrates, bei ausführlichem Vortrag über mannigfaltige Vorgänge – Entstehung (genesis) von Göttern und des Alls – wir nicht in der Lage sein sollten, eine ganz und gar mit sich selbst übereinstimmende und genaue Darstellung (logoi) zu geben, so sei bitte nicht verwundert; vielmehr wenn wir nicht weniger Wahrscheinliches (eikotas) als andere vorbringen, so müssen wir uns damit zufrieden geben, bedenkend, dass der Sprecher – ich – und ihr, die Beurteiler, Menschennatur (physin anthrōpinēn) haben; also wenn wir über diese Dinge die wahrscheinliche Geschichte (eikōs mythos) vernehmen, so ist es angemessen, darüber hinaus nichts weiter suchen zu wollen.“ (29c–d) Wie sich diese Rede von einem eikōs mythos zu der vorangegangenen Erläuterung des eikōs logos verhält, ist schon deshalb schwer zu sehen, weil beide Abschnitte so sehr ineinander verwoben sind, dass eine klare Trennung der angesprochenen Gesichtspunkte kaum möglich erscheint. Es sieht vielmehr so aus, als hätte Platon am Schluss der Passage statt eikōs mythos genauso gut wieder eikōs logos sagen können, zumal unmittelbar davor ohnehin von logoi die Rede ist. Dies muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass es sich in beiden Wendungen um vollständige Synonyma handelt.9 Ausgeschlossen ist damit lediglich eine verengende Interpretation, die aus dem Text zu entnehmen versucht, nur der eikōs mythos habe mit der schwer verständlichen Entstehung von Göttern und All bzw. mit der Verständnis begrenzenden Menschennatur zu tun, während umgekehrt nur der eikōs logos auf die im engeren Sinne naturwissenschaftlichen Aspekte der Kosmologie zu beziehen sei. Und ausgeschlossen ist erst recht, diese begriffliche Unterscheidung so auf die Entfaltung der platonischen Kosmologie zu beziehen, dass bestimmte Passagen nur als eikōs logos und andere Passagen nur als eikōs mythos aufzufassen sind.10 Im Text findet sich keinerlei Hinweis auf eine solche Aufspaltung der platonischen Kosmologie. Es ist die Suche nach einer platonischen Vorläufergestalt für die moderne Naturwissenschaft, die immer wieder dazu verleitet, ausschließlich in der Materietheorie und ihrer mathematischen Fundierung durch Elementardreiecke einen eikōs logos zu sehen und den Rest der platonischen Kosmologie in unwissenschaftlicher Mythologie untergehen zu lassen.11 Auch der Versuch, das 9
Dieser Standarddeutung folgt etwa Witte [1964]. Beide Aspekte finden sich bei Meyer-Abich [1973]. 11 Auch diese Tendenz ist bei Meyer-Abich [1973] 28 und 37 ff. klar zu erkennen. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass seine Deutung die zusätzliche Raffinesse besitzt, die „Physik“ des eikōs logos an den unwissenschaftlichen eikōs mythos zurückzubinden. Da es uns verwehrt sei, die ersten Anfänge wissenschaftlich aufzuklären, sei die „Wahrheit“ bzw. „Gegebenheitsweise“ der Physik ein eikōs mythos (32). 10
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Verhältnis von eikōs logos und eikōs mythos zu dynamisieren, indem es an die vorübergehenden Etappen des Erkenntnisfortschritts gebunden wird, erscheint vor dem platonischen Text als untauglicher Versuch seiner Aktualisierung.12 Zu erwägen bleibt allerdings, ob es sich nicht um verschiedene Aspekte des eikōs logos handeln könnte, die dadurch, dass einer dieser Aspekte als eikōs mythos bezeichnet und auf Erkenntnisprobleme bezogen wird, die primär mit der Entstehung der Götter und des Alls zu tun haben, deutlicher zur Abhebung zu bringen sind. III Bevor wir versuchen können, den skizzierten Deutungsvorschlag zu verteidigen, gilt es in den Blick zu bringen, wie bei der Umsetzung des eikōs logos vorgegangen wird. Leitend ist dabei offenkundig der Gesichtspunkt der Ähnlichkeit. Dass es dem Demiurgen darum geht, den Kosmos seinem idealen Vorbild möglichst ähnlich zu machen, wird im Timaios häufig betont, und zwar gerade in der ersten Gestaltungsphase, die seine allgemeinen Strukturen erläutert (30e). Eine zentrale Rolle spielt dabei der Gedanke, dass ein vernünftiger Kosmos besser wäre als ein unvernünftiger, weshalb der Kosmos nicht nur einen Körper, sondern auch eine Seele besitzen muss. Eine Weltseele ist erforderlich, damit die Vernunft den Körper durch ihre Vermittlung leiten kann (30b). Umgekehrt ist das immer Seiende, dem der sichtbare Kosmos zur Ähnlichkeit (eis homoiotēta) gestaltet wird, als ein vernünftiges Lebewesen zu denken (30c). Nicht nur der sichtbare Kosmos ist also ein Lebewesen, sondern auch die Ideengesamtheit, die als sein Vorbild dient. Die größte Ähnlichkeit von Vorbild und Abbild, kosmischem und idealem Lebewesen, wird in der Erläuterung der Zeit erreicht. Es ist deshalb alles andere als ein Zufall, dass gerade die Zeit ausdrücklich als Abbild, nämlich als nach Zahlen voranschreitendes Abbild der im Einen verharrenden Ewigkeit (aiōn), bezeichnet wird. Vielmehr zeigt sich in der Abbildung der Ewigkeit durch die Zeit am deutlichsten, inwiefern der gesamte Kosmos Abbild eines immer seienden, vernünftigen Lebewesens genannt zu werden verdient. Dies liegt daran, dass die Differenz von Vorbild und Abbild, folgt man der platonischen Darstellung, nirgendwo im Kosmos so gering ist wie hier. Dennoch muss betont werden, dass auch in der Zeit Vorbild 12
Vgl. Gloy [1986] 43: „Solange die letzten Gründe und Prämissen nicht bekannt sind, bleibt alles theoretische Wissen mythisch. Darin dokumentiert sich die Einsicht, dass unser mathematisch-naturwissenschaftliches Weltbild nur eines unter anderen ist, das jederzeit in Frage gestellt werden kann.“ Um dies zu bestätigen, verweist Gloy auf Timaios 59c und 68d, also auf jene beiden anderen Stellen, an denen nach 29d ebenfalls von einem eikōs mythos die Rede ist. Es geht hier aber nicht um physikalische Phänomene, „bei denen die Reduktion noch nicht gelungen ist“, sondern im ersten Fall um weitere Schmelzen verschiedener Metalle, die laut Text „nicht mehr sehr verwickelt darzustellen wären“, und im zweiten Fall um weitere Farben, bei denen es, wie gesagt wird, „ziemlich klar ist“, aus welchen Mischungen sie anzusetzen wären. Die Erkenntnisschwierigkeiten, von denen kurz darauf die Rede ist, sind eindeutig von unüberwindbar-prinzipieller und nicht von transitorischer Natur.
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und Abbild nicht völlig identisch werden können, wenn die Gesamtkonstruktion ihren Sinn behalten soll. Auch die Zeit ist nicht nur dahingehend Bild, dass sie dem Vorbild möglichst nahe kommt, sondern auch in jenem Rest, der sie wie alle Bilder von ihrem Vorbild trennt. Platon hat dies in seiner Erläuterung der Zeit durchaus berücksichtigt, zumal angesichts der vorplatonischen Bedeutung von aiōn im Sinne von Leben, Lebenskraft oder Lebendigkeit das verzeitlichende Missverständnis der Ewigkeit nahe liegt. Besonders wichtig ist der sprachkritische Hinweis, vom ewigen Sein (aidios ousia) dürfe nicht gesagt werden, dass es war und sein werde, sondern nur, dass es ist (37e). Wenn das ewige Sein keine Vergangenheit und Zukunft besitzt, kann es nämlich überhaupt nicht in der Zeit sein. Seine Gegenwart müsste entsprechend als reine, zeitlose Gegenwart verstanden werden. Ich kann den damit verknüpften zeittheoretischen Problemen an dieser Stelle nicht weiter nachgehen und betone statt dessen lediglich den zentralen Punkt: eine nicht näher qualifizierte Auffassung des Aion als Lebendigkeit ist zurückzuweisen, weil sie diesen verzeitlicht und seiner Rolle als Vorbild der Zeit damit nicht gerecht wird.13 Ebenso zurückzuweisen ist eine unverhüllte Verzeitlichung der Ewigkeit, die sich in ihrer aristotelisierenden Interpretation als immer währende Dauer zeigt. Die konstitutive Differenz von Vorbild und Abbild legt nahe, dass es sich im Vorbild der Zeit um eine zeitlose Lebendigkeit, und zwar um eine zeitlose Lebendigkeit von Ideen handeln muss, wenn der erzähllogische Zusammenhang von vorbildlichen Ideen, vorbildlichem Lebewesen und vorbildlichem Aion nicht zerrissen werden soll. Es sieht so aus, als müsse am traditionellen Verständnis des Aion als zeitloser Ewigkeit festgehalten werden. Wie eine zeitlose Ewigkeit genauer zu verstehen ist, lässt sich mit dem Timaios freilich kaum erläutern, weil er über die Ewigkeit nicht mehr sagt, als dass sie im Einen ruht. Man könnte meinen, dass dies eine Sackgasse darstellt, aus der es keinen Ausweg gibt. So ist immer wieder behauptet worden, dass das Vorbild für die Erschaffung des Kosmos nur im Ausgang von seinem Abbild zu verstehen sei. Und wenn dies richtig ist, kann die aufgeworfene Frage natürlich niemals geklärt werden. Wie mir scheint, ist mit Platon jedoch lediglich einzuräumen, dass das Vorbild sich als Vorbild nur in seinem Bezug zum Abbild zeigen kann. Dies folgt nicht nur aus Platons Bildbegriff, sondern auch aus dem Vorgehen des Timaios, der das Vorbild für die demiurgische Gestaltung immer wieder auf dem Umweg über mehr oder minder bekannte Eigenschaften des Kosmos bestimmt. Daraus darf keinesfalls abgeleitet werden, dass das Vorbild nur im Ausgang von seinem Abbild bestimmt werden kann. Die konstitutive Asymmetrie zwischen Vorbild und Abbild setzt im Gegenteil voraus, dass das Vorbild in jenen Bestimmungen, die es zum Vorbild werden lassen, auch unabhängig von seinem Abbild zugänglich ist. Es scheint also angebracht, die Grenze, die der Timaios für das Verständnis der Ewigkeit aufgerichtet hat, nicht vorschnell für unüberwindbar zu halten, son13
Vgl. dazu und zum Folgenden Mesch [2003].
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dern die vorenthaltene Auskunft andernorts zu suchen. Zu denken ist dabei weniger an einen bestimmten Dialog als an die insgesamt praktizierte Gesprächsführung. Denn diese greift in einer Weise auf Ideen zurück, die sich nicht hinreichend verstehen lässt, wenn man diesen Rückgriff als zeitlichen Vorgang und die Ideen selbst als zeitliche Entitäten auffasst. Besonders deutlich zeigt sich dies an jenen Stellen, an denen das Vorgehen des Dialektikers nach seinen erkenntnistheoretischen und ontologischen Voraussetzungen reflektiert wird. Auch hierfür besitzt der Sophistes eine herausragende Bedeutung (253b ff.). Vor allem in der Untersuchung der höchsten Gattungen lässt Platon ausdrücklich werden, was sein Vorgehen bereits in früheren Dialogen bestimmt hatte: Der Dialektiker kann eine Idee nur bestimmen, indem er zu einer anderen Idee übergeht. Dass dies so ist, liegt an der Bestimmtheit, die es in der Idee zu denken gilt, und nicht an irgendeiner Bewegtheit seines Denkens, die der Idee äußerlich bliebe. Ideen selbst haben (zeitlos) immer aneinander teil (254e), und zwar im Sinne eines zeitlos bewegten Ideenzusammenhangs, der in einer Zeit transzendierenden Ideendialektik zur Darstellung kommt. Wenn dies so ist, drängt es sich auf, auch das Leben des Seienden, das im Timaios als Vorbild des Kosmos dient, anhand der Ideendialektik verständlich zu machen. Die Ewigkeit wäre demnach die Lebendigkeit des Seienden, wie es sich in der Ideendialektik zeigt. Die Ewigkeit müsste als Zeit transzendierende Vollzugsform ideendialektischen Denkens verstanden werden. Wenn dies selbst im Sophistes nicht ausdrücklich gesagt wird, so liegt dies vermutlich daran, dass die Ideendialektik hier nicht in kosmologischer Perspektive, also nicht als Vorbild der Zeit thematisiert wird. Noch wichtiger dürfte sein, dass eine Ewigkeit, die als Zeit transzendierende Vollzugsform ideendialektischen Denkens zu verstehen ist, überhaupt nicht auf dieselbe Weise bestimmt werden kann wie Ideen und ihre höchsten Gattungen. Als Vollzugsform der Ideendialektik kommt sie vielmehr so zur Darstellung, dass sie sich in der Tätigkeit des Dialektikers zeigt. Die Ewigkeit ist nach Platon keine Idee und auch keine höchste Gattung, sondern jener Aspekt des dialektischen Denkens, durch den es in seiner bewegten Ruhe und in sich differenten Identität als Vorbild für die zeitliche Vollzugsform seelischer und körperlicher Bewegung im Kosmos verständlich wird. Bereits anhand dieser Skizze lässt sich erläutern, wie das Abbildungsverhältnis von Kosmos und idealem Lebewesen auf der Grundlage des Ewigkeitsbegriffs zu verstehen ist. Die Identität von Zeit und Ewigkeit liegt darin, dass beide als eine Einheit von Vielheit aufzufassen sind, durch die der Bewegung ein Moment der Ruhe zukommt, das ihr die verständliche Organisation eines Lebewesens verleiht. Ihre Differenz liegt darin, dass sich diese Lebendigkeit nur im Falle der Ewigkeit als reine Ideendialektik realisiert. Die Lebendigkeit der Zeit gehört dagegen zur seelischen Bewegtheit eines körperlichen und deshalb wahrnehmbaren Kosmos (28b). Körperliche Bewegung kann aber nur als ein Werden und Vergehen „an einem bestimmten Ort“ gedacht werden, bei dem im alles aufnehmenden Raum eines „in ein anderes fortgeht“, und nicht als ein Verharren im Einen, das auch in seiner Teilhabe an anderem ganz bei sich selbst bleibt (52a). Es ist deshalb letzt-
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lich die aufgrund ihrer Gestaltlosigkeit kaum zu erfassende chōra, die als Stoff der Abbildung des vollkommenen Lebewesens für seine grundsätzliche Differenz zum Kosmos und damit auch für die Differenz von Ewigkeit und Zeit verantwortlich ist. Dies bedeutet aber nicht, dass der Kosmos ebenso unverständlich wäre wie der Raum. Vielmehr ist er als ein in diesem gestaltetes Bild lediglich für eine genaue Ideendialektik unzugänglich und kann wenigstens so weit dem Verstehen erschlossen werden, wie eine bildhafte Rede, die seiner Seinsweise angemessen ist, dies zulässt (29c). Der höchste Punkt seiner Verständlichkeit wird dabei von der nach Zahlen voranschreitenden Zeit eingenommen, die als ein Abbild ideendialektischer Lebendigkeit deren Rationalität zwar nicht unvermindert, aber doch erkennbar enthält. Zugänglich wird diese durch die sinnlich wahrnehmbaren Kreisbewegungen der Himmelskörper, die andere Bewegungen zu messen erlauben, und deshalb protreptisch zu wirken vermögen (47a). Während die chōra als allgemein-stofflicher Aspekt anzusehen ist, durch den die Zeit von der Ewigkeit abweicht, ist die Bewegung der Himmelskörper bzw. die Bewegung der Weltseele, die darin sichtbar gemacht wird, als konkret-stofflicher Aspekt ihrer Abweichung anzusehen. Bereits in diesem konkret-stofflichen Aspekt und erst recht in seiner weiteren Formung zur Zeit ist das bloß Werdende so weit in seinem Sein verständlich gemacht, wie dies im Rahmen der chōra überhaupt möglich ist. IV Ich komme damit zum kausalen Aspekt des kosmologischen Verhältnisses von Vorbild und Abbild, also zur Frage, wie die erzählte Herstellung des Kosmos aufgefasst und mit dem strukturellen Aspekt der Abbildlichkeit verbunden werden kann. Auszugehen ist dabei von der Feststellung, dass die Kosmogonie nach eigener Aussage nicht in jeder Hinsicht wörtlich genommen werden darf. Im Text wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Seele nicht deshalb schon später entstanden zu sein braucht als der Körper, weil ihre Entstehung später berichtet wird. Im Gegenteil hätte der Demiurg nie zugelassen, dass „Älteres vom Jüngeren beherrscht würde“; und daran, dass die Seele den Körper zu beherrschen habe, bestehe kein Zweifel. Wenn die Darstellung in einer anderen Reihenfolge berichte, so zeige sich darin lediglich unsere Teilhabe am Zufall und Ungefähr (34b–c). Ein zweiter Ausgangspunkt für die Einschätzung der erzählten Herstellung ist bereits ausführlich besprochen worden. Folgt man dem Proömium der Kosmologie, kann der Kosmos nur ein Bild und seine kosmologische Thematisierung entsprechend nur eine unersetzbar bildliche Rede sein. Nimmt man beides zusammen, erscheint die Dauerkontroverse um den Status der Kosmogonie14 in einem fragwürdigen Licht. Die seit der alten Akademie diskutierte Frage, ob Platon die Strukturen des Kosmos nur aus didaktischen Gründen (didaskalias charin) als eine zeitliche, sich sukzessiv entfaltende Entstehung des Kosmos beschrieben habe, oder ob seine 14
Vgl. die gründliche Studie von Baltes [1996].
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Entstehung im Sinne eines in verschiedene Phasen gegliederten Vorganges wörtlich zu verstehen sei, erweist sich als falsch gestellt. Denn wörtlich zu nehmen kann die zeitliche Entstehung schon deshalb nicht sein, weil eine zeitliche Entstehung der mit dem Kosmos entstandenen Zeit zumindest ebenso unsinnig wäre, wie eine Entstehung des Körpers vor der Seele. Der Kosmos kann nicht zeitlich entstanden sein, wenn dies bedeutet, in der Zeit entstanden zu sein. Ein Entstehen der Zeit in der Zeit führt in einen Zirkel, dem nur auszuweichen wäre, indem man eine vorkosmische Zeit unterstellt. Abgesehen davon, dass Platon eine solche Zeit nirgendwo erwähnt, könnte sie kaum als attraktive Konzeption verteidigt werden, weil sie offenkundig in einen Regress zu führen droht. Wenn der Kosmos und die Zeit nicht zeitlich bzw. in der Zeit entstanden sein können, so bedeutet dies aber auch nicht, dass Platons Rede von ihrer Entstehung nur eine äußerliche Didaktik wäre, während es eigentlich um unentstandene, unveränderliche und ideale Strukturen des Kosmos ginge. Um eine didaktische Präsentation idealer Strukturen kann es deshalb nicht gehen, weil diese dann als solche zu thematisieren und darin genauer, nämlich gemäß der Genauigkeit der Ideendialektik zu bestimmen sein müssten. Und dies widerspricht der im Text ausdrücklich behaupteten Angemessenheit des eikōs logos an seinen besonderen, durch Veränderung und Körperlichkeit charakterisierten Gegenstand. Damit ist nicht bestritten, dass der Kosmos Strukturen besäße, was angesichts seines idealen Vorbildes, dem er soweit wie möglich angeglichen wird, offenkundig ist, wohl aber, dass es sich hier um Strukturen handelt, die von demjenigen, woran sie sich finden, abgelöst und für sich betrachtet werden können, ohne aufzuhören, ebendiese Strukturen zu sein. Der Kosmos gehört zum Bewegten, das als solches niemals wahrhaft ist. Nur weil der Kosmos ein ideales Vorbild besitzt, ist er überhaupt mit einem gewissen Erkenntnisanspruch thematisierbar, wenn auch bloß mit dem einer bildlichen Rede. Da diese dem Status des Gegenstandes als eines Abbildes entspricht, ist sie nicht durch eine genauere Rede zu ersetzen. Wer dialektisch über die Vorbilder des Kosmos sprechen würde, spräche eben nicht mehr über den Kosmos. Umgekehrt zeigt der defizitäre Status der Abbilder an, dass Ideen als solche dem Stoff des bewegten Kosmos, der chōra, niemals wirklich immanent sein können (52a). Was formal in den Kosmos eingeht, sind nicht die Ideen als reine Formen, sondern nur jene abstrakten Forminhalte, in denen die Abbilder mit den Vorbildern übereinstimmen. Nicht die Idee selbst ist im kosmischen Stoff anwesend, sondern nur ihr stofflicher Abdruck. Trotz aller Ähnlichkeit von vorbildlichen Ideen und abbildlichem Kosmos, wie sie gerade in der Ähnlichkeit von Ewigkeit und Zeit betont wird, bleibt diese Restdifferenz für eine Kosmologie, die auf der Grundlage platonischer Ideen operiert, unüberwindbar. Die Schwierigkeit besteht darin, das Verhältnis zwischen der erzählten Geschichte und der fundamentalen Bildlichkeit der Kosmologie richtig einzuschätzen. Man kann nämlich durchaus über das Verhältnis von Vorbild und Abbild sprechen, ohne das Abbild als etwas Entstandenes zu betrachten. Mehr noch: Wer die Bedeutung von Bildern thematisiert, wer nach ihrem Inhalt fragt und sich dafür
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interessiert, was sie uns sagen, wird nicht primär darauf blicken, wie und unter welchen Umständen sie entstanden sein mögen. Er wird vielmehr untersuchen, was das Bild zeigt, und wenn es sich als ein Abbild eines Vorbildes zu erkennen gibt, das mehr oder weniger gut bekannt ist, nach Ähnlichkeit und Differenz von Vorbild und Abbild fragen. Wie mir scheint, ist dies der abbildtheoretische Ansatzpunkt für die These, Platon sei es eigentlich gar nicht um eine Entstehung des Kosmos gegangen. Nun spricht Platon aber von einer Entstehung des Kosmos. Also wird man kaum für selbstverständlich halten können, dass es ihm auf die Entstehung des Bildes nicht ankam. Auch aus diesem Grund ist die akademische Verteidigung des Timaios gegen die aristotelische Attacke prekär. Es ist schwer zu bestreiten, dass die platonische Kosmologie unsinnig würde, wenn man die zeitliche Entstehung des Kosmos mit Aristoteles wörtlich nähme. Dies bedeutet aber nicht, dass die Rede vom Entstandensein des Kosmos, was dessen sachliche Bestimmtheit betrifft, einfach gestrichen und als eine bloß didaktische Veranstaltung begriffen werden müsste. Da der Rückgriff auf schlechthin ideale Strukturen des Kosmos, die ohne jede Erzählung zu präsentieren wären, verwehrt ist, muss vielmehr gefragt werden, ob womöglich doch aus dem strukturellen Aspekt seiner Abbildlichkeit folgt, dass eine Geschichte seiner Verfertigung erzählt werden muss, um ihn verständlich zu machen. Wie mir scheint, ist dies tatsächlich der Fall. Dies liegt daran, dass der Kosmos kein Bild im üblichen Sinne ist, sondern ein Bild, bei dem auch der kausale Zusammenhang von Vorbild und Abbild interessieren muss. Was bei üblichen Bildern als selbstverständlich oder uninteressant unterstellt werden kann, muss hier bedeutsam werden. Denn die Seinsdefizienz des Kosmos, die sich aus dem strukturellen Aspekt seiner Abbildlichkeit ergibt, wirft die Frage auf, wieso es überhaupt einen Kosmos gibt und nicht nur Ideen. Um diese Frage beantworten zu können, muss der Zusammenhang von Ideen und Kosmos auch in einer kausalen Hinsicht zu erläutern sein. Wenn die Ideen als eigentlich Seiendes zu verstehen sind, muss das Ins-Sein-Treten des Kosmos unter Rückbindung an die Ideen verständlich gemacht werden. Es bietet sich an, zu diesem Zweck eine Geschichte zu erzählen, die das vertraute demiurgische Modell der Herstellung auf den Kosmos überträgt. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Rede vom Entstandensein des Kosmos oder seiner demiurgischen Verfertigung wörtlich zu nehmen wäre, wohl aber, dass er auf eine Weise kausal von Ideen abhängt, die nur so zu erläutern ist, dass man sich temporaler Metaphorik bedient. Wenn es unsinnig ist, den Kosmos als in dem Sinne entstanden aufzufassen, wie es der üblichen Rede vom Entstehen entspricht, liegt es im metaphorischen Kontext nahe, auch die Entstehung des Kosmos als metaphorisch zu betrachten, also so, dass in dieser Rede eine Ähnlichkeit mit der üblichen Auffassung des Entstehens ausgenutzt und diese zugleich zurückgewiesen wird. Entstehen wird üblicherweise als ein zeitliches Ins-Sein-Treten aufgefasst. Wenn der Zeitaspekt problematisch ist, wird es hier also nur auf das Ins-Sein-Treten ankommen können. Es kommt eigentlich nur darauf an, aus der im Text problematisierten Abfolge des Entstehens auf die problematische Zeitlichkeit des Entstehens überhaupt zu
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schließen. Daraus ergibt sich die Auffassung, dass die Entstehung des Kosmos im Timaios weder geleugnet noch (im Sinne der üblichen Bedeutung) buchstäblich genommen werden darf, sondern nur als ein zeitloses Entstehen, als ein Ins-SeinTreten ohne Zeit, aufgefasst werden kann. Wie mir scheint, ist diese Auffassung gegenüber der Einschätzung der Akademie, zumindest wenn sie als simple Ablehnung jeglicher Entstehung verstanden wird, vorzuziehen. Erst recht gilt dies gegenüber Wiederbelebungsversuchen der aristotelischen Einschätzung, die notgedrungen einen schweren Stand haben, wenn sie affirmativ auftreten. Die Rede von einem zeitlosen Entstehen ist sicher nicht unproblematisch, für eine platonische Kosmologie scheint sie allerdings unverzichtbar zu sein. V Aus der erläuterten Differenz eines strukturellen und eines kausalen Gesichtspunkts der demiurgischen Weltgestaltung folgt nicht, dass der eikōs logos primär dem strukturellen Gesichtspunkt und der eikōs mythos primär dem kausalen Gesichtspunkt zugeordnet werden müsste, ja noch nicht einmal, dass deren Differenz überhaupt durch eine solche Zuordnung zu erläutern wäre. Dennoch dürfte sich gezeigt haben, was für eine solche Zuordnung spricht, wenn es um die im Text nicht näher erläuterte Doppelung von kosmologischem Logos und kosmologischem Mythos geht. Die grundlegende Dimension der demiurgischen Weltgestaltung wird durch die Abbildlichkeit des Kosmos und dessen strukturelles Verhältnis zum Vorbild bestimmt. Bezieht man dies auf Platons Rede vom eikōs logos, wird verständlich, warum sie im Text eindeutig dominiert, während vom eikōs mythos nur dreimal die Rede ist. Dabei lassen sich fast alle späteren Erwähnungen des eikōs logos unschwer im Sinne des skizzierten Strukturgedankens erläutern. Der eikōs logos fordert zunächst, dass der Kosmos als beseeltes Lebewesen entsteht (30b), wobei die Betonung offenkundig nicht darauf liegt, dass er entsteht, sondern als was er entsteht. Eine weitere Stelle ist ein ausdrücklicher Rückgriff auf die anfängliche Bestimmung des eikōs logos, der die für ihn unangemessene Frage nach dem Ursprung von allem abzuweisen versucht (48d). Eine ähnliche Abweisung der Ursprungsfrage findet sich in einer jener Stellen (53d), die besonders deutlich strukturbezogen sind, weil sie die mathematische Konstruktion der Elemente thematisieren (56a, 56b, 57d). Kaum weniger deutlich strukturbezogen ist der rekapitulierte Nachweis, nach dem der eikōs logos nur einen einzigen Kosmos zulässt (55d). Eine andere Stelle, in der es um die Mischung von Farben geht, lässt sich insofern einbeziehen, als sie durch die große Zahl von Mischungsverhältnissen selbst für einen eikōs logos unthematisierbar werden (68b). Schwierigkeiten bereitet allenfalls die kuriose Stelle, an der behauptet wird, furchtsame Männer würden gemäß dem eikōs logos als Frauen wiedergeboren (90e). Auch hier dürfte es jedoch weniger um eine bestimmte Entstehung als um ihren strukturellen Grund gehen.
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Was den eikōs mythos betrifft, liegt es dagegen nahe, an das erzählte Nacheinander der Herstellung des Kosmos und insofern an dessen kausalen Aspekt zu denken, wenn man sich am üblichen Verständnis von Mythen als erzählten Ursprungsgeschichten orientiert. Außerdem bietet es sich gerade bei der Darstellung des kosmischen Ursprungs an, von einem Mythos Hilfe zu erwarten. Wie in der Politeia gesagt ist, sind Mythen dann nützlich, wenn sie sich auf „alte Begebenheiten“ beziehen, über die wir nicht wirklich Bescheid wissen können, und dabei versuchen, die Unwahrheit der Wahrheit so genau wie möglich nachzubilden (Resp 382d). Die Entstehung des Kosmos dürfte ein besonders extremer Fall einer solchen mythischen Vergegenwärtigung vergangener und vergessener Vorgänge sein, die für uns entweder faktisch oder prinzipiell nicht anders zu vergegenwärtigen sind.15 Extrem ist dieser Fall, weil es sich hier nach Platon um Ursprünge handelt, die wir uns angesichts unserer Natur prinzipiell nicht genau vergegenwärtigen können, und zwar weder durch einen historischen noch durch einen dialektischen Logos. Dazu passt gut, dass an allen drei Stellen im Text, an denen von einem kosmologischen Mythos die Rede ist, primär auf die Entstehung des Kosmos (29d) oder kosmischer Phänomene wie Schmelzen (59c) und Farben (68d) Bezug genommen ist. Dazu passt auch, dass an einer späteren Stelle gesagt wird, nun solle dem „Mythos“ das Haupt aufgesetzt werden, was zweifellos auf den Abschluss der Erzählung zielt (69b). Sicher hätte hier, ebenso wie an vielen anderen Stellen, statt „Mythos“ auch „Logos“ gesagt sein können. Aber darum geht es nicht. Interessant ist das Verhältnis von eikōs logos und eikōs mythos nicht wegen möglicher Wortverwendungen, sondern wegen der sprachlichen Artikulation begrifflicher Verhältnisse, die für die platonische Philosophie von Bedeutung sind. Was also folgt aus dem Verhältnis des strukturellen und des kausalen Aspekts der demiurgischen Weltgestaltung für das Verhältnis von kosmologischem Logos und kosmologischem Mythos? Wie mir scheint, ist festzuhalten, dass der Logos auch hier gegenüber dem Mythos eine gewisse sachliche Priorität besitzt. Man muss den Kosmos sicher nicht für zeitlich entstanden halten, um ihn als Abbild von Ideen betrachten zu können. Dennoch ist der Mythos der Weltgestaltung keine bloß didaktische Veranstaltung. Auch ein zeitloses Ins-Sein-Treten kann nämlich nur so verständlich gemacht werden, dass es sich einer temporalen Metaphorik bedient. In dieser temporalen Metaphorik zeigt sich, dass der Kosmos nicht nur formal von den Ideen abhängt, sondern auch kausal, wofür in der Anlage des Timaios der Demiurg steht. Bezieht man sich auf diesen unverzichtbaren kausalen Gesichtspunkt, scheint mir der eikōs mythos für ein platonisches Verständnis der Kosmologie ebenso grundlegend zu sein wie der eikōs logos. Umgekehrt wird sich, wer diese kausale Abhängigkeit zum Ausdruck zu bringen versucht, viel15
Wenn ich recht sehe, berührt sich meine Deutung hier mit dem Vorschlag von Brisson [1982/1994] Kap. 13. Nur der gegenwärtige Zustand wahrnehmbarer Dinge, die Abbilder von Ideen sind, kann demnach in einem falsifizierbaren Diskurs wie dem eikōs logos thematisiert werden. Der eikōs mythos thematisiert dagegen das Zustandekommen dieser Abbilder in einem (zeitlosen) Früher und ist deshalb nicht falsifizierbar.
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leicht nicht unbedingt der Konzeption eines Demiurgen bedienen müssen, wohl aber irgendeiner temporalen Metaphorik, und sei diese auch als bloße Metaphorik kenntlich gemacht.
DER MYTHOS VON THEUTH UND THAMUS: PHAIDROS 274c-275c Kurt Sier Wenn die platonischen Mythen sich nach der Art ihres Kontextbezugs in zwei Klassen teilen – die einen selbständige Erzähl- und Sinnkonstrukte, die anderen transparente Einkleidungen der philosophischen Aussage –, so gehört der Theuth-Mythos im Phaidros zweifellos der zweiten Gruppe an.1 Er will nicht als deutendes Gesamtbild wirken und konstituiert keinen autonomen Sinnzusammenhang, der neben der philosophischen Argumentation angesiedelt wäre und diese symbolisch erhellte, sondern nimmt auf einfache und direkte Weise thematische Aspekte narrativ vorweg, die dann argumentativ erörtert werden. Will sagen: So berühmt und wirkungsmächtig er sein mag, scheint er auf den ersten Blick doch eigentlich entbehrlich – worauf Platons Text denn auch ausdrücklich hinweist (275b). Sokrates müsste sich nicht zwangsläufig aufs aigyptiazein, auf die Rede von ägyptischen Mythen verlegen, um klar zu machen, worum es ihm geht, denn gleich danach bringt er das Diskussionsthema ohne alle Verfremdung auf den Punkt. Aber er tut es eben doch, und man kann fragen, wie die Funktion und der Mehrwert des Ägyptischen und Mythischen zu bestimmen wären. In anderen Fällen, wo Platon die transparente Form des Mythos wählt, ist mit ihr tendenziell auch eine Charakterisierung des Vortragenden verbunden. Sie ist nicht so sehr ein Medium des philosophischen Fragens und der Approximation wie ein Ausdruck der Gewissheit und kennzeichnet den ,Weisen‘ (sophos), der sich des Mythischen als einer Art eingängiger Metapher bedient, so im Protagoras (vgl. 320c) oder bei Diotimas Geburtsgeschichte des Eros im Symposion.2 Der Sophistes unterstellt eine solche Absicht auch den vorsokratischen Naturphilosophen, die zu uns nur in Mythen redeten, „als wären wir Kinder“; doch sei es den weisen Männern bedauerlicherweise nicht gelungen, sich klar auszudrücken, d.h. ihre ,Märchen‘ so zu gestalten, dass diese verständlich auf den von ihnen intendierten Sinn verwiesen (242c–243b). Natürlich ist das pure Ironie. Der Phaidros andererseits – er steht dem Sophistes chronologisch wohl nicht allzu fern3 – spielt mit den Modi des Mythischen und macht Sokrates nicht nur zu einem reflektierten Interpreten der mythologischen Tradition (vgl. 229c–230a vs. 259b–d; auch 243a–b), sondern lässt ihn sowohl die eine als auch die andere Form des platonischen Mythos verwenden: den ,autonomen‘ Typus in seiner großen Eros-Rede (244a–257b), den ,relativen‘ in 1
Neuere Literatur: Heitsch [1997]; Kühn [2000]; Sier [2003]; Yunis [2011]; Werner [2012]; Ryan [2012]. Vgl. auch Derrida [1972] und Rinon [1992], [1993]. 2 Sier [1997] 51. 3 Zur Datierung des Phaidros vgl. die Diskussion von Heitsch [1997] 231–233, der mit einer „Abfassung um 365“ rechnet.
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der Geschichte von Theuth. Doch tritt Sokrates weder hier noch dort in der Rolle des Weisen auf. Sein aigyptiazein ist zwar, wie gesagt, eine durchsichtige Maske, aber er geriert sich nicht als der überlegene sophos, sondern der philosophos beruft sich mit einem für ihn typischen Gestus: „ich habe gehört …“,4 auf die Weisheit von anderen. Der Mythos, den er vorträgt, überbrückt eine kompositorische Fuge im Aufbau des Dialogs. Die Struktur sieht im Grundriss so aus, dass auf drei Reden zum Thema ,Eros‘ (230e–257b), die zueinander in Konkurrenz stehen und deren erste, von Phaidros referierte, angeblich von dem Rhetor Lysias stammt, eine zweigeteilte Diskussion folgt. Der erste Teil ist der Frage nach den Bedingungen einer philosophisch akzeptablen Rhetorik (259e–274b), der zweite dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und dem Vorzug der Oralität gewidmet (274b–278e). Die Pointe von Platons Darstellung besteht offenkundig in der Annahme einer Konvergenz der drei scheinbar disparaten Themen – Erotik, Rhetorik, Schriftkritik – und ihrer Bündelung im Aspekt der Kommunikation und Erkenntnisvermittlung. Doch wie diese Zusammenführung sich konkret gestaltet, ist nicht auf Anhieb klar. Aus einem Blickwinkel erscheint der Eros als das einheitsstiftende Moment, das die Sinnrichtung der nachfolgenden Diskussion vorzeichnet und den Idealfall menschlicher Kommunikation repräsentiert. Ein gelingender, echtes Verstehen erzeugender Austausch ist nach dem Phaidros nur im erotisch-philosophischen Gespräch zweier Partner möglich, bei dem der ,Wissende‘ in seinem Gegenüber etwas wachruft, das der andere potentiell auch selbst schon weiß. Die Rhetorik kann (und sollte) diese ,mäeutische‘ Situation zwar insoweit nachahmen, als der Redner sowohl über die Sache Bescheid wissen muss, von der er jeweils spricht, als auch auf die Individualität seiner jeweiligen Adressaten Rücksicht zu nehmen hat. Aber ihr wird per se nie gelingen, was im persönlichen Dialog stattfinden kann – dass der Wissende den eigenen Wissensanspruch in Frage und zur Diskussion stellt und durch sein Rechenschaft-Geben (logon didonai) im Gesprächspartner ein selbständiges Verstehen-Wollen auslöst. Indes lässt sich fragen, wieso der Rhetorik dergleichen (mutatis mutandis) prinzipiell verwehrt sein muss. Gewiss, die rhetorische Praxis mag sich eher am ,Wahrscheinlichen‘ und vordergründig Einleuchtenden als an der ,Wahrheit‘ orientieren, und als psychagōgia, als Kunst der ,Seelenführung‘, mag die Rhetorik tendenziell auf eine Manipulation und Täuschung ihres Publikums angelegt sein. Doch wie Sokrates ausführt, kann sie auch unter diesen reduzierten Ansprüchen einer philosophischen Fundierung durch die Dialektik nicht entraten, wenn sie denn wirklich eine technē sein und eine erfolgversprechende Methode besitzen will (260a–262c; 272d–273e). Wäre es dann nicht denkbar, dass die öffentliche Rede eine Form annehmen kann, die der Philosophie auch inhaltlich, im Wahrheitsanspruch und in einer echten Verständigung mit ihrem Gegenüber, verpflichtet wäre?5 Zwar ist ihr ein Man4 5
Phdr 274c1–5. Vgl. Heitsch [1997] 188, 248–251. Sier [1997] 14. Vgl. Kühn [2000] 112–121.
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gel an Kommunikationssicherheit insofern inhärent, als sie sich ihre Adressaten nicht aussuchen kann und gegen Missverständnisse nicht gefeit ist;6 doch ist Sokrates bemüht, den vorhandenen Gegensatz zum Gespräch auch in diesem Punkt einzuschränken: Wenn der philosophisch instruierte Redner sich naturgemäß auch nicht auf den individuellen Charakter eines jeden seiner Zuhörer einstellen kann, so verfügt er doch über eine umfassende und spezifizierte Charakterologie, die ihn gegenüber einer (mehr oder weniger) inhomogenen Menge das typologisch jeweils Adäquate tun lässt (271b–272a). Und immerhin rechnet Platon im Politikos und in den Nomoi mit einem Staatsmodell, das sich der Rhetorik als Kommunikationsmediums gezielt bedient.7 Das macht die Rhetorik (auch die des Philosophen) noch nicht zur Philosophie, aber es schüttet doch den tiefen Graben etwas zu, den der Gorgias gegenüber der traditionellen Redekunst aufgerissen hatte. Der Phaidros allerdings scheint in dieser Hinsicht dem Frühdialog näher zu stehen als den späteren Werken – er trifft sich mit diesen im Konzept einer philosophisch begründeten Rhetorik, behauptet aber trotzdem wie jener, dass zwischen der Redekunst und dem persönlichen Gespräch ein unüberbrückbarer Gegensatz bestehe. Inwiefern? Platon rekurriert nicht etwa auf Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit (etwa dass der Redner einen Gesichtsverlust und Misserfolg befürchten müsste, wenn er seinen Standpunkt selbstkritisch zu rechtfertigen versucht), und es ist auch nicht das Eros-Thema, das die Grenzen des Rhetorischen mit hinreichender Deutlichkeit bestimmen würde (doch siehe weiter unten). Vielmehr kommt hier die Diskussion um Mündlichkeit und Schriftlichkeit ins Spiel, und die Dinge liegen denn doch etwas komplizierter, als es zunächst aussieht. Vom Ende her erscheint der ganze Dialog in einem anderen Licht.8 Die Schriftkritik ist ja nicht bloß eines der drei Hauptthemen des Phaidros, sondern sie betrifft zugleich auch diesen Text selbst in seiner schriftlichen Verfasstheit und gehört insofern sowohl der Darstellungsebene als auch einer MetaEbene an.9 Platon weist auf die metaliterarische Dimension der Partie zwar nur ganz zum Schluss und mit ironischer Beiläufigkeit hin (278b7, vgl. 276c7–e3),10 6
Heitsch [1997] 192f. Vgl. Sier [2008]. 8 Derrida [1972] 83: „toute la dernière partie […], toute cette instruction du procès de l’écriture devra bien cesser d’apparaître un jour comme une fantaisie mythologique surajoutée, un appendice dont l’organisme du dialogue aurait bien pu se passer sans dommage. En vérité, elle est rigoureusement appelée d’un bout à l’autre du Phèdre“. 9 Vgl. genauer Sier [2003]; im Folgenden habe ich dem früheren Beitrag mehrere Formulierungen entlehnt. – In ähnliche Richtung gehen neuerdings die Ansichten von Werner [2013] 185–235, der sich leider dazu entschlossen hat, alles, was nicht auf Englisch geschrieben ist, zu ignorieren; nicht einmal den vieles neu aufschließenden Kommentar von Heitsch [1997] hält seine lange Literaturliste einer Erwähnung für wert. 10 Mit pepaisthō spielt Platon, wie es scheint, auch auf den ähnlich ironischen Schluss der Helena des Gorgias an (VS 82 B 11, 21): emon de paignion. – Vgl. auch Heitsch [1997] 61 Anmerkung 67. 7
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aber die Diskussion als solche legt einem aufmerksamen Leser zweifellos die Frage nahe, was es zu bedeuten hat, dass der Phaidros die Möglichkeit, mit Hilfe schriftlicher Texte Erkenntnis zu vermitteln, zwar grundsätzlich in Zweifel zieht, die Vermittlung dieser Erkenntnis aber ihrerseits dem schriftlichen Medium anvertraut. Indes macht die Frage, ob die Schriftkritik auf solche Reflexivität und auf einen performativen Selbstwiderspruch hinauswill, nur einen Teilaspekt ihrer Implikationen aus. Denn nimmt man sie beim Wort, wird auch der vorangehende Dialog, als schriftlicher Text, hinsichtlich der Validität seiner Aussagen relativiert und in ein skeptisches Zwielicht gerückt, und das Ganze (einschließlich der Schriftkritik) mündet in die Botschaft, dass jede dogmatische Lesart den Sinn des Phaidros schon deshalb verfehlt, weil sie übersieht, dass das vermeintlich Definitive durch den Umstand seiner schriftlichen Äußerung konterkariert wird. Verständlicherweise hat die darin liegende LektüreAnleitung zahllose Interpretationen erfahren und den Passus zu einer der hermeneutisch-methodologisch umstrittensten Stellen in Platons Œuvre werden lassen. Sicherlich steht hier auch die Tatsache der Schriftlichkeit seiner eigenen Dialoge zur Debatte, und es hilft nicht weiter, die Schriftkritik mit dem Argument entschärfen zu wollen, dass das von Sokrates entworfene Szenario für einen philosophischen Gebrauch der Schrift sich nicht eins zu eins auf die platonischen Schriften anwenden lasse.11 Doch bevor man diesen methodologischen Dingen nachgeht, ist es vielleicht angebracht zu fragen, welche Funktion der Abschnitt über die Schriftlichkeit im Kontext des Phaidros eigentlich erfüllt. Denn seine argumentative Einbettung ist alles andere als klar. Folgt man dem Dialogverlauf und hält sich an die Sinnrichtung der vorangehenden Erörterungen, so kommt die Skepsis der Schriftkritik einigermaßen überraschend.12 Die Rhetorik-Diskussion, die ebenso die rednerische Praxis wie die im mündlichen Unterricht und in Handbüchern vermittelte Theorie berücksichtigt, erweist die Notwendigkeit, beide Bereiche auf das Fundament der Dialektik zu stellen, und dabei macht Sokrates keinen Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit – wie denn die ganze Diskussion von der Frage nach der rechten Art des Redens und Schreibens ihren Ausgang nimmt (258d, 259e; vgl. 277b1–6). Im Anschluss an die Rede des Lysias, die Phaidros vorgetragen hat und die, dem Metier des ,Logographen‘ entsprechend, einen Mittelstatus zwischen Schriftlich und Mündlich einnimmt,13 gelten das Reden11
Dazu und zu den verschiedenen Deutungsoptionen der Schriftkritik vgl. Sier [2003]. Kühn [2000] 64f. Schwer verständlich ist, wie Yunis [2011] 223 sagen kann: „S(ocrates) turns now to the question of writing because Ph(aedrus)’ rejection of sophistic rhetoric and progress towards philosophy require an examination of this question“. 13 Ein Ineinander von schriftlicher Abfassung und mündlicher Performance kennzeichnet natürlich die ältere griechische Literatur überhaupt (jedenfalls in weiten Teilen). Insofern kann die Auseinandersetzung mit Lysias auch für eine Auseinandersetzung mit der traditionellen Literatur stehen – und das ist von Platon auch durchaus so beabsichtigt (277d–e, 278c). 12
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Halten und das Schreiben als zwei komplementäre und gleichberechtigte Kommunikationsmodi. Wie Sokrates gegen eine unreflektierte Abwertung des graphein (257c) einwendet, ist ein Qualitätskriterium nicht in der Frage, ob etwas mündlich oder schriftlich geäußert wird, sondern darin zu suchen, ob dieses gut gemacht ist oder schlecht.14 Daran knüpft die Rhetorik-Diskussion dann in der Tat konsequent an, indem sie zeigt, dass ein technisch effizienter Gebrauch des logos, gleich ob mündlich oder schriftlich, an die Dialektik gebunden ist: Sie liefert das Kriterium, an dem die Qualität von Reden und schriftlichen Texten zu messen ist. Angesichts der über viele Seiten sich erstreckenden Diskussion und des beträchtlichen Aufwands, den Platons Darstellung zur Erzielung dieses Resultats treibt, erscheint es, wie gesagt, überraschend, dass gegen Ende des Dialogs ein anderes Qualitätskriterium auf den Plan tritt, das die Bedeutung der vorangehenden Partie immerhin stark relativiert. Im Zusammenhang der Schriftkritik figuriert die Dialektik zwar nach wie vor als die notwendige Grundlage einer sach- und adressatengerechten Kommunikation, aber der Maßstab für Gut und Schlecht besteht primär weder in der epistemischen Fundierung eines Texts noch in seiner künstlerischen Beschaffenheit, sondern im Grad der Reflexivität, die er aufweist – d.h. ob er eine Reflexion auf seine kommunikative Leistung erkennen lässt oder nicht. Das Paradoxon, dass schriftliche Texte an sich immer nur dasselbe und dabei zugleich jedem Rezipienten etwas Verschiedenes sagen (vgl. 275d–e), macht die Skepsis (oder ein Desinteresse daran, ,authentisch‘ verstanden werden zu wollen) zur ersten Tugend eines Autors. Nur wenn er realisiert, dass sein logos (gleich, ob nur schriftlich festgehalten oder auch mündlich vorgetragen) so lange vieldeutig und missverstehbar bleibt und einer zuverlässigen Erkenntnisvermittlung nicht fähig ist, wie er seinen Erkenntnisanspruch nicht im unmittelbaren Gespräch face to face rechtfertigen, erklären und gegebenenfalls modifizieren kann, ist er in der Lage, einen philosophisch akzeptablen Text zu verfassen – in dem Sinn, dass er diesen Text nicht wirklich ernst nimmt, sondern ihn eher als ein Spiel, als paidia betrachtet (277e). Das berührt sich mit Überlegungen im Politikos über die Inflexibilität der Gesetzestexte und die Frage, wie der philosophische Staatsmann ihr begegnen soll,15 und es stellt dem Reflexionsniveau der vorhandenen griechischen Literatur ein eher negatives Zeugnis aus (277d, 278c). Nach der skeptischen Seite trifft es sich auch mit der in mancher Hinsicht eindrucksvollen Kritik, die Jacques Derrida [1972] an der Phaidros-Stelle geübt hat. Alle intersubjektive Rede ist ein Spiel mit unklaren Regeln, und der Sprechende kann dieser Unsicherheit nur soweit begegnen, dass 14
Die Wertungen kalōs (,auf schöne Weise‘) und aischrōs te kai kakōs (,hässlich und schlecht‘) beziehen sich in 258d4–5 offenbar zunächst auf die Qualität eines Texts und betreffen m.E. nicht eine ihn bestimmende Haltung zur Schriftlichkeit. Allerdings erhalten sie eine solche Konnotation vom Ende her und im Rückblick. Etwas anders Heitsch [1997] 204f. 15 Sier 2008.
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er sich ihrer bewusst wird und dazu steht, dass es sich bei seinen Aussagen bloß um ein Spiel handelt. Dass der Phaidros auf eine solche Gedankenführung und den scheinbar abrupten Übergang von der Rhetorik-Diskussion zur Schriftkritik tatsächlich hinauswill, macht das Resümee deutlich, das Sokrates in 277a9–e4 formuliert. Das entechnon – den Umstand, dass das rhetorische Handwerk als eine technē nur dann gelten dürfe, wenn es sich auf die Dialektik gründe –, habe das vorangehende Gespräch doch wohl hinreichend erläutert. Andererseits, so fährt er fort, sei soeben deutlich geworden, dass sich die Frage, unter welchen Bedingungen das Reden-Halten und -Schreiben schön oder schimpflich sei, Lob oder Tadel verdiene, an der methodologisch-kommunikationstheoretischen Bewusstheit des Autors entscheide – daran, ob er sich im Klaren ist, was ein schriftlich fixierter Text überhaupt leisten kann und was nicht. Sokrates führt nicht aus, ob und wie die beiden Teile seiner Zusammenfassung gedanklich zusammenhängen; was er sagt, beschreibt zunächst nur eine Sukzession im Text. Erst bei näherem Zusehen zeigt sich, dass die Schriftkritik in einem zentralen Punkt auch die Rhetorik-Diskussion betrifft. An deren Ende äußert Phaidros Bedenken ob des gewaltigen Lernprogramms, mit dem man die Redekunst da konfrontiere (272b5). Sokrates stimmt zu, meint aber, anders und auf leichterem Weg sei ihre Neuetablierung als einer ernstzunehmenden technē nicht zu haben (273e). Nun mag man bei realistischer Betrachtung füglich bezweifeln, dass die Vertreter der traditionellen Rhetorik geneigt sein könnten, sich von seinen Ausführungen beeindrucken zu lassen und das umsetzen zu wollen, was er für notwendig erachtet, und dass sie, selbst wenn sie das wollten, dazu auch in der Lage wären – müssten sie doch gewissermaßen zu Philosophen werden, und, ob ihre Kräfte dafür hinreichen, ist, von einem Lysias zu schweigen, auch bei Isokrates fraglich.16 Die Diskussion im Phaidros ähnelt methodisch dem Entwurf eines Idealstaats in der Politeia, will sagen: Sie hat Modellcharakter und weist Bedingungen auf, die erfüllt sein müssten, wenn die Rhetorik ihrem Anspruch, als die Kunst der sprachlichen Kommunikation eine Art Allkompetenz zu besitzen,17 annäherungsweise gerecht werden wollte; die Frage der Realisierbarkeit des sokratischen Projekts ist für die philosophische Aussage und ihre metarhetorische Bedeutung eher sekundär. Andererseits bringt die Zielrichtung des Texts doch manche Vereinfachungen mit sich, die zumindest diskutabel erscheinen. Lässt die Dialektik sich wirklich so ohne weiteres ,erlernen‘, wie es Sokrates voraussetzt, wenn er sie zur Bedingung einer adäquaten Rhetorik macht? Schon auf der Ebene der technai und ihrer Anleitungen wäre es ja „höchst naiv“ (275c7) anzunehmen, bereits die Lektüre eines Handbuchs oder von Musterre16
279a. Auf die vieldiskutierte Stelle (und ihr Verhältnis zu Parm 135d) kann hier nicht eingegangen werden. – Die neuste Publikation zum Thema ,Platon und Isokrates‘ (Wareh [2012] 55–73) enttäuscht und zeichnet ein verzerrtes Bild vom Phaidros. 17 Vgl. Gorg 450b6ff., 456a7ff., 459b6–c5.
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den des Lehrers lasse einen zum guten Redner werden.18 Wer nicht von sich selbst her die Einsicht in die Sache und die Eignung mitbringt, den kann auch ein Lynkeus nicht sehend machen – wie auch Isokrates in seinen methodologischen Überlegungen zu betonen pflegt: Die physis des Rhetorikschülers bildet die Basis jeden Unterrichts.19 Nach Sokrates ist die konventionelle Rhetorik in dem Irrtum befangen, mit der Entwicklung generalisierbarer technischer Gestaltungsmittel und Verfahrensweisen auch schon eine Methode ihres kunstgerechten Gebrauchs entwickelt zu haben (268a–269c), und sie verkennt, dass eine technē sich nicht über ihr handwerkliches Material, sondern durch die Kompetenz einer reflektierten Anwendung ihrer Hilfsmittel auf den jeweiligen Einzelfall definiert. Die dialektische Methode mischt sich natürlich nicht (oder allenfalls indirekt) in den Gebrauch der rhetorischen Techniken ein – sie soll dem Redner vielmehr die ontologische, erkenntnistheoretische und psychologische Kompetenz verschaffen, auf individuelle Rede-Situationen adäquat einzugehen –, aber so wie es Sokrates darstellt, könnte ein Leser den Eindruck gewinnen, dass es sich bei der Dialektik ihrerseits um einen generalisierbaren Lehrgegenstand handele, dessen Vermittlung sich ohne besondere Rücksicht auf die Individualität des Adressaten festschreiben lasse. Wohlgemerkt, Sokrates deutet nichts dergleichen an, doch spricht er ebenso wenig aus, dass es so eben nicht gemeint ist. Wer mit der Konzeption der Dialektik – in den beiden, miteinander verflochtenen Bedeutungen, die das Wort bei Platon hat – unvertraut ist, mag aus der Rhetorik-Diskussion ein falsches Bild von ihr ableiten: dass sie, statt einer an die dialogische Verständigung gebundenen (meta-)wissenschaftlichen Methode eine ,Lehre‘ sei und darauf abziele, den ,Schülern‘ ein ein für allemal feststehendes Wissensreservoir an die Hand zu geben. Die Reform, die Sokrates für die Rhetorik vorsieht, beschränkt sich auf den Nachweis der Notwendigkeit einer philosophischen Ausbildung und setzt deren Möglichkeit ohne weiteres voraus. Es wäre zu verstehen, dass Platon hier an einer Präzisierung gelegen war, und es scheint, dass die Schriftkritik genau das leistet – in dem doppelten Sinn, dass einerseits der Zuschnitt der Rhetorik-Diskussion die Vorbehalte der Schriftkritik tendenziell bestätigt und andererseits die Schriftkritik die Rhetorik-Diskussion um einen entscheidenden Aspekt bereichert. Die spätere Partie scheint auch und vor allem darauf berechnet, einem möglichen Missverständnis der früheren zu begegnen. Äußerlich betrachtet geht die Schriftkritik von dem Sachverhalt aus, dass manche Leute Lysias als ,Logographen‘ verunglimpfen und an der schriftlichen Vorformulierung seiner (von anderen Personen vorgetragenen) Reden Anstoß nehmen. Im Ergebnis zeigt sich, dass der Gebrauch der Schrift als Kommunikationsmittels solange unanstößig ist, wie der jeweilige Verfasser sich der Grenzen dieses Mediums bewusst ist und ihm nicht eine Deutlichkeit und Sicherheit der Informations- und Erkenntnisvermittlung zutraut, die es nicht 18 19
Vgl. auch Dihle [1998]. Zu Phdr 269d und Isokrates vgl. Heitsch [1997] 259.
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besitzt. Als Gegenbild figuriert der mündliche Dialog zwischen zwei Partnern, der absichernde Rückfragen erlaubt und den ,Wissenden‘ nötigt, seinen Anspruch argumentativ zu verdeutlichen und zu rechtfertigen. Nun garantiert auch die Dialogizität des Gesprächs per se noch keinen gelingenden Gedankenaustausch, und Platon lässt hier anklingen (vor allem 276e4–277a4), was Sokrates zuvor in seiner zweiten Eros-Rede ausgeführt hat – das Einverständnis zweier Partner, die sozusagen vom selben Stern sind und sich intuitiv verstehen, so dass der eine im anderen nur etwas aktualisieren muss, das dieser potentiell schon weiß. Das Eros-Thema erfährt im Verlauf des Phaidros eine bemerkenswerte Transformation; es wechselt von der Gegenstands- auf die Erklärungsebene, und die Ausgangsfrage, wie über den Eros richtig zu reden ist, verwandelt sich in die These, dass der Eros das Medium der richtigen, d.h. kommunikativ erfolgreichen Rede ist. Doch mit Blick auf den ganzen Dialog geraten sowohl der Eros als auch das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in die Rolle von Metaphern oder Beispielen für eine allgemeinere methodologisch-kommunikationstheoretische Fragestellung, die sich auch in der Rhetorik-Diskussion abzeichnet. Letztere verweist im Effekt auf den Unterschied zwischen der meta-technischen Perspektive der Philosophie und einer vielleicht durchaus reflektierten, aber in den Grenzen der technē befangenen, wirkungsorientierten Beredsamkeit – kurz gesagt: auf die Differenz zwischen Platon und Isokrates.20 Die vorangehenden Überlegungen waren, wie mir scheint, notwendig für den Versuch, die Funktion des Theuth-Mythos in seinem Kontext zu verstehen. Der Mythos erfüllt eine eher literarisch-kompositorische als philosophische Aufgabe, aber er ist in Platons Gestaltung unverzichtbar. Er vermittelt zwischen der vordergründigen Kritik an der schriftlichen Verfasstheit der Lysias-Reden und dem, was man philosophisch aus der Kritik machen kann und was die Brücke zur Rhetorik-Diskussion schlägt; er baut dem Eindruck vor, dass die Abfolge der Themen nur ein plumpes Nacheinander darstellt, und verweist auf die Einheit der platonischen Konzeption. Im Anschluss an die Feststellung, dass die Frage der technē und der atechnia im Gebrauch des logoi, d.h. einer methodischen und unmethodischen Rhetorik, jetzt hinreichend erörtert sei, erklärt Sokrates, es stehe noch eine Diskussion der anderen Frage nach der euprepeia und aprepeia, der Adäquatheit und der Inadäquatheit im Gebrauch der Schrift aus (274b3–7). Die beiden hier sorgfältig getrennten Aspekte gehen im Theuth-Mythos zusammen. Gerade das ,Technische‘ erweist sich als inadäquat, als das ,Unschickliche‘, wenn man es falsch auffasst. Der Text ist kurz genug, um im Wortlaut zitiert zu werden.21 20
Der logographos ist nur ein einprägsames Bild für den gemeinten Sachverhalt, und wenn der Text pointiert vor Augen führt, wie traditionelle Autoren sich ihre Werke mühevoll zusammenkleistern (278d8–e2), so veranschaulicht auch das nur die Unfähigkeit der technē, sich über ihre eigenen Bedingungen klar zu werden. 21 Übersetzung von Heitsch [1997] 60f., mit kleineren Modifikationen.
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(274b9) Weißt du also, wie du für dein Verhältnis zu Reden das Wohlgefallen Gottes am besten finden kannst, ob im Handeln oder im Sprechen? – Nein. Und du? – (274c) Jedenfalls kann ich berichten, was ich von den Alten gehört habe; ob es wahr ist, wissen sie allein. Könnten wir das aber selbst finden, würde uns dann wohl noch etwas an menschlichen Vermutungen liegen? – Eine lächerliche Frage. Doch trag vor, was du behauptest gehört zu haben. – Gut. Gehört also habe ich, in der Gegend von Naukratis in Ägypten habe es einen der alten Götter des Landes gegeben, der, dem auch der Vogel heilig ist, den sie Ibis nennen; und der Gott selbst heiße Theuth. Der also habe Zahl und Rechnen entdeckt und (274d) Geometrie und Astronomie, ferner Brett- und Würfelspiele, und so denn auch die Buchstaben. König nun von ganz Ägypten war damals Thamus in der großen Stadt von Oberägypten, die die Griechen das ägyptische Theben nennen; und Thamus nennen sie Ammon. Zu ihm also kam Theuth, führte ihm seine Künste vor und meinte, sie müssten unter den übrigen Ägyptern verbreitet werden. Thamus aber fragte nach dem Nutzen einer jeden, und als Theuth ihn erläuterte, (274e) lobte er, was ihm von diesen Erläuterungen gut, und tadelte, was ihm nicht gut zu sein schien. Da nun soll Thamus zu Theuth für jede einzelne Kunst vieles in die eine oder die andere Richtung gesagt haben, was durchzugehen zu lang würde. Als er aber bei den Buchstaben war, sagte Theuth: „Dies, mein König, ist ein Lehrgegenstand, der die Ägypter weiser machen und ihr Gedächtnis verbessern wird. Denn meine Erfindung ist ein Mittel für Gedächtnis und Wissen.“ Doch der König antwortete: „Kunstreichster Theuth, einer hat die Fähigkeit, die Dinge der Kunst hervorzubringen, ein anderer aber kann beurteilen, in welchem Maße sie Schaden und Nutzen bringen für die, die sie gebrauchen sollen. (275a) Und jetzt hast du, weil du der Vater der Buchstaben bist, aus Zuneigung das Gegenteil von dem gesagt, was sie vermögen. Denn diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie erlernt haben, Vergesslichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben; denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Eindrücke, nicht von innen heraus durch sich selbst. Also hast du ein Mittel nicht für das Gedächtnis, sondern eines für die Erinnerung gefunden. Was aber das Wissen angeht, so verschaffst du den Schülern nur den Schein davon, nicht wirkliches Wissen. Denn da sie durch deine Erfindung vieles hören ohne Belehrung, werden sie sich einbilden, (275b) vieles zu verstehen, wo sie doch großenteils nicht verstehen, und im Umgang sind sie schwierig, da sie zu Leuten geworden sind, die sich für weise nur halten, statt weise zu sein.“
Der Mythos ist offenkundig (vgl. 274c4, 275b3–c4) eine Erfindung Platons, der „einiges von ägyptischer Kultur gewusst und für seine Geschichte verwertet“ hat.22 Seine Einbettung in den Kontext ist nicht ohne Ironie. Wenn Sokrates fragt, ob Phaidros wisse, wie er „hinsichtlich der logoi“ das Wohlgefallen der
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Heitsch [1997] 189, auf den für die Einzelheiten verwiesen sei. Vgl. Joly [1982]; Müller [1999] 87–89.
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Gottheit finden könne im Handeln oder Reden,23 und dieser schlicht mit „Nein“ antwortet (274b9-11), so erscheint das etwas paradox angesichts dessen, worauf beide sich kurz zuvor verständigt hatten. Dass die wissenschaftliche Grundlegung der Rhetorik durch Psychologie und Dialektik einen gewaltigen Aufwand mit sich bringe, sei durchaus zutreffend, meinte Sokrates, doch diese Mühe solle der Verständige auf sich nehmen, nicht „um unter Menschen zu reden und zu handeln, sondern um fähig zu sein, den Göttern zu Gefallen zu reden und in allen Stücken zu handeln nach Kräften zu ihrem Wohlgefallen“ (273e5–8; Übersetzung Heitsch). Nun leitet die Frage, die Sokrates in 274b9 stellt, zwar das Thema des adäquaten und des inadäquaten Gebrauchs der Schrift ein, aber er sagt eben nicht „hinsichtlich der graphē“, sondern „hinsichtlich der logoi“, und da könnte Phaidros immerhin versuchen, das, was sich soeben für alle logoi ergeben hat, auf die neue Themafrage anzuwenden – in dem Sinn, dass auch die Abfassung schriftlicher logoi, wenn diese als solche etwas taugen und die Billigung der Götter finden sollen, nicht ohne Einsicht in die ,Wahrheit‘ auskommt; um über die Dialektik auch nur ,im Spiel‘ adäquat schreiben zu können, muss man wissen, was sie ist und wie sie funktioniert. Indes gibt Platon dem Gespräch eine andere Wendung. Sokrates beantwortet die Frage nach dem göttlichen Wohlgefallen, indem er, nicht minder paradox, den Göttern selbst das Wort erteilt und sie in Gestalt des Theuth und des Thamus das Thema ,Schrift‘ diskutieren lässt. Allfälligen rationalistischen Einwänden gegen seine Inszenierung entzieht er vorweg den Boden mit der Berufung auf eine mündliche Überlieferung (akoē), die natürlich nicht ihre eigene Wahrheit verbürgen könne (274c1–2); was spielerisch darauf vorbereitet, dass es in der folgenden Schriftkritik nicht um die Schriftlichkeit als solche, sondern um eine unreflektierte Haltung geht, die von schriftlichen Texten etwas erwartet, das auch mündliche logoi nicht per se bieten können. Andererseits deutet die dialogische Form seiner Erzählung an, wie ein gottgefälliges Verhältnis zu den logoi sich zu gestalten hätte. An sich ist auch das paradox – Götter debattieren und argumentieren nicht, sondern wissen. Aber Ägypten gilt den Griechen nicht nur als die Wiege der Kultur, als Land der Weisheit und einer uralten Schriftlichkeit, die in den Tempelarchiven, wie es im Timaios heißt (23a1–b3, vgl. 23e6–24a2), die Kunde von Ereignissen bewahrt hat, von denen das Kurzzeitgedächtnis der zeitweilig schriftlosen Griechen nichts mehr weiß; sondern es ist für sie auch das Land der Paradoxien und Ambivalenzen.24 Es mag ja sein, dass auch die ägyptischen Götter ihre eigene, 23
legōn ē prattōn (274b10) wird von Heitsch übersetzt mit „ob nun als Praktiker oder als Theoretiker“, doch scheint mir das ein wenig zu eng zu sein. Yunis [2011] 226 bemerkt: „πράττων ἢ λέγων is not redundant after λόγων πέρι: beyond uttering (λέγων) discourse, there is a myriad of senses in which one acts (πράττων) appropriately or inappropriately in regard to discourse, e.g. in listening, responding, obeying, rejecting, etc.“ – Eine Änderung von prattōn in graphōn (Schwabe [2008]) leuchtet methodisch nicht ein. 24 Müller [1999] 91f., 93. Yunis [2011] 227.
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exotische Auffassung hatten und meinten, ihre Ansichten begründen und rechtfertigen zu sollen. Jedenfalls führt der Mythos eine Konstellation vor, die nicht nur auf die Schriftkritik voraus-, sondern auch auf die Rhetorik-Diskussion zurückweist und die Einheit der Dialogteile unterstreicht. Was in der platonischen Erzählung auffallen mag, ist die lokale Trennung der beiden Gottheiten – Theuth wohnt ,bei‘ Naukratis im Nildelta, Thamus im oberägyptischen ,Theben‘ (Luxor/Karnak), und der räumliche Abstand entspricht einem Unterschied im Denken. Der ibisköpfige Theuth (= Thoth) wird im Philebos (18b–c) als dialektisch versierter Entdecker des Systems der Laute und Buchstaben und als der Begründer der grammatikē technē bezeichnet. Er war unter anderem der Gott der Schreiber und der Wissenschaften und ist zweifellos ein respektablerer Vertreter der Schriftlichkeit als die griechischen Optionen für den ,ersten Erfinder‘ dieser technē – der unglückliche Palamedes oder auch Prometheus.25 Sein griechisches Äquivalent war der gewitzte und erfindungsreiche Hermes, und sein „Hauptkultort in historischer Zeit ist Hermupolis magna in Oberägypten; doch schon in ältester Zeit ist der Kult im Nildelta bezeugt“.26 Wenn Platon aber das Wirken des Gottes im Umkreis des griechischen Handelsstützpunkts Naukratis ansiedelt, will er, wie anachronistisch auch immer, offenbar einen Kontakt mit den technē-ergebenen Griechen suggerieren. Von solchen Einflüssen fern ist Thamus (= Amun/Ammon) im ,oberen‘ Landesteil, der König über ganz Ägypten (274d2–3), den die Griechen mit Zeus identifizierten und der auch im platonischen Mythos das Sagen hat.27 Sein Dialog mit Theuth gerät gewissermaßen zu einer Auseinandersetzung des Dialektikers mit dem Techniten. Zentral ist seine Unterscheidung in 274e7–9: „einer hat die Fähigkeit, die Dinge der Kunst hervorzubringen, ein anderer aber kann beurteilen, in welchem Maße sie Schaden und Nutzen bringen für die, die sie gebrauchen sollen“. Das Argument begegnet bei Platon in verschiedenen Spielarten. Resp 601c–602a tritt der technischen Fertigkeit dessen, der ein Instrument herstellt, das Gebrauchswissen seines Benutzers gegenüber: Nur letzterer kann beurteilen, ob das Werkzeug die ihm zugedachte Funktion erfüllt, also gut oder schlecht gemacht ist, und er greift gegebenenfalls durch seine Anleitungen in die Produktion ein. In die gleiche Richtung geht zunächst die Argumentation Krat 390b–d, aber wenn der Gedanke dann auf die semantischkommunikative Funktion der Wörter angewandt wird, erhält er einen etwas anderen Akzent – alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft gebrauchen die von einem nomothetēs eingeführten Bezeichnungen, doch dessen Leistung beurtei25
Die Belege bei Yunis [2011] 227. – Zum Motiv ,Götter als Erfinder‘ Strohwald/Junker [2012]. 26 Heitsch [1997] 189. 27 So unzweifelhaft Thamus und Theuth Götter sind, verweist doch die Formulierung des Letzteren, seine technai müssten unter den ,übrigen‘ Ägyptern verbreitet werden (274d6), spielerisch auf das Phänomen des ägyptischen Gottkönigtums. theon d4 ist, als Teil des Spiels, vielleicht zu halten gegen Postgates Konjektur Thamoun.
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len und kontrollieren kann nur die Kompetenz des Dialektikers im philosophischen Umgang mit den onomata. Im Politikos (304b–c) wiederum ist es das Herrschaftswissen des dialektisch gebildeten Staatsmanns, dem die Aufsicht über die verschiedenen technai zukommt und der darüber entscheidet, ob sie in die Polis Aufnahme finden und ihre Erzeugnisse zum Gebrauch freigegeben werden sollen oder nicht. Diese Variante steht der Form des Arguments im Phaidros am nächsten, nur fällt der göttliche Pharao keine Entscheidung über das Ob, sondern analysiert allein das Dass. Thamus nimmt sozusagen eine Technikfolgenabschätzung vor und kommt zu dem Urteil, dass mit der Einführung der Schrift ein Automatismus ausgelöst wird, der irreversible Konsequenzen haben und alles verändern wird. Und in der Tat steht es mit den grammata völlig anders als mit den sonstigen Erfindungen des Theuth. Platons ebenso knappe wie präzise Gestaltung der Szenerie in der ersten Hälfte des Mythos (274c5–e3) geht aus von dem technikos und seinen Entdeckungen. Die Schriftzeichen werden zwar sprachlich ein wenig abgesetzt (d2), aber da die Erzählung ja das Schriftproblem illustrieren soll, ist das nicht verwunderlich. Allerdings kann man schon hier aufmerken – der Nutzen der Erfindung der Mathematik und ihrer Disziplinen hat seine eigene Evidenz, denn sie füllt schlicht eine Leerstelle des Menschheitswissens aus, und auch die von Theuth konzipierten Spiele begründen etwas, das so noch nicht da war. Dagegen greifen die grammata in eine schon bestehende Kommunikationspraxis ein und wollen eine neue Form der Kommunikation neben der alten etablieren, und man kann fragen, inwiefern das hilfreich und sinnvoll ist. Der König, der die Frage stellt, wird nur wie nebenbei eingeführt (d2), mit einer syntaktischen Unterordnung, die in ein Anakoluth mündet. Doch die Machtverhältnisse drehen sich rasch um. Der selbstgewisse Technit will eine Performance, eine epideixis seiner Errungenschaften geben und erhebt weitreichende Ansprüche (d5–6), aber Thamus fragt genauer nach und zwingt ihn zum RechenschaftGeben; und während der Befragte, in syntaktischer Unterordnung, seine Erklärungen über die Nützlichkeit der neuen technai vorträgt, wägt der ,Dialektiker‘ das Pro und Contra ab und klärt den Erfinder über seine Erfindungen auf. In der zweite Hälfte des Mythos (274e4–275b2) geht es nur noch um die Schrift, und die Darstellung wechselt, ironischerweise, von der Erzählung zum mündlichen Dialog. Was Theuth verspricht, ist zweierlei: Dieser Lehrgegenstand werde die Ägypter (noch) weiser und (noch) erinnerungsfähiger machen (als sie ohnehin schon sind). Platon spielt mit den Klischees von Ägypten als dem Land der Weisheit und einer unendlichen Erinnerung. Aber was Theuth hinzufügt (e6), irritiert: Als pharmakon, als stimulierendes Mittel für das SichErinnern und das Wissen, habe er die Schrift erfunden.28 Braucht Ägypten so etwas? Der technikōtatos will dem ,kollektiven Gedächtnis‘ mit einer Arznei zu 28
Zur Verwendung von pharmakon und Ableitungen im Phaidros Deretic [2002/03]; Yunis [2011] 227f.; vgl. auch Rutherford [1990] 378 Anmerkung 3. Suggestiv Derrida [1972].
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Hilfe kommen, für die er das Gebrechen erst erzeugt. Auffällig ist die Berührung des platonischen Ausdrucks (mnēmēs … kai sophias pharmakon) mit einem Fragment des euripideischen Palamedes (578 Kannicht): Der tragische Held erklärt, er allein habe die Schriftzeichen erfunden, die (a) als lēthēs pharmaka, als „Heilmittel gegen das Vergessen“, und (b) auch sonst in vieler Hinsicht nützlich seien – sie machten es z.B. möglich, dass „einer, ohne anwesend zu sein an einem Ort jenseits des Meers, doch über alles, was sich dort zuträgt, von zu Hause aus genau Bescheid weiß“ (V. 3f. hōst’ ou paronta pontias hyper plakos | ta ekei kat’ oikous pant’ epistasthai kalōs). Falls Platon, wie man nicht unplausibel vermutet hat,29 auf das Drama des Euripides anspielt, dürften die Verse auch in 275a7 („da sie durch deine Erfindung vieles hören …, werden sie sich einbilden, vieles zu verstehen“) mitklingen. Der König teilt die Diagnose des Theuth nicht, sondern sieht in dessen Erfindung vielmehr gravierende Nachteile. Er formuliert seine Einwände in zwei Teilen, die jeweils so gestaltet sind, dass er die von Theuth behauptete Funktion der Schrift leugnet und im Gegenzug auf ihre Risiken und Nebenwirkungen hinweist. Der erste und entscheidende Einwand (275a2–6) betrifft die Erinnerungsfunktion. Nicht mnēmē, sondern lēthē wird die Schrift in denen entstehen lassen, die sie gebrauchen, und dazu führen, dass sie sich nicht mehr bemühen, das, was sie wissen, im Gedächtnis zu behalten. Denn da schriftliche Texte ihnen vorgaukeln, ihre Kenntnisse und Einsichten sicher speichern zu können, blockieren sie eine Reflexivität, die notwendig ist, wenn man sein Wissen (das, woran man ,sich erinnert‘) über die Zeit retten und durch permanente Aktualisierung bewahren will. Indem die Schrift dem Benutzer die Mühe der Wiedererinnerung (anamnēsis, vgl. 275a4), d.h. der Erinnerung an die Erinnerung, abzunehmen verspricht, bringt sie eine Selbstvergessenheit mit sich, die sich am Ende an nichts mehr erinnert und nichts weiß außer dem, was ,fremde typoi‘ (275a4) der Seele als ihren aktuellen Erkenntnisstand weismachen; und da sie konserviert, was im Jetzt vielleicht schon obsolet ist, behindert die Schrift auch die persönliche Entwicklung und den kulturellen Fortschritt. Thamus bemerkt ironisch-doppelsinnig (275a5), die Erfindung sei ein pharmakon nicht für die mnēmē, sondern für die hypomnēsis – will sagen: etwas, das einer falschen anamnēsis zuträglich, aber Gift für die richtige ist. Sein Konzept trifft sich mit anderen Platon-Stellen, die den Zusammenhang von Wissen und Erinnerung und die zentrale Rolle der reflexiven Wiedererinnerung beleuchten,30 aber natürlich hat er eine (durch die Vorgaben des Theuth) eingeschränkte Sicht auf die möglichen Funktionen der Schrift und überzeichnet das Zwingende ihrer missbräuchlichen Verwendung. Doch die in seiner ,Prophezeiung‘ (275c8) ausge-
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Rutherford [1990]; Nightingale [1995] 149–54; Ryan [2012] 313. – Die grammata als „Instrument der Erinnerung“ (mnēmēs organon) im Palamedes des Gorgias, VS 82 B 11a, 30. Vgl. [Aesch.] Prom 460f. 30 Belege bei Sier [1997] 245; vgl. 241f.
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drückte Sorge mag auch in unserer Welt der Datenspeicher und hilfreichen Taschenrechner nicht so ganz abwegig erscheinen. Das gleiche gilt für seinen zweiten Einwand (275a7–b2) – die ,Medien‘ verführen zu einer falschen Sicherheit, und man glaubt zu wissen, was sich irgendwo ereignet hat, wenn man darüber liest. Nicht sophia, sondern nur den Schein davon, doxa, kann die Schrift vermitteln, und das hat wiederum unerwünschte Nebenwirkungen auf die Reflexivität und die Mentalität ihrer BenutBenutzer. Da sie vielerlei ,gehört‘ haben – auch mündlich vorgetragene Texte verbürgen per se noch keine Kommunikationssicherheit, aber die Pointe hier ist eher, dass der Leser die vertexteten Dinge nur vom ,Hörensagen‘ kennt –, glauben sie, auch schon alles zu verstehen, weil der Text als solcher keinen Anlass gibt, nachzufragen und sich kundig zu machen. Und sie werden, weit entfernt vom sokratischen oida ouk eidōs („ich weiß, dass ich unwissend bin“), unangenehm-dogmatische Zeitgenossen sein, mit denen sich nicht reden lässt. Mit Blick auf die nachfolgende Diskussion im Phaidros scheint bei den Einwänden des Königs zweierlei beachtenswert. Thamus lässt nicht recht deutlich werden, dass ein Unterschied besteht zwischen Texten, die man für sich selbst, und denen, die man für andere verfasst. Zum einen blendet er die Kommunikation zwischen Text und Leser weitgehend aus; er konzentriert sich vor allem auf die Reflexivität des Lesers und rechnet nicht mit der Möglichkeit, dass ein ,fremder‘ Text den Rezipienten an etwas in ihm selbst erinnern kann, dessen er sich bisher nicht bewusst war. Und zum andern sieht er ab von den Gestaltungsmöglichkeiten des Autors, der, wenn er reflektiert genug ist, seinen Text so einrichten kann, dass er keine falschen Versprechungen macht. In der Schriftkritik erklärt Sokrates, der Wissende werde sich der Schriftlichkeit vernünftigerweise nur im Spiel bedienen, und er reduziert die Funktion entsprechender Aufzeichnungen auf das Moment der Selbst-Erinnerung. Aber er fügt hinzu (276d4), die gleiche Funktion erfülle der schriftliche Text „für jeden, der dieselbe Spur verfolgt“ (… kai panti tōi tauton ichnos metionti). Ich denke, dass man diese Aussage durchaus belasten darf. Wenn die Wendungen in 275d1 (ton eidota hypomnēsai) und 278a1 (eidotōn hypomnēsin) mit dem bzw. den ,Wissenden‘ auch zweifellos zunächst denjenigen meinen, der den Text verfasst hat, ist doch das Konzept eines Rezipienten, der den Text versteht, weil er durch diesen an die in ihm selbst angelegte Einsicht ,erinnert‘ wird, in ihnen mitbedacht. Sokrates’ Einwände gegen die Schriftlichkeit werden dadurch gewiss nicht außer Kraft gesetzt, aber sie erfahren eine wichtige Präzisierung, die auch für Platons Dialoge von Interesse ist. In Auseinandersetzung mit einer literarischen Rhetorik, wie sie zur Entstehungszeit des Phaidros von Isokrates und seiner Schule vertreten wurde, verweist Platon mit dem ,antiliterarischen‘ Programm seines Sokrates auf den Umstand, dass Sinnvermittlung nur maieutisch erfolgen kann und dass zu den Spielregeln von Literatur die Möglichkeit unterschiedlicher Lektüren gehört. Was bedeutet, dass die Qualität eines Texts nicht am wenigsten danach zu bemessen wäre, ob er gegenüber Lesern je nach Eignung „zu reden und zu schweigen weiß“ (276a6–7).
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Die Kritik, die Jacques Derrida [1972] an Platon und seiner Fixierung auf die Mündlichkeit, am ,Logozentrismus‘ des Phaidros, geübt hat, bedürfte, wenn man auf den Dialog genauer hinsieht, vielleicht doch der Relativierung und eventuell einer Revision. Doch ist das eher ein Thema für einen anderen Beitrag.
PLATONS ATLANTIS-GESCHICHTE – EIN MYTHOS? Heinz-Günther Nesselrath I. Die fragliche Timaios-Passage und ihre sprachlichen Besonderheiten Die in Platons Dialog Timaios kurz skizzierte und in seinem Dialog Kritias zwar mit großem Detailreichtum begonnene, aber nicht zu Ende geführte Geschichte von dem großen Abwehrkampf, in dem ein prähistorisches Athen nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Mittelmeerwelt gegen die imperialistischen Gelüste des vom Atlantik her angreifenden Inselreichs Atlantis erfolgreich verteidigte, ist unter dem Schlagwort „Atlantis-Mythos“ wahrscheinlich der bekannteste Teil platonischen Schrifttums in der heutigen allgemeinen Öffentlichkeit.1 Aber handelt es sich bei dieser Geschichte überhaupt um einen „Mythos“, sei es im Verständnis Platons oder dem anderer, für die „Mythos“ nicht einfach ein vages Schlagwort ist? Die folgenden Ausführungen wollen dieser Frage etwas genauer nachgehen. Betrachtet man in dieser Hinsicht, wie die Atlantis-Geschichte im Anfangsteil des Timaios eingeführt wird, könnte man leicht den gegenteiligen Eindruck bekommen, denn hier scheint alles dafür getan zu werden, dass diese Geschichte gerade nicht als „Mythos“ verstanden wird. Nachdem Sokrates seinen drei Gesprächspartnern Timaios, Hermokrates und Kritias die Hauptpunkte seines „gestrigen“ (17a, 17c) Vortrags über den besten Staat rekapituliert hat, trägt er seinen Wunsch vor, nun seinerseits von den anderen in einer Darlegung (19c: logōi) zu hören, wie dieser Staat sich wohl „in Aktion“, d.h. in kriegerischer Auseinandersetzung mit anderen Staaten bewähren würde. Er ist sich sicher, dass niemand dies besser darstellen könnte als eben seine drei jetzigen Gesprächspartner (20a-b), und deshalb erwartet er von ihnen nun die an seinen Vortrag „anschließende Darlegung“ (20b: ton hexēs logon). In seiner Antwort kündigt Hermokrates an, dass Kritias in der Tat etwas vortragen kann, was genau den Erwartungen des Sokrates entspricht: eine „Darlegung (logon) aus alter Kunde“ (20d). Kritias bestätigt das und charakterisiert das, in was er gleich einführen wird, als eine „zwar sehr eigenartige, aber jedenfalls in jeder Hinsicht wahre Darlegung (logou)“ (20d). Kurz darauf nennt er auf Sokrates’ Nachfrage das, was er berichten wird, eine „alte Darlegung (logon) eines nicht jungen Mannes“ (21a).
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Gibt man zur Zeit in die Internet-Suchmaschine Google als Stichwort „AtlantisMythos“ oder „Atlantismythos“ ein, erhält man zusammen 8000 Einträge; unter „Atlantis myth“ oder „myth of Atlantis“ sind es sogar etwa 328.000, unter „mythe de l’Atlantide“ 257.000, unter „mito di Atlantide“ immerhin noch 19.800. Diese Zahlen geben zumindest ein Indiz, wie stark im allgemeinen Bewusstsein Atlantis als „Mythos“ verankert zu sein scheint.
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Dann schildert Kritias, in welcher Situation er der Atlantis-Geschichte zum ersten Mal begegnete, nämlich als Zehnjähriger beim Apaturienfest. Damals kam sein gleichnamiger Großvater Kritias, als ein Bekannter namens Amynandros ihm gegenüber die Dichtkunst Solons pries, auf die von Solon aus Ägypten mitgebrachte „Darlegung“ (logon, 21c) zu sprechen und meinte, dass Solon, wenn er daraus eine Dichtung hätte machen können (woran er durch die widrigen Zeitumstände leider gehindert wurde), sogar die Dichter Homer und Hesiod überstrahlt hätte. Auf die Frage nach dem Inhalt dieser Darlegung (logos, 21d) sagte der ältere Kritias, er habe in der größten jemals von Athen vollbrachten Tat bestanden, doch habe diese Darlegung (logos, 21d) in Athen selber aufgrund der langen Zeit und des Untergangs der Beteiligten nicht überlebt. Nunmehr weiter ausholend, erzählte der ältere Kritias von Solons Besuch in der ägyptischen Stadt Saïs und seinen Versuchen, von den dortigen Priestern Genaueres über sehr alte Überlieferungen zu erfahren. Dazu habe Solon ihnen die Mythen über Phoroneus und die Deukalion-Flut „erzählt“ (mythologein, 22b) – woraufhin ihm ein alter Priester vorgeführt und erläutert habe, dass die Griechen ja gar keine wirklich alten Überlieferungen hätten (22b-23c). Allenfalls hätte sich bei ihnen etwas in „Form eines Mythos“ (mythou schēma, 22c) erhalten wie etwa der durch Phaëthon verursachte Himmelsbrand, doch stelle sich die Wahrheit (to alēthes, 22d) ganz anders dar. Dies sei so, weil periodische Naturkatastrophen – die jedoch Ägypten nicht beträfen – alle höheren menschlichen Kulturentwicklungen (darunter auch die Schrift, mit der Geschehnisse festgehalten werden könnten) immer wieder zunichte machten, so dass von früheren Ereignissen allenfalls so etwas wie sehr vereinfachende „Mythen von Kindern“ (paidōn mythōn, 23b) übrig bleibe. Und so sei gerade von Athens glorreichster Zeit in Attika selber überhaupt nichts in Erinnerung geblieben (23b-c). Es folgt eine knappe Zusammenfassung von Athens größter (prä)historischer Tat – der Zurückschlagung des angreifenden Atlantis –, wie sie der saïtische Priester damals Solon schilderte (24d-25d). Kritias fügt hinzu, dass ihm die Erinnerung an diese Geschichte just wieder kam, als Sokrates am gestrigen Tag über den besten Staat vortrug, weil dieser Staat so viele bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit jenem glorreichen alten Athen zu haben schien; zwar habe er sich die genaueren Einzelheiten noch einmal (in der vergangenen Nacht) vergegenwärtigen müssen, doch konnte er dem Timaios und dem Hermokrates bereits gestern zusagen, dass er auf Sokrates’ Wunsch eine „geziemende Darlegung“ (logon, 26a) werde präsentieren können. So sieht sich Kritias nunmehr in der Lage, die idealen Bürger einer idealen Polis, die Sokrates gestern „wie in einem Mythos (hōs en mythōi)“ behandelt habe, nunmehr mit den wahren Bürgern jenes alten Athen identifizieren zu können (26c-d). Sokrates zeigt sich begeistert ob der Aussicht, dass er nicht einen „erfundenen Mythos (plasthenta mython)“, sondern einen „wahren Logos (alēthinon logon)“ zu hören bekommen soll (26e; zu diesem Satz vgl. unten
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341f). Daraufhin umreißt Kritias die Reihenfolge der Vorträge, die folgen sollen: zuerst einer des Timaios, der die Geschichte von der Entstehung des Kosmos bis zur (Begründung der) Natur der Menschen darstellen soll (27a); danach werde er, Kritias, diese Menschen „übernehmen“ – und zwar vor allem die vorzüglich nach den von Sokrates (im gestrigen Gespräch) entwickelten Vorstellungen erzogenen (27ab) – und über sie „entsprechend der Darlegung (logon) des Solon“ als die damaligen Bewohner des großen alten Athen seine (genaueren) Ausführungen machen (logous poieisthai, 27b). Damit endet dieses Vorgespräch, und nach wenigen weiteren Worten des Sokrates beginnt der lange Vortrag des Timaios (der sich bis zum Ende des nach ihm benannten Dialogs, 92c, erstreckt). An dieser Skizze fällt zunächst auf, dass gerade in Zusammenhang mit der Atlantis-Geschichte (sei es als Darlegung eines ägyptischen Priesters, als Bericht Solons oder als Weitergabe dieses Berichts durch den älteren Kritias) stets von einem Logos und nie von einem Mythos die Rede ist2 (während der letztere Begriff in Verbindung mit Sokrates’ Darlegung vom Vortag fällt, 26c).3 Doch darf nicht vergessen werden, dass dabei nicht Platon in eigener Person spricht, sondern diese ganze Darstellung dem Kritias in den Mund legt; Kritias aber kommt es von Anfang an darauf an, die Geschichte, die er zum Besten geben will, als wahre Überlieferung und eben nicht als Mythos zu präsentieren. Nun scheint sich jedoch an einer Stelle auch Sokrates diese Sichtweise zu Eigen zu machen: „dazu ist auch wohl noch das an ihm [= dem von Kritias präsentierten Stoff] ein großer Vorzug, daß er kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine wahre Geschichte enthält.“4 In dieser oder einer sehr ähnlichen Form wird der Satz Ti 26e4f. in modernen Übersetzungen in der Regel wiedergegeben;5 doch sollte man sich klar machen, dass die Konstruktion des 2
Eine ähnliche Beobachtung macht bereits Luce [1978] 58f.: „Plato never calls [the Atlantis story] a muthos, but always a logos ...“, nur beachtet er leider nicht, dass Platon dies nicht in eigenem Namen tut, sondern Kritias sprechen lässt. Vgl. auch Zaslavsky [1981] 146: „Critias’ story is exclusively referred to as a λόγος, and in the Critias itself the word µῦθος occurs nowhere.“ Cherniss [1947] 252 wollte die Atlantis-Geschichte (in Analogie zu den Bemerkungen des Timaios in Ti 27d5-29d2) als eine „wahrscheinliche Darstellung“ (eikōs logos) auffassen; dagegen aber vgl. Gill [1977] 290. 3 Nach der von Zaslavsky [1981] 12 aufgestellten Maxime („one is entitled to call a myth in Plato’s writings only what is explicitly so called, and ... one is not entitled to call a myth anything which is not“) wäre die Atlantis-Geschichte damit klar nicht als Mythos zu betrachten. Dagegen freilich Morgan [2000] 160: „Platonic myth does not depend on the (non) occurrence of the word mythos.“ 4 Übersetzung der Stelle Ti 26e4f. von F. Susemihl 1857. 5 Vgl. Müller [1857]: „auch, dass es nicht eine erdichtete Sage, sondern eine wahrhafte Erzählung ist, ist etwas sehr Großes“; Jowett [1892]: „... this, which is natural and suitable to the festival of the goddess, and has the very great advantage of being a fact and not a fiction“; Bury [1929]: „the fact that it is no invented fable but genuine history is all-important“.
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hier zugrunde liegenden griechischen Satzes einige Elemente enthält, die das in den genannten Übersetzungen zum Ausdruck kommende Affirmativ-Zuversichtliche in Sokrates’ Reaktion auf Kritias’ Ausführungen keineswegs zwingend erscheinen lassen: Zum einen entspricht dem Objektsatz „daß ... enthält“ im Griechischen kein ein unumstößliches Faktum bezeichnender hoti-Satz, sondern ein Infinitiv (einai), der seinen Inhalt auch als rein gedachte Möglichkeit erscheinen lassen kann; dieser Infinitiv könnte hier deshalb auch mit „daß er kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine wahre Geschichte enthalten soll“ wiedergegeben werden. Damit aber würde sich Sokrates keineswegs völlig auf Kritias’ Beurteilung seiner eigenen Geschichte einlassen, sondern lediglich hervorheben, dass es außerordentlich bemerkenswert wäre (pammega pou), wenn es sich bei Kritias’ Erzählung um eine historisch wahre Geschichte handeln sollte. Noch zwei weitere sprachliche Details tragen dazu bei, Sokrates’ Aussage zu relativieren: Die dem Prädikatsnomen pammega beigegebene Partikel pou6 („wohl“, „vielleicht“) reduziert ebenfalls die scheinbare Sicherheit dieser Aussage, und auch das Adjektiv pammega selbst (vor Platon nicht belegt und vielleicht sogar seine eigene Kreation) ist inzwischen unter den Verdacht geraten, eine bewusst negative Färbung zu vermitteln.7 Nach diesem Befund darf es durchaus als fraglich erscheinen, dass Sokrates von Kritias’ im Brustton der Überzeugung vorgetragener Behauptung, er habe einen Logos zu bieten, der Sokrates’ Mythos von der idealen Polis in die (wenn auch weit entfernte) historische Wirklichkeit hole, völlig überzeugt ist;8 und dementsprechend könnte man annehmen, dass auch Platon selbst den Charakter von Kritias’ Bericht in der Schwebe lassen wollte.9
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Vgl. zum Gebrauch des pou an dieser Stelle Denniston [1954] 490f. Vgl. Johansen [2004] 45, mit Verweis auf Hawtrey [1983] 61. Bereits früher (37) weist Johansen darauf hin, dass auch und gerade diejenigen Aussagen des Kritias (Krit 26c7d5, 27b1-6), in denen er Sokrates die Identifizierung der Bürger von Sokrates’ idealer Polis mit den alten Athenern nahezubringen versucht, von denen ihm sein Großvater erzählt hat, auffallend viele hōs-Konstruktionen enthalten, deren subjektive Komponente („als ob“, „gleichsam“) es durchaus in der Schwebe lässt, ob Kritias ein wirkliches Faktum referiert oder nur eine von ihm gewünschte und angestrebte subjektive Interpretation. 8 Immerhin hatte Sokrates einen solchen Anspruch gegenüber seinen Gesprächspartnern auch nie erhoben; er wollte lediglich eine „in einer Darlegung bestehende Behandlung“ (ein logōi diexienai, Ti 19c), wie sein Idealstaat sich wohl in einer Kriegs- und damit Krisensituation verhalten und bewähren würde. 9 Bei Strabon (2, 3, 6 p. 102 C.) ist die (noch auf irgendeine Art von Überlieferung innerhalb der Akademie zurückgehende?) hübsche kleine Geschichte überliefert, Platon habe, zur Realität seiner Darstellung von Atlantis befragt, etwas verschmitzt geantwortet, möglicherweise sei die Geschichte über die Insel Atlantis keine Fiktion (plasma) ... 7
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II. Spätere antike Stimmen zur „Wertigkeit“ der Atlantis-Geschichte In jedem Fall scheint die von Platon konzipierte Einführung in die AtlantisGeschichte nicht so klar gewesen zu sein, dass sich spätere antike Leser über ihren Status völlig im Klaren gewesen wären.10 Im Folgenden sei dies an zwei prominenten Stimmen aus der platonischen Tradition gezeigt: Plutarch und Proklos. In seinem Leben Solons bietet Plutarch zumindest einen flüchtigen Einblick in zeitgenössische Diskussionen über die Atlantis-Geschichte und ihre angebliche Übertragung aus Ägypten nach Athen eben durch Solon. In Kap. 26,1 der Solon-Vita ist von Solons Aufenthalt in Ägypten die Rede, und hier kennt Plutarch sogar die (bei Platon nicht erwähnten) Namen der Priester (Psenopis und Sonchis), von denen Solon die „Darlegung über Atlantis“ (ton Atlantikon logon) gehört haben soll. Einige Kapitel später (31,6) schildert Plutarch dann, wie Solon „sein großes Werk über die Darlegung oder den Mythos von Atlantis“ (ton Atlantikon logon ē mython) zwar begann, aber nicht beenden konnte. An dieser Stelle lässt Plutarch den genauen Status der Geschichte – Logos oder Mythos? – also explizit offen, und ähnlich tut er dies kurz darauf noch einmal in 32,1, wo es vom „Stoff über Atlantis“ (tēn Atlantikēn hypothesin) heißt, Solon habe zu ihm lediglich ein prächtiges „Eingangsgebäude“ geschaffen, „wie es keine andere Darlegung oder Mythos oder Dichtung hatte“ (logos oudeis allos ... oude mythos oude poiēsis). Dieses Schwanken zwischen den Möglichkeiten Logos oder Mythos zeigt jedenfalls, dass Plutarch offensichtlich Schwierigkeiten damit hatte, die Atlantis-Geschichte ohne weiteres den anderen platonischen Mythen an die Seite zu stellen. Mehr als dreihundert Jahre nach Plutarch verfasste der Philosoph Proklos, der zwischen 437 und 485 n. Chr. Schulhaupt der (neu-)platonischen Akademie in Athen war, einen umfangreichen Timaios-Kommentar und musste sich in diesem natürlich auch mit der Skizze der Atlantis-Geschichte, wie sie im Timaios steht, auseinandersetzen. Die Kommentierung von Kritias’ Einleitungssatz (in Ti 20d), in dem dieser beteuert, bei dem, was er vortragen werde, handle es sich um eine „zwar sehr eigenartige, aber jedenfalls in jeder Hinsicht wahre Darlegung“, veranlasst Proklos zu einer kleinen Doxographie über bisherige Auffassungen des Status dieser Geschichte (die er zunächst als „diese ganze Darlegung [logon] über die Atlanter“ bezeichnet, p. 75,30 Diehl): Die einen (Beispiel: Krantor) betrachten sie als „bloße historische Erzählung“ (historia psilē, p. 76,1), andere aber als „Mythos und Fiktion [plasma], die sich nie ereignete, sondern eine Demonstration [endeixin] bietet von Phänomenen im Kosmos, die stets sind oder entstehen“ (p. 76,10-12). An diesen Interpreten nun hat Proklos auszusetzen, dass sie Platons (genauer: Kritias’) Hinweis nicht 10
Keine solche Zweifel zeigt freilich der Akademie-Angehörige Krantor, der sich um 300 v. Chr. in der Tat aufmachte, bei ägyptischen Priestern seiner Zeit nach Belegen für die Historizität der Atlantis-Geschichte zu forschen; vgl. dazu Nesselrath [2001].
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beachten, dass es sich um eine „zwar sehr eigenartige, aber jedenfalls in jeder Hinsicht wahre Darlegung“ handle (p. 76,12-14); er referiert dann aber gleichwohl einige Varianten dieser Klassifikation, etwa die des Amelios, der in der Atlantis-Geschichte eine Endeixis („Demonstration“) des Kampfes zwischen Fix- und Wandelsternen sehen wollte (p. 76,21-30). Andere hätten in der Geschichte einen Kampf zwischen besseren und schlechteren Dämonen dargestellt sehen wollen (so etwa ein Platoniker namens Origenes;11 p. 76,3077,3), noch andere eine Entzweiung verschiedener Seelen (so etwa Numenios; p. 77,3-6). Proklos diskutiert noch weitere Varianten dieser Auffassungen (p. 77,6-24), was immerhin zeigt, dass es eine nicht geringe Zahl späterer Platoniker gab, die die Atlantis-Geschichte in dieser Weise als „Mythos und Fiktion“ auffassen wollten. Proklos selbst aber vertritt im Gefolge des Iamblich und seines eigenen Lehrers eine noch etwas andere Auffassung: dass der in der Atlantis-Geschichte zutage tretende Widerstreit zum einen wirklich „historisch“ (auf der, neuplatonisch gesehen, untersten Seinsebene) ist, dann aber auch Phänomene durch alle höheren Seinsstufen hinauf abbildet (p. 77,24-80,5). Für Proklos wäre damit die Atlantis-Geschichte also beides: sowohl abbildende historische Darlegung (Logos) als auch versinnbildlichender Mythos höherer Sphären. Auch in dieser Perspektive aber wäre diese Geschichte etwas Besonderes im Vergleich zu den übrigen platonischen Mythen. Nicht nur bei Plutarch und Proklos findet die Atlantis-Geschichte Erwähnung, sondern auch noch in anderen Texten. Wenn dabei vom „Atlantikos“ die Rede ist, ist in der Regel der Dialog Kritias gemeint;12 nicht immer macht eine Ergänzung mit Logos oder Mythos klar, wie der Status der (eben vor allem im Kritias dargestellten) Geschichte im jeweiligen Kontext gesehen wird.13 Als Logos bezeichnet wird die Geschichte bei den spätantiken Platon-Kommentatoren Hermeias14 und Damaskios15, dagegen als Mythos in Plutarchs Schrift Non posse suaviter vivi secundum Epicurum16 und bei Clemens von Alexandria17 – also auch diese wenigen Belege halten sich völlig die Waage. Die zuletzt genannte Clemens-Stelle ist aber insofern von etwas größerer Bedeutung, als die Atlantis-Geschichte hier explizit neben eine Reihe anderer platonischer Mythen gestellt wird: den Er-Mythos der Politeia, den Totengerichtsmythos des Gorgias, den Unterweltsmythos des Phaidon und den 11
Ziemlich sicher nicht identisch mit dem christlichen Kirchenlehrer; vgl. Baltes / Lakmann [2000]. 12 Belege bei Nesselrath [2006] 68f. 13 So spricht z.B. Diogenes Laertios 351 einfach vom „Atlantikos“, der hier der Gruppe der „politischen“ Dialoge zugeordnet wird. Vgl. Plutarch De animae procreatione 10,1017C; Proklos In Timaeum I p. 71,8. 199,21 Diehl; Ath. 14,640e. 14 Hermias In Platonis Phaedrum p. 253,24 Couvreur. 15 Damaskios In Phaedonem 507 (Westerink). 16 Plutarch Non posse 10,1093A. 17 Clemens Stromata 5,58,6.
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Prometheus-Epimetheus-Mythos des Protagoras. Zumindest Clemens scheint also keine größeren kategorialen Unterschiede zwischen diesen Mythen und der Atlantis-Geschichte gesehen zu haben. III. Die Zuordnung der Atlantis-Geschichte in modernen Behandlungen der platonischen Mythen Auch in der Moderne wird der Status der Geschichte keineswegs einheitlich gesehen. Seit dem früheren 20. Jh. gibt es mehrere Versuche, die Geschichte einer bestimmten Kategorie unter mehreren, die man bei Platon unterscheiden zu können glaubt, zuzuweisen. 1930 teilte Perceval Frutiger18 die platonischen Mythen in drei Gruppen ein, nämlich in „mythes allégoriques“, „mythes génétiques“ und „mythes parascientifiques“ –; dabei rechnete er die AtlantisGeschichte zu den „mythes génétiques“, durch die eine – sonst kaum mehr erschließbare – Vergangenheit fiktiv-plausibel rekonstruiert werde.19 Am Ende des 20. Jh.s differenzierte Katherine Morgan20 diese Mythen erneut in drei Gruppen: „[1.] traditional myths such as those told by the poets, [2.] educational myths that are intended to exercise social control, [3.] philosophical myths which are tied to logical subjects“ (S. 162). Die Atlantis-Geschichte wird hier nicht eigens aufgeführt, aber an späterer Stelle der dritten Gruppe zugeordnet, ferner als „charter myth for the modern Athens“ bezeichnet und mit der „Noble Lie“ aus Politeia III verglichen.21 In einer Reihe jüngerer Studien wird die Atlantis-Geschichte ebenfalls zu den platonischen Mythen gerechnet, wobei aber meist noch eine besondere Spezifikation erfolgt. In seinem Beitrag „The Atlantis myth“ von 199422 macht Gerard Naddaf schon im Titel seine grundsätzliche Einordnung der Geschichte deutlich; zugleich charakterisiert er sie aber auch als „a pastiche of history, that is, constructed, at least in part, out of historical ingredients“ (190),23 und etwas später (197 mit Anm. 34) spricht er dann sogar von einer „likely story“ (eikōs logos / eikōs mythos);24 dieses Schwanken in den Zuordnungen ist bemerkenswert. Tom Garvey möchte in der Atlantis-Geschichte eine „prose hymn to 18
Frutiger [1930] 209f. Vgl. Platon Resp 382c-d; Frutiger [1930], 190f. 20 Morgan [2000] 161-164. 21 Morgan [2000] 264. Dieses spätere Kapitel von Morgans Buch erschien bereits (in ausführlicherer Form) als „Designer History: Plato’s Atlantis Story and Fourth-Century Ideology“ in JHS 118 [1998] 101–118. Auch hier wird die Atlantis-Geschichte von Anfang an als „charter myth“ bezeichnet, dessen „narrative set-up ... corresponds to the conditions specified in the Republic for the successful creation of a charter myth (the 'Noble Lie') for the ideal city“ (101), und überall in diesem Artikel ist vom „Atlantis myth“ die Rede. 22 Naddaf [1994]. 23 So auch bereits Brisson [1982 / 1994 / 1998] (vgl. u. 348). 24 Vgl. bereits Cherniss (o. Anm. 2).
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Athena“ erkennen, von Platon in der Absicht entworfen „to refashion Athenian mythology to meet his standards of myth as set forth in the Republic, and to redirect Athenians to a way of life that had once brought them world domination“.25 Auch Markus Janka ist geneigt, in seinem Beitrag zu „Semantik und Kontext: Mythos und Verwandtes im Corpus Platonicum“ die AtlantisGeschichte als „pseudo-historischen mythos“ zu bezeichnen.26 In der 2004 veröffentlichten Sammlung „Plato: Selected Myths“ (ed. Catalin Partenie) ist die Atlantis-Geschichte neben den Mythen aus Protagoras, Gorgias, Phaidon, Staat und anderen Dialogen zu finden. In der Einführung zu dem ebenfalls von Partenie herausgegebenen Band „Plato’s Myths“ von 2009 wird – entgegen den Beteuerungen des Kritias (s. o.)! – die Atlantis-Geschichte als plastheis mythos eingeführt (12): „Plato must have expected his readers to recognize that what Critias calls a ‘true account’, miraculously preserved ..., is in fact a plastheis muthos, an ‘invented myth’ meant to cast Socrates’ ideal state in a history that will stress its superiority more poignantly.“ 2006 unternahm Thorsten Bachmann den Versuch, die Atlantis-Geschichte als einen spezifisch „politischen Mythos“ zu bestimmen.27 Er weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass diese Geschichte „zweifelsohne mythische Elemente enthält“ (106), und meint damit das in der Geschichte zutage tretende Wirken von Göttern (die Begründung der atlantischen Königsdynastien durch die geschlechtliche Verbindung des Meergotts Poseidon mit der Menschenfrau Kleito; die Einflussnahme der Götter Athena und Hephaistos auf die Konstitution von Ur-Athen). Auf der anderen Seite ist Bachmanns Verständnis von „mythisch“ z.T. recht unscharf;28 ferner unterscheidet er fast nie zwischen dem Autor Platon und dem von ihm eingeführten Sprecher Kritias.29 Er versucht diesem 25
Garvey [2008] 381. Janka [2002] 30 (vgl. S. 33 in diesem Band). Seiner Meinung (32; vgl. S. 35 in diesem Band), dass der Terminus mythologia in Krit 110a3-4 sich ebenfalls (zumindest indirekt) auf die Atlantis-Geschichte beziehe, möchte ich freilich nicht ohne weiteres zustimmen. 27 Bachmann [2006]. 28 So versteht er unter „mythisch“ auf S. 111 „hyperbolisch ins Superlative erhöht“, um auch die gewaltigen in Bezug auf Atlantis berichteten Maßangaben als „mythisch“ ansehen zu können. 29 Beispiele dafür finden sich auf S. 110 („Platon kann etwaige Bedenken an der Echtheit dieser Geschichte ... nicht durch sichere Quellenstudien bzw. objektiv überprüfbare Daten aus dem Weg räumen, sondern nur durch einen zur Stringenz der Erzählung passenden Obskurantismus ... Platons Beglaubigung, die sich um den Nachweis einer Authentizität bemüht, legt den vollkommenen Urzustand in die rückwärtsgewandte Perspektive einer unverfälschten, weil von Göttern beherrschten Vergangenheit“), S. 113 („so ist es für Platon völlig unstrittig, dass dieser urzeitliche Stadtstaat die wirkliche Realisierung des von Sokrates ... hypothetisch entworfenen Idealstaats ist“) und S. 117 („Platon wollte, dass der Leser bzw. Hörer an die Wahrhaftigkeit bzw. Zuverlässigkeit seiner Berichterstattung glaubt ...“). Freilich machen sich auch noch andere dieser mangelnden Differenzierung schuldig (z. B. Naddaf [1994] 189, 196). 26
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„politischen Mythos“ gleich mehrere Funktionen zuzuweisen und spricht zum einen von einem „Distinktionsmythos“,30 zum anderen von einem „Legitimationsmythos“31 und schließlich auch noch von einem „Identitätsmythos“.32 Abgesehen von mancher verbalen Kraftmeierei, die hier mit sehr unscharf verwendeten Begriffen um sich wirft,33 bleibt zu fragen, ob mit solchen Bestimmungen wirklich ein plausibler Bezug der Geschichte auf das Athen von Platons Gegenwart erfasst ist, zumal wir keinerlei Anhaltspunkte dafür haben, dass die Geschichte in Platons Gegenwart außerhalb des engen Kreises von Platons Akademie in Athen überhaupt bekannt wurde (vgl. unten). In anderen Äußerungen aus jüngerer Zeit scheint der Mythos-Charakter der Atlantis-Geschichte eher als fraglich oder zumindest diskutabel betrachtet zu werden. 1977 erörterte Christopher Gill drei Möglichkeiten der generischen Zuordnung der Atlantis-Geschichte:34 „(1) ... it is an exercise in philosophical myth-making, which extends the range of Platonic myth-making to include representation of political action and war; (2) ... it is a factual report of a 30
Bachmann [2006] 118f.: „Der Atlantis-Bericht fungiert einmal als Distinktionsmythos zum urathenischen Stadtstaat (Polis), an den nun die Rückbesinnung auf eine ‚wahre‘, von Göttern gestiftete Ordnung gekoppelt wird.“ 31 Bachmann [2006] 119: „Sodann entwirft Platon mit Atlantis einen ‚negativen‘ Legitimationsmythos für das ungleich vorbildlichere Ur-Athen, dessen lobenswerte Größe sich in seinem Sieg über die usurpatorische Königsinsel zeigt. Nicht nur die verfassungsrechtliche Selbstbehauptung eines auf das [sic] Ur-Athen rekurrierenden gerechten und starken Staates lässt sich unter der Regie eines mythischen Konstrukts rechtfertigen, sondern beispielsweise auch ein politisch notwendig erscheinender Angriffskrieg, mit dem man bloß einer drohenden Invasion zuvorkommen will.“ 32 Bachmann [2006] 119: „Den Charakter eines Identitätsmythos erhält der Atlantissowie der Ur-Athen-Bericht dadurch, dass er der Selbstdarstellung, der Autorepräsentation einer Staatengemeinschaft dient, die sich als ein besonderes, von den Göttern begünstigtes Volk wiederzufinden sucht. Platons Absicht, das ‚entartete‘ Atlantis als ein Gegenmodell zum Idealstaat Ur-Athen aufzuzeigen, lässt sich demnach als eine fiktive Historiographie zur Stabilisierung der Gruppenidentität interpretieren, die ihre potenziell realpolitisch umsetzungsfähige Staatsform aus einem heilsgeschichtlichen Ursprung zu rechtfertigen versteht.“ 33 Vgl. aus den in den vorangehenden Anmerkungen zitierten Textproben vor allem die folgenden Begriffe: „usurpatorische Königsinsel“ (was soll an Atlantis und namentlich an seinem durch Poseidon begründeten Königsgeschlecht „usurpatorisch“ sein?); „verfassungsrechtliche Selbstbehauptung“ (von „Verfassungsrecht“ ist nirgendwo in der Geschichte die Rede); „politisch notwendig erscheinender Angriffskrieg“ (Atlantis’ Angriff ist alles andere als „politisch notwendig“, und bei Ur-Athen ist nirgendwo von einem „Präventivschlag“ die Rede); „Autorepräsentation einer Staatengemeinschaft“ (um was für eine „Staatengemeinschaft“ soll es sich handeln?); „Stabilisierung der Gruppenidentität“ (um die Identität welcher Gruppe geht es?); „heilsgeschichtlicher Ursprung“ (dieses Stichwort bringt erst recht eine völlig unangemessene Kategorie in Platons Darstellung hinein). 34 Gill [1977] 291.
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historical event, preserved by a unique line of transmission, which happens to be suitable for the required philosophical theme; (3) ... it is a piece of virtually free invention, whose principal interest is in giving a mimesis of human action ...“ Er entscheidet sich dann für eine Sicht der Geschichte als „a politicophilosophical myth35 constructed out of historical ingredients, and specifically designed as a cautionary tale – and possibly a protreptic – for an Athenian audience“ (298). In dieser Sicht wäre die Geschichte ein Mythos, aber einer, der sich von allen anderen platonischen Mythen merklich unterscheidet. In der 1998 erschienenen englischen Übersetzung36 seines Buches „Platon, les mots et les mythes“ (1. Aufl. 1982, 2. 1994) bezeichnet Luc Brisson die Geschichte als „a pastiche or, more precisely, a pseudohistorical account, in which Plato takes Herodotus as a model“ (14).37 Es hat auch Versuche gegeben, „typischen“ platonischen Mythen bestimmte Charakteristika zuzuweisen; in welchem Umfang treffen diese Charakteristika auch auf die Atlantis-Geschichte zu? In ihrem Buch „Les mythes platoniciens“ nennt Geneviève Droz38 fünf (10-13): 1. Ein platonischer Mythos sei „récit fictif“; 2. er „rompt avec la démonstration dialectique, un autre type de discours“; 3. er sei „un moyen pour exposer du vraisemblable“; 4. „il a un sens caché“; 5. er habe eine „double intention pédagogique: ... il ... délasse l’esprit fatigué ... il aspire aussi à rendre ‚meilleur‘“. Längst nicht alle dieser Merkmale lassen sich ohne weiteres auf die Atlantis-Geschichte übertragen: Sie bricht nicht „avec la démonstration dialectique“ (2.), denn eine solche ist gar nicht erst intendiert, und sie soll auch nicht „Wahrscheinliches“ (3.) demonstrieren, denn Kritias insistiert ja gerade darauf, dass es sich bei dem, was er darbieten will, um eine historisch wahre Geschichte handelt; ebenso ist ein „sens caché“ (4.) hier nicht zu entdecken, da ja von vornherein klar ist, was die Geschichte vorführen soll. Nach Droz’ Kriterien wäre die Atlantis-Geschichte also kaum als Mythos aufzufassen. Den elaboriertesten Versuch, gemeinsame Kriterien für platonische Mythen aufzustellen, hat in neuester Zeit Glenn Most unternommen;39 für die insgesamt 14 Partien aus Platons Œuvre, auf die er die Bezeichnung „Mythos“ anwenden möchte – darunter auch die Atlantis-Partie des Timaios (20c-25e) und die des Kritias (108e-121c)40 –, stellt er acht Kriterien zusammen. Eine Reihe von ihnen trifft sicher auch auf die Atlantis-Geschichte zu: Sie wird monologisch erzählt (1.); sie stellt Dinge dar, die sich nicht unabhängig vom Sprecher verifizieren
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Jedoch „presented as a piece of history“ (302). Brisson [1998]. Andererseits dient die Atlantis-Geschichte in Brissons Buch geradezu als Paradebeispiel für Platons Mythen. 37 Er verweist dazu auf Vidal-Naquet [1964 / 1981] und Vidal-Naquet [1972]. 38 Droz [1992]. 39 Most [2012 / 2002 und im vorliegenden Band S. 9-21]. 40 Die Abgrenzungen sind hier nach Most gegeben (2012, Appendix B, S. 24). 36
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lassen (4.);41 sie bezieht ihre „Glaubwürdigkeit“ nicht aus der persönlichen Erfahrung des Vortragenden, sondern aus der (von diesem geltend gemachten) Tradition (5.); sie hat einen psychagogischen Effekt (6.);42 sie ist beschreibend und erzählend (7.). Bei anderen von Mosts Kriterien jedoch fällt es schwerer, sie in dieser Geschichte wiederzufinden: Laut Kriterium Nr. 2 werden platonische Mythen „probably always“43 von einem älteren Sprecher jüngeren Zuhörern erzählt – es darf jedoch als ziemlich sicher gelten, dass der Erzähler Kritias44 jünger ist als der ihm zuhörende (469 v. Chr. geborene) Sokrates. Auch das Kriterium Nr. 3 („Platonic myths go back to older ... oral sources“45) muss im Fall der Atlantis-Geschichte zumindest sehr stark modifiziert werden, denn im Timaios legt der ägyptische Priester Wert auf die Feststellung, dass seine Ausführungen über Athens größte Tat letztlich auf schriftlichen Aufzeichnungen beruhen, ohne die die angebliche Kunde aus ferner Vorzeit nicht bis in Solons Zeit hätte weitergegeben werden können.46 Schließlich trifft auch Kriterium Nr. 8 („Platonic myths are always found either (a) at the beginning of an extended dialectical exposition or (b) at the end of one“47) nicht zu, denn die Atlantis-Geschichte findet sich weder am Beginn noch am Ende einer „extended dialectical exposition“; eine solche ist weder im Timaios noch (erst recht) im Kritias vorhanden, und das liegt ganz in der Natur der Sache: Sokrates’ Wunsch, seinen idealen Staat in (kriegerischer) Aktion zu sehen, kann eigentlich nur durch eine entsprechend anschauliche Erzählung befriedigt werden. Auch nach dem Kriterienkatalog von Most fällt es also schwer, die Atlantis-Geschichte unter die „typischen“ platonischen Mythen einzuordnen. Bei einem eigenen Annäherungsversuch an den platonischen Mythosbegriff48 schienen mir vor allem zwei Dinge an Platons Verständnis hervorhebenswert: 1. dass Mythen individuelle Schöpfer (wie Protagoras, aber auch Platon selbst) haben können und 2. dass Mythen eine wichtige erzieherische Rolle spielen können. Lassen sich diese beiden Eigenarten auch bei der von Kritias erzählten Geschichte finden? Eigenart Nr. 1 würde Kritias energisch bestreiten, es kann jedoch kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Atlantis41
Es sei denn, man glaubt, dass es die von Kritias erwähnten (Krit 113b) schriftlichen Aufzeichnungen Solons oder gar die der ägyptischen Priester (Ti 23a) tatsächlich gegeben habe; zumindest an die letzteren glauben die gläubigen Atlantis-Sucher bis heute, obwohl in Jahrhunderten ägyptologischer Forschung nie etwas davon ans Licht gekommen ist. 42 Wenn man Sokrates’ Reaktion in Ti 26e auf Kritias’ Ankündigung und erste Skizze als einen solchen verstehen darf. 43 Most [2012] 16. 44 Zu seiner Identität mit dem um 460 v. Chr. geborenen Führer der Dreißig Tyrannen vgl. Nesselrath [2006] 43-50. 45 Most [2012] 17. 46 Vgl. Platon Ti 23a; 23e-24a. 47 Most [2012] 18. 48 Nesselrath [1999] 16-22.
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Geschichte einen individuellen Schöpfer hat, nämlich Platon selbst; Eigenart Nr. 2 scheint nicht ausgeschlossen, wäre aber noch näher zu untersuchen (vgl. unten). Es könnte hier eine reizvolle Paradoxie vorliegen: Während der Erzähler der Geschichte sich sehr darum bemüht, sie als Logos und nicht als Mythos erscheinen zu lassen, könnte sie nach den in anderen Werken erkennbaren Gepflogenheiten des Autors doch als ein solcher aufzufassen sein. Nach dem Vorangehenden drängt sich also der Verdacht auf, dass sich es bei der Atlantis-Geschichte zumindest um einen Sonderfall handelt. Welcher Art dieser Fall ist, lässt sich vielleicht am besten durch einen Rückgriff auf die Politeia eruieren, die ja auch für die Konstitution von Platons (oder genauer: Kritias’) Ur-Atlantis die konzeptionelle Matrix geliefert hat. IV. Eine besondere Art von Mythos? Die Atlantis-Geschichte und die Rekonstruktion ferner Vergangenheit laut Platon Resp 382c-d + 499c-d Im 6. Buch der Politeia stellt Sokrates – auf das bisher Erörterte zurückblickend – fest, dass ein idealer Staat, wie er im vorangehenden Gespräch konzipiert wurde, nur dann überhaupt möglich ist, wenn in ihm die Philosophie die staatsleitende Funktion übernimmt (sei es, dass ein oder mehrere Philosophen aus welchen Gründen auch immer in diese Leitungsposition gelangen, sei es, dass in einem bereits vorhandenen Herrschaftsträger die Liebe zur Philosophie erwacht: Resp VI 499b2-c2). Auch wenn eine solche „Koinzidenz“ in der Lebenswelt der Dialogteilnehmer nirgends vorzukommen scheint, hält Sokrates sie keineswegs für unmöglich, sondern skizziert drei Fälle, in denen sie vielleicht Realität war, ist oder sein wird: „Wenn ... hervorragende Philosophen entweder in der unendlichen vergangenen Zeit durch den Zwang einer unbedingten Notwendigkeit zur Verwaltung eines Staates gekommen sind oder in einer nicht-griechischen Gegend weit aus unserem Gesichtskreise dazu gegenwärtig kommen oder noch dazu in Zukunft kommen werden, so bin ich ... bereit, die Behauptung mit Gründen durchzufechten, dass die hier geschilderte Staatsverfassung wirklich war und wirklich ist und wirklich sein wird“ (499c7d3). Von diesen drei hier anvisierten Fällen scheint mit der Atlantis-Geschichte in Timaios und Kritias gerade der erste durchgespielt zu sein: dass es in einer weit entfernten Vergangenheit einen idealen Staat von der Art gab, wie Sokrates ihn in der Politeia (und noch einmal im Anfangsteil des Timaios) beschrieben hat, und dieser Staat sich in seinem Abwehrkampf gegen einen weit überlegenen Gegner so vorzüglich verhielt, wie Sokrates es sich in Ti 19c erhoffte. Aber wie kann man einer solchen (so weit entfernten) Vergangenheit überhaupt gewahr werden? Auch dazu finden sich in der Politeia Überlegungen, und zwar bereits im 2. Buch, wo es darum geht, welche (mythischen) Geschichten man jungen Menschen erzählen darf, ohne ihr sittliches Heranwachsen zu gefährden, und welche nicht (377c-383c). Im Rahmen dieser Erör-
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terungen entwirft Sokrates auch das Konzept einer Fiktion (pseudos en logois, 382c), die für erzieherische Zwecke nützlich sein könnte und die, wenn es um Erzählungen (mythologiai) über vergangene Dinge geht – bei denen „das Wahre“ sowieso nicht mehr gewusst werden kann –, in der Weise Nutzen hervorbringt, dass man „dem Wahren49 die Fiktion so weit wie möglich angleicht“ (aphomoiountes tōi alēthei to pseudos hoti malista).50 In der Politeia selbst wird uns die Schaffung einer solchen nützlichen Fiktion über die Vergangenheit im dritten Buch vorgeführt, als es darum geht, den künftigen Bürgern des neuen idealen Staates eine gemeinsame Identität zu geben: Dies soll mit Hilfe einer „phönizischen“ Fiktion (414c4)51 geschehen, die ihnen einerseits einen gemeinsamen Ursprung suggerieren und andererseits erklären soll, warum es von ihnen drei verschiedene Klassen gibt (414d-415c). Die Atlantis-Geschichte nimmt sich wie ein sehr viel komplexer und aufwändiger gestaltetes (und schließlich unvollendet gebliebenes) weiteres Beispiel einer solchen Vergangenheitsfiktion aus: Zwar beteuert ihr Erzähler Kritias, es handele sich um lückenlos52 überlieferte historische Ereignisgeschichte, ihr eigentlicher Schöpfer Platon jedoch scheint sich an das gehalten zu haben, was Sokrates in Resp 2, 382d über die Annäherung an eine „wahre“, aber nicht mehr erfassbare Vergangenheit durch eine möglichst plausible Fiktion sagt. Nach der in den betreffenden Politeia-Passagen verwendeten Terminologie wäre dann auch diese Geschichte als ein „mythos“ (vgl. Resp 3, 415a2) oder als „mythologia“ (vgl. Resp 2, 381d1) zu bezeichnen. Will man die Atlantis-Geschichte also unter diesen Vorgaben aus der Politeia betrachten – wofür sehr viel spricht –, bliebe freilich noch die Frage, was der Nutzen (das chrēsimon, vgl. Resp 2, 382c10) in Platons Augen sein sollte. Hier wird man sich zunächst wieder an Sokrates’ Äußerungen im Anfangsteil des Timaios orientieren dürfen (19c): Sokrates wünscht sich, den von ihm beschriebenen Staat in Aktion zu sehen – erst dadurch würde er für ihn lebendig und vielleicht auch erst „wirklich“,53 und erst in der „Bewährung“ in 49
Man könnte natürlich fragen, woher man denn weiß, was „das Wahre“ ist, so dass man es als Orientierungsmaßstab für die ihm anzugleichende Fiktion verwenden kann. Die Frage wird in diesem Kontext, soweit ich sehe, nicht beantwortet. Vielleicht gibt sich Sokrates „for the sake of the argument“ hier einfach mit einer approximativen Vorstellung dessen, was dieses „Wahre“ sein könnte, zufrieden. 50 Diese Ausführungen stützen sich auf Ferrari [2012]: Ferrari entdeckt in den Partien Resp 2, 382d und 6, 499c-d die theoretischen Vorgaben, die Platon bei der Konzeption seiner Atlantis-Geschichte umsetzt. 51 In 415a2 nennt Sokrates diese Fiktion dann auch einen „Mythos“. 52 Abgesehen freilich von den tausend Jahren, die zwischen dem Atlantiskrieg und der Gründung der ägyptischen Stadt Saïs liegen sollen (Ti 23e), in der die Geschichte angeblich ihre erste schriftliche Aufzeichnung fand. 53 Denn in Ruhe wäre er nicht von einem Bild zu unterscheiden (man beachte, wie Sokrates zuvor, 19b, von der Betrachtung „schöner Tiere“ spricht, die sich auch erst in Bewegung als lebendig erweisen und von bloßen Bildern unterscheiden).
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Krieg und Diplomatie (beides ist in Ti 19c ins Auge gefasst) würde sich zeigen, dass dieser Staat wirklich so vorzüglich und „ideal“ ist, wie er sein soll,54 und damit auch die ganze Konzeption als richtig erwiesen werden. Es geht also bei der Atlantis-Geschichte um nichts weniger als den Nachweis, dass der von Sokrates konzipierte Idealstaat tatsächlich funktioniert, und dieser Nachweis richtet sich sowohl nach „innen“ als auch nach „außen“: nach „innen“, als mit der Geschichte innerhalb der Akademie die (sich bereits an mehreren Stellen der Politeia55 andeutende) Diskussion um eine Realisierbarkeit eines solchen idealen Staates weitergeführt worden sein könnte;56 aber auch nach „außen“, insofern nämlich, als es Hinweise darauf gibt, dass das Staatsmodell der Politeia auch außerhalb der Akademie diskutiert wurde und dabei zum Teil massive Kritik, gelegentlich auch recht spöttischer Art, erfuhr. Nach dem Zeugnis des bereits erwähnten Proklos wurde Platon von manchen Zeitgenossen, darunter keinem Geringeren als Isokrates,57 vorgeworfen, er habe in seinem Entwurf eines idealen Staates einfach nur Institutionen Ägyptens kopiert; es wirkt wie eine ganz gezielte Antwort Platons auf diesen Vorwurf, wenn er im Anfangsteil des Timaios gerade einen ägyptischen Priester zu Protokoll geben lässt, dass Ur-Athen (die damalige „historische“ Verkörperung des Idealstaats) nicht weniger als tausend Jahre älter gewesen sei als die früheste ägyptische Stadt (Saïs), in der man ähnliche Strukturen finde (Ti 23e). Ob Platon darüber hinaus – wie offenbar Bachmann annimmt (vgl. oben) – mit seiner para-historischen Fiktion der großen Auseinandersetzung zwischen Atlantis und Ur-Athen noch stärker in die griechischen (und speziell) athenischen Verhältnisse seiner Zeit hinein wirken wollte, wird sich kaum noch feststellen lassen, da es kein sicheres Zeugnis aus Platons eigener Lebenszeit dafür gibt, dass seine Atlantis-Geschichte in Athen (oder gar darüber hinaus) zur Kenntnis genommen worden wäre.58 In diesem Zusammenhang fällt nun auch die Unvollendetheit der Geschichte ins Gewicht; sie spricht dafür, dass die Geschichte jedenfalls zu Platons Lebzeiten die Räumlichkeiten der Akademie wahrscheinlich gar nicht verlassen hat. So ist abschließend noch einmal die Sonderstellung dieser Geschichte im Werk Platons hervorzuheben; zwar gibt es Hinweise, dass Platon selber sie wohl als „mythos“ oder „mythologia“ verstanden hätte (vgl. o.), doch weist sie 54 In Resp 4, 423a stellt Sokrates fest, dass sein idealer Staat, auch wenn er nur über tausend Kämpfer verfügt, der „wahrhaft größte“ unter Hellenen und Barbaren sein werde, weil er allen anderen innere Einheit und Geschlossenheit voraushabe. Die AtlantisGeschichte, könnte man sagen, münzt diese – zunächst nur „ideale“ – Überlegenheit in eine real-militärische um. 55 Vgl. Resp 5, 472d- 473c; 6, 499b-d. 502a-c; 7, 540d-541a; 9, 592a-b. 56 Auch Platons Reisen nach Sizilien haben ja bekanntlich mit dieser Frage zu tun; vgl. von Fritz [1968]; Trampedach [1994] 105-111. 260-264; Scholz [1998] 93-95; Barthel [2008] 118-124. 57 Vgl. hierzu Eucken [1983] 183-195 u. 208-212; Nesselrath [2002] 32f. 58 Vgl. Nesselrath [2002] 19-21.
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gegenüber Platons „anderen“ Mythen eine beachtliche Reihe von Alleinstellungsmerkmalen auf: Sie gibt sich als Nacherzählung angeblich historischer Ereignisse; sie ist mit einem außergewöhnlich detailreichen und komplexen Beglaubigungsapparat versehen; sie wird von ihrem Erzähler Kritias ausdrücklich und konsequent gerade nicht als „mythos“, sondern als „logos“ bezeichnet;59 und sie ist (wohl als einziger von Platons Mythen) nicht vollendet.60 Was dieser unvollendeten Geschichte in Erzählweise und Thematik am nächsten kommt, ist die phantasievolle Rekonstruktion der griechischen Frühgeschichte bis zur Schlacht von Marathon im dritten Buch der Nomoi61 – aber diese Darstellung wird eigentlich nie zu den platonischen „Mythen“ gerechnet.
59 Hier mag man eine gewisse Parallele zu der Einführung des Mythos vom Totengericht im Gorgias sehen; aber dort lässt Sokrates großzügig beide Bezeichnungen – „logos“ wie „mythos“ – zu, während Kritias explizit auf dem „logos“-Charakter seiner Geschichte insistiert. 60 Zu den möglichen Gründen dieser Nicht-Vollendung vgl. Nesselrath [2002] 38-41 und Nesselrath [2006] 38-41. 61 Platon Leg. III 678a-701c. Als „Fortsetzung“ der unvollendeten Kritias-Geschichte wird die Nomoi-Darstellung z. B. von Cornford [1937] 7f. (vgl. auch Lee [1971] 23 und Nesselrath [2006] 40) angesehen.
PLATONS JENSEITSMYTHEN: EINE „NEUE MYTHOLOGIE“? Joachim Dalfen Über den Mythos im Allgemeinen und über Platons Mythen ist schon sehr viel Bedeutendes geschrieben worden. Deshalb soll hier von einer ganz einfachen und bescheidenen Definition ausgegangen werden: Mythen sind Erzählstoffe.1 Die griechischen Mythen erzählen von Ereignissen, deren Akteure Götter, halbgöttliche Wesen sowie Helden und große Frauen der frühen Zeit sind. Als mythos haben die Griechen auch die Erzählungen bezeichnet, die wir Fabeln nennen und in denen Tiere, Pflanzen und einfache Menschen sprechen und agieren. Von ihnen wird hier nur am Rande zu reden sein. Mythen und Figuren des Mythos wurden schon sehr früh instrumentalisiert und funktionalisiert. Hesiod verwendet Geschichten von Prometheus und Pandora, um die Situation des Menschen in der Welt zu erklären. Helena wird für Sappho, Alkaios und für Spätere ein Exempel, an dem man menschliches Verhalten und seine Folgen zeigen und diskutieren kann. Mythisches kann als Vergleich, als Spiegel, als Mittel der Steigerung verwendet werden. Bei den Griechen bestand im Umgang mit dem Mythos Freiheit, man konnte die Mythen und die Bedeutungen, die man in ihnen fand oder in sie hineinlegte, speziellen Verhältnissen und Absichten anpassen. Ein gutes Beispiel ist die Tragödie: Die Dichter verwenden mythische Stoffe, Ereignisse und Personen, um daran Probleme der eigenen Zeit darzustellen und bewusst zu machen. Die Athener holen dabei manche mythischen Geschichten und Ereignisse nach Athen hinein, z.B. in der Orestie, in den Herakliden und Hiketiden, im Oedipus auf Kolonos. Durch die Idealisierung der Frühzeit ihrer Heimatstadt drücken sie wesentliche Züge des athenischen Selbstverständnisses aus. Die Verfasser von epitaphioi logoi und Politiker übernehmen die von den Tragikern umgeformten Stoffe und benützen sie für ihre Zwecke, etwa zur Selbstdarstellung Athens nach außen, zur Begründung politischer Forderungen usw. Platon hatte genügend Beispiele dafür zur Hand, wie man Mythen verändert und verwendet.2 Hier soll von Platons Jenseitsmythen gesprochen werden, von den Schlussmythen der Apologie, des Gorgias, des Phaidon und der Politeia. Auf ihren Inhalt wird nicht ausführlich eingegangen werden. Die Frage nach den Quellen ist
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Zum Narrativen als Definitionsmerkmal des Mythos vgl. etwa Hasenfratz [1990] 9 (Mythen sind traditionelle Erzählungen mit exemplarischer Funktion, ... „wahre“ Erzählungen ... die für die Welt des Erzählers und seiner Zuhörer exemplarische Bedeutung haben) und Reventlow [1990] 35. 2 Zur Freiheit im Umgang mit dem Mythos vgl. Wannagat [1999] 156f. – Zum Mythos in Athen siehe Dalfen [1998].
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unergiebig und oft behandelt worden, es genüge die Feststellung, dass Platon auch Material verschiedener Herkunft verwendet.3 Signifikant ist, dass die Mythen Platons über das Schicksal der Seele nach dem Tod Schlussmythen sind. Sie folgen auf den Dialog, auf den rationalargumentativen Diskurs, und ziehen die Linien weiter, die im Dialog mit verschiedenen Gesprächspartnern bis zu bestimmten Punkten gezogen worden sind. Von dieser Feststellung aus ergeben sich die Fragen, warum Platon seinen Sokrates Mythen erzählen lässt: Das ist die Frage nach der Notwendigkeit des Mythos; wie Sokrates selbst zu den Mythen steht, die er seinen Gesprächspartnern und sich selbst erzählt: Das ist die Frage nach der Wahrheit der Mythen und nach der Einstellung des Erzählers dazu; und die Frage, wozu er seine Mythen erzählt: Das ist die Frage nach ihrer Funktion. Die Schlussmythen platonischer Dialoge wachsen aus der Diskussion und aus der dialektischen Argumentation oder dem elenchos heraus, also aus dem, was man dem Bereich des logos zurechnet.4 Die Philosophen unter den Interpreten Platons hatten und haben Probleme mit diesen Mythen. Ihren Verständnisschwierigkeiten begegnen sie häufig mit der simplifizierenden Antithese „logos – mythos“. Aber die simple Antithese ist falsch; sie ist, zumindest im Falle Platons, ein abgegriffenes, aber durch ständige Wiederholung um nichts richtiger gewordenes Klischee.5 3
Über Platons Seelenvorstellung auf der Grundlage seiner Philosophie (Eigenexistenz, Struktur ...), über die früheren griechischen Vorstellungen von einer Existenz nach dem Tode und auch über Platons Beschreibungen der jenseitigen Welten (Seelenregionen) siehe Alt [1982]; Alt [1983]. Über die früheren Unterweltvorstellungen als Quellen für Platon siehe Schmidt [1986]. Zu Platons „Jenseitsgeographie“ vgl. Friedländer [1964] 195ff. (Kap. IX/Mythos), und Droz [1992] 123f. 4 K. Reinhardt hat logos und mythos bei Platon als eine zwieträchtige Einheit bezeichnet, aber doch gesagt, dass der Mythos aus dem ganzen Werk herauswachse: Was der logos lehrte, offenbart der mythos (Reinhardt [1927] 94; 104; 112). E. Dönt spricht von der engen Verbindung – vor allem hinsichtlich des Geltungsanspruchs und der Blickrichtung – der alten und neu erfundenen Erzählungen mit den logischen, ontologischen und ethischen Diskussionen und mit der Person des Erzählers Sokrates (Dönt [1995] 7). Dass Platons Mythen im philosophischen Kontext gelesen werden müssen, dass sie eine Form philosophischer Aussage sind und dass mythos und logos einander durchdringen, sagt Morgan [2000] 158; 200f. 5 Dönt [1995] 8f. führt – von Hegel bis Gadamer – Beispiele für negative Aussagen über Platons Mythen an (sie sind überflüssig, man kann sie beim Lesen überschlagen, sie sind eine poetisch ausufernde Verklärung der Not des Denkens...), aber auch positive Urteile, deren enttäuschende Vagheit von der Ratlosigkeit der Interpreten zeugt. Friedländer [1964] 183f.; 200f. meinte, Platons neuer Mythos widerstreite der sokratischen Weise des Sprechens, dennoch sei er dem Platon erwachsen am Bild des sokratischen Seins, mythos stehe bei Platon jedenfalls in einem Gegensatz zum logos, er ist „Geschichte“ im Gegensatz zur begrifflichen Erörterung. Trotzdem sagt Friedländer an der späteren Stelle, dass die sokratischen Mythen kein bloßes Spiel seien, sondern die begriffliche Erörterung voraussetzen und ihre Linien über die Grenzen führen, die der menschlichen Erkenntnis ge-
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Sokrates bezeichnet seinen Mythos, den er im Gorgias erzählt, als einen logos, den Bericht des Er in der Politeia als mythos, aber er hat und er fordert beiden Erzählungen gegenüber dieselbe Einstellung und er zieht aus beiden Geschichten dieselben Konsequenzen, und dasselbe gilt für den logos der Diotima (Symp 212bc). Und was Sokrates als logos auffasst, bewertet Kallikles als mythos (Gorg 527a). Ob eine Geschichte ein mythos oder ein logos ist, hängt nicht allein von der Geschichte ab, sondern von der Einstellung des Erzählers oder des Hörers zu ihr.6 Die simplifizierende Gleichsetzung von logos und Vernunft sowie dessen Zuordnung allein zur Philosophie, zum rationalen Denken und damit zur „Wahrheit“ hat weder im allgemeinen und platonischen Sprachgebrauch noch in Platons Philosophiebegriff eine Stütze. Dass mythos und logos semantisch ursprünglich gleichbedeutend sind und dass logos auch bei Platon sehr viele Bedeutungen hat, sollte nicht wieder gesagt zu werden brauchen. Es sei nur kurz daran erinnert, dass Sokrates auch einen in wiederholten „rationalen Diskursen“ gewonnenen logos für verbesserungsfähig hält, dass ein aus dem logos gewonnenes Ergebnis dem Sokrates selbst unannehmbar erscheint, dass Diskussionspartner einander Dinge konzedieren können, die der logos nicht zulässt, wodurch er auf Abwege gerät. Einige Stellen aus Platons Schriften mögen genügen, um das vielschichtige Verhältnis von mythos und logos zu zeigen. Auf Gorg 527a ist gerade hingesetzt sind. – Am Klischee vom Gegensatz „logos–mythos“ hält z.B. Th. Kobusch fest: Kobusch [1990] 13ff. spricht von einer „klassischen Antithese mythos – logos“, vom Gegensatz zwischen Wahr und Falsch; der Logos sei die Form der Wahrheit, der Mythos das Falsche, Beliebige, Unverbindliche; Platon – dessen Rückkehr zum Mythos Kobusch als Paradoxie bezeichnet – habe den Mythos endgültig vom Logos abhängig gemacht, Platons Mythen werden für die Phantasie erzählt, ihre Funktion ist es zu veranschaulichen. – Angesichts dieses Ausdrucks des Unverständnisses scheint die Frage überflüssig, ob Kobusch (der hier nur als ein Beispiel dafür steht, welche Probleme philosophische Interpreten noch heute mit Platons Mythen haben) sich dessen bewusst geworden ist, dass z.B. die Konzeption der anamnēsis, die für Platons Erkenntnis- und Ideentheorie grundlegend wichtig ist, auf dem Glauben an die Seelenwanderung und Wiederverkörperung aufruht, also ihre Wurzeln im Mythos hat. – Vgl. Blumenberg [1979] 18: Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär, der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos. 6 Hasenfratz [1990] 11 stellt zum Verhältnis „Mythos – Logos/Ratio“ die Frage, ob die Einschätzung der Ratio nicht selbst Teil eines Weltanschauungsmythos und damit mythisch begründet ist. Hasenfratz meint, auch der reine Kunstmythos (dazu kann man den Mythos bei Platon zählen) könne weltdeutende Offenbarung vermitteln. – Auf Platons Mythen kann man auch das beziehen, was Graf Reventlow [1990] 35ff. über den echten, ursprünglichen Mythos sagt: Er will nicht etwas Unverbindliches erzählen, sondern etwas von der Wirklichkeit des Menschen, den Hintergründen seines Daseins ... erschließen; mythisches Geschehen ist normatives Geschehen, schon dem Mythos in seiner ursprünglichen Form als Erzählung ist eine innere Logik eigen: „Mythos mit Ratio“.
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wiesen worden. Die Darstellung der Erziehung im neuen Staat wird als ein en mythō mythologein bezeichnet, die Darstellung seiner Verfassung als mythologein logō (Resp 2,376d; 6,501e). Das mythologein über die Gerechtigkeit, das Schöne und das Gute wird gleichgesetzt mit dem Spielen des Menschen, der über diese Dinge Wissen besitzt: Er kann en logois spielen (Phdr 276c; e). Was alte Priester klar gesagt haben, kann mythos oder logos genannt werden (Lg 9,872 d–e, vgl. 6,771 c–d). Im Phaidon verbindet Sokrates einen „alten logos, an den wir uns erinnern“ mit der Theorie vom Entstehen der Dinge aus ihrem Gegenteil, um einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu gewinnen (70c ff.). Der „mythische“ Ansatz, die alte Erzählung vom Aufenthalt der Seele im Hades und ihre Rückkehr auf die Erde, läuft auf die anamnēsis hinaus (72e ff.). Mit dem logos von der anamnēsis, sagt Sokrates, muss man sich Tag für Tag besingen, epadein, bis die Wirkung dieses magisch-psychagogischen Verfahrens völlig eingetreten ist (77e ff.): Das Verfahren der psychologischen Beeinflussung ist dasselbe, ob es mit einer philosophischen Theorie oder mit einem Mythos geschieht. Auch im Menon (81a ff.) entwickelt Sokrates die Theorie der anamnēsis aus Erzählungen alter Priester, Priesterinnen und Dichter, die er gehört hat, die er für wahr hält und denen er glaubt: Erzählungen davon, dass die Seele unsterblich ist, stirbt und wieder wird. Am Ende der Apologie wendet sich Sokrates an diejenigen unter den Richtern, die ihn freigesprochen haben, um mit ihnen den Sinn dessen, was gerade geschehen ist, „durchzumythologisieren“, diamythologein (39e–40a). Sokrates meint, es bestehe eine große Hoffnung, dass der Tod etwas Gutes ist, denn er ist entweder ein Zustand der Bewusstlosigkeit, vergleichbar einem ruhigen, traumlosen Schlaf, oder eine Reise der Seele, ein Umzug von hier an einen anderen Ort. Wenn er eine Reise ist und wenn das, was man erzählt, ta legomena, wahr ist, dann gibt es kein größeres Gut als den Tod. Denn im Hades kommt der Mensch zu den wahren Richtern, zu Minos, Rhadamanthys, Aiakos und Triptolemos, und zu den Halbgöttern, die in ihrem Leben gerecht waren. Dort trifft er die großen Sänger der frühen Zeit, Orpheus und Musaios, Hesiod und Homer: Wenn das wahr ist, sagt Sokrates, möchte er mehrmals sterben, denn das wäre ein wunderbarer Aufenthalt. Er könnte mit den Helden, die durch ein ungerechtes Urteil ums Leben gekommen sind, über seinen Fall sprechen, mit Palamedes und mit Aias, und er könnte sich mit den großen Helden und den klugen Männern, mit Agamemnon, Odysseus, Sisyphus und vielen anderen unterhalten und sie prüfen, wer von ihnen sophos ist und wer es nur zu sein glaubt, ohne es wirklich zu sein: Das wäre ein unbeschreibliches Glück, wenn das, was man erzählt, wirklich wahr ist (40c–41c). Den Richtern, die ihn freigesprochen haben, versichert Sokrates, dass sie hinsichtlich des Todes guter Hoffnung sein können, dass es für den guten Menschen kein Übel gibt, weder im Leben noch nach dem Tod, und dass die Götter sich um sie kümmern.
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Das, was Sokrates in diesem Mythos und über diesen Mythos sagt, findet sich in derselben oder in ähnlicher Form auch in den anderen Jenseitsmythen. Sokrates leitet aus dem Mythos eine Hoffnung ab, für sich persönlich und für die guten Richter: die Hoffnung, dass der Tod kein Übel ist. Sokrates beruft sich auf den Mythos: das, was er vorträgt, wird erzählt, das sind legomena. Diese legomena begründen die Hoffnung, aber Sokrates macht einen Vorbehalt: wenn das, was erzählt wird, wahr ist, ... wenn es wirklich wahr ist. Diesen einschränkenden Vorbehalt spricht Sokrates dreimal aus.7 Vorbehaltlos als wahr stellt er nur seine Überzeugung hin, dass den guten Menschen kein Übel trifft und dass die Götter sich um ihn kümmern. Das ist keine Wahrheit, die durch rationale Überlegung und logische Beweise oder durch Empirie begründet oder bestätigt werden kann, sondern die Wahrheit einer Überzeugung, eine Glaubenswahrheit.8 Beides, der einschränkende Vorbehalt und die Berufung auf die Wahrheit der eigenen Überzeugung, findet sich auch im Zusammenhang mit den anderen Jenseitsmythen Platons. In ihnen spielen die Themen „gerechtes Leben“ und „Glück“ eine zentrale Rolle. In der Apologie sind diese Themen schon da, aber noch nicht ursächlich miteinander verbunden. In seiner „Verteidigung“ im Phaidon (63b ff.) spricht Sokrates ebenfalls von seiner festen Überzeugung, dass er nach dem Tod zu weisen und guten Göttern kommen wird; er hat die Hoffnung, dass es – wie seit alten Zeiten erzählt wird – etwas für die Toten gibt, für die Guten etwas Besseres als für die Schlechten; es scheint ihm plausibel zu sein, dass ein Mensch, der wirklich philosophiert hat, zuversichtlich und hoffnungsvoll ist, dass er nach dem Tod die größten Güter bekommen wird. Auch in den Jenseitsmythen am Schluss des Gorgias, des Phaidon und der Politeia sagt Sokrates jeweils ausdrücklich, dass er etwas vorträgt, was er von jemandem gehört hat, was allgemein erzählt wird oder was ein bestimmter Mensch berichtet hat (Gorg 524a–b; Phd 107d; 108c; Resp 10,614b; 616d; 619b; e). Platon beruft sich für seine Mythen auf Quellen und Traditionen, obwohl die Erzählungen, die er Sokrates über die Orte im Jenseits, über das Totengericht und über das, was die Seelen im Jenseits erleben und erleiden, vor7
Droz [1992] 117 bezeichnet Platons Jenseitsmythen als eine Hypothese, aber als positive und bestimmende Hypothese. Dönt [1995] 20f. zitiert – als „wesentlichste Sätze über Platons eschatologische Mythen“ – S. Kierkegaard: „Sokrates lässt die Unsterblichkeit objektiv problematisch dahingestellt sein: wenn es eine Unsterblichkeit gibt. Also ein Zweifler? Keineswegs. Auf dieses wenn setzt er sein ganzes Leben ein ...“. 8 Nach Geyer [1996] 77; 83 unterscheiden sich die Beziehungen zwischen dem Erfahrungssystem des Mythos und der Wirklichkeit nicht von den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit: Beide berufen sich auf apriorische Voraussetzungen; Geyer spricht von einer Transparenz des Mythos auf ein Transkategoriales, ja „Göttliches“ hin, deren Plausibilität sich auf der Ebene historisch-faktischer Gültigkeit entscheiden muss; das existentielle Moment ist das eigentliche mythische Motiv.
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tragen lässt, doch seine eigenen Texte sind: Man kann von „erfundenen Traditionen“ sprechen. Im Schlussmythos der Apologie ist der traditionelle Mythos stark vertreten, durch die Erwähnung des Troianischen Krieges und durch die Namen einiger Gestalten dieses Mythos. Ihre Funktion ist klar: Sie bilden den Kreis, in den Sokrates nach seinem irdischen Tod zu kommen hofft, um seine philosophische Aufgabe fortzusetzen und um mit ihnen unsterblich zu sein. Platon heroisiert seinen Sokrates, er hebt ihn in den Rang einer mythischen Figur. Indem Platon seinen Sokrates in das Personal des traditionellen Mythos einfügt und die Linie seiner philosophischen Existenz über die Grenze des Diesseits ins Jenseits verlängert und „für den Rest der Zeit unsterblich“ (41c) macht, setzt er den ersten Baustein zu einer neuen Mythologie.9 Gegen die chronologische Reihenfolge soll jetzt der Phaidon betrachtet werden, weil er am deutlichsten zeigt, warum die Schlussmythen über das Schicksal der Seele im Jenseits notwendig sind. Sokrates spricht an seinem letzten Lebenstag mit Freunden über die Unsterblichkeit der Seele. Er trägt rationale Argumente für ihre Prä- und Postexistenz vor, er bietet auch die Ideentheorie auf, um die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen: Bessere logoi hatte Platon nicht zur Verfügung. Seine Gesprächspartner sind junge Pythagoreer, Kebes und Simmias, denen die Argumente z.T. vertraut sind und die sich gerne überzeugen lassen möchten. Und Sokrates setzt seinen Ehrgeiz daran, die Unzerstörbarkeit der Seele zu beweisen, um seiner selbst willen, um sich für den Gang in den nahen Tod zu stärken. Aber obwohl die besten Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass der logos an sein Ziel kommt, kann er das Ziel nicht erreichen. Auch die besten Argumente wirken nicht. Warum? Gleich am Anfang des Gesprächs lässt Platon den Kebes erklären, was Sokrates über die Seele sagt, sei zwar sehr schön, aber es erweckt bei den Menschen viel apistia, Skepsis und Unglauben, weil sie fürchten, dass die Seele nach dem Verlassen des Körpers zu Grunde geht. Wenn es so wäre, wie Sokrates sagt, bestünde eine große und schöne Hoffnung. Aber dazu bedarf es eines gehörigen Zuredens, paramythia, und des Glaubens, pistis, dass die Seele des Gestorbenen noch besteht, Kraft hat und phronēsis (69e ff.). Sokrates gibt dem Kebes Recht und schlägt vor, die Sache gemeinsam „durchzumythologisieren“. Er verweist auf eine alte Erzählung, einen palaios logos, dass die Seelen von hier in den Hades gehen und von dort hierher kommen, und entwickelt von da aus das rationale Argument vom Entstehen der 9
Vgl. Dönt [1995] 15f.: Sokrates ist der größte, tiefste und folgenreichste Mythos, den Platon geschaffen hat, gleichsam als Proömium zu seiner eigenen Philosophie; der Hades ist der Ort, wo Sokrates seiner gewohnten Tätigkeit nachgehen wird; das Wesen, das Wirken und die Wirkung des Sokrates werden durch dieses mythische Bild als unwandelbar bezeichnet und verewigt.
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Dinge aus ihrem Gegenteil (70b ff.). Was folgt, ist ohne Zweifel logos, ist rationale Argumentation, aber es gehört zum diamythologein: Die Grenzen und die Unterschiede zwischen logos und mythos lassen sich bei Platon nicht so einfach ziehen und bestimmen. Das Motiv der apistia, der Skepsis und des Zweifels, wiederholt Platon im Phaidon mehrmals. Sokrates bemerkt bei Simmias Zweifel an der Theorie der anamnēsis (73b), Kebes ist skeptisch gegenüber dem logos, dass die Seele die Harmonie des Körpers ist, und er glaubt, wer die Unzerstörbarkeit der Seele nicht beweist, könne angesichts des Todes nicht vernünftigerweise zuversichtlich sein, tharrein, sondern müsse um seine Seele Angst haben (86e ff., 88b). Sein Zweifel steckt die Zuhörer an und verunsichert sie: Vom früheren logos sind sie überzeugt worden, pepeismenoi, jetzt sind sie wieder in apistia gestürzt worden, sie zweifeln an ihrer Urteilsfähigkeit oder glauben, dass diese ganzen Sachen apista sind, dass man nicht zu Glaube und Vertrauen kommen kann. Es stellt sich ihnen die Frage, welchem logos man noch glauben kann: Der logos des Sokrates war so überzeugend, pithanos, und jetzt ist er in die apistia gefallen (88c–d). Es geht nicht um Wissen, es geht um Ängste, die bestehen, und um pistis, die Zuversicht schaffen könnte. Auch der überzeugende logos des Sokrates kann keinen Glauben und kein Vertrauen bewirken. Der logos, die rationalen Argumente und „Beweise“, versagen, sie sind zu schwach. Platon war sich dessen bewusst, dass man Lebenseinstellungen, Gefühle und auch moralisches Verhalten nicht durch „logische“ Argumente steuern und verändern kann. Kallikles reagiert auf die eindringliche Argumentation des Sokrates mit dem Satz „Irgendwie scheinst du mir ja Recht zu haben, Sokrates, aber mir geht es wie den meisten: Du überzeugst mich nicht ganz“ (Gorg 513c).10 Im Phaidon kann Sokrates später trotzdem ein positives Ergebnis zusammenfassen: Die Seele ist unsterblich, und unsere Seelen werden wirklich im Hades sein (106e). Kebes sieht keinen Grund mehr, den logoi nicht zu glauben, apistein. Simmias an sich auch nicht, aber wegen der Bedeutung der Frage und wegen der menschlichen Schwäche muss er immer noch apistia haben (107a– b). Sokrates gibt ihm wieder Recht und er gibt Folgendes zu bedenken: Wenn die Seele wirklich unsterblich ist, bedarf sie der Fürsorge, nicht nur für die Zeit, die wir Leben nennen. Denn da es so aussieht, dass die Seele unsterblich ist, gibt es für sie keine Befreiung vom Übel und keine Rettung außer der, dass sie möglichst gut und phronimos wird (107c–d). Ohne einzuhalten geht er in den Mythos über: „Es wird so erzählt ...“ Er beginnt von dem Weg zu erzählen, den die Seelen der Verstorbenen mit ihren Führern durch den Hades gehen, bis sie an den ihnen zukommenden Ort 10
Geyer [1996] 63f.: Der Mythos soll nicht nur die Defizite rationaler Welterklärung kompensieren, sondern er ist das Vehikel, über das dem Menschen die Auseinandersetzung mit den Bildern seiner Seele gelingen kann (N.B.: Geyer spricht in seinem Buch nicht über Platons Mythen).
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gelangen (107d–e). Dann deutet er etwas an von wunderbaren Orten der Erde: Darüber ist er von jemandem überzeugt worden. Kurz hintereinander sagt er vier Mal pepeismai, aber er findet es schwer festzustellen, ob die Erzählung wahr ist. Sokrates fährt fort zu erzählen: von der Welt, in der wir leben und die wir für die reale Welt halten, von der wahren Erde, dem wahren Himmel und dem wahren Licht. Darüber kann er einen hörenswerten Mythos erzählen, und seine Gesprächspartner wollen ihn gerne hören (110a–b). Sokrates berichtet, was von der wunderschönen, reinen wahren Erde erzählt wird, legetai, und von den Menschen auf ihr. Wir wohnen in Höhlungen dieser großen Erde, und von unserem Höhlensystem führt ein großer Schlund in den Tartaros mit seinen gewaltigen Flüssen, wie erzählt wird ... (113b). Sokrates gibt keine Erklärung dieses mythischen Weltgebäudes, sondern kehrt zu den Seelen zurück, die im Tartaros ankommen, an dem Ort, an den der Daimon sie führt (113d). Dort wird über sie Gericht gehalten, und je nachdem, wie sie gelebt haben und welche Verfehlungen sie begangen haben, ist ihr weiteres Schicksal: Die unheilbaren Seelen werden für immer in den Tartaros geworfen, die Seelen, die heilbare Vergehen begangen haben, müssen so lange im Tartaros leiden, bis sie von denen Verzeihung erlangen, an denen sie sich vergangen haben. Diejenigen aber, die gut und fromm gelebt haben, werden von den Orten in dieser Welt wie aus einem Gefängnis befreit und kommen in die reine Wohnung in der oberen, wahren Welt. Ein besonderes Schicksal ist denen vorbehalten, die durch Philosophie gereinigt sind: Sie bekommen noch schönere Wohnungen und leben körperlos in alle Zukunft. Das ist der Schlussmythos des Phaidon mit seinen zwei Teilen, mit der Erzählung vom Gericht über die Seelen und von ihrem Schicksal in der Unterwelt sowie dem Mythos vom Bau der Welt, deren oberstes Stockwerk die reine wahre Welt ist, gleichsam der Himmel, in den die reinen Seelen der Philosophen kommen. Dieser Stufenbau der Welt mit dem Himmel als oberstem Bereich ist ein neues Mythologem, von Platon als Gegenbild geschaffen zu dem Schreckensbild des Tartaros, von dem die Dichter erzählen. Darauf, dass es das Unterweltsbild der Dichter ist, weist Platon am Anfang und am Schluss seiner Beschreibung des Tartaros hin (112a; 113c).11 11
Alt [1982] 278ff. sagt, Platon greife auf überlieferte Jenseitsvorstellungen zurück, benutze sie, präge sie um, ergänze sie durch neue Perspektiven, die sich aus seinen eigenen Fragestellungen und dem Horizont seiner Lösungen herleiten, und gibt im Folgenden einen Überblick über die früheren griechischen Vorstellungen von der Existenz nach dem Tode. Einen solchen Überblick gibt auch Schmidt [1986] 30ff., der allerdings zu dem Ergebnis kommt, Platon habe sich (scil. im Gorgias) an die traditionellen mythischen Vorstellungen angeschlossen und sie mit orphisch-pythagoreischem Gedankengut verbunden; Platon leiste Arbeit mit dem Mythos, dabei gehe der Mythos weit über das im Logos Erweisbare hinaus und diene dazu, eine Art Ersatzmotivation (sic) für das menschliche Handeln zu schaffen.
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Sokrates fügt an die Erzählung eine Mahnung an, als Konsequenz, die sich aus dem Mythos ergibt: Man muss alles tun, um in diesem Leben aretē und phronēsis zu bekommen, denn der Preis ist schön und die Hoffnung groß (114c). Dann spricht er über den Wahrheitsgehalt des Mythos: Kein vernünftiger Mensch dürfe behaupten, dass es so ist, wie er es erzählt hat. Aber da es wirklich wenigstens so aussieht, dass die Seele unsterblich ist, lohnt sich für den, der es annimmt, das Risiko, und man muss sich mit solchen Vorstellungen gleichsam besingen, epadein, und der Mensch, der im Leben gelernt und seine Seele mit ihrem eigenen Schmuck geschmückt hat – mit den Tugenden und der Wahrheit –, darf zuversichtlich sein, tharrein, für seine Seele und so auf seine Reise in den Hades warten (114d ff.). Der Mythos ist ein magischer Gesang, mit dem Sokrates vor allem sich selbst besungen hat. An sich selbst hat er diese suggestive Wirkung erreicht. Den Kriton hat Sokrates allerdings nicht davon überzeugen können, dass er vom Augenblick des Todes an nicht mehr da sein wird, sondern weggegangen sein wird zum Glück der Seligen. Für Kriton hat er das, was er sich und den Anwesenden zugesprochen hat, paramythoumenos, umsonst geredet (115c–d). Im Gorgias hat es Sokrates mit einem Gesprächspartner zu tun, der sich nicht überzeugen lassen will. Sein Gespräch mit Kallikles geht letztlich um die Frage, wie man leben muss, um glücklich zu werden. Die rationalen Argumente und alles, was Sokrates sonst aufbietet, können den Kallikles weder von seiner Lebensphilosophie noch von seinen politischen Vorstellungen und Plänen abbringen. Als letztes Mittel greift Sokrates zu einem Mythos. Er nennt diesen Mythos einen logos, eine sehr schöne Geschichte, die er gehört hat, und er vertraut darauf, dass diese Geschichte wahr ist, pisteuō (523a; 524a–b). Er rechnet aber damit, dass Kallikles diesen schönen logos für einen mythos halten wird, wie die Erzählung einer alten Frau, und ihn deshalb nicht ernst nehmen wird (523a; 527a). Platon spricht gelegentlich direkt davon, dass die Bewertung des Mythos von den Rezipienten abhängt, von ihrer Lebenseinstellung und von ihrer Lebenslage. Im ersten Buch der Politeia lässt er den Kephalos sagen, dass die Mythen, die über die Strafen der Ungerechten im Hades erzählt werden, von den Menschen so lange verlacht werden, bis sie ihren eigenen Tod nahe glauben: Dann überkommt sie die Angst, dass sie doch wahr sein könnten (Resp 1,320d–e). Im siebenten Brief schreibt Platon, man müsse den alten heiligen Erzählungen glauben, peithesthai, die uns anzeigen, dass die Seele unsterblich ist, dass sie Richter hat und bestraft wird; ein Mensch, der das Geld liebt, aber seelisch arm ist, hört nicht auf sie, und wenn er sie hört, lacht er darüber (Ep 7,335a–b).
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Die „Wahrheit“ des Mythos und seine Wirkungsmöglichkeit hängen davon ab, ob der Mythos angenommen wird oder nicht.12 Sokrates beginnt den Schlussmythos im Gorgias mit einem Hinweis auf Homer und auf ein Gesetz, das seit den Zeiten des Kronos bis heute besteht: Der Mensch, der sein Leben gerecht und fromm durchlaufen hat, kommt nach dem Tod auf die Inseln der Seligen und wohnt dort in voller eudaimonia, die Ungerechten und Gottlosen kommen in den Tartaros, den Ort der Strafe und der Buße. Allerdings war das Gerichtsverfahren zur Zeit des Kronos und noch jüngst unter Zeus fehlerhaft, denn es richteten Lebende über Lebende an deren Todestag. Die Sterbenden traten bekleidet mit vornehmer Abstammung und Reichtum vor das Gericht und brachten viele Zeugen mit, die ihnen ein gerechtes Leben bezeugten. Und die Richter waren auch bekleidet, sie hatten vor ihrer Seele Augen, Ohren und den ganzen Körper. Deshalb gab es viele Fehlurteile, und Zeus verfügte eine Gerichtsreform: Prometheus nahm den Menschen das Vorherwissen des Todes, die Toten treten nun nackt vor ihre Richter, die selber nackt sind und nur mit der Seele die Seele des Toten ohne allen irdischen Schmuck betrachten.13 Diese Gerichtsreform ist ein eigenartiges Motiv, und man fragt sich, was sie bedeuten soll. Vielleicht soll sie eine Grenze und einen Übergang markieren, den Übergang von den Jenseitsmythen der Dichter, in denen der König und der große Held auch im Hades König und Held waren, und dem neuen platonischen Mythos, in dem die Seele, und zwar die nackte Seele ohne allen äußeren irdischen Schmuck, die Hauptfigur ist.14 Sokrates setzt die Erzählung damit fort, dass Zeus seine drei Söhne, Minos, Rhadamanthys und Aiakos, zu Richtern über die Toten einsetzt. Dann unterbricht er die Erzählung, um zu sagen, dass er diese Geschichte gehört hat und 12
Vgl. Geyer [1996] 77: Der Wahrheitsgehalt des Mythos wird auch von den je vorherrschenden Urteilen über den Mythos getragen. 13 Vgl. den Mythos vom Wechsel der Weltperioden unter Kronos und unter Zeus, Plt 268d ff.; 272a–b. 14 Bei Homer (Od 4, 561ff.) wird dem Menelaos prophezeit, dass er ins Elysium kommen wird, weil er als Mann der Helena der Schwiegersohn des Zeus ist. Bei Hesiod (Erga 156ff.) versetzt Zeus die Heroen des vierten Weltzeitalters auf die Inseln der Seligen, fern von den Menschen. Pindar (Ol 2, 56ff.) deutet ein Gericht des Zeus an und spricht von unterschiedlichen Schicksalen der esthloi und der anderen im Jenseits; als Bewohner der Inseln der Seligen nennt er Peleus, Kadmos und Achill. – Von einem „replacement of poetry“ durch Platon und von der Kritik an den dichterischen Unterweltsmythen spricht Morgan [2000] 202; 207f.: Platon ersetzt die alte „mythische“ Seelenvorstellung durch eine philosophische, der Philosoph wird zur Hauptfigur des neuen Mythos. Nach Reinhardt [1927] 48 bringt die Neugeburt der alten Seele in einer inneren Welt mit der neuen Seele auch den neuen Mythos zur Entfaltung. Schmidt [1986] 25: Sokrates macht die Seele zum Maßstab des Handelns und ihren Zustand zum Kriterium für den Wert und die Tüchtigkeit eines Menschen. – Zum Komplex „alter Mythos – neuer Mythos“ bei Platon (in der Politeia) vgl. Droz [1992] 142ff.
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ihr glaubt und dass er sich überlegt hat, was aus ihr folgt (524a–b): Der Mythos gibt zu denken. Es scheint dem Sokrates so zu sein, dass der Tod eine Trennung der Seele vom Körper ist, und es scheint ihm so zu sein, moi dokei, dass die Seele nach dem Tod noch die Spuren des Lebenswandels an sich trägt, etwa Narben als Folgen von Meineid und ungerechten Taten, Verkrümmungen als Folge von Lügen und Betrügerei, Asymmetrie als Folge von Luxus, hybris und Unbeherrschtheit. Wenn der Richter so eine Seele vor sich hat – ohne zu wissen, wessen Seele es ist –, schickt er sie ins Gefängnis, wo sie leiden muss, was ihr zukommt. Wer so bestraft wird, wird entweder gebessert oder er ist ein Beispiel für andere, die ihn leiden sehen und dadurch aus Angst besser werden. Einen Nutzen durch die Bestrafung durch Götter und Menschen haben die, die heilbare Vergehen begangen haben (525b).15 Zu den Unheilbaren, die auf ewige Zeiten die schmerzlichsten und furchtbarsten Leiden erdulden müssen, wird – so behauptet Sokrates – Archelaos gehören, von dem vorher im Dialog Polos gesprochen hat: Die meisten der Beispiele für ewige Strafen und Leiden sind Tyrannen, Könige, Dynasten und Politiker der Demokratie, weil sie die Möglichkeit haben, die schlimmsten Verfehlungen zu begehen. Hier beruft sich Sokrates auf das Zeugnis Homers (525d–e). Sokrates spricht in eigenem Namen in den Mythos hinein und trägt – im Rahmen der Mythenerzählung – seine eigenen Auffassungen über den Zusammenhang von Macht und Moral vor. Dann kehrt er wieder zum Mythos zurück, zum Totenrichter Rhadamanthys (526b): Manchmal sieht Rhadamanthys eine Seele vor sich, die fromm und mit Wahrheit gelebt hat, und die schickt er zu den Inseln der Seligen. Und wieder spricht Sokrates in den Mythos hinein: „Und ich behaupte, Kallikles, dass dies in den meisten Fällen die Seele eines Philosophen ist, der im Leben das Eigene getan und sich nicht um andere Dinge gekümmert hat.“ Wie in der Apologie und wie im Phaidon führt Platon in seinen Mythos den Philosophen bzw. die Seele des Philosophen als Figur ein, als Heros, der den Kampf des Lebens (von diesem agōn spricht Sokrates Gorg 526e und Resp 10,608b) erfolgreich geführt und den schönen Preis gewonnen hat (Phd 114c, Resp 10,621c–d). Die Struktur und Komposition ist eigenartig: eine mythische Erzählung vom Totengericht, unterbrochen von Aussagen des Sokrates über seine persönliche Einstellung dazu: „Das habe ich gehört und ich glaube und vertraue, dass es wahr ist ...,“ und von erklärenden Zusätzen bzw. Interpretationen: „Wie es mir scheint ...“ (524b; d), „ich behaupte...“ (525d; 526c). Sokrates akzeptiert den Inhalt des Mythos und er gibt das Neue hinzu als Ausdruck seiner persönlichen 15
Diese Stelle scheint darauf zu deuten, dass auch schon im Gorgias der Glaube an die Seelenwanderung und Wiederverkörperung implizit vorhanden ist. Dann muss nur für die Unheilbaren ein ewiger Aufenthalt im Hades angenommen werden (wie im Phaidon, wo die reinen Seelen des Philosophen aus dem Kreislauf in ewiges Glück hinaustreten).
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Meinung oder Überzeugung. Und Sokrates erklärt, welche Konsequenz er für sich persönlich aus dem Mythos zieht: Er versucht so zu leben, dass er so gut wie möglich wird, damit er dem Richter einmal eine ganz gesunde Seele zeigen kann. Der Mythos sagt, dass ein gutes, gerechtes, frommes Leben zum Glück hier und im Jenseits führt (527c). Das hatte Sokrates in den Diskussionen mit Polos und Kallikles behauptet und rational zu beweisen versucht, ohne sie überzeugen zu können. Aber seine fundamentale Überzeugung, dass der Mensch sich mehr davor hüten muss, Unrecht zu begehen als Unrecht zu leiden, haben ihm seine Gesprächspartner im elenchos nicht widerlegen können (527a–b). Der Mythos gibt dem Sokrates hierin Recht, und er gibt ihm auch Recht in dem, was Sokrates in der Diskussion über Politik und Rhetorik gesagt hat. Vom Mythos her gibt Sokrates rückblickend eine Zusammenfassung der Themen, die in den Gesprächen mit Gorgias, Polos und Kallikles zur Debatte standen: Der Mythos wächst aus dem Dialog heraus, aus dem logos, und bestätigt das, was Sokrates behauptet hat. Das ist eine seiner Funktionen. Diese Funktion hat er auch im Phaidon. Die Jenseitsmythen Platons stellen eine Verbindung her zwischen dem Jenseits und dem Diesseits, zwischen dann und jetzt, dort und hier. Das angedrohte Elend und das verheißene Glück im Jenseits korrespondieren mit dem diesseitigen Glück und Elend. Die Seele kann sich das Glück im Jenseits selbst gewinnen, wenn sie hier gerecht, klug und maßvoll ist; und wenn sie es ist, ist sie hier schon glücklich. Der platonische Mythos hat deshalb auch eine appellative, protreptische Funktion. Sokrates will bei seinen Gesprächspartnern eine Wirkung erreichen. Im Phaidon will er ihnen die Skepsis nehmen, ihre Furcht beseitigen, ihnen Hoffnung und Zuversicht geben und ihnen bewusst machen, dass die Seele der Fürsorge bedarf, nicht nur für die Zeit, die wir Leben nennen, sondern für die ganze Zeit. Der Mythos im Gorgias soll Kallikles und alle anderen dazu bewegen, den richtigen Lebensweg zu wählen und einzuhalten. Am Ende appelliert Sokrates an Kallikles: „Lass dich von mir überzeugen und folge mir dorthin, wo du glücklich sein wirst, im Leben und im Tod, wie die Erzählung, wie der logos zeigt“ (527c). Der logos zeigt die beste Art zu leben, nämlich Gerechtigkeit und die übrige aretē zu üben. Ihm sollen sie folgen und die anderen dazu aufrufen (527e). Der Mythos – den Sokrates als logos bezeichnet – soll das leisten, was der rationale Diskurs und die dialektische Argumentation nicht geschafft haben. Deshalb ist der Mythos notwendig, und Sokrates hält einen mythos, von dem er überzeugt worden ist, für einen logos. Zu überzeugen ist aber an sich Ziel und Leistung der Rhetorik. Im Gespräch mit Gorgias hat Sokrates die Rhetorik definiert als „Produzentin von Überzeugung“ (452e ff.). Das war als kritische Einschränkung gemeint: Die Rhetorik schafft nur und nichts anderes als Überzeugung bzw. Überredung, und zwar ohne Wissen, im Gegensatz zu den mathematischen Disziplinen, welche Über-
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zeugung durch Belehrung vermitteln (453d ff. und 451a–c). Rhetorik produziert pistis, und pistis kann richtig oder falsch sein, während Wissen immer richtig ist (454c ff.). Sokrates sagt im Zusammenhang mit den Erzählungen, die er gehört hat und „nacherzählt“, dass er von ihnen überzeugt worden ist, dass er glaubt und darauf vertraut, dass sie wahr sind. Er macht einschränkende Vorbehalte: „Wenn das, was erzählt wird, wirklich wahr ist“, und erklärt, dass kein vernünftiger Mensch behaupten wird, dass es so ist, wie er es erzählt hat. Und trotzdem fordert er auf, dass man sich von den Erzählungen überzeugen lassen soll: Das sagt er zu Kallikles ebenso wie zu Glaukon und Adeimantos. Weil wir kein Wissen darüber haben, ob die Seele wirklich unsterblich ist, bleibt es ein Risiko, kindynos, den Mythen zu glauben und den Lebensweg zu gehen, auf den sie hinweisen. Der Mythos gibt Hoffnung und Zuversicht, indem er eine magisch-bezaubernde Wirkung auf die Seele ausübt, durch Zureden und Besingen, paramytheisthai und epadein (Phd 114e; 115d). Diese psychagogische, nicht rationale Wirkung des logos hebt der historische Gorgias in dem bekannten Exkurs in seiner Helena hervor (VS 82 B 11, 8ff.). Der logos überredet und überzeugt die Seele, die gotterfüllten epōdai durch die logoi wirken auf die Gefühle, die Kraft des Besingens arbeitet mit der Meinung der Seele zusammen; der logos wirkt auch deshalb, weil die Menschen die Zukunft nicht vorauswissen. Die Überzeugung oder Überredung, peithō, die zum logos hinzukommt, formt die Seele, wie sie will; die logoi können traurig machen oder erfreuen, in Angst versetzen oder zuversichtlich machen. In diesem Zusammenhang betrachtet kann man Platons Jenseitsmythen als rhetorische Texte bezeichnen: Sie sollen durch Überzeugung und Überredung wirken, die Gefühle des Vertrauens, der Hoffnung und der Zuversicht geben, Ängste beseitigen. Platons philosophischer Mythos ist ein logos auch in dem Sinn, wie Gorgias den logos beschrieben hat. In der Politeia folgt der Schlussmythos auf die Dichterkritik. Sokrates schließt sie ab mit der Feststellung, dass man sich vor der Dichtung hüten muss und dass man sich deshalb, wenn man sie hört, besingen wird, „epadontes mit dem logos, den wir sagen“. Denn es ist ein großer Kampf, ein agōn, in dem es darum geht, ob man gut oder schlecht wird. Deshalb darf man sich nicht dazu verführen lassen, die Gerechtigkeit und die übrige aretē zu vernachlässigen (608a–b). Dann greift Sokrates auf den Anfang des zweiten Buches zurück, auf Hesiod und Homer: Deren Jenseitsvorstellungen sind dort im Zusammenhang damit kritisiert worden, dass nicht die Gerechtigkeit geachtet und belohnt wird, sondern der Schein der Gerechtigkeit. Inzwischen hat man aber gefunden, dass die Gerechtigkeit das Beste für die Seele ist und dass die Seele das Gerechte tun muss (612a–b). Von diesem Punkt aus geht Sokrates zu den Belohnungen über, die der Gerechte bei Menschen und Göttern im Leben als Siegespreise bekommt (612b
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ff.). Davon, was den Gerechten nach dem Tod erwartet, erzählt ein Mythos, der Bericht des Pamphyliers Er aus dem Jenseits (614b ff.). Der Mythos erzählt zuerst vom Totengericht an einem wunderbaren Ort, von dem aus je zwei Öffnungen in die Erde bzw. in den Himmel führen. Die Gerechten wurden von den Richtern nach rechts und nach oben geschickt, die Ungerechten nach links und nach unten. Aus den anderen Öffnungen kamen aus der Erde mit Schmutz und Staub bedeckte Seelen, aus dem Himmel stiegen reine Seelen herab. Auf der Wiese begrüßten die Seelen einander und erzählten sich, was sie auf ihrem tausendjährigen Weg erlitten und gesehen haben. Die Ungerechten hatten für ihre Taten zehnfach büßen müssen, und ebenso wurden die Gerechten und Frommen für ihre guten Taten belohnt. Es folgt die Beschreibung der Lichtsäule, die vom Himmel in die Unterwelt reicht, und der Spindel der Notwendigkeit mit den Himmelssphären und ihrer Sphärenmusik: Im Schlussmythos der Politeia fügt Platon die Schicksale der Seelen in die Kreisläufe des Kosmos und in den Ablauf der Zeit ein (616b ff.). Dann folgt die Erzählung von der Wahl der Lebenslose durch die Seelen, die zur Rückkehr auf die Erde bestimmt waren, um einen neuen Tod bringenden Umlauf zu beginnen (617d ff.). Hier mischt sich wieder Sokrates kommentierend in die Erzählung ein, wie er es auch im Gorgias tut. Er sagt, bei dieser Wahl liege die Gefahr für den Menschen, das Risiko, kindynos, deshalb müsse man lernen, ein gutes und ein schlechtes Leben zu unterscheiden, man müsse die Güter und Übel der Seele und ihre Wirkungen kennen, so dass man mit dem Blick auf die Seele zusammenrechnend wählen kann. Man muss die felsenfeste Meinung haben, doxa, dass jenes Leben schlechter ist, das die Seele ungerechter macht, besser das, welches sie gerechter macht. Mit dieser Meinung muss man in den Hades gehen und darf sich nicht durch Reichtum oder ein anderes Übel blenden lassen, damit man richtig wählen kann und glücklich wird (618b ff.). Durch das, was der Berichterstatter aus dem Jenseits darüber erzählt, wie die Seelen sich entschieden haben, sieht Sokrates die Notwendigkeit und Bedeutung des Philosophierens im Diesseits bestätigt (619d–e).16 Mit diesen eingeschobenen Kommentaren stellt Platon – wie im Gorgias – eine Brücke her zwischen dem Mythos am Schluss und den vorausgehenden Gesprächen des Sokrates mit Glaukon und Adeimantos. Und er holt auch den „richtigen“, traditionellen Mythos und dessen Figuren hinein und lässt erzählen, welches Leben Orpheus, Aias, Agamemnon und zuletzt Odysseus gewählt haben (619e ff.). Der Pamphylier Er ist wieder in die Welt zurückgekehrt. So wurde der Mythos gerettet, sagt Sokrates, und er könnte uns retten, wenn wir ihm folgen, uns von ihm und von Sokrates überzeugen lassen und glauben, nomizontes, dass die 16
Droz [1992] 142ff. zeigt, wie Platon im Mythos des Er gegenüber der mythischen Tradition die Schicksalsvorstellung verändert und durch sein neues Mythologem von der Wahl der Lebenslose die Elemente der Freiheit und Verantwortung hereinbringt.
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Seele unsterblich ist. Dann werden wir uns um Gerechtigkeit mit phronēsis bemühen, damit wir als Sieger hier und auf dem tausendjährigen Weg glücklich sind (621b–e). Die platonischen Mythen weisen in die Zukunft, sie zeigen, was die Seele im Jenseits erwartet, vor allem die Seele des philosophierenden Menschen – die Hauptfigur der neuen platonischen Mythen –, und sie zeigen die Räume und die Zeiten, in denen sich ihre jenseitige Existenz abspielen wird. Die platonischen Jenseitsmythen sind appellativ und protreptisch, sie sind auch hinsichtlich des Lebens auf der Erde zukunftsorientiert, denn sie verlangen Konsequenzen im diesseitigen Leben und fordern auf zur Sorge für die Seele, zur Bemühung um Gerechtigkeit, um alle aretē und um Wahrheit. Sie sind positiv insofern, als sie jenseitige Schreckensbilder nur für Tyrannen und für Mächtige zeichnen, die ihre Macht zum Begehen unheilbarer Vergehen missbrauchen. Aber sonst sollen sie die Angst vor dem Schicksal der Seele nach dem Tode nehmen, sollen Hoffnung und Zuversicht geben. Das tun sie unter dem Vorbehalt: „wenn das, was erzählt wird, wirklich wahr ist“, „wenn die Seele wirklich unsterblich ist“. Die Mythen verlangen pistis, Glauben, und es ist ein Risiko, sich auf sie einzulassen. Aber alle „logischen“ Argumente für die Unsterblichkeit der Seele, selbst Argumente auf der Basis der Ideentheorie können die apistia, Skepsis und Unglauben, auch nicht beseitigen. Auch die Ideen sind keine Objekte der Erkenntnis, über die Sokrates sichere und wahre Aussagen machen kann: Er kann darüber nur in Bildern reden und nur das sagen, was ihm zur Zeit richtig scheint, aber er kann darüber nicht als Wissender sprechen (Resp 6,506c ff.). Der platonische mythos ist epistemologisch nicht minderwertiger als der platonische logos, aber er ist in existentiellen Fragen psychologisch wirkungsvoller.17 Am Schluss soll noch kurz auf Platons Verhältnis zu den „echten“ alten Mythen und deren Interpretation eingegangen werden, denn es fällt auf, dass er darüber öfter im Zusammenhang mit seinen eigenen Jenseitsmythen spricht. Bevor Sokrates in der Politeia seinen Mythos vorträgt, stellt er als ein Ergebnis des Gespräches fest: „Wir haben nicht die Belohnungen und nicht den Schein der Gerechtigkeit gelobt, wie es nach euren Worten Hesiod und Homer 17
Vgl. Dönt [1995] 18: Die beschwörenden Imperative des Sokrates sind letztlich überzeugender als alle logisch abgeleiteten Seelenbeweise, sie zeichnen sich vor allem dadurch gegenüber allem wissenschaftlichen Denken aus, dass sie sich um die persönliche Zustimmung des Einzelnen bemühen können ... Ein rationaler Beweis kann kein persönlicher Besitz sein: Das war es, was Simmias vermisste. – Über den Mythos (scil. der modernen Neuen Mythologie) als alternatives Legitimationsverfahren und seine Komplementärfunktion zum rationalen Denken siehe Geyer [1996] 75ff.; über die Vorläufigkeit der Schlussfolgerungen, die aus den Diskussionen in Platons Dialogen gezogen werden, den argumentativen Status von philosophischem Gespräch und Mythenerzählung (der epistemologische Status des Mythos ist analog zum Status des philosophischen logos) siehe Morgan [2000] 187; 194f.; 200f.
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getan haben“ (10,612a–b). Er verweist damit zurück an den Anfang des zweiten Buches. Platons Brüder haben sich an den kindischen Vorstellungen gestoßen, die von den Dichtern – Hesiod, Homer, Musaios – über die sehr handfesten und materiellen Belohnungen der Gerechten durch die Götter in die Welt gesetzt worden sind: gute landwirtschaftliche Erträge, Symposien im Hades, so als ob ein ewiger Rausch der schönste Lohn für die aretē wäre (2,362e ff.). Die Mythen der Dichter und der Schlussmythos des Sokrates rahmen die Bücher 2 bis 10 der Politeia ein, kurz vor Schluss erinnert Sokrates an die poetischen Mythen: der Unterschied zwischen dem poetischen und dem platonischen Mythos wird bewusst gemacht. Am Beginn des Phaidon fragt Kebes den Sokrates nach den Gedichten, die er im Gefängnis geschrieben hat. Er hat logoi des Aesop, also Fabeln, in Verse gesetzt und ein Prooimion auf Apollon geschrieben. Der Dichter Euenos hat sich danach erkundigt. Sokrates lässt den Euenos beruhigen: Er wollte dessen Gedichten keine Konkurrenz machen. Aber Träume haben ihn geheißen, musikē zu machen. Deshalb hat er das Gedicht auf den Gott gemacht, und weil er sich gedacht hat, dass ein richtiger Dichter Mythen dichten muss und nicht logoi, und da er kein mythologikos ist, hat er mythoi des Aesop in Verse gesetzt (60c ff.). Wenn er schon Mythen übernimmt, dann keine poetischen. Bei der Beschreibung der Wege, welche die Seelen im Hades zu nehmen haben, setzt er sich kritisch vom Telephos des Aischylos ab: Es gibt nicht nur einen einzigen Weg, und der Weg ist nicht einfach (Phd 107e–108a). Im Dialog Gorgias versucht Sokrates, bald nach dem Beginn seines Gespräches mit Kallikles, diesen durch eine allegorische Interpretation des DanaidenMythos zu beeindrucken (493a ff.). Die Danaiden, die im Hades in einem Sieb Wasser in ein durchlöchertes Fass tragen müssen, sollen die Seelen der unvernünftigen und uneingeweihten Menschen sein, das durchlöcherte Fass die Seelen der Menschen mit unersättlichen Wünschen und Begierden. Sehr bezeichnend ist, wie Platon diese Interpretation eines alten Mythos einführt. Sie soll von einem geistreichen Menschen stammen, vielleicht aus Sizilien oder Italien. Sokrates hat die Interpretation aber nicht von diesem feinsinnigen Mythologen selbst gehört, sondern von einem Weisen, der sie ihm erzählt hat: Die Zwischenstufe schafft Distanz, die Wörter „geistreich“, kompsos, und „weise“, sophos, haben bei Platon fast immer eine negative Konnotation, und Sokrates findet das Ganze „etwas abwegig“. Er sagt auch nicht, dass er selbst von diesem alten Mythos und von dessen Interpretation überzeugt ist. Die Allegorie ist kein Mittel, um aus alten Mythen das herauszuholen, was Platon sagen will. Durch den Aufbau seiner Dialoge setzt Platon seine eigenen Mythen in eine Fernbeziehung zu alten poetischen Mythen, er kritisiert deren Inhalte und geht
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auf Distanz zu einer allegorischen Ausdeutung. Dadurch hebt er die Unterschiede hervor und macht auf das Neue seiner Mythen aufmerksam.18
18
Vgl. Geyer [1996] 84: „,Neue Mythen‘ treten nicht unvermutet an die Stelle der ,ererbten Bestände‘ ... . Die Authentizität des Mythos ist ... nur in einem Prozess von Traditionskritik und Traditionsbewahrung herzustellen“.
DER MYTHOS DES ER. ANMERKUNGEN ZUR ETHISCHEN FUNKTION DES MYTHISCHEN IN DER PHILOSOPHIE PLATONS Dirk Cürsgen I. Was bringt der Mythos des Er am Ende der Politeia? Was bringt es Platon in kompositorischer und in systematischer Hinsicht, sein Werk mit diesem Text abzuschließen? Ist der Abschnitt aus sich selbst heraus zu verstehen oder besser aus einem Vergleich mit anderen mythischen Passagen? Eignet ihm eine Funktion in der Ökonomie des thematisch universalen Dialogs? Und wenn ja, welche? – Man kann bei der Arbeit an der Verhältnisbestimmung der Großkategorien ‚narrativer Mythos‘ und ‚argumentierender Logos‘ innerhalb der Platonischen Philosophie primär zwei Richtungen einschlagen: die dialogübergreifende, komparatistische und kriteriologisch klassifizierende1 oder die dialogimmanente und organische. Beide Vorgehensweisen können im Idealfall in ein Verhältnis wechselseitiger Erhellung treten. Der vorliegende Beitrag beschreitet den zweiten Weg und möchte die Bedeutung des Schlussmythos aus seiner Verflechtung mit den Fragen und Thesen der Politeia erhellen. Um mit dieser Methode zu Resultaten gelangen zu können, ist es notwendig, ausführlich auf jeweils einschlägige Stellen einzugehen. Auf den ersten Blick scheint der Mythos dabei in den Hintergrund zu treten, doch kann über diesen ‚Umweg‘ klar werden, was er für Platon leisten kann. Exemplarisch sollen im Folgenden die Überlegungen des Dialogs zur Ethik in ihrem Verhältnis zu den Ausführungen des Mythos betrachtet werden. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei dem Begriff der aretē, dem Maßgedanken und den Sokratischen Paradoxen.2 Der Mythos besitzt bei Platon keine thematische oder epistemische Selbständigkeit, so dass er unabhängig für sich und ohne höhere Begründung und Verweisungsausrichtung bestehen könnte. Platons Werk markiert die
1
Ein Beispiel hierfür ist Janka [2002] (wieder in diesem Band S. 23-26). Wenn Janka für sein Vorgehen die Beachtung des – dies wird vorausgesetzt: isolierbaren und damit die Mythen verselbständigenden – „minimalen Mikrokontextes“ der Belegstellen fordert (23), so ist für das anders geartete Vorgehen die Berücksichtigung des ‚maximalen Makrokontextes’ geboten, also der von Platon intendierten Ganzheit eines Dialogs. 2 Unter diesem Schlagwort werden Formulierungen zusammengefasst, die das – nach den faktischen Erfahrungen immer wieder gestörte – intrinsische Verhältnis von tugendhaftem Handeln und Wissen ausdrücken. Nur das Wissen um das Gute dient dem eigenen Besten und befähigt dazu, Gutes zu tun, so dass niemand wissentlich Übles tut, Untugend folglich unfreiwillig ist (Akrasia).
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Vollendung im Wandel des Wesens des griechischen Mythos,3 den er im Dialog dem rationalen Logos unterwirft, so dass der Mythos – als Vorstufe und Wiedervermittlung des Logos – nicht mehr selbst das Medium der Lösung der ‚großen Fragen‘ bildet, obwohl er auch bei Platon diese aufgreift (Schuld und Verantwortung, Freiheit und Schicksal, Ursprung des Übels und des Menschen, Stellung des Menschen im Ganzen usw.). Der Mythos ist das Produkt eines philosophischen Wissens, das bereits weiß, welche Veranschaulichungen des Begriffs am besten die unsinnlichen Einsichten im Bereich des Anschaubaren repräsentieren und zugleich zum philosophischen Erkennen überleiten können. Bei Platon gehört es zum Wissen des Philosophen, bestimmen zu können, welche Veranschaulichungen dazu taugen, zur philosophischen Denkweise überzuleiten. Der Philosoph weiß also formal um den Übergang zwischen Meinung und Wissen, weshalb der Mythos bei Platon auch nicht gehaltlich in ein unsinnliches Wissen aufzulösen ist. Bei Platon erweist sich der Mythos als eine Funktion des Logos, die gar nicht im Gegensatz zu diesem stehen kann – Platon lässt Mythos und Logos nur als Gegensatz erscheinen –, so dass ein Interpretationsansatz, der von einer wie immer gearteten Verhältnisbestimmung zwischen ihnen ausgeht, die Unselbständigkeit des Mythos bei Platon verkennt. Der Mythos ist keine Pseudomorphose des Überrationalen in eine tradierte Bildersprache, keine dunkle, prophetische Antizipation von etwas zuvor nie Geahntem, die sich keine andere Sprache verschaffen kann als die tradierte, sondern eine Tautomorphose logisch-rational gewonnener Einsichten in ein Medium, das Seelen unterhalb des philosophischen Niveaus erreichen kann. Der Schlussmythos der Politeia integriert in hohem Maße die Ergebnisse und Stufen dieses Dialogs, wobei dem Fortschritt der Gesprächspartner und ihrer Erkenntnis der behandelten Gegenstände auf allen Ebenen Rechnung getragen wird. Er dient der Verwirklichung des Platonischen Staatsentwurfs und hätte im realisierten Staat der aretē aller Bürger bzw. ihrer Bildung förderlich sein sollen. Der Schlussmythos rekurriert auf die Entwicklung und die Resultate des Dialogs und ist in ihrem Licht zu lesen:4 Er genügt den Forderungen bezüglich der pädagogischen und theologischen Rolle von Mythen, sofern sie im Platonischen Staat eine Funktion beanspruchen können. Er erfüllt alle inhaltlichen und formalen Kriterien guter, staatstragender Dichtung – und folglich guter Mythen –, wie sie in den Büchern II und III entfaltet werden. Weiterhin steht er im Dienst der Bildung der Wächter und berücksichtigt ihren seelischen Status, indem er den Bereich und die Grenze der Wissensform der Doxosophie reflektiert. Auf dieser Ebene vollendet er auch die Möglichkeiten 3
Aus diesem Grund ist Platon zugleich – wie Detienne [1986] zu Recht betont – der Begründer der Mythologie in der Antike, sofern er zuerst auf Mythenproduktion und -produzenten reflektiert. 4 Zum detaillierten Nachweis der Gültigkeit dieser These für alle hier nur erwähnten Bereiche vgl. Cürsgen [2002] 1-121.
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mythischer Wahrheit und ihrer Erkenntnis, wie sich aus einem Vergleich mit den anderen Mythen der Politeia schlussfolgern lässt. Der Endmythos ist inhaltlich, formal und funktional ein Gipfel- und Grenzpunkt des doxischen Wissens, das für die Wächter maßgeblich ist. Aber er erweist sich zudem als Versuch, einen vermittelnden Übergang zwischen Wächter- und Philosophenpaideia zu finden. Das Wissen der Philosophen unterscheidet sich fundamental von dem der Wächter, so dass Platon vor der Aufgabe steht, seine Bildungskonzepte zu vermitteln, will er seinen Staat verwirklichen. Der Schlussmythos integriert die Bildungsentwürfe und bietet philosophischen Naturen die Möglichkeit, einen Anfang in den Übergang von doxischem zu gnomischem Wissen zu gewinnen. Denn hinter dem Anschaulichen wird das Begriffliche, der Arbeitsbereich der Philosophen, angedeutet. Schließlich bestätigt sich für die Ethik die enge Bindung zwischen Dialog und Endmythos. Da Bildung nämlich für Platon stets Bildung zur aretē bedeutet, greift der Mythos alle Ausführungen zum Wesen des Gerechten und der Tugend (etwa im I. Buch) auf und zeigt, was von ihnen vor dem Hintergrund der Definition der Gerechtigkeit als Tun des Seinigen auf welche Weise und in welchem Maße haltbar ist. Der Schlussmythos umfasst die traditionellen Ansichten zum Wesen des Gerechten in gereinigter Form und bindet sie an die philosophische Wesensdefinition, wodurch deren Akzeptanz unterstützt wird, die eine mögliche Verwirklichung des entworfenen besten Staates bedingt. II. Tugend und Lebenswahl Die Ethik ist von Erziehung und Mythologie nicht zu trennen, da Bildung immer auf Güte und Wissen des Menschen zielt. Erziehung ist für Platon notwendig Erziehung zum Guten, die auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Graden zum Ziel führt. Sie fördert die spezifische Qualität jeder Seele nach ihren Vermögen und Aufgaben im Staat; zugleich ist sie der einzige Weg zur Güte des Einzelnen und des Staats. Güte und Bildung sind aber ebenso die Horizonte, in denen der Mythos als Problem und Faktum in die Betrachtungen der Politeia einbezogen wird (330d-331b). Damit der Mensch seine Güte und damit sein Wesen und Menschsein erreichen kann, muss er in sie eingeführt werden, denn er steht nicht von Natur aus in seiner Güte. Erziehung wird von Platon als Technik behandelt, so dass ihr (wie jeder Technik) ein bestimmter Besorgungsbereich eignet, nämlich der, die Güte der menschlichen Seele zu bilden. Sie ist die Technik der Bildung des Menschen zu seiner aretē und gebraucht dabei andere Techniken und Wissenschaften, um ihr Ziel zu erreichen. Der Gebrauch von Mythen, Musik und Gymnastik in der Elementarerziehung des Staats vereinigt diese durch ihren koordinierten Gebrauch zum Zweck der Tugendbildung. Die höheren dianoetischen Wissenschaften sind nur die Vorbereitung zur Dialektik, während die musische Frühbildung wiederum der dianoetischen Propädeutik dient. Sofern die paideia eine Technik ist und Anwendung, Wirkungsweise und Werk jedes einzelnen Elementes der Bildung
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kennt, verbindet sie sie durch einen gemeinsamen, zusammenhängenden Gebrauch zu einer Einheit, womit sie ihr genuines Werk realisiert. Die paideia verbindet etwa Musik und Gymnastik und ordnet sie ihrem Werk unter, wobei beide ihr spezifisches Werk nur in einem aus dem Ganzen bestimmten Maß und einer Proportion gemäß dem Ideal der Mitte verwirklichen dürfen, um dem Werk der Bildung insgesamt zu dienen. Aretaikonflikte löst Platon durch den Maßbegriff als Inbegriff des Existierens einer Ganzheit. Indem die paideia ihr spezifisches Werk im Ganzen erfüllt, erfüllt sie die Definition der Gerechtigkeit in der Politeia; sie tut nämlich, indem sie die aretē des Menschen herstellt, das Ihrige. Die Gerechtigkeit ist eine komplexe aretē, die unmittelbar nur dem Ganzen zukommt, und zwar dann, wenn alle seine Teile ihre spezielle Aufgabe erfüllen; die Teile sind nur mittelbar, in Bezug auf ihr Ganzes, in dem sie existieren, gerecht zu nennen. Alle Teile – seien es Stände oder Seelenteile – müssen ihr wesensgemäßes, naturgegebenes Streben zügeln. So dürfen nicht alle Lüste erstrebt werden, sondern nur die guten und unschädlichen; es dürfen nicht alle Ehren gesucht werden, sondern nur die guten und vernünftigen; die Philosophen bemühen sich nicht um jedes Wissen, sondern nur um das dialektische und ihm Dienliches. In ihrer Mäßigung finden die Teile die eigentliche Güte, die sich an der Güte des Ganzen bestimmt. Die aretē der Teile wird so zum Maß und findet ihr Optimum in der Mitte, nicht mehr im Maximum; das Gute wird zum Selektions- und Maßbegriff im Streben der Teile und steht für deren Güte. Sie realisieren nur ihre besten Möglichkeiten, die vom Endzweck und dessen Wesen aus definiert werden. In jedem Teil besitzt dessen beste Möglichkeit den Primat, ebenso wie im Ganzen das Beste den Vorrang hat; letzteres bestimmt den Teilen, was in ihnen und für sie je das Ideal darstellt. Das Ganze mit seinen Teilen kommt erst durch die Herrschaft des besten Teils über die anderen zu seiner Güte, mithin als adäquates inneres Relationsgefüge. Die Definition der Gerechtigkeit als Tun des Seinigen gilt – obwohl sie als vorläufige Bestimmung des Wesens der Gerechtigkeit bezeichnet wird (504-506) – innerhalb der Politeia für alle Dinge und Sachverhalte, für die Götter, den Kosmos, den Staat, die Stände, die Seele, die Wissenschaften und Künste, den Logos und den Mythos. Alle diese Entitäten tun trotz ihrer Verschiedenheit in ihrem Bereich das Ihrige und erfüllen derart ihre aretē. Erst wenn jede Entität im Ganzen und für es das Ihrige tut, kommt sie zu ihrer spezifischen aretē und zur Gerechtigkeit; jede Entität verwirklicht ihre Güte erst dann wirklich, wenn sie der Güte des Ganzen dient. Speziell die Seele verfügt über ihre Tugend, wenn sie gerecht ist, denn nur dann ist sie fähig, ihre Aufgabe zu erfüllen, die Dinge und sich selbst zu besorgen. Ihr naturgemäßes Werk, überhaupt zu leben, erfüllt sie immer, unabhängig von ihrer inneren Ordnung, wie die ewig Verdammten und doch Unsterblichen im Er-Mythos belegen (615e-616a); aber ihr spezifisches Werk hängt von ihrer inneren Ordnung ab. Sofern die Seele als dreiteilig bestimmt wird, besteht ihre beste innere Ordnung in der Herrschaft des besten Teils und der Unterordnung der anderen Teile unter ihn. Die Gerechtigkeit ist die
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gegliederte Gesamtarete der Seele, die es ihr ermöglicht, ihr Werk zu tun. Damit kann die Seele als ganze ihre Aufgaben nach außen hin erfüllen, wobei der Verstand seine Pflichten gegen die anderen Seelenteile und sich selbst erfüllt. Im Staat kommt jeder Stand und jeder Einzelne seiner spezifischen Aufgabe nach und ist damit gerecht – gemessen an der besonderen Ordnung seiner Seele. Egal was ein Einzelner im Staat tun muss, er benötigt ein gewisses Maß an Wissen, um seine Seele zu ordnen, was impliziert, dass der zweite und dritte Stand einsehen, dass es das Beste ist, sich im Staat beherrschen zu lassen. Jeder Stand hat in bestimmten Maßen an allen Tugenden und Seelenvermögen teil, auch am Verstand, weil zu jedem Grad von Teilhabe an der aretē Vernunft gehört, um die Tugend in irgendeiner Gestalt überhaupt erkennen und erstreben zu können. Die Vernunft muss für Platon bei jedem Streben zum Ordnungsprinzip werden; beim Streben nach Lust oder Ehre ordnet sie dasselbe nur den unteren Wissensformen gemäß, während beim Streben nach Wissen die höchste Wissensform selbst das Ziel darstellt. Jeder Stand besitzt seine aretē und kann ein Wissen erwerben, das sie sichert; wenn der Philosoph alle Tugenden und das höchste Wissen besitzt, so ist er unter den Menschen der den Göttern ähnlichste, ohne dass die Wächter darum gottfern wären. Die Seele liegt als Lebendiges zwar von sich aus vor, aber nicht ihre Güte – anders als bei den Göttern, die immer im Stand vollkommener Tugend sind. Der Schlussmythos führt diese Dialogergebnisse zusammen. Wenn die Tugend als herrenlos bestimmt wird (617e3), bedeutet das, dass es verschiedene, graduell gestufte Weisen der aretē gibt, so dass alles auf seine Weise und in verschiedenem Grad an ihr teilhaben kann. Jede Sache besitzt ihre Güte samt den Bedingungen ihrer Herstellung und Erhaltung; beim Menschen erfolgt dies durch eine freie Wahl.5 Die aretē steht unter keiner höheren Macht, die sie bestimmte; wer sie besitzt, braucht keinen anderen Herrn. Alles Streben richtet sich auf sie, wobei nur das, was man darunter (irrtümlich) versteht, verschieden ist und von der Ordnung und dem Wissensstand der Seele abhängt; die Fähigkeit, die aretē zu erkennen, ist selbst eine solche und ebenfalls herrenlos. Die Tugend geht in keiner Form und keinem Maß der Teilhabe an ihr auf, wodurch etwas von ihr ausgeschlossen wäre. Alles kann in dem seinem Wesen entsprechenden Maß an ihr teilhaben, ohne sie einzuholen und zu besitzen; bei der Wahl etwa liegen für alle Seelen gute Muster bereit, sie können bis zur letzten ein gutes Leben wählen (619b). Der Mensch wählt seine Tugend frei und kann in ihrer Stabilisierung gottähnlich werden, womit er das Ziel der menschlichen aretē erreicht. Sowohl die Wächter- als auch die Philosophenpaideia führen zu einer seelischen Ordnung und einem Wissensstand, die beide den Menschen ein gutes Leben und eine gute Wahl ermöglichen. Dieser Sachverhalt steht auch unter dem Schlagwort der Herrenlosigkeit der Tugend; denn beide Bildungskonzepte stehen unter einer Einheit. Bei der Seele und beim Staat als komplexen Gebilden, die aus mehreren Elementen bestehen, liegt die 5
Vgl. hierzu wenig instruktiv Gollasch [2010]; Gonzalez [2012].
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aretē des Ganzen in ihrer harmonischen Einheit; die Ordnung der Teile untereinander ist zentral. Tun alle Teile das Ihrige, so gelangt das Ganze zu Einheit und Güte, wozu es notwendig ist, dass die Teile ihr Wesen und Streben nicht vollständig entfalten und ihr spezifisches Gut nicht bedingungslos, sondern in Maßen erstreben. Die Teile müssen um der Güte des Ganzen willen auf die vollständige Realisation ihrer Möglichkeiten verzichten, und gerade diese abgemessene Verwirklichung der spezifischen Leistungen der Elemente wird zur eigentlichen Verwirklichung ihrer aretē. Alle Stände bleiben unter der umfassenden Realisation ihrer Fähigkeiten und bedingen so die vollständige Entfaltung der Güte des Ganzen; in der Rückwendung dieses Bezugs auf die Teile wird deren Eigenart als Mäßigung definierbar. Dieser Maßcharakter als Existenzideal komplexer Entitäten spiegelt sich im Schlussmythos in der Gemischtheit jedes wählbaren Lebensloses. Das Maß stellt die harmonische Einheit aller Tugenden her, wobei der Verstand die Instanz ist, die ihnen ihr Maß im Ganzen bestimmt und sie ‚zusammenmisst’ mit Blick auf seine Tugend. Was als Teil die aretē eines Ganzen vorrangig fördert und folglich sein bester Teil ist, soll in ihm das Übergewicht besitzen und ist selbst vor allem zu fördern, so dass das Gefüge von Befehl und Gehorsam die Tugend eines komplexen Dinges ausmacht. Seine Teile stehen im idealen Proportionsverhältnis zueinander. In diesem Sinne ist die aretē als kosmos und taxis definierbar und unter diesen Begriffen tritt sie auch im Er-Mythos auf (617d5; 617e3; 618b3; 618c8; 620d8). Die taxis steht dort für die Ordnung der Seelen untereinander und die aretē für die Güte und Tüchtigkeit jeder einzelnen Seele, ihrer Wahl und ihres Lebens; die taxis wird bei der Wahl und bei der Befestigung der Wahl eingehalten. Taxis und kosmos bedeuten allgemein den Zustand der gerechten Seele: Sie ist gerecht und gut geordnet, wenn ihre Teile im natürlichen Verhältnis von Befehlen und Gehorchen stehen, wenn also das Beste herrscht; d.h., die taxis steht für die Einheit und Güte einer Entität im Modus von Befehlen und Gehorchen (458c-d). Kosmos und taxis stehen auch für die Ordnung eines relativ Besseren gegenüber einem relativ Schlechteren (560a-b); im Schlechten bzw. Schlechteren fehlen Ordnung und Notwendigkeit, während im Guten bzw. Besseren taxis und kosmos herrschen – sei es in Staat, Seele (577d) oder überhaupt Vernunftgeleitetem (586d-587b). Die Vernunft lässt den Menschen das Bessere dem Schlechteren vorziehen und fügt alles zu einer hierarchisch gegliederten Gesamtordnung (618a-619b); das Menschsein ist daher stets mit einer prohairesis verbunden, was bei der Wahl des Lebens deutlich zur Geltung kommt. Die Vernunft in der Seele sowie der erste Stand im Staat erfüllen das spezifische Werk der Seele, während die ganze Seele und der ganze Staat ihr Werk überhaupt erfüllen. Der Maßgedanke enthält so zwei Komponenten: Neben dem Gefüge von Beherrschen und Beherrschtwerden gilt für jeden Teil das Prinzip der Selbstbeherrschung; nur von außen beherrscht zu werden, kann nicht zu einer dauerhaften seelischen Ordnung führen, denn dazu gehört auch Selbstordnung – und zwar durch den eigenen Verstand. Jeder Einzelne kann auf
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seine Art, durch den Stand seines Wissens, gerecht sein, und dieser Zug von individueller Selbstordnung durch Wissen wird bei der Wahl des Lebens absoluten Vorrang erlangen. Mit dem Grundsatz von metron und meson im Er-Mythos integriert Platon eine traditionelle Auffassung in seine philosophische Ethik (330b). Für die Nichtphilosophen ist dieser Grundsatz Bestandteil ihrer Lebensführung und ihres doxischen Wissens, während Philosophen ihn zwar aufnehmen, aber neu fundieren. Das Bemühen, Tradiertes und Neues zu vermitteln, ist ein die gesamte Politeia kennzeichnender Zug. In der Erziehung, der Seelenwanderung, der Kosmologie, der Ethik und den Mythen ist diese Absicht Platons leitend, die er erfüllt, indem er Pädagogik und Ethik im Blick auf den Folgezusammenhang der Wissensstufen entwickelt: Das Tradierte erhält seine Gültigkeit auf den doxischen Stufen des Wissens und gründet im philosophischen Wissen, wodurch es sachlich haltbar wird; das philosophische Wissen wird gleichzeitig erst vorbereitet und lässt sich ohne einen radikalen Bruch mit dem Überlieferten entwickeln. Wenn Platon seine Ethik oder Pädagogik ohne Verbindung mit der Tradition entworfen hätte, wäre ihm die Möglichkeit der Akzeptanz verschlossen geblieben. Eine Ethik ohne die Integration des Früheren bliebe wirkungslos, denn ein Anfang mit einer philosophischen Definition ohne bekannte Vorstufen setzte sich dem Scheitern aus. In den Ausführungen zur paideia zeigte sich, dass Platon die traditionelle griechische Erziehung durch Gymnastik, Musik und Mythen in sein Bildungsprogramm als Wächtererziehung bzw. philosophische Früherziehung auf der Stufe der Doxa aufgenommen hat – und zwar schon im Hinblick auf die Bedingungen des späteren und grundlegenderen Wissens mit seinen Erfordernissen. Für die Ethik lässt sich dasselbe zeigen: Platon integriert frühere Gerechtigkeitsdefinitionen des I. Buchs, die die Tradition widerspiegeln, in seine philosophische Bestimmung des Wesens der Gerechtigkeit, womit zugleich die Unzulänglichkeit der früheren Thesen als vollständige Definitionen derselben korrigiert wird. Die universale Bestimmung ihres Wesens integriert und legitimiert die früheren Partikulärdefinitionen und stellt sie an ihren Platz, indem sie sie als solche erweist und die Bedingungen, den Bereich und die Hinsicht ihrer Gültigkeit festlegt. Der unzureichende Charakter dieser Definitionen wird aufgehoben, sie werden als früher gelebte Auffassungen vom Gerechten gesichert und in das Neue aufgenommen; dem Schlussmythos wird diesbezüglich die besondere Funktion zukommen, alle im Dialog gegebenen Definitionen abschließend zusammenzuführen. In 331c-e wird Gerechtigkeit als wahrhafte Rückerstattung definiert: Jedem ist das Schuldige zu leisten. Diese Bestimmung erweist sich zwar als unzureichend, wird aber später wieder aufgenommen und als ein Fall von gerechtem Handeln in das Wesen der Gerechtigkeit eingebaut (506e-507a). Jedem das Seinige aufrichtig zurückzuerstatten, bildet etwa eine unerlässliche Bedingung des dialegesthai und begründet seine Güte der Wahrheitsfindung. So beginnt auch der Er-Mythos mit dem Hinweis auf dieses Prinzip (614a5-8). Sokrates fordert von Glaukon das in der Rede Geborgte zurück (612c5) und spricht dabei
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(wie 331e4-5) von apodosis; nachdem er im Logos das Seinige geleistet, nämlich das Wesen der Gerechtigkeit bestimmt hat (363a-c), werden nun ihre Folgen aufgewiesen – und zwar im Mythos. Die aufrichtige Rückerstattung wird in das Tun des Seinigen einbezogen, wobei der Dialog (wie alle Dinge) unter diese Definition fällt, ebenso wie unter das Gesetz der Herrenlosigkeit der Tugend, weil es verschiedene gute Logoi gibt, je nach dem Vermögen der Partner. Als aufrichtig Gesinnte können alle Beteiligten im Logos und im Mythos nur gewinnen. Der Dialog steht unter der Bedingung der gutwilligen, wahrhaften Rückerstattung von Geliehenem und der Erfüllung von Schuldigkeiten (614a7-8); ebenso wird der Mythos getreu wiedererzählt und muss gutwillig gehört werden. Der Anklang an den Beginn der Politeia ist unverkennbar, denn dort ist die Bereitschaft zum Hören und Sichüberzeugenlassen die Bedingung der Möglichkeit des Gelingens eines Dialogs (327c; 328a) wie auch des Mythos. Hören und Hörenwollen (akouein in 327c; 614a8; 614b1) zählen zu den Bedingungen des Dialogs wie der Erzählung des Mythos. Ohne aufmerksames, wohlgesonnenes Zuhören können Dialog und Mythos das Ihrige weder tun noch bekommen. Die Bestimmung der Gerechtigkeit als aufrichtige Rückerstattung wird im Er-Mythos und in seiner Lohn- und Strafschilderung aufgegriffen; sie wird hier zu einer notwendigen Folge von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Wer das Seinige getan hat, bekommt es im umfassenden Horizont kosmischer Gerechtigkeit erstattet. Gerechter und Ungerechter werden im Jenseits ihrem Wesen gemäß behandelt – nach dem festen Gesetz zehnfacher Vergeltung (615a-b). Die Differenz zwischen Sein und Schein der (Un-)Gerechtigkeit (334a-335b; 361a-d) ist im Er-Mythos aufgehoben, denn das Urteil der Richter (614c) sieht irrtumsfrei nur auf die Seele als Wesen des Menschen; auch in der Wahl verhilft nur wirkliche Gerechtigkeit zu ihrem Gelingen. Lohn und Strafe bilden eine resultative Form der Gerechtigkeit, da sie aus dem Leben und Handeln folgen; der Mensch trägt für sie – wie für seine Wahl – selbst die Verantwortung. Lohn und Strafe dienen der Erhaltung der Güte (was die Belohnten oft nicht verstehen: 615a3-4) oder der Besserung des Täters, wie oft hervorgehoben wird (380a-b; 388d; 445a; 591a-b; Gorg 525a-c). Der Täter soll durch die Strafe von Ungerechtigkeit und Unwissenheit geheilt werden, so dass sie dem Wohlergehen des Täters, nicht der bloßen Vergeltung dient. Sie soll ihn dazu bringen, kein Unrecht mehr zu verüben und einzusehen, dass er Unrecht begangen und sich damit selbst geschadet hat. In diesem Sinne ist die Bestrafung als Besserung auf Einsicht gerichtet, welchem Zweck auch die Klarheit ihres Grundprinzips der zehnfachen Vergeltung dient. Die Strafe bildet kein autonomes Gut, sondern ist auf Besserung und Heilung ausgelegt (357b-d), wodurch sie das Ihrige tut und ihre Aufgabe, sei es in Staat oder Kosmos, erfüllt. Es gibt aber auch Seelen, die von ihrer Ungerechtigkeit und Unwissenheit nicht zu heilen sind und für die das Prinzip der zehnfachen Vergeltung nicht hinreicht. Den Inbegriff dieser Unheilbaren bildet für Platon der Tyrann (615c-
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d), bei dem adikia, kakia, amathia und kakodaimonia im Höchstmaß zusammenfallen, der aber doch das allgemeine Werk der Seele (zu leben) erfüllt (615e-616a) und an ihrem spezifischen Übel nicht zugrunde geht (353; 609). Die Tyrannen müssen ewig leiden und dienen den Heilbaren nur noch als abschreckende Beispiele. Der Tyrann ist für Platon der Inbegriff aller Übel, und so tritt er auch im Er-Mythos auf (615c-616b; 619a-c), wenn er alle Verbrechen bis zu den schlimmsten wie Mord, Verrat, Tempelraub, Diebstahl, Frevel gegen Götter und Eltern oder Inzest verübt. Diese Sünden werden in 615b-c als schwerwiegendste genannt, die sich gegen den Einzelnen (Mord), den Staat (Verrat) und den Kosmos (Tempelraub) als die großen Wirklichkeitssphären richten. In jedem dieser Bereiche gibt es einen höchsten Frevel, wobei der Tyrann sie alle vereinigt (443a3ff.; 469c-d; 552d4ff.; 562e7ff.; 568d7ff.; 569b67; 571c9-d1; 573c2ff.; 574a-d; 575b6ff.). Diese Frevel, die so schon in der Tradition galten, machen deutlich, wie vielschichtig Platon das Überkommene in sein Denken einbezieht. Der Tyrann als Inbegriff innerer, seelischer und äußerer, an den Folgen gemessener Schlechtigkeit wird im Mythos so aufgegriffen, dass die Einsichten des Dialogs auf die Ebene des Kosmos ausgedehnt werden. Er ist ungerecht, unglücklich, unfrei, hat keine Freunde, keine Ordnung und kein Maß, ist Göttern und Menschen verhasst, ist schwach und ständig gefährdet und am weitesten von wahrer Lust, Tugend und Güte entfernt. Indem Platon das im VIII. und IX. Buch belegt, werden die Anfangsprämissen der ersten beiden Bücher umgekehrt; der Gerechte ist nicht mehr der Schwache, Leidende und Unglückliche, sondern der Ungerechte ist so zu charakterisieren. Wesen und Lohn des Ungerechten im II. Buch werden zu Wesen und Lohn des Gerechten transformiert, weshalb Sokrates die Bestätigung dieser Wahrheit am Beispiel des Gyges als des vermeintlich starken, glücklichen Tyrannen fordert (359-360; 612a-b). Nachdem Polemarchos das Gespräch von seinem Vater ‚geerbt‘ hat (331de) – und damit die mythische Tradition den sokratischen Logos als Erben eingesetzt hat –, womit er das Seinige bekommen hat, modifiziert er die erste Definition der Gerechtigkeit derart, dass es gerecht sei, den Freunden Gutes und den Feinden Schlechtes zuzufügen; dadurch bekomme jeder das ihm Zukommende, so dass ihm das Schuldige geleistet werde. Die Gerechtigkeit wird zur aretē und zum Wissen, Freunden zu nützen und Feinden zu schaden (332a-d); bei beiden ist eine Unterscheidung hinsichtlich des ihnen Gebührenden zu treffen, was bei der ersten Definition nicht der Fall war. Obwohl sich auch diese Separationsdefinition als unzulänglich erweist, wird in ihr doch die Gerechtigkeit erstmals als eine Art von Einheit gruppenspezifisch verschiedener Verhaltensweisen erörtert, um zugleich mit Erkenntnis und Einsicht des Gerechten verbunden zu werden. In der ersten Definition wird ein besonderer Typ gerechter Handlungen zum Wesen der Gerechtigkeit erhoben, wobei sie nicht zwischen verschiedenen Zielgruppen des Handelns differenziert. Erst Sokrates’ Prüfung der ersten Definition erzwingt eine gruppenspezifische Modifikation der aufrichtigen Rückerstattung, die sich primär an der Seelenordnung des Objekts der gerechten
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Handlung orientiert (331c); es besteht ein Ausnahmefall, in dem die Definition nicht gilt, während die wahre Bestimmung der Gerechtigkeit in allen Fällen und unter allen Bedingungen gelten muss. – Beide Definitionen beinhalten im Kern schon die Bestimmung der Gerechtigkeit als Wesensförderung und -verwirklichung von etwas in einem Besorgungsbereich, sind aber auf andere Menschen eingeschränkt und somit nicht universal. Wesensförderung als Gerechtigkeit kann auch bei den Feinden nicht heißen, ihnen zu schaden (335b-e); jedem kommt für Platon nur das Gute zu (und dieses kann dann konkret differenziert werden), weil nur das Gute das Wesen einer Sache fördern kann. Platon wird im Folgenden die Definition der Gerechtigkeit auch auf das Nichtmenschliche (Dinge, Tiere, Götter) ausdehnen, wie der Er-Mythos zeigt. Mit der Einführung einer gruppenspezifischen Gerechtigkeitsdefinition wird zugleich die Vernunft einbezogen. Es besteht eine Irrtumsmöglichkeit darüber, wer (im Einzelfall) jemandes Freund oder Feind ist, weshalb man dem wahren Freund schaden und dem scheinbaren Freund nützen kann. Innerhalb dieser Definition muss ein Wissen existieren, das es jemandem ermöglicht, in jedem Fall irrtumsfrei sowohl den Freund als auch das ihm Nützliche zu erkennen; dieser Sachverhalt gilt ebenso für die Definition des Thrasymachos (338c), denn auch in diesem Fall ist für den Stärkeren und Regierenden ein irrtumsfreies Wissen notwendig, mittels dessen er das ihm Zuträgliche erkennen kann. Mit Thrasymachos’ Definition wird dann erst die eigene Seele in die Überlegungen zum Gerechten einbezogen. Alle diese Punkte werden in den späteren Ausführungen aufgegriffen und in die endgültige Definition integriert. Obwohl im Platonischen Staat keine Feinde mehr existieren, wird die Gerechtigkeit ständespezifisch entfaltet. Für jeden Stand liegt das Gerechte in etwas anderem, weil er sich auf seine Weise zum Ganzen verhält. Die Philosophen werden diejenigen sein, die das irrtumsfreie Wissen besitzen, das im I. Buch noch fehlt, nämlich die Dialektik, durch die sie allem das Seinige zuteilwerden lassen können. Die Herrschaft des Stärkeren besteht im Platonischen Staat, in dem der Stärkere aber zugleich der Beste ist, der sein Wohl nur im Verbund mit der Güte des Ganzen fördert, wie Sokrates es verlangte (342c-d). Die Philosophen verfügen über das Wissen und die Technik, allem das Seinige zuzuteilen, und im Er-Mythos schließlich übernehmen die Götter die Garantie für das Gerechtigkeitsprinzip. Wissen und Kunst sind das Vermögen des Gerechten, nicht die Bedingungen irrtumsfreier und rücksichtsloser Selbstförderung. Die Gerechtigkeit ist in den verschiedenen Formen des Wissens von ihrem Wesen doch stets ein Wissen und Vermögen, das Ganze auf die jedem Einzelnen eigentümliche Weise zu fördern. Jeder Einzelne wird so auf irgendeine Weise zum Subjekt der Gerechtigkeit seiner selbst und des Ganzen; dieser Zug von ‚Individualität‘ wird im Schlussmythos tragend: Sowohl Lohn und Strafe (als gruppenspezifisch verschiedene Formen der Gerechtigkeit) als auch die Wahl (als Selbstgründung der eigenen Gerechtigkeit) sind vom Einzelnen und von seiner inneren Ordnung abhängig. Die Gerechtigkeitsdefinitionen, die von einem separierten Gruppennutzen ausgehen
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– sei es zwischen Freunden oder Stärkeren –, der mit dem Ganzen und seinem Wohl nicht übereinkommt, sind unzulänglich. Die Konsequenzen dieser Definitionen zieht Platon in der Verfallsreihe des VIII. und IX. Buchs: Der Gruppennutzen wird hier zum destruktiven Prinzip. Sowohl Polemarchos als auch Thrasymachos geben gängige Meinungen zum Wesen des Gerechten wieder. Wenn ihre Aussagen als allgemeingültige unhaltbar, als partikuläre, fallspezifische Bestimmungen innerhalb der umfassenden Definition aber haltbar sind, so macht Platon zugleich seinen Logos akzeptabler und verständlicher, indem er ihn im kontinuierlichen Fortschritt aus dem Tradierten ableitet. Das Gegebene bildet den natürlichen Ausgangspunkt auf dem Weg zur philosophischen Letztbegründung des Gerechten. Im Rückgang von der philosophisch fundierten Wesenserfassung erscheinen die Ausgangspunkte als ungenaue Vorstellungen, die im Kern schon auf dem richtigen Weg sind, aber nicht gehörig durchdacht waren. Nur wenn Sokrates das Tradierte mit dem Neuen verbindet und vom ersten ausgehend das zweite nachvollziehbar entwickelt, kann er alle Menschen erreichen, auf ihre Akzeptanz hoffen und seinen Staat verwirklichen. Der Konnex zwischen den Ansichten und Einsichten wird somit deutlich, und selbst im Philosophenstaat bleibt die Ehrung der Tradition und der tradierten Tugendhaftigkeit als Band zwischen Philosophen und Nichtphilosophen aufrechterhalten (537e-539d; Ep 7 325d). Der Er-Mythos erfüllt sonach insgesamt die Funktion, die ethischen Grundeinsichten der Politeia zusammenzuführen: 1) Platon verbindet im Mythos Tradiertes und Neues. Dazu bedient er sich des bekannten mythischen Personals und der vergangenheitsbezogenen Zeitstruktur des Mythos. Im Mythos wird die Gerechtigkeit zu einer kosmischen Potenz erhoben, die ihre Rolle für den Einzelnen und den Staat stützt und gründet. Alle Figuren und Dinge im Mythos tun nur eines und das Ihrige, seien es die Richter, die feurigen Männer, die Orte im Mythos (Schlund, Tartaros), Ananke, die Moiren, die Sirenen, das Feld der Vergessenheit, der Prophet, die Dämonen, der Fluss Ameles, das Licht oder der Kosmos. Jedes Element im Mythos besitzt eine bestimmte Aufgabe, Funktion und Tauglichkeit, die es permanent und ohne Schwächen erfüllt. Das Wesen der aretē als Tun des Seinigen wird im Mythos auf alle Dinge ausgedehnt, was die wandernden Seelen erkennen sollen. Die Seelen sind Bestandteile der kosmischen Ordnung, in der sie das Ihrige erhalten, aber auch tun sollen; gleichzeitig bestimmt Platon so die Gerechtigkeit unter jeder möglichen Bedingung und in jeder Hinsicht, denn sie ist für die Teile von etwas und für das Ganze, für den Einzelnen und das Kollektiv, für Krieg und Frieden, in ihrem Wesen und ihren Folgen und im Mythos noch für Diesseits und Jenseits definiert. Dabei werden die Tradition und das philosophisch begründete Neue integriert. Für Maßethik, mittleres Leben, Lohn und Strafe sowie Sünden wurde dies schon nachgewiesen, aber der Bezug zur Vergangenheit erstreckt sich noch weiter. In der mythischen Klammer der Politeia vereint Platon die natürliche Sittlichkeit und Frömmigkeit
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etwa eines Kephalos mit seiner neuen Bildung und Ethik, so dass auch Kephalos’ Tugend an der herrenlosen Tugend teilhat. Um das Alte in das Neue zu integrieren, greift der Mythos Vergangenes auf, das er zu seinen Zwecken ändert – so bei der Seelenwanderung, der dichterischen Tradition (Heroen, Katabasis), dem sprachlichen Stil des Mythos, dem Gesang der Sirenen und Moiren sowie bei der Kosmologie des Er-Mythos. Eine Vermittlung von Tradiertem und Neuem erleichtert dessen Akzeptanz, welchem Zweck der Mythos dient. Die Götter wollen eine Verbindung von alter und neuer Erziehung, von alter und neuer Tugend; dabei wird der Mythos als Ausdruck und Medium dieser göttlichen Botschaft dargestellt. 2) Die Unzerstörbarkeit der Seele, die ihr allgemeines Werk immer erfüllt, wird nach dem dazugehörigen Beweis (609a-d) im Mythos exemplifiziert: Selbst die Tyrannenseelen sind unsterblich (615d-616a). 3) Der Mythos zeigt, dass der Gerechte am glücklichsten ist, belohnt wird, von den Göttern geliebt wird und sich durch seine Vernunft selbst in Ordnung erhalten kann; der Tyrann steht für das genaue Gegenteil. 4) Im Mythos werden Sein und Schein der Gerechtigkeit (505d) endgültig vermittelt. Nur durch die Gerechtigkeit kann man gut sein und gut leben. Ein Streben, das das Gute ohne das Gerechte sucht und will, ist verfehlt und irrtümlich. 5) Wesen und Folgen der Gerechtigkeit werden der Wahrheit gemäß wieder verbunden, nachdem Sokrates im Dialog ihr Wesen bestimmt hat. Der ErMythos zeigt den individuellen, selbstverantwortlichen Folgezusammenhang von Gerechtigkeit und Lohn, die im Bereich des Göttlichen neu verbunden werden, während das Jenseits früher nur hinsichtlich der Folgen bedacht wurde, wie bei Kephalos. 6) Der Mythos verdeutlicht den Grundzug des Ungerechten und Unvernünftigen als Maßlosigkeit und Übermäßigkeit eines Strebens, wie besonders bei der Wahl deutlich wird. 7) Im Motiv der Schicksalswahl erweist Platon die aretē der Seele als etwas nur frei zu Erlangendes, anders etwa als bei den Tugenden von Dingen in technischen Besorgungsbereichen; der Mensch kann sich selbst sein Eigenwesen nur durch eine freie Entscheidung vermitteln. In den spezifischen Bereichen der Techniken kann er deren Objekte fördern oder schlechter machen, aber nur im ersten Fall besitzen sie selbst ihre höchste Vollkommenheit, denn ihre eigentümliche Aufgabe ist allein die Förderung ihrer jeweiligen Gegenstände; die technai sind aber zugleich ein Ausdruck des besonderen Werks der Seele: Nur wenn der Mensch die Dinge fördert, tut er das Seinige und ist selbst gerecht. Der wesensgemäße Gebrauch der technai ist nur ein äußerer Ausdruck der menschlichen Gerechtigkeit selbst, der nicht der einzige und nicht umkehrbar ist. Die Gerechtigkeit des Menschen besteht in seiner inneren Seelenordnung und drückt sich dann erst in seinem Handeln und dessen Einheit aus. Die Gerechtigkeit als aretē des Menschen wird als ta hautou prattein und damit als
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eu prattein definiert, zunächst im Sinne eines genau abgemessenen inneren Wirkungsgefüges und Kräfteverhältnisses in der Seele, das sich erst mittelbar in einzelnen Handlungen und ihrem Konnex äußert. Nur eine gerechte Seele ist dazu fähig, nach außen hin gut zu handeln, weil ihre inneren Vermögen in der besten Ordnung zueinander stehen; nur bei ihr entsteht ein dauerhafter Folgezusammenhang von innerer Einheit und Einheit der nach außen gerichteten Einzelhandlungen. Das Ganze steht in seiner Güte und seinem Wesen, weil seine Teile nur eines und das Ihrige tun. Das Wesen der Gerechtigkeit zeigt Platon im Mythos, indem er ihre Qualität sowie ihren Nutzen bei der zentralen Handlung der freien Schicksalswahl betont. Die Güte der Wahl spiegelt die Verfassung der Seele wider, denn nur in ihr ist die Gerechtigkeit das, was sie als sie selbst ist; in der Seele gelangt das Gerechte erst an seinen oikeios topos (366e). III. Die Sokratischen Paradoxe und der Schlussmythos Im II. Buch der Politeia (381c-382c) wird festgehalten, dass sich niemand – weder Gott noch Mensch – freiwillig schlechter macht, als er ist. Die Götter besitzen alle Tugenden im Höchstmaß, während der Mensch nur eine Seelenordnung erlangen kann, die sich dem göttlichen Status annähert. Wenn die Götter alle aretai besitzen, dann verfügen sie auch über das zugehörige Wissen darum, was ihre Tugend ist und was sie mindern würde. Und dieses Wissen der Götter ist sowohl vollständig als auch irrtumsfrei, anders als das Wissen der Menschen. Sogar die Götter haben die Tugend nur, sind sie aber nicht, da das Sein allein den Ideen zuzusprechen ist. Ihre Tugend bestimmt ihr Sein als Verbleiben im Status des Gutseins, was bei den Menschen durch das Faktum der Wahl ausgeschlossen ist. Die Götter unternehmen keine Handlung, die sie schlechter machte, als sie wissentlich sind, d.h., Wissen, Wollen und Handeln stehen bei ihnen im Konnex irrtumsfreier Güte. Zweierlei lässt sich hieran ablesen: Erstens wird die Reflexivität des Tuns bedacht, zweitens geht es um agatha und kaka (und ihr Sein in der Seele), nicht hingegen um dikaia und adika. Ausgehend vom Besitz der Tugend oder eines Anteils an ihr macht niemand sich selbst durch irgendein Tun schlechter, als er ist und weiß, dass er ist – eine zunächst nur formale Bestimmung, da hier noch nicht darüber entschieden wird, ob gerechtes oder ungerechtes Handeln nun besser oder schlechter macht. Ebenso wenig ist schon genau zwischen der inneren Seelenverfassung und dem Handlungswert unterschieden; ihr Zusammenhang ist noch nicht exakt festgelegt. Das Handeln überhaupt macht das, worin es gründet, zwar besser oder schlechter, als es ist, und es ist der Grund für diese Veränderungen, aber es bleibt offen, woraus genau das Handeln resultiert und worauf es zielt. Zudem kommt die Tatsache zum Tragen, dass jedes Tun einen Wissensindex aufweist und dass dieser für das Handeln und seine Erklärungsmöglichkeit eine zentrale Rolle spielt. In 381c4 ist dieser Index noch im hekon impliziert, was soviel wie ‚freiwillig‘ oder ‚vorsätzlich‘ bedeutet.
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Denn wer wie die Götter um seine Tugend weiß, will und kann sie nicht mindern. In 381e-382c wird darüber hinaus festgehalten, dass die Götter die Wahrheit und das Wissen in ihrer Seele besitzen und sie auch aussprechen; sie wissen und sagen stets, was ist, und sie täuschen niemals. Weder sind die Götter in einer Hinsicht unvollkommen, noch erwecken sie den Schein, etwas zu sein, was sie nicht sind – ein Theorem, das für die Verhältnisbestimmung von Sein und Schein der Gerechtigkeit bedeutsam werden wird. Jeder will in seiner Seele nur das Wahre und Beste besitzen, womit das Wissen von beidem verbunden ist. Niemand wird freiwillig die Unwahrheit und Unwissenheit in seiner Seele dulden (382a8-9; 382b1-3; 382b8), wohingegen die bewusste Unwahrheit in der Rede für den Menschen in bestimmten Situationen legitim sein kann. Die Menschen können sich bezüglich des Guten und Üblen irren, sie können aber auch die Unwahrheit zu einem relativen Gut machen, was dazu führt, dass bei ihnen innere Seelenordnung und äußere Handlungen zu trennen sind, was bei den Göttern nicht gilt. Gleichzeitig erhält die seelische Ordnung den Primat vor der Güte der Handlungen, die aus ihr resultieren, denn die Seele ist das, worauf es ankommt. Ob die Unwahrheit von der Sache oder der Seele ausgeht, ist in dieser Hinsicht irrelevant, insofern beides zuletzt in der Seele als agnoia und amathia repräsentiert ist und in diesem Zustand ‚falsch‘ nach außen tritt. Jeder will deshalb die Wahrheit und das Wissen in seiner Seele haben und nicht nur deren Schein; aber die Absicht, selbst niemanden zu täuschen, kann man dennoch nur als Schein erstreben. Die Ausführungen aus 505b-506b klingen hier bereits an, ebenso die Prämissen, die Platon zugrunde legt: 1) Alles Wollen und Streben richtet sich auf das Haben-Wollen des Guten in der eigenen Seele. 2) Jeder will für sich das wahre und wirkliche Gute und meidet das Übel. Wer das Gute erkennt, will es auch besitzen, weil er weiß, dass es ihm nützt; und wer das Üble erkennt, weiß, dass es ihm schadet, und meidet es daher. 3) Jeder will das Gute haben, um selbst gut zu sein; und jeder meidet das Üble, um nicht durch Kontakt mit ihm selbst schlecht zu werden. 4) Das Gute nützt jedem und das Üble schadet jedem, der es hat. Irren kann man sich nur darüber, was inhaltlich wirklich gut oder übel ist. Während das Streben nach dem Guten und sein Nutzen festzustehen scheinen, gilt es noch zu begründen, dass das Gerechte nur als Seiendes immer gut und das Ungerechte immer schlecht ist. In 412d-414b geht es um die Auswahl der Herrscher im Wächterstaat: Die besten Wächter, heißt es, seien diejenigen, welche die Stadt am meisten liebten und am eifrigsten für sie sorgten. Dabei betont Platon, am meisten werde das geliebt, wovon man glaube, es werde vom selben gefördert wie man selbst und aus seinem eu prattein folge das eigene. Die Vorstellungen über das der Stadt Zuträgliche in den Wächterseelen sind demnach auf ihre Festigkeit hin zu prüfen; und die Vorstellungen, die sich als die beständigsten erweisen, sollen in der Stadt herrschen. Das also, wodurch man seine eigene aretē begründet glaubt, wird zur Bedingung der Tugend aller Menschen und der ganzen Stadt ausgeweitet. Die eigene Tugend und die des Ganzen hängen folglich vonein-
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ander ab, anders als noch in 382a-c, obwohl der Ausgang nach wie vor vom Einzelnen genommen wird. Das Gute und das Gerechte rücken näher zusammen – in 349b wurde schon der Grundsatz bewiesen, dass der Gerechte vor Seinesgleichen nichts voraushaben will, welches Prinzip nun auch für das Gute geltend gemacht wird. Zur Gewinnung der eigenen Güte werden gleichermaßen die Förderung der eigenen Person wie auch die der anderen notwendig, weil die Gleichheit der Bedingungen eigener, fremder und staatlicher Güte bzw. ihre wechselseitige Bedingtheit erkannt werden, wobei genau dieses Wissen später als Herrschaftsgrundlage legitimiert werden wird. Die geschilderten guten und wahren Meinungen können indes durch drei Ursachen verlorengehen, nämlich durch Diebstahl, Zauber oder Gewalt. Meinungen können freiwillig oder unfreiwillig aus der Seele verschwinden (412e-413a: hekousios – akousios) – freiwillig werden die falschen Meinungen aufgegeben und unfreiwillig die wahren. Platon beschreibt den Verlust aller doxai als etwas Passives, als eine Beraubung, und darauf bezieht sich der Terminus der Unfreiwilligkeit. Mit dem Verlust durch Diebstahl meint Platon die Überredung oder das Vergessen im Laufe der Zeit; Gewalt ändert eine Meinung durch Schmerz, Bezauberung durch Lust oder Furcht. Der unfreiwillige Verlust wahrer Meinungen wird vollständig negativ bewertet: Sie gehen verloren und werden durch schlechtere Ansichten ersetzt. Da die Seele ihre Meinungen generell für das Beste und im höchsten Maße Seiende hält, verliert sie diese Meinungen nie freiwillig, sondern durch unnatürliche äußere Einflüsse oder Gewaltakte. Die Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit des Verlustes bezieht sich demnach auf den Seelenzustand, nicht auf die aktive Handlung, die von jedem selbst ausgeht. Überredung, Zeit und Gewalt können jedoch auch zum Besseren führen, was etwa der Aufstieg aus der Höhle im entsprechenden Gleichnis oder der Er-Mythos zeigen. Der Verlust der Meinungen kann gegen den eigenen Willen erfolgen, aber sie können auch durch ein höheres Wissen ersetzt werden. An allem, was man für wahr und gut ansieht, hält man fest, mag es wirklich oder nur scheinbar so sein. Eine Trennung in einen freiwilligen Verlust falscher und einen unfreiwilligen Verlust wahrer Meinungen lässt sich erst im Nachhinein vornehmen, also vom Standpunkt eines höheren Wissens aus, das alle Meinungen bezüglich ihrer Sachhaltigkeit beurteilen kann. Das freie und dadurch wahre Wollen und Streben richtet sich auf den Gewinn des Guten und Wahren; doch was der Sache nach, dem Inhalt oder dem jeweiligen Fall nach wozu gehört, hängt vom jeweiligen Wissensstand und von der Seelenverfassung ab. Platon nimmt seine Trennung in wahre und falsche Meinungen folglich schon vom Standpunkt eines Wissens aus vor, welches das wirkliche Gute und das echte Übel kennt und sich der Regel bewusst ist, die erforderlich ist, um sie in allen Fällen zu identifizieren. Das menschliche Wissen und Streben sind jedoch – wenigstens auf der doxischen Ebene – fehlbar. Darum betont Platon, dass der innerseelische Besitz eines Gutes, den es zu allererst zu erreichen gilt, immer von außen gefährdet ist, dass die Kraft, die dazu nötig ist, schwächer sein
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kann als die Kraft äußerer Einflüsse, die auf fast physisch anmutende Weise beschrieben werden. Später werden diese Einflüsse ins Innere der Seele verlegt, ja sogar den Verlust wahrer Meinungen erfährt der Mensch dann nicht mehr nur passiv und von außen. Vom Tyrannen beispielsweise wird Platon nicht mehr sagen, er erleide das Schlechterwerden bloß, sondern der Tyrann mache sich vielmehr selbst schlechter (573a-b). Denn die Faktoren, die einen unfreiwilligen Verlust wahrer Meinungen bewirken, sind beim Tyrannen ständig innerlich präsent: Seine Seele ist permanent von Gewalt getrieben, sie leidet Schmerzen und ist beständig in Furcht befangen (574a; 577e; 578a-e); ebenso begleiten Überredung und Schmeichelei das Tyrannenleben (572c-e). Der Tyrann hat einen Grad seelischer Zerrissenheit erreicht, in dem er sich selbst schlechter macht, ohne zu tun, was er eigentlich will; er macht sich unfreiwillig schlechter, sofern man sein Tun an seiner ganzen Seele misst (577d-e; 579e). Die aretē des Ganzen existiert in den Tugenden der Teile, die wiederum nur innerhalb des Ganzen und seiner aretē bestehen können. Die Tugenden bilden eine Einheit, weshalb es ohne Wissen auch keine Tugend geben kann. Jede Tugend ist mit einer Form des Wissens innerlich verbunden, welche die Tugend der Seele sowie ihre Stabilität bedingt. Die Herstellung und Handhabung der Ordnung und Einheit der Seele liegen im Aufgabenbereich der Vernunft, den sie in ihrer Herrschaft über das Ganze und im Hinblick auf dasselbe und dessen Güte mitsamt den dazugehörigen Bedingungen ausfüllt. Es kann dennoch von jeder von ihnen eine ontologische Gegebenheitsweise in allen Wissensformen geben. Darum erlangt die Seele die erstrebte Gerechtigkeit als Einheit ihrer Tugenden nur in Verbindung mit ihrem denkenden Teil und dessen Wissen, d.h. unter seiner Herrschaft. Eine Tugend ohne irgendeine Art von Wissen und ohne seine ordnende Herrschaft gibt es daher nicht, womit allerdings noch keineswegs gesagt ist, dass das Wissen auch schon die hinreichende und alleinige Bedingung der Tugend darstellt. Der denkende Seelenteil erfüllt im eigentlichen Sinne das Werk der Tugend, nämlich die Seele und die Dinge zu besorgen, zu beherrschen und zu beraten. Erst im Anschluss daran entwickelt sich die Seele zur gerechten und nicht bloß lebendigen Entität. Eine schlecht verfasste Vernunft fördert die Untugenden der anderen Seelenteile, so dass Laster immer mit Unwissenheit und Unwahrheit verknüpft sind. Die Unwissenheit ermöglicht es den anderen Teilen, ihre Untugend zu entfalten und übermäßig oder in die falsche Richtung zu streben. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung des Verhältnisses von konkreten Handlungen und innerer seelischer Verfassung. In 443a-444a nennt Platon zunächst einzelne Handlungen, die ein gerechter Mensch ausführen bzw. unterlassen wird. Auffälligerweise sind es genau die Handlungen, die im Schlussmythos zur Kennzeichnung des Tyrannen verwendet werden, so dass sie am strengsten bestraft werden. Alle Handlungen sind jedoch nur Ausdruck und abhängige Folge einer innerseelischen Verfassung. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind Seelenzustände, auf die bezogen Taten
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zu erkennen und zu bewerten sind.6 Alle Tugenden und Untugenden sind fundamental mit einem Wissens- bzw. Unwissensindex verbunden, wobei alle Tugenden und Untugenden immer gemeinsam auftreten. Die Gerechtigkeit, die jeweils resultiert, ist lediglich hinsichtlich ihrer Wissensfundierung zu unterscheiden. Das oben geschilderte doxische Wissen vom Gerechten ordnet zwar das Leben, das Handeln und die Seele, ist aber irrtumsanfälliger als das gnomische Wissen. In bestimmten Fällen versagt dieses Wissen sogar – wie bei der im Er-Mythos geschilderten Wahl des Lebensloses. Die Tugend bzw. Untugend der alogischen Seelenteile resultiert einerseits aus dem Wissensstand und hängt von ihm ab, andererseits beeinflussen die alogischen Teile auch den denkenden Teil, stützen oder schwächen seine Herrschaft, und zwar nicht zuletzt die über sich selbst. Die Vernunft weist die Richtung auf das Beste und Seiendste in der Seele und unter den Dingen, weil sie alles ‚mischt‘, zusammenschaut und in geordneten Maßproportionen zu einer Einheit verbindet. In 505b-506b geht es darum, ob nun die Lust oder die Einsicht das Gute ist; beide Ansichten erweisen sich als problematisch. Denn im ersten Fall fehlt die notwendige Unterscheidung zwischen guten und schlechten Lüsten; im zweiten besteht die Gefahr eines Zirkels oder einer Tautologie, weil nicht mehr gesagt werden kann, welche Einsicht gut ist und ob zuletzt die Einsicht in das Gute selbst gut ist. Im ersten Fall fehlt also die Trennung im Objektbereich, im zweiten fehlt die genaue Angabe des Objektbereichs. Dennoch wollen alle Menschen das wahre Sein des Guten besitzen und nicht nur den Schein, und dies trotz aller Unklarheit im Wissen vom Guten. Was immer das Gute sein mag – um es als Seiendes erstreben zu können, muss man ein Wissen von ihm besitzen. Das Gute ist zwar von Natur aus Ziel und Endzweck allen menschlichen Strebens; aber ohne die Einsicht, inwiefern die Lust oder die Einsicht selbst gut sind, ist dieses Streben unzulänglich und fehlgerichtet. Seine Psychologie und die Prüfung des Wesens der Gerechtigkeit ermöglichen es Platon, die beiden Ansichten über das Gute zu verbinden. Wenn die Gerechtigkeit als etwas Seiendes gut ist und wenn sie die Einheit und der 6
Die Meinung, die Gerechtigkeit bestehe in der Arbeitsteilung, sei daher so etwas wie ein Schatten der inneren Gerechtigkeit, zeigt bereits, dass ein Wissen, welches das Wesen der Gerechtigkeit im Handeln sucht, unvollständig ist, weil es die Folge zum Grund erhebt. Gleichzeitig wird ersichtlich, dass schon auf dieser Stufe ein Wissen existieren muss, das das Handeln normiert und vereinheitlicht. Die Gerechtigkeit wird in die Seele verlegt, woraus erst ein geordnetes Handeln nach außen entspringen kann. Die Seele muss erst in sich das Ihrige tun, um gegen die Dinge das Ihrige tun zu können. Das Schattenwissen vom Gerechten als Arbeitsteilung sieht in dieser Tugend das Einheits- und Ergänzungsverhältnis verschiedener technischer Kompetenzen ebenso wie in ihren Bereichen, in die hinein gehandelt wird. Das Wissen besteht hier im Wissen um die finale Einheit allen technischen Handelns und erhebt einen identischen Typ des technischen Handelns des Einzelnen zum Prinzip seiner Gerechtigkeit. Einem niedrigeren, inhaltsärmeren Wissen gelten infolgedessen die identisch wiederholten Einzelhandlungen als die Gerechtigkeit selbst.
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Ausdruck der seelischen aretē ist, dann kann sie als Schein nicht ebenfalls ein Gut sein und ist daher von diesem unabhängig. Der Schein der Gerechtigkeit kann kein Gut und kein Mittel neben anderen Gütern und Mitteln für das Hauptstreben nach Lust sein, denn die Gerechtigkeit ist Ausdruck der Güte der Seele und aller ihrer Teile. Die Einsicht in das Wesen der Gerechtigkeit erkennt das Gerechte als das Gute, welches Lust und Einsicht verbindet und die menschliche Seele sowie ihr Handeln gut sein lässt. Jedes seelische Streben kommt nur im Ganzen zum Seinigen und zu seiner Güte. Die Einsicht, dass es für die Seele das beste ist, gerecht zu sein, und dass sie nur als gerechte Seele auch eine gute Seele ist, führt das Streben der verschiedenen Seelenteile nach deren spezifischen Objekten, d.h. nach Einsicht und Lust, in die Einheit des seelischen Strebens überhaupt hinein und macht es von dieser Einheit abhängig, so dass das Streben nach Erkenntnis, Ehre oder Lust allein als ein Ganzes gut sein kann. Die Einsicht, dass die Seele gut ist, wenn sie gerecht ist, macht die Einzelbestrebungen und ihre Objekte abhängig von der Funktion, die sie im Ganzen und für dasselbe erfüllen. In einer gerechten Seele wird weder der Lust noch der Einsicht das jeweils Ihrige vorenthalten, weil das Gerechte jede seelische Partikulärintention zu ihrer eigenen Güte hinlenkt und ihr seine Güter vermittelt, und zwar abhängig vom Ganzen und von den Bedingungen seiner Güte. Jeder Seelenteil hat seine Lust und seine spezifischen Objekte (580d583a), und in einer gerechten Seele lässt sich jedes Streben in dem Maß realisieren, in dem es der Qualität des Ganzen als des primär Gegebenen und Erstrebten förderlich ist. Aus der Einsicht folgt die gute Lust, und das Erstreben der guten Lust gründet in der Einsicht, so dass beide keine exklusiven Alternativen bei der Bestimmung des Guten mehr sind. Die Einsicht ist demnach das Gute, sofern sie das Ganze ordnet, und die Lust ist das Gute, insofern sie der Ordnung des Ganzen entspringt. Jede Lust ist die Folge des Besitzes bestimmter Objekte und bestimmt sie im Verhältnis gegeneinander. Dazu muss sie sich des Vermögens der Vernunft bedienen, weswegen die Vernunft zu der Instanz wird, die das Wesen und die Güte aller Lüste kennt und vergleichen kann. Als Gegenstand der Einsicht zeigt sich die Gerechtigkeit. Die Einsicht unterscheidet zwischen notwendigen und nicht-notwendigen, zwischen schädlichen und unschädlichen Lüsten oder zwischen guten und nur scheinbaren Ehren, weil sie die Zusammenhänge und Folgeverhältnisse unter den Wissensgegenständen, den Wissenschaften und Wissensformen kennt. Zugleich bedeutet sie die Erkenntnis des Wesens, der Wahrheit und des Seins der jeweils erstrebten Objekte und der seelischen Vermögen. Platon beschreibt die Lüste als solche der Anfüllung durch bestimmte Dinge: Die an den Leib gebundenen Lüste sind daher an Anfüllungen des Leibes gebunden und eigentlich nur Entledigungen von Schmerzen. Die seelische Anfüllung mit Wissen und Tugend und die daraus resultierende Lust wird als dauerhafter und ‚wahrer’ beschrieben, weil ihre Gegenstände diese Eigenschaften besitzen. Das Wesen der Lüste richtet sich
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also nach dem Wesen ihrer Objekte.7 Die Lust am Wissen und an der Einsicht ist die angenehmste Lust, weil sie dauerhaft ist und nie eine Unlust nach sich ziehen kann, so wie es bei den anderen Lüsten der Fall ist. Alle Intentionen sind jedoch – ihrem jeweiligen Wissensfundament gemäß – auf ihre Objekte als agatha gerichtet und erstreben sie mit oder ohne Maß als solche. Aus der Anfüllung mit den intendierten Gütern resultiert eine bestimmte Form der Lust, mögen die Objekte nun um der Lust oder um ihrer selbst willen beabsichtigt sein. Das Anfüllende wird als on und agathon erstrebt, ebenso die Anfüllung – und dies gilt bei allen Strebeobjekten. Was aber primär erstrebt wird, hängt vom Wissensstand der Seele ab. Nur die Vernunft kann alles vergleichen und bewerten; und wenn sie dies tut, dann ist die Seele gerecht. Wenn die agatha als onta erstrebt werden und die Vernunft Wissen und Tugend als die seiendsten Gegenstände erkennt, so werden diese auch als die höchsten Güter erstrebt, während die anderen Güter sekundär werden. Die Gerechtigkeit führt die erstrebbaren Güter und ebenso die Seelenteile mittels des Maßbegriffs in eine komplexe, hierarchische Ganzheit hinein, in der alle dikaia als agatha erstrebt werden, um jeden Seelenteil mit dem spezifisch ihm Eignenden zu erfüllen. Nur dann, wenn die Seele tatsächlich etwas Gerechtes erstrebt, intendiert sie etwas Seiendes und Gutes und damit das, was sie eigentlich will, worüber sie sich allerdings irren kann. In diesem Irrtumsfall besteht irgendeine Form von Unwissenheit oder es dominiert ein Faktor, der den Vollzug und die adäquate Umsetzung des Wissens in das Handeln stört und ihren von Natur aus vorliegenden Übergangszusammenhang unterbricht. So kann man sich bezüglich dessen irren, was das Gute ist, ob das Gerechte immer das Beste ist oder was das Gerechte wesenhaft ist. Man kann sich hinsichtlich bestimmter Mittel täuschen oder trotz eines richtigen allgemeinen Wissens einen konkreten Handlungsfall falsch einschätzen. Gleichwohl besteht durch einen stets präsenten Wissensindex immer ein Bezug auf das Gute und das Gerechte, den man für angemessen hält. Das Wissen um das Gute ist eine unumgängliche Bedingung, um das Gute erlangen zu können; und so wird das Wissen immer als etwas Gutes und als Sein intendiert (382a-c). Nur Konzepte vom Guten und von bestimmten Objekten als Gütern können falsch sein, doch ist jedes Streben als solches auf das Gute gerichtet. In jeder gerechten Seele herrscht der denkende Teil, wobei Unterschiede in den Wissensformen bestehen. Zwar befähigt jedes Wissen vom Gerechten den Menschen dazu, gut und gerecht zu handeln – sei es nun ein doxisches oder ein gnomisches Wissen8 –, aber das doxische Wissen ist in seiner handlungsleitenden Funktion störungsanfälliger, weil das Wesen des Gerechten unerkannt bleibt und so nicht alle Fälle möglichen Handelns für sich Berücksichtigung finden. Wer gerechte Handlungen kennt, weiß noch nicht automatisch etwas vom Wesen der Gerech7
Es wird ersichtlich, dass nicht nur die Tugenden, sondern auch die Lüste innerlich zusammenhängen – und dies in erster Linie durch einen Wissensindex. 8 Vgl. Saunders [1968] 432; Schöpsdau [1984] 119; dagegen Vlastos [1969] 72.
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tigkeit in der Seele. Als Möglichkeit zur Sicherung auch der doxischen Gerechtigkeit greift Platon in der Politeia auf Einzelfälle und Spezialhandlungen zurück; in diesem Sinne sind die Aufzählungen schwerer Sünden, verdienstvoller Taten oder die Kriegsgesetze der Wächter zu verstehen (615b-d; 468a-471c). Platon versucht, konkrete Handlungsanweisungen für Partikulargruppen aus deren hauptsächlichem Handlungsfeld und ihrer primären Lebenssituation heraus zu geben. Die Paradoxe in der Politeia sind vor dem Hintergrund einer Art Doppelstrategie Platons zu sehen. Einerseits werden Güte und Gerechtigkeit prinzipiell in die Seele verlegt und als deren innere Verfassung und als ihr Sein selbst bestimmt, unabhängig von möglichen, daraus folgenden einzelnen (‚ontischen‘) Irrtümern und Fehlhandlungen, die den gerechten Status der Seele und ihre Letztintention auf das Gute und Gerechte gar nicht tangieren. Andererseits strebt Platon unablässig nach einem irrtumsfreien Wissen, das intellektuell fundierte Fehlhandlungen ausschließt und es erlaubt, die gerechte Seelenverfassung in jedem Einzelfall adäquat umzusetzen. Ein derart irrtumsfreies (dialektisches) Wissen besäße die Kenntnis vom Was-Sein aller Dinge, von ihren potentiellen Zusammenhängen, Kontexten und Bezügen, von ihren Grundund Folgeverhältnissen und von ihrem Wert innerhalb all dieser Hinsichten. Im Schlussmythos der Politeia (618a-d) erweist sich die Verbindung beider Faktoren daher nicht zufällig als für eine gute Wahl unerlässlich. Ein irrtumsfreies Wissen ließe bezüglich des Handelns keine Alternativen offen. Aber das menschliche Wollen ist grundsätzlich irrtumsanfällig: Grund und Folge, Absicht, Mittel und Zweck, Norm und Fall, Gesetz und Situation oder Wert und Unwert können bei objektbezogenen Handlungen unklar sein. Hierbei werden Irrtümer häufig von ihrem Zeitfaktor9 geprägt: Im eigentlichen Sinne gibt es nur vergangene Irrtümer, d.h., man erkennt Irrtümer erst später als solche. Ein Beispiel hierfür ist die Wahl des Tyrannen (619b-c). Bezeichnenderweise bleibt seine innerseelische agnoia trotz der Einsicht in die Falschheit seiner Wahl bestehen, wenn er anderen die Schuld an seiner Wahl zuweist. Eine einzelne Handlung kann durch einen Irrtum falsch sein, obwohl grundsätzlich eine gerechte Seelenverfassung besteht. Aber in einer ungerechten Seele herrscht die agnoia (amathia), so dass weder das Wesen der Dinge noch das der Seele bekannt sind. Im Status der agnoia hat das logistikon seine Ausgleichsund Maßfunktion eingebüßt und herrscht nicht mehr, weshalb letztlich alle Teile Schaden nehmen. In der Politeia gilt für jeden Seelenteil, dass seine spezifische Untugend eine Form der Ungerechtigkeit bildet, auch agnoia und amathia. Die Unwissenheit ist in allen Fällen ein Übel, doch zugleich gilt es zu unterscheiden 9
In der späteren Verfallsreihe folgt daher auch der Oligarch dauernd maßlos einer Lust, der Demokrat folgt nacheinander maßlos allen Lüsten und der Tyrann folgt gleichzeitig maßlos allen Lüsten. Zeitliche Stabilität erreicht allein die gerechte Seele. – Im ErMythos haben ethos und pathos eine zeitliche Natur und die Seelentaxis lässt sich nur in der Zeit herstellen, deren Inbegriff die Moiren sind.
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zwischen einer Unwissenheit, die sich nur in Spezialhinsichten irrt, und einer Unwissenheit, die fest in der Seele verwurzelt ist und das Ungerechte für das Bessere hält. Inwiefern die erste Form der agnoia als weit weniger ungerecht zu bezeichnen ist als die zweite Form, zeigt 450a-451c. In diesem Abschnitt wird nämlich einiges Grundlegende zur ethisch-praktischen Dimension des Logos als Logos gesagt. Platon unterwirft den Logos nicht nur – wie alles überhaupt Gegebene und Vorhandene – seiner Bestimmung des Wesens der Gerechtigkeit, sondern er deutet ihn auch – im Sophistes dann prinzipienontologisch vollendet – selbst als ein Seiendes, welches das Sein denkend erfasst und den Prinzipien des Seienden zudem selbst gemäß verfasst ist und entspricht. Nur innerhalb des Logos existiert die Unwahrheit als Verfehlung des Seins und seiner wahren Verhältnisse, weshalb in ihm Irrtum und Fehlhandlung identisch sind – anders als bei äußerem, zwischen Seelenteilen oder Seele und Objektwelt übergängigem Handeln (451a). Schon in 412e-413c wurde der Logos implizit als Handlung betrachtet, welche die Seele von etwas überzeugen oder sie einer Sache berauben kann. Wenn man sich im Gespräch irrt, dann schadet man sich selbst und den Dialogpartnern, so dass der falsche Logos zu einer ungerechten Handlung wird. Daran zeigt sich, dass beim Logos – weil er sowohl in der eigenen Seele als auch zwischen verschiedenen Seelen ein und dieselbe Struktur als dialegesthai aufweist – agnoia und adikia faktisch und im Vollzug, jedoch nicht bewusst und gewollt, zusammenfallen. Die Güte und die Aufgabe des Logos bestehen darin, die Wahrheit zu finden, sie in die Seelen hineinzutragen und dort zu befestigen. Der Logos ist kein Eigentum, das einer dem anderen mitteilt, sondern er ist, ebenso wie die Tugend, herrenlos und eine göttliche Gabe, an der alle Menschen teilhaben können – ein Beleg dafür ist der Logos des Propheten im Schlussmythos der Politeia. Der Irrtum im Logos ist stets unfreiwillig (336e), weil der Mensch dadurch schlechter wird; niemand verfehlt daher im Logos das Wahre freiwillig (451a).10 Allerdings bleibt zu unterscheiden zwischen einem vorsätzlich falschen Logos mit der Absicht, andere zu schädigen, einem vorsätzlich falschen Logos mit der Absicht, anderen zu nützen (331c; 382c-d), und einem ungewollt falschen Logos, der unter dem Vorsatz steht, anderen zu nützen. Im letzten Fall trägt man die agnoia als Übel in seiner Seele, handelt aber nicht ungerecht; die Absicht muss vom möglichen Schaden abgehoben werden. Im ersten Fall besteht auch eine Art der Unwissenheit in der Seele, aber nicht bezüglich der Wahrheit einer bestimmten Sache, sondern hinsichtlich der Aufgabe des Logos und der Untrennbarkeit von Güte und Gerechtigkeit. Man weiß nicht, dass man sich durch eine ungerechte Handlung selbst am meisten schadet. Der Logos ist 10
Die Termini, die einen Irrtum im Logos bezeichnen, etwa hamartia oder sphallesthai, sind allesamt Handlungsverben, die den Handlungscharakter des Logos betonen. Auch im Logos ist ein Irrtum nur als vergangener fassbar. Im Logos selbst besteht bereits ein immanenter Übergang vom Erkennen zum Handeln.
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seinem Wesen nach immer ein Logos von Wahrem, aber auch bei ihm trifft die Praxis das wahre Wesen weniger als der Logos an sich (473a). Denn in der ‚Handlung‘ eines konkreten Gesprächs kann der Handelnde das Wesen einer Sache oder des Logos selbst verfehlen; in beiden Fällen gelten dann dieselben Maßstäbe ethischer Bewertung und möglicher Bestrafung wie in anderen Fällen falschen Handelns. Bei einem unvorsätzlich falschen Logos, der mit einer guten Absicht verbunden ist, sind der Irrtum und die Unwissenheit immer schon als Möglichkeiten einkalkuliert, anders als bei einer schädigenden Lüge, bei der die Unwissenheit sich für Wissen hält (451a-b) und darum allen schadet. Auch für den Schlussmythos der Politeia sind die Paradoxe von höchster Relevanz. Bei der Wahl des Lebensloses werden viele falsche Entscheidungen getroffen, die in falschen Meinungen, alogischen Einflüssen oder oberflächlichen Gewohnheiten gründen, wobei es generell unmöglich ist, das Schlechtere als solches zu erkennen und es doch dem Besseren vorzuziehen. Wählt man also etwas Übles, dann wählt man es in dem Irrtum, es sei gut. Weder das Wesen des Guten noch des Gerechten sind hier erkannt worden. Denn mit der Erkenntnis des Guten und mit der Herrschaft der Vernunft wird die Freiheit des Handelns im Sinne einer Indifferenz gegen Gut und Übel aufgehoben – es besteht dann keine Freiheit mehr, das Üble dem Guten vorzuziehen.11 Eine Freiheit von der vernunftgemäßen Ordnung gibt es unter der Herrschaft der Vernunft nicht. Für den Standpunkt wahrer Einsicht sind irrtumsbedingte Wahlen scheinbar frei von einer vernunftgemäßen Ordnung, sofern sie das Schlechtere wählen. Aber auch falsche Wahlen stehen in der Ordnung des Ganzen, weshalb auch ihre Folgen zu verantworten sind (617d-e). Wahre Freiheit fällt für Platon nicht mit der naturgegebenen12 Wahlfähigkeit oder sogar Wahlnotwendigkeit zusammen, die mit ihrer formalen Gleichberechtigung konträrer Alternativen eigentlich als Unfreiheit anzusehen sind. Freiheit ist Selbstbestimmung zum Guten unter der Herrschaft der Vernunft, mittels derer man seinem Wissensstand gemäß die herrenlose Tugend erstreben kann. Der Förderung und Stabilisierung dieser Freiheit sollen auch Platons Ausführungen zur Bildung dienen. Der von ihm konzipierte Staat ist in diesem Sinne ein Bildungsstaat, in dem allein pädagogische Gesetze erforderlich sind.13 Der Schlussmythos zeigt sowohl die Unverzichtbarkeit als auch die Grenzen der 11
Vgl. Stenzel [1928] 296; Pétrement [1947] 6 und 88-95. Die Wahl wird als Werk der bloß seienden Seele betrachtet, während die gute Wahl ihr gutes ergon bildet. Aufgrund seiner Ontologisierung der Seele, des Logos, der Wahlfreiheit oder der aretē fasst Platon alles Wirken einer Entität als Technik auf, die das jedem Gebührende tut und es ihm vermittelt. Jede menschliche Handlung wird auf diese Weise zum der Technik gemäßen Werk der menschlichen Gerechtigkeit, so dass Theorie und Praxis auf derselben ontologischen Ebene als Folgeverhältnis gedacht werden können. – Vgl. Maurer [1975] 259-284, bes. 263. 13 Vgl. Jaeger [1947] 65; Maurer [1970] 190-191. 12
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durch Bildung hervorgebrachten menschlichen Tugend. Einerseits kann nur die paideia die Unwissenheit korrigieren; andererseits hat die Lehrbarkeit der Tugend ihre Grenzen, denn trotz aller Möglichkeiten zu lernen, treffen die wenigsten Seelen eine wirklich gute Wahl (619c-d). In seinem Bildungskonzept entwickelt Platon das Wissen und die verschiedenen Tugenden der Seele parallel, was die Möglichkeit schaffen soll, alle handlungsbeeinflussenden Faktoren zusammen auszubilden. Unwissenheit, Zorn und Lust sollen als Quellen seelischer und praktischer Ungerechtigkeit im selben Prozess ausgeschaltet werden. Dabei ist der Erziehende darum bemüht, die zugrundeliegenden Seelenteile in einen Zustand zu bringen, in dem sie einander stützen und nicht miteinander im Kampf liegen.14 Das die Tugend begründende Wissen kann einzig auf pädagogischem Weg entwickelt werden – ein Prozess, der lebenslang währt. Eine im höchsten Sinne im Wissen gründende Tugend bedarf einer langen Hinführung, während der Mensch doch beständig handeln muss und auch auf dem Weg zum höchsten Tugend-Wissen schon einer sicheren intellektuellen Handlungsgrundlage bedarf (orthē doxa). Der Wahlakt ist auf das künftige Leben der Seelen gerichtet: Vor jeder Seele, die mit ihrer Wahl an der Reihe ist, liegt eine Vielzahl möglicher Lebensganzheiten ausgebreitet (618a-b) – weit mehr, als Wählende anwesend sind. Die Muster sind stets aus Gütern und Übeln zusammengesetzt, so dass die Seele genau abwägen muss, welches Muster insgesamt das beste für sie ist, denn ein von Übeln völlig freies Leben gibt es nicht. Zu den Elementen der Muster gehören verschiedene materielle Güter, Naturanlagen, Gemütseigenschaften, Charakterdispositionen und einzelne konkrete Handlungssachverhalte (618a-d; 619c1-2), was die Muster allesamt zu aggregativen Mischungen macht. Die Ganzheit aller Mischungen ist als primäres Gut abzuwägen, wozu allein die Vernunft in der Lage ist, weil nur sie alle Güter, Übel und Intentionalobjekte kennt und ihren Wert bestimmen kann. Jedes einseitige und partiell ausgerichtete Streben führt zwangsläufig zu einer falschen Wahl. So wählt etwa in 619b-c eine Seele aus Torheit und Gier die Tyrannis, steht folglich unter der Herrschaft bestimmter Affekte (Lust) und nicht unter der der Vernunft. Die Komplexität jedes Musters fordert von den Seelen, das Gute durch das Gerechte zu suchen und mittels des Maßbegriffs die Einheit und Güte komplexer bioi zu erkennen und zu wählen. Nur im gerechten Leben sind die Einzelbestrebungen der Seelenteile abgemessen-reduziert verträglich.
14
Auch hier wird die Aufnahme der Gründe des Verlusts wahrer Meinungen aus 412-413 erkennbar. So vergessen die Himmelswanderer durch Lust und Zeit ihre Meinung (619c); die Erdwanderer erwerben hingegen gute Meinungen durch die erlittenen Schmerzen (614d-615a; 619d); und der Prophet lässt sich als Überredung durch die Zeit selbst verstehen, die zu guten doxai hinleiten soll. Im Er-Mythos steht nicht der Verlust, sondern der Erwerb wahrer Meinungen im Vordergrund, aber die Gründe sind dieselben wie in 412-413.
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Eine Wahlentscheidung kann aufgrund mehrerer Faktoren getroffen werden. Erstens sind Wissen und Bildung jeder Seele maßgebend; sie bestimmen, wie weit jedes Muster in seinen Wechselwirkungszusammenhängen erkannt werden kann. Dazu ist die Fähigkeit des dialektischen Trennens in einem Ganzen notwendig. Dies wird dadurch angezeigt, dass der für die Wahl gebrauchte Terminus hairesis (617e1) einen Bestandteil des zur Dialektik gehörenden Begriffs dihairesis bildet. Zweitens können Affekte oder Leidenschaften die Wahl der Seele beeinflussen; darunter fallen aktuale Regungen wie Lust und Schmerz oder Antizipationen derselben wie etwa Hoffnung, Erwartung oder Erinnerung (584c; 604d). Die Wahl kann also grundsätzlich durch das logistikon oder das alogon dominiert sein. Drittens bestimmt das frühere Leben der Seele die Wahl, wobei die Seelen sich wiederum primär entweder durch den Verstand oder Affekte auf ihr voriges Leben beziehen können; entsprechend können sie aus ihren früheren Fehlern lernen oder durch einen negativen Affekt von ihnen abgehalten werden. Der Einfluss des früheren Lebens nimmt in dem Maße zu, in dem die Vernunft ihre Leitungsfunktion einbüßt (620a-c); die meisten Seelen vergegenwärtigen ihr voriges Leben bei der Wahl und erwarten das Zukünftige aus ihm heraus, wogegen die vernunftgeleitete Wahl zeitlos ist. Wissen und Einsicht sind zeitlos; und wenn sie eine Seele leiten, dann achtet diese in erste Linie auf die Qualität der Wahl selbst, in der sich die Beschaffenheit der Seele am reinsten widerspiegelt, während die Güte des gewählten Lebens bloß eine abgeleitete Folge bildet.15 Eine gerechte Seele erstrebt das Gute um seiner selbst, nicht um seiner Folgen willen. Wenn der Er-Mythos als Schilderung der Folgen eines gerechten Lebens eingeführt wird, so bindet Platon im Motiv der Wahl diese Folgen wieder an das ihnen Zugrundeliegende. Er setzt die wahlbestimmenden Faktoren durchgängig zu seiner Psychologie in Beziehung, d.h., das Wahlmotiv steht unter der Prämisse der Dreiteiligkeit der Seele: Alle drei Seelenteile können die Wahl leiten, aber ausschließlich unter dem Primat der Vernunft kommt es zu einer konfliktfreien Situation zwischen ihnen. In 611e-612a deutet Platon allerdings die Möglichkeit einer eingestaltigen Seele an. Nach der im Schlussmythos aufgestellten Prämisse ist die Tugend nicht nur Wissen, sondern auch die anderen Seelenteile müssen das Ihrige tun, um die gesamtseelische Güte zu gewährleisten. Unter den idealen Bedingungen einer gereinigten Seele mögen Tugend und Wissen zwar völlig identisch sein, aber diese Bedingungen gelten im Bereich der Ananke eben nicht. In ihrer Region ist die Seele dreiteilig und die Tugend wohl mehr als Wissen, aber doch notwendig in ihm fundiert. Das Wissen ist immer an der Tugend und die Unwissenheit immer an der Untugend beteiligt. Bei einem 15
Vgl. 349b, wo der Gerechte nur die gerechte Handlung selbst will. – In 443d-444a beschreibt Platon am Ende der Bestimmungen zur Gerechtigkeit und am Übergang zur Beschreibung des Philosophenstaats die Rolle der Gerechtigkeit bei einer idealen Wahl im Sinne des Schlussmythos. Bei einer solch idealen Wahl tun alle Seelenteile das Ihrige, wozu die Herrschaft der Vernunft erforderlich ist.
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ganzen Leben, wie es im Schlussmythos gewählt wird, kann man einzelne Irrtümer, Fehlhandlungen und Übel als untergeordnet betrachten. Platon negiert nicht an sich das empirische Faktum falschen Handelns trotz eines bestehenden Wissens. Aber auch hierbei gilt, dass der Logos das wahre Wesen mehr trifft als die Praxis, als welche die Wahl im Grunde anzusehen ist.
VERANSCHAULICHUNG DES UNANSCHAULICHEN: PLATONS NEUE RHETORIK IM SCHLUSSMYTHOS DES GORGIAS Georg Rechenauer I Mit der Dichtung hat Platon seine sattsam bekannten Schwierigkeiten gehabt – jedenfalls soweit es den Blick des Philosophen auf die landläufige Ausformung dichterischen Schaffens im zeitgenössischen Umfeld angeht. Die Angriffe, die er an zahlreichen Stellen seines Werkes mit Vehemenz vorträgt, sind dabei nach zwei Stoßrichtungen hin orientiert. Zum einen wendet sich Platon gegen die Inhalte poetischer Literatur, von denen er aufgrund ihrer Ausfüllung mit moralisch bedenklichen Stoffen des traditionellen Mythos einen gefährlichen Nachahmungsimpuls ausgehen sieht.1 Zum anderen schreibt er der Dichtung aufgrund ihrer Darbietungsform ein beträchtliches Gefährdungspotential für die Seelen der Rezipienten zu. So rege die dramatisch-mimetische Präsentation das Seelenleben zu unkontrollierten Bewegungen und Emotionen an, vor allem aber verfehle Dichtung in ihrer intentionalen Orientierung auf Schein erzeugende Mimesis jeden Anspruch auf Vermittlung von Wahrheit.2 Angesichts eines solchen Bewertungsrahmens von Dichtung und Mythos fällt es nicht leicht, die Tatsache, dass Platon selbst in seinen philosophischen Dialogen eine Reihe von poetischen Mythen eingefügt hat3, angemessen zu bewerten.4 Lösungen dieses Problems, hinter dem sich unschwer der Antagonismus von Philosophie und Dichtung, von Wahrheitsanspruch und ästhetischem Genussangebot ausmachen lässt, hat man in verschiedenerlei Richtungen versucht. Sofern man hier auf der Inkonsistenz zweier Polaritäten beharrt, die sich unvermittelbar gegenüberstehen, bleibt im Grunde nur der Ausweg, in Platons literarischem Gebaren einen eklatanten Widerspruch zu dem theoretischmethodischen Anspruch seiner Philosophie zu akzeptieren. Dieser ließe sich allenfalls mit der Annahme erklären, Platon sei als philosophischer Denker von seinem eigenen poetischen Genie – welches auch von der antiken biographischen Tradition reichlich bezeugt ist – bezwungen worden, ja diesem regelrecht
1
Z.B. Euthyphron 6b; Kritias 109b; Politeia 391d; Nomoi 886c–d; 941b. So Kritias 109b; Politeia 377d ff. 3 Die seit den Arbeiten von Couturat [1896], Stewart [1905] und Frutiger [1930] viel diskutierte Frage, welche Passagen im platonischen Œuvre jeweils als Mythen zu nehmen sind, muss hier nicht weiter vertieft werden. Hilfreich für das Verständnis dieses Problemkreises sind die Arbeiten von Hirsch [1971] 220ff.; Moors [1982]; Smith [1985]. 4 Wiederholt ist von einer „Paradoxie der Rückkehr zum Mythos“ die Rede, so bei Krüger [1948] XXXIX; Gregory [1968] 274f. 2
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zum Opfer gefallen.5 Doch erweist sich dieser Standpunkt insofern als inakzeptabel, als er nicht zwischen der vorgefundenen, von Platon inkriminierten poetischen Produktion anderer und der von ihm selbst betriebenen poetischen Praxis unterscheidet. Platon selbst gibt ja in der Politeia deutliche Hinweise dafür, dass er sein eigenes Verständnis einer neuen Dichtung in klarer Absetzung gegen die üblichen Inhalte und Formen praktizierter Poesie sieht.6 Aber auch wo man diese Differenzierung beachtet, liegt es nahe, das problematisch erscheinende Verhältnis Platons zum Mythos mit dem milden Licht einer Lizenz zu verbrämen. So versteht der dem romantischen Modell einer Entwicklung „vom Mythos zum Logos“ verpflichtete genetische Interpretationsansatz den platonischen Mythos als vorgreifende Darstellung dessen, was durch den Logos „noch nicht“ darstellbar ist, als ein „Durchgangsstadium auf dem Erkenntnisweg“ und einen „vorläufige(n) Stellvertreter des Logos“.7 Dagegen spricht freilich, dass Platon die Mythen als Darstellungsform nicht etwa nur in den frühen Schriften nutzt, sondern auch in allen späteren Stadien seines Schaffens bis hin zum Timaios und den Nomoi unverändert beibehält, wo längst ein rein begrifflich-abstraktes Verständnis gewonnen sein müsste. Die durchgängige Verwendung des Mythos in allen Schaffensperioden steht in klarem Widerspruch zum Postulat einer derartigen Entwicklung hin zu einer unbildlich-abstrakten Ausdrucksform. Offensichtlich war es für Platon zeit seines Lebens kein ernstliches Anliegen, zu der nach dieser Hypothese zu postulierenden Entbildlichung des philosophischen Denkens zu gelangen.8 Und schließlich sollte man nicht vergessen, dass Platon die Mythen im Gorgias, im Phaidon und in der Politeia in ein unbeantwortetes Schweigen ausklingen lässt, also gerade durch die Schlussposition des Mythos im Dialog unterstreicht, dass es ihm nicht auf eine Fortführung oder Verbesserung durch den Logos ankam. Aber auch der damit verwandte Ansatz, Platon springe immer dann zum Mythos 5
Ein signifikantes Plädoyer in dieser Richtung gibt Kaufmann [1959] 240ff. Diese Linie führt in letzter Konsequenz zu einer Deutung, die den platonischen Mythos als trügerisch-illusorische Rede nimmt und ihm damit jede philosophische Relevanz abspricht, wie dies bei Couturat [1896] der Fall ist. Hierher gehört auch Reinhardt [1927], nach dessen Auslegung der Mythos ein ironisches Gedankenspiel sei, mit dem Platon die Dialektik durchbreche und das er selbst nicht ernst gemeint habe. 6 Politeia 377b ff. 7 Hauptvertreter der genetischen Deutung ist Stöcklein [1937] (Zitat S. 3). Initiiert ist sie von Hegel [1959] 211, wo der platonische Mythos aus dem „Unvermögen, den Menschen reinere Darstellungen des Gedankens zu geben“, erklärt ist, und Zeller [1963] 580: „Der Mythos ... nimmt ahnend voraus, wofür ihm der begriffliche Ausdruck noch fehlt“. Der Antizipationsgedanke begegnet auch bei Schleiermacher [1804] 47f. 8 Gegen eine solche Reduktion von Platons philosophischem Anliegen auf ein vernünftiges Fundament hin durch Entbildlichung und Entgeschichtlichung als Konsequenz der genetischen Interpretation wendet sich mit Recht Beierwaltes [1989] 276.
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um, wenn die Untersuchung besonders schwierig zu werden anfange und nach einer affektiven Auflösung verlange9, stellt eine zu dürftige Antwort bereit. Denn Platon jagt oftmals den Leser durch die schwierigsten logischdialektischen Untersuchungen, ohne dabei Skrupel zu haben. Während die genetische Deutung den Mythos, als Vorschaltstufe des Logos verstanden, diesem klar unterordnet, legt der wahrheitsessentialistische Ansatz eine umgekehrte Stufung zugrunde. Demnach fungiere der Mythos als eine Art „Ur-Offenbarung“ aus göttlicher Quelle, die über dem Logos steht; er repräsentiere eine höhere Wahrheit, die sich zwar keiner nachprüfenden Vergewisserung erschließe, die aber mit zwingender Stringenz zum Glauben hinführe.10 Die Plausibilisierung dieser Deutung wird dabei vor allem durch die Beobachtung untermauert, dass die Präsentation der Mythen jeweils in einer bestimmten Distanz zur Person des Hauptdialogsprechers Sokrates erfolgt. Denn dieser legt die Mythenerzählungen nicht als unmittelbar eigene Anschauung dar, sondern rückt sie demonstrativ in einen anscheinend wahrheitsgarantierenden Beglaubigungskontext, indem er sie auf eine – zumeist nicht genau genannte – Instanz höherer Autorität zurückführt. Der Mythos wird damit zu einer inspirierten Rede, deren Wahrheitscharakter durch die Rückbindung an eine göttliche Quelle verbürgt sei .11 Zwar ist richtig, dass Platon für seine Mythen Wahrheit reklamiert, aber dieser Wahrheitsanspruch kann sich nicht unabhängig vom Logos entfalten. Denn um diesen zu verwirklichen, bedarf der Mythos notwendig einer inneren Logizität, liegt ihm selbst ein bestimmender Logos zugrunde. Der Mythos bedeutet also nicht die regelrechte Eskamotierung des Logos. Sonach scheint angesichts von Platons Umgang mit dem Mythos weder eine Unterordnung noch eine Überordnung eine akzeptable Deutungsperspektive abzugeben. Es muss also darum gehen, „eine verantwortbare, sinnvolle Mitte“ zwischen den beiden Denk- und Darstellungsformen zu finden12, die deren Verhältnis unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität begreifen lässt. II Um auf diesen Problemkreis eine, wenn auch nicht allumfassende, so doch exemplarische Antwort zu finden, soll hier besonders der Mythos des Gorgias Beachtung finden. Dieser Passus bietet sich aus mehreren Gründen für eine solche Behandlung an. Denn im Gorgias liegt das früheste Beispiel eines 9
So Stöcklein [1937] 51 mit Bezug auf Reinhardt [1927] 77. Dieser Ansatz v.a. bei Pieper [1962]; [1965]. Ähnlich v. Loewenclau [1958]. Dagegen betont Brisson [1982] 113 die Eigenheit des Mythos als „discours invérifiable“ im Unterschied zum Logos als „discours vérifiable“. 11 Vgl. Pieper [1962] 294. 12 Die Formulierung bei Beierwaltes [1989] 277. Für einen solchen „dritten Weg“ plädiert auch Kobusch [1990] 16. 10
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Mythos vor, der aufgrund seiner Verlautung aus dem Mund des Sokrates als eigentlich platonisch angesprochen werden kann. Hier lässt Platon erstmals einen Mythos in eigener Sache vortragen, der nicht mehr von den aporetischen Implikationen der Frühdialoge belastet ist.13 Sodann wird hier mit einer mythischen Beschreibung des Jenseits erstmals ein Thema angeschlagen, das fortan in dieser Gestalt die Dialoge Platons durchzieht. Der Mythos handelt wesentlich vom Bereich des Transzendenten, Jenseitigen, wobei er speziell die Verschränkung dieser Sphäre mit der Geschichte der Seele expliziert. Von daher gesehen dürfte die Relation von mythischer Darstellung und logischer Explikation, wie sie hier entwickelt ist, für Platons Umgang mit dem Mythos auch im Weiteren wegweisend gewesen sein. Schließlich stellt der Mythos im Gorgias aufgrund des thematischen Zusammenhangs mit der Frage nach dem rechten Verständnis von Rhetorik eine Antwort bereit, die auch für die Bestimmung von Platons Verhältnis zur dichterischen Gestaltung von Relevanz sein dürfte. In dem Zusammenspiel von Rhetorik und mythisch-bildhafter Vergegenwärtigung wird hierbei ein Anspruch kenntlich, der sich unbedingter Wahrheit verpflichtet weiß. Der Mythos wird damit für Platon zum Instrumentarium für eine Überwindung der traditionellen Rhetorik, mit dem eine Neufundierung einer philosophischen Poetologie erbracht werden soll. Eine solche Neubegründung kann er aber nur deswegen leisten, weil sich in ihm eine Erkenntnisdimension erschließt, die eine über die unmittelbare Sinnlichkeit hinausführende Veranschaulichung des Unanschaulichen bereithält. Insofern der Mythos dabei die Sphäre eigentlicher Wirklichkeit gegenüber dem vordergründigen Weltzugang des bloßen Wähnens und Meinens enthüllt, hat er es mit Rationalität zu tun und verfolgt ein aufklärerisches Ziel. In einem Punkt tritt dabei seine Überlegenheit gegenüber dem Logos besonders hervor, nämlich in dem Vermögen des Mythos, zwischen bloßer Theorie und Realität eine Vermittlung herzustellen. Der Gang der Betrachtung soll sich dabei an folgende Aspekte halten: Zunächst muss es darum gehen, das rezeptionsästhetische Potential des Mythos in dem Zusammenspiel mit dem dialogischen Partien kenntlich zu machen. Hier wird besonders die Dimension der Theatralizität, welche der Mythos im Zusammenhang mit Veranschaulichung eines Geschehens leistet, zu beachten sein. In einem weiteren Schritt ist die kontextuelle und gedankliche Verbindung mit dem vorausgehenden Dialog und seiner Argumentation zu verdeutlichen. Insbesonders muss es dabei um das Problem gehen, ob sich eine innere Notwendigkeit für den Mythos im logischen Duktus des Dialogs aufweisen lässt. Leitend wird dabei die Frage sein, ob es gewissermaßen offene Stellen im
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Dies gerade im Unterschied zu dem Mythos des Protagoras, an dem ja strittig ist, inwieweit er ein Reflex der historischen Gestalt des Sophisten Protagoras ist. Dazu auch Schmidt [1986] 22.
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Argumentationsgang des Dialoges gibt, die nicht voll abgedeckt sind und damit die Beweiskraft des Logos als defizitär erscheinen lassen können. Danach kann der Rang der Erkenntnisdimension, den der Mythos verleiht, genauer bestimmt werden. Auf dieser Basis wird sich dann auch das Anliegen Platons als Etablierung einer neuen Rhetorik in der Mythologie klarer fassen lassen. III Die Einführung und Präsentation des Mythos im Gorgias stellt in mehrfacher Hinsicht einen Umbruch im Kontext der Dialogsituation dar. Platon hatte den bisherigen Verlauf der Unterredung des Sokrates mit seinen verschiedenen Dialogpartnern (Gorgias, Polos, Kallikles) als ein – in der Regel – zweiseitiges Wechselgespräch gestaltet, worin die jeweiligen Fragepunkte in einer alternierenden Sequenz des logisch-argumentativen Austausches erörtert werden. Dieses dialektische Verfahren ist in der Weise angelegt, dass alle vorgebrachten Argumente und Standpunkte permanent einer Rechenschaftsprüfung unterworfen werden, in der sie ihre Vernünftigkeit und Haltbarkeit unter Beweis stellen sollen. Das Ziel, das mit dieser Methode verfolgt wird, ist die Verifizierung einer ungeteilt akzeptablen Argumentation, die das Subjektive des jeweiligen Standpunktes überwindet und damit zwischen den Dialogpartnern nicht strittig sein kann. Was den im Dialog vermittelten Aspekt auf den Gesprächsgegenstand angeht, so vollzieht sich dessen Behandlung nicht in einer globalen Allgemeinbetrachtung, sondern in jeweiliger Konzentration auf die diversen Facetten eines einzelnen, für sich isolierbaren Gegenstandes: Hier geht es um die Frage nach der Leistung der Rhetorik für die Lebensführung des Menschen. Dabei wird der Fragegegenstand in einer Vielzahl gedanklicher Einzelschritte umkreist und abgesucht, wobei die Abfolge dieser Schritte nicht durchgehend vom Prinzip der logischen Kohärenz und Hierarchie bestimmt ist, sondern gelegentlich auch kontingent erscheint. Unbeschadet der Frage, inwieweit Platon nun mit dieser Form des dialektischen Gesprächs sein eigenes Verständnis einer Idealform philosophischer Didaktik propagieren wollte14, kann doch die unmittelbare Wirkweise dieser literarischen Form auf den Rezipienten außer Zweifel stehen. Dem Leser wird das philosophische Gespräch in mimetischer Form präsentiert, er wird zu einem kritischen Mitvollzug der jeweiligen Gedankenexplikation aufgefordert, um selbst die Triftigkeit der Argumentation zu verifizieren. Er nimmt also an dem 14
Die Spannweite dieses Problemkreises sei hier nur angedeutet. Sie reicht von einer didaktischen Deutung der Dialogform der platonischen Schriften bei Schleiermacher über eine Auslegung als Methode des offenen Philosophierens (S. Kierkegaard, P. Friedländer, H. Gundert) bis hin zu einem Verständnis, das vor allem auf die Aporien und Leerstellen der Dialogführung Bezug nimmt und darin ein Verweisungspotential auf die sog. ungeschriebene esoterische Lehre Platons herausstellt.
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Logos wie an einem Weg teil, der ihn von Standpunkt zu Standpunkt führt, wobei man von den einzelnen Punkten jeweils einen auf den größeren Fragehorizont bezogenen Problemkreis erschließt, der sich aber immer nur auf einen Teil des Ganzen erstreckt. Ganz anders hingegen die Präsentation des Mythos, bei der die für den Gorgias greifbaren Merkmale ohne weiteres mit denjenigen der übrigen platonischen Mythen übereinkommen.15 Der Mythos weicht zunächst rein formal vom dialogischen Umfeld darin ab, dass hier das zweiseitige Wechselgespräch, das Sokrates ja selbst nach der Kapitulation des Kallikles (Gorg 505c) fiktiv fortgeführt hatte, verlassen wird und an dessen Stelle die in sich zusammenhängende Langrede eines Einzelnen, ein Monolog tritt. Damit ist das Prinzip des alternierenden Standpunktwechsels aufgegeben, die Perspektive, in der die Darbietung des Inhaltes erfolgt, wird monoform. Manifestiert sich der Dialog als Rede von unterschiedlichen Standpunkten aus über je einen Gegenstand, so der Mythos als Rede von einem Standpunkt aus über einen Komplex verschiedener Gegenstände und Sachverhalte. Entsprechend handelt etwa der Gorgias-Mythos (Gorg 523a ff.) davon, dass im Anschluss an den Sturz des Kronos seine Söhne Zeus, Poseidon und Pluton sich die Herrschaft teilten, wobei aber trotz der Herrschaftsablösung das Gesetz, dass sich die menschlichen Seelen für ihre Taten zu verantworten hätten und gemäß ihren Verdiensten belohnt oder bestraft würden, beibehalten wurde. Sodann wird das frühere Gerichtsverfahren über die Seelen, bei dem die Menschen noch zu ihren Lebzeiten von lebenden Richtern beurteilt wurden, mit seinen Nachteilen oftmaliger Fehlurteile thematisiert (523b), weiters die Forderung nach einem Wandel der Beurteilungspraxis durch Zeus, die darauf hinausläuft, dass die Menschen den Zeitpunkt ihres Todes nicht mehr vorauswissen und die in ihrem Leben begangenen Fehler nicht mehr vor Gericht kaschieren können sollen, weiters die Einsetzung der drei Totenrichter (524a) und schließlich die neue Form des Jenseitsgerichtes, durch welche sich, da die Menschen nunmehr erst nach ihrem Tod allein anhand ihrer Seele beurteilt werden, eine wesentliche Verbesserung bisheriger Missstände ergibt (524b– 526c). Dabei läuft diese umfassendere Perspektive auf eine Fülle von Gegenständen keineswegs der einheitlichen Fokussierung von Seiten des Wahrnehmungsstandpunktes zuwider, insofern hier auf der Objektseite eine strikte Kohärenz gegeben ist. Der Mythos repräsentiert eine Gesamtschau auf einen Geschehenszusammenhang, der den Koordinaten von Raum und Zeit einschreibbar ist und sich, entsprechend den dort gültigen Kriterien gestaltet, als ein Verlauf wahrnehmbarer Wirklichkeit darstellt. Im vorliegenden Fall umspannt die räumliche Verortung des Geschehens neben der oberirdischen Sphäre, die entsprechend der Nennung der Erdteile Europa und Asien im Sinne 15
Wertvolle Anregungen zu den folgenden Ausführungen bei Mattéi [1988].
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der gesamten bewohnten Welt, der oikoumenē zu verstehen ist (524a)16, den gesamten Bereich der Unterwelts- und Jenseitsregionen einschließlich des Tartaros und der Inseln der Seligen (523b). Dabei ist die Raumperspektive besonders auf die Wiese am Kreuzweg (524a) fokussiert, auf der fortan das neu zu praktizierende Seelengericht stattfinden soll. Mit diesem Ort ist gewissermaßen der zentrale Mittelpunkt der Welt bestimmt, an dem sich die Ebenen von Ober- und Unterwelt horizontal und vertikal schneiden. Hierher führen die Straßen aus Europa und Asien, auf denen die Seelen von der Oberwelt zur Gerichtsstätte herunterkommen. Und von diesem Kreuzungspunkt führen zwei Straßen ab, auf denen die Seelen ihrem weiteren Geschick in der Unterwelt entgegengehen, hierhin zur Insel der Seligen, dorthin zum Tartaros. Die Topographie dieses Ortes ist also von einer vierteiligen geometrischen Zentrizität bestimmt, in ihm kommt alle Fortbewegung der Seelen zur Ruhe, wie sie auch von hier aus wieder auf neue Bahnen gehen. Dabei ermöglicht es gerade dieser Stillstand, dass die Seelen ihre eigentliche Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. In diesem Zentrum, das den Bereich des statischen „Zwischen“ zu allen Bereichen seelischer Bewegtheit, zu Leistung und Anspruch markiert, decken sich seelische und kosmische Wirklichkeit, hier verschmelzen die zirkulären Strukturen des Mikrokosmos der Seele wie des Makrokosmos der Welt.17 Denn es besteht eine klare Analogie zwischen der Beschreibung des „daimonischen Ortes“ im Jenseits als Zentrum der Welt und der Zirkularität der Seele, die sie ihre Wanderung im Kreis vollführen lässt. Somit manifestiert sich in dieser Identität ein Gesetz kosmischer Gleichheit und Harmonie. Denn wie Sokrates gegenüber seinem Widersacher Kallikles betont (507e–508a), „Himmel und Erde, Götter und Menschen werden von Gemeinschaft, Freundschaft ... und Gerechtigkeit zusammengehalten (synechein)“, das Weltganze kann nur in geometrischer Gleichheit bestehen, nur dann ist es Kosmos und Ordnung. Dieses universale Gesetz der Analogie, für das der Sophist blind bleibt, bindet die Welt wie mit stählernen Banden und sichert ihren Bestand (508a; 509a). 16
Nach antikem Verständnis, wie es etwa in der Erdbeschreibung des Hekataios von Milet zugrunde liegt, zählte Afrika (Libyē) zu Asien. Der Bezug auf die oberirdischen Regionen ergibt sich zweifellos auch aus der Beschreibung des früheren Gerichtsverfahrens, bei dem die Menschen noch zu Lebzeiten von lebenden Richtern beurteilt wurden (523b). 17 Ebenso rechnen die Jenseitsmythen in Phaidon und Politeia mit einem solchen Zentralpunkt für die Wanderung der Seelen. Für den Neuplatoniker Proklos, der die ähnliche Ortstruktur der drei Nekyiai in Gorgias, Phaidon und Politeia herausstellt, ist klar, dass Platon mit dem „daimonischen Ort“ dieses Kreuzungspunktes „nichts anderes als die Mitte des ganzen Himmels“ gemeint habe (In Platonis Rem publicam commentarii, ed. W. Kroll, Bd. II, S. 133, Z. 8–10). Proklos erblickt hier eine Analogie zu dem X der Weltseele im Timaios 36b–c. Nach Porphyrios kannten die Ägypter ein Zeichen, wo das X von einem Kreis umgeben war und symbolisch die Weltseele repräsentierte (Proclus Diadochus, In Platonis Timaeum Commentaria, ed. E. Diehl, Bd. II, S. 247, Z. 18–20).
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Im weiteren Unterschied zur Dialektik, die zeitloser Abstraktion verhaftet bleibt, gewinnt der Mythos eine zusätzliche Darstellungsdimension auf konkrete Wirklichkeit hin darin, dass er als Erzählung in der Zeit gestaltet ist.18 Er entwirft in einem synoptischen Zugriff auf die dem Geschehen zugrunde liegende Zeitstruktur ein geschlossenes Bild eines Wirklichkeitszusammenhangs, das sich in den Kontext menschlicher Erfahrung und Vorstellung einbettet. Aber auch hierbei geht es um den Blick auf das Ganze. Denn die platonische Erzählung bringt den Hörer zurück an den äußersten Anfangspunkt der Welt: Das Gerichtsverfahren über die Menschen wird seit erdenklichen Zeiten geübt, es bleibt auch im Übergang der Weltherrschaft von Kronos auf Zeus erhalten, allerdings erfährt es dann, nachdem sich mit zunehmender Dauer dessen Untauglichkeit herausgestellt hat, eine entscheidende Modifikation. Und diese Veränderung wird in einer Weise dargestellt, dass für jeden Hörer die fortwährende Gültigkeit dieser Ordnung für alle Zeiten festzustehen scheint.19 Die Repräsentation der Zeit im Mythos findet ihre Orientierung also an der umfassenden Weltzeit, indem sie ausgeht von der unhintergehbaren Anfangsperiode, aus der die Zeit kommt, das erzählte Ereignis in einer unbestimmten Vergangenheit situiert und ihm eine fortwährende Dauerhaftigkeit für alle Zeiten zuweist, wie eben auch die Seelen der unheilbaren Verbrecher „auf ewige Zeit“ gestraft werden sollen, um allen künftigen Frevlern zur Anschauung und Warnung zu dienen (525c). Es ist letztlich die Welt als ganze, die für den Mythos als Bezugsebene fungiert. Damit verbindet sich mit dem Mythos eine Art der Unhintergehbarkeit, die ihn als Wahrrede ausweist. Der Inhalt dieser Wahrrede betrifft Seiendes und damit Wirkliches. Insofern kann Sokrates in der Einleitung dieses Passus auch Kallikles darauf hinweisen: „So höre denn eine gar schöne Rede, die du zwar für einen Mythos halten wirst, ich aber für einen Logos. Denn als etwas, das wahr ist (alēthē onta), werde ich dir sagen, was ich sagen will“ (523a1–3). Als ein Wirkliches aber ist der Mythos unübertrefflich, es gibt zu ihm keinen Komparativ der Erkenntnisfähigkeit, wie Sokrates zum Abschluss bemerkt: „Und es wäre auch eben nichts Besonderes, dies (Gesagte) zu verachten, wenn wir nur irgendwie suchend etwas Besseres und Wahreres finden könnten“ (527a6–8). Von entscheidender Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die Präsentation des Mythos als narrative Form. Dem Inhalt nach handelt es sich dabei um einen kohärenten Duktus eines dramatischen Geschehens, formal wird dieser Geschehensablauf in Gestalt einer monologischen Rede an den Rezipienten vermittelt, wobei die Aussageform zwischen der Appellrede und der Erzählrede wechselt. Mit einem bemerkenswerten Instrumentarium von 18
Vgl. dazu auch Stewart [1989] 262. Signifikant für diesen Aspekt ist die permanente Verwendung des Präsens im Mythos ab 524b. Vgl. auch die Aussage bei Salustios philos., De deis et mundo Kap. 4, 9 über die Implikationen einer als Mythos verstandenen Weltentstehung: Taàta dὲ ™gšneto mὲn oÙdšpote, œsti dὲ ¢e…. 19
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appellativen Elementen versucht Sokrates sein Gegenüber darauf einzustimmen, sich imaginierend an den Schauplatz des Erzählten zu begeben und die Wirklichkeit des Geschehenen unmittelbar zu vergegenwärtigen: „Zeig dich also willig und folge mir dorthin, wo angelangt du glückselig sein wirst im Leben und im Tode, wie unsere Rede anzeigt“ (527c4–6). Auch die in dem einleitenden Imperativ „vernimm nunmehr“ (523a1) geforderte Rezeptionshaltung wird sukzessive in die Modalität eines unmittelbaren Schauens überführt.20 Nicht nur dass die Örtlichkeit dieses Jenseitsgerichtes in den Blick kommt, auch die Beschaffenheit der Seelen selbst soll nach dem neuen Gerichtsverfahren „unmittelbar augenfällig“ (endēla, 524d4) werden, so dass die Totenrichter sie „beschauen“ können (theasthai, 524e2). Entsprechend sollen auch die Seelen der unheilbaren Frevler dann den Ankömmlingen als Exempla „zum Schauen und zur Warnung“ (paradeigmata, theamata kai nouthetēmata, 525c2–3; 7–9) dienen. Der Inhalt des Mythos vermittelt sich also gewissermaßen auf dem Weg einer Schau des Erzählten in der Erzählung.21 Indem man die an sich abstrakte Rede in konkrete räumlich-zeitliche Bezüge umsetzt, gelingt es, das Unanschauliche anschaulich zu machen. Der Mythos stellt das paradeigma zur Verfügung, anhand dessen „etwas Größeres recht deutlich zu machen“ ist. Das Eigentümliche dieser Veranschaulichung liegt darin, dass es sich nicht über das Auge, sondern über das Ohr vollzieht.22 Sichtbar gemacht wird dabei ein Verborgenes, auf welches das Auge der Seele ansprechen soll. Es soll einsichtig werden, dass die eigentliche Realität des menschlichen Seins nicht mit dem irdisch-körperlichen Bereich zusammenfällt, sondern ihre entscheidende Verortung in der überirdisch-jenseitigen Sphäre des Seelischen hat. Während die Dialektik sich an ein solches Erkenntnisziel nur punktuell im Hin und Her der jeweiligen Positionen herantasten kann, wobei allfällige Ab- und Irrwege nicht auszuschließen sind, eröffnet der Mythos einen unmittelbar-direkten Blick auf das Wirkliche der Welt von einem einzigen Standpunkt aus. Insofern beschränkt sich die Leistung der mythischen Darstellung nicht auf eine lediglich korrelierende Veranschaulichung oder Intensivierung dessen, was der Logos gleichermaßen bereitstellt23, sondern die mythische Schau ist in einer bestimm20
So ergeht auch in Politeia 614d3 an den Pamphylier Er die Aufforderung, „alles an diesem (jenseitigen) Ort zu hören und zu schauen (akouein te kai theasthai)“. 21 Noch signifikanter sind die Aufforderungen zur imaginären Schau (ide, hora, skopei, ennoēson), mit welchen das Höhlengleichnis der Politeia eingeleitet wird (Resp 514a2; b4; 8; 515c4; 516e3). Das Gleichnis selbst wird dort als eikōn bezeichnet (517a8). 22 Vgl. auch die Zielsetzung der tragisch-mimetischen Geschichtsschreibung des 4. vorchr. Jh., die Polybios II 56, 8–12 als Versuch kritisiert, „jeweils das Furchtbare vor Augen zu stellen“ und „die Herzen der Hörer mithilfe der eindrücklichsten Reden zu erschüttern und nach der augenblicklichen Situation zu lenken“. 23 So etwa die Auffassung von Kobusch [1990] 18f. Dagegen erkennt Beierwaltes [1989] 278 die spezifische Leistung des Mythos in einem „Bedeutungsüberschuss“ aufgrund seiner Bildhaftigkeit und Geschichtlichkeit. Als Stimulans des Gedankens entfalte der
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ten Weise noch objektiver und unmittelbarer. Hier wird der menschliche Geist aus seinen irdisch-körperlichen Daseinsbezügen entrückt und in den umfassenden Raum der Wahrheit gestellt24, dem er in existenzieller Unmittelbarkeit gegenübersteht. Dieser Aspekt der Objektivität wird auch an einem weiteren Moment des rezeptionsästhetischen Bezugssystems deutlich. Die Präsentation des Mythos stützt sich nicht auf die Autorität des Dialogführers Sokrates, sondern auf eine höhere anonyme Instanz. Es ist nicht die Person Sokrates, die hier versucht, sein Gegenüber zu bereden, sondern seine Stimme gibt nur wieder, was als „wahr seiend“ aus einem unfassbaren Anderswo zu ihm gekommen ist (Gorg 523a2– 3). Durch die Verlagerung der auktorialen Stimme an eine ungenannte Wahrheitsquelle verändert sich auch die Rezeptionssituation. Die mythische Erzählung erlangt eine höhere Objektivität, sie entrückt den Hörer gleichsam wie durch ein Fenster aus der augenblicklichen Dialogsituation und bringt ihn in ein neues Objektivitätsverhältnis zu der jenseitigen Welt, die zugleich die Außenseite seiner Innenwelt, seiner Seele ist. Damit wird im Mythos wie in einer Synopse die eigene Subjektivität mit der Objektivität des Wirklichen zur Deckung gebracht. Auf dieser Basis lässt sich auch schon im Grundsätzlichen die persuasive Leistung des platonischen Mythos umschreiben: Es handelt sich nicht um ein Bereden im Sinne rhetorischer peithō, bei der dem Adressaten unter Aufbietung eines reichen Instrumentariums technischer Kunstmittel von außen her eine bestimmte Überzeugung beigebracht werden soll, sondern um die Aktivierung eines in der Seele selbst wurzelnden Erkenntnisimpulses, einer epistēmē.25 Indem die Seele in der imaginären Schau der jenseitigen Wirklichkeit die eigentlichen Modalitäten ihres Seins erkennt, formt sich ihre Überzeugung als Einsicht in Wahrheit. Eben diese Konvergenz von Subjektivem und Objektivem manifestiert sich in dem entschiedenen Bekenntnis des Sokrates, er selbst sei von der Wahrheit dieses Mythos überzeugt.26 Offenbar liegt hier der Kern einer neuen Rhetorik und Poetologie, in deren Dienst Platon den Mythos stellen will.
Mythos eine „die Einsicht noch intensivierende Kraft“. Man vermisst freilich eine nähere Klärung darüber, wie diese Intensivierung zur Geltung kommen soll. 24 Vgl. auch Mattéi [1988] 69. 25 Eben diese beiden Erfüllungsweisen der peithō unterscheidet Sokrates in 454e3–4: BoÚlei oân dÚo e‡dh qîmen peiqoàj, tÕ mὲn p…stin parecÒmenon ¥neu toà e„dšnai, tÕ d' ™pist»mhn; Zu diesem Aspekt vgl. auch Tarrant [1990] 22: „... Plato’s intention when incorporating myths into his dialogues is not a dogmatic one, nor a purely literary one, but an attempt to lead the hearer through an evocative and strangely familiar story towards what strikes Plato being the truth“. 26 Vgl. 523a; 526d (pepeismai); 527c–e.
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IV Dieses Potential soll nun anhand einer Verhältnisbestimmung zwischen der argumentativen Leistung der dialogischen Partien und des Schlussmythos im Gorgias näher untersucht werden. Denn dass der mythische Abschluss nicht unabhängig von der kontextuellen Einbettung in den Dialog zu sehen ist, dürfte klar sein. Auszugehen ist hierbei von der Frage, ob und inwieweit der Mythos am Ende des Dialoges etwas einlöst, das in der dialogischen Auseinandersetzung noch keine entsprechende Antwort gefunden hat. Dazu ist zunächst die Argumentationsstruktur in ihren wesentlichen Komponenten zu verfolgen. Das Kernthema, welches den Gorgias hinter all der facettenreichen Diskussion über das Wesen der Rhetorik zusammenhält, zentriert in der Frage, welche Form des sittlichen Lebens der menschlichen Existenz am angemessensten ist.27 Damit verschränkt sich auf der Oberflächenebene das Bemühen, die Leistung der Rhetorik, die dynamis dieser technē zu bestimmen.28 Alle drei Dialogpartner, die nacheinander über diese Frage gegen Sokrates antreten (Gorgias, Polos, Kallikles), kommen darin überein, dass sie der Rhetorik im Hinblick auf die Lebenspraxis die größtmögliche Bedeutung zuweisen. Sie sehen in ihr das entscheidende Mittel, um Macht über andere Menschen zu erlangen und deren Handeln nach den eigenen Vorstellungen zu lenken. Gerade die Ausübung von Herrschaft über andere bietet nach dieser Auffassung dem, der über diese Fähigkeit verfügt, die höchste Freiheit und die eigentliche Erfüllung des Lebens.29 Um nun die als ein Allvermögen30 verstandene sophistische Rhetorik uneingeschränkt praktizieren zu können, muss der Redner für sich einen umfassenden Handlungsspielraum usurpieren, dessen Dimensionen, wie Kallikles in aller Eindringlichkeit unterstreicht, von dem Naturrecht des Stärkeren vorgegeben sind. Sokrates steht nun insofern in permanentem Widerspruch zu dem sophistischen Rhetorikverständnis, als für ihn eine solchermaßen moralisch indifferente Ausübung der Redekunst angesichts der eigenen Ansichten über die Zielsetzungen menschlichen Handelns unhaltbar ist. Er versucht fortlaufend der sophistischen Zumutung, Rhetorik dürfe sich in einem gänzlich freien, von der Stärke der eigenen Natur geschaffenen Spielraum bewegen, entgegenzutreten mit der Frage, ob ein solches Handeln in seinen Konsequenzen für den 27
Vgl. 500c2–4: ... perˆ toÚtou ¹m‹n e„sin oƒ lÒgoi: ... Óntina cr¾ trÒpon zÁn. Die Ansicht von Tarrant [1982], wonach sich in dieser Verschränkung von rhetorischer und ethischer Thematik eine ursprüngliche Komposition in zwei Teilen verrate, stellt eine abwegige Spekulation dar, die den für Platon notwendigen Zusammenhang von Lebensweise und Redeweise vollkommen verkennt. Richtig hierzu Kobusch [1996] 47. 28 Vgl. 447c2; 455d7; 456a5. 29 Vgl. 452d5–8; 469c; 470d. 30 Vgl. 457a–b; 469c.
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Menschen selbst gut sein könne. Für ihn selbst disqualifiziert sich eine wertindifferente Rhetorik dadurch, dass derjenige, der sie mit einem unrechtmäßigen Handlungsziel praktiziert, sich letzten Endes selbst schadet, weil er nicht das tut, was wirklich für ihn gut wäre. Das von sophistischer Seite usurpierte Allvermögen der Rhetorik wird für Sokrates zum Unvermögen, für ihn „haben die Redner unter allen in der Stadt am wenigsten Macht“31, weil sie nur tun, was ihnen gut dünkt, aber das eigentlich Gute für das menschliche Leben verfehlen. Sokrates illustriert diese schädigende Konsequenz provokativ an seinem Diktum, es sei für den Menschen schlimmer (kakion), Unrecht zu tun als Unrecht zu erleiden. Die sophistische Gegenposition, die hier zunächst Polos vertritt, kontert mit dem Versuch, die Diskussion unter Ansetzung des Maßstabes „schön“ und „hässlich“ im gesellschaftlich-sozialen Wertekontext zu führen, und betrachtet dementsprechend des Verhältnis von Unrechttun und Unrechtleiden natürlich genau andersherum: Wer Unrecht leidet und sich dabei nicht helfen kann, ist unglücklich und der gesellschaftlichen Verachtung preisgegeben. Diese Sichtweise führt Kallikles noch auf die Spitze, indem er das Leben nach dem Recht des Stärkeren als das wahre, naturgemäße, das philosophische Leben des Sokrates hingegen als widernatürlich zu erweisen sucht. Aber auch hieran wird deutlich, dass seine Argumentationsbasis – trotz der Hereinnahme der Nomos-Physis-Antithese – weithin dem gesellschaftlich als normal Akzeptierten verpflichtet ist. Man könnte sagen, dass von den Sophisten jeweils im Kontext einer geschlossenen Welt des Normalen argumentiert wird. Sie repräsentieren das Normal-Natürliche im Sinne eines immanenten Weltbezugs. Sokrates selbst versteht die Konfrontation als Auseinandersetzung zweier unterschiedlicher Beweisarten, der rednerischen und der philosophischen32, wobei er die Entscheidung über den Vorrang von der Einlösung eines dezidierten Wahrheitsanspruchs abhängig macht (471e; 472a). Die von ihm aufgebotene philosophische Methode hebt nun gegen den rhetorischen Standpunkt darauf ab, ein wirklich Schönes und Gutes müsse sich als ein wirklich Nützliches erweisen. Mit dieser Festlegung gewinnt Sokrates den entscheidenden Ansatzpunkt, das sophistische Argument für den Vorrang der Rhetorik zunehmend auszuhebeln. Denn der Anspruch, die Redekunst sei insofern ein Gut, als sie den jeweils eigenen Willen – auch wenn er auf ein Unrecht ziele – rücksichtslos durchsetzbar mache, wird dann brüchig, wenn sich zeigt, dass mit einem solchen Tun kein wirklicher Nutzen für das handelnde Individuum verbunden ist. Eben diese Disjunktion zwischen einem wirklichen und einem scheinhaften Nutzen und gleichbedeutend damit zwischen einem wirklichen und einem scheinhaften Gut versucht Sokrates als Bewertungsmaßstab für das Wesen der Rhetorik zu gewinnen. So hat er ihr bereits in 31
466b9–10: 'El£ciston to…nun moi dokoàsi tîn ™n tÍ pÒlei dÚnasqai oƒ ·»torej. Ähnlicher Tenor in 469e–470a. 32 472c3 (tropos elenchou).
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seinem in der Auseinandersetzung mit Gorgias entfalteten System menschlicher Fertigkeiten den Rang als eigentliche Kunst (technē) abgesprochen und sie zu einer bloßen Erfahrung und Routine (empeiria) degradiert. Denn sie verfüge nicht über die Einsicht in das Wesen ihres Gegenstandes und ziele nur auf die Erzeugung von Wohlgefallen und Lust, nicht auf ein eigentliches Gut. Insofern manifestiere sich in der Redekunst wie in der Sophistik nur ein Schattenbild einer Kunst, nämlich der politikē technē.33 Entsprechende Aussagen über das Wesen der Rhetorik, die auf der Differenz von Schein und Wirklichkeit fußen, sind in der weiteren Diskussion in großer Zahl auszumachen. So kontert Sokrates gegen den Machtanspruch der sophistischen Rhetorik, ihre Vertreter täten nicht dasjenige, was sie wirklich wollten, sondern nur das, was ihnen das Beste scheine (466d–e). Die in diesen Zusammenhang gehörige Behauptung des Polos, Unrechttun mache glücklich, versucht er durch den Hinweis zu widerlegen, dass der Übeltäter zwar auf jeden Fall elend sei, aber sein Elend geringer würde, wenn er entsprechende Bestrafung fände, wohingegen Straflosigkeit für ein Unrecht das größte Übel darstelle (472e ff.). Denn die Bestrafung bedeute für ihn ein Gut, zumal er dadurch von der schlechten Verfassung seiner Seele geheilt werde (476a ff.). Aus diesen Überlegungen wird auch für die Rhetorik die Folgerung gezogen, dass sie nur dann von Nutzen wäre, wenn der Täter, der ein Unrecht begangen hat, sie dazu verwendete, seine eigene Bestrafung und damit gewissermaßen Heilung zu erlangen (480a ff.). Den entscheidenden Angelpunkt, der die sokratische Argumentation trägt und ihr Schlagkraft gegen die sophistische Position verleiht, bildet die Bezugnahme auf die Seele des handelnden Menschen. Das seelische Sein ist der eigentliche Kern, an dem sich Unrechttun negativ auswirkt, und zwar in sehr viel höherem Maße als an dem körperlichen Sein des Opfers. Anders als die Sophisten, deren Vorstellung vom menschlichen Glück sich auf ein primär körperlich bestimmtes Dasein in der irdischen Welt stützt, sieht Sokrates die menschliche Eudaimonie von der Befindlichkeit seiner Seele abhängig. Sie repräsentiert ihm die eigentliche Wirklichkeit, an der sich menschliches Tun und Lassen zu orientieren hat. Doch bewegt sich auch das Plädoyer des Sokrates – und diese Feststellung ist wesentlich für das rechte Verständnis des Schlussmythos – fast ausnahmslos in einem weltimmanenten Kontext, der sich auf die irdische Existenz beschränkt. So steht hier die Seele neben dem Körper im Sinne der gängigen Vorstellung, dass das menschliche Leben im irdischen Bereich sich in leiblichseelischer Dualität manifestiert (464a ff.). Und ebenso wie der Körper aufgrund einer fehlerhaften Lebensweise von Krankheit erfasst werden kann, bedeutet für Sokrates das Verüben von Unrecht eine Erkrankung der Seele. Wenn es weiterhin heißt, man müsse, wie im Falle des Körpers mithilfe einer entspre33
462b–465e; vgl. 462c3; 4; 6: empeiria; 463d1–2: estin ... hē rhētorikē ... politikēs moriou eidōlon; ähnlich wiederholt in e4; 463a9; c1; 7; 464e2; 465b2: kolakeia.
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chenden ärztlichen Therapie, auch bei der Seele durch eine Bestrafung dafür sorgen, dass das Leiden sich nicht chronisch einwurzelt34, so ist klar, dass hier ein zeitparalleler Horizont innerhalb des Erdendaseins vorausgesetzt ist. Dieser wird auch dort nicht durchbrochen, wo sich das Gespräch in der Auseinandersetzung mit Kallikles immer mehr auf die Seele verschiebt (504a ff). Wenn hier Sokrates den Gedanken der rechten Ordnung (taxis, kosmos) in der Seele entfaltet, geht er wiederum von den körperlichen Belangen aus: Wie die Gesundheit dadurch erreicht werde, dass Arzt oder Gymnastiklehrer den Leib in gute Ordnung brächten, so sei die rechte Seelenordnung durch die Befolgung von Recht und Gesetz herzustellen. Zu solcher Ordnung den Menschen durch Reden zu bewegen sei Aufgabe des rechtschaffenen und kunstmäßigen Redners (505b). Sokrates liefert also eine logisch in sich schlüssige Argumentation, die aber noch nicht den entscheidenden Ansatzpunkt, dass das Sein der Seele über die irdische Perspektive hinausweist, klar ausgemacht hat. Damit bleibt in der dialogischen Darlegung eine entscheidende Deckungslücke offen, gegen die natürlich aus sophistischer Sicht leicht anzugehen war. Denn solange man den Blick nur auf die Auswirkungen menschlichen Handelns im innerweltlichen Kontext richtet, bleibt die eigentliche Wahrheit irrelevant, nämlich dass Unrechttun tatsächlich der Seele und damit dem menschlichen Sein schadet. Entsprechend betonen auch Polos und Kallikles unbeirrt die vorrangige Abhängigkeit der eudaimonia von den körperlichen Belangen, von Lust und ungehemmter Machtausübung. Denn wie sollte ihrer Meinung nach das Glücksgefühl des tyrannischen Menschen Eintrag leiden, wenn er mit ungerechtem Gebaren persönlichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung hat? Während die Ausrichtung des menschlichen Handelns an den Belangen des körperhaften Seins, wie sie die sophistische Seite verficht, von dem Wertesystem des gesellschaftlich Normalen abgedeckt ist und darin ihre Bestätigung findet, fehlt dem sokratischen Postulat für ein Handeln entsprechend dem Gerechtigkeitsideal der Seele der entsprechende Widerhalt im gesellschaftlichen Kontext.35 Wenn aber der gerechte Mensch zu den Vorstellungen gesellschaftlicher Normalität im Gegensatz steht, benötigt er, um die entsprechende Überzeugung von der Richtigkeit seines Handelns zu gewinnen, Bestätigung und Orientierung von anderswoher. Damit war der Beweisführung des Sokrates – trotz aller Erfolge, die er in den dialogischen Einzelgefechten gegen die sophistischen Repräsentanten errungen hatte – ein Zielpunkt gesetzt, den es einzulösen galt. Es war klärlich aufzuzeigen, dass Unrechttun der Seele einen Schaden zufügt, der sich realiter und auf Dauer in ihrer gesamten Existenz auswirkt.
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480b1–2: ... Ópwj m¾ ™gcronisqὲn tÕ nÒshma tÁj ¢dik…aj Ûpoulon t¾n yuc¾n poi»sei kaˆ ¢n…aton. 35 Zum Problem der gesellschaftlichen Akzeptanz vgl. auch Schmidt [1986] 25f.
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Die Problematik deutet sich bereits an, als Sokrates bei der Entfaltung seines Modelles der auf Leib und Seele bezogenen technai darauf hinweist, je nach der Qualität der angewandten technē könne für Leib wie für Seele entweder der Idealzustand eines echten Wohlbefindens (euexia) oder auch nur das scheinbare Wohlbefinden herbeigeführt werden (464a). Gerade bei denjenigen, deren Körper in einem scheinbar guten Zustand sei, könne nicht leicht ausgemacht werden, dass sie sich in Wirklichkeit nicht wohl befänden. Dazu seien nur die entsprechenden Fachleute fähig, wie der Arzt oder der Trainer. Und wenn es darauf heißt, ebenso verhalte es sich auch mit der Seele, so ist klar, dass deren Zustand nicht ohne weiteres sichtbar zum Vorschein kommt und damit bewertbar wird. Aber Sokrates nimmt diesen Punkt erst ganz am Ende des Kallikles-Gesprächs wieder auf, wo er als Beweisziel formuliert: Es ist das Schlimmste, wenn die Seele mit vielen Vergehungen angefüllt in den Hades kommt (522e).36 Platon hat also in der Gestaltung der dialogischen Partien einen entscheidenden Argumentationspunkt aufgespart37, der nirgendwo anders als im Mythos eingelöst wird.38 Erst in dem Jenseits unter den dort gültigen Bewertungsmodalitäten, welche der Mythos zeichnet, gelangt der wahre Zustand der Seele zur Sichtbarkeit. Hier wird unmittelbar anschaulich gemacht, dass ethisch schlechtes Handeln auf Erden eine unleugbar schädigende Auswirkung im Bereich des Seelischen besitzt und damit analog der Schädigung, die der Körper durch Vernachlässigung und falsche Pflege erfährt, anhand von Indizien für Fachleute klar nachweisbar ist. Zudem wird einsichtig gemacht, dass die schädigende Behandlung der Seele von weit gravierenderer Bedeutung als die des Körpers ist, insofern sie in ihren Konsequenzen auf Dauer wirksam bleibt und sich nicht nur auf das begrenzte irdische Dasein erstreckt. Dieser Vorgang der Hinausweisung aus der irdischen Sphäre in eine Welt höheren, wahreren Seins wird in dem Mythos besonders daran signifikant gemacht, dass das Beurteilungsverfahren im Jenseitsgericht, wie es nach dessen Neuordnung praktiziert wird, aitiologisch aus einer solchen Verlegung erklärt wird: Nunmehr wird der Zustand der Seele nicht mehr am Lebensende an dem 36
Zwischendurch begegnet dieser Punkt nur andeutungsweise in ironischer Umkehrung, so 481a, wo Sokrates das – unaufrichtige – Zugeständnis macht, für den Übeltäter komme es darauf an, als ein Schurke in seinem körperlichen Sein unsterblich zu werden. 37 So erklärt Sokrates in einem Zwischenmonolog, er wisse zwar im Hinblick auf seinen Satz, Unrechttun sei schändlicher als Unrechtleiden, dass es sich so verhalte, aber er wisse nicht, wie und wieso sich das so verhalte (509a–b). Diese Antwort gibt dann der Mythos. Dodds [1959] 341 verkennt diesen Zusammenhang vollkommen, wenn er bemerkt: „This Socratic profession of ignorance comes in oddly...“. So als hätte Platon zu spät bemerkt, er müsse Sokrates wieder in seiner charakteristischen Weise reden lassen. 38 Vgl. hierzu auch Pieper [1962] 292, wonach „der Mythos ein Glied der Argumentation selbst zu sein beansprucht, und zwar das entscheidende Argument“. Allerdings bleibt sein Hinweis auf den Gorgias darin unscharf, dass er das argumentative Defizit nicht deutlich benennt. Schmidt [1986] 26 verweist zwar auf ein „Defizit der sokratischen Position“, zeichnet dies aber vor allem in gesellschaftlich-soziologischer Perspektive.
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noch in der Dualität von Körper und Seele verbundenen Individuum bewertet, sondern erst in der neuen Seinsweise nach dem Tod, wenn die Seele rein für sich steht. Der Mythos überwindet also die sophistische Zumutung, welche die Relevanz menschlichen Handelns allein auf den Bereich irdisch-körperlicher Natur beschränkt sah, durch die Setzung eines Komparativs, der einen Seinsbereich höherer Wirklichkeit umspannt. Dabei kann sich der Mythos in der argumentativen Verwendung dieses Komparativs an die Regularien der bisherigen Diskussion halten. So muss keineswegs der utilitaristische Gesichtspunkt, wie er von den Sophisten als entscheidendes Bestimmungsmoment menschlichen Handelns verfochten worden ist, preisgegeben werden. Er wird vielmehr in seiner Verbindlichkeit auf die höhere Ebene des Seelischen transponiert. Dementsprechend kann der maßgebliche Nutzen für das menschliche Leben nicht darin liegen, körperlich unbeschadet durch das Erdendasein zu kommen. Weit wichtiger und nützlicher ist es, sich um das für die Seele Gute zu bemühen und diesem trotz vielfältigen Anfechtungen und Nachteilen, die damit im körperlich-weltlichen Leben verbunden sind, nachzueifern. Damit ist klar: Die eigentliche Antwort auf die Zentralfrage im Gorgias, wie man leben müsse, erwächst nicht aus dem Logos, sondern aus dem Mythos. Dieser sagt also durchaus etwas anderes als der Logos.39 Mithilfe der dort gegebenen Anschauung wird die Notwendigkeit dringend gemacht, Verantwortung für das Tun im eigenen Leben zu übernehmen. Es geht also im Mythos nicht nur darum, eine höhere Seinswirklichkeit zu entwerfen und die in ihr gültigen Kriterien des Gerechten und Guten kenntlich zu machen, sondern vor allem darum, einsichtig zu machen, dass es sich mehr als alles andere lohnt, die Maximen dieser Wertewelt im ethischen Verhalten zu befolgen bzw. dass nichts so von Nachteil ist, als im Widerspruch zur transzendenten Werteordnung zu leben. Der Mythos hat also neben dem Ziel einer Erkenntnisvermittlung eine explizit protreptische Funktion.40 Er soll eine entsprechende Motivation zu ethischem Handeln hervorrufen, indem er mit der Veranschaulichung der Dauerfolgen die Lockungen eines an der Normalität mit ihrem äußeren Erfolgsstreben orientierten Lebensentwurfs als nachteilig erweist. Mit diesem Ziel schließen sich Logos und Mythos im Gorgias auf einer neuen Ebene zusammen. Indem der Mythos mit der in unmittelbarer Anschauung liegenden Logizität operiert, gelingt es ihm, eine neue Beweiskraft zu entfalten.
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Schief in dieser Hinsicht ist die Behauptung von Kobusch [1990] 19, wonach „der ... Mythos keine Wahrheit neben der Wahrheit des Logos verkündet, sondern diese nur in Bildern erzählt“. Im Gorgias ist es jedenfalls so, dass diese entscheidende Wahrheit über das nachirdische Schicksal der Seele im Logos gerade ausgespart bleibt. 40 Diese Intention ist an zahlreichen Stellen mit Bildungen zum Stamm peith- ausgesprochen, z.B. Gorg 493c; 494a; 527c.
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V Es ist nun noch zu fragen, nach welchen funktionalen Modalitäten sich diese Beweiskraft entfaltet, um von hier aus den Status des Mythos als einer Art neuer Rhetorik noch genauer zu bestimmen. Dieser Aspekt zentriert in erster Linie um die wahrheitserschließende Erkenntnisleistung des Mythos in der Enthüllung von Wirklichkeit. Auszugehen ist dabei von der für Platons Denken grundlegenden Konkurrenz zwischen der scheinhaften Realität der Phänomene, die dem allgemeinen Bewusstsein als wahr und wirklich gilt, und der eigentlich seienden Welt des Transzendenten, die nur dem Auge der Seele zugänglich ist. Insofern die Wirklichkeitssicht der Gesellschaft die körperhafte Welt des abbildhaften Scheines für real nimmt, unterliegt sie nach Platon einer Täuschung. Dabei ist es gerade auch diese Welt des Scheins, die von der Mehrheitsmeinung der Gesellschaft als Bezugsrahmen akzeptiert wird, nach dem sich das Handeln des Menschen zu richten hat. Selbst wenn hierbei der breite gesellschaftliche Konsens in offizieller Lesart mit einer Rolle, wie sie der sophistische Machtmensch in schrankenloser Ausübung des Naturrechtes des Stärkeren spielen könnte, aus Gründen des Selbstschutzes nicht einverstanden ist, nimmt er sie doch inoffiziell als maßgeblich an. Die gängige Rhetorik, die in diesem Bereich operiert, nutzt gerade diese Diskrepanz zwischen einer offiziellen und inoffiziellen Wahrheit als den Spielraum ihres Wirkens. Sie tritt vor allem dazu an, einen Übeltäter vor der ihm zukommenden Bestrafung zu schützen, und verfolgt damit in den Augen des platonischen Sokrates ein falsches Ziel. Denn in dem Streben nach einem scheinbaren Gut, der Strafvermeidung, enthält sie das eigentliche Gut, die Heilung von Unrecht durch Strafe, vor (Gorg 480b ff.). Sie macht den Menschen nicht besser und nützt insofern nicht wirklich. Hier gäbe es nach Sokrates nur eine sinnvolle Anwendung der Rhetorik, nämlich in der Anklage des Übeltäters gegen sich selbst, um die gerechte Strafe zu erhalten und damit besser zu werden.41 Um wirklichen Nutzen stiften zu können, muss Rhetorik also schonungslose Aufklärung betreiben. Und mit eben dieser Zielsetzung konvergiert der Schlussmythos des Gorgias, indem er die vollkommene Entblößung und nackte Anschaulichkeit als die entscheidende Veränderung im jenseitigen Gerichtsverfahren ins Zentrum der Darstellung rückt. War es nach der alten Gerichtspraxis, in der die Menschen am letzten Lebenstag beurteilt wurden, möglich, die Fehler ihrer Seele zu kaschieren, weil sie sich „eingehüllt in schöne Leiber und Verwandtschaften und Reichtümer“ einem Gericht stellen konnten, dessen unbefangener Blick gleichfalls von der Hülle der Körperlichkeit eingeschränkt war (523c–d), so ist eine solche Möglichkeit der Täuschung über den wirklichen Seelenzustand durch Verhüllung künftighin 41
Bzw. in einer paradoxen Anwendung zum Schaden von Feinden, denen die nützliche Bestrafung vorenthalten werden soll, damit sie fortan mit ihrer Schlechtigkeit leben müssen (481a–b).
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ausgeschlossen. Erst nach dem Tod in jeglicher Entblößung vom Körper und allem schönen Schein soll die Seele in ihrer unverstellten Beschaffenheit, in welche sich abbildhaft klare Spuren ihres Lebenswandels eingeprägt haben, vor den Totenrichter hintreten, damit er sie „beschauen“ und in der eigentlichen ethischen Qualität bewerten kann (523e–525a). Wenn dabei nachdrücklich betont wird, dass die Bewertung nun keinerlei Rücksicht mehr nimmt auf den politischen Status und das soziale Umfeld, in dem die jeweilige Person im Leben stand, sondern in dezidierter Fokussierung auf das Individuum vonstatten geht, so ist klar, dass hier den Verhüllungsstrategien der sophistischen Rhetorik und ihrem Geltungsanspruch für die politisch-gesellschaftliche Kommunikation eine deutliche Absage erteilt werden soll. Die Epideixis als Grundgestus sophistischer Redekunst, wie sie Gorgias zu Beginn vorgeführt hatte (456a ff.), ist von Sokrates in Anwendung der Dialektik zurückgewiesen worden. Im Schlussmythos aber wird sie nicht nur in augenscheinlicher Vorführung als irrelevant desavouiert, vielmehr verknüpft sich diese Enthüllung der Substanzlosigkeit der epideiktischen Attitüde mit einer neuen Funktionszuweisung. Wie das Gerichtsverfahren durch die Entblößung der Seele von allem Scheinhaften einen neuen Standard in der Urteilsqualität gewinnt, so wird in der Enthüllung des Schlussmythos ein neues Muster rhetorischer Epideixis zutage gefördert. Deren besondere Qualität liegt im Unterschied zur landläufigen Rhetorik darin, dass sie von Schein und Vordergründigkeit absieht und sich allein der Vermittlung von Wahrheitserkenntnis verpflichtet fühlt. Vor dem Hintergrund dieser Enthüllungsfunktion formiert sich noch ein besonderer Zusammenhang zu dem Konzept der Scham, welches die Diskussionsführung im Gorgias geradezu leitmotivisch prägt.42 Platon lässt dieses Motiv in der Gestaltung des Dialogs immer wieder aufscheinen, um zu zeigen, dass auch die sophistische Position bei aller Bezugnahme auf die Wertfreiheit des Physis-Paradigmas nicht frei von ethisch-moralischer Orientierung ist. So ist das Scheitern der drei Einzelgespräche des Sokrates mit seinen Dialogpartnern Gorgias, Polos und Kallikles jeweils von einem unvermittelt begegnenden Rekurs auf das Schamgefühl bedingt. Nacheinander werden die sophistischen Apologeten von Sokrates durch unerbittliche Überprüfung der Stichhaltigkeit ihrer Position in eine Lage manövriert, in der die zu gewärtigenden Konsequenzen ihren Standpunkt als so unhaltbar erweisen, dass sie vor dieser Desavouierung mit einem Reflex ihres Schamgefühls zurückschrecken. Diese Umkehr ist also nicht unmittelbar durch rednerische Einwirkung des Sokrates im Sinne einer Überredung bedingt, vielmehr erwächst sie aus einem inneren Impuls der Dialogpartner selbst, der hervorbricht, sobald sich ihnen im Zuge der elenktischen Wahrheitsaufdeckung die Unhaltbarkeit ihrer These herausstellt. Sowohl Gorgias wie Polos werden von einem natürlichen Schamgefühl dazu gebracht, von ihrer Anfangsthese, die die 42
Die Bedeutung des Schammotivs stellen v.a. heraus Race [1978/79]; Kobusch [1978]; McKim [1988].
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Rhetorik als vollkommen werteunabhängiges Instrument im Dienste persönlicher Beliebigkeit skizzierte, abzugehen und die Redekunst wieder in einem moralisch-normativen Kontext verortet zu sehen. Gerade aber in dieser Scham offenbart sich die implizite Anerkennung eines allgemeinen Normenbewusstseins, während von den sophistischen Apologeten geltend gemacht wird, hierin manifestiere sich nur noch ein – beinahe unbewusster – Restbestand einer konventionellen Moral. Selbst Kallikles, der diesem Schicksal entgehen möchte und sich als Vertreter vollkommener Schamlosigkeit gibt43, macht am Ende keine Ausnahme. Als Sokrates dessen Theorie, Glück und ungehemmte Lust seien identisch, fortführt zu der Konsequenz, dann wäre der Knabenschänder glücklich, da kommt auch Kallikles ins Wanken und beschwört das Schamgefühl des Sokrates, „nicht die Rede auf solche Dinge zu bringen“ (494e). Platon aber geht es um etwas Tieferes als um die Akzeptanz einer vom gesellschaftlichen Umfeld bestimmten „Schamkultur“, denn diese ist nicht invariabel und sie ist hintergehbar.44 Für ihn muss die Scham in einer tieferen Wahrheit wurzeln, als sie ein gesellschaftlicher Normierungsdruck bereitstellen kann. Dies zeigt sich einmal darin, dass Sokrates die Kehrtwendungen des Gorgias und Polos hin zu einer Moralität, die nach Kallikles nur durch eine falsche Rücksichtnahme auf die gesellschaftliche Konvention veranlasst waren, ausdrücklich als wahr bezeichnet (508b–c). Dann aber darin, dass Sokrates unmittelbar vor dem Einsetzen des Mythos Kallikles seine Neudefinition der Scham präsentiert:45 Nicht dafür müsse man sich schämen, wenn man aus rhetorischem Unvermögen sich in einem Prozess, in den man unschuldigerweise durch üble Ränke verwickelt worden sei, nicht helfen könne, sondern wenn man überführt würde, dass man sich gegen Menschen oder Götter ein Unrecht habe zuschulden kommen lassen (521c–522d). Die Scham hat es also nicht mit einem vordergründig-scheinbaren Unvermögen, sondern einer wirklichen Fehlleistung zu tun und steht insofern als Gegenbegriff zum gängigen Nützlichkeitsanspruch der Rhetorik, die ja in ihrer moralischen Indifferenz gerade keine Hilfe bedeutet, um den Menschen besser zu machen. Diese Auffassung einer anderen Art von Scham, aus der wirkliche Hilfe für die Seele resultiert, enfaltet Sokrates im Schlussmythos in einer Bildhaftigkeit, die eine paradoxe Umkehr gängiger Vorstellungen bedeutet. Solange das noch nicht reformierte Gerichtsverfahren dem Menschen erlaubte, sich der Bewertung seiner Lebensleistung in Verhüllung zu stellen, über der Bedeckung, die 43
Vgl. 482d–e, wo die Scham als widernatürliches, von der Konvention der Schwachen geschaffenes Hinderungsinstrument gegen das naturgemäße Machtstreben gedeutet ist. Besonders zahlreich sind die Bezugnahmen auf die Scham 487b–e. 44 Zutreffend daher der Hinweis bei Dodds [1959] 11; 227, Platon wolle damit die Unwahrhaftigkeit der athenischen Schamkultur offenbaren. Diesen Aspekt ergänzt sinnvoll Kobusch [1996] 52. 45 Um eine solche handelt es sich, nicht um eine Rehabilitierung, wie Kobusch [1996] 53 annimmt.
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der Körper für die Seele bedeutet, angetan mit allen erdenklichen Mitteln der Bemäntelung, war der zu Beurteilende vor jeder Auslösung eines peinlichen Schamgefühls sicher. Er muss sich keine Blöße geben. Die Oberfläche seiner Verhüllung spiegelt einen Schein vor, der von ihm selbst beliebig manipuliert werden kann. Insofern nun der Ausgang des Verfahrens mehr vom Beurteilten als von den Urteilenden abhing, konnte aus der Aussicht auf eine schließliche Bewertung der Lebensleistung keine Verpflichtung erwachsen, die eigene Lebensführung entsprechend dem dort erwarteten Bewertungsmaßstab einzurichten. Dies war erst nach der Reform der Fall. Jetzt wird das Schamgefühl zum entscheidenden Indikator für die Bewertung der Lebensleistung. Denn der zu Beurteilende muss nackt und entblößt von jeder körperlichen Verhüllung in seiner seelischen Daseinsweise vor das Richtergremium hintreten (523e). Und hier läuft die platonische Schamkonzeption der landläufigen Schamvorstellung paradox zuwider: Nicht das Motiv der Nacktheit per se veranlasst, dass der Enblößte sich schämen müsste, denn die Bloßstellung hat nur formale Bedeutung als Offenlegung des wahren Seins, sondern erst die Bloßstellung seiner Vergehen, mit denen er seine Seele geschädigt hat. Wer dann nicht imstande ist, sich „selbst zu helfen, wenn jenes Gericht und jenes Urteil bevorsteht“, ist der äußersten Schmach und Entehrung ausgesetzt.46 Sonach darf das entscheidende Anliegen des Mythos in der konkreten Veranschaulichung dieser Differenz erblickt werden. Nicht die landläufige Scham als ein formal-konventionelles Gefühl darf die Verantwortung des Menschen für sein Handeln bestimmen, sondern ein tieferes Schamgefühl, das auf die eigentliche Beschaffenheit der Seele geht. Erst mit dem Nachweis, dass die Seele einem eigenen Schamgefühl unterworfen ist, dem sie nicht entgehen kann, ist der letzte Schritt in der Überwindung der sophistischen Wertindifferenz geleistet. In der bildhaften Vermittlung zwischen der empirischen Realität und der theoretischen Seinswelt, wie sie sich nicht nur hier zeigt, sondern als Grundmerkmal aller platonischen Mythen kenntlich ist, hat Platon also eine Basis für eine neue Rhetorik geschaffen. Diese sucht nicht durch die beliebige Instrumentalisierung affektiver Mittel zu überreden, sondern durch die Nebeneinandersetzung zweier graduell differierender Realitäten zu überzeugen. Wer sich der Einsicht in den darin gegebenen Komparativ, der über die Konzeption der Scham auch eine affektive Wirkung entfaltet, nicht von vornherein wie Kallikles verschließt, wird sich für diesen besseren Weg entscheiden. Der Mythos als Logos stellt dazu das Leitprinzip bereit.47 46
So die Warnung des Sokrates an Kallikles, die er aus dem Mythos schlussfolgert (526e). 47 Vgl. 527e, wo der Mythos als hēgemōn tituliert ist. Die Ziele einer neuen Rhetorik, die genau der vom Mythos vorgegebenen Richtung entspricht, sind Gorg 508c; 527c; Politeia 392a–b formuliert. Sie fallen nach dem technē-Modell des Gorgias mit dem Funktionsspektrum der dikastikē zusammen; vgl. 500b ff.
„WENN ICH EINEN SCHÖNEN MYTHOS VORTRAGEN DARF...“. ZU STATUS, HERKUNFT UND FUNKTION DES SCHLUSSMYTHOS IN PLATONS PHAIDON Theodor Ebert Platon hat an die dialektischen Diskussionen des Phaidon über die Frage der Weiterexistenz der menschlichen Seele nach dem Tode eine Schilderung angeschlossen, in der Sokrates ein Bild des Jenseits als eines Ortes für Lohn und Strafe der menschlichen Seelen entwirft (107d5–115a9). Diese Jenseitserzählung ist sowohl durch unterschiedliche Themenbereiche als auch durch Mittel der dialogischen Inszenierung in verschiedene Teile gegliedert. Der erste Abschnitt (107d5–108c5) handelt von den Seelen und ihrem Schicksal unmittelbar nach ihrem Tod: Hier ist vom Totengericht und dem Schutzgeist die Rede, der jedem Menschen beigesellt ist, und davon, dass jede Seele schließlich zu einer ihr zukommenden Behausung im Jenseits gelangt. Darauf folgt die Beschreibung der Gestalt der Erde und ihrer Regionen (108c5–110b2), eine Darstellung, für die Sokrates sich auf einen ungenannten Gewährsmann beruft. Dieser Teil wird durch einen Wortwechsel mit Simmias (108d1–109a8) eingeleitet, und er schließt auch mit einer Frage an Simmias und mit dessen Antwort ab (110a8–b4). Diese Frage ist aber bereits die Überleitung zu einer neuen Art der Darstellung: Von hier an erzählt Sokrates einen, wie er sagt, „schönen Mythos“. Dieser Mythos wird durch keinen Wortwechsel mit seinem Gesprächspartner Simmias mehr unterbrochen (110b5–114c9). Aber dieses lange Stück ist selbst wiederum durch einen Wechsel dessen, was Gegenstand der Darstellung ist, in drei weitere Teile gegliedert: In einem ersten Stück (110b5–111c3) wird die Schilderung der Wahren Erde, nämlich einer Welt, die in einem wörtlichen Sinn oberhalb unseres menschlichen Lebensbereiches liegen soll, innerhalb des Mythos fortgesetzt; in einem zweiten Teil (111c4–112e3) wird dann ein System unterirdischer Flüsse beschrieben. In einem dritten Stück (112e4–114c9) wird diese mythische Schilderung einer Ober- und Unterwelt zu den Schicksalen der Seelen der Verstorbenen in Beziehung gesetzt. Für die philosophische Interpretation des Phaidon wirft diese abschließende Jenseitserzählung eine Reihe von Fragen auf. Zunächst einfach die, warum Platon hier überhaupt das Mittel der mythischen Rede eingesetzt hat. Für die Frage, der die dialektischen Argumentationen des Dialoges galten, für die Frage der Unsterblichkeit der Seele, gibt der Schlussmythos nichts her; die Diskussion darüber ist mit den 106e–107a getroffenen Feststellungen zu Ende gekommen. Aber in einem so sorgfältig durchkomponierten und so anspielungsreichen Werk wie dem Phaidon wird eine derart eindrucksvolle Schilderung, zumal am
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Schluss des Ganzen, nicht da stehen, wo sie steht, ohne dass sie in den Augen des Autors dort eine spezifische Funktion hat. Welche schriftstellerische Absicht kann Platon also mit der Einführung dieser Jenseitserzählung verfolgen? Ein weiteres Problem, das mit dieser Schilderung des Sokrates verbunden ist, betrifft das Verhältnis jenes Teils, den Sokrates selber unter den Begriff des Mythos stellt, nämlich die Darstellung von 110b5 an, zu dem, was vorhergeht, insbesondere zu dem unmittelbar vorhergehenden Stück, in dem Sokrates über die Gestalt und die Regionen der Erde das vorträgt, von dem ihn, wie er sagt, jemand überzeugt hat. Gehört dieses Stück naturwissenschaftlicher Spekulation ebenfalls zur mythischen Darstellung oder nicht? Wenn nicht, welche Folgen ergeben sich daraus für das Verständnis des Mythos selbst? Schließlich stellt sich insbesondere bei diesem Stück naturwissenschaftlicher Spekulation, aber auch bei den eher mythischen Elementen der sokratischen Darstellung, die Frage der Herkunft. Wer ist der namenlose Jemand, auf den Sokrates sich für die Gestalt und die Regionen der Erde beruft? Und was ergibt sich aus der Klärung der Quellenfrage für ein Verständnis des Schlussmythos insgesamt? Schließlich scheint für das Verständnis des Schlussmythos auch die Frage von Bedeutung, welchen Status diese Erzählung aus der Perspektive jener Leser hat, für die Platon den Phaidon geschrieben hat, also für den zeitgenössischen griechischen Leser. Wie und auf welchem Hintergrund wurden die Mythen, die sich in fast allen Dialogen der mittleren und der späten Phase von Platons Werk finden, und wie und auf welchem Hintergrund wurde der Schlussmythos des Phaidon gelesen? Ich werde diese drei Fragenkomplexe in umgekehrter Reihenfolge behandeln, beginnend mit dem letzten. I. Der Umgang mit mythischem Material in den Dialogen Platons ist durch eine auffallend große Variationsbreite ausgezeichnet. Diese Unterschiedlichkeit im Umgang mit mythischer Rede bei Platon ist auch eine Folge des Umstandes, dass Platon für ein Auditorium oder auch für geographisch unterschiedliche Auditorien schreiben kann, denen unterschiedliche Umgangsweisen mit Mythen geläufig waren. Wenn Platon durch den Mund des Sokrates in der Politeia eine Kritik an den Götter- und Heldengeschichten Homers und Hesiods vorbringt (Resp II, 377d–378d) und sie wegen ihrer moralischen Untauglichkeit für die Erziehung der Wächter verwirft, so steht er in der von jonischen Philosophen, von Xenophanes und Heraklit begonnenen Tradition der Kritik der traditionellen Mythen. Diese Ablehnung des Mythos wird ein Charakteristikum der jonischen Tradition bleiben: Noch Epikur wird darauf drängen, aus den möglichen Erklärungen natürlicher Vorgänge den Mythos herauszulassen (D.L. 10.104). Aber diese, von den Joniern inaugurierte Verwerfung der traditionellen Mythen eröffnete nicht nur die Möglichkeit einer mythenfreien und in diesem
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Sinn „rationalen“ Deutung der Natur, sondern umgekehrt auch die Möglichkeit, an die Stelle der alten Mythen eigene neue zu setzen und damit die Mitteilungsform des Mythos für die eigene Botschaft zu nutzen. Es sind Philosophen aus dem griechischen Westen, die mit der Form der epischen Gedichte eines Homer und Hesiod auch deren mythische Redeweise übernehmen. Parmenides bedient sich der mythischen Erzählung einer Wagenfahrt zu einer Göttin, die dann seine philosophische Botschaft verkündet. Aber das mythologische Inventar, das wir bei Parmenides finden, unterscheidet sich in spezifischer Weise von dem der homerischen oder der hesiodeischen Gedichte. Es sind nicht mehr die individuellen Gottheiten, die bei Homer als Personen in das Geschehen des Epos eingreifen können, sondern es sind Personifikationen von Abstrakta: So ist Dike (DK 28 B 1, 14) als die Personifikation des Rechtes zu erkennen; und in ähnlicher Weise wird die Notwendigkeit, die das Sein in seinen Fesseln hält (vgl. DK 28 B 8, 30–31), durch den Zusatz des Attributes „mächtig“ zu einer Personifikation. Die Göttin, die die Botschaft der parmenideischen Philosophie verkündet, bleibt zwar namenlos, aber sie ist gerade durch ihre Anonymität auf die Rolle der Verkündung der neuen Botschaft beschränkt und hat darüber hinaus keinerlei Individualität. Die neuen Mythenerzähler haben aus der Auseinandersetzung um die traditionellen Mythen gelernt: Gegen den Vorwurf der Falschheit in einem wörtlichen Sinn hatten die Verteidiger Homers das Mittel der allegorischen Interpretation gesetzt.1 In den Mythen, die sich des Mittels allegorischer Rede bedienen, wird dem Leser in gewissem Sinn die Arbeit der Interpretation abgenommen: die Personifikationen sind von vornherein als allegorische Verbildlichungen abstrakter Aspekte erkennbar. Diese allegorische Nutzung des Mythos kennt auch Platon: So wenn im Mythos, den Diotima erzählt, Eros als Kind von Mangel und Überfluss, von Penia und Poros erscheint (Symp 203b–d), oder wenn die menschliche Seele im Phaidros (246a–b) als ein Wagengespann mit einem Wagenlenker und zwei unterschiedlichen Rossen dargestellt wird. Es liegt auf der Hand, dass die Durchschaubarkeit dieser allegorischen Einkleidungen einen Anspruch auf (Glauben an die) wörtliche Wahrheit dieser Schilderungen ausschließt. Aber die neue Nutzung mythischer Rede ist nicht auf die allegorische Darstellung beschränkt. Bei Empedokles finden wir eine Schilderung des Schicksals der menschlichen Seele, in der eine neue Art von Religiosität zum Ausdruck kommt, eine Religiosität, in deren Zentrum die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode steht (vgl. DK 31 B 146). Aber dieses Weiterleben, sei es in einem Kreislauf der Geburten oder im Kreise der Götter, hängt ab vom Verhalten des Menschen in seinem menschlichen Leben, es ist Lohn oder Strafe für Tun und Lassen in diesem Leben (vgl. DK 31 B 115). Diese mythischen Dar1
Als erster Homer-Interpret, von dem wir wissen, dass er sich des Mittels der allegorischen Interpretation bedient hat, wird im Allgemeinen Theagenes von Rhegion angesehen. Vgl. DK 8 A 2. Er dürfte gegen Ende des sechsten Jahrhunderts tätig gewesen sein. Vgl. auch Morgan [2000], 63.
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stellungen des Seelenschicksals bei Empedokles wollen in einem unmittelbaren Sinn für wahr gehalten werden und damit an die Stelle der außer Kraft gesetzten traditionellen Mythen treten. Die eschatologischen Mythen Platons in der Politeia, im Gorgias und eben auch im Phaidon, in denen es um das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tode geht, stehen in der Tradition dieser neuen Mythen, in denen eine neue Religiosität ihren Ausdruck gefunden hat. Platon macht den „westlichen“ Kontext dieser Mythen gelegentlich auch explizit deutlich, so wenn Sokrates im Gorgias eine bildliche Beschreibung der Seelen der Genussmenschen als Sieb (Gorg 493a–c) auf einen „sizilischen oder italischen Mann“ (493a6) zurückführen will.2 Für die zeitgenössischen Leser der platonischen Dialoge dürfte mit diesem westlichen, italisch-sizilischen Hintergrund der eschatologischen Mythen Platons auch der damit verbundene Anspruch auf Annahme als wahr selbstverständlich gewesen sein. Überdies macht der platonische Sokrates selbst diesen Anspruch deutlich: Was den Schlussmythos des Gorgias angeht, so versichert Sokrates seinem Gesprächspartner Kallikles gegenüber ausdrücklich, dass er ihn für wahr hält (Gorg 523a, 524a–b). Das Thema des Schicksals der Seele im Jenseits in Verbindung mit dem Anspruch darauf, als wahr geglaubt zu werden, stellt auch den Schlussmythos des Phaidon in den Kontext der neuen Religiosität, die in den Gedichten des Empedokles ihren für uns frühesten Ausdruck gefunden hat, die aber ihren Ursprung im Pythagoreismus hat. II. Sokrates spricht von der Schilderung, die er ab Phd 110b ff. geben wird, als von einem Mythos (110b1). Das legt zumindest die Vermutung nahe, dass das, was dieser Erzählung des Sokrates unmittelbar vorangeht, nicht den Status eines Mythos hat. Sind wir dann berechtigt, von der ganzen, 107d5 beginnenden Jenseitserzählung des Sokrates als vom „Schlussmythos“ des Phaidon zu reden? Oder müssen wir innerhalb dieses Schlussmythos Teile unterscheiden, die nicht oder doch nicht im selben Sinn mythische Rede sind wie andere Teile? Eine Entscheidung darüber lässt sich wohl nicht treffen, ohne dass wir den Sinn des hier von Sokrates gebrauchten Wortes „Mythos“ jedenfalls so weit klären, dass sich ein Kriterium für seine Anwendung auf unterschiedliche Formen literarischer Darstellung ergibt. Das griechische Wort mythos hat einen Sinn, der weiter ist als der des gleichlautenden deutschen Fremdwortes. Auch die Fabeln Äsops heißen mythoi; der erste Gebrauch dieses Wortes im Phaidon (vgl. 61b5, 6) wendet das Wort auf die Fabeln der Dichter und spezieller dann auf die Fabeln Äsops an (61b3–7). Das einzige weitere Vorkommen des Wortes 2 Die zweite Sokrates-Rede im Phaidros, in der sich die Schilderung des Umzugs menschlicher und göttlicher Seelen findet (247c–249d), wird als eine Rede des Stesichoros von Himera eingeführt (244a2–3) und damit ebenfalls in den griechischen Westen gesetzt.
Der Schlussmythos im Phaidon
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mythos im Phaidon außerhalb der gerade angeführten Stelle und dieser abschließenden Erzählung des Sokrates (dort 110b1, b4, 114d8) findet sich in dem Homer-Vers (Od. 20, 17), der 94d zitiert wird. Dort hat dieses Wort (wie oft bei Homer) einfach den Sinn „Wort“, „Zuspruch“, eine Bedeutungsvariante, die wir hier außer Acht lassen können. Für die Bestimmung des Sinns eines Wortes ist oft die Bestimmung seines Gegenbegriffes hilfreich, und als Gegenbegriff zu mythos gilt im Allgemeinen logos. Überdies ist der Gegensatz der beiden Ausdrücke bei Platon selbst mehrmals belegt. So schon an der eben zitierten Stelle im Phaidon 61b5; im Gorgias (523a1) wird die Jenseitserzählung, die Sokrates dort dem Kallikles vorträgt, ausdrücklich als Logos vorgestellt, wenngleich Kallikles sie für einen Mythos halten wird. Im Protagoras stellt der Sophist seinen Zuhörern zur Wahl, ob er seine Erklärung dafür, dass alle Bürger (Athens) zu Recht zu den politischen Beratungen zugelassen sind, in Form einer Geschichte, eines mythos, vortragen soll, oder als argumentierende oder erklärende Rede, als logos (vgl. 320c). Im Munde dieses Sophisten stellen also die Gegenbegriffe Logos und Mythos zwei alternative Mitteilungsformen dar, die beide zur Vermittlung einer These geeignet sind. Was der Logos direkt sagt, wird in der Form der mythischen Rede in eine Erzählung eingekleidet. Im Timaios wird schließlich der plastheis mythos dem alēthinos logos gegenübergestellt, der erfundene Mythos der wahrhaften Erklärung (26e4). Nun ist aber diese Gegenüberstellung von Mythos und Logos nur begrenzt hilfreich, wenn es um die Bestimmung des Sinnes von mythos geht. Dies aus mehreren Gründen. Zunächst ist das Wort logos selber im Griechischen mit einer Vielzahl von Bedeutungen behaftet, und es ist nicht ohne weiteres klar, in welcher seiner verschiedenen Bedeutungen dieses Wort jeweils in Opposition zu mythos steht. Im Protagoras scheint es den Sinn von argumentierender oder erklärender Rede zu haben, im Timaios und auch in der Euenos-Diskussion des Phaidon hat es dagegen eher den Sinn einer (wahrheitsgemäßen) Schilderung. Entsprechend ändert sich die Bedeutung von mythos oder doch die Akzentuierung, mit der dieses Wort jeweils ausgestattet erscheint. Dass ein mythos kein logos ist, sagt daher über den genaueren Sinn von mythos zunächst nicht sehr viel aus. Hinzu kommt, dass logos in dem weiten Sinn von „Rede“ der Oberbegriff ist, unter den auch jeder mythos fällt. Auch wäre es falsch, diesen Gegensatz auf den von wahr (für logos) und falsch (für mythos) zurückzuführen: Dass sich mit dem Mythos ganz wohl der Anspruch verbinden kann, als wahr geglaubt zu werden, hatten ja gerade die oben gemachten Beobachtungen zu den Schlussmythen von Gorgias und Phaidon gezeigt. Für den Sinn des Wortes mythos scheint mir nun eine Stelle bei Herodot aufschlussreich zu sein. Herodot berichtet in seinem zweiten Buch (2, 43–45) von Reisen, die er unternommen hat, um über die Frage Klarheit zu bekommen, ob der bei den Griechen verehrte Herakles ein Gott oder lediglich ein zu He-
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roenstatus gelangter Mensch ist. In Ägypten wird Herakles als einer der zwölf Götter verehrt; Herodot berichtet dann von zwei Tempeln des Herakles, die er beide besucht hat und von deren Priesterschaft er sich über das Alter dieser Heiligtümer hat Auskunft geben lassen. Da deren Alter dafür spricht, dass sie vor der Zeit, in der Herakles als Sohn des Amphitryon und der Alkmene geboren wurde, errichtet worden sind, kann der bei den Griechen als Heros verehrte Herakles nicht der Namengeber des in Ägypten und bei den Phöniziern verehrten Gottes sein (2, 44). Herodot schließt diesen Bericht mit den Worten: „Die jetzt dargestellten Nachforschungen (ta men nyn historēmena) zeigen klar, dass Herakles ein alter Gott ist.“ Daher seien jene Griechen im Recht, die eine zweifache Verehrung des Herakles kennen, von denen die eine dem olympischen Gott, die andere einem menschlichen Heros gilt. Daran schließt Herodot nun aber noch eine Kritik an einen bei den Griechen erzählten „Mythos“ über Herakles an, den er als einen in einer Reihe von Erzählungen der Griechen vorstellt, die er alle als „ungeprüft“ (anepiskeptōs) charakterisiert, und den er ausdrücklich „naiv“ (euēthēs) nennt. Nach dieser Geschichte sei Herakles in Ägypten gewesen, dort von den Ägyptern bekränzt und in einer Prozession als für ein Opfer vorgesehen zu einem Altar gebracht worden. Als Herakles dort dann die Absicht der Ägypter, ihn zu töten, bemerkt habe, habe er sich zur Wehr gesetzt und sie alle erschlagen. Mit zwei Bemerkungen erledigt Herodot diese Geschichte als vollkommen unwahrscheinlich: Erstens habe, wer das erzähle, offenbar keine Ahnung von dem Charakter und den Sitten der Ägypter, denn bei denen sei ein Menschenopfer ganz undenkbar, da sie doch nicht einmal, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Tieropfer kennen. Zweitens sei Herakles, der auch nur ein Mensch sei, wie diese Erzählung ja annimmt, als Einzelner doch nicht in der Lage, eine riesige Übermacht zu erschlagen (2, 45). Zwei einfache Überlegungen reichen also aus, diese Geschichte als völlig unplausibel zu erweisen. Sie kann der Forderung, die mit der jonischen historiē in die Welt gekommen ist, nicht genügen. Der Gegensatz von den auf eigener Erkundung und Überlegung beruhenden historēmena des Herodot, und dem von den Griechen erzählten mythos über Herakles’ Taten in Ägypten, der Gegensatz von historiē und mythos, scheint mir gegenüber dem von Mythos und Logos der ursprünglichere Gegensatz zu sein. Die Opposition von historiē und mythos ist in jedem Fall eindeutiger und daher für die Konnotationen aufschlussreicher, die für die Griechen mit dem Begriff mythos verbunden sind. Der Mythos ist jene Erzählung, deren Wahrheit sich nicht verbürgen lässt, sei es, weil der Charakter des Erzählten von vornherein so unwahrscheinlich ist, dass seine Wahrheit ausgeschlossen ist, sei es, weil das in der Erzählung Berichtete sich in grauer Vorzeit zugetragen haben soll, so dass es Zeugen dafür ohnehin nicht mehr geben kann, sei es, weil in der Erzählung von Bereichen der Welt berichtet wird, etwa von der Welt der Götter oder von der Unterwelt, die menschlicher Erkenntnis prinzipiell entzogen sind. Charakteristisch für die mythische Rede ist dann, dass es für sie, weil sich
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ihre Wahrheit nicht verbürgen lässt, nicht die Möglichkeit bestätigender Überprüfung gibt. Das schließt nicht aus, dass ein Mythos für wahr gehalten wird, aber dieses Fürwahrhalten ist dann ein Akt des Glaubens: Sokrates verwendet daher an jenen Stellen, an denen er seine Überzeugung von der Wahrheit eines der eschatologischen Mythen zum Ausdruck bringt, Verben des Glaubens: pisteuein (Gorg 524a8), oiesthai (Phd 114d5). Verbürgen lässt sich die Wahrheit eines Berichtes/einer Erzählung im Normalfall durch einen oder mehrere Zeugen, die die Angaben dieses Berichtes bestätigen oder ergänzen können. Dass die Abwesenheit solcher Zeugen für die mythische Rede charakteristisch ist, zeigt sich nun umgekehrt etwa auch daran, dass Platon in der Fiktion des Schlussmythos der Politeia mit dem Pamphylier Er einen, aber eben fiktiven, Zeugen für diese Erzählung erfunden hat. Hier ist sozusagen innerhalb des mythischen Berichts der Mangel der unverbürgten Rede durch die Fiktion einer Person, die als Zeuge über das im Jenseits Gesehene berichten kann, ausgeglichen worden. III. Was bringt uns diese Klärung des Begriffs mythos für das Verständnis der Jenseitserzählung am Ende des Phaidon? Sokrates beginnt die Erzählung des schönen Mythos, den Simmias hören möchte, mit der Floskel: legetai „es wird erzählt“ (110b5); die Passivform macht klar, dass es keinen Autor dieser Erzählung gibt, den man als Zeugen für ihre Wahrheit in Anspruch nehmen könnte. Dieselbe Formel hatte Sokrates auch ganz am Anfang seiner Erzählung 107d5 benutzt. Eine ähnlich anonymisierende Formel wurde von Phaidon bei der Mitteilung der Theseus-Sage ganz zu Anfang des Dialoges verwendet: hōs phasin Athenaioi, „wie die Athener sagen“ (Phd 58a10). Damit beginnt also sowohl 107d5 wie auch 110b5 eine mythische Rede; in beiden Texten, die sich hier anschließen, ist von den jenseitigen Schicksalen der Seelen die Rede, von einem Bereich also, der menschlicher Erkenntnis nicht zugänglich ist. Aber ab 108d1 beginnt Sokrates eine Schilderung der Wahren Erde, in der er eine Erklärung für die Lage des Erdballs im Universum liefert und dann die Darstellung einer Oberwelt über der unsrigen gibt; von dem, was er dann sagt, heißt es, „wie ich von jemandem überzeugt wurde“ (hōs egō hypo tinos pepeismai 108c7–8). Dieses Wort „ich wurde überzeugt“ (pepeismai) kehrt noch dreimal in diesem Textstück wieder (108e1, e4, 109a7). Durch das Auftreten dieser Wortform wird dem Textstück 108d1–110a8 ein Charakter gegeben, der es von der umgebenden mythischen Erzählung unterscheidet: Es wird nicht mehr lediglich erzählend etwas weitergegeben, dessen Herkunft und Verbürgtheit unbestimmt bleibt, sondern hier sagt Sokrates etwas, von dem er selber überzeugt ist, etwas, für dessen Wahrheit er sich verbürgt und bei dem er sich auch auf eine, wenn auch nicht weiter spezifizierte, Quelle beruft. Die Herkunft des hier Gesagten lässt sich bis zu ihrem ersten Urheber zurückverfolgen.
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Der Form nach unterscheidet sich das Stück 108d1–110a8 insofern von der umgebenden mythischen Erzählung, als Sokrates hier das Gespräch mit Simmias wieder aufleben lässt: Simmias ist es, der ausdrücklich um die Darstellung dessen bittet, was Sokrates von der Erde und ihren Regionen zu berichten weiß (108d1–3). Zweimal wird Simmias sich noch zustimmend zu den Ausführungen des Sokrates äußern: Seine erste Bemerkung (108e3) signalisiert sein Einverständnis zu den von Sokrates in Aussicht gestellten Darlegungen zur Gestalt der Erde und zu ihren Regionen. Mit seiner zweiten zustimmenden Bemerkung (109a8) akzeptiert er die von Sokrates angebotene Erklärung dafür, dass die Erde sich in ihrer Position im Gleichgewicht befindet. Bei dem, was Sokrates in dem Abschnitt 108d1–110a8 mitteilt, handelt es sich um naturwissenschaftliche Spekulationen über die Gestalt und die Regionen der Erde, um eine neue Geographie; dass hier etwas bislang nicht Bekanntes zur Mitteilung kommt, wird von Sokrates gleich zu Anfang seiner Darstellung betont: Die Erde sei „keineswegs von der Beschaffenheit und von der Größe, die von denjenigen unterstellt wird, die über sie zu lehren pflegen“ (108c6–7). Das ist klarerweise die Ankündigung einer Ansicht, die sich von den bislang gängigen Lehren grundsätzlich unterscheidet. Sokrates übersetzt die Rede von der Beschaffenheit der Erde in die Ankündigung einer Erklärung ihrer Gestalt (idea 108d9) und die Rede von der Größe der Erde in die Ankündigung einer Darstellung ihrer Regionen: Letzteres ist eine Konsequenz dessen, dass die Erde sich gegenüber bisherigen Auffassungen als sehr viel größer erweist. Von diesen beiden Punkten wird dann als erstes die Gestalt (idea) der Erde behandelt. Die Erde ist rund (peripherēs, 108e5). Dass Sokrates dabei an eine Kugel denkt, wird durch das bestätigt, was er im folgenden Mythos sagt: Die Erde gleicht, wenn man sie von oben betrachten würde, einem aus zwölf Stükken zusammengesetzten Lederball (110b6–7). Schließlich könnte eine Behauptung des Inhalts, die Erde sei (in irgendeinem Sinne) rund, wohl kaum mit dem Anspruch verbunden werden, sich damit in Gegensatz zu den bisherigen Ansichten über die Erde zu setzen. Aber diese kugelrunde Gestalt der Erde wird hier eigentlich nur erwähnt, um mit ihrer Hilfe eine Erklärung für ein Problem der vorsokratischen Naturphilosophie zu geben: Das Problem, warum die Erde ihre Position im All behält, warum sie nicht fällt. Wenn die Erde rund in der Mitte des Universums, des Himmels, ruht, dann bedarf sie nicht der Luft als einer Unterlage, die sie daran hindert zu fallen, sondern die Gleichförmigkeit (homoiotēs, 109a2) des Himmels nach allen Richtungen und ihr eigenes Gleichgewicht halten sie in der Schwebe (108e4–109a4). Sokrates begründet das mit einer allgemeinen physikalischen These: Ein im Gleichgewicht befindliches Ding, das in die Mitte eines Behälters gesetzt ist, dessen Hohlform der Form dieses Dinges in der Weise entspricht, dass sich überall der gleiche Abstand ergibt – das ist mit Gleichförmigkeit gemeint –, hat keinen Grund, sich nach irgendeiner Seite zu neigen. Es verharrt in seiner Position. Offenbar will
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Sokrates hier nicht nur an kugelförmige Gegenstände denken. Auch ein Zylinder oder ein Kegel würde dieser Beschreibung entsprechen. 3 Die Bemerkung, dass die Luft oder „eine andere derartige Notwendigkeit“ als Unterlage überflüssig ist, um die Position der Erde zu erklären, macht klar, dass hier auf die Naturphilosophen Bezug genommen wird, denen die Kritik des Sokrates in seiner intellektuellen Autobiographie galt: Die jetzt zurückgewiesene Erklärung war schon 99b8–c1 als Beispiel eines in Sokrates’ Augen unzulänglichen Grundes angeführt worden. Damit ist jedenfalls so viel klar, dass die Ausführungen des Sokrates an dieser Stelle in den Umkreis der philosophischen Naturspekulation gehören. Sokrates hat hier den Bereich mythischer Rede verlassen. Die Vorstellung einer im Gleichgewicht schwebenden Erde, die von dem umgebenden Himmel den gleichen Abstand einhält und diesem Umstand ihre ruhende Position in der Mitte des Weltalls verdankt, wird von Aristoteles in De Caelo dem Anaximander zugeschrieben (vgl. De Caelo II 13, 295b11–17). Nun hat Anaximander aber für die Erde keine Kugelform, sondern eine zylindrische Form angenommen, wie durch ein Zeugnis aus Pseudo-Plutarch zu Anaximander (Ps.-Plutarch, Strom. 2 = DK 2 A 10) belegt wird. Woher stammt dann die Vorstellung einer kugelförmigen Erde? An einer Stelle bei Diogenes Laertius wird diese Entdeckung mit dem Namen des Parmenides verknüpft: Er behauptete als erster, dass die Erde kugelförmig (sphairoeidēs) ist und in der Mitte (des Universums) ihren Platz hat. D.L. 9.21 (= DK 18 A 1)
Wenn diese Entdeckung tatsächlich dem Parmenides zuzuschreiben ist, dessen wissenschaftliche Aktivität lange vor der Mitte des 5. Jahrhunderts anzusetzen ist, dann wäre sie jedenfalls im Jahre 399 keine wissenschaftliche Neuigkeit mehr, und das scheint Platon durch die Worte des Sokrates Phd 108c6–7 deutlich genug zu behaupten. Daher hat Erich Frank an der Richtigkeit dieser Zuweisung Zweifel angemeldet.4 Frank verweist darauf, dass in dem Text, der mit der betreffenden Nachricht über Parmenides auch seine Quelle angibt, nämlich 3
David Sedley [1989] hat versucht, in diesen Ausführungen des Sokrates jenes teleologische Erklärungsmodell zu finden, das Sokrates (vgl. Phd 97c–99c) bei den Naturphilosophen seiner Zeit vermisst hatte (vgl. Sedley insbes. 363 ff.). Es fällt allerdings auf, dass Sokrates selber in diesen abschließenden Äußerungen eine solche teleologische Sicht der Dinge nie explizit macht. Die Beobachtungen von Sedley sprechen daher eher dafür, dass Platon seine Leser hier Folgerungen ziehen lassen will, die in der Tat teleologischer Art sind. Hätte Platon dagegen Sokrates selber die teleologischen Konsequenzen explizit machen lassen, dann wäre dieser Sokrates schnell mit jenem Sokrates der Autobiographie in Widerspruch gekommen, der von sich gerade gesagt hat, dass er nicht in der Lage war, einen teleologischen Erklärungsgrund „selber zu finden oder von jemand anderem zu erfahren“ (99c9). 4 Frank [1923] 198–200.
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Theophrast, das Wort „kugelförmig“ auf das Universum insgesamt bezogen wird, nicht auf die Erde (Theophrast, Phys. Op. fr. 6 Diels); auch in einem weiteren Testimonium zu Parmenides wird dieses Wort zweimal auf das All bezogen (Hippol. Ref. 1.11 = DK 18 A 23). Dagegen heißt es von Parmenides, wiederum in einem Text, der Theophrast als Quelle nennt, dass er als erster die Erde als „rund“ (strongylēn) bezeichnet hat (D.L. 8.48 = DK 18 A 44). Frank dazu: „Hätte Parmenides die Erde unzweideutig als Kugel bezeichnen wollen, so hätte er sich dafür desselben Wortes bedienen können, wie für die Himmelskugel.“5 Frank verweist darauf, dass das Wort strongylos keineswegs die Bedeutung „kugelförmig“ hat, sondern ganz allgemein den Gegensatz zu „gerade“ ausdrückt, also so viel heißt wie „gekrümmt“, sowohl bei Linien wie bei Flächen und Körpern, wenn auch meist auf den Fall des Kreises bezogen.6 Daher kann in der doxographischen Tradition auch die als Säulentrommel vorgestellte Erde des Anaximander mit diesem Wort charakterisiert werden, wobei es offenbar erläuternd dem von Anaximander benutzten Audruck gyros (rund) hinzugefügt wurde (Hippol. Ref. 1.6.3 = DK 2 A 11 [3]). Frank vermutet, dass die bei Diogenes Laertius 9.21 vorliegende Nachricht, Parmenides habe als erster die Erde „kugelförmig“ genannt, auf eine Fehlinterpretation des Wortes „rund“ durch einen späteren Bearbeiter, möglicherweise einen jener stoischen Philosophen, die eigene Anschauungen gern in frühere Philosophen hineindeuten, zurückzuführen ist.7 Parmenides habe, wie die zeitgenössischen Naturphilosophen, die Erde für eine runde Scheibe gehalten. Sollte Parmenides tatsächlich die Kugelgestalt der Erde entdeckt haben, so ist die gänzliche Unbekanntheit dieser These bei den führenden Naturphilosophen der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts in der Tat bemerkenswert; Anaxagoras (vgl. DK 46 a 87) scheint diese These ebensowenig zu kennen wie Demokrit (vgl. DK 55 A 94). Dieser Versuch Franks, Parmenides die Entdeckung der Kugelgestalt der Erde abzusprechen, ist aber nicht unwidersprochen geblieben. Walter Burkert hat die Autorschaft des Parmenides für die Kugelgestalt der Erde gegen Franks Argumente verteidigt, aber seine Einwände scheinen mir nicht überzeugend. Sein erstes Argument bezieht sich auf die beiden Stellen D.L. 8.48 und 9.21: We cannot, in fact, ascertain what word Theophrastus used, but it seems sure that in the context he was thinking of a spherical rather than a discoid body, so that the dubious inference from the Phaedo cannot be used against the evidence of Theo8 phrastus. 5
Frank [1923] 198f. Frank [1923] 199. Der ganz allgemeine Sinn dieses Wortes wird schön an einer Stelle der (pseudo-)aristotelischen Problemata deutlich, an der gefragt wird, warum Scherben und Steine im Meer rund werden (Probl. 36, 935a37f.). 7 Frank [1923] 200. 8 Burkert [1972] 304. 6
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Zunächst einmal spricht der Text des Diogenes Laertius 8.48 klarerweise von einem Wortgebrauch: Es geht um die Frage, wer zuerst bestimmte Ausdrücke für das Universum und für die Erde benutzt hat (onomasai): Pythagoras, so heißt es da, habe als erster das Universum „Kosmos“ und die Erde „rund“ genannt; nach Theophrast war es Parmenides (sc. der als erster die Erde „rund“ nannte). Daher scheint mir der Text dieser Stelle kaum einen Zweifel daran zuzulassen, dass Theophrast hier zum Zeugen dafür gemacht wird, dass Parmenides die Erde als „rund“ bezeichnet hat. Burkerts Versicherung „it seems sure that in the context he (sc. Theophrastus, Th.E.) was thinking of a spherical rather than a discoid body“, setzt voraus, was erst zu beweisen wäre. Dasselbe gilt von Burkerts Anmerkung in der Fußnote 25: The word stroggÚloj is used with reference to Pythagoras, and here surely means „spherical.“ The parallel passage D.L.9.21 has sfairoeid»j, which is of course not reliable.
Wieso ist es sicher, dass dieses Wort, auch wenn es dem Pythagoras zugeschrieben wird, „kugelförmig“ heißen soll? Ungenau ist es auch, wenn Burkert in derselben Fußnote schreibt, dass das griechische Wort kreisförmig oder kugelförmig bedeuten kann; es bedeutet weder das eine noch das andere, sondern hat eine Bedeutung, nämlich „rund“, die allgemein genug ist, um sowohl kugelförmige wie kreisförmige Gebilde zu charakterisieren. Was die „evidence of Theophrastus“ angeht, so liefert die Stelle D.L. 8.48 jedenfalls keinen Beleg dafür, dass Parmenides die Erde als kugelförmig angesehen hat; den Gebrauch von „kugelförmig“ an der Stelle D.L. 9.21 hält Burkert selber für nicht beweiskräftig. Es läuft auf eine Verkehrung der Beweislast hinaus, wenn es dann heißt, dass „the dubious inference from the Phaedo cannot be used against the evidence of Theophrastus“. Faktisch erspart sich hier der Kritiker Franks eine Auseinandersetzung mit dessen stärkstem Argument, nämlich dem Text des Phaidon 108c6–7, in dem die von Sokrates vorgetragene Theorie über Gestalt und Größe der Erde als im Gegensatz zu bislang herrschenden Ansichten bezeichnet wird. Burkert versucht dann, bei anderen Autoren Belege für die Kugelgestalt der Erde vor der Abfassungszeit des Phaidon zu finden. Aber auch diese Argumente können nicht überzeugen. So war, nach Burkert, der Demokriteer Bion von Abdera um 400 mit den mathematischen Konsequenzen der kugelförmigen Gestalt der Erde vertraut.9 Folgen soll das aus der Mitteilung über Bion, dass dieser als erster von Regionen berichtet hat, in denen die Nacht sechs Monate und der Tag ebenfalls sechs Monate dauere (D.L. 4.58), also offenbar aus einer Kenntnis über die Polarregionen. Ob das bei Bion eine Folgerung aus einer Theorie über die Gestalt der Erde war oder eine Mitteilung über Beobachtungen, die er etwa von Seefahrern erhalten hat, lässt sich nicht entscheiden. Aber 9
Burkert [1972] 305.
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selbst wenn man dieses Zeugnis im Sinne Burkerts verstehen will, so ist das Datum, das auch Burkert für diese These ansetzen möchte, so nahe an dem dramatischen Datum des Gesprächs im Phaidon, dass es jedenfalls als Beleg für eine dem Phaidon vorhergehende Theorie der Kugelgestalt der Erde untauglich ist. Ein weiterer Autor, bei dem Burkert einen Hinweis auf die Kugelgestalt der Erde gefunden haben will, ist Hippokrates von Chios. Hippokrates habe die Himmelskreise auf die Erde projiziert, „obviously presupposing its sphericity“.10 Was bei Aristoteles, aus dem der einschlägige Text stammt, tatsächlich zu lesen ist, bestätigt diese Deutung nicht. Dort heißt es: Im Bereich zwischen den Wendekreisen zieht der Komet kein Wasser an sich, weil dieses Gebiet durch die Sonne in ihrem Lauf verbrannt ist. Aristoteles, Meteorologie I 6, 343a8–10
Das ist sicherlich vereinbar mit der Vorstellung einer kugelförmigen Erde, aber es macht diese Vorstellung nicht zwingend. Auch für die Säulentrommel eines Anaximander ließe sich behaupten, dass ihre Wände von der Sonne verbrannt sind. Schließlich ist es auch möglich, dass Aristoteles, der mit der Kugelform der Erde vertraut ist, hier eine Formulierung gewählt hat, die seinen eigenen Wissensstand, nicht aber den des Hippokrates spiegelt. Daher scheint auch diese Stelle kein eindeutiger Beleg für die Vorstellung einer kugelförmigen Erde, selbst wenn man Burkerts Datierung der hippokratischen Theorie der Kometen aufgrund der Mitteilung in Aristoteles’ Meteorologie I 6, 343b4–5 über einen Kometen im Jahre 427 auf die Zeit vor diesem Jahr gelten lässt.11 Schließlich will Burkert auch in Empedokles einen Anhänger der These von der Kugelform der Erde gefunden haben.12 Aber dieser Versuch scheitert schon daran, dass das Wort, mit dem Empedokles die Erde charakterisiert hat und das auch Burkert zitiert, das Wort „kreisförmig“ (kykloterēs) ist (DK 21 A 56). Zwar will Burkert daraus gleichwohl eine kugelförmige Erde herauslesen, weil Empedokles die Sonne zu einer Reflexion der „runden“ Erde macht und die Reflexion einer runden Erdscheibe angesichts des Umstandes, dass die Sonne nicht genau über unserer Weltgegend steht, zu einer verzerrten, also vermutlich elliptischen, Form der Sonne führen würde. Aber Burkert muss im selben Atemzug einräumen, dass es eine offene Frage ist, „to what extent Empedocles was preoccupied with such geometrical considerations“.13 Im Übrigen ist das geometrische Räsonnement Burkerts hier nicht ganz klar: Dass die Sonne nicht direkt über unserer Weltgegend steht, muss nicht den unterstellten Effekt einer verzerrten Reflexion haben, sofern die Sonne nur über dem Mittelpunkt der 10
Burkert [1972] 305. Burkert [1972] 324 Anm. 77. 12 Burkert [1972] 305 mit Anm. 30. 13 Burkert [1972] 305 Anm. 30. 11
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Erdscheibe insgesamt steht; unsere Region kann etwas vom Mittelpunkt abgerückt liegen. Fazit also: Burkerts Versuch, die Argumente Erich Franks zu widerlegen und damit Parmenides zum ersten Vertreter einer kugelförmigen Erde zu machen, ist nicht überzeugend. Die Zeugnisse bei Diogenes Laertius konnten die These einer kugelrunden Erde bei Parmenides nicht stützen. Die Texte, in denen sich angeblich im fünften Jahrhundert Hinweise auf eine Kugelform der Erde finden lassen, erwiesen sich als nicht stichhaltig. Es spricht daher alles dafür, dass die Behauptung des Sokrates, mit den Thesen über die Form und Größe der Erde berichte er über eine Position, die im Gegensatz zu den gängigen Meinungen über die Erde steht, im Kern eine zutreffende Behauptung ist. Dieses Ergebnis wird auch nicht durch den vor einiger Zeit von David Furley unternommenen Versuch erschüttert, die Entdeckung der Kugelgestalt der Erde wiederum Parmenides zuzuschreiben.14 Die Argumente Franks werden von Furley nicht diskutiert und sind ihm allen Anschein nach unbekannt. Auf die mit der Erklärung des Sokrates Phd 108c6–7 verbundene Schwierigkeit für die Annahme eines so frühen Vertreters der Kugelgestalt der Erde wie Parmenides geht Furley nicht ein. Wenn Furley erklärt: „I see no reason to disbelieve the statement of Diogenes Laertius, based on Theophrastus as he declares it is, that Parmenides was the first to speak of the earth as spherical (ix.21-2)“15, so ist ihm entgegenzuhalten, dass an der angeführten Stelle Theophrast gar nicht als Quelle genannt wird. Dass dort, wo Diogenes sich auf Theophrast als Quelle beruft, nämlich D.L. 8.48, Parmenides als derjenige bezeichnet wird, der die Erde als erster „rund“ (strongylē) genannt hat, wird von Furley ebenso ignoriert wie der Umstand, dass dort, wo das Wort „kugelförmig“ für Parmenides, übrigens unter Berufung auf Theophrast, bezeugt ist, damit das Universum charakterisiert wird, nicht die Erde (Theophrast, Phys. Op. fr. 6 Diels). Furley hat kein ernstzunehmendes Argument für die These beigesteuert, dass Parmenides der Entdecker der Kugelgestalt der Erde ist. Frank vermutet, dass der Entdecker der Kugelgestalt der Erde, auf den sich der Sokrates des Phaidon beruft, im Umkreis des Archytas zu suchen ist.16 Für diese Annahme sprechen mehrere Umstände: So wird Archytas der Versuch einer Berechnung der Erdoberfläche zugeschrieben (Horaz Carmina. I 28 = DK 35 A 3), „ein Unternehmen“, wie Frank schreibt, „das nur unter Zugrundelegung der Kugelgestalt der Erde möglich ist“.17 Auf Archytas weist aber auch etwas, das Sokrates in der Darstellung der Regionen der Erde im Phaidon vorträgt. Sokrates führt dort aus, dass die bekannte Welt des Mittelmeerraumes nur eine von vielen Vertiefungen der Erdoberfläche ist und dass die Wahre Erde 14
Furley [1989] 23-26. Furley [1989] 24. 16 Frank [1923] 186. 17 Frank [1923] ebd. 15
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erst oberhalb dieser uns bekannten Region zu finden ist. Im Vergleich mit der Wahren Erde, d.h. der wahren Oberwelt sind wir so wie jemand, der am Boden des Meeres wohnen würde und der beim Anblick der Sonne und der anderen Gestirne durch das Wasser hindurch das Meer für den Himmel hält, der aber wegen seiner Schwachheit niemals an die Oberfläche gelangen könnte (vgl. 109c3–d4). Sokrates spinnt diesen Vergleich dann weiter aus, indem er kontrafaktisch unterstellt, ein Mensch könnte bis dort oben fliegen und dort dann aus dem Luftmeer auftauchen, so wie hier manchmal ein Fisch aus dem Meerwasser auftaucht und dann die Welt über dem Meer sehen kann. Dieser Mensch würde, „wenn seine Natur kräftig genug ist, diesen Anblick auszuhalten“ (109e5–6), erkennen, dass das, was er dann sieht, „der wahre Himmel, das wahre Licht und die wahre Erde ist“ (109e7–110a1). Diese Vorstellung eines Aufstiegs in den Raum oberhalb unserer Welt und der damit gegebenen Möglichkeit, ein wahres Bild von Erde und Universum zu gewinnen, wird nun an einer Stelle bei Cicero mit dem Namen des Archytas in Verbindung gebracht: Cicero will in De amicitia 23,88 zeigen, dass es eine geglückte menschliche Existenz ohne Freunde nicht geben kann; wenn uns ein Gott an einen einsamen Ort versetzen würde, an dem alle für das leibliche Wohl erforderlichen Dinge im Überfluss vorhanden wären, so könnten wir in dieser Lage ohne die Gesellschaft von Menschen schwerlich glücklich sein. Und dann fügt Cicero in der Maske des Laelius folgenden Gedanken hinzu: Daher ist jenes Wort wahr, das dem Archytas von Tarent, wie ich glaube, zugeschrieben wird, das ich von unseren Alten, die es wiederum von anderen Alten gehört haben, überliefert gefunden habe: Wenn jemand in den Himmel aufsteigen könnte und dann die Natur der Welt und die Herrlichkeit der Gestirne anschauen würde, so wäre diese Bewunderung freudlos, die für ihn im Gegenteil ein Anlass zu höchster Freude gewesen wäre, wenn er jemanden hätte, dem er davon berichten könnte. Cicero, De amicitia 23,88
In diesem Zusammenhang verdient schließlich auch der Umstand Erwähnung, dass in der doxographischen Tradition den Pythagoreern die These einer kugelförmigen und rundum bewohnten Erde zugewiesen wird. So beruft sich Diogenes Laertius in dem Bericht, den er von den Lehren der Pythagoreer gibt, auf Alexander Polyhistor, einen Schriftsteller des 1. Jahrhunderts v. Chr., also noch vor der Zeit des Neu-Pythagoreismus, der in seinem Werk über die Philosophenschulen aus einer Schrift mit dem Titel Pythagorika Hypomnemata zitiert; Diogenes hat diesen Text dann übernommen (DL 8.25–35). Das, was Diogenes hier aus der von Alexander ausgeschriebenen Schrift mitteilt, enthält nun auch eine Angabe über die Gestalt der Erde. Nach der Aufzählung der vier Elemente, Feuer, Wasser, Erde und Luft, heißt es dort: aus ihnen entsteht ein beseeltes Universum (kosmon empsychon), durch Denken erkennbar, kugelförmig, das die Erde in seiner Mitte hat, wobei die Erde kugel-
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förmig ist und rundum bewohnt ist. Auch gebe es Antipoden, und was bei uns ,unten‘ ist, ist bei jenen ,oben‘. DL 8. 25–26
Da diese Theorie kaum eine der älteren Pythagoreer gewesen sein kann, liegt auch hier die Vermutung nahe, dass wir es mit einer Theorie jener Pythagoreer zu tun haben, die Platons Zeitgenossen waren. IV. Wir haben es also in dem Textstück Phaidon 108c–110a, in dem Sokrates eine bis dahin unbekannte Theorie über Gestalt und Größe der Erde referiert, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einer Lehre der unteritalischen Pythagoreer aus dem Umkreis des Archytas zu tun. Platon hat die Mitteilung dieser naturwissenschaftlichen Spekulation von der vorhergehenden und der ihr folgenden mythischen Erzählung durch die Art ihrer Darstellung abgegrenzt. Aber sie steht darum nicht unverbunden zwischen den mythischen Stücken. Vielmehr bildet das neue Bild der Erde die Basis für die Schilderung, die Sokrates dann in dem folgenden „schönen Mythos“ geben wird. Was die Beschreibung der Gestalt der Erde und ihrer Regionen von der umgebenden mythischen Darstellung unterscheidet, ist das Fehlen jeden Hinweises auf irgendwelche Bewohner der Wahren Erde; erst im Mythos wird dann mitgeteilt, dass dort Menschen leben (vgl. 111a), und schließlich, dass es jene verstorbenen Menschen sind, die „sich durch ein rechtliches Leben ausgezeichnet haben“ (114b–c). Umgekehrt sind die beiden Textabschnitte 107d5–108c5 und 110b5– 114c9, die durch das einleitende „es heißt“ (legetai) als mythische Rede charakterisiert sind, beide mit der Darstellung des Schicksals der Seelen nach dem Tod befasst. Erst der Mythos macht aus dem neuen Bild der Erde das Bild eines Jenseits. Der „schöne Mythos“ des Sokrates macht die ganze Erde mit ihrer Oberwelt und ihrer Unterwelt zu einer Bühne für Lohn und Strafe der Seelen. Unser Universum ist, mit einem glücklichen Ausdruck von David Sedley, ein psychozentrisches Universum.18 Dieser Charakter einer Welt, in der sich alles um das Schicksal der Seelen dreht, wird auch noch dadurch unterstrichen, dass in dieser ganzen Schilderung an keiner Stelle der Name einer der griechischen Gottheiten fällt; sowohl die Götter, mit denen die Menschen in der Oberwelt unmittelbar kommunizieren können, wie auch die Richter in der Unterwelt bleiben namenlos. Die Götter sind nur als Element in der Seligkeit der Bewohner der Wahren Erde (111b6–c1) oder als Führer und Begleiter der Seelen (108c4) oder als Richter, die über das Schicksal der Seelen entscheiden (107d8), von Bedeutung, in eigenem Recht kommen sie hier nirgends vor. Überhaupt erscheint von allen eschatologischen Mythen Platons die Erzählung des Phaidon am weitesten von den traditionellen Vorstellungen ent18
Sedley [1989] 373.
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fernt, welche die Griechen von der Unterwelt hatten. Einzig die Namen der vier Ströme, die in der Unterwelt fließen (112e–113c), hat Sokrates aus Homer entnommen, aber während bei Homer der Pyriphlegethon zusammen mit dem Kokytos in den Acheron mündet (vgl. Od. 10.513–515), werden in der von Sokrates beschriebenen Unterwelt ihre Läufe getrennt gehalten, damit sie als Straforte für Seelen mit unterschiedlichen Vergehen dienen können (vgl. 114a). Aber auch wenn das ganze Universum eine große Bühne für das Schicksal der Seelen ist, so wird doch mit dem, was hier über die Widerfahrnisse der Seelen in einer Ober- und in einer Unterwelt berichtet wird, in Wahrheit die Bedeutung der Welt unterstrichen, in der wir, die Menschen, vor dem Tode leben: Das im Diesseits gelebte Leben, so die Botschaft der mythischen Erzählung des Sokrates, ist es, mit dem wir darüber entscheiden, wie unsere Existenz im Jenseits aussieht. Daher ist diese Jenseitserzählung des Sokrates in Wahrheit ein Appell für eine bestimmte Lebensweise auf dieser Erde. Das wird noch unterstrichen durch die Bemerkung, die Sokrates am Ende seiner Erzählung zu jenen Seelen macht, „die sich durch Philosophie genügend geläutert haben“ (114c3): Während für die Personen, „von denen gefunden wird, dass sie sich durch ein rechtliches Leben ausgezeichnet haben“ (114b6– 7), eine Existenz auf der Wahren Erde vorgesehen ist (114c1–2), werden die Philosophen innerhalb dieser Gruppe noch einmal dadurch hervorgehoben, dass sie „für die Zukunft körperlos leben und noch herrlichere Wohnstätten beziehen werden“, als es die Wahre Erde ist (114c4–6). Die Philosophie als ein Läuterungsmittel, das zu der besten Existenzmöglichkeit im Jenseits verhilft, das ist die Botschaft einer Erlösungsreligion, und natürlich auch eine Werbung für diese. Wurden in früheren Partien des Dialoges die (wahren) Philosophen als asketische Verächter leiblicher Vergnügen dargestellt, waren sie etwa in dem Stück 66b–67b Personen, die eine Erfüllung ihrer Hoffnungen erst in einer jenseitigen Existenz erwarten können, so stellt uns die den Dialog abschließende Jenseitserzählung des Sokrates die Philosophen als eine Gruppe vor, die in einer jenseitigen Welt das beste Los zu erwarten hat. Das aber ist auch ein Aufruf, sich dieser Gruppe anzuschließen. Wer diese Philosophen sind, das scheint mir nun durch einen Umstand erklärt zu werden, der, soweit ich sehen kann, bislang für die Interpretation dieser Jenseitserzählung des Sokrates nicht genutzt worden ist. Ich meine den Umstand, dass diese Erzählung angekündigt wurde und dass diese Ankündigung in einem bestimmten Kontext steht. Dass diese Ankündigung nicht als solche beachtet wurde, ist in gewissem Sinn nicht überraschend, denn sie steht tatsächlich sehr weit entfernt von dem, was sie ankündigt, aber eine Ankündigung der sokratischen Jenseitserzählung ist es gleichwohl. Sie steht an der Stelle 61d9– e4. Der Kontext dieser Stelle ist die Diskussion über den „Philosophen“ Euenos und die Bemerkung des Sokrates, dass Euenos ihm zwar nachfolgen solle, dass damit aber eine Selbsttötung nicht erlaubt sei (61c8–d2). Die erstaunte Frage des Kebes, wie diese scheinbar paradoxe Forderung, dass eine Selbsttötung
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nicht erlaubt sei, der Philosoph aber gleichwohl dem Sterbenden nachfolgen solle, zu verstehen sei (61d3–5), provoziert die Rückfrage des Sokrates, ob nicht Kebes und Simmias über diese Dinge etwas von Philolaos gehört haben, mit dem sie doch (in Theben) zusammen waren. Kebes hatte daraufhin erklärt, dass sie nichts Genaues darüber gehört haben. Das führt nun zu folgender Äußerung des Sokrates: Nun gut, auch ich kann nur vom Hörensagen darüber reden. Was ich aber durch Zufall gehört habe, das will ich nicht vorenthalten. Denn es ist ja wohl ganz passend für jemanden, der im Begriff ist, nach drüben zu reisen (ekeise apodēmein), über den Aufenthalt dort (peri tēs apodēmias tēs ekei) nachzudenken und sich auszumalen (mythologein), wie wir ihn uns vorstellen können. Denn was könnte man auch sonst in der Zeit bis zum Sonnenuntergang tun? (61d9–e4)
Was Sokrates hier als Gegenstand eines mythologein, einer Mythenerzählung, für die gesamte folgende Unterhaltung (bis zum Sonnenuntergang, dem Zeitpunkt nämlich, an dem er den Giftbecher trinken muss) vorschlägt, ist die Beschreibung des Aufenthaltes im Jenseits. Wie Burnet ad loc. richtig festgestellt hat, ist der Sinn von apodēmia nicht nur Reise, sondern auch Aufenthalt; und das beigestellte ekei (dort) macht klar, dass Sokrates nicht über die Reise ins Jenseits, sondern über den Aufenthalt dort eine mythische Erzählung vortragen will. Dass dieser Vorschlag des Sokrates an dieser Stelle nicht aufgegriffen und realisiert wird, liegt daran, dass Kebes, ohne auf diese Anregung des Sokrates auch nur einzugehen, auf einer Klärung der vorher gemachten Behauptung des Sokrates besteht, dass nach der von Sokrates angeführten unbestimmten Autorität eine Selbsttötung verboten sei (61e5–6). Aus der Diskussion dieser Frage und der daran anschließenden nach der Todesbereitschaft des Philosophen (vgl. 62c9 ff.) entwickelt sich dann das Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele. Aber diese lange Diskussion erscheint sub specie des 61d–e gemachten Vorschlags als eine lange Digression, die mit dem Ende des letzten Argumentes abgeschlossen ist; daher kann Sokrates auch nach seinen letzten Bemerkungen zur Unsterblichkeitsdiskussion ohne weiteres wieder zu dem Thema zurückkommen, das er vor Beginn dieser Diskussion vorgeschlagen hatte. Tatsächlich passt ja die Ankündigung eines Mythenerzählens über das, was die menschliche Seele im Jenseits erwartet, genau zu dem, was Sokrates in der Jenseitserzählung am Ende des Phaidon dann vorträgt. Aber der eigentliche Wert dieser Ankündigung der Jenseitserzählung des Sokrates für ein Verständnis dessen, was in dieser Erzählung mitgeteilt wird, liegt nun in dem Kontext dieser Ankündigung. Sie folgt nämlich auf die Erwähnung des pythagoreischen Philosophen Philolaos durch Sokrates (61d6–7), eine Erwähnung, mit der Sokrates sich als jemand zu erkennen gibt, der von den Lehren der Pythagoreer zumindest „vom Hörensagen“ (61d9) Kenntnis hat; und die Ankündigung schließt unmittelbar an eine Aussage des Sokrates an, mit der
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er sich bereit erklärt, von diesem Wissen mitzuteilen (61d9–10). Der Vorschlag, über den Aufenthalt der Seele im Jenseits in einer mythischen Erzählung zu berichten, ist dann nur die etwas konkretere Ausfüllung dieser Erklärung: Sokrates erbietet sich, aufgrund seines Wissens über Pythagoreisches eine Schilderung der jenseitigen Existenz der menschlichen Seele zu geben. Wenn der Jenseitserzählung des Sokrates damit durch Platon selbst ein pythagoreischer Hintergrund gegeben wird, dann dürften unter den Philosophen, denen hier das beste Los im Jenseits in Aussicht gestellt wird, die Anhänger des Pythagoras zu verstehen sein, auch wenn dessen Name im Phaidon selbst nie fällt, sondern nur der des zeitgenössischen Pythagoreers Philolaos; schließlich wird der Phaidon von der Titelfigur des Dialoges auch dem Pythagoreer Echekrates und seinen vermutlich pythagoreischen Freunden in Phlius erzählt.19 V. In dieser Erzählung am Ende des Phaidon haben wir es mit einem Dokument zu tun, in dem Vorstellungen der pythagoreischen Wissenschaft wie die der Kugelgestalt der Erde mit der Vorstellungswelt einer Erlösungsreligion verknüpft sind, in der eine Welt oberhalb und eine Welt unterhalb der unseren zu Schauplätzen der jenseitigen Existenz unserer Seelen werden. Warum hat Platon diese Jenseitserzählung an diese Stelle gesetzt? Die Klärung der Herkunft der Vorstellungen dieser Erzählung aus dem Pythagoreismus lässt uns hier etwas klarer sehen. Ein Effekt, den diese Erzählung jedenfalls auf den zeitgenössischen Leser haben muss, ist dann sicherlich der, Sokrates, den Erzähler dieser Erzählung, als in der Vorstellungswelt des Pythagoreismus verwurzelt darzustellen. Sokrates, der schon im ersten Teil des Dialoges als eine anima naturaliter Pythagorica erscheint,20 wird hier nach den dialektischen Diskussionen, zu denen die Einwände des Simmias und des Kebes geführt hatten, abermals als ein dem Pythagoreismus seelenverwandter Philosoph dargestellt. Das könnte über das pythagoreische Auditorium in Phlius hinaus, dem Phaidon vom letzten Tag des Sokrates berichtet, auf eine pythagoreisch beeinflusste Leserschaft, etwa in der Magna Graecia, zielen. Damit macht Platon seinen Sokrates zum jenseitstrunkenen Verkünder einer Erlösungsreligion und gibt ihm somit eine Rolle, die der historische Sokrates wohl nie hatte. Dass Platon damit dem realen Sokrates, der jedenfalls einem großen Teil der athenischen Zeitgenossen Platons noch gut bekannt war, Unrecht getan hat, dürfte die Meinung jener Zuhörer bei dem Vortrag des Phaidon durch Platon gewesen sein, die nach dem Bericht des Diogenes Laertius (3.37) 19
Ich habe an anderer Stelle dafür argumentiert, dass das erste Auftreten des Wortes philosophos im Phaidon einen Pythagoreer bezeichnen soll: „Why is Evenus called a philosopher at Phaedo 61c?“ in: Classical Quarterly 51 (2001). 20 Siehe dazu auch Ebert [1994] 10–19.
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diesen Vortrag verlassen haben. Aber vielleicht war dieser Sokrates, den Platon zu Beginn und am Ende des Dialoges als eine anima naturaliter Pythagorica vorstellt, in Platons Augen der einzige, der Platons pythagoreischen Freunden in der Magna Graecia den Nutzen und die Schönheit der Dialektik, der peri tous logous technē (90b7), nahe bringen konnte, jener Dialektik, für die das Hin und Her der Argumente über die Unsterblichkeit der Seele so reiches Anschauungsmaterial bietet. Denn an der Dialektik, so versichert uns Aristoteles (Met. I 6, 987b32–33), hatten „die Früheren keinen Anteil“; und die Früheren, das sind im Kontext dieser Stelle der Metaphysik die Pythagoreer.
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