Fußnoten zu Platon
 9783787323555, 9783787314478

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PARADE IG MATA 23

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch- systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnisse gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

CHRISTOPH KANN

Fußnoten zu Platon Philosophiegeschichte bei A. N. Whitehead

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der Ausgabe von 2001 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1447-8 ISBN eBook: 978-3-7873-2355-5

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2001. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Vorbemerkung ...................................................................................... Einleitung .............................................................................................. 1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3

VII

1

Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive ....................... Philosophie und Philosophiegeschichte .................................. Zwei philosophiegeschichtliche Aspekte ................................ Die Fußnoten-These.................................................................. Fragemethode und Hypothesenanspruch............................... Apologie der Freiheit und Ästhetik der Überzeugung .......... Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe ............................................................................

11 11 15 25 36 40

Voraussetzungen der Philosophie ................................................. Instinktiver Glaube an eine Ordnung der Natur ................... Platonische und odysseische Vernunft .................................... Spekulative Philosophie und kosmologische Schemata ........ Whiteheads Kosmologiebegriff................................................ Gedankenschemata: Funktion und Genese ............................ Die Kriterien spekulativer Philosophie................................... Spekulationskriterien und Philosophiegeschichte..................

63 63 71 85 86 95 100 112

Geschichte der Philosophie....................................................... Platon: Die Kosmologie des Werdens als Prozeß-Paradigma ..................................................................... 3.2 Aristoteles: Die Abstraktionen der Substanzmetaphysik ...... 3.3 Descartes: Begründung und Defizite der modernen Philosophie ................................................................................ 3.3.1 Gewißheitsanspruch als ›overstatement‹................................. 3.3.2 Substanzmetaphysik und ›bifurcation‹ der Wirklichkeit ....... 3.3.3 Aspekte des Subjektivismus und seiner Umgestaltung ......... 3.4 Newton: Die Abstraktionen der mechanistischen Kosmologie ................................................................................ 3.5 Locke: Einheit des Bewußtseins als metaphysisches Modell ........................................................................................ 3.6 Leibniz: Substanzmetaphysik und Organismus-Paradigma

117

2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 3 3.1

51

117 130 138 139 150 167 175 188 204

VI

Inhalt

3.7

Hume: ›Sensualistische Mythologie‹ und kausale Wirksamkeit............................................................................... Kant: Die ›kopernikanische Wende‹ und ihre Revision ......

214 227

Schluß ....................................................................................................

235

Literaturverzeichnis.............................................................................. Personenregister ................................................................................... Sachregister ...........................................................................................

244 250 253

3.8

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1997/98 vom Fachbereich 1 der Universität Paderborn als Habilitationsschrift angenommen. Danken möchte ich Professor Franz Schupp, dem Erstgutachter der Arbeit, der meinen wissenschaftlichen Werdegang über Jahre hinweg begleitet und in vielfältiger Weise gefördert hat, sowie Professor Hans Ebeling und Professor Wolfram Hogrebe als den weiteren Gutachtern, denen ich gleichfalls wichtige Anregungen und Hinweise verdanke. Neben beständiger institutioneller Unterstützung an der Universität Paderborn hat ein einjähriger Forschungsaufenthalt an der Universität Leuven wesentlich zur Durchführung meiner Forschungen zu Whitehead beigetragen. Ein Forschungsstipendium und beste Arbeitsmöglichkeiten an dem Leuvener Center for Process Studies verdanke ich Professor Carlos Steel und Professor Jan van der Veken. In verschiedenen Phasen der Arbeit habe ich von vielfältigen Anregungen, Kritiken und Ratschlägen befreundeter Fachkollegen profitiert, die den Text ganz oder in Teilen gelesen haben und zu wichtigen Gesprächen bereit waren. Zu nennen sind neben den erwähnten Gutachtern besonders Axel Bühler, Michael Hampe, Gottfried Heinemann, Klaus Jacobi, Thomas Kater, Angelika Koelzer, Marcus Rossberg, Friedrich A. Uehlein, Jan van der Veken und Jochen Lechner, der maßgeblich zur Endredaktion der Arbeit und der Vorbereitung für den Druck beigetragen hat. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Schließlich danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Düsseldorf, im Januar 2001

Ch. K.

Unsere Ideengeschichte leitet sich aus unseren Ideen über die Geschichte ab, aus dem intellektuellen Standpunkt, den wir selber haben. A. N. Whitehead Kein Philosoph versteht seine Vorläufer, solange er nicht ihre Gedanken in seinen eigenen zeitgebundenen Begriffen neu gedacht hat. P. F. Strawson Einen Philosophen begreifen wird also immer darin bestehen, den eigentümlichen nexus zu finden, von dem aus sich sein ganzes Denken entfaltet. L. Braun

Einleitung

Im philosophischen Nachdenken ist die Geschichte der Philosophie immer präsent. Der ausdrückliche Verweis auf philosophiegeschichtliche Positionen prägt ebenso wie implizite Bezugnahmen auf tradierte Lehren philosophisches Schrifttum seit alters her. In aller Regel beziehen sich Philosophen auf Probleme, die sie zugleich in der Geschichte der Philosophie wahrnehmen. Die latente und allgegenwärtige Rückbezogenheit der Philosophie erkennt man allgemein als ein Sonderverhältnis an, das dieser Disziplin im Hinblick auf ihre eigene Geschichte zukommt. Dabei kann die Geschichtsbezogenheit philosophischen Nachdenkens in ganz verschiedener Weise zum Ausdruck kommen. Eine philosophiegeschichtliche Orientierung ist nicht nur darin zu sehen, daß eine philosophische Konzeption in erklärtem Anschluß an vorgängige Konzeptionen entwickelt wird. Auch in beiläufigen Rückgriffen kann sich der Einfluß einer wenigstens unterschwellig wirksamen Tradition dokumentieren. Selbst der programmatische Verzicht auf jede geschichtliche Orientierung – etwa da, wo man sich mit Hilfe der Kennzeichnung einer Fragestellung als ›rein systematisch‹ von jeder historischen Voraussetzung freizumachen glaubt oder vorgibt – beinhaltet seinerseits oft schon eine bestimmte theoretische Position zu tradierten Auffassungen. Inwieweit Philosophie unabhängig von jeder philosophiegeschichtlichen Orientierung einerseits sinnvoll und andererseits überhaupt realisierbar ist, sei hier dahingestellt. Die philosophiegeschichtliche Position Whiteheads bildet zu der eines dem Anspruch nach geschichtsfreien Philosophierens jedenfalls die extreme Gegenposition. Whitehead entwickelt seine Philosophie in ausdrücklichem »Vertrauen auf den positiven Wert der philosophischen Tradition« (PR, xiv / dt. 26).1 Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Geschichte der Philosophie aus der Sicht A. N. Whiteheads. Nun ist Whitehead kein Philo1

Auf die Hauptschriften Whiteheads wird mittels der allgemein üblichen Abkürzungen (vgl. Literaturverzeichnis) verwiesen. In den Zitaten folgt die Untersuchung bis auf Einzelfälle, in denen aus sachlichen Gründen oder wegen des Fehlens einer deutschen Ausgabe auf den Originaltext zurückgegriffen werden mußte, den Übersetzungen, auf die auch bei Stellenangaben zusätzlich zu den Originaltexten jeweils verwiesen wird.

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Einleitung

sophiehistoriker im eigentlichen Sinn und soll hier auch nicht als solcher dargestellt werden. Er hat jedoch die Entwicklung seiner metaphysischen Position in einer Weise mit philosophiegeschichtlichen Überlegungen verbunden bzw. auf solche gegründet, daß diese an sich schon zu näherer Untersuchung herausfordern. Zudem stellt sich die Aufgabe, Whiteheads philosophiegeschichtliche Überlegungen einerseits inhaltlich zu seiner eigenen Philosophie in Beziehung zu setzen und andererseits auf ihre methodische Funktion im Hinblick auf die Konzeption dieser Philosophie zu betrachten.2 Obgleich sich Whitehead über Zweck und Anspruch der philosophiegeschichtlichen Fundierung seines metaphysischen Hauptwerks PR nicht in Form einer eigentlichen Exposition äußert, kann doch seine Einschätzung der Funktion und Bedeutung dieser Fundierung aus der Anlage des genannten Werkes selbst sowie aus einer Vielzahl programmatischer Äußerungen erschlossen werden. Die in dieser Hinsicht bekannteste und zugleich für seinen philosophiehistorischen Standpunkt besonders signifikante Äußerung besagt, daß die philosophische Tradition Europas am sichersten als eine »Reihe von Fußnoten zu Platon« zu charakterisieren sei (PR, 39 / 91). Diese vielzitierte, im folgenden kurz als ›FußnotenThese‹ bezeichnete Äußerung bildet gleichsam den perspektivischen Fluchtpunkt der vorliegenden Untersuchung zu Whiteheads Sicht der Philosophiegeschichte. Ein Zugang zu Whiteheads Metaphysik über ihre philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen bietet sich nicht nur von der Gewichtung her an, die die Geschichte der Philosophie bei Whitehead selbst erfährt, sondern vermeidet auch Schwierigkeiten, die mit anderen Zugangsweisen verbunden sein können. Die meisten umfassenderen Interpretationsversuche, vor allem zu PR, stellen immanente Rekonstruktionen ausgehend von Whiteheads Grundbegriffen dar. Nicht zuletzt der Umstand, daß es sich dabei um eine Terminologie handelt, die oft in unkla-

2

Philosophiehistorische Bezüge sind vor allem signifikant für Whiteheads späte Hauptwerke Science and the Modern World (1925), Process and Reality (1929), The Function of Reason (1929), Adventures of Ideas (1933) und Modes of Thought (1938) (vgl. Literaturverzeichnis). Diese sind der letzten von drei Phasen zuzurechnen, die seit Lowe (1951) gewöhnlich in der Entwicklung des Whiteheadschen Denkens unterschieden werden: eine mathematische (1891–1913), eine naturwissenschaftliche (1914– 1923) und eine philosophisch-metaphysische (1924–1947); vgl. auch Bubser (21979), 266. Die vorliegende Untersuchung ist konzentriert auf die genannten späten Hauptwerke, andere Schriften Whiteheads werden nur gelegentlich berücksichtigt.

Einleitung

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rer bzw. auch in uneinheitlicher Weise definitorisch eingeführt und verwendet wird,3 verursacht zusammen mit der Kompliziertheit des ganzen Systems die Eindrücke, welche die Interpreten immer wieder von Dunkelheit, Undurchdringlichkeit, Esoterik usw. sprechen läßt.4 Da Whitehead ausdrücklich eine »vollständige Kosmologie« anvisiert, die eine Synthese ästhetischer, moralischer und religiöser Interessen mit naturwissenschaftlichen Begriffen zu leisten habe (PR, xii / 22),5 bieten sich neben immanenten Rekonstruktionen auch Interpretationsmöglichkeiten aus Sicht der modernen Naturwissenschaften an. In diesem Sinn ist in PR »ein Versuch zur Darstellung einer detaillierten naturphilosophischen Grundlage für die Physik des 20. Jahrhunderts als Ersatz für die newtonianische Naturphilosophie« gesehen worden.6 Indessen scheint es Whitehead selbst in seinen späten Hauptwerken weniger um eine Aufnahme und spekulative Weiterentwicklung naturwissenschaftlicher Theoriebildungen zu gehen als vielmehr um den Nachweis, daß eine metaphysische oder naturphilosophische Neukonzeption von der Revolution der Physik des 20. Jahrhunderts nicht unbeeinflußt bleiben darf und daß die Philosophie von einer kritischen Aufnahme naturwissenschaftlicher Theorien profitieren oder nur als ein damit verträglicher Ansatz ernstgenommen werden kann. Wenn man aber in Whiteheads Konzeption eine substantiell naturwissenschaftliche Theorie, etwa eine philosophisch ausgeweitete Quantentheorie, erkennen zu können glaubt, setzt man sich, wie auch Stegmaier in kritischer Wendung gegen die Whitehead-Schülerin Emmet betont,7 der Kritik eines verfehlten Phy-

3

Die Mehrdeutigkeit von Whiteheads Grundbegriffen beruht u. a. darauf, daß diese in der Entwicklungsgeschichte seiner Positionen, die insbesondere von Ford (1984) aufwendig rekonstruiert wird, Bedeutungsverschiebungen erfahren haben. Überdies werden terminologische Neueinführungen und selbst uneinheitliche Begriffsverwendungen von Whitehead ausdrücklich gerechtfertigt (AI, 228 ff., 233 f. / 405 ff., 414 f.). Gemildert werden diese terminologischen Probleme dadurch, daß es sich bei begrifflichen Neuschöpfungen (»actual entity«, »prehension«, »relatedness«, usw.) meist um sprechende Termini handelt oder auch um solche, die wegen ihres expliziten oder impliziten Bezugs zu traditionellen Vorläuferbegriffen aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive verständlich werden können. 4 Vgl. z. B. Bubser (21979), 273; Stegmaier (1988), 77; Hauskeller (1994), 30. 5 Nicht zuletzt deshalb ist Whitehead auch außerhalb der Philosophie, und zwar besonders in Biologie, Physik, Psychologie und Theologie einflußreich geworden; vgl. z. B. Holz / Wolf-Gazo (Hrsg.) (1984). 6 Lucas / Braeckman (Hrsg.) (1990), 9. 7 Stegmaier (1988), 69.

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Einleitung

sikalismus aus. Vor allem wird dabei übersehen, daß man es nach Whitehead im Rahmen physikalischer Theorien stets mit Abstraktionen zu tun hat, die es gerade mittels der Philosophie zu überwinden oder wenigstens zu reflektieren gilt, so daß bei Whitehead sogar der Ansatz eines »antiphysikalischen Weltbildes« gesehen worden ist.8 Die Tatsache, daß Whitehead sich in seinen philosophischen Hauptwerken weniger auf naturwissenschaftliche Theorien und in unvergleichlich stärkerem Maße auf Positionen der Philosophiegeschichte bezieht, indem er diese entweder in modifizierter Weise aufnimmt oder sich mehr oder weniger scharf von ihnen abgrenzt, eröffnet einen Zugang zu Whiteheads System, bei dem dieses primär über eine Revision seiner philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen zum Gegenstand der Analyse wird. Die vorliegende Arbeit verzichtet damit weitgehend auf naturwissenschaftliche Rekonstruktionsversuche wie auch auf eine immanente Interpretation der Metaphysik Whiteheads. Diese soll nur insoweit dargelegt und einbezogen werden, wie sie mit seinen philosophiegeschichtlichen Überlegungen in einem direkten Zusammenhang steht oder wie erwartet werden kann, daß philosophiegeschichtliche Überlegungen und die metaphysische Neukonzeption wechselseitig Licht aufeinander werfen. Da Whitehead offensichtlich der Auffassung ist, daß die Philosophiegeschichte und seine eigene metaphysische Konzeption eine gegenseitige Erläuterungsfunktion erfüllen können, ist der Versuch, Whitehead ausgehend von seinem Bild der Philosophiegeschichte zu begreifen und auch umgekehrt die Philosophiegeschichte ausgehend von seiner Konzeption zu lesen, von besonderem hermeneutischem Wert. Eben diese Auffassung vertreten auch Lucas und Braeckman, für die PR »an erster Stelle als eine historische Auseinandersetzung mit der modernen Philosophie von Descartes bis Kant« gilt,9 woraus sie das Fazit ziehen: »Unserer Meinung nach wird Whitehead am besten verstanden, indem man seine Vergangenheit untersucht und vor allem indem man sich direkt mit Whiteheads eigener Auseinandersetzung mit anderen Philosophen in dieser Tradition befaßt.«10 Die Whitehead nachgesagte Dunkelheit kann so vermittels geläufiger philosophischer Traditionen transparenter gemacht werden. Genügend Hinweise darauf, daß seine Philosophie aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive gelesen werden kann oder

8 9 10

Rapp (1986), 99. Lucas / Braeckman (Hrsg.) (1990), 10. Ebd., 11.

Einleitung

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sogar muß, zumal sie sich ihrerseits eben dieser Perspektive verdankt, hat Whitehead selbst gegeben. Die bisherige Forschung hat in ihren Versuchen, Verbindungen Whiteheads zur Tradition sichtbar zu machen oder herzustellen, aus der Sicht Stegmaiers den Weg gewählt, »Whiteheads eigenen Genealogien weniger Gewicht beizumessen und sich aus der Distanz historischer Kennerschaft einen eigenen Überblick zu verschaffen.«11 Diesen üblicheren Weg differenziert Stegmaier wiederum in drei Zugangsweisen: Die erste bestehe im Herausstellen »globaler Familienähnlichkeiten mit anderen Philosophen«, die zweite intendiere einen »doxographischen Vergleich« Whiteheads mit einzelnen seiner Bezugsautoren, um sein Verständnis dieser Autoren kritisch zu prüfen und darüber hinaus systematisch fruchtbar zu machen, die dritte schließlich liege in dem Anspruch der Interpreten, »von Whiteheads Philosophie aus die philosophische Tradition selbst neu sehen [zu] lehren.«12 Diese dritte Zugangsweise bestimmt zusammen mit der Intention, Whiteheads eigene Genealogien stärker in den Blick zu nehmen als dies bislang versucht wurde, die Zielsetzung der folgenden Untersuchung. Bisherige philosophiehistorische Annäherungen an Whitehead sind konzentriert auf eine Aufnahme und Sichtung ausdrücklicher Bezüge, auf eine spekulative Rekonstruktion vermuteter Einflüsse oder auch auf den Vergleich mit Autoren, die Whitehead fernstanden. Die vorliegende Arbeit ist in dieser Hinsicht weitgehend beschränkt auf ausdrückliche Bezüge. So wird z. B. von der in der Literatur immer wieder angedeuteten Affinität Whiteheads zu Hegel abgesehen, da Hegel in der Geschichte der Philosophie, wie sie Whitehead in ihren wesentlichen Positionen sowie als Vorgeschichte seines eigenen Systems vor Augen hat, keine Rolle spielt. Whitehead beschränkt sich vielmehr auf seltene, allgemein bleibende Bezugnahmen und erklärt ausdrücklich, zu Hegel nie einen Zugang gefunden zu haben (ESP, 10).13 Auch der Einfluß Berkeleys, der

11

Stegmaier (1988), 64. Ebd., 64 f.; Alle drei Zugangsweisen belegt Stegmaier anhand von Beispielen aus Holz / Wolf-Gazo (Hrsg.) (1984) und Rapp / Wiehl (Hrsg.) (1986). 13 Whiteheads Abgrenzung von Hegel ist klar und deutlich: »I have never been able to read Hegel: I initiated my attempt by studying some remarks of his on mathematics which struck me as complete nonsense.« Umso erstaunlicher ist, daß Lucas / Braeckman (Hrsg.) (1990) mit ihrem Aufsatzband, der fast ausschließlich aus Vergleichsstudien zu Whitehead und Hegel besteht, beanspruchen, sich Whiteheads eigener historischer Auseinandersetzung zu widmen (ebd., 11). 12

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Einleitung

für Whiteheads philosophische Entwicklung mit Nachdruck geltend gemacht wurde,14 bleibt hier unberücksichtigt, weil von diesem Denker, abgesehen von einigen beachtenswerten Bezugnahmen in SMW, in Whiteheads philosophischen Hauptwerken so gut wie nirgends die Rede ist. Nicht Affinitäten oder zu vermutende Einflüsse, sondern explizite philosophiegeschichtliche Reflexionen, denen wir als solchen einen eigenen Status und eine eigene Qualität zuweisen, sollen also Gegenstand der Untersuchung sein. Die gleichwohl nicht uninteressante Frage nach den Ursachen für auffällige Auslassungen in Whiteheads Bild der Philosophiegeschichte soll, ebenso wie die Frage nach unterschwelligen Einflüssen, für die vorliegende Arbeit nur am Rande von Interesse sein. Erklärungsversuche dahingehend, was ein Autor nicht oder nur beiläufig behandelt, haben meist einen allzu spekulativen Charakter.15 Auslassungen und Untergewichtungen wie diejenige Hegels oder auch Berkeleys zeigen an, daß Whitehead kein Bild der Philosophiegeschichte entwirft, das mit Vollständigkeitsansprüchen verbunden sein und an entsprechenden Maßstäben gemessen werden könnte. Wichtig für Whitehead ist nicht die Philosophiegeschichte im Sinne der Fiktion eines vollständigen Ganzen, sondern vielmehr die Philosophiegeschichte in der Funktion eines Reservoirs, aus dem er die individuelle Vorgeschichte seiner eigenen Konzeption rekonstruiert. Deshalb führt Whitehead die Geschichte der Philosophie nicht in ihrer Ganzheit und vermeintlichen Vollständigkeit vor Augen, sondern greift exemplarisch für ihn wichtige Elemente heraus. Die aus historischer Sicht wohl bedeutsamsten Bezugsautoren Whiteheads sind Platon, Aristoteles, Descartes, Newton, Locke, Leibniz, Hume und Kant.16 Diese Denker stellen in Whiteheads Bild der Philosophiegeschichte gleichsam topographische Punkte dar, denen eine 14

Vgl. Wolf-Gazo (1986), 33–45. Auch Lowe (21951), 117 f., hebt Berkeleys vermeintlichen Einfluß auf Whitehead hervor und wertet zugleich dessen eigene Genealogien (Descartes, Locke) auffallend ab. 15 Vor allem Whiteheads sporadische Äußerungen zur mittelalterlichen Philosophie, die keinerlei Quellenstudien erkennen lassen, sondern sich wohl wesentlich der Lektüre Taylors (1911) verdanken, wirken eher oberflächlich und klischeehaft. Da Whitehead überdies in der Philosophie des Mittelalters offenbar keine direkten Voraussetzungen für seine Metaphysik gesehen hat, bleibt diese Epoche in der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt. 16 Andere für Whitehead wichtige Bezugsautoren sind u. a. James, Bradley, Bergson und Santayana, die aber für ihn nicht Philosophiegeschichte darstellen, sondern mehr oder weniger zeitgenössische Autoren sind und daher hier nicht zum primären Untersuchungsgegenstand gehören.

Einleitung

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zweifache Orientierungsfunktion zukommt: Sie bilden sowohl die Leitlinie, anhand derer Whitehead seine Leser durch die Philosophiegeschichte führt, als auch die Koordinaten, anhand derer er seine eigene metaphysische Konzeption entwickelt. Nicht nur diese Konzeption selbst, sondern auch ihre philosophiegeschichtlichen Prämissen sind oft mit einer Mischung aus Staunen und Irritation aufgenommen worden. Lucas und Braeckman vermerken Whiteheads »ungeläufige und zuweilen sehr ungewöhnliche Lektüre traditioneller Texte und Figuren wie etwa Hume, Locke und Descartes«, seine »kontroversen und sogar fragwürdigen Interpretationen«. 17 Stegmaier leitet sein Forschungsresumé zu Whitehead mit der Feststellung ein: »Kenner der philosophischen Tradition lesen Whiteheads Werke wie sinnreiche Fabeln: voll fremdartiger, manchmal skurriler Gestalten und doch faszinierend durch ihren Gang und ihre überraschende Moral.«18 Diese »fremdartigen, skurrilen Gestalten«, also Platon, Aristoteles, Descartes usw., sind demnach zuweilen nicht mehr die Figuren der Philosophiegeschichte, die wir kennen oder zu kennen meinen, sondern neue, unbekannte Größen. Indessen kann auch ein philosophiegeschichtliches Bild, das sich nicht unmittelbarer historisch-kritischer Forschung verdankt, als Beitrag zum Verständnis von Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaft von Wert sein, wie Hampe ausdrücklich geltend macht.19 Zudem ist der gerne betonte faszinierend-spekulative Zugang, den z. B. Specht an Whiteheads Locke-Interpretation (wenngleich mit nachsichtigem Unterton) kritisiert,20 keinesfalls der für Whitehead allein charakteristische. Whiteheads Bild der Philosophiegeschichte entfaltet sich oft in ausgiebiger Textexegese, es wird dokumentiert und ergänzt durch manchmal seitenlange Zitate seiner Bezugsautoren, vor allem Descartes’ und Humes, und ist dabei durch einen streckenweise philologisch-präzisen Interpretationsstil geprägt. Hinsichtlich seines Zugangs zu Hume wurde Whitehead treffend als »analytic reader« bezeichnet.21 Gerade die Verbindung mit wissenschaftlich-analytischer Bodenständigkeit, die aus unserer Sicht dem spekulativen Zugang das Fabulöse nimmt, macht eine Besonderheit von Whiteheads Bild der Philosophiegeschichte aus. 17 18 19 20 21

Lucas / Braeckman (Hrsg.) (1990), 10. Stegmaier (1988), 61; vgl. auch Hampe (1997), 98. Hampe (1990), 13. Specht (1986), 66 ff. Welten (1984), 401.

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In der selektiv gewonnenen und gewichteten Vorgeschichte seiner eigenen Konzeption finden übernommene und zurückgewiesene Positionen der Bezugsautoren mit gleicher Berechtigung Aufnahme. Whitehead versteht seine Konzeption als komplexe Hypothese, was zugleich eine Distanzierung von Endgültigkeitsansprüchen, letztlich von Dogmatismen überhaupt, bedeutet. Der Gedanke des Hypothetischen bestimmt indessen nicht nur seinen eigenen metaphysischen Entwurf, sondern seine Auffassung davon, was Philosophie immer schon war und sein mußte, nämlich eine Abfolge von Versuchen, sich einem fiktiven Stand endgültiger Gewißheit asymptotisch anzunähern. So läßt sich Whiteheads Position zur Philosophiegeschichte als ein Verhältnis zu Hypothesen der Vergangenheit charakterisieren, denen neue, verbesserte Hypothesen hinzuzufügen sind. Da Whitehead, wie erwähnt, ein Philosophiehistoriker im eigentlichen Sinn weder ist noch sein will, wäre es unangemessen, ihn als solchen zu befragen und zu kritisieren. Whitehead will keine Geschichte der Philosophie schreiben, sondern, wie gesagt, die Vorgeschichte seiner eigenen philosophischen Konzeption zur Geltung bringen. Natürlich sind die Geschichte der Philosophie und die Vorgeschichte der Konzeption Whiteheads keine völlig disparaten Gebilde. Entscheidend ist aber das selektive Moment. Einzelne Epochen, Figuren und Werke der Philosophiegeschichte bieten sich für Whitehead an, hervorgehoben und mit der eigenen Konzeption affirmativ oder kritisch in Beziehung gesetzt zu werden. Daß er bei dieser Vorgeschichte verschiedene Traditionen in unterschiedlicher Weise im Auge hat, wobei natürlich auch wesentliche Traditionen aus der Betrachtung ganz herausfallen können oder sogar müssen, versteht sich von selbst, so daß ein Unvollständigkeitsverdikt von vornherein leerläuft. Wie es also falsch wäre, bezogen auf Whitehead mit dem Begriff einer vollständigen oder unvollständigen Philosophiegeschichte zu operieren, so kann es auch zumindest fragwürdig sein, von einer vermeintlich gelungenen oder mißlungenen Interpretation eines bestimmten Philosophen oder eines einzelnen Werks auszugehen. Wer z. B. Whiteheads Descartes-Verständnis oder Kant-Verständnis kritisiert, orientiert sich an dem Anspruch, diesen Autoren selbst gerecht zu werden bzw. ihnen eher oder besser gerecht zu werden, als Whitehead dies gelungen sei. Dabei unterliegt man jedoch der Gefahr, Whitehead selbst und seinem Anspruch im Hinblick auf den jeweiligen Autor nicht gerecht zu werden. Befassen wir uns etwa mit Whiteheads Descartes-Interpretation im Hinblick auf ein besseres Verständnis des Whiteheadschen Denkens, so

Einleitung

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muß die Frage »Interpretiert Whitehead Descartes richtig?« hinter der Frage »Welche Rolle spielt Descartes für Whiteheads Denken?« zurückstehen. Jenseits einer einfachen ›richtig‹ / ›falsch‹-Alternative ergeben sich erst die Fragen, die für ein Verständnis von Whiteheads Bild der Philosophiegeschichte und auch von seiner eigenen Philosophie wichtig sind: Wie verstehen wir Whitehead als einen Autor, der Descartes so versteht, wie er ihn versteht? Die Descartes-Interpretation als solche wird auch bei dieser Frage nicht irrelevant, tritt aber hinter der Frage nach Whiteheads Descartes-Verständnis fast zwangsläufig zurück. Besonders auch bezogen auf Platon wird in der vorliegenden Untersuchung die Frage danach, ob Whitehead hier einen Autor der Philosophiegeschichte ›richtig‹ oder ›falsch‹ interpretiere, zurückgestellt. Wir werden Whiteheads Platon-Bild in dem sicheren Bewußtsein nachvollziehen, daß sich dieses nicht überall mit etablierten Platon-Auslegungen deckt. Im Vordergrund soll die Frage stehen, was die europäische Philosophietradition zu ›Fußnoten zu Platon‹ macht, bzw. wie die FußnotenThese verstanden worden ist und verstanden werden kann. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit Whitehead plausibel macht, daß die Geschichte der Philosophie eine Kontinuität darstellt, an deren Anfang Platon steht, und die schließlich in eine Organismusphilosophie im Sinne Whiteheads – d. h. eine Konzeption, die wesentlich auf der Annahme letzter dynamischer Wirklichkeitseinheiten aufbaut – einmünden soll. Gibt es prägende und sich durchhaltende Einflüsse Platons, und worin bestehen diese? Inwieweit findet sich die Auffassung der zentralen Rolle Platons in den philosophiegeschichtlichen Ausführungen Whiteheads bestätigt oder vertieft? Die vorliegende Arbeit wird sich also an den entsprechenden Stellen der Frage zuwenden, welche die aus der Sicht Whiteheads prägenden Einflüsse Platons auf nachfolgende Philosophietraditionen sind, und in welchem Sinn die Philosophie Platons und die der nachfolgenden Traditionen als wesentliche Prämissen der Organismus-Philosophie Whiteheads gelten können. Natürlich soll und kann sich die Arbeit nicht auf Whiteheads PlatonBezüge beschränken, sondern wird auch auf die wichtigsten ›Fußnoten‹ bzw. nachfolgenden Traditionen eingehen, wobei jeweils begründete Schwerpunkte zu setzen sind. Daß wir Descartes mehr Raum widmen als Hume und Locke, die, wie von Specht eigens nachgerechnet,22 auf noch mehr PR-Seiten Erwähnung finden als jener, beruht darauf, daß Whitehead bei den beiden Empiristen Denkvoraussetzungen herausarbeitet, 22

Specht (1986), 47.

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Einleitung

die er zum großen Teil schon bei Descartes grundgelegt sieht, so daß sie primär dort zu behandeln sind. Überdies ergeben sich bei Descartes anders als bei Locke und Hume neben inhaltlichen Bezügen auch methodologische Anknüpfungspunkte an Whiteheads Vorstellung einer wesentlich platonischen Philosophie und Philosophiegeschichte. Die vorliegende Untersuchung umfaßt drei Teile. Der erste ist der philosophiegeschichtlichen Perspektive Whiteheads als solcher gewidmet. Dabei werden ein allgemeinerer, wissenschaftshistoriographischer und ein engerer, im eigentlichen Sinn philosophiegeschichtlicher Aspekt unterschieden, auf den sich auch der zweite und dritte Teil der Untersuchung konzentrieren. Besonderes Interesse hinsichtlich Whiteheads philosophiegeschichtlicher Perspektive verdient seine Stellung zu Platon, soweit sie in der Fußnoten-These und in damit verbundenen Überlegungen Whiteheads zum Ausdruck kommt. Im zweiten Teil wird es darum gehen, allgemeine Voraussetzungen für Philosophie bzw. philosophische Spekulation und Theoriebildung aus der Sicht Whiteheads zu rekonstruieren und diese philosophiegeschichtlich zu reflektieren. Im dritten Teil sollen die für Whitehead besonders relevanten philosophiegeschichtlichen Positionen aus seiner Perspektive rekonstruiert werden, wobei ›Relevanz‹ nicht nur Anlaß für positive Aufnahme bedeutet, sondern ebenso auch für Kritik und Abgrenzung. Die traditionellen Positionen – insbesondere die als topographische Punkte der Philosophiegeschichte hervorgehobenen Zentralfiguren – werden einerseits, soweit erforderlich, zu Hauptelementen von Whiteheads Metaphysik in Beziehung gesetzt, andererseits an geeigneten Stellen auch in der Weise auf Platon zurückbezogen, daß erkennbar wird, ob und inwieweit die Fußnoten-These durch sie eine Bestätigung erfährt. Die Fußnoten-These selbst verweist auf die Fragen, welche Rolle die platonische Philosophie für Whiteheads System spielt, und welche Rolle die platonische Philosophie in Whiteheads Bild der Philosophiegeschichte einnimmt.

1 Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

1.1 Philosophie und Philosophiegeschichte »Man kann die Geschichte auf zwei Arten lesen: vorwärts und rückwärts« (SMW, 4/14). Im Kontext dieser generalisierenden und vielleicht nicht originellen, für den vorliegenden Zusammenhang gleichwohl grundlegenden Feststellung erklärt Whitehead hinsichtlich der Geschichte des Denkens beide ›Lesarten‹ bzw. Methoden für erforderlich: Ein »geistiges Klima« wird nur verständlich unter Berücksichtigung seiner Voraussetzungen und seiner Folgen (ebd.), d. h. nur unter Lösung von einer rein retrospektiven Sicht. Der Akzent liegt hier zunächst auf dem Unterschied gegenüber der Möglichkeit von Geschichte in Form eines rein chronistischen Zugangs, der Abfolgen im vereinfachenden Sinne des ›vorher‹ und ›nachher‹ klären soll. Im Gegensatz dazu fordert Whitehead für eine Geschichte des Denkens bzw. eine Ideengeschichte den Aufweis, wie – d. h. in welcher Form, infolge welcher Ursachen, mit welchen Auswirkungen, unter welchen Modifikationen, mit welchem Gewinn und unter welchen Preisgaben – geschichtliche Stadien in nachfolgenden Stadien aufgehen bzw. wie bestimmte Stadien aus ihren historischen Voraussetzungen resultieren. Nur so kann die historische Betrachtung eine isolierende Vereinzelung ihrer Themen und Gegenstände vermeiden. Whiteheads Intention zeigt hier zugleich Affinitäten zu dem Anspruch, den Gadamer mit dem Begriff »Wirkungsgeschichte« zur Geltung bringt.23 In diesem Sinn will Whitehead nicht nur die Besonderheit bestimmter wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge der Vergangenheit – insbesondere der in einem spezifischen Sinn platonischen Tradition, wie noch gezeigt wird – bewußt machen, sondern auch die Weise, in der sein eigenes Philosophieren dem Wirken von Wirkungsgeschichte unterliegt. Dieses Wirken findet, mit Gadamer gesprochen, Ausdruck im Verstehen als dem »Vorgang der Verschmelzung […] vermeintlich für sich seiender Horizonte « der Gegenwart und der Vergangenheit.24 Die Auslegung der Philosophietradition als eine einheitliche platonische Wirkungsgeschichte, der Whitehead konsequenterweise auch sein eigenes System subsumiert, ist 23 24

Gadamer (61990), 305–312. Ebd., 311 (kursiv bei Gadamer).

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

exemplarischer Ausdruck einer solchen Verschmelzung im Zuge historischen Verstehens. Whitehead selbst liest, wie im Eingangszitat vorgesehen, die Geschichte des Denkens vorwärts und rückwärts. Ein Verständnis seiner ideengeschichtlichen Reflexionen ist somit daran gebunden, sich beide Lesarten zu eigen zu machen. In AI – den Titel könnte man nach Whitehead im weitestmöglichen Sinn mit »Die Geschichte der Menschheit im Hinblick auf die ganze Vielfalt ihrer geistigen Erfahrung« paraphrasieren (AI, 3 / 79) – beschränkt er seine geschichtliche Perspektive ausdrücklich nicht auf die Vergangenheit. Vielmehr sollen Gegenwart und Zukunft mit zum Untersuchungsgegenstand gehören, »weil alle drei wechselseitig Licht aufeinander werfen und durch das Band eines gemeinsamen Interesses zusammengehalten werden« (ebd.). Auch hier wird erkennbar, daß es Whitehead nicht um eine chronistische Bestandsaufnahme einzelner geistesgeschichtlicher Episoden geht, sondern um eine kohärente Entwicklungsgeschichte der Zivilisation und der Vielfalt der sie ausmachenden geistigen Erfahrung. Am Anfang und im Zentrum dieser intellektuellen Vielfalt stehen dabei diejenigen Beiträge, die uns als Geschichte der Philosophie gegenwärtig sind. Die Geschichte der Philosophie kann in verschiedener Hinsicht Gegenstand eines wissenschaftlichen Interesses sein. Neben anderen möglichen Unterscheidungen bietet sich diejenige als besonders grundsätzlich an, die ein außerphilosophisches von einem innerphilosophischen Interesse unterscheidet.25 Aus der Perspektive eines außerphilosophischen Interesses kann die Geschichte der Philosophie etwa im Rahmen allgemeiner kultur- oder wissenschaftsgeschichtlicher Fragestellungen betrachtet und ggfs. zu anderen historischen Zusammenhängen in Beziehung gesetzt werden. Einem solchen Interesse liegt dann die Frage zugrunde, welche theoretischen Gebilde in der Vergangenheit hervorgebracht worden sind, die der Bezeichnung »Philosophie« subsumiert und entsprechend diskutiert wurden. Dabei werden nicht nur diese theoreti25

Die Ausführungen des vorliegenden Kapitels sollen vor allem sichtbar machen, inwiefern Whitehead als philosophiegeschichtlicher Autor gelten und von Interesse sein kann, und welche Möglichkeiten der Interpretation bzw. der Kritik sich aus einer allgemeinen Typisierung seines philosophiegeschichtlichen Zugangs ergeben. Eine Reflexion verschiedener historiographischer Zugangsweisen als solcher sowie ein Beitrag zu entsprechenden Diskussionen ist dagegen nicht beabsichtigt. Auch sei angemerkt, daß die hier beschriebenen Zugangsweisen zur Geschichte der Philosophie idealtypisch unterschieden werden, während sie tatsächlich meist in vermischter Form vorkommen.

Philosophie und Philosophiegeschichte

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schen Gebilde selbst, sondern zugleich die mit ihnen erhobenen Wahrheitsansprüche und -behauptungen als historisches Faktum konstatiert. Neben den möglichen Interessen aus außerphilosophischen Perspektiven ist vor allem innerhalb der Philosophie selbst deren Geschichte Gegenstand unterschiedlich motivierter Fragestellungen und Untersuchungen. Nach allgemeiner Auffassung ist die Philosophie in einer besonderen, von den anderen Wissenschaften unterschiedenen Weise auf ihre eigene Geschichte bezogen, der sich die Autoren etwa in Form einer Problemgeschichte oder in Form einer Vorgeschichte nachfolgender philosophischer Positionen und Theorien zuwenden.26 Dabei kann die Philosophie in der Weise auf ihre eigene Geschichte bezogen sein, daß in der Vergangenheit entwickelte und vertretene Positionen und Theorien in ihrer Abfolge, häufig auch unter dem fragwürdigen Aspekt der ›Vorwegnahme‹ späterer Sichtweisen, Gegenstand des Interesses sind. Dieser Zugang der Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte ähnelt aufgrund seines chronistischen Charakters dem erwähnten Zugang zur Geschichte der Philosophie aus der Perspektive eines außerphilosophischen Interesses. Andererseits kann innerhalb der Philosophie ein Interesse an ihrer eigenen Geschichte ganz anders motiviert sein, indem die im Rahmen der Entwicklung ihrer Positionen und Theorien formulierten Wahrheitsansprüche nicht nur im historischen Rückblick chronistisch konstatiert, sondern als solche ernstgenommen und geprüft werden. Aus dieser erst in einem engeren Sinn philosophisch zu nennenden Zugangsweise zur Geschichte der Philosophie kann zusätzlich eine Revision früherer Positionen erwachsen, die zur Entwicklung einer neuen Theorie führt, welche mit vorgängigen Positionen in eine direkte Konkurrenz um den Anspruch auf Wahrheit tritt. Eine solche weniger historisch als vielmehr genuin philosophisch motivierte Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte begegnet uns in paradigmatischer Weise bei Whitehead. Die hier unterschiedenen Zugangsweisen zur Geschichte der Philosophie korrespondieren den möglichen Zugangsweisen zur Geschichte der Wissenschaft im allgemeinen, die als wissenschaftsexterner und wissen26

Die Geschichte und Systematik innerphilosophischer Reflexionen auf die Geschichte der Philosophie ist wiederum Gegenstand ausführlicher Studien und Diskussionen geworden, von denen hier besonders Geldsetzer (1968), Rorty / Schneewind / Skinner (Hrsg.) (1984), Braun (1990), Schneider (1990), Sandkühler (Hrsg.) (1991), Gracia (1992) und Kolmer (1998) zu nennen sind. Bemerkenswert ist, daß in diesen Arbeiten Whitehead nur beiläufig oder gar nicht erwähnt wird.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

schaftsinterner Ansatz oder einfach als Externalismus und Internalismus unterschieden werden.27 Dabei kann erst derjenige innerphilosophische Zugang, der über eine chronistische Perspektive hinausgeht, indem er die Wahrheitsansprüche philosophischer Theorien als solche ernstnimmt und prüft, mit einer internalistischen Perspektive identifiziert werden. Nur ein solcher Zugang erlaubt es, eine über das Konstatieren von Abfolgen hinausgehende theoretische Position gegenüber den historisch betrachteten Theorien zu beziehen. Der Zugang Whiteheads zur Geschichte der Philosophie enthält gleichermaßen externalistische und internalistische Züge. Einerseits thematisiert Whitehead wesentliche Entwicklungslinien der Geschichte der Philosophie als Phänomene, die er aus den Bedingungen ihrer als ganzheitlich begriffenen kulturellen Umgebung erklärt. Dabei betrachtet er diese philosophischen Entwicklungslinien sowohl unter dem integralen Gesichtspunkt einer Wissenschaftsgeschichte (bes. in SMW ) als auch unter dem einer allgemeineren Zivilisationsgeschichte (bes. in AI ), welche er wiederum als Teile oder Aspekte einer umfassenden Naturgeschichte 28 thematisiert (bes. in FR ). Dies ist durch die an sich schon enge Verbindung oder gegenseitige Durchdringung von philosophischen Konzeptionen und sonstigen geistesgeschichtlichen Entwicklungen bedingt und gerechtfertigt, gibt aber auch Whiteheads besonderes Interesse wieder, die Geistesgeschichte in einer Totalität ihrer Bezüge in den Blick zu nehmen, die programmatisch am Anfang seines eigenen Entwurfs einer philosophischen Kosmologie in PR eingefordert wird (PR, xii / 22). Andererseits analysiert Whitehead einzelne philosophische Entwicklungslinien als solche, d. h. in Abstraktion von den Bedingungen ihres Entstehens (bes. in PR ), insofern er sie sowohl in ihren Grundzügen als auch in vielen Einzelheiten etwa auf Kohärenz und Adäquatheit hin untersucht.29 Eine Revision von Positionen und Theorien, die im Verlauf der Geschichte der Philosophie entwickelt worden sind, im Hinblick auf Kohärenz und Adäquatheit entspricht indessen einer internalistischen Perspektive, was im Sinne der oben angesprochenen Differenzierung bedeutet, daß Whitehead die mit diesen Theorien verbundenen Wahrheitsansprüche als solche ernstnimmt und prüft. 27

Vgl. Kuhn (1978), 169–193, bes. 174–187. Der Ausdruck »Naturgeschichte« ist hier in dem weiten Sinn einer naturwissenschaftliche sowie metaphysische Aspekte einschließenden Entwicklungsgeschichte des Universums zu verstehen, die in FR auf die Geschichte des Menschen als Vernunftwesen fokussiert ist. 29 Vgl. 2.3.3. 28

Zwei philosophiegeschichtliche Aspekte

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Eine philosophische Theorie vor dem Hintergrund der Geschichte der Philosophie, d. h. im Anschluß an oder in Abgrenzung von anderen philosophischen Theorien zu entwickeln, sei es explizit oder unausgesprochen, ist natürlich kein Spezifikum der Philosophie Whiteheads. Trivialerweise läßt sich sagen, daß im Verhältnis zu jeder philosophischen Theorie vorgängige Theorien und Positionen Philosophiegeschichte sind. Jedoch wird Whitehead diesem Sachverhalt in einer besonderen Weise gerecht, insofern er sein System aus bestimmten Entwicklungslinien und Positionen der Geschichte der Philosophie sowie aus deren Kritik unmittelbar herleitet.30 Erst über eine kritische Revision vorgängiger Positionen gelangt Whitehead zu einem neuen metaphysischen System. Philosophiegeschichtliche, kulturgeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen – gelegentliche fließende Übergänge liegen hier in der Natur der Sache – haben in Whiteheads späten Hauptwerken ein besonderes Gewicht, sind häufig von einer ungewöhnlichen Originalität und haben eine unmittelbare methodologische und inhaltliche Relevanz für seine eigene Konzeption von spekulativer Philosophie.

1.2 Zwei philosophiegeschichtliche Aspekte Hinsichtlich der Position Whiteheads zur Geschichte der Philosophie lassen sich in einer ersten, grundlegenden Differenzierung zwei Aspekte unterscheiden, nämlich (i) der einer Bewertung allgemeiner Umstrukturierungen von Wissenschaft insgesamt und deren Auswirkungen auf die Philosophie und (ii) der einer Analyse genuin philosophischer Positionen in ihrer Abfolge, sei es in Form einer positiven Aufnahme oder einer Kritik. Beiden Aspekten liegt ein innerphilosophisches Interesse zugrunde, wobei (i) auf einem externalistischen, (ii) auf einem internalistischen Zugang beruht. Zugleich dienen beide Aspekte als Hintergrund, vor dem Whitehead sowohl seine eigene Konzeption entwickelt als auch eine revidierte Aufgabenstellung an die Philosophie formuliert. Beide Aspekte sind zunächst näher zu erläutern. (i) Die Geschichte der Philosophie ist geprägt von Objektverlusten. Ursprüngliche Objektbereiche haben sich als Themenbereiche wissenschaftlichen Zugangs verselbständigt und sind Gegenstand neuer Wissen30

Ob Whitehead mit diesem Vorgehen möglicherweise an Schelling, Hegel oder andere, die für ihre Konzeptionen ähnliches behaupten, anknüpft, könnte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein.

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schaftsgebilde geworden. Mit dieser Entwicklung scheint zugleich der traditionelle Anspruch der Philosophie verlorengegangen, begründete Aussagen über die Welt als Ganzes zu machen. Insofern ist der Übergang bestimmter Objektbereiche von der Philosophie hin zu anderen Disziplinen nicht einfach als der eher unproblematische Wechsel von Zuständigkeiten oder Fachkompetenzen anzusehen, sondern hat zugleich zum Verlust dessen beigetragen, was man als Weltbild in einem umfassenden Sinn, als »unparteiischen Blick auf das Ganze«,31 bezeichnen kann. Whitehead geht es wesentlich um diejenigen Objektverluste, die mit der Herausbildung und Verselbständigung der modernen Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert verbunden sind. Damit problematisiert er zugleich die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchliche Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften, welche er der Sache nach auf Descartes zurückführt. Dieser hat demnach durch seine Kontrastierung von ›res cogitans‹ und ›res extensa‹ als zwei isolierte Substanzen der von Whitehead als ›bifurcation‹ der Wirklichkeit bezeichneten Dichotomie einer geistigen und einer materiellen Sphäre den Weg geebnet.32 Den hieraus resultierenden Objektverlust der Philosophie beschreibt Whitehead so, daß sich seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts die Naturwissenschaften der »materiellen Natur«33 und die Philosophie der »denkenden Geister« annahm (SMW, 180 / 170), und resümiert: »Die Philosophie hat alles in allem den Geist hervorgehoben und verlor dadurch in den beiden letzten Jahrhunderten den Kontakt zur Wissenschaft.« (SMW, 240 / 224) Der Objektverlust, von dem die Philosophie betroffen ist, setzt sich innerhalb der einzelnen Naturwissenschaften gleichsam unter geänderten Voraussetzungen und infolge anderer Einflußgrößen fort, was sich wesentlich den Tendenzen von Arbeitsteilung und Spezialisierung verdankt. Auf derartige Entwicklungen führt Whitehead die Probleme des Professionalismus zurück, die einen Ausgangspunkt für seine Diagnose von Weltbilddefiziten bilden. Ein Charakteristikum der modernen Welt sieht Whitehead in der »Entdeckung der Methode, Profis auszubilden, die sich auf besondere Denkgebiete spezialisieren und dadurch ständig das Wissen innerhalb der Grenzen ihres jeweiligen Themengebiets erwei31

Russell (1967), 139. Vgl. 3.3.2. 33 Whitehead verwendet in diesem Kontext wiederholt den Ausdruck »materialistic nature«, der von Holl entsprechend mit »materialistische Natur« übersetzt, hier aber korrigierend mit »materielle Natur« wiedergegeben wird. 32

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tern.« (SMW, 244 / 228)34 Damit verbunden sind jedoch Probleme eines Fortschritts, der auf Abstraktion beruht, der nur Entwicklungen in einem ausgegrenzten Bereich des Wissens ermöglicht, der Schwächen der Koordination offenbart, und dem es folglich an einer allgemeinen, begründeten Richtung fehlt (SMW, 245 / 229). Begünstigt werden solche Effekte durch eine grundsätzliche Neigung der Wissenschaftler, an einmal funktionierenden Methoden festzuhalten bzw. Wirklichkeitsaspekte, die sich mit einer jeweils dominierenden Theorie nicht erklären lassen, schlicht zu ignorieren: »Wer über eine für die Verfolgung seiner dominierenden Interessen gute Methode verfügt, zeigt häufig bei den umfassenderen Urteilen, bei denen es um die Einordnung seiner Methode in ein vollständigeres Ganzes der Erfahrung geht, nahezu pathologische Defekte.« (FR, 11 / 12) Angesichts dieser Tendenzen schreibt Whitehead der Philosophie die Aufgabe einer »Kritik der Abstraktionen« zu, die von der Philosophie zu leisten ist. Die Naturwissenschaften selbst neigen nicht dazu bzw. sind nicht in der Lage, sich über die Abstraktionen, auf die sie konzentriert und in denen sie befangen sind, Rechenschaft abzulegen. Daher sind sie auf eine äußere Instanz angewiesen, die zur Explikation und Kritik einzelwissenschaftlicher Abstraktionen imstande ist – eben jene philosophische Kosmologie, die Whitehead in PR entwirft. Zusammenfassend läßt sich zu diesen ersten Aspekten des philosophieund wissenschaftsgeschichtlichen Zugangs bei Whitehead feststellen, daß die Geschichte der Philosophie als eine Geschichte ihrer Verluste und Preisgaben und damit ihrer schwindenden Bedeutung aufgefaßt wird. Whiteheads Rekonstruktion geht aus von der gemeinsamen Herkunft von Philosophie und Wissenschaft, von Entwicklungen, Konkurrenzen und Defiziten beider, um dann dort, wo er Perspektiven der Philosophie formuliert, eine Wiederannäherung und Synthese beider Wissensbereiche über das Desiderat umfassender und kohärenter Weltbilder zu begründen. Sein eigenes System soll dem programmatischen Anspruch gerecht werden, wissenschaftliche Fehlentwicklungen auszugleichen, um der Philosophie ihre ursprüngliche Bedeutung zurückzugeben. (ii) Nicht nur die disziplinäre Entwicklung von Philosophie und Wissenschaften insgesamt, sondern auch die interne Geschichte der Philosophie selbst fordert zu einem Neuansatz heraus. Whitehead geht dabei wesentlich von derjenigen Phase philosophischen Denkens aus, »die mit 34

Zur Kritik von modernem Spezialistentum und Professionalisierung in der Philosophie im Kontrast zu dem u. a. für Whitehead noch leitenden klassischen Konzept der Paideia vgl. Neville (1992), 58f., 83 f.; vgl. hierzu auch Hampe (1997), 99 f.

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Descartes begann und mit Hume endete« (PR, xi / 21). In seinem Neuansatz wird, zumindest dem Anspruch nach, »keine Behauptung aufgestellt, zu deren Rechtfertigung man nicht explizite Formulierungen eines Denkers aus dieser Gruppe oder der beiden Begründer alles westlichen Denkens, Platon und Aristoteles, heranziehen könnte« (ebd.). Prägnanter wäre der Anspruch eines konstruktiven Rückbezugs auf die philosophische Tradition kaum zu formulieren. In diesem Rückbezug will sich Whitehead auf solche Elemente der Tradition berufen, »die von den nachfolgenden Systematikern übergangen wurden« (ebd.), was wiederum deutlich den Anspruch auf eine Neuinterpretation der Tradition im Sinne veränderter Akzentuierungen anzeigt. Wenn Whitehead seinen Bezugsautoren Descartes, Newton, Locke, Hume und Kant Einseitigkeit in der Darstellung der »Erfahrungsgrundlagen« (groundworks of experience) (PR, xi/ 22) vorwirft, wird sowohl seine philosophiegeschichtliche Orientierung als auch sein kritischer Anspruch erkennbar. Whitehead setzt also zunächst und wesentlich bei der Philosophie der Moderne an. Diese erscheint ihm als ein komplexes Gebilde unverträglicher Elemente, primär entstanden aus einem Zusammentreffen tradierter Denkgewohnheiten mit dem grundlegenden Neuansatz durch Descartes und dessen Konzentration auf das erkennende Subjekt. Descartes’ Dualismus trägt demnach die Hauptverantwortung für das Auseinanderfallen bzw. die Zweiteilung des modernen Denkens in Subjektivismus und Mechanizismus. Die auf Descartes folgende Philosophiegeschichte stellt sich für Whitehead als der Versuch dar, die mit dem subjektivistischen Ansatz unverträglichen Erfahrungselemente systematisierend auszuschalten. Dieses Ausschalten unverträglicher Elemente erscheint ihm, da er gerade die aus Sicht seiner organistischen Konzeption essentiellen Elemente eliminiert sieht, mißlungen und revisionsbedürftig. Dabei sucht er nicht wiederum einen voraussetzungsfreien Neuansatz, sondern die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition: Die eigentliche systematische Zielsetzung der metaphysischen Neukonzeption Whiteheads ist ein umgestalteter Subjektivismus. Zugleich beansprucht Whitehead mit seiner Philosophie eine Rückkehr zu vorkantischen Denkweisen (ebd.), worunter nicht nur eine Absage an den Idealismus zu verstehen ist, den er mit englischen und amerikanischen Neurealisten ausdrücklich teilt (PR, xii / 23), sondern auch der Hinweis auf die Intention einer erneuten ›kopernikanischen Wende‹.35 Beide durchaus verwandten Motive sind dem Anliegen einer »Kri35

Vgl. 3.8.

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tik des modernen Kritizismus«36 subsumierbar. Die intendierte Rückkehr zu vorkantischen Denkweisen läßt Whitehead philosophiegeschichtliche Stationen und Positionen von Platon bis Hume durchmustern, die ihn als Orientierungs- oder Zielpunkte aber höchstens ansatzweise überzeugen. So erkennt er zwar in Locke einen Vorläufer der Organismusphilosophie, jedoch zugleich den Vertreter eines unter philosophisch-kosmologischer Perspektive zu engen weil ausschließlich erkenntnistheoretischen Kategorienschemas.37 Auch Leibniz erscheint Whitehead nicht als konsequenter Repräsentant der geforderten vorkantischen Denkweisen: Mit ihm sieht er sich zwar durch die Beerbung einer zweitausendjährigen Denktradition verbunden (MT, 3), die beide Denker aber grundverschieden verarbeiten. Insbesondere die Revision des aristotelischen Substanzbegriffs durch Leibniz’ Monadenlehre überzeugt Whitehead nur in ihrem Anspruch, den dynamischen Charakter der Erfahrungswirklichkeit stärker zur Geltung zu bringen, nicht aber hinsichtlich ihrer Durchführung.38 Um dem wechselseitigen Bezogensein letzter metaphysischer Wesenheiten gerecht zu werden, muß aus Sicht der Organismusphilosophie die bei Aristoteles dominierende Kategorie der Qualität durch die bei Leibniz allerdings problematische Kategorie der Relation abgelöst werden (PR, xiii / 25), will man der von Whitehead monierten Statik und Isoliertheit der aristotelischen und schließlich der cartesischen Substanzen entgehen.39 Der geforderte Vorrang der Kategorie der Relation scheint auf Hegel zu verweisen, welcher aber nur über den Umweg und in der Version des Neuhegelianismus, insbesondere Bradleys, als Einflußgröße gelten kann. Zu diesem sieht sich Whitehead zwar oft in grundlegendem Widerspruch, ist ihm aber u. a. in seiner Analyse der Erfahrung »verpflichtet« (PR, xiii / 24). Die wesentlichen Grundgedanken seiner Organismuskonzeption, deren vorrangiges Thema das Werden, das Sein und das Bezogensein von Wesenheiten ist, findet Whitehead bei Platon vor, dessen kosmologisch-naturphilosophisches Denken zusammen mit Newtons mechanistischem Materialismus die nachfolgenden Traditionen am nachhaltigsten geprägt habe.40 Die Forderung, dem Werden gegenüber dem Sein einen Prioritäts- oder Prinzipiencharakter zukommen zu lassen, verbindet Whitehead auch mit den Lebensphilo36 37 38 39 40

Fetz (1981), 12. Vgl. 3.5. Vgl. 3.6. Vgl. 3.2 und 3.3.2. Vgl. 3.1 und 3.4.

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sophen Bergson, James und Dewey, deren Einfluß er anerkennt, wobei er, seinem rationalistischen Grundanspruch folgend, diese zugleich von der »Vereinnahmung durch den Antiintellektualismus« befreien will (PR, xii / 23 f.). Whiteheads zahlreiche, hier zunächst nur grob umrissene Bezüge auf vorgängige Lehrmeinungen und Positionen legen die Erwartung nahe, daraus gleichsam ein geschlossenes Bild seiner Sichtweise der Philosophiegeschichte gewinnen zu können. Indessen haben verschiedene Interpreten ausdrücklich oder implizit diese Sichtweise mit der Philosophiegeschichte im Sinne eines objektiv vollständigen Ganzen zu vergleichen versucht und dabei Whitehead verschiedene Defizite unterstellt. So meint z. B. Böhme, Whitehead fasse die Geschichte der Philosophie unter einer »vereinfachenden Perspektive« zusammen.41 Müller sieht die Rezeption von Whiteheads Werk u. a. dadurch erschwert, daß »die Anknüpfung seiner eigenwilligen Konzeption an die philosophische Tradition oft etwas Willkürliches hat (zumal wichtige Beiträge der kontinentaleuropäischen Philosophie weitgehend ausgespart bleiben).«42 Solche Kritik beruht jedoch von vornherein auf einem verfehlten Maßstab. Vereinfachung kann ebenso wie willkürliche oder defizitäre Auswahl nur mit Blick auf ein vermeintlich vollständiges Ganzes, im vorliegenden Fall den Maßstab einer vollständigen Philosophiegeschichte, moniert werden. Einmal abgesehen von der Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, hinsichtlich der Philosophiegeschichte von einer Vollständigkeit auszugehen, die als allgemeiner Standard Anerkennung finden könnte, liegt auf der Hand, wie wenig Whitehead von einer Kritik der erwähnten Art getroffen wird. Da er Philosophiehistoriker ebensowenig wie Wissenschaftshistoriker43 ist oder sein will, kann er nicht anhand von an sich schon fragwürdigen Vollständigkeitsmaßstäben bewertet werden. Zutreffend erscheint vielmehr die Wertung von Fetz, wonach bei Whitehead »eine ungewöhnliche Fülle an problemgeschichtlichen Intuitionen« vorliege, die »vielleicht nicht immer historisch abgesichert, aber originell und aufschlußreich sind«.44 Es ist eben nicht die Philosophiegeschichte als solche, sondern die individuell rekonstruierte Vorgeschichte einer individuellen philosophischen Konzeption, die Aufschlüsse über Whiteheads Denken zuläßt. Vollständigkeitsmaßstäbe können, wenn über41 42 43 44

Böhme (1980), 46. Müller (1991), 634. Vgl. Hampe (1998), 54. Fetz (1981), 15.

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haupt, nur dort sinnvoll zum Bewertungsmaßstab erhoben werden, wo ein chronistisches Interesse an der Philosophiegeschichte unterstellt wird. Ein solches Interesse freilich ist für Whitehead, der gerade zeigt, wie man ohne Vollständigkeitsansprüche gewinnbringend auf die Philosophiegeschichte zurückgreifen kann, in keiner Weise maßgeblich. In vielfältiger Weise charakterisiert und typisiert Whitehead die europäische Philosophietradition, ohne aber eine Geschichte dieser Tradition zu verfassen. Whiteheads Anliegen ist nicht eine Bestandsaufnahme, sondern ein Fortschreiben der Philosophiegeschichte. Seine Aufwertung der Bedeutung der Philosophiegeschichte kommt ohne das literarische Genre der Philosophiegeschichte aus, wie es sich seit dem späten 18. Jahrhundert ausgeprägt hat. Das literarische Genre der Philosophiegeschichte reagiert auf andere Fragestellungen und erfordert andere methodische Regeln als ein historisch orientiertes und reflektiertes Philosophieren, wie es uns bei Whitehead begegnet. Whitehead plädiert für ein Philosophieren, das sich zu der Einsicht in die Angewiesenheit auf die Philosophiegeschichte bekennt. Für ihn spielt Spekulation nicht nur im Rahmen eines dem Anspruch nach systematischen Philosophierens eine wesentliche Rolle, sondern hat auch im Umgang mit der Philosophiegeschichte eine vitale Berechtigung. Whitehead steht nicht für ein genuin historisches Wissensideal, sondern für ein historisch reflektiertes Spekulationsideal. Die besondere, den Zielsetzungen der eigenen Konzeption untergeordnete Betrachtungsweise philosophiegeschichtlicher Positionen kommt bei Whitehead mehrfach programmatisch zum Ausdruck, etwa in Formulierungen wie: »Übereinstimmend mit der organischen Theorie der Natur, die ich in diesen Vorlesungen versuchsweise entfaltet habe, werde ich James für meine Zwecke so interpretieren, daß er leugnet, was Descartes im Discours und in den Meditationen behauptet.« (SMW, 179 / 169)45 Hier wird sichtbar: Eine philosophische Konzeption kann einen Versuch darstellen, also auf Gewißheitsansprüche verzichten.46 Zugleich können in die Konzeption philosophiegeschichtliche Bezüge eingehen, die an den Zwecken dieser Konzeption orientiert sind. Die Interpretationszwecke legitimieren Gegenüberstellungen, denen nicht von vornherein ein evidenter oder expliziter Zusammenhang zugrundeliegt. Stegmaier faßt zusammen: »Whitehead tritt jedoch nicht als Philosophiehistoriker an die Philosophiegeschichte heran, sondern als Philosoph an 45 46

Zu Whiteheads Gegenüberstellung von Descartes und James vgl. 3.3.3. Vgl. 3.3.1.

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Philosophen, um in einer Art persönlicher Auseinandersetzung seinen eigenen Standpunkt zu finden.«47 Diese »Auseinandersetzung« steigert Whitehead etwa zu Feststellungen darüber, was Lockes »wahres Thema« sei (PR, 51 / 112), nämlich eine Analyse von Erfahrungstypen im metaphysisch ausgeweiteten Sinn einer Seinsanalyse,48 und was Kants »Hauptthema hätte sein sollen«, nämlich eine »Kritik des reinen Empfindens« im Sinne der Organismusphilosophie (PR, 113 / 218).49 Diese »läßt Lockes Essay eine metaphysische Interpretation angedeihen, die Locke selbst nicht vor Augen hatte« (PR, 139 / 264). Auch Hume, so Whitehead, »mißverstand sein Problem, genau wie Locke, als die Analyse der Geistestätigkeiten« (PR, 151 / 283). Philosophiegeschichte verfällt hier in das einer Bestandsaufnahme entgegengesetzte Extrem – sie wird am Maßstab des eigenen philosophischen Interesses und Anspruchs gemessen. Whitehead nähert sich letztlich der kantischen Auffassung, einem Interpreten der Philosophiegeschichte müsse es möglich sein, einen zu interpretierenden Autor »sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte.«50 In diesem Motiv des Besserverstehens, das sich in Whiteheads Rede vom vermeintlichen »wahren Thema« oder »Hauptthema« seiner Bezugsautoren wiederspiegelt, sieht Geldsetzer »im Grunde ein ganzes Programm für eine erklärende und verstehende Philosophiegeschichtsschreibung«.51 Bei Whitehead indessen steht das unterschwellige Motiv des Besserverstehens nicht für ein hermeneutisch reflektiertes Programm von Philosophiegeschichtsschreibung, die ja, wie ausgeführt, nicht sein Thema ist, sondern für ein hermeneutisch reflektiertes Fortschreiben der Philosophiegeschichte. Auch indem Whitehead die an der europäischen Philosophietradition Beteiligten zu gewissermaßen platonisierenden Fußnoten-Verfassern erklärt, erhebt er nicht zuletzt den Anspruch, sie besser zu verstehen, als sie sich selbst verstanden haben. Das Motiv des »wahren Themas« oder Hauptthemas eines Bezugsautors, das latente Motiv des Besserverstehens, verweist also auf hermeneutische Grundannahmen, die Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive durchgehend bestimmen. Diese Grundannahmen beru47 48 49 50 51

Stegmaier (1988), 64. Vgl. 3.5. Vgl. 3.8. Kritik der reinen Vernunft, B 370. Geldsetzer (1968), 202; vgl. Braun (1990), 225.

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hen ihrerseits auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, aus denen Whitehead seinen historiographischen Anfangsüberlegungen in AI herleitet: Wie Theorien aus Einzelbeobachtungen von Tatsachen resulieren, so ist umgekehrt, wie Whitehead im Sinne der Annahme einer Theoriengeleitetheit aller Beobachtung bemerkt, »jede Tatsachenfeststellung durch und durch mit theoretischer Interpretation durchsetzt« (AI, 3 / 79 f.).52 Dies ist von besonderer Bedeutung sowohl für Whiteheads allgemeinen Geschichtsbegriff als auch für seine Sichtweise der Ideen-, Wissenschafts- und Philosophiegeschichte. Während eine »präsente Beobachtungsgegebenheit« immer auch eine »präsente Interpretation« enthält,53 »zu der mehr gehört als die bloßen Sinnesdaten« (AI, 4 / 80), liefert der Historiker aus diesen schon interpretierten Sinnesdaten aus der Sphäre seines Untersuchungsbereichs wiederum eine theoriengeleitete und damit interpretierende Auswahl. Angesichts dieser Auswahl, die sich sozusagen einer Interpretation zweiter Stufe verdankt, von »reiner Geschichte« zu reden, bei der es weder ästhetische Vorurteile noch ein sich Berufen auf metaphysische Prinzipien und kosmologische Verallgemeinerungen gebe, ist nach Whitehead völlig abwegig. Eine »reine Geschichte« bezeichnet er in kritischer Wendung gegen die dominierende Geschichtsauffassung seiner Zeit als »Phantasieprodukt« (ebd.). Der Historiker ist bei der Hinwendung zu seiner Bezugswelt zwangsläufig von interpretierenden Elementen seines eigenen Urteils abhängig, die Whitehead als »implizite Voraussetzungen«, »Emotionen«, und »Zweckvorstellungen« beschreibt.54 Derartige Emotionen und Zwecksetzungen sieht Whitehead in zweierlei Weise wirksam werden (AI, 4 f. / 81 f.): Einerseits bilden sie die Antriebskraft, die Ideen in der Geschichte der Menschheit in einer bestimmten Phase zur Wirksamkeit verhilft; andererseits bestimmen sie die Anlage historischer Darstellungen. Demzufolge können historische Darstellungen in zweierlei Weise ideenge52

Vgl. 2.3.2. Pointierter heißt es im Originaltext: »[…] contemporary evidence is contemporary interpretation […]«. 54 Whiteheads Ausführungen verweisen hier auf historiographische und hermeneutische Differenzierungen, wie sie in ausführlich systematisierender Weise von Gracia (1992), 61 ff., entwickelt werden. Gracia legt Wert auf die Feststellung, daß Geschichte im allgemeinen und Philosophiegeschichte im besonderen gleichermaßen auf beschreibende (descriptive), interpretierende (interpretative) und bewertende (evaluative) Aussagen angewiesen ist. Während sich Gracia um eine analytische Differenzierung dieser Aussagetypen bemüht, geht es bei Whitehead mehr um den Gesichtspunkt einer gegenseitigen Durchdringung der drei Aspekte. 53

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

schichtliche Dokumente sein, einerseits im Hinblick auf ihren Bezugszeitraum, andererseits im Hinblick auf die historische Situation bzw. die Bedingungen, die das jeweilige Dokument in seinem Entstehen prägen: »Unsere Ideengeschichte leitet sich aus unseren Ideen über die Geschichte ab, aus dem intellektuellen Standpunkt, den wir selber haben« (AI, 7 / 85). Die Reflexionen über die Theoriengeleitetheit aller Beobachtung im allgemeinen und von historischen Darstellungen im besonderen dienen Whitehead zur Vorbereitung seines Unternehmens einer Ideengeschichte als Ausschnitt einer allgemeinen Zivilisationsgeschichte, im Hinblick auf welche von »reinem Wissen« zu reden eine »hochgradige Abstraktion« (AI, 4 / 81) wäre, nämlich von auch hier stets und zwangsläufig wirksamen Interpretationselementen. Die häufig für den historischen Zugang charakteristische Abstraktion, die sich gleichwohl als »reines Wissen« selbst mißversteht, ist für Whitehead hier eine Art Paradigma für Abstraktion überhaupt. Zusammenfassend ist zu sagen, daß Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive Verbindungen mit einer allgemeineren ideengeschichtlichen Perspektive erkennen läßt, dabei aber auf einem genuin philosophischen Interesse beruht, das internalistische sowie externalistische Züge aufweist. Whitehead konstatiert einerseits eine allgemeine Umstrukturierung von Wissenschaft zu Lasten und zum Nachteil der Philosophie, andererseits rekonstruiert und reflektiert er bestimmte philosophische Positionen in ihrer Abhängigkeit und Abfolge sowie als historische Prämissen seiner eigenen Konzeption. Eine historische und entsprechend auch eine philosophiegeschichtliche Perspektive kann aus seiner Sicht nicht neutral sein und insofern keine ›reine‹ Erkenntnis hervorbringen. Sie ist vielmehr immer schon und unabdingbar geprägt von Interpretationsansätzen, die sich legitimerweise bereits in einem selektiven Zugang zur Geschichte bzw. Philosophiegeschichte manifestieren. Derjenige philosophiegeschichtliche Interpretationsansatz, zu dem sich Whitehead bekennt, unterstellt der europäischen Philosophietradition eine latente ›platonische‹ Prägung und hat formelhaft in seiner FußnotenThese Ausdruck gefunden.

Die Fußnoten-These

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1.3 Die Fußnoten-These In der Philosophie ist es aufgrund des allgemein anerkannten Sonderverhältnisses dieser Disziplin zu ihrer eigenen Geschichte55 ebenso naheliegend wie üblich, im Rahmen historischer aber auch systematischer Untersuchungen Positionen in ihrer Abhängigkeit von bestimmten vorgängigen Positionen oder Autoren zu rekonstruieren. Der Erkenntnis und dem Nachweis solcher Abhängigkeiten wird dabei oft an sich schon ein Eigenwert zuerkannt. Insofern kann Whiteheads Bemühen, Autoren und Lehren der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zueinander in Beziehung zu setzen – und zwar nicht nur im chronistischen Sinne eines post, sondern im spekulativ-rekonstruierenden Sinne eines propter – kaum als Besonderheit gelten. Außergewöhnlich dagegen ist, hier einmal abgesehen von dem breiten Raum, der bei Whitehead solchen philosophiegeschichtlichen Bezügen insgesamt zukommt, die Tatsache, daß die Philosophiegeschichte als ganze mit einer einzigen Figur dieser Geschichte in die Beziehung einer Abhängigkeit gesetzt wird, nämlich mit Platon. Whiteheads Bewertung der Philosophie Platons läßt damit grundlegende Unterschiede zu seinen sonstigen philosophiegeschichtlichen Bezügen erkennen. Die besondere Bedeutung der Rolle, die er dieser Philosophie zuschreibt, findet ihren prägnantesten Ausdruck in der Feststellung, die philosophische Tradition Europas sei am treffendsten als eine »Reihe von Fußnoten zu Platon« charakterisierbar (PR, 39 / 91). Diese Äußerung, auf die wohl jeder mit der Geschichte der Philosophie Befaßte irgendwann gestoßen ist, mag auf den ersten Blick kaum signifikant, vielleicht irritierend oder sogar verfehlt erscheinen. Bei näherem Hinsehen jedoch erweist sie sich als zumindest sinnvolle, zugleich aber auch als in hohem Maße auslegungsbedürftige und -fähige philosophiegeschichtliche These. Daß Whiteheads Fußnoten-These überhaupt zum Ausgangspunkt und Gegenstand einer philosophischen Analyse gemacht wird, erscheint zunächst schon insofern gerechtfertigt, als sie nicht nur eine beiläufige Bemerkung darstellt, sondern bei Whitehead selbst Gegenstand von Erläuterungen und damit einer allerdings nur ansatzweisen Selbstinterpretation ist. Zudem wurde die Fußnoten-These auch von anderen Autoren nicht nur immer wieder zitiert oder erwähnt, sondern auch ausdrücklich ernstgenommen. So bemerkt Wieland, diese These sei »weder ein bloßes Bonmot noch eine Übertreibung, sondern die nüchterne Charakterisie55

Vgl. 1.1.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

rung eines bestehenden Sachverhalts«.56 In seiner Feststellung, unsere philosophische Tradition kenne keinen Autor, »dessen Wirkungsgeschichte sich nach Umfang und Vielfalt mit der Wirkungsgeschichte Platons vergleichen ließe«, macht Wieland sich die Fußnoten-These praktisch zu eigen.57 Lovejoy will sogar alle Ausführungen seines Hauptwerks The Great Chain of Being ausdrücklich als Bestätigung der Fußnoten-These verstanden wissen.58 Andererseits wurde die FußnotenThese in unterschiedlicher Weise kritisch kommentiert; z. B. macht Kraut geltend, daß sie – wenigstens isoliert betrachtet – die Tatsache verdrehe, daß es zur Philosophie Platons auch jederzeit eine Opposition gegeben habe, während Fußnoten gerade nicht dazu bestimmt seien, ihrem Bezugstext zu widersprechen.59 Dagegen wirft Ferber die Frage auf, ob die Fußnoten-These nicht mit größerer Berechtigung anstatt auf Platon auf Parmenides zu beziehen sei.60 Derartige kritische Überlegungen, auf die wir noch zurückkommen werden, bedeuten, daß die FußnotenThese, wenngleich nicht ohne weiteres inhaltlich akzeptiert, so doch im Sinne einer sachhaltigen philosophiegeschichtlichen These verstanden wird. Ein Bonmot-Charakter, um Wielands Formulierung aufzunehmen, käme ihr wohl ohnehin nicht in Whiteheads ursprünglicher Verwendung, sondern allenfalls im Rahmen und infolge der zahlreichen, oft auf ein Bonmot abzielenden Wiedergaben zu, die Kobusch und Mojsisch sogar – zumindest irritierend – von einem »kolportierten Bonmot« reden lassen.61 Geht man also von einer Analysebedürftigkeit der Fußnoten-These als signifikanter philosophiegeschichtlicher These aus, so stellt sich zunächst die Frage, was diese genau besagen bzw. welchen »Sachverhalt« (Wie56

Wieland (1982), 44. – Der Kontext von Wielands Bemerkung ist die Kritik der bekannten Annahme einer ungeschriebenen Lehre Platons. Wieland weist darauf hin, daß Whiteheads Fußnoten-These natürlich nur bezogen auf Platons Dialoge, nicht aber bezogen auf eine »mündliche Lehre als auf den vermeintlichen Kern der Philosophie Platons« (ebd.) sinnvoll ist. Ersichtlich implizieren die Platon-Bezüge Whiteheads generell die Auffassung, daß es eine eigentliche Philosophie Platons gebe, die in nicht näher beschriebener Weise aus seinen Dialogen herzuleiten sei. Diese Auffassung mit den unterschiedlichen Gegenpositionen der Platon-Forschung in Konkurrenz zu setzen, fällt aus der Fragestellung der vorliegenden Arbeit heraus. 57 Wieland (1996), 5. 58 Lovejoy (1985), 37. 59 Kraut (1992), 32, Anm. 4. 60 Ferber (1984), 204. 61 Kobusch / Mojsisch (Hrsg.) (1997), 1.

Die Fußnoten-These

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land) sie charakterisieren soll, und in welchem Sinne sie als zutreffend oder unzutreffend gelten kann. Im folgenden werden wir uns sowohl Whiteheads ansatzweiser Selbstinterpretation als auch einer näheren Analyse seiner Fußnoten-These unter Einbeziehung anderer, teilweise sehr unterschiedlicher Interpretationen zuwenden. Die Fußnoten-These ist für Whitehead selbst die »sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas« (PR, 39 / 91). Zwar wird die Möglichkeit verschiedener allgemeiner Charakterisierungen dabei implizit vorausgesetzt, die auf Platon bezogene verdient aber als »sicherste« (safest) den Vorzug vor anderen möglichen Charakterisierungen. Dieser Voraussetzung mehrerer möglicher Charakterisierungen, von denen eine den Vorzug erhält, werden weder Kobusch und Mojsisch noch Fresco gerecht, die – wie übrigens die meisten Interpreten der Fußnoten-These – Whitehead die wesentlich undifferenziertere These nachsagen, die europäische Philosophiegeschichte sei »überhaupt nichts anderes […] als«6 2 oder »eigentlich nur«63 eine Reihe von Fußnoten zu Platon. Deutlicher verfehlt von Weizsäcker Wortlaut und Sinn der Fußnoten-These, indem er Whitehead die Auffassung zuschreibt, »die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie sei ›a few footnotes to Plato‹«,64 ein schlicht falsches Zitat. Von Weizsäcker unterstellt hier Whitehead eine von diesem so nicht beabsichtigte Bagatellisierung der späteren Philosophietradition und meint sogar: »Das könnte man in der Tat vertreten.«65 Whitehead vertritt solches jedenfalls nicht, was auch Hauskeller durch die Feststellung betont, daß in der Fußnoten-These »keine schnöde Mißachtung der nachplatonischen Philosophien«,66 aber durchaus die Behauptung einer Unhintergehbarkeit der Einsichten Platons liegt. Hauskeller, für den »kaum ein Zitat von vergleichbarer Bekanntheit irgendeines Philosophen […] wohl häufiger mißverstanden«67 wurde als die Fußnoten-These, ist einer der ganz wenigen Autoren, die Whiteheads Relativierung jener These als »sicherste allgemeine Charakterisierung« in ihr Zitat aufnehmen. Im Rahmen seiner Erläuterungen der Fußnoten-These führt Whitehead zunächst aus, was er mit ihr nicht gemeint wissen will, nämlich ei62 63 64 65 66 67

Ebd. Fresco (1997), 171. Von Weizsäcker (1971), 378. Ebd. Hauskeller (1994), 42. Ebd.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

nen Bezug auf »das systematische Denkmodell, das seine [d. h. Platons] Schüler in fragwürdiger Weise aus seinen Schriften destilliert haben« (ebd.). Diese negative Charakterisierung besagt also, daß Whitehead die abendländische Philosophietradition nicht in der Hinsicht als platonisch ansieht, daß sie eine Summe von Ergänzungen oder Weiterentwicklungen zu einer als Platons System rekonstruierbaren Lehre, kurz: einen sich ausdifferenzierenden Platonismus, darstelle, was auch in dieser generalisierenden Weise offensichtlich falsch wäre. Indem Kobusch und Mojsisch feststellen, daß die Fußnoten-These »weder der Bedeutung des Platonismus noch den extraplatonischen Neuansätzen in der Philosophie«68 gerecht zu werden scheine, gehen sie von einer Alternative aus, die Whitehead so gar nicht vor Augen hatte und auch kaum akzeptiert hätte: Offensichtlich geht Whitehead von Formen der Platon-Nachfolge aus, die sich der Dichotomie von Platonismus im üblichen Sinne und extraplatonischen Neuansätzen entzieht. In ihrer Auffassung, daß die Geistesgeschichte »ohne das Werk und die Wirkung Platons gar nicht denkbar« wäre,69 teilen Kobusch und Mojsisch andererseits Whiteheads wesentliche Intention. Auch in der Feststellung, daß die platonische Geistesgeschichte »nur eine, wenngleich nicht die unbedeutendste von vielen Geschichten ist, in die die Gegenwart verwickelt ist«,70 kommen sie Whiteheads Auffassung ungewollt nahe. Wem die platonische Geistesgeschichte »nicht die unbedeutendste« zu sein scheint, der sollte freilich auch Whiteheads Fußnoten-These als »sicherste« Charakterisierung der philosophischen Tradition wenigstens diskussionswürdig finden. Whitehead sieht die besondere Bedeutung Platons im Sinne der Fußnoten-These in dem »Reichtum an allgemeinen Ideen« (PR, 39 / 92), die sich überall in seinen Schriften finden. Zu einer »unausschöpflichen Quelle des Ideenreichtums«, so Whitehead, konnten Platons Schriften durch »seine persönlichen Begabungen, seine Erfahrungsmöglichkeiten in einer großen Phase der Zivilisation, seine Beerbung einer philosophischen Tradition, die noch nicht durch übertriebene Systembildung verhärtet war,« (ebd.) werden. Unmittelbar nach dieser Hervorhebung der Bedeutung von Platons Schriften als Ideenreservoir für die nachfolgenden Traditionen geht Whitehead nicht, wie zu erwarten wäre, zu einer Konkretisierung seiner Fußnoten-These im Hinblick auf diese Traditionen über, sondern er führt aus, in welchem Sinn er sein eigenes System 68 69 70

Kobusch / Mojsisch (Hrsg.) (1997), 1. Ebd. Ebd.

Die Fußnoten-These

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als platonisch verstanden wissen will: »Wenn ich also die Überzeugung äußere, daß der Gedankengang in diesen Vorlesungen platonisch ist, bringe ich einerseits nur die Hoffnung zum Ausdruck, daß er in die europäische Tradition fällt. Ich meine aber doch mehr: Ich meine, wenn wir Platons allgemeinen Standpunkt mit den Änderungen wiedergeben müßten, die jedenfalls aufgrund der dazwischen liegenden zweitausend Jahre menschlicher Erfahrung mit gesellschaftlicher Organisation, mit ästhetischen Fertigkeiten, mit Wissenschaft und Religion notwendig wurden, sollten wir uns um die Konstruktion einer organistischen Philosophie bemühen.« (ebd.). Mittels einer Verwendung des Begriffs »platonisch«, die gleichzeitig äußerst allgemein im Sinne einer einheitlichen Traditionslinie und sehr spezifisch im Sinne des Organismus-Paradigmas ist, führt Whitehead also seine eigene Konzeption auf Platons »allgemeinen Standpunkt« zurück und ordnet sie so zugleich in die Reihe der Fußnoten ein.71 Damit wird bereits klar, daß die Fußnoten-These sich nicht in der Vorstellung eines bei Platon anzutreffenden Ideen-Reservoirs erschöpft. Dies würde die Fußnoten-These zu einer eher marginalen Bemerkung machen, die auch für Whiteheads eigene Philosophie kaum richtungsweisend sein könnte. Bei Platon sieht Whitehead vielmehr sein metaphysisches Prozeß-Paradigma bzw. die Vorstellung vom Sein als Werden begründet.72 Indem Whitehead auf Entwicklungslinien zwischen der Philosophie Platons und seiner eigenen Konzeption verweist, die nicht konkrete philosophische Lehrstücke darstellen, sondern die Sphäre menschlicher Erfahrungen im allgemeinen betreffen (Organisation, Fertigkeiten, Wissenschaft, Religion), gelangt er zu keiner eigentlichen Erläuterung seiner Fußnoten-These, da das Verhältnis der Philosophie Platons zu den nachfolgenden philosophischen Traditionen (außer Whiteheads eigener) letztlich gar nicht thematisiert wird. Whiteheads Ausführungen machen vielmehr sichtbar, daß er die Fußnoten-These – zumindest auch – als ge71

In einem auf Whiteheads eigenes Werk konzentrierten Sinn scheint auch Gadamer (1991), 368, Anm. 19, die Fußnoten-These zu verstehen, indem er dort, wo er bei Whitehead eine Parallele zu einer Position Platons feststellt – in diesem Fall die Auffassung von Relationen als Perzeptionen – diese deshalb als »Fußnote zu Plato« bezeichnet. Andererseits sieht Gadamer (1995), 405, in der umfassenden Platon-Interpretation Friedländers eine lehrreiche Anregung, »›Fußnoten zu Plato‹ zu schreiben«, wobei aber unklar bleibt, ob ein Fußnoten-Verfasser in diesem Sinn in einem an Platon orientierten »Wagnis des Denkens wie des Gestaltens« (Gadamer) fortfahren oder eine an Friedländer orientierte Platon-Interpretation fortsetzen würde. 72 Vgl. 3.1.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

nerelle zivilisations- oder kulturgeschichtliche Aussage verstanden wissen will, wobei allenfalls konnotiert ist, daß sich umfassende kulturelle Entwicklungen in der im eigentlichen Sinne philosophischen Tradition niedergeschlagen haben, oder auch umgekehrt: daß allgemeine kulturelle Entwicklungen nicht zuletzt auch philosophisch geprägte und bedingte Entwicklungen sind. Eine nähere Erläuterung bzw. Rekonstruktion dessen, was die Fußnoten-These im Hinblick auf die übrige europäische Philosophietradition im engeren Sinn besagen kann, bleibt daher den Whitehead-Interpreten überlassen, die äußerst unterschiedliche Auffassungen vertreten bis hin zu der Einschätzung, daß die Fußnoten-These auf rational gar nicht faßbare Intentionen Platons anspiele.73 Eine Analyse von Whiteheads Fußnoten-These hat zunächst die vordergründige Tatsache zu berücksichtigen, daß es sich bei ihr um einen uneigentlichen Gebrauch des Terminus »Fußnote« und insofern um eine metaphorische Wendung handelt.74 Die auf Platon folgende Philosophiegeschichte bildet schon deshalb keine Reihe von Fußnoten im eigentlichen Sinn, weil solche durch ihren jeweiligen Verfasser bewußt als Fußnoten konzipiert und einem Text angefügt werden, während durch Whiteheads Fußnoten-These die auf Platon folgende Philosophietradition im nachhinein – und in der Regel kaum dem Selbstverständnis ihrer Verfasser entsprechend75 – zu Fußnoten erklärt wird. Ohne die Besonderheit einer uneigentlichen bzw. metaphorischen Begriffsverwendung in Rechnung zu stellen, bezeichnet Kraut es als wesentliches Merkmal von Fußnoten, daß sie reine Zusätze (»supplements«) darstellten, und daß sie nicht dazu bestimmt seien, ihrem Bezugstext zu widersprechen (»not intended to contradict the body of the text«). 76 Dieses zweite Charakteristikum macht aus der Sicht Krauts eine Ver73

Vgl. Brumbaugh (1993), 248: »So Whitehead’s epigram sees something else in Plato’s relevance and impact than is brought out by analytic or doctrinal interpretation.« – Andererseits begegnen Versuche, die Fußnoten-These spekulativ auf ganz andere Bereiche hin abzuwandeln, wobei Platon z. B. zur Initialfigur der Rechtsgeschichte gemacht wird; vgl. Sandvoss (1971), 12. 74 Unter der ›eigentlichen‹ Bedeutung des Ausdrucks »Fußnote« verstehen wir seine Verwendung für eine Anmerkung zu einem Text am Ende, d. h. ›Fuß‹, der Seite, wobei wir unberücksichtigt lassen, daß sich dieser Ausdruck an sich schon einer metaphorischen Wortbildung verdankt. 75 Für Arieti (1993), 213, wiederum steht zweifelsfrei fest, daß auch Platon selbst nicht erwartet haben könne, von seinen Lesern im Sinne der Fußnoten-These wahrgenommen zu werden. 76 Kraut (1992), 32, Anm. 4.

Die Fußnoten-These

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kehrung der Tatsachen durch Whiteheads Fußnoten-These aus, da die Philosophie Platons von Anfang an nicht allgemein akzeptierter Ausgangspunkt der weiteren Philosophietradition, sondern ebenso auch Gegenstand von Kontroversen gewesen sei. Zwar relativiert Kraut anschließend seine Kritik, indem er darauf hinweist, daß Whitehead die Philosophie Platons nicht als unumstrittene Bezugsgröße, sondern als Ideenreservoir zur Geltung bringen will, jedoch bleibt anzumerken, daß Kraut schon von Fußnoten im von ihm unterstellten eigentlichen Sinn eine defizitäre Beschreibung gibt. Durchaus können Fußnoten im eigentlichen ebenso wie in Whiteheads Sinn über die von Kraut beschriebene Funktion hinaus zumindest Einschränkungen, Vorbehalte, hypothetische Einwände, vom Bezugstext abweichende Ansätze usw. ausdrücken. Entsprechend referiert die Fußnoten-These für Kabitoglou auf eine »agelong tradition and controversy«,77 und ebenso macht Fresco mit Blick auf die Fußnoten-These geltend, »daß in gewissem Sinne auch eine antiplatonische Philosophie als solche Anmerkungen verstanden werden kann.«78 Den Intentionen von Whiteheads Fußnoten-These wird man nur dann gerecht, wenn man sie nicht darauf reduziert, was eine Fußnote im eigentlichen, philologisch-technischen (und von Whitehead gewiß nicht intendierten) Sinn ausmacht, und statt dessen in Betracht zieht, was – metaphorisch verdeckt – philosophiehistorisch mit ihr behauptet wird. In dieser Hinsicht ist zunächst zu bemerken, daß die Fußnoten-These eine in zwei komplementäre Richtungen zu differenzierende Auffassung beinhaltet: Einerseits stellt sie eine (wenngleich sehr unscharfe) explizite These zur philosophiegeschichtlichen Tradition seit Platon dar, die dabei als in gewissem Sinne einheitlich begriffen wird, wobei der gemeinsame ›Bezugstext‹ die Einheitlichkeit gewährleistet, andererseits beinhaltet sie eine implizite These zur Philosophie Platons selbst, und zwar dahingehend, daß dieser Philosophie ein Prioritäts- oder Prinzipiencharakter hinsichtlich der nachfolgenden Traditionen zukomme.79 Im folgenden wird es vor allem darum gehen, was die besondere Bedeutung der Philosophie Platons im Hinblick auf ihren Prinzipiencharakter für andere Philosophien einschließlich Whiteheads eigener Konzeption aus dessen Sicht ausmacht.

77 78 79

Kabitoglou (1990), 2. Fresco (1997), 171. Vgl. auch Hare (1990), 45 f.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

Zunächst sei angemerkt, daß ein allgemeiner Prinzipiencharakter der Philosophie Platons nicht selbstverständlich ist, und daß zu fragen ist, ob die Fußnoten-These nicht auch bezogen auf andere Philosophen eine Berechtigung haben könnte. So sieht Ferber bei Parmenides einen »philosophischen Archetyp« im Sinne einer dort behaupteten Identität von Denken (bzw. Erkennen) und Sein vertreten, die in Gestalt einer Metamorphose die wesentlichsten Stadien der westlichen Philosophie durchziehe.80 Da Ferber beansprucht, dies zumindest für die drei aus seiner Sicht vielleicht bedeutendsten Denker der westlichen Philosophietradition, Platon, Kant und Wittgenstein, gezeigt zu haben, glaubt er, Whiteheads auf Platon bezogene Fußnoten-These »mit ebensoviel Wahrheit« für Parmenides vertreten zu können: »Die westliche Philosophiegeschichte ist nichts anderes als ein Kommentar zum Spruch des Parmenides: ›… to gar auto noein estin te kai einai‹«. 81 Auch wenn diese Auffassung, derzufolge Platon seinerseits zum Fußnoten-Verfasser würde, als solche hier nicht Gegenstand einer näheren Analyse sein kann, so scheint doch die Übertragung der Fußnoten-These auf Parmenides sowie die gegebene Begründung zu kurz zu greifen. Versteht man nämlich die Fußnoten-These in dem Sinne, daß eine bestimmte philosophische Position oder Lehrmeinung als Konstante der Philosophiegeschichte ausgewiesen werden soll, um dann im Hinblick auf ihr erstmaliges Vorkommen die nachfolgende Tradition als Fußnoten zu bezeichnen, so dürften sich in ähnlicher Weise zahlreiche Positionen und Theoriebildungen als Fußnoten-Bestand z. B. zu vorsokratischen Denkern rekonstruieren lassen, wodurch die Fußnoten-These, reduziert auf eine allgemeine Rückführbarkeitsthese, ihre Besonderheit und Diskussionswürdigkeit verlieren würde. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache bedeutsam, daß Platons Philosophie selbst keinesfalls einen auch nur annähernd voraussetzungsfreien Anfang philosophischer Tradition bildet. Vielmehr resultieren seine Problemstellungen, seine inhaltlichen und methodologischen Positionen bzw. Argumente, oft aus Kenntnis von oder auch aus Auseinandersetzung mit der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Auch Whitehead erkennt ausdrücklich an, daß die platonische Denkrichtung (ebenso wie die aristotelische) »schon bei drei oder vier Generationen

80

Ferber (1984), 204. Ebd.; gemeint ist Parmenides’ Fragment B III: »Denn dasselbe ist Erkennen und Sein.« (Übers. Heitsch) 81

Die Fußnoten-These

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früherer Denker angelegt« war (AI, 142 / 280).8 2 So dokumentieren Platons Dialoge genaue Kenntnis und Auswertung ihrer eigenen Vorgeschichte, der Philosophie von Anaxagoras, Demokrit, Heraklit, Empedokles, Pythagoras usw. Insbesondere gilt die Ideenlehre allgemein als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Parmenides, der ja seinerseits von Ferber am Anfang der Fußnoten-Tradition gesehen wird. Daß Whitehead sich der Relevanz dieser philosophiegeschichtlichen Quellen für Platons Denken bewußt ist, deutet u. a. schon seine oben zitierte Bemerkung an, wonach eine wichtige Qualität und Voraussetzung dieses Denkens in der »Beerbung« einer weitgehend noch nicht systematisierten Tradition bestehe. Damit bekundet Whitehead neben seiner Auffassung, daß die Tradition ohne Platon undenkbar ist, zugleich die Sichtweise, daß Platon ohne die Tradition undenkbar ist.83 Wenn er gleichwohl einen Prinzipiencharakter hinsichtlich der philosophischen Tradition Platon und nicht etwa Parmenides oder einer anderen platonischen Bezugsquelle zuschreibt, obgleich er sich der Tatsache und Relevanz solcher Quellen bewußt ist, so muß die Fußnoten-These etwas anderes, Grundsätzlicheres behaupten als die Rückführbarkeit einer einzelnen Position oder Lehre, und sei sie auch noch so zentral.84 Zugleich muß sie auch etwas anderes behaupten als etwa eine mit der erwähnten »Beerbung« erstmals vollzogene Systematisierungsleistung vorgängiger Positionen, da Whitehead gerade den Mangel an Systematik bei Platon betont (AI, 166 / 315).85 Der Gesichtspunkt erstmaliger Systematisierung einer zuvor noch unsystematischen Tradition müßte den Blick eher auf die aristotelische als auf die platonische Philosophie als Referenz einer entsprechenden Fußnoten-Tradition lenken, was jedoch Whiteheads Intention offenkundig widerspricht. Selbst die von 82

Pointierter heißt es im Originaltext: »There was a history behind them of three or four generations of thinkers […].« 83 Entsprechend ordnet Braun (1990), 15–17, die platonische Philosophie in eine noch »naive«, vorreflexive Phase philosophiegeschichtlichen Denkens ein. Demnach hat Platon sich seinerseits in ganz spezifischer, von der Vorstellung einer »Überlegenheit der Alten« getragener Weise auf die philosophische Tradition zurückbezogen: »Man kann sogar sagen, daß die ganze platonische Philosophie aus dem allseitigen Dialog entstanden ist, den Platon mit Sokrates und den früheren Philosophen geführt hat, daß sie von den Vorstellungen dieser Autoren erfüllt ist.« (Ebd., 16) 84 Deshalb können auch Übertragungen der Fußnoten-These, wonach spätere Traditionslinien der Philosophie als Fußnoten zu Kant (Lucas (1989), 76; ders. (1990), 15) oder zu Locke (Noonan (1989), 30) erscheinen, nicht überzeugen. 85 Vgl. 2.3.4.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

H. Kuhn86 und im Anschluß an ihn von Fresco87 vertretene Auffassung einer durchgehenden aristotelischen Prägung der platonischen Fußnoten-Tradition kann nicht überzeugen: Daß Aristoteles einerseits in dieser Tradition an zentraler Stelle vorkommt, ist trivial; daß er aber andererseits aus Whiteheads Sicht als Protagonist der Substanzmetaphysik für eine erste und entscheidende Bruchstelle in dieser Tradition verantwortlich ist,88 wird in Kuhns und Frescos Akzentsetzung verdeckt. Positive Aufnahme als Affirmation der platonischen Wirkungsgeschichte findet die Fußnoten-These u. a. bei Görgemanns und Halfwassen. Obwohl Görgemanns (anders als Wieland) die Fußnoten-These für eine »epigrammatische Übertreibung« hält, wird Platon als »beständiger Anreger des abendländischen Denkens« gewürdigt, auch wenn die Richtung dieser Anregung nicht immer Zustimmung finden konnte.89 Halfwassen hebt Platons geistesgeschichtliche Schlüsselstellung nicht nur im Sinne des zeitlichen Beginns, sondern besonders im Sinne einer eigentlichen Begründung der europäischen Metaphysik hervor,90 was mit Whiteheads Gesichtspunkt einer »Beerbung« vorgängiger Traditionen keinesfalls unverträglich ist. In vergleichbarer, aber konkreterer Weise interpretiert Fetz die Fußnoten-These, nämlich im Sinn der Begründung des elementaren metaphysischen Paradigmas einer Dichotomie von Wirklichem und Idealem.91 Begreift man wie Whitehead dynamische Wirklichkeitseinheiten im Hinblick auf eine finalisierende Idee bzw. auf Ideales, so kann das Fundament dieser Konzeption nur in eben jener dichotomischen Grundannahme liegen, weshalb die Organismusphilosophie für Fetz auf »Fußnoten zu Platon« angewiesen ist. Damit sind der Interpretation der Fußnoten-These Richtungen gewiesen, auf die noch einzugehen sein wird.9 2 Die Fußnoten-These stellt eine äußerst allgemeine, selbst noch keinerlei sachliche Hinweise beinhaltende Aufwertung Platons dar, und zwar vermittels einer relativierenden Charakterisierung aller übrigen Philosophie. Die Rede von aller übrigen Philosophie ist hier insofern wichtig, als nicht nur die zu Fußnoten erklärten nachplatonischen Philosophien, son86

Kuhn (1973), 665. Fresco (1997), 171. 88 Vgl. 3.2. 89 Görgemanns (1994), 163 f. 90 Halfwassen (1997), 193. Dies ist auch eine wesentliche Perspektive von Martin (1974). 91 Fetz (1981), 139. 9 2 Vgl. 1.3.3 und 3.1. 87

Die Fußnoten-These

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dern gerade auch die Platon vorangehende Tradition relativiert wird. So kann die Fußnoten-These in der Weise verstanden werden, daß die Geschichte der Philosophie wenn nicht überhaupt, so doch in einem eigentlichen Sinn erst mit Platon begonnen habe. Die Fußnoten-Metaphorik deutet zugleich an, daß die Philosophie in den platonischen Dialogen hinsichtlich ihrer Grundideen und Themen in einer gleichsam schon definitiven Form vorliege, im Hinblick auf welche den weiteren Entwicklungen eine Zusatz-, Ergänzungs- oder auch Weiterführungsfunktion zukomme. In FR vertritt Whitehead einleitend die Auffassung, daß es Aufgabe der Philosophie sei, seit ihren Anfängen – wir können kontextgemäß ergänzen: seit Platon – immer wieder diskutierte Themen »im Lichte unserer modernen Denkweisen« – wir können ergänzen: in Form neuer Fußnoten – aufzugreifen (FR, 3 / 5). Schon damit steht die Fußnoten-These zwangsläufig im Zentrum einer Rekonstruktion der philosophiegeschichtlichen Prämissen Whiteheads sowie seines Philosophieverständnisses überhaupt. Stellt man sich die Aufgabe, näher zu rekonstruieren, worin die Sonderrolle der platonischen Philosophie aus der Sicht Whiteheads besteht, so ist man, da eine zusammenhängende Arbeit Whiteheads zu Platon nicht vorliegt, darauf angewiesen, eine Fülle verstreuter, teils nur beiläufiger Bemerkungen Whiteheads zu sichten und in Zusammenhänge zu bringen. Eine Untersuchung direkter Verweise auf Platon sowie auch wesentlicher genuin platonischer Elemente, die Whitehead in späteren philosophischen Konzeptionen zu erkennen glaubt oder seinem eigenen Ansatz zugrundelegen will, kann mit einer Differenzierung methodologischer und inhaltlicher Positionen beginnen. Dabei muß man sich von vornherein darüber klar sein, daß eine solche Trennung gleichsam nur im Gedankenexperiment vollzogen werden kann, da sich beiderlei Positionen schon als solche gegenseitig durchdringen, insbesondere aber bei Platon in einer Weise verbunden sind, daß der hier getroffenen Unterscheidung nur die Funktion einer hypothetischen Perspektive zukommen kann. Aus dieser Perspektive kann Platons Sonderrolle mit Whitehead methodologisch in der literarischen Fixierung eines spezifischen Fragetyps93 und, damit verbunden, in einer theoretisch begründeten Überzeugungsintention94 sowie in der erstmaligen Formulierung systematischer Spekulationskriterien95 gesehen werden. Inhaltlich wird Platons Sonderrolle in 93 94 95

Vgl. 1.3.1. Vgl. 1.3.2. Vgl. 2.3.4.

36

Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

der Grundlegung eines von Whitehead zur Geltung gebrachten Katalogs originärer metaphysischer Grundideen96 faßbar.

1.3.1 Fragemethode und Hypothesenanspruch Die Interpreten haben seit jeher darauf aufmerksam gemacht, daß die platonischen Dialoge wesentlich von einer spezifischen Weise des Fragens und Antwortens geprägt sind.97 Als charakteristisches Merkmal im Sinne der Besonderheit und Ursprünglichkeit sokratischen Fragens gilt zunächst, daß sich dieses auf das Allgemeine richtet, d. h. auf dasjenige, was sich in einzelnen Aktualisierungen von Erfahrungsbereichen jeweils als dasselbe durchhält.98 In der sich primär in Fragen manifestierenden Entdeckung des Allgemeinen durch Sokrates kann eine wesentliche Grundlegungsfunktion für wissenschaftliche, philosophische und metaphysische Problemstellungen überhaupt gesehen werden. Daß Platon, wie auch Meier feststellt, »eine ganz neue Dimension des Fragens erschlossen« habe,99 läßt einen Zusammenhang mit Whiteheads Fußnoten-These naheliegend erscheinen. Die neue Dimension des Fragens, die zugleich die Fragen selbst gegenüber den Antworten als vorrangig ausweise, habe zwar, so Meier, »alle künftige Philosophie wohl nicht gerade zu Fußnoten zu Platon degradiert, aber doch aufs stärkste bestimmt.«100 Die schon erwähnte Tatsache, daß durch die (nach Meier zu starke) Fußnoten-These nicht nur die nachplatonische, sondern eben auch die vorplatonische Philosophie eine Relativierung erfährt, spricht dafür, in der wissenschaftskonstitutiven sokratischen Fragemethodik wenn nicht den Anlaß so doch zumindest eine wesentliche Bestätigung für die FußnotenThese zu sehen. Mögen uns die sokratischen Fragen nach dem Allgemeinen bzw. nach Definitionen heute auch noch so geläufig und selbstverständlich erschei96

Vgl. 1.3.3. Vgl. u. a. Robinson (21953), 49–92. 98 Diese Zielrichtung der sokratischen Gesprächsführung hat schon Aristoteles in Metaphysik XIII, 1078 b, hervorgehoben; vgl. auch Snell (21948), 177 f.; Martin (1974), 7 ff.; Hare (1990), 125 f. 99 Meier (1995), 704 (Nachtrag zum Nachwort). 100 Ebd.; vgl. Wieland (1996), 5: »Zu Platons Wirkungsgeschichte gehören schließlich alle, die Fragen in einer Art stellen und zu beantworten suchen, wie dies für uns zum ersten Mal bei Platon greifbar ist, gleichgültig, ob man sich des historischen Ursprungs dieses Fragens bewußt ist oder nicht.« Vgl. auch Hauskeller (1994), 43. 97

Fragemethode und Hypothesenanspruch

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nen, so bleibt doch die Tatsache, daß Sokrates nach unserer Erkenntnis und Überlieferung der Geschichte des Denkens als erster derartige Fragen gestellt hat und daß man, will man nicht bei dem Urteil der Selbstverständlichkeit stehenbleiben, anerkennen muß, daß es sich bei dieser Art des Fragens um eine elementare, letztlich für Wissenschaft und Philosophie konstitutive Neuerung handelt. Insofern nämlich Wissenschaft und Philosophie nicht zuletzt Allgemeines, d. h. dasjenige, worauf sich die genuin sokratischen Fragen allererst richten, zum Gegenstand haben, mag es durchaus sinnvoll erscheinen, Whiteheads FußnotenThese gerade im Hinblick auf Originalität und Bedeutung des sokratischen Fragens zu interpretieren. In diesem Zusammenhang ist zusätzlich daran zu erinnern, daß Sokrates in den genannten Dialogen oft nur die Rolle dessen einnimmt, der Fragen formuliert und Antworten prüft, um von da aus zu neuen Fragen überzugehen, wobei er sich selbst meist aller Behauptung enthält. Zu diesem ersten Moment sokratischen Nichtwissens tritt noch ein weiteres, verwandtes Moment hinzu, insofern über die spezifische Rolle des Sokrates als Fragender hinaus auch der jeweilige Dialog als ganzer stets ohne eigentliche Beantwortung der Ausgangsfrage endet. Dies kann einerseits als Beleg für den auch von Meier erwähnten Vorrang oder die Eigenbedeutung der gestellten Fragen angesehen werden, andererseits und damit verbunden aber auch als der Verzicht auf den Anspruch der Beantwortung und so auf den Anspruch positiver Erkenntnis überhaupt. Das bekannte sokratische Eingeständnis eines Nichtwissens101 kommt sowohl in der Dialogrolle des Sokrates als auch in der aporetischen Struktur der Dialoge überhaupt zum Ausdruck. Whitehead macht sich dieses platonische Charakteristikum in seiner Wendung gegen den Anspruch auf Endgültigkeit spekulativer Erkenntnis zu eigen, ohne seinerseits aber auf den Anspruch positiver Erkenntnis überhaupt zu verzichten.102 Für die platonischen Dialoge sind also Fragen konstitutiv. Der Frage kommt sogar ein epistemischer Vorrang vor der Antwort zu. Sokrates zeichnet sich gegenüber seinen Gesprächspartnern in der Regel nicht durch ein Wissen aus, das unmittelbar propositional faßbar und in Antworten ausdrückbar wäre, sondern durch ein Wissen um die richtige Fragestellung und durch die Fähigkeit, »die durch die Fragestellung ge-

101 10 2

Vgl. Apologie, 21 d; 29 a–b. Vgl. 3.3.1.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

schaffene Situation jederzeit zu beherrschen«.103 Im Gegensatz zu einer gängigen Auffassung, auf die sich auch Sokrates’ Gesprächspartner berufen, um sich jedoch bald wieder von ihr zu distanzieren, ist Fragen keineswegs leichter als Antworten.104 Die Auffassung, wonach Fragen zu stellen die vorrangige Aufgabe der Philosophie sei, prägt nicht allein die platonischen Dialoge, sondern wird auch im 20. Jahrhundert ausdrücklich u. a. von Whiteheads Schüler Russell vertreten, der von der Philosophie weniger »die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen« erwartet als vielmehr ein »Wissen darüber, was die Dinge sein könnten«.105 Für Gadamer schließlich ist es die »Struktur der Frage«, in der sich die »Suspension von Urteilen«, besonders von »Vorurteilen« manifestiert: »Das Wesen der Frage ist das Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten.«106 Als ein zum »Setzen« konträres »Erproben von Möglichkeiten«107 sieht Gadamer das Fragen in Platons Dialogen exemplarisch inszeniert.108 So ist auch Whiteheads Bemerkung »Plato raises all fundamental questions without answering them« (ESP, 89) keinesfalls abwertend gemeint. Im Dialog sind nicht nur Urheber und Adressat jeder Rede mit ihren jeweiligen Positionen, auch mit der Gesamtheit ihrer Auffassungen, Intentionen und Vorverständnissen stets präsent, sondern anders als in jeder anderen Form der Objektivierung philosophischen Wissens stehen Position und Gegenposition, Rede und Gegenrede, These und Gegenthese, eine Theorie und ihre Widerlegung jederzeit auf dem Prüfstand. Eben diese Konstellation ist es, die auch bei Whitehead, obwohl er sich nicht der literarischen Form des Dialogs bedient, in mehrfacher Hinsicht zum Ausdruck kommt. Ausdrücklich erklärt er den Dialog zur geeignetsten philosophischen Darstellungsform.109 Wesentliche Teile von Whiteheads Philosophie, insbesondere von PR, lesen sich als fiktiver Dialog zwischen ihm und seinen Bezugsautoren.110 Oftmals treten die Fragen, die diese Autoren vermeintlich oder tatsächlich gestellt haben, hinter den Fragen, die sie nach Whitehead hätten stellen können bzw. sollen, zurück. Ebenso scheint Whitehead auch verschiedene Bezugsautoren 103 104 105 106 107 108 109 110

Wieland (1982), 58. Vgl. z. B. Politeia, 336 c. Russell (1967), 138. Gadamer (61990), 304 (kursiv bei Gadamer). Ebd., 381. Ebd., 368 ff. Whitehead (1922), vii; vgl. Lotter (1996), 21–23. So befindet sich Whitehead für Welten (1984), 389, 403, im Dialog mit Hume.

Fragemethode und Hypothesenanspruch

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untereinander in eine fiktive Dialogsituation bringen zu wollen, etwa Locke und Hume oder Descartes und James. Dabei beschränkt Whitehead sich keinesfalls auf Fälle, wo einer dieser Autoren auf einen anderen direkt Bezug nimmt. Er referiert also nicht nur vorgegebene dialogische Konstellationen, sondern er projiziert philosophiegeschichtliche Positionen allererst in dialogische Konstellationen. Immer wieder verdankt sich die Dialogposition, die Whitehead einer Philosophie in der Auseinandersetzung mit einer anderen Philosophie zuweist, einem fiktiven Dialog, den er seinerseits mit dieser Philosophie ausgetragen hat oder ausgetragen sehen will. Oft genug verbleibt Whitehead dabei selbst in der Position dessen, der sich, wenn schon nicht auf Fragen, so doch auf Hypothesen beschränkt. Sowohl in Whiteheads dialogischer Gegenüberstellung philosophiegeschichtlicher Positionen als auch in seinem betonten Verzicht auf definitive Gewißheit deutet sich an, daß die Fußnoten-These im Sinne der philosophiegeschichtlichen Fortsetzung einer dialogischen Situation verstanden werden kann, die auch da, wo sie faktisch nicht gegeben ist, hypothetisch-spekulativ unterstellt werden kann, und bei der das Bemühen um definitive Gewißheit hinter dem Wechselspiel problemorientierten Fragens und Antwortens zurücksteht. Whiteheads metaphysischer Konzeption kann man nicht gerecht werden, wenn man sie aus dem Zusammenhang ihrer Vorgeschichte, d. h. hier dem fiktiven Dialog mit tradierten Positionen, isoliert. Ihr Zusammenhang ist die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Diese bildet einen organischen Zusammenhang, in dem Whitehead seine eigene Position vorbereitet sieht. In seiner Rückführung auf philosophiegeschichtliche Traditionen läßt Whitehead seine Leser gleichsam den Weg bzw. die Genese, der sich seine eigene Konzeption verdankt, immer mitgehen. Der Leser befindet sich in einer Situation, die sich von dem Konfrontiertsein mit einer vorgefaßten, definitiven Lehrmeinung in zweifacher Weise unterscheidet: Der Leser wohnt impliziten Dialogsituationen bei und erfährt so die Genese und Begründung einer Position in Konkurrenz mit anderen Positionen. Zugleich wohnt er einer gewissermaßen aporetischen Position bei: Whitehead vertritt dort, wo er einem Bezugsautor widerspricht, eine zwar mit Wahrheitsanspruch verbundene Position; dieser Wahrheitsanspruch ist aber kein Endgültigkeitsanspruch nach Art einer definitiven, ein für allemal feststehenden Position. Der Leser hat sich zu vergegenwärtigen, daß er einer historisch kontingenten Etappe eines noch nicht abgeschlossenen und prinzipiell nicht abschließbaren Dialogs beiwohnt, der die Möglichkeit weiterer Dialogbeiträge programmatisch offenläßt. So verbirgt sich hinter der

40

Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

Fußnoten-These die Auffassung, daß sich die auf Platon folgende Philosophie als Reihe von Fußnoten im Sinne einer Fortführung von Rede und Gegenrede, von Position und Gegenposition, von Argument und Gegenargument darstellt. Whiteheads ausdrücklicher Verzicht auf Endgültigkeit bedeutet einen Verzicht auf überzogene Ansprüche, indem er den aporetischen Geist der platonischen Philosophie aufnimmt und fortsetzt. Was man den platonischen Dialogen in Gestalt von Sätzen entnimmt, kann niemals den Status ein für allemal verbürgten Wissens haben. Was man dem dialogischen Philosophieren Whiteheads entnimmt, kann nur als systematisierende Annäherungsstufe an definitives Wissen gelten.

1.3.2 Apologie der Freiheit und Ästhetik der Überzeugung Whitehead verbindet mit der Philosophie Platons die Grundidee und den historischen Anfang der Spekulation. Der Begriff »Spekulation« bezeichnet dabei eine Verfahrensweise, die die altgriechische bzw. hellenische Zeit bis Aristoteles gegenüber der sich anschließenden Epoche des Hellenismus auszeichnet. Den Hellenismus sieht Whitehead durch Gelehrsamkeit als das der Spekulation entgegengesetzte intellektuelle Interesse geprägt. Die auf praktisches Problemlösen ausgerichtete Gelehrsamkeit wird für Whitehead durch Odysseus repräsentiert, dessen Vernunft mit der »Schlauheit der Füchse« verwandt ist, Platon hingegen symbolisiert die Spekulation, er verkörpert die Verwandtschaft mit der Vernunft der Götter (FR, 10 / 11; vgl. 37 f. / 33 f.).111 Die spekulative Vernunft ist im Gegensatz zur praktischen Vernunft über die praktischen Erfordernisse der Alltagswelt erhaben. Ihre Funktion ist die von externen Zwecksetzungen freie Neugier, die Welt zu verstehen. Für Whitehead beruht die spekulative Vernunft auf dem »fundamentalen Glauben, daß sich jede Einzeltatsache als Exemplifikation der allgemeinen Prinzipien, die ihr Wesen und ihren Status unter den übrigen Einzeltatsachen bestimmen, verstehen läßt« (FR, 38 / 33). Hierin spiegelt sich sowohl Whiteheads platonische Sichtweise, die ihn bezogen auf Einzeltatsachen von einer Exemplifikation allgemeiner Prinzipien reden läßt, als auch sein Rationalismus, der von einer durchgängigen Erkennbarkeit der Welt ausgeht. Auf die letztendlich ethische Relevanz der von externen Zwecksetzungen freien Neugier wird dadurch hinge111

Vgl. 2.2.

Apologie der Freiheit und Ästhetik der Überzeugung

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wiesen, daß Whitehead im Sinne Platons konstatiert, die spekulative Vernunft strebe danach, das Leben »durch das Gute der Einsicht zu etwas Gutem zu machen« (ebd.). Mag eine Identifizierung Platons mit zweckfreier Neugier und Selbstwert der Einsicht noch auf allgemeine Zustimmung rechnen können, so gilt dies kaum für Whiteheads Platon-Verständnis im einzelnen. Wir rekonstruieren dieses Verständnis in dem Bewußtsein, daß es manchem Leser als in wichtigen Punkten problematisch oder sogar falsch erscheinen wird. Um jedoch die Fußnoten-These richtig einschätzen und weiter mit Inhalt füllen zu können, muß die Platon-Auffassung Whiteheads auch dort möglichst vollständig wiedergegeben werden, wo sie vielleicht Widerspruch provoziert. Anlaß für Kontroversen bietet freilich nicht erst Whiteheads Interpretation inhaltlicher Positionen Platons, sondern bereits die einordnende Charakterisierung mittels elementarer Dichotomien wie Spekulation und Gelehrsamkeit, Toleranz und Dogmatismus, Hypothese und System, usw. Wesentlich verbunden mit der Tradition der Gelehrsamkeit ist nach Whiteheads Rekonstruktion eine besondere Verbindlichkeit und Dominanz der Frage nach der Berechtigung von Lehren und Positionen, d. h. nach den mit ihnen verbundenen Wahrheitsansprüchen. Man mag diese Frage des recht Habens oder unrecht Habens bzw. die Frage nach Wahrheit und Falschheit als ein nicht nur allgemein akzeptiertes, sondern auch selbstverständliches und überdies konstitutives Merkmal von Philosophie und Wissenschaft überhaupt ansehen. Whitehead indessen verbindet dieses Merkmal speziell mit der Gelehrsamkeit, die er unter eben diesem Gesichtspunkt mit dem Verfahren der Spekulation und ihrem Hauptvertreter Platon kontrastiert: »Es wäre Unsinn, wenn man bei Platon ebenso unvermittelt nach Recht oder Unrecht fragen wollte wie bei den Alexandrinern.« (AI, 105 / 226 f.)112 Diese provokant erscheinende Aussage hinsichtlich des formalen bzw. methodischen Charakters der Philosophie Platons begründet Whitehead zunächst damit, daß Versuche, Platon ein kohärentes metaphysisches System zu unterstellen, offensichtlich scheitern.113 Dieses Scheitern sieht er in einer wesentlichen formalen Beschaffenheit von Platons Philosophie selbst begründet. Whitehead charakterisiert die platonische Philosophie in einer Weise, die

112

Der zweideutigen Formulierung »nach Recht oder Unrecht« korrespondiert im Originaltext die Formulierung »whether he be right or wrong.« 113 Vgl. 2.3.4.

42

Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

die Suche nach einem kohärenten System von vornherein als aussichtslos oder sogar verfehlt erscheinen lassen muß. Zunächst stellt Whitehead Brüche und Unverträglichkeiten in Platons Philosophie fest, indem er z. B. ein Hin- und Herschwanken zwischen der Immanenzauffassung und der Auferlegtheitsauffassung der Naturgesetze konstatiert, die auf unverträglichen metaphysischen Voraussetzungen beruhen.114 Von dieser Feststellung aus geht er nun nicht zu der möglichen These über, bei Platon lägen Irrtümer vor, noch geht er etwa von differierenden Lehrmeinungen und Positionen eines frühen und eines späten Platon aus, sondern er stellt als Besonderheit der platonischen Philosophie den Sachverhalt in den Vordergrund, daß sie von ihrem genuinen methodischen Anspruch und Selbstverständnis her nicht in der Weise an Richtigkeit und Wahrheit orientiert sei, die Whitehead mit der Gelehrsamkeit verbindet. Inkohärenzen innerhalb der Philosophie Platons sind so nach Whitehead in ganz anderer Weise zu erklären, als er dies etwa für die Erklärung von Inkohärenzen bei Augustinus, der in verschiedenen Lebensabschnitten divergierende oder sogar gegensätzliche Positionen vertreten hat, für angemessen hält. Das entscheidende Merkmal, von dem aus sich eine Kontrastierung von Augustinus und Platon ergibt, liegt darin, »wie man seine Meinungen vertritt« (AI, 106 / 227). Hierfür wiederum ist die Einstellung wesentlich, die man jeweils zu seinen eigenen Positionen bzw. Lehrmeinungen einnimmt. Die Einstellung Platons und Augustinus’ zu ihren eigenen Lehrmeinungen sieht Whitehead als grundsätzlich verschieden an. Während er Augustinus mit dem für die Gelehrsamkeit charakteristischen Anspruch definitiver Richtigkeit bzw. Wahrheit identifiziert, sieht er die spekulative platonische Philosophie und ihre methodischen Ansprüche durch das Anliegen geprägt, nicht definitive Wahrheiten, sondern einen »Vorschlag« oder eine »wahrscheinliche Geschichte« zu formulieren (AI, 106 / 228). Das Kriterium für diese Wahrscheinlichkeit liegt in ihrer jeweiligen eigenen Plausibilität, aber auch in ihrer vergleichsweisen Plausibilität im Hinblick auf andere Geschichten.115 Vor einer wahrscheinlichen Geschichte stehen wir auch bei Platons Timaios, dem als Darstellung von Entstehung und Aufbau des Kosmos für Whiteheads philosophische Kosmologie wichtigsten platonischen

114 115

Vgl. 2.1. Vgl. 3.3.1.

Apologie der Freiheit und Ästhetik der Überzeugung

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Bezugstext.116 Nach der im Timaios vertretenen Auffassung ist definitives Wissen von der prozeßhaften, in kontinuierlichem Werden befindlichen Welt nicht möglich. Definitives Wissen gibt es nur vom unveränderlichen Sein, während die Entstehungsgeschichte des Kosmos als stets werdender Welt nicht erkannt, sondern nur vorgestellt und damit nur in einer Rede reduzierten Wahrheitsanspruchs erfaßt werden kann. An die Stelle von Wissensansprüchen und -behauptungen tritt hier, wie immer wieder betont wird, eine Erzählung, eine wahrscheinliche Geschichte, ein Mythos.117 Selbst die typische Dialogstruktur tritt im Timaios zurück – es wird mehr erzählt als diskutiert und gelehrt. Werden Lehrmeinungen und Positionen infolge ihres Hypothesencharakters mit reduzierten Wahrheitsansprüchen verbunden, so daß sie entsprechend undogmatisch als »Vorschläge« oder »wahrscheinliche Geschichten« auftreten, so ist darin weniger eine Unsicherheit hinsichtlich einer jeweiligen Position als solcher zu sehen als vielmehr der wenigstens vorläufige Verzicht auf eine eindeutige Festlegung hinsichtlich der Alternative von ›wahr‹ und ›falsch‹. In diesem Sinne wird nun im Timaios nicht ausschließlich eine Geschichte im Modus der traditionellen Mythen vorgetragen, sondern es werden auch Argumente vorgebracht118 – nur eben nicht mit dem Ziel definitiver Gewißheit, sondern mit dem reduzierten Anspruch, etwas wahrscheinlich zu machen. Hinter diesem Anspruch steht die Einsicht, daß jedes Wissen sich irgendwann als korrektur- oder revisionsbedürftig erweisen kann. Von der Einsicht in die prinzipielle Vorläufigkeit von Wissen kann nun gerade die Art und Weise, wie man im Gespräch seine Meinungen vertritt, nicht unberührt bleiben. Diese Einsicht nämlich fordert heraus zu einem Gespür für problemorientiertes Miteinander, verbunden damit letztlich auch zur Einsicht in das Verhältnis von Zwang und Freiheit. Ein undogmatisches Vertreten der eigenen Meinung, wie Whitehead es erstmals und exemplarisch bei Platon vorfindet, bildet aufgrund des Selbstund Weltverständnisses, woraus es resultiert, ein signifikantes Merkmal für Zivilisation. Zivilisation beruht auf Individuen und der gegenseitigen Anerkennung ihrer Individualität. Aus Whiteheads ideengeschichtlicher Perspektive erscheint dieser vermeintliche Allgemeinplatz als Einsicht in

116

Vgl. 3.1. Timaios, 29 c; 30 b; 44 d et passim; vgl. Wieland (1982), 49, 82. 118 Vgl. Bröcker (41990), 177, der hier auf Platons Begriff »διαµωθολογ µεν« als ein Wort verweist, »das Mythos und Logos vereinigt«. 117

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

eine allmähliche Errungenschaft, die ein menschliches Selbst- und Weltverständnis allererst ermöglicht (AI, 10 / 88 f.). Für Zivilisation, epochal gefaßt die vergangenen etwa dreitausend Jahre, ist nach Whitehead kennzeichnend, daß sich die einzelnen Mitglieder der sie konstituierenden Gesellschaften unabhängig von ihren jeweiligen sozialen Rollen und Funktionen als von Emotionen und Intellekt geprägte urteilsfähige Individuen anerkennen. Dieses gegenseitige Anerkennen der Individuen als solche geht für Whitehead einher mit einem allmählichen Aufkommen einer Reflexion, aus der sich erste ethische Grundbegriffe, z. B. der Pflichtbegriff, sowie der Grundbegriff der Psyche (psyche) bzw. des Geistes (mind) ergeben (AI, 10 / 89).119 Der Begriff der Psyche stellt sich für Whitehead als ein »Universalschlüssel« im Hinblick auf Grundkategorien der Naturerklärung dar. Durch ihn wurden im Frühstadium des Denkens Naturkräfte zu Naturgeistern, »die bestialisch und schonungslos waren, aber besänftigt werden konnten« (AI, 11 / 89). Die der menschlichen Sphäre entlehnten Begriffe emotionsund intellektbestimmt handelnder Individuen und die entsprechende Erfahrung von Interaktion wird so generalisierend auf die Sphäre der Naturaktivitäten projiziert. Das Verhältnis des Menschen zur Natur wandelte sich in ein Verhältnis zu den die Natur beherrschenden Geistern, d. h. den Göttern der antiken Dichter. Zugleich ermöglichte das gewandelte Verständnis der Naturkräfte als Naturgeister mit Zügen personalen Handelns, diese zum Gegenstand und Adressaten von Kritik zu machen. Whitehead konstatiert hier die ursprüngliche Herausbildung eines kritischen Sinns: Griechen und Hebräer haben uns in einem frühen zivilisatorischen Stadium einen Sinn für kritisches Ungenügen hinterlassen – »gewissermaßen die sokratische Stechfliege der Zivilisation« (AI, 11 / 90)120 –, das seinen adäquatesten Ausdruck in den Dialogen Platons gefunden habe: »In ihnen finden wir seine Kritik an den landläufigen Göttern der Poeten – die er ja aus seinem Staat verbannt wissen wollte – und seine Analyse der menschlichen Seelenvermögen. Die Religion 119

Whitehead verwendet die Begriffe »psyche« und »mind« synonym, wie in der Formulierung »the notion of a psyche, – that is, of a mind –« deutlich wird. Die dt. Übersetzung »eine Vorstellung von der Psyche – vom Geist und von der Seele« gibt dies nicht eindeutig wieder. – Eine Identifizierung der Begriffe »mind« und »Geist« ist wegen der Vielfalt der Bedeutungstraditionen beider Termini nicht unproblematisch, erscheint aber aufgrund der durchgängigen Wiedergabe von »mind« mit »Geist« in den hier zugrundegelegten dt. Übersetzungen pragmatisch sinnvoll. 120 Diese Übersetzung Bubsers ist eine frei interpretierende aber zugleich treffende Wiedergabe der Formulierung »which is the gadfly of civilization«.

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Platons beruht auf seinem Begriff davon, was ein wahrer Gott sein kann, dessen Blick ständig auf den Formen ewiger Schönheit ruht; und seine Gesellschaftslehre beruht auf seinem Begriff davon, was der Mensch sein kann – vermöge seiner Natur, zu deren vollständiger Beschreibung Prädikate in Anspruch genommen werden müssen, deren ursprünglicher Anwendungsbereich die Natur der Götter ist.« (AI, 11 f. / 90 f.) Kritik bedeutet hier also den Vergleich des Tatsächlichen bzw. Wirklichen mit einem Ideal im Sinne der für das platonische Denken grundlegenden Dichotomie. Der positive Wert dieses Ungenügens, das zur Kritik herausfordert, liegt in der Hoffnung, die noch das »flüchtigste Erblicken des Vollkommenen« (AI, 12 / 91) immer begleitete. Ein zweites wesentliches Element, das für Whitehead bei Platon erstmals in prägnanter Weise greifbar wird, ist die effektive Förderung der Freiheit. Die platonische Philosophie bildet demnach eine der ersten und wesentlichen Episoden innerhalb der Geschichte der Entdeckung der Freiheit. Freiheit ist eng mit Toleranz verbunden, beide Begriffe stehen, wie Whitehead hervorhebt, in einem komplementären Verhältnis. Aus seiner Sicht manifestiert sich die Bedeutung von Toleranz für die Differenziertheit des sozialen Verhaltens der Individuen innerhalb einer Gemeinschaft ursprünglich im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Die erste explizite Verteidigung der Toleranz als Bedingung für höhere Zivilisationsstufen hat, so Whitehead, in der von Thukydides überlieferten Totenrede des Perikles Ausdruck gefunden, die das Bild eines wohlgeordneten Gemeinwesens entwirft, dem es gelungen sei, die Freiheit des einzelnen zu bewahren (AI, 50 f. / 148). Es blieb dann Platon vorbehalten, etwa fünfzig Jahre später dem eher lebenspraktisch motivierten und akzentuierten Bild des Perikles ein spekulatives, begrifflich-kontemplatives Fundament zu geben, indem er die »tieferliegenden Begriffe« formulierte, »aus denen sich alle Freiheitsansprüche herleiten müssen« (ebd.). Zentral ist hier für Whitehead der schon erwähnte platonische Grundbegriff der Psyche: Die Annahme im Universum rudimentär wirksamer psychischen Faktoren führt bei Platon hin zu der Erklärung von Leben und Bewegung und bezeichnet letztlich den Ursprung aller Spontaneität. Der Mensch als Teil der Natur partizipiert an den in ihr wirksamen psychischen Faktoren ebenso wie an der die Natur regulierenden Harmonie. Der Zweck der menschlichen Gemeinschaft aus platonischer Sicht besteht nun für Whitehead darin, die latenten psychischen Energien und zugleich ihr Harmonisierungspotential zu aktivieren. Die dem Menschen als Naturwesen eigene Spontaneität, die gleichsam das Wesen seiner Seele ausmacht, kommt erst im

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

Gemeinwesen zum Tragen, das tolerante Gemeinwesen ist Voraussetzung der Realisierung individueller Spontaneität. So stellt Whitehead Platon und den Perikles des Thukydides als kontemplative bzw. aktive Antipoden dar, als Repräsentanten der Theorie einerseits und der Praxis andererseits, die gleichwohl an demselben Anspruch von Toleranz und Freiheit orientiert sind und insofern zwei Seiten derselben Zivilisationsstufe verkörpern. Perikles richtet den Blick auf die pragmatischen Aspekte der Aktivitäten des einzelnen Bürgers. Er akzentuiert den ästhetischen Zweck allen Handelns als Negation jeder Lust an der Macht, die den ›Barbaren‹ dazu treibe, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Positiv wird der ästhetische Zweck bei Perikles als Ideal bestimmt, in dem sich menschliches Handeln den – wie Whitehead romantisierend formuliert – »delikaten Strukturen der Natur« (the delicate splendor of nature) annähert (AI, 51 / 149). Sokrates und Platon indessen geht es im Großteil der Dialoge darum, »die allgemeinen Formen des Denkens zu artikulieren«. Mit Ausnahme der Gesetze, die detaillierte Vorschriften für die Errichtung kleiner Stadtstaaten enthalten, weisen die platonischen Schriften kaum Abschnitte mit direkter praktischer Relevanz im Sinne von Anweisungen für konkretes Handeln auf: »Die Konzeption des ›Staats‹ kann nur im Himmel funktionieren.« (ebd.) Ihre Qualität liegt insofern gerade in ihrer Loslösung von pragmatischen Verbindlichkeiten, die für spekulative Philosophie seit jeher charakteristisch ist: »Platons Schriften bilden eine einzige große Apologie für die Freiheit der Kontemplation und der Kommunikation kontemplativer Erfahrungen. Sokrates und Platon haben in der dauernden Ausübung dieses Rechts gelebt; und Sokrates ist für dieses Recht gestorben.« (AI, 51 / 148 f.; vgl. 55 / 155) Der perikleischen Zurückweisung »intellektueller Barbarei« (AI, 51 / 149) im Bereich des Handelns korrespondiert also Platons Apologie für die Freiheit der Kontemplation, mit der sie sich zu einer Ästhetik der Überzeugung 121 kombiniert, ohne die für Whitehead Zivilisation nicht hätte entstehen können.

121

Mit »Ästhetik der Überzeugung« paraphrasieren wir Whiteheads Formulierung »persuasive beauty« / »überzeugende Schönheit« (AI, 51 / 149), in der sowohl eine Beschreibung des »Perikleischen Ideals« als auch ein Hinweis auf die ästhetische Qualität der sokratischen Gesprächsführung zu sehen ist, die für Whitehead die theoretische Entsprechung zu der von Perikles propagierten gesellschaftlichen Praxis, zu dem geforderten »ästhetischen Zweck allen Handelns« (ebd.), bildet. – Zur üblicheren ethischen Reflexion auf persuasion als nicht-rationale (im Gegensatz zu ›irrationale‹) Methode und ihren emotionalen Aspekten vgl. Stevenson (141972), 139–151.

Apologie der Freiheit und Ästhetik der Überzeugung

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Zur Begründung der Freiheit, so Whitehead, reicht ihre intellektuelle Verteidigung nicht aus. Erforderlich ist eine bestimmte geistige Grundstimmung, die Whitehead im Sinne einer Rezeptivität für die »Vielfältigkeit des Universums« charakterisiert, die unserem Intellekt nicht zugänglich sei (ebd.). Diese Grundstimmung wiederum hat ihren Niederschlag im Werk Platons gefunden, insofern dieser auf den stets fragmentarischen Charakter philosophischer Standpunkte aufmerksam macht: »Die Moral seiner Schriften ist, daß alle Standpunkte, denen vernünftige Kohärenz und in gewissem Sinne Anwendbarkeit zu eigen ist, etwas zu unserem Verständnis des Universums beizutragen haben, andererseits aber auch immer etwas aus dem Blickfeld lassen und deshalb nicht die Gesamtheit der erkennbaren Fakten decken.« (AI, 52 / 149 f.)122 Die Vielfalt des Universums und die Einsicht in diese Vielfalt, die verhindert, daß sich ein adäquates, d. h. universell anwendbares System mit Endgültigkeitsanspruch formulieren läßt, verpflichten zur Toleranz: »Die Pflicht zur Toleranz ist der Tribut des Endlichen an die Überfülle des unerschöpflich Neuen, das auf seine Zukunft wartet, und an die Komplexheit der vollendeten Tatsachen, die sich über die Grenzen unserer Einsicht weit hinauserstreckt.« (AI, 52 / 150) Whitehead sieht zwei retardierende Momente einer effektiven Förderung der Freiheit: Einerseits der (von Whitehead hier universell verstandene) Skeptizismus, der die Erreichbarkeit auch nur irgendeines Grades von Wahrheit in Zweifel zieht. Die Skeptiker sind für Whitehead Beispiel eines »gewissen Hangs zur Intoleranz« (AI, 50 / 147), wodurch die Erreichbarkeit jeglichen Grades von Wahrheit negiert werde, eine Position, die für Whitehead mit einem Vertrauen in das Denken nicht vereinbar ist. Andererseits sieht er eine effektive Förderung der Freiheit gerade durch das intolerante Streben nach Freiheit behindert, da diese sich durch die Intoleranz, mit der sie angestrebt werde, wiederum aufheben müsse (AI, 52 / 150). Whitehead will die aus seiner Sicht bisher dominierende Vorstellung von Platon als »religiöser Mystiker und begnadeter Wortkünstler« korrigieren (AI, 55 / 155). In diesen beiden Hinsichten nämlich repräsentiert Platon für Whitehead die Welt, die ihm überliefert war, und nicht die Welt, die Platon selbst geschaffen habe. Die Frage, ob jene beiden bisher besonders gewürdigten Hinsichten vielleicht »das beste an Platon« gewesen seien, läßt Whitehead offen. Die zweite, schöpferische Rolle Platons 122

Zu Kohärenz und Anwendbarkeit als Kriterien philosophischer Konzeptionen vgl. 2.3.3.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

jedenfalls ist ihm selbst wichtiger. Whiteheads eigene Philosophie erscheint daher nicht zuletzt als Versuch, ein neues, angemesseneres Platon-Bild zu vermitteln, indem er, zumindest ein Stück weit, die ›Welt‹ zu zeigen versucht, die Platon geschaffen habe. Er führt Elemente dieser platonischen Welt in Verbindung mit Versuchen eines Um- und Neubaus vor Augen, auch ganz andere ›Welten‹, die andere Denker schufen. Letztlich erhebt Whitehead den Anspruch eines Sichtbarmachens, eines Um- und Weiterbaus der platonischen ›Welt‹ unter Verwendung des Reservoirs dessen, was er an anderen ›Welten‹ und ›Teilwelten‹ in der Tradition vorgegeben findet. Whitehead führt die »allmähliche Entwicklung der Gepflogenheit freien Überredens im menschlichen Zusammenleben« (AI, 69 / 175)123 nicht ausschließlich auf den Einfluß von »Ideen« zurück. Er betrachtet diese Entwicklung also nicht allein als Errungenschaft theoretischer Reflexion, sondern betrachtet das Überreden auch als Element einer vorreflexiven vernünftigen und dem Zwang entgegengesetzten Praxis des überredenden Gesprächsaustausches, die ihrerseits die intellektuelle Betätigung und damit die Einsicht in den positiven Wert der freien Überredung entscheidend gefördert habe. Wo die Gewohnheit vernünftigen Überredens (als eine unter ganz verschiedenen Momenten gesellschaftlicher Kommunikation und Koordination) sich ausbreitet, »entsteht ein Milieu, in dem die höheren Geistestätigkeiten und die subtileren Gefühle entfaltet und genossen werden können« (AI, 69 / 176). Die Forderung einer Priorität von vernünftiger Überredung gegenüber Zwang und Gewalt begründet Whitehead unter Rückgriff auf Platon: »Die Erschaffung der Welt« – gemeint ist damit die Einrichtung einer »zivilisierten Weltordnung« (AI, 25 / 111) – »ist nach Platon einem Sieg der vernünftigen Überredung über die Gewalt zu verdanken« (AI, 83 / 196). In vernünftigem Reden, in der Fähigkeit, andere zu überzeugen, drückt sich für Whitehead nicht zuletzt der »Wert des Menschen« aus. Das

123

Bubser übersetzt »persuasion« uneinheitlich mit »Überredung« und »Überzeugung« (AI, 69 f., 83 / 175 f., 196 f.), gelegentlich auch mit »Überzeugungskraft« (AI, 25 / 111). Damit nimmt er zwei verschiedene Bedeutungen auf, die schon für das lateinische Ursprungswort »persuadere« und seinen griechischen Parallelbegriff »πεíθειν« inhaltlich wie auch grammatisch-syntaktisch zu unterscheiden sind, sachlich aber beide als charakteristische Elemente platonischer Gesprächsführung eine Rolle spielen, wobei »Überredung« mehr auf den rhetorischen Effekt und »Überzeugung« mehr auf die argumentative Valenz verweist. Insofern wird auch in der vorliegenden Untersuchung je nach Kontext auf beide Begriffe zurückgegriffen.

Apologie der Freiheit und Ästhetik der Überzeugung

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Aufzeigen von Alternativen, die Disposition, sowohl zu überzeugen als auch überzeugt zu werden, ist konstitutiv für gesellschaftliche Ordnung. Der Rückgriff auf Zwang und Gewalt offenbart insofern ein Versagen der Zivilisation. Diese nämlich beruht auf einer Empfänglichkeit für Ideen, einer Empfänglichkeit für Wandlung und für Neues. Platon hat, so Whitehead, als erster und wie wohl niemand nach ihm die vernünftige Überredung als Element zivilisatorischer Praxis betont und zugleich zum Paradigma und Instrument philosophischer Wahrheitsfindung gemacht. »Vor mehr als zweitausend Jahren hat der weiseste aller Menschen gelehrt, daß die göttliche Überredungskraft die Quelle aller Ordnung in der Welt ist, daß sie aber nicht mehr Harmonie hervorzubringen vermag, als sich im Widerstreit der rohen Naturkräfte erhalten kann.« (AI, 160 / 306) Whitehead vermutet hierin eine Vorwegnahme der christlichen Gnadenlehre (ebd.). Zwar sieht Whitehead bei Platon die Idee eines überredenden Elements im schöpferischen Fortschritt, jedoch enthält andererseits die platonische Metaphysik Grundzüge, die mit diesem überredenden Element schwer vereinbar sind, insbesondere die von Whitehead kritisierte Urbild-Abbild-Dichotomie. »Jedesmal, wenn sich Platon dem Problem gegenübersieht, die Beziehung zwischen Gott und der Welt und zwischen den Ideen, die Gott in seiner Kontemplation betrachtet, und der Welt zu charakterisieren, greift er unweigerlich auf das Bild einer bloßen schaustellerischen Nachahmung zurück.« (AI, 167 / 317) In der Welt kann Platon so nur »zweitklassige Imitationen« finden, jedoch nie ihre Urbilder bzw. Originale (AI, 168 / 317). Damit besteht zwischen der vergänglichen Welt und dem ewigen Wesen Gottes eine Kluft, die nur schwer verständlich erscheinen läßt, »warum für die Welt die Einheit mit Gott und für Gott die Einheit mit der Welt notwendig ist« (AI, 168 / 318). Die kritisierte Kluft verhindert also, daß die Beziehungen zwischen Gott und Welt durch Wesensnotwendigkeiten Gottes und der Welt zu begründen sind, was für Whitehead ein Anspruch an eine Metaphysik sein muß. Statt dessen werden die Beziehungen der vergänglichen Welt bzw. des abgeleiteten Seins zum ewigen Wesen Gottes auf die Willkür dieses ewigen Gottes zurückgeführt – jedenfalls in Zusammenhängen, wo Platon das Naturgeschehen als durch den letzten Willen des Demiurgen abhängig betrachtet. Von dieser Vorstellung eines despotischen Gottes hat sich Platon nur allmählich und schwankend gelöst, nur zögernd ist er nach Whitehead zu der Auffassung eines überredenden Wirkens Gottes übergegangen (AI, 166 f. / 316). Eine plausible Metaphysik muß verständlich machen, »wie die Ideen, die im Wesen Gottes enthalten sind, aufgrund

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

eben dieser ihrer Beschaffenheit zu überredenden Elementen im schöpferischen Fortschritt werden.« (AI, 168 / 318) Das Verdienst, in diesem zentralen Punkt der Metaphysik »über Platon hinausgekommen« zu sein – wir müßten präzisierend sagen: über die unbefriedigendere von zwei Positionen, zwischen denen Platon schwankte –, schreibt Whitehead den allerdings nicht näher bezeichneten »christlichen Theologen« zu (AI, 167 ff. / 317 ff.). Demnach sorgten diese vor allem durch ihre Trinitätslehre für eine verbesserte Erklärung der Beziehungen zwischen Gott und der Welt. Die Trinitätslehre besagt für Whitehead (der damit gleichwohl keine eigentliche Diskussion dieses Dogmas intendiert) zunächst ein Verhältnis dreier uneingeschränkt göttlicher Teile, die im Verhältnis einer wechselnden Immanenz stehen. Was die theologische Konzeption der Person Christi anbetrifft, so verwarfen die Theologen hier die aus platonischer Perspektive mögliche Auffassung, »daß es neben dem menschlichen ein zweites, göttliches Individuum gegeben habe, das dann eigentlich im menschlichen Individuum ein bloßes Nachbild gehabt hätte« (AI, 168 / 318). Die theologische Vorstellung ist vielmehr die einer unmittelbaren Immanenz Gottes in der einen, ungeteilten Person Christi, zu der noch die weitere Vorstellung einer »Immanenz Gottes in der Welt im allgemeinen, nämlich über die dritte Person der Trinität«, (d. h. über den Heiligen Geist), hinzutritt (AI, 168 f. / 318). So wird also die platonische Vorstellung von Abbildern, von »abgeleitetem Sein« und damit von »Willen« oder »Willkür« Gottes, durch die einer unmittelbaren Immanenz ersetzt. Für Whitehead waren es daher die christlichen Theologen, die die Richtung wiesen, wie die platonische Metaphysik zu einer rationalen Erklärung des überredenden Wirkens Gottes in der Welt zu modifizieren wäre. Mit der unmittelbaren Immanenz formulierten sie eine metaphysische Vorstellung, die eine sinnvolle Basis für die Annahme jenes überredenden Einwirkens bildet. Andererseits versuchten sie aufgrund der aus Whiteheads Sicht fatalen Annahme, daß auf Gott keine der für die zeitliche Welt gültigen metaphysischen Kategorien Anwendung finden könnten, Gott und die Welt durch unterschiedliche Kategorien zu begreifen, weshalb sie nicht zu einer in seinem Sinne kohärenten Metaphysik gelangen konnten. Dieselbe Tendenz kritisiert Whitehead schließlich auch bei Philosophen wie Descartes und Leibniz.

Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe

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1.3.3 Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe Die grundlegende Rolle, die Whitehead dem platonischen Denken für spätere Traditionen beimißt, betrifft nicht zuletzt das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft. Die hier relevanten Überlegungen Platons unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihrer »Vorzüge«, ihres wissenschaftsgeschichtlichen Nutzens, von den entsprechenden allgemein anerkannten und gewürdigten aristotelischen Vorstellungen, sind aber für Whitehead keinesfalls geringer einzuschätzen (AI, 146 / 286). Whitehead will nicht durch einen einfachen Verweis auf platonische Positionen, sondern gleichsam mittels einer ›Lektüreliste‹, die wohl erst ein annähernd systematisches, kohärentes Bild der aus seiner Sicht wichtigsten Inhalte platonischen Philosophierens sichtbar werden läßt, auf die genannten Vorzüge aufmerksam machen: »Man entdeckt sie, wenn man den Theätet, den Sophistes, den Timaios und das fünfte und zehnte Buch der Gesetze liest und danach auf ein früheres Werk, das Symposion, zurückgreift.« (ebd.). In diesen Schriften wird für Whitehead zwar deutlich, wie sehr Platon noch hinter der Systematisierungsleistung des Aristoteles zurückbleibt. Andererseits lassen sich trotz dieser systematischen Mängel, die Whitehead bei Platon erkennt und auf die noch eingegangen wird,124 in den genannten Schriften sieben untereinander verbundene, auch heute unverändert bedeutende philosophische Grundvorstellungen identifizieren: die Ideen, die physischen Elemente, die Psyche, der Eros, die Harmonie, die mathematischen Beziehungen und der Raum.125 Diesen Grundvorstellungen oder -begriffen wendet sich Whitehead in einer Synopsis der betreffenden platonischen Positionen zu (AI, 147 ff. / 287 ff.), die mehrere Funktionen erfüllt: Sie stellt eine Kurzfassung der platonischen Philosophie aus der Sicht Whiteheads dar, sie soll den systematischen Zusammenhang der sieben Grundbegriffe aufzeigen, sie verweist auf den Prinzipiencharakter der platonischen Philosophie für spätere Traditionen, der Halfwassen von einem zeitlichen wie auch begründenden »Anfang der europäischen Metaphysik« sprechen läßt,126 und sie macht die platonischen Elemente kenntlich, an denen sich Whiteheads eigene Konzeption orientiert. 124

Vgl. 2.3.4. Whitehead nennt und diskutiert diese sieben Grundbegriffe platonischen Philosophierens an mehreren Stellen von AI: 147 / 287; 275 / 478; 284 / 491. Manasse (1961), 67, verweist nicht unberechtigt auf »das Subjektive« der Begriffszusammenstellung. 126 Halfwassen (1997), 193. 125

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

Zu Beginn seiner Platon-Synopsis deutet Whitehead sehr periphär die Grundlegungsfunktion der platonischen Ideen – der ersten der sieben Grundvorstellungen – für die aristotelische Logik an, und zwar indem er auf Platons Unterscheidung verträglicher und unverträglicher Ideen zurückgreift. Nach Whiteheads Platon-Bild ist die Bestimmung von Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten unter den Ideen »der Schlüssel zum kohärenten Denken und zum Verständnis der Welt, insofern sie der Schauplatz einer zeitlichen Verwirklichung der Ideen ist« (AI, 147 / 287). Die aristotelische Logik betrachtet Whitehead nur als einen »abgeleiteten Spezialfall dieser allgemeinen Vorstellung« (ebd.). So allgemein und undifferenziert diese Bemerkung Whiteheads auch sein mag, so aufschlußreich ist sie für seine generelle philosophiegeschichtliche Perspektive: Die aristotelische Logik wird – in einem unbefangenen Nebensatz – den Fußnoten zu Platon subsumiert. Abstrakt und für sich betrachtet erscheinen Whitehead die platonischen Ideen als die der Erfahrungswirklichkeit zugrundeliegenden Urbilder leblos und statisch. »›Leben und Bewegung‹ erhalten sie dadurch, daß sie von einer lebendigen Intelligenz erfaßt werden«, wodurch sie »im schöpferischen Fortschritt wirksam werden« (AI, 147 / 287 f.). Diese lebendige Intelligenz mit ihrem »auf die Ideen gerichteten Blick« ist die platonische Psyche, die dritte der sieben Grundvorstellungen,127 die Whitehead auch mit dem Ausdruck »soul« bezeichnet, wobei er aber vor Assoziationen späterer, insbesondere christlicher Traditionen warnt (ebd.). Als oberste Psyche oder Urpsyche kommt ihr ein Prinzipiencharakter für den gesamten Kosmos zu, insofern sie in ihrem aktiven Erfassen der Ideen den kosmischen Prozeß umfassend bestimmt. Sie ist der Demiurg, welcher der Welt ihre Ordnung gegeben hat. Als oberste Psyche weist sie einen Grad von Vollkommenheit auf, die sich für Platon der letzten Erklärbarkeit entzieht. Neben ihr nimmt Platon graduell unterschiedene endliche Seelen an, darunter die menschlichen, die gemeinsam Einfluß auf die Natur haben und infolge der »inhärenten Überzeugungskraft« (inherent persuasiveness) der Ideen an der Gestaltung der Natur beteiligt sind (AI, 148 / 288). Das Erfassen von Ideen im Bereich menschlicher Erkenntnis ist für Platon immer verbunden mit einem Element innerer Unruhe, einer 127

In Whiteheads Synopsis der sieben platonischen Grundvorstellungen wird die zweite Grundvorstellung, die der physischen Elemente, hier zunächst übergangen, dann aber im Kontext von Harmonie, mathematischen Beziehungen und Raum bzw. Worin mit berücksichtigt; vgl. auch 3.1.

Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe

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Aktivität des subjektiven Empfindens, »die zugleich unmittelbarer Genuß und ein Streben ist, das mit der einsetzenden Handlung verschmilzt« (ebd.). Daher ist Platon die Vorstellung einer reinen Erkenntnis, eines reinen Wissens, letztlich fremd. Der Begriff eines »Wissens, das nichts weiter als Wissen ist,« (ebd.) würde aus Whiteheads Sicht unangemessen von jenen schöpferischen Elementen abstrahieren, die nach platonischer Vorstellung als subjektive Komponenten in der erfassenden Aufnahme von Ideen immer wirksam sind. Aktivität des subjektiven Empfindens, Genuß und Streben sind Komponenten, die sich zum Eros als der vierten platonischen Grundvorstellung verbinden. Der Eros ist bei Platon sublimiert zum Begriff der Seele, »die ihrer aus der Erfassung der Ideen entspringenden schöpferischen Funktion innewird« (ebd.) und »die sich zu lebendiger Bewegung aufschwingen will« (AI, 66 / 172). Whitehead paraphrasiert den platonischen Begriff » ρυς« mittels des Begriffs »Liebe« und sieht im Symposion eine Ausgestaltung des Eros hin zu einem »Drang nach idealer Vollkommenheit« (AI, 148 / 288) bzw. zu ihrer »Verwirklichung« (AI, 275 / 478) entworfen. Ein Pendant hierzu, so Whitehead, hätte in einem Dialog bestehen können, der, etwa unter dem Titel »Die Furien«, »die potentiellen Schrecken unvollkommener Verwirklichung« beschreibt (AI, 148 / 288). Gegenstand dieses fiktiven Dialogs hätte die Unordnung in der Natur sein können, die Platon der Sache nach nicht übersehen hat: Sein Demiurg als ordnungsstiftende Instanz ist keinesfalls allmächtig. Die von der Psyche erfaßten Ideen werden immer nur vermittels einer ›Überredung‹ (persuasion) wirksam und bringen insofern nicht eine dogmatisch auferlegte, definitive Ordnung hervor, sondern die asymptotische Annäherung an eine solche Ordnung, und zwar in dem Maße, in dem die jeweiligen Verhältnisse eine solche Annäherung zulassen. Hier erkennt Whitehead jedoch ein Schwanken, eine gewisse Unentschiedenheit, in Platons Position (AI, 148 / 289), da manchmal der Demiurg als eine Instanz beschrieben werde, die nach eigenem, höchsten Willen über die Welt verfüge, während andererseits seine Verfügungsmacht durch die jeweiligen Verhältnisse determiniert sei. Platons Unentschiedenheit in dieser Frage verhindert letztlich eine klare Position dahingehend, ob die Naturgesetze der Natur immanent oder aber von dem Demiurgen auferlegt sind.128 Das mehrfach wiederkehrende Motiv des Überredens bzw. Überzeugens (persuasion), der Überzeugungskraft (persuasiveness), verweist auf 128

Vgl. 2.1.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

Whiteheads enge Parallelisierung von platonischer Metaphysik und Methodologie, für die das persuasive Element gleichermaßen relevant ist. Whitehead betrachtet Platons Philosophie einerseits als Versuch der Beschreibung einer sich gleichsam hypothetisch konstituierenden Natur, in der die Ideen auf dem Weg göttlicher Suggestion wirksam werden, andererseits als den hypothetischen Versuch der dialogisch-überredenden Formulierung des Modells. Beide Perspektiven fallen in Whiteheads Explikation einer Ästhetik der Überzeugung zusammen.129 Die Tatsache, daß sich für Platon die schöpferische Aktivität der Urpsyche bzw. des Demiurgen im persuasiven Modus der Annäherung an ideelle Vollkommenheit entfaltet, impliziert für Whitehead die Vorstellung einer immer nur annäherungsweisen Vollkommenheit. Hieraus wiederum ergibt sich für ihn ein im griechischen Denken vielfältig auftretendes Problem, nämlich das der begründeten Verwendung von Prädikaten, mit denen einer Sache eine ideelle Vollkommenheit zugeschrieben wird. Worin besteht z. B. die Schönheit einer Melodie oder einer Statue? Worin besteht die Richtigkeit oder die Gutheit einer Handlung? Whitehead rechnet damit, daß sich zumindest die zweite Frage mit Platon gar nicht beantworten lasse, ist doch »›das Gute‹ eine fundamentale Qualifikation […], die sich durch nichts Fundamentaleres mehr analysieren läßt« (ebd.). Generell jedoch hält Whitehead den genannten Fragetyp für ersetzbar durch einen anderen, über den im griechischen Denken Einigkeit bestanden habe, nämlich durch die Frage danach, auf welche Dinge sich z. B. der Begriff der Schönheit anwenden lasse, und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um Schönheit hervorzurufen. Es handelt sich, wie auch bei Whitehead dann klar wird, um zwei unterschiedliche Fragen, nämlich einerseits die nach dem möglichen Anwendungsbereich des Prädikats »schön« und andererseits um die nach einem Kriterium für Schönheit. Der griechischen Antwort zufolge kommt Schönheit, so Whitehead, zusammengesetzten Dingen zu, und diese sind dann schön, wenn das, woraus sie zusammengesetzt sind, in einem irgendwie angemessenen Verhältnis oder in einer Proportion zueinander steht. Diese Vorstellung, die in der Idee der Harmonie als fünfter der genannten platonischen Grundbegriffe zum Ausdruck kommt, ist die für Platon wie auch für Aristoteles maßgeblich. Wenn gesagt wurde, daß ein irgendwie angemessenes Verhältnis die Harmonie ausmacht, so verweist dies auf eine griechische Entdeckung, die Whitehead als Meilenstein in der Geschichte des Denkens würdigt, 129

Vgl. 1.3.2.

Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe

55

nämlich die, daß unterschiedlichste Beispiele als schön angesehener Zusammensetzungen in der Erfahrungswirklichkeit als Exemplifizierungen derselben geometrischen und numerischen Verhältnisse betrachtet werden können. Whitehead nennt einige bekannte Beispiele (AI, 149 / 289 f.): Die architektonische Schönheit eines Gebäudes ist von der Einhaltung bestimmter proportionaler Abmessungen abhängig. Die Schönheit von Klangfolgen wird unter Rückgriff auf einfache numerische Verhältnisse oder Intervalle charakterisiert.130 Nun reichen einzelne Entdeckungen, daß die qualitativen Eigenschaften der Erfahrungswelt auf gewissen mathematischen Beziehungen beruhen, in frühere Jahrtausende zurück, was sich z. B. an der Konstruktion zuverlässiger Kalender durch die Babylonier dokumentieren läßt. Der hier betonte Sonderstatus der Griechen und ihrer Erkenntnisse liegt jedoch in ihrem Verallgemeinerungsvermögen, das ihnen dazu verhalf, die Verflochtenheit qualitativer Fakten mit ihrer geometrischen und quantitativen Zusammensetzung als durchgängig und regelhaft zu erkennen. Whitehead schreibt Platon das Verdienst zu, das Studium der Mathematik bzw. der mathematischen Verhältnisse, der sechsten oben genannten platonischen Vorstellung, als »Schlüssel zum Verständnis der Natur und insbesondere ihrer Grundelemente« erkannt zu haben (AI, 149 / 290): Die Mathematik machte den Schwerpunkt des an der platonischen Akademie Gelehrten aus. Von Vorbild und Lehre Platons sind die Mathematiker der folgenden zweihundert Jahre ebenso geprägt wie die astronomische Tradition von Hipparchos bis Ptolemaios. Whitehead erinnert daran, daß die Akademie ihrerseits von der pythagoreischen Mathematik wesentliche Impulse erhalten habe. Platon jedenfalls steht mit Aristoteles im Zentrum einer Epoche, in der nach Whitehead »die Wissenschaft dem reinigenden Einfluß einer mathematischen und logischen Klärung unterzogen wird. Aristoteles hat die Wichtigkeit des klassifizierenden Vorgehens, der Einteilung in species und genera, herausgestellt; und Platon hat die zukünftige Reichweite der angewandten Mathematik vorausgesehen.« (AI, 149 / 290 f.) Die herausragende Bedeutung der Mathematik für Philosophie und Wissenschaft hat sich indessen 130

Whitehead nennt exemplarisch die Entdeckung des Archytas, wonach der Ton einer angeschlagenen Saite bei gleichbleibenden sonstigen Bedingungen (der Zusatz »other circumstances being equal« bleibt in der dt. Übers. unberücksichtigt) von deren Länge abhängt, und daß sich »bestimmte besonders schöne Klangzusammenstellungen durch einfache numerische Verhältnisse unter den entsprechenden Saitenlängen charakterisieren lassen.« (AI, 149 / 289 f.)

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

nicht in einem kontinuierlichen Einfluß niedergeschlagen. Die Tradierung der platonischen Lehre vermittels »religiöser Mystiker, literarischer Gelehrter und sprachbegabter Künstler« war dafür verantwortlich, »daß der Mathematiker Platon für lange Zeit aus der platonischen Tradition verschwand« (AI, 149 / 291). Der Harmonie und den sie fundierenden mathematischen Verhältnissen liegt eine noch allgemeinere Vorstellung zugrunde, die Whitehead bei Platon ausgeprägt sieht, nämlich die einer »allgemeinen wechselseitigen Verbundenheit der Dinge, die die Mannigfaltigkeit des Vielen in die Einheit des Einen transformiert« (AI, 150 / 291). Bei dieser Vorstellung handelt es sich um das, was die Natur zu der Einheit macht, als die sie schon vom Wort her begriffen wird: »Wir sprechen im Singular von dem Universum, der Natur, der Φúσις (ein Wort, das sich als ›der Weltprozeß‹ [engl. ›Process‹] übersetzen läßt).« (ebd.) In seinen zusammenfassenden Aufzählungen der sieben platonischen Grundvorstellungen131 spricht Whitehead nicht von der Physis, sondern von physischen Elementen. Dies ist damit zu erklären, daß für ihn die Physis nicht selbst eine platonische Grundvorstellung ist, sondern sich der Verbindung zweier dieser Grundvorstellungen verdankt, der der physischen Elemente als der zweiten und der des Worin als der siebenten und letzten Grundvorstellung. Die Physis ist das aus den physischen Elementen und dem diese Elemente umfassenden und vereinheitlichenden Worin Zusammengesetzte. Offenbar ist dieser Begriff des Worin, der Einheit, Verbundenheit und Geschlossenheit konnotiert, in der platonischen Philosophie für eine vollständige Analyse der Natur unverzichtbar. Er konnotiert dort die »Gemeinschaftlichkeit der Welt, die den Nährboden alles Entstehens bildet, und deren Wesen ein Prozeß ist, in dem sich der Zusammenhang erhält« (ebd.). Der Prozeßcharakter läßt Whitehead an gleicher Stelle von dem Worin – für Platon auch die »Nährmutter alles Werdenden« – als der »fortschreitenden Geschichte des einen Universums« reden, wodurch der Begriff neben seiner räumlichen auch eine zeitliche Konnotation aufweist. Diese zeitliche Konnotation wird des weiteren dadurch betont, daß Whitehead Platons Worin als die notwendige Verbundenheit auslegt, »die den Ablauf der Geschichte – in Absehung von allen einzelnen historischen Fakten – zu einer Einheit macht« (AI, 150 / 292). Beide Konnotationen zusammen lassen das Worin für Whitehead als Vorläufer der Raum-Zeit der mathematischen Physik des 20. Jahrhunderts erscheinen (AI, 150 / 292). 131

Vgl. Anm. 125.

Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe

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Die sieben genannten platonischen Grundvorstellungen sind spekulativ-philosophische Begriffe. Man wird durch sie kaum zu einer detaillierten Beobachtung empirischer Tatsachen hingeführt. Dies macht nicht nur einen Unterschied zum aristotelischen Denken aus, sondern hat nach Whitehead auch zu grundlegender Kritik an Platon geführt. Whitehead stellt fest, daß der Vorwurf, Platon habe das Interesse von der Beobachtung der Tatsachen abgelenkt, für die Bereiche der politischen Theorie und der Jurisprudenz unzutreffend ist, für den Bereich der Naturwissenschaft aber kaum bestritten werden kann (AI, 151 / 293). Allerdings weist Whitehead auch auf der von der aristotelischen sehr verschiedenen platonischen Intention auf diesem Gebiet hin. Anders als bei Aristoteles, der sich vor allem an der Regel »Beobachte und klassifiziere!« orientiert habe, steht bei Platon die Bedeutung der Mathematik im Vordergrund. Natürlich ist auch bei Aristoteles von einem Bewußtsein um die Notwendigkeit mathematischer Kenntnisse auszugehen, wie auch umgekehrt Platon eine Beobachtung der Tatsachen nicht von vornherein für nutzlos hält, jedoch besteht die Besonderheit Platons in der Überzeugung, »daß mathematische Kenntnisse den Schlüssel bilden, der uns das Geheimnis der Naturzusammenhänge zugänglich machen kann« (ebd.). Whitehead verweist auf das siebente Buch der Nomoi,132 wo Platon von der »schweinischen Unwissenheit« derjenigen spricht, die ignorieren, daß es geometrische Proportionen gibt, die nicht in Zahlenverhältnissen faßbar sind. Eine solche Unwissenheit bedeutet, »daß damit eine Chance, Einblick in die subtileren Seiten des Wesens der Harmonie zu gewinnen, leichtfertig vertan wird« (AI, 151 / 293 f.). Platons Versuch, Spekulationen über Prozesse des Naturgeschehens auf mathematische Konstruktionen zu gründen, erscheint Whitehead grundsätzlich vernünftig – selbst in Fällen, wo er derartige Versuche in die Irre gehen sieht (ebd.). Damit würdigt Whitehead das spekulative Potential mathematischer Erklärung, das in der platonischen Metaphysik zur Entfaltung kommt, jedoch in den nachfolgenden Traditionen, angefangen mit der eher positivistisch ausgerichteten Naturbetrachtung des Aristoteles, preisgegeben wird. Was kann der Grund dafür sein, daß, wie Whitehead konstatiert, achtzehnhundert Jahre nach der Niederschrift des Timaios weiterhin der Anschein besteht, als habe »Aristoteles recht und Platon unrecht behal132

Nomoi, 891 d; wir folgen der Paraphrasierung der Textstelle in der dt. Übersetzung von AI.

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

ten« (AI, 152 / 294)? Gerade die von Whitehead aufgewertete Mathematik-Orientierung Platons ist durch die nachfolgenden wissenschaftlichen Traditionen nicht angemessen gewürdigt und fortgesetzt worden. Ein Grund ist die verbreitete Gewohnheit, Platons Dialoge zu sehr, wenn nicht ausschließlich, unter Gesichtspunkten ihrer literarischen Brillianz zu bewerten (AI, 151 / 293). Damit verbunden ist die pejorative Auslegung von Platons mathematischer Spekulation als »reine Zahlenmystik« (AI, 152 / 294). Whitehead kritisiert hier letztlich eine über Jahrhunderte andauernde, auf Unkenntnis oder Desinteresse beruhende ästhetisierende Fehldeutung der intellektuellen Grundintentionen des Genies Platon. Mathematisches Denken ist zwar aus Whiteheads wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive nicht etwa nach der pythagoreisch-platonischen Philosophie zum Stillstand gekommen, jedoch in seinen wesentlichen Entwicklungen am Denken der christlichen Völker vorbeigegangen – mit entsprechend nachteiligen Folgen für deren Platon-Verständnis (AI, 152 f. / 295).133 Der beherrschende Einfluß des platonischen Denkens auf das Christentum ist unstrittig und wird von Whitehead immer wieder betont. Das Christentum rezipierte aber oft nicht den Platon, den es nach Whitehead hätte rezipieren sollen.134 Eine »triumphale Rechtfertigung« (AI, 153 / 295) der platonischen Lehre, wonach der Harmonie mathematische Verhältnisse zugrundeliegen, hat erst die spätere Entwicklung der Wissenschaften erbracht, und zwar in dem Maße, in dem sie über die auf qualitativen Prädikaten beruhenden aristotelischen Klassifizierungen hinausgingen. In diesem Verfahren nämlich liegt eine Vereinfachung, die dem Fortschritt der Wissenschaften »fast ebensoviel geschadet wie genützt« habe (AI, 153 / 296).135 Für Whitehead greift die aristotelische Logik als Wissenschaftsinstru133

Karikierend stellt Whitehead fest, für die Christen seien Mathematik und schwarze Magie etwa dasselbe gewesen, so daß die mathematische Renaissance des 16. Jahrhunderts im wesentlichen auf nichtchristliche Quellen angewiesen gewesen sei (AI, 152 / 295). 134 Whitehead zweifelt nicht daran, daß »die Macht des Christentums darin besteht, daß es im realen Geschehen offenbarte, was Platon in der Theorie vorausgeahnt hat« (AI, 167 / 316). Daß er so in einem speziellen Sinn auch das Christentum als Fußnoten-Bestand zu Platon betrachtet, könnte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. 135 Das Motiv, wonach unreflektierte Abstraktionen und Vereinfachungen zwar entstellende Problemverkürzungen mit sich bringen, zugleich aber pragmatisch effektiv sein können und somit ambivalent zu bewerten sind, kehrt bei Whitehead mehrfach wieder; vgl. z. B. 3.4.

Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe

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mentarium in entscheidender Weise zu kurz. Zwar ermöglicht sie mit der Einteilung der vielfältigen Erfahrungswirklichkeit in Klassen sowie der Bildung klassifikatorischer Begriffe eine in der Tat unentbehrliche Grundlage der Wissenschaften. Andererseits aber kommen die in Whiteheads Fragen nach einem Wieviel, nach Verhältnissen und Anordnungen von Bestandteilen angesprochenen Begriffe – also die quantitativen und komparativen sowie topologischen Begriffe, die schließlich Voraussetzung für die Bildung metrischer Begriffe sind,136 – in der aristotelischen Klassifizierungs-Methodologie zu kurz. Sie sind erst mittels der von Platon betonten Schlüsselfunktion der Mathematik zu bilden bzw. mit Inhalt zu füllen. »Wo es das Wächteramt der Mathematik nicht gibt, ist die aristotelische Logik ein fruchtbarer Boden für Fehlschlüsse.« (ebd.) So bleibt Whiteheads Kritik, daß Aristoteles ein reduziertes Spektrum für die Wissenschaften erforderlicher Begriffsformen einführt und verwendet – offensichtlich nicht eine Kritik an der aristotelischen Logik als Logik im engeren Sinne, sondern an der Logik als Organon der Wissenschaften. Die Wissenschaften konnten sich für Whitehead schließlich immer dann von der Hypothek der zu engen aristotelischen Perspektive lösen, wenn sie sich auf die platonische Vorstellung der mathematischen Verhältnisse, die das Naturgeschehen durchgehend prägen, zurückbesannen. Bei den genannten sieben Grundvorstellungen handelt es sich zusammengenommen um dasjenige, was in einem »vollständigen (παντελς) Faktum« (complete fact) (AI, 158 / 304), d. h. in einem in Whiteheads Sinn konkreten, keine Abstraktion zulassenden Gegebenen, eine Verbindung eingeht.137 Will man verstehen, was ein vollständiges Faktum ist, so muß man auf eben diese sieben konstitutiven und fundamentalen Vorstellungen zurückgreifen. Da der Begriff des vollständigen Faktums nur 136

Die Bedeutung dieser Begriffe für die empirischen Wissenschaften erläutert Whitehead anhand von Beispielen aus der Chemie (AI, 153 / 296). 137 Mit dem Begriff des vollständigen Faktums will Whitehead die Formulierung »τ παντελ ς ντι« aus Platons Sophistes, 248 e, wiedergeben, die Jowett, dessen Platon-Ausgabe Whitehead oft benutzt, mit »perfect being« übersetzt. Jowett (41953), 401, merkt hierzu an: »This expression may refer to that which is real in the highest sense, or to the total of reality.« In seiner Einführung gibt Jowett »τò παντελ ς ν« ganz im Sinne von Whiteheads Interpretation mit »the completely real« wieder, worunter er »the sensible world as animated by a world-soul« versteht (ebd., 323, Anm.). Whitehead kritisiert die verbreitete Wiedergabe von »παντελ ς« durch »absolut«, und verweist als Begründung auf das Begriffspaar »absolut« und »relativ« in Sophistes, 255 c; (einschlägiger ist 255 d).

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Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive

mittels unserer »fundamentalen Vorstellungen über das Wesen der Wirklichkeit« zu bilden ist, bleiben wir »auf die Philosophie angewiesen« (AI, 158 / 304). Whiteheads Anspruch in AI ist als eine Betrachtung der »speziellen historischen Erscheinungsformen« der sieben Grundvorstellungen, gleichsam Initialen der Philosophie, zu begreifen (AI, 284 / 491). Erneut und deutlich sehen wir die Fußnoten-These konnotiert: Die sieben platonischen Grundbegriffe bilden Grundlage und Ausgangsbasis, gleichsam den ›Bezugstext‹, der erstmals die Elemente des Faktischen erfaßt, und »alle späteren philosophischen Systeme sind nichts weiter als Versuche, einen Ausdruck für die Art und Weise zu finden, wie diese Grundbestandteile miteinander verbunden sind« (AI, 158 / 305; vgl. 275 / 478). Dabei stellen die späteren Konzeptionen keinesfalls einen Nachvollzug der »archaischen Gedanken Platons«, einen Platonismus im engsten Sinne, dar – dies würde auf eine Auslegung der Fußnoten-These hinauslaufen, die oben zurückgewiesen wurde –, sondern es geht um hypothetische Neubestimmungen des Zusammenwirkens der Grundbestandteile oder Vorstellungen, die, mögen sie für Whitehead auch »Leuchtfeuer« mit Orientierungsfunktion sein (AI, 159 / 305), aufgrund der Unzulänglichkeiten unseres Denkens und unserer Assoziationen kaum definitiv erfaßbar sind. Erreichbar scheint Whitehead eine »Erweiterung unseres Blicks«, eine »Vermehrung unserer Chancen« (ebd.). Endgültigkeit konnte, folgen wir Whitehead, noch keine Neufassung des Verbindens der sieben Grundvorstellungen beanspruchen. Endgültig scheint allein das Reservoir der Grundvorstellungen als Elemente eines vollständigen Faktums, prinzipiell ohne Abschluß dagegen die Ergänzungsbedürftigkeit und -würdigkeit durch den Beitrag neuer ›Fußnoten‹. Daß die Fußnoten-These auch Widerspruch hervorruft, liegt nicht zuletzt an ihrem reduktionistischen Charakter, der vieles, was die europäische Philosophietradition ausmacht, prima facie auszuklammern scheint. Whiteheads Formulierung sieben platonischer Grundvorstellungen ist nun ein zweiter Reduktionsschritt, der aber ebenso wie die FußnotenThese tatsächlich nicht die Vielfalt historischer und systematischer Facetten von Philosophie in Abrede stellt, sondern zeigt, welche konstanten Elemente für jede dieser Facetten letztlich maßgeblich sind. Wollte man in Whiteheads Identifizierung von sieben philosophischen Grundvorstellungen, die aller philosophischen Tradition zugrundeliegen, das Ergebnis einer Abstraktion von der tatsächlichen Vielfalt philosophischer Zugangsweisen zur Erfahrungswirklichkeit sehen, die selbst zu einer Kritik der Abstraktionen im Sinne Whiteheads herausfordern müßte, so würde man seinen Intentionen nicht gerecht. Whitehead erkennt an, daß

Initialen der Philosophie: Sieben platonische Grundbegriffe

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wir nicht ohne Abstraktionen denken können. Bleibende Aufgabe der Philosophie ist für ihn aber eine kritische Reflexion unserer Abstraktionsweisen. Damit verbunden ist die Aufgabe, Grundbegriffe zu ermitteln, hinter die nicht mehr abstrahierend zurückgegangen werden kann, will man nicht die begriffliche Erklärungsmöglichkeit des platonischen vollständigen Faktums preisgeben. In diesem Sinne markieren die von Whitehead identifizierten sieben Grundbegriffe Grenzen möglicher Abstraktion.

2 Voraussetzungen der Philosophie

2.1 Instinktiver Glaube an eine Ordnung der Natur Es ist ebenso naheliegend wie üblich, die Anfänge von Wissenschaft in engem Zusammenhang mit denen von Philosophie zu untersuchen, sind es doch die ersten als philosophisch zu bezeichnenden Intuitionen und Reflexionen, die die Entstehung und Entwicklung von Wissenschaft überhaupt erst stimuliert haben. Entsprechend rekonstruiert Whitehead in SMW die Vorgeschichte der sogenannten naturwissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts, indem er sie bis zu den Ursprüngen des frühgriechischen Denkens zurückverfolgt. Aus der Perspektive einer Wissenschaftsgeschichte, ergänzt durch die weitergefaßte Perspektive einer allgemeinen Zivilisationsgeschichte, die vor allem in AI entworfen wird, wendet sich Whitehead epistemologischen, weltanschaulichen sowie gesellschaftlichen Bedingungen zu, die zugleich für die Anfänge von Philosophie maßgeblich sind. Insofern rekonstruiert Whitehead in SMW und AI die Ursprünge und Frühphasen philosophischen Denkens weniger hinsichtlich einer eigentlichen Disziplinengeschichte der Philosophie selbst, als vielmehr mit Blick auf die Voraussetzungen und Strukturen einer philosophisch-wissenschaftlichen Mentalität. Als erste, grundlegende Voraussetzung für Wissenschaft nennt Whitehead eine »weitverbreitete instinktive Überzeugung von der Existenz einer Ordnung der Dinge und insbesondere einer Ordnung der Natur « (SMW, 4 / 14).138 Whitehead erklärt, das Wort »instinktiv« bewußt zu verwenden: »Solange die Aktivitäten der Menschen unter dem Bann festgefahrener Instinkte stehen, kommt es nicht darauf an, was sie mit Worten sagen. Worte können letztlich die Instinkte zerstören. Aber bis dahin zählen Worte nicht.« (ebd.) »Instinktiv« negiert also hier Begriffe wie 138

Whiteheads Überlegungen zu einem instinktiven Glauben an eine Ordnung der Natur unterscheiden sich thematisch von den Ausführungen des Kapitels »Die Ordnung der Natur« in PR, 83 ff. / 166 ff. Dort geht es nicht um Voraussetzungen von Philosophie und Wissenschaft, sondern um Ordnung als Kategorie innerhalb philosophischer bzw. wissenschaftlicher Konzeptionen, um metaphysische Grundbegriffe als Ordnungsbegriffe, um Ordnungstypen, die für die platonische und die Newtonsche Kosmologie sowie für seinen eigenen Neuansatz grundlegend sind, worauf in den jeweiligen Zusammenhängen noch eingegangen wird.

64

Voraussetzungen der Philosophie

»vernunftgeleitet«, »reflexiv« oder auch »sprachlich«. Die instinktive Überzeugung von der Existenz einer Ordnung der Natur geht einher mit der Annahme, daß alle Dinge oder Vorkommnisse »Exemplifikationen allgemeiner Prinzipien« sind (SMW, 6 / 16). Aus dieser Perspektive widersetzt sich auch prima facie sinnlos Erscheinendes der definitiven Annahme reiner Sinnlosigkeit und wird aufgewertet zum Element einer »majestätischen Ordnung der Natur« (AI, 7 / 85). Um die Voraussetzungen von Philosophie und Wissenschaft zu verstehen, ist es daher erforderlich, dem anfänglichen Aufkommen des instinktiven Glaubens an eine Ordnung der Dinge, welcher die Weigerung der Anerkennung einer letzten Irrationalität impliziert, nachzuspüren (SMW, 6 / 15 f.). Die Entwicklung der Zivilisation im allgemeinen verläuft ebenso wie die Entwicklung der Wissenschaften von Anfang an ungleichmäßig, d. h. Phasen der Blüte wechseln sich mit Phasen der Stagnation oder Regression ab. Dem korresponieren regional unterschiedliche Ausprägungen. Whitehead führt temporale wie regionale Divergenzen einer wissenschaftlichen Entwicklungsintensität primär auf das jeweilige Verhältnis der Menschen zu der erwähnten Annahme einer Ordnung der Dinge zurück. So konstatiert er bis zum Ausgang des Mittelalters, also derjenigen Epoche, die der wesentlichen Blütephase der modernen Wissenschaften vorausgeht und sie zugleich vorbereitete, ein gebrochenes Verhältnis zu der instinktiven Überzeugung, wonach alle Dinge Exemplifikationen allgemeiner Prinzipien sind: »Die Menschen bezweifelten entweder die Existenz solcher Prinzipien, vertrauten nicht auf die Möglichkeit, sie zu entdecken, hatten kein Interesse, darüber nachzudenken, oder vergaßen ihre praktische Bedeutung, wenn sie einmal gefunden waren.« (SMW, 6 f. / 16) Die Entwicklung von Wissenschaft war also von Beginn an mit den keinesfalls immer und überall erfüllten Bedingungen verbunden, daß eine Ordnung der Natur unterstellt und dieser Ordnung ein Interesse entgegengebracht wurde. Die Annahme einer Ordnung der Natur geht für Whitehead dem Anfang von Philosophie und Wissenschaft nicht nur zeitlich und epistemologisch vorher, sondern ist zugleich Voraussetzung für ihre Rationalität. Negiert man eine Ordnung der Natur, indem man etwa das Kausalitätsprinzip bestreitet, so muß man zugleich die Rationalität der Wissenschaften, insofern diese die Rekonstruktion von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen beanspruchen, leugnen. Die von den Wissenschaften unterstellten Zusammenhänge werden so zu willkürlichen Annahmen. Als Beispiel einer Leugnung derartiger Zusammenhänge und damit letztlich der Rationalität von Wissenschaft betrachtet Whitehead

Instinktiver Glaube an eine Ordnung der Natur

65

die Assoziationstheorie Humes (SMW, 4 f. / 14).139 Obgleich die Wissenschaftler selbst, so Whitehead, sich dem Einfluß skeptischer wissenschaftsphilosophischer Reflexionen niemals ganz entziehen konnten, fand die Entwicklung der Wissenschaften letztlich doch unbeeinträchtigt ihre Fortsetzung. Der instinktive Glaube an eine Ordnung der Natur blieb als bestimmender Faktor und als stabilisierendes Moment wirksam: »[…] der wissenschaftliche Glaube war der Situation gewachsen und hat den philosophischen Berg stillschweigend versetzt.« (SMW, 5 / 14) Den Ursprung der als Glaube an eine Ordnung der Natur beschriebenen rudimentär-wissenschaftlichen Mentalität sieht Whitehead im griechischen Drama. Jede Philosophie, so Whitehead, ist geprägt von einem »Vorstellungshintergrund«, der sie prägt, ohne dabei in ihr explizit zu werden (SMW, 9 / 18). In dieser Voraussetzungsfunktion eines latent wirksamen Vorstellungshintergrundes für die Anfänge der griechischen Philosophie und damit des wissenschaftlichen Geistes sieht Whitehead das Werk der athenischen Tragödiendichter Aischylos, Sophokles und Euripides. Diese haben dem aufkommenden wissenschaftlichen Geist die visionäre Idee »eines unerbittlichen und gleichgültigen Schicksals« vermittelt, »das einen tragischen Vorfall bis zu seinem unausweichlichen Ende drängt« (SMW, 12 / 21), die Vorstellung von rohen Notwendigkeiten, die auf menschliche Zwecke keine Rücksicht nehmen (AI, 7/ 85f.). Demnach besteht das Wesen des griechischen Dramas nicht im Unglück, sondern in der Unausweichlichkeit eines prädeterminierenden Schicksals, wobei diese Unausweichlichkeit sich am besten durch Unglücksfälle und die Vergeblichkeit, ihnen zu entrinnen, zeigen läßt (SMW, 13 / 22). Der Unausweichlichkeit entspricht aus Sicht der aufkommenden Wissenschaften die unverfügbare, durch äußere Instanzen regulierte Ordnung der Natur, die jedem Bestandteil seine eigene Funktion und sein spezifisches Ziel zuweist. Nach dieser Analogie fungiert das Schicksal als die Ordnung der Natur: »Die physikalischen Gesetze sind die Ratschlüsse des Schicksals.« (ebd.) Die Zurückführung auf das griechische Drama relativiert Whitehead allerdings selbst: Die Konzeption der dort grundlegenden moralischen Ordnung war keine genuine »Entdeckung der Dichter«. Vielmehr gaben die Dramen lediglich allgemeinen Überzeugungen der Zeit Ausdruck, die von der literarischen Tradition absorbiert und dichterisch ausgestaltet wurden (ebd.). Dabei fanden diese Überzeugungen Ausdruck in einer Form, die ihnen Vertiefung und Dauerhaftigkeit sicherte. 139

Vgl. 3.7.

66

Voraussetzungen der Philosophie

Das Verständnis einer Ordnung der Natur als Ergebnis regulierender Eingriffe äußerer Instanzen, das im Mittelalter durch den Glauben an einen rational handelnden Schöpfergott entscheidend begünstigt wurde (SMW, 15 f. / 23 f.), prägt die zweite von vier bei Whitehead unterschiedenen historisch wirksam gewordenen Hauptauffassungen über den Charakter der Naturgesetze (AI, 111 ff., 136 ff. / 236 ff., 271 ff.). Nach der ersten dieser Auffassungen sind die Gesetze der Natur immanent, die Ordnung der Natur bringt den realen Charakter der Dinge zum Ausdruck. Veränderungen der Dinge müssen Veränderungen der Gesetze nach sich ziehen. Aus dem Wesen der Dinge resultieren ihre Beziehungen zueinander, d. h. sie sind durch interne Beziehungen verbunden. Die Naturgesetze werden als Strukturidentitäten dieser wechselseitigen Beziehungen verstanden. Whitehead betont, »daß diese Auffassung die unabhängige, individuelle Existenz von Dingen negiert und eine wesentliche wechselseitige Abhängigkeit aller Dinge voraussetzt« (AI, 112 / 236 f.). Nach der zweiten, für Whitehead im griechischen Drama grundgelegten Auffassung sind die Gesetze der Natur auferlegt, sie werden deistisch erklärt. Anders als nach der Immanenzauffassung werden die Beziehungen innerhalb der Natur hier als extern aufgefaßt: Kein Ding bedarf von sich aus eines anderen zu seiner Existenz – die Beziehungen zu anderem resultieren nicht aus seiner Natur, sondern aus äußeren Einflüssen, durch die der Natur eine gesetzmäßige Ordnung implantiert wird. Die Naturgesetze sind Ausdruck der auferlegten Verhaltensweisen der Dinge – eine Vorstellung, die sich der anthropomorphen Übertragung von Handlungsmaximen verdankt. An den Naturgesetzen läßt sich demzufolge die Natur der Dinge selbst nicht erkennen, aus der Natur der Dinge lassen sich keine Naturgesetze erschließen. Nach der dritten Auffassung hinsichtlich des Charakters der Naturgesetze geben diese lediglich die beobachtete Abfolge von Vorgängen wieder, sind also reine Deskriptionen der beobachteten Fortdauer eines Musters im Naturgeschehen. Diese positivistische Auffassung vermeidet ihrem Anspruch und Selbstverständnis nach metaphysische Annahmen z. B. im Hinblick auf die Natur von Relationen oder auf das Wesen Gottes, verzichtet also auf spekulative Erklärungen oder Interpretationen beobachteter Abfolgen. Zwar muß diese Auffassung, will sie nicht nur zu singulären Beschreibungen, sondern zur Formulierung von Gesetzen gelangen, von einer »kumulativen Bekanntschaft, die Vergleiche zuläßt« bzw. von »beobachteten Gestaltidentitäten« ausgehen, jedoch ist nach dieser dritten Auffassung ein Naturgesetz letztlich »eine Aussage über Beobachtungsdinge, und sonst nichts« (AI, 115 / 242). Nach der vierten Auffassung

Instinktiver Glaube an eine Ordnung der Natur

67

schließlich sind Gesetze konventionelle Interpretationen, was im Gegensatz zur dritten Auffassung ein spekulatives Moment beinhaltet (AI, 136 / 271). Eine solche Interpretation gründet sich wesentlich auf die Entwicklung eines Ideensystems, das von Tatsachenbeobachtung unabhängig ist, um dann auf die Natur angewendet zu werden.140 Whitehead identifiziert die verschiedenen Auffassungen mit Figuren der Philosophiegeschichte: So kommt in Platons Timaios sowohl die Immanenzauffassung als auch die Auferlegtheitsauffassung zum Ausdruck (AI, 121, 122 / 250, 252), während die Atomlehre Epikurs eine Verbindung zwischen den Standpunkten der Auferlegtheit und der reinen Deskription begünstigt und sich bei Lukrez zudem gelegentlich eine Immanenzauffassung andeutet (AI, 122 / 252). Von Lukrez’ Atomismus leiten sich nach Whitehead sowohl die von Newton entworfene Kosmologie des 17. Jahrhunderts als auch die den Positivismus prägende Auffassung der Naturgesetze ab: Newton vertritt wie Descartes die Auferlegtheitsauffassung, die die Annahme eines transzendenten Gottes voraussetzt, der Positivismus geht aus von dem rein deskriptiven Charakter der Naturgesetze und charakterisiert diese in Ermangelung einer eigentlichen Erklärung als ›zufällig‹ (AI, 122 / 252 f.). Bei Platon erkennt Whitehead nicht nur ein Hin- und Herschwanken zwischen der Immanenz- und der Auferlegtheitsauffassung, sondern exemplifiziert zusätzlich auch die vierte Auffassung an den platonischen Dialogen (AI, 136 / 271 f.). Typisch für diese erscheint Whitehead eine Distanz zur detaillierten Beobachtung; ihr Wesen sei Spekulation. So finden sich also bei Platon mit der ersten, zweiten und vierten Auffassung über den Charakter der Naturgesetze drei unterschiedliche Sichtweisen angedeutet. Einzig die dritte, positivistische Auffassung, die Whitehead auch am deutlichsten kritisiert, wird nicht mit Platon in Verbindung gebracht. Whiteheads Unterscheidung von Auferlegtheits- und Immanenzauffassung der Naturgesetze ist indessen nicht unproblematisch, was auch bei Hampe anklingt, der als exemplarische Vertreter beider Auffassungen Newton und Spinoza gegenüberstellt.141 Während bei Newton die

140

Diese Unterscheidung von vier Auffassungen der Naturgesetze verdankt sich jedenfalls teilweise einer Zweideutigkeit des Begriffs »Naturgesetz« selbst. Einerseits wird er für Regelhaftigkeiten verwendet, die innerhalb des Naturgeschehens wirksam werden bzw. dort anzutreffen sind – hierunter fallen auch die erste und die zweite der von Whitehead angeführten Auffassungen –, andererseits für Aussagen über solche Regelhaftigkeiten, worunter die dritte und die vierte Auffassung fallen. 141 Hampe (1992), 22–27.

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Voraussetzungen der Philosophie

Geltung der Naturgesetze auf einer direkten Befehlsnotwendigkeit Gottes beruht, sieht Spinoza die Geltung der Naturgesetze im Wesen der Dinge selbst notwendig begründet. Leibniz hat, so Hampe im Anschluß an Poser, diese »Alternative […] zu vermeiden versucht« und eine »Zwischenposition« formuliert: »Zwar ist die gesetzmäßige Ordnung der phänomenalen Welt bei Leibniz ebenso wie bei Newton kontingent, weil ihre Wirklichkeit von Gottes Entscheidung abhängt, andererseits ist sie jedoch vom Erkenntnisstandpunkt Gottes hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden intelligiblen Struktur notwendig, weil sie sich aus einer vernunftgeleiteten Schöpfung so ergeben muß.«142 Demnach kann Leibniz für Hampe sowohl der Immanenz- als auch der Auferlegtheitsauffassung subsumiert werden. Ein solches ›sowohl … als auch‹ verweist freilich auf ein hermeneutisches Problem, das besonders in Whiteheads Platon-Interpretation hervortritt. Anders als Hampe bezogen auf Leibniz nimmt Whitehead bezogen auf Platon nicht die Konzeption einer Zwischenposition wahr, sondern das erwähnte Hin- und Herschwanken und demzufolge eine Inkohärenz. Problematisch ist hier die Tatsache, daß Platon (wie auch andere Denker) von Whitehead in ein Differenzierungsschema eingeordnet wird, das jener selbst so gar nicht vor Augen hatte. Whiteheads »handliche Beschreibungen«143 (Hampe) von Auferlegtheits- bzw. Immanenzauffassung sind bezogen auf Platon eben kaum handhabbar. Da für Platon die Urpsyche bzw. der Demiurg als Ordnungsinstanz der Natur immanent ist, ihr aber zugleich Regelhaftigkeit auferlegt, schwankt er nicht zwischen gegensätzlichen Auffassungen mit dem Ergebnis einer inkohärenten Position, sondern bewegt sich allenfalls zwischen verschiedenen Aspekten, die für ihn selbst integrale Bestandteile einer einheitlichen Position sein dürften. Wenn sich also, so Hampe, »am Beispiel von Leibniz eine gewisse Grobschlächtigkeit der Whiteheadschen Unterscheidung zeigt«,144 so läßt sich ähnliches gewiß auch im Hinblick darauf behaupten, wie Whitehead seine Unterscheidung auf Platon anwendet. In der Auferlegtheitsauffassung der Naturgesetze, die für Whitehead den ›dramatischen‹ Beginn der Wissenschaftsgeschichte repräsentiert, drückt sich indessen noch nicht eine aus Whiteheads Sicht vollständige wissenschaftliche Mentalität aus. Zu Entstehung und Entwicklung von Wissenschaft gehört mehr als nur die eine, grundlegende Komponente 142 143 144

Ebd., 25 f. Ebd., 26. Ebd., 27.

Instinktiver Glaube an eine Ordnung der Natur

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einer instinktiven Überzeugung von einer Ordnung der Natur. Von den Griechen bereits vollzogene erste Entwicklungsschritte im Hinblick auf Wissenschaft mündeten nach Whitehead in den Dispositionen dafür, die Frage nach Allgemeingültigkeit und ihren Voraussetzungen zu stellen, Theoreme aufzustellen und deduktives Denken zu praktizieren. Wenn Whitehead feststellt, Galilei verdanke Aristoteles mehr, als auf den ersten Blick in seinem Dialog ersichtlich sei, wobei nicht positive wissenschaftliche Ergebnisse, sondern methodische Voraussetzungen gemeint sind – nicht zuletzt das, was Whitehead einen »klaren Kopf« und einen »analytischen Geist« nennt (SMW, 15 / 23) –, so ist damit auf eine kurze Formel gebracht, wie weit die Voraussetzungen der modernen Wissenschaft im griechischen Denken vorbereitet sind. Andere wesentliche Voraussetzungen für bzw. Komponenten von Wissenschaft spricht Whitehead den Griechen explizit oder implizit ab. (i) Als »den bedeutendsten Beitrag des Mittelalters zur Herausbildung der wissenschaftlichen Bewegung« (ebd.) – und damit als spezifisch mittelalterlich – bezeichnet er den »unbeirrbaren Glauben, daß jedes einzelne Vorkommnis in einer völlig bestimmten Weise auf seine Vorgänger bezogen werden kann, als Exemplifikation allgemeiner Prinzipien« (SMW, 15 / 23 f.). Das Mittelalter setzt Whitehead gleich mit »einer einzigen langen Ausbildung des westeuropäischen Intellekts im Sinne der Ordnung« (SMW, 14 / 23). Fraglich erscheint aber, inwiefern Whitehead hier einen qualitativen Unterschied zu dem schon bei den Griechen wahrgenommenen instinktiven Glauben an eine Naturordnung zu erkennen glaubt, oder ob es sich um ein und dasselbe Element wissenschaftlicher Mentalität handeln soll, das, wie Whitehead zuweilen andeutet, bei den Griechen nur vereinzelt entwickelt worden sei, etwa bei herausragenden Figuren wie Aristoteles und Archimedes, und erst im Mittelalter größere Aufmerksamkeit, Anerkennung und Verbreitung gefunden hat. (ii) Als weiteres Element wissenschaftlicher Mentalität, das Whitehead als spezifisch mittelalterlich ansieht, ist das »aufkommende Interesse an Objekten und Vorkommnissen in der Natur um ihrer selbst willen«, das sich zunächst in der Kunst gezeigt habe, wo eine »unmittelbare Freude am Verstehen der Dinge, die uns umgeben«, sichtbar werde (SMW, 19 / 27). Hier ist unklar, inwieweit sich dieses Interesse von demjenigen unterscheiden soll, das die ursprünglichen philosophisch-wissenschaftlichen Fragestellungen der Griechen, die »viel zu theoretisch« gewesen seien (ebd.), stimuliert hat. Gerade für deren rudimentäre wissenschaftliche Neugier bzw. für das erste Aufkommen einer philosophischen Mentalität ist die Beschreibung ebenso üblich wie unstrittig, daß ihr ein Interesse an

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Voraussetzungen der Philosophie

den Dingen um ihrer selbst willen, d. h. unabhängig von weiteren Zwecksetzungen oder Funktionszusammenhängen, zugrundegelegen habe. Insofern ist Whiteheads Darstellung, hier handele es sich um eine spezifisch mittelalterliche Komponente, in dieser Form nicht einsichtig. (iii) Was nach Whitehead den Griechen außerdem zu einer vollständigen wissenschaftlichen Mentalität noch fehlte, sind die Geduld zu minutiöser Beobachtung und die Fähigkeit zu induktiver Verallgemeinerung, die aus einem »Schwebezustand der Phantasie« resultiere (SMW, 9 / 18). Unter diesem Schwebezustand kann wohl die Fähigkeit und Bereitschaft verstanden werden, unter Voraussetzung einer hypothetischen Annahme gezielt auf bestimmte Bestätigungen zu warten. Hierin ist ein Grundelement empirischer Wissenschaftspraxis zu sehen, das im griechischen Denken noch nicht entwickelt war. Als Ausnahmen erkennt Whitehead wiederum Aristoteles, Archimedes sowie angesichts ihrer Beobachtungsmethode die Astronomen an, resümiert aber, daß den Griechen generell ein vollständig entwickelter wissenschaftlicher Geist, den er also hier deutlich an die empirische Methodik bindet, fehlte. Daher ist im Sinne Whiteheads festzuhalten, daß bei den Griechen die Voraussetzungen für, nicht aber die Anfänge von Wissenschaft vorlagen. Damit sind im wesentlichen die Komponenten erfaßt, die Whitehead – bei nicht immer überzeugender Kontrastierung von griechischer Antike und Mittelalter – aus kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive als Bedingungen für das Aufkommen von Wissenschaft in Europa benennt. Dieses Aufkommen war vorbereitet und begleitet durch philosophische Frühstadien, die ihrerseits auf der Voraussetzung eines instinktiven Glaubens im Sinne eines diffusen, vorreflexiven Vermögens beruhen. So ist bei allen erwähnten Auffassungen über das Wesen der Naturgesetze vorausgesetzt, daß zunächst die instinktive Annahme einer Ordnung der Natur gegeben sein muß, bevor diese Annahme theoretisch fundiert werden kann, was besagt, daß der Begriff der Ordnung selbst nicht ein theoretisch gewonnener ist. Während die Annahme einer Ordnung der Natur also letztlich von einer instinktiven Überzeugung abhängt, wird sie andererseits erst durch die Funktion der spekulativen Vernunft philosophisch und wissenschaftlich fruchtbar gemacht.

Platonische und odysseische Vernunft

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2.2 Platonische und odysseische Vernunft In Whiteheads Überlegungen hinsichtlich der Voraussetzungen für Philosophie verbinden sich historische mit systematischen Gesichtspunkten. Eine Rekonstruktion und Kritik dieser Überlegungen hat zunächst von Whiteheads für beide Aspekte grundlegendem Begriff der Vernunft auszugehen. Whitehead thematisiert die Vernunft vor allem in FR, während in den geistesgeschichtlichen Untersuchungen von AI Grundlinien seiner Vernunftkonzeption eher beiläufig zur Anwendung kommen. Für ein angemessenes Verständnis von Whiteheads Fragestellung in FR ist zunächst wichtig, sich die Mehrdeutigkeit des Titels »Die Funktion der Vernunft« (The Function of Reason) selbst klarzumachen. Ist in der hier gegebenen Weise von einer Funktion die Rede, so kann damit einerseits die Funktionsweise des jeweiligen Gegenstandes selbst gemeint sein, andererseits aber auch die Funktion, die ihm als Faktor innerhalb eines umfassenden Zusammenhanges zukommt. Für FR scheinen beide möglichen Bedeutungen relevant zu sein: Whitehead differenziert und thematisiert die Funktionsweise des mit »Vernunft« Gemeinten und analysiert zugleich die Funktion, die aus seiner Sicht der Vernunft innerhalb allgemeiner Zusammenhänge des Naturgeschehens zukommt. Whiteheads Ausführungen lassen es dabei aber zweifelhaft erscheinen, ob aus seiner Sicht überhaupt angemessen von der Vernunft oder sogar einer »Einheit der Vernunft«145 gesprochen werden kann. Die Formulierung »of Reason« wäre richtiger mit »von Vernunft« wiederzugeben, was die Konnotation einer einheitlichen Vernunft vermeiden und so Whiteheads grundlegender Unterteilung der Vernunft in eine theoretische bzw. spekulative und eine praktische eher entsprechen würde. Diese im folgenden zu betrachtende Unterteilung legt es außerdem nahe, daß Whitehead anstatt von der Funktion mehrfach von Funktionen der Vernunft redet, jeweils wiederum im Sinne von Funktionen innerhalb allgemeiner Zusammenhänge und zugleich von Funktionsweisen (FR, 39 f. / 34 f.). Nach dieser ersten Differenzierung ist also das in FR behandelte Thema als Funktionen von Vernunft zu bezeichnen. Ein Verständnis dieser Funktionen soll aus einer Kenntnis der ›Natur‹ bzw. des ›Wesens‹ von Vernunft gewonnen werden (FR, 3 / 5), wobei aber Funktions- und Wesensbestimmung in Whiteheads Vernunft-Analyse ineinander übergehen. Gemäß Whiteheads provisorischer Ausgangsdefinition besteht die Funktion der Vernunft darin, »daß sie die Kunst zu leben fördert« (FR, 4 / 145

Hampe (1998), 46.

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Voraussetzungen der Philosophie

6). Diese erste Definition, in der bereits Whiteheads Auffassung von Vernunft als Prinzip eines finalursächlich verstandenen Evolutionsgeschehens zum Ausdruck kommt, soll dann »im weiteren Verlauf der Diskussion veranschaulicht, transformiert und erweitert werden« (FR, 4 / 5).146 Hier wird zunächst klar, daß Whitehead entsprechend seiner methodologischen Grundvorstellungen keine Endgültigkeitsansprüche an den Anfang der Untersuchung stellen will, sondern, wie auch im Systementwurf von PR implizit angedeutet, eine Entfaltung seiner Position gleichsam nach dem Vorbild eines Organismus, d. h. nach immanenten Entwicklungsprinzipien, anstrebt. Weitere Besonderheiten der provisorischen Ausgangsdefinition und ihrer Erweiterungsversionen liegen darin, daß es sich nicht um eigentliche Definitionen, sondern eher um Explikationen handelt, und daß im Verlauf der Abhandlung die Funktion der Vernunft als Definiendum bzw. Explikandum durch die Vernunft als solche, gelegentlich auch durch die Vernunft hinsichtlich einer ihrer beiden Komponenten bzw. Aspekte, ersetzt wird.147 Problematischer ist jedoch die Tatsache, daß manchmal unbestimmt bleibt, ob sich eine jeweilige Definition bzw. Explikation auf die Vernunft insgesamt bezieht, oder ob sie entweder nur die theoretische bzw. spekulative oder nur die praktische Vernunft betreffen soll.148 Allgemein kann Whiteheads Vernunft-Analyse als repräsentativ für seinen philosophiegeschichtlichen Zugang gelten. In programmatischen Eingangsbemerkungen zu FR rechnet er die Vernunft zu den ältesten und daher »abgedroschenen« (hackneyed) Themen der Philosophie (FR, 3 / 5), womit er den vernunftzentristischen Charakter der westlichen Kultur überhaupt und die darauf seit jeher bezogenen reflexiven Bemühungen der Geistesgeschichte anspricht. Anhand schlagwortartig genannter Begriffskombinationen und Termini wie »Glaube / Vernunft«, »Vernunft / Autorität«, »Vernunft / Intuition«, »Kritikvermögen«, »Vorstel146

Entsprechende Modifikationen erfolgen in FR, 8 / 9, 20 / 19, 20 / 20, 26 / 25, 27 / 26. 147 Ob Whitehead mit der Methode der schrittweise modifizierten Definition bewußt auf das Mittel der Gebrauchsdefinition (definition in use) zurückgreift, wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Zu einer näheren Analyse der Gebrauchsdefinition und ihrer Bedeutung für die Philosophie vgl. Whitehead / Russell (21927), 66 ff., und Ayer (1970), 77 ff. 148 Diese Unklarheit setzt sich in der Forschungsliteratur fort. So läßt Lachmann (1994), 93 f., 130–135, der Whiteheads Prozeßphilosophie als Ethik-Ansatz rezipiert, in seiner Synopsis von FR die Besonderheiten und Schwierigkeiten von Whiteheads Vernunft-Dichotomie weitgehend unberücksichtigt.

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lungskraft« usw. verweist Whitehead auf ›klassische‹ Kontroversen im Hinblick auf die ›wahre‹ Funktion von Vernunft (ebd.). Alle diese genannten Begriffe sollen Aufschluß über Reichweite und Grenzen des mit »Vernunft« Gemeinten geben. Die Fülle bisheriger Kontroversen besagt für Whitehead aber nicht, daß eine weitere Behandlung des Themas obsolet wäre. Vielmehr erscheint es gerade als genuine Aufgabe der Philosophie, »solche fundamentalen Themen zu diskutieren und sie im Lichte unserer modernen Denkweisen zu präsentieren« (ebd.). Demnach ist also von einem konstanten Reservoir grundlegender philosophischer Probleme auszugehen, die relativ zum jeweiligen Stand der Erkenntnisse einer Epoche neuartige Zugangsweisen erfordern. Whiteheads VernunftAnalyse macht die Methode einer Orientierung an traditionellen Fragestellungen bei gleichzeitiger Neufassung des Themas sichtbar, indem er von der geläufigen Unterscheidung einer theoretischen und einer praktischen Vernunft ausgeht, diese Dichotomie aber in einer weitgehend neuartigen Weise bestimmt. Whitehead differenziert die Vernunft wie folgt (FR, 9 f. / 10 f.): Einerseits ist Vernunft konstitutives Element für Organismen im allgemeinen, d. h. ein Faktor innerhalb der Gesamtheit von Lebensprozessen, die Whitehead wesentlich durch in diesem Sinne vernunftgeleitete Zwecksetzungen bestimmt sieht. Analog zur Sphäre des organischen Lebens beschreibt er den gesamten Kosmos als durchgängig geprägt von »rudimentären und diffusen Vernunftaktivitäten« (FR, 26 / 25).149 Diese Vernunftaktivitäten machen die progressive Entwicklungstendenz des Universums als »Gegenagens« zu der ebenfalls universell wirksamen Verfallstendenz aus (FR, i, 29, 31 / 3, 27, 29). Andererseits ist Vernunft eine von organischen bzw. physiologischen Vorgängen unabhängige »Betätigung der theoretischen Einsicht« und steht als solche außerhalb der Sphäre des allgemeinen Naturgeschehens. Diese beiden Funktionen differenziert Whitehead mittels der erwähnten Unterscheidung einer praktischen und einer theoretischen bzw. spekulativen Vernunft. Eine klare begriffliche Trennung dieser beiden Aspekte von Vernunft erscheint ihm nicht nur erforderlich, um der Verwirrung zu begegnen, die aus einem Hin- und Herschwanken zwischen ihnen immer wieder resultiere, ohne daß Whitehead aber Beispiele hierfür nennen würde, sondern 149

Hierin klingt die ethische Bedeutung des griechischen Wortes »κóσµος« (gute Ordnung) an, die auf Platon und das vorsokratische Denken zurückweist. Platon schreibt im Phaidon, 97 c, Anaxagoras die Auffassung zu, daß »die Vernunft alles ordnet, und jegliches so stellt, wie es sich am besten befindet« (Übers. Schleiermacher).

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muß auch erstes Anliegen des Reflexionsinteresses der theoretischen bzw. spekulativen Vernunft sein, sofern sie »zu einer befriedigenden Einsicht in ihre eigene Verfassung kommen soll« (FR, 9 / 10). Die klassischen Vernunft-Kontroversen sieht Whitehead im wesentlichen auf die Vernunft als theoretische konzentriert, während die neuere Kontroverse vor allem die Vernunft als praktische im Sinne eines allgemeinen Faktors im Naturgeschehen zum Gegenstand habe (ebd.).150 Aus diesen ersten Bestimmungen der praktischen und der theoretischen Vernunft ergibt sich bereits eine ergänzende Differenzierung, und zwar im Hinblick auf ihre Geschichte (FR, 40 f. / 35 f.). Die Geschichte der praktischen Vernunft als konstitutives Element für Organismen sieht Whitehead bis zu tierischen Vorformen zurückreichen, aus denen sich der Mensch entwickelt habe. Generell faßt Whitehead die praktische Vernunft als maßgebliche Antriebsquelle des Evolutionsgeschehens auf. Dagegen entspricht die wesentlich kürzere Geschichte der theoretischen bzw. spekulativen Vernunft der bisherigen Geschichte der Zivilisation, die nach Whitehead einen Zeitraum von etwa sechstausend Jahren umfaßt. Von einem effektiven Gebrauch der spekulativen Vernunft jedoch kann aus seiner Sicht in einem weiten, gewisse Vorformen in Asien einbeziehenden Sinn erst innerhalb der letzten dreitausend Jahre die Rede sein, im engeren Sinn einer methodisch verfahrenden spekulativen Vernunft 151 erst seit etwa zweitausend Jahren (FR, 41 / 36). Als Leistungen der spekulativen Vernunft während dieser Zeit nennt Whitehead »die großen Religionen, die großen philosophischen Systeme und die großen Wissenschaften«, infolge derer das »Innenleben« – zweifellos kann ergänzt werden: und auch das äußere Leben – des Menschen eine grundlegende Neugestaltung erfahren habe (ebd.). Vorrangiges Objekt einer Analyse beider Vernunftaktivitäten ist der Mensch als einzige Instanz ihres gleichzeitigen Vorkommens: Die prakti150

Mißverständlich ist hier Bubsers Übersetzung der Formulierung »in the newer controversy« mit »bei der zweiten zur Debatte stehenden Auffassung«. Eine wörtliche Übersetzung, etwa »in der neueren Kontroverse«, würde die direkte Korrespondenz zu »the older controversies«/ »bei den klassischen Kontroversen« wiedergeben und der im Originaltext klaren Zuordnung von »Auffassungen« und »Kontroversen« gerecht werden. Mit der nicht näher identifizierten »neueren Kontroverse« meint Whitehead offenbar Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Annahme teleologischer Strukturen im Naturgeschehen, die von Positivisten und Naturwissenschaftlern zurückgewiesen, von Whitehead aber als unverzichtbar angesehen wird. 151 Vgl. Kap. 2.3.3.

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sche Vernunft ist bei ihm in Form der besonders entwickelten Ausprägung einer allgemeinen Eigenschaft der organischen Natur faßbar, während die theoretische Vernunft eine spezifische Eigenschaft des Menschen darstellt. Als zwecksetzende und praxissichernde Kompetenz ist die Vernunft auf unmittelbar anstehendes Handeln ausgerichtet und wird zugleich als organisierendes und problemlösendes Prinzip innerhalb der Funktionszusammenhänge der Naturwissenschaften wirksam. Als den Erfordernissen und Zwecksetzungen der Praxissicherung enthobene Kompetenz ist die Vernunft auf dasjenige ausgerichtet, was Whitehead als über die Lebenspraxis und auch über die einzelwissenschaftlichen Problemzusammenhänge hinausweisende »Vollständigkeit der Einsicht« bezeichnet (FR, 11 / 11). Als Verkörperung dieses Gegensatzes von theoretischer und praktischer Vernunft nennt Whitehead einerseits Platon, dem er eine gottverwandte Vernunft zuschreibt, und andererseits Odysseus, dessen Vernunft der »Schlauheit der Füchse« entspreche (ebd.). Die Gestalt des Odysseus soll dabei nicht nur methodische Kompetenz, Pragmatik und Praxissicherung symbolisieren, sondern steht auch und vor allem für die Defizite einer Vernunftbetätigung, die zur Selbstzufriedenheit tendiert, wenn sie sich in Einzelfällen bzw. begrenzten Anwendungsbereichen bewährt hat und dort effektiv geworden ist, der aber in dieser Beschränktheit umfassendere Einsichten nicht zugänglich sind, was sie letztlich scheitern läßt: »Odysseus hat nie etwas mit Platon anfangen können – und die Gebeine seiner Gefährten sind über so manche Insel und so manches Riff verstreut.« (FR, 12 / 12) Mittels der praktischen, odysseischen Vernunft entwickelt der Mensch nicht nur Methoden im Hinblick auf bestimmte Zwecke, sondern macht sich diese Zwecke auch bewußt. Dabei kann die praktische Vernunft als Kritik an bestimmten zweckgerichteten Strebungen in Erscheinung treten, »gleichsam als ein Psychisch-Geistiges zweiter Ordnung, als das zweckgerichtete Streben nach bestimmten zweckgerichteten Strebungen.« (FR, 33 / 30). Insofern ist sowohl »Aufklärung unserer Zwecksetzungen« (FR, 37 / 33), d. h. ihre Reflexion, als auch ihre Selbstregulation und -disziplinierung (FR, 34 / 31 f.) Teil der Funktion der praktischen Vernunft. Wesentlich für die theoretische, platonische Vernunft ist dagegen eine von Zweckursachen unabhängige »interesselose Neugier« (FR, 38 / 33), wobei Whitehead diese Neugier in traditionell üblicher Weise als ursprüngliche Voraussetzung für Philosophie und Wissenschaft überhaupt bestimmt, und zwar als »das Bedürfnis der Vernunft […], die unserer Erfahrung zugänglichen Tatsachen zu verstehen« (AI, 141 / 278). Die

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Bezeichnung der theoretischen Vernunft als »interesselos« bedeutet, daß sich diese nicht als Mittel an jenseits des Verstehens selbst liegenden Zwecken ausrichtet. Vielmehr geht es bei der theoretischen Vernunft um ein von solchen Zwecksetzungen unabhängiges Verstehen, wobei mit ihrer Hilfe versucht wird, einzelne Tatsachen als, wie Whitehead platonisierend formuliert, »Exemplifikationen der allgemeinen Prinzipien, die ihr Wesen und ihren Status unter den übrigen Einzeltatsachen bestimmen« (FR, 38 / 33), und die Welt oder Ausschnitte von ihr als »Exemplifikation eines bestimmten theoretischen Systems« zu verstehen (FR, 9 / 10). In diesem selbstbezogenen Verstehen unterscheidet sich also die theoretische Vernunft von dem praxissichernden Interesse der praktischen Vernunft. Die Identifizierung der theoretischen bzw. spekulativen Vernunft mit Platon, der hier sogar als ihre Verkörperung erscheint, ist plausibel und konsequent, da Whitehead nicht nur den historischen Beginn der Philosophie als Ort der Spekulation im eigentlichen Sinne bei Platon ansetzt,152 sondern auch die platonischen Dialoge als typische Exemplifizierung der Spekulation hervorhebt (AI, 136 / 271). Der Gegensätzlichkeit von theoretischer und praktischer Vernunft korrespondiert Whiteheads Gegenüberstellung von Spekulation und Gelehrsamkeit, anhand derer sich die Ausprägung und Wirksamkeit beider Weisen der Vernunftbetätigung historisch dokumentieren läßt (AI, 104 ff. / 225 ff.). So charakterisiert Whitehead die griechische Philosophie von ihren Anfängen bis zur Zeit des Aristoteles als eine Epoche, auf die die Konzeption allgemeiner Ideen ursprünglich zurückgeht. Der hellenische Beitrag zur Geistes- und Zivilisationsgeschichte liegt in den »klarumrissenen Generalisierungen, die zur Philosophie und zur Wissenschaft führten« (AI, 104 / 224). Die sich anschließende Epoche des Hellenismus mit ihrem Zentrum in Alexandria, die als Wissenskompilation aus unterschiedlichsten kulturellen Traditionen charakterisierbar ist, erscheint Whitehead als die Phase einer völlig veränderten intellektuellen Mentalität, durch die die Spekulation in den Hintergrund gedrängt wurde. Der Übergang von der hellenischen Spekulation zur hellenistischen bzw. alexandrinischen Gelehrsamkeit ist gleichbedeutend mit einer zunehmenden Dominanz der praktischen Vernunft, die für Gründlichkeit, Bestandssicherung, Spezialistentum, Methodenbewußtsein und -orientierung steht, wobei kreative Elemente in eine untergeordnete Rolle gedrängt werden.

152

Vgl. 1.3.

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Whitehead nennt neben Epikur vor allem Aristoteles als Repräsentanten der Übergangsphase von hellenischer Spekulation zu hellenistischer Gelehrsamkeit, da dieser einerseits maßgeblich für die Entwicklung allgemeiner Ideen stehe, andererseits aber Grundzüge eines präzise aufgebauten Systems sowie in seinem Ausgehen von detaillierten Beobachtungen Ansätze zu empirischer Wissenschaft erkennen lasse. Aristoteles verkörpert also einen ersten Schritt zur Gelehrsamkeit, während Platon als eigentlicher Protagonist der Spekulation gilt. Entsprechend nimmt Whitehead die Neubelebung der Spekulation während der Renaissance wahr: »Es war, als ob Platon aus seinem Grab auferstanden wäre.« (AI, 118 / 246) Whitehead bleibt damit nicht bei dem Bild einer einfachen Dichotomie stehen, wonach die Philosophen vor Aristoteles, insbesondere Platon, spekulatives Denken repräsentieren, die nachfolgenden Traditionen dagegen als eine hiervon unabhängige Entwicklungslinie gelehrten Denkens anzusehen wären, sondern er vergegenwärtigt eine komplexere Struktur ineinandergreifender Einflüsse. Wesentlich ist dabei vor allem, daß das Denken des Aristoteles selbst sich an die platonische Spekulation anschließt, durch ihn aber systematisiert und durch die Gewohnheit der Beobachtung von Details ergänzt und damit modifiziert wurde. Zudem war, wie Whitehead in Erinnerung bringt, die alexandrinische Kultur im Bereich der Wissenschaften wie auch der Kultur von vornherein platonisch geprägt. Ein wesentlicher Schritt zur Gelehrsamkeit und schließlich auch zum Universitätswesen ist darin zu sehen, daß die platonisch-aristotelische Denktradition mit der alexandrinischen Tradition praktischer Fertigkeiten eine Synthese einging (AI, 107 / 229). Die Möglichkeit einer solchen Synthese begründet Whitehead über Momente des Zusammenwirkens von theoretischer bzw. spekulativer und praktischer Vernunft: Zunächst stehen sich Spekulation und Gelehrsamkeit im Verlauf der Geschichte meist antagonistisch gegenüber. Der Wechsel ihrer jeweiligen Dominanz bildet einen Aspekt jenes »Abenteuers der Ideen« (AI, 109 / 231), bei dem sich beide Komponenten als gleichermaßen bedeutsam für den intellektuellen Fortschritt erweisen. Die Entwicklung der Zivilisation, soweit sie auf der Entwicklung von Wissenschaft beruht bzw. davon abhängig ist, wird so erklärbar als Ergebnis eines Zusammenwirkens von theoretischer und praktischer Vernunft, das in Form einer gegenseitigen Zubringerfunktion erfolgt: Spekulation ohne detaillierte Beobachtung, d. h. Elemente von Gelehrsamkeit, bleibt unfruchtbar (AI, 107 / 229), die gelehrte Arbeit erhält neues Material durch Spekulation (AI, 108 f. / 231). In diesem Zusammenwir-

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ken wächst der spekulativen Vernunft die Rolle zu, ein Reservoir theoretischer Einsichten anzusammeln, die in bestimmten Situationen »den Übergang zu neuen Methoden ermöglichen« (FR, 39 / 34). Die Entdeckungen der praktischen Vernunft wiederum stellen das »Rohmaterial« für die spekulative Vernunft dar. Whitehead sieht in der gegenseitigen Zubringerfunktion ein Wechselspiel von »zwei wesentlich verschiedenen Formen der Vernunftbetätigung« (ebd.). Diese Verschiedenheit wird in seiner Differenzierung zweier Funktionsweisen der spekulativen Vernunft (FR, 85 / 69) zusätzlich deutlich: Im Rahmen der ersten Funktionsweise bewegt sich die spekulative Vernunft zunächst innerhalb der Einschränkungen einer Einzelwissenschaft bzw. einer erfolgreichen Methode, wobei sie insoweit noch eng mit der in dem entsprechenden Bereich wirksamen praktischen Vernunft verbunden ist, und strebt dann ausgehend hiervon zu Erweiterungen.153 Im Rahmen der zweiten Funktionsweise besteht das Ziel der spekulativen Vernunft in der Konzeption eines umfassenden kosmologischen Schemas,154 wobei sie von vornherein von einzelwissenschaftlichen Einschränkungen unabhängig ist bzw. programmatisch über diese hinausgeht. Whitehead versteht unter praktischer Vernunft eine Zweckgerichtetheit im Sinne einer allgemeinen teleologischen Grundstruktur, die das organische Naturgeschehen umfassend prägt. Insofern läßt sich mit Wiehl sinnvoll von einem »revidierten Panpsychismus« Whiteheads sprechen.155 Die praktische Vernunft ist hier maßgeblicher Faktor der Evolution, die Whitehead nicht in der Weise interpretiert, daß Organismen – kausalursächlich – an ihre Umwelt angepaßt werden, sondern daß sie – finalursächlich – ihre Umgebung auf ihre eigenen Bedürfnisse und Zwecke hin ausrichten, ein Vorgang, den er als »inverse Relation« im Verhältnis zu üblichen evolutionstheoretischen Grundannahmen bezeichnet (FR, 7 / 8). Mit der Annahme teleologischer Strukturen gleichsam unterhalb der Sphäre motivgeleiteter menschlicher Handlungen steht Whitehead in einer grundlegenden Gegenposition zur modernen, naturwissenschaftlich geprägten Weltauffassung, für die der ontologische bzw. metaphysische Sinn, der dem Telos einerseits bei Aristoteles und andererseits in der 153

Hier liegt die Kritik nahe, daß Whitehead eine Differenzierung der spekulativen Vernunft ebenso wie die Erklärung ihres Zusammenwirkens mit der praktischen Vernunft mit einer Verunklärung der Abgrenzung gegenüber jener erkauft. 154 Vgl. 2.3 und 2.3.2. 155 Wiehl (1996), 346 f.

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Tradition der theistischen Metaphysik und deren Annahme eines planvoll handelnden Schöpfergottes zugewachsen war, seine Plausibilität und Verbindlichkeit verlor. Wird indessen eine allgemeine teleologische Struktur des Naturgeschehens bestritten, so entzieht sich zugleich die Sphäre motivgeleiteten menschlichen Handelns denjenigen Erklärungsprinzipien, die als relevant für das allgemeine Naturgeschehen angesehen werden. So erweisen sich die »Ent-teleologisierung der Natur« und die »Denaturalisierung der zwecksetzenden Vernunft«156 als komplementäre Aspekte ein- und desselben Vorgangs, den Whitehead in seiner Vernunftkonzeption überwinden will, und zugleich auch als Facetten jener verhängnisvollen ›bifurcation‹ der Wirklichkeit, gegen die er seine eigene philosophische Kosmologie aufbietet.157 Aus Whiteheads Sicht ist das Naturgeschehen ohne Teleologie letztlich nicht zu begreifen, und die zwecksetzende menschliche Vernunft ist eine unter anderen Exemplifizierungen dieses Naturgeschehens. Ausgehend von der Annahme teleologischer Strukturen im Naturgeschehen geht Whitehead über zu einer Kritik an den positivistisch ausgerichteten Naturwissenschaften, die die Annahme von Zweckursachen ablehnen – eine Position, die er auf Bacon zurückführt (FR, 10, 26 / 11, 25). Dabei kann sich dieser Standpunkt nur vermeintlich auf Erfahrung berufen: Mögen auch Zweckursachen der empirischen Untersuchungsperspektive von Naturwissenschaftlern unzugänglich sein, so erscheint es gleichwohl verfehlt, deshalb ohne weiteres ihre Existenz in Abrede zu stellen. Für Whitehead liegt ein verbreiteter und historisch immer wiederkehrender »antiempirischer Dogmatismus« bzw. Obskurantismus darin, Erfahrungstatsachen zu leugnen, nur weil sie sich der jeweiligen Untersuchungsmethode entziehen (FR, 15, 43 ff. / 15, 38 ff.). Wenn Whitehead feststellt, die Aufwärtsentwicklung der Vernunft aus ihren Anfängen habe sich unter einem rein pragmatischen Aspekt vollzogen (FR, 17 / 17), so kann damit allein die praktische, odysseische Vernunft gemeint sein. Die Entwicklung wird hierbei getragen durch die Herausbildung von »Methoden«, die im Sinne einer Veranschaulichung der Ausgangsdefinition von Vernunft einen Übergang vom Leben zum guten und weiter zum besseren Leben gewährleisten sollen. Die Zwecksetzungen der praktischen Vernunft gehen also keinesfalls im Überleben, in einfacher Fortdauer oder Bestandssicherung auf, sondern sind wesent156

Hampe (1998), 85. Zur ›bifurcation‹ der Wirklichkeit vgl. 3.3.2; zu Whiteheads philosophischer Kosmologie und ihrem Anspruch vgl. 2.3.1. 157

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Voraussetzungen der Philosophie

lich auf eine Höherentwicklung bzw. auf einen Zugewinn an Intensität und Komplexität hin orientiert, der nur methodisch zu realisieren ist. Whiteheads Methodenbegriff beinhaltet dabei zwei Bedeutungen, die erste im üblichen Sinne einer wissenschaftlichen Methode, die zweite im Sinn einer »Lebensmethode« (methodology of life) (FR, 18 f. / 18 f.).158 So stellt Whitehead zunächst eine Zufriedenheit der Vernunft infolge eines Funktionierens einer jeweiligen Methode und demzufolge ein Bemühen fest, »die forschende Neugier innerhalb des Anwendbarkeitsbereichs der Methode festzuhalten« (FR, 17 / 17). Dieses Bemühen geht einher mit einer Einschränkung der Offenheit gegenüber neuen, der jeweiligen Methode nicht zugänglichen Erfahrungsbereichen. Anzeichen für eine Erschöpfung oder Krise der Methode schließlich liegen vor, wenn die Fortschritte, die mit ihrer Hilfe erreichbar sind, nicht mehr im Bereich »wirklich wichtiger Fragen« liegen, sondern es zu »Streitereien um Nebensachen« kommt (FR, 18 / 18). Diese Überlegungen Whiteheads beziehen sich ersichtlich auf die Orientierung an Methoden im Bereich wissenschaftlicher Forschung, die Whitehead wie erwähnt durch die praktische Vernunft getragen sieht, und erinnern an Kuhns Ausführungen zur Genese und Abfolge wissenschaftlicher Theorien und Paradigmen im Zuge sogenannter Paradigmenwechsel.159 Unter Methoden und ihrer Entwicklungsgeschichte im zweiten Sinn einer Lebensmethode ist die ›Strategie‹ von Organismen innerhalb eines Evolutionsprozesses zu verstehen. Hier bedeutet die Entwicklung einer Methode die Entdeckung eines bestimmten »Manövers«, das »den einsetzenden Impuls des Lebensprozesses voranbringt« (ebd.). Die Reifezeit der Methode sieht Whitehead in einer »umfassenden Koordination des Denkens und Handelns« – eine Bestimmung, die sich trotz Whiteheads Perspektive eines durch die praktische Vernunft umfassend bestimmten Naturgeschehens wiederum auf die menschliche Sphäre beschränken muß. Später schließt sich das »Altersstadium der Erschöpfung« an, in dem an die Stelle von Vielfalt und Frische des Antriebs zur Fortentwicklung nunmehr Gewohnheit und »Erstarrung« treten (ebd.). In diesem Stadium der Lebensmethode wird die praktische Vernunft als Impuls zum guten und zum besseren Leben im Sinne der Vernunft-Definition

158

Whitehead wechselt ohne ersichtliche Systematik zwischen den Begriffen »method« und »methodology« (FR, 18, 20 / dt. 18, 20). Bubser übersetzt beide Begriffe mit »Methode«. 159 Kuhn (21976).

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nicht mehr wirksam.160 Eine Spezies, die von einer bestimmten Lebensmethode Gebrauch gemacht hat, kann entweder innerhalb dieser Methode »ins bloße Weiterleben verfallen« oder mittels einer neuen Methode ein besseres Leben anstreben (FR, 19 / 19). Von der Wahl der neuen Methode hängt es dann ab, ob die Evolution einen Schritt aufwärts tut, oder ob die Spezies untergehen wird. Beide von Whitehead verwendeten Methodenbegriffe liegen offensichtlich weit auseinander. Die Grundbedeutung von »Methode« im Sinne eines planmäßigen Vorgehens, etwa zur Erlangung oder Begründung von Wissen oder eines planvollen Verfahrens zur Lösung praktischer Aufgaben, kann für eine Lebensmethode, angewendet auf das Naturgeschehen im weiten Sinn auch nicht bewußter Aktivitäten, kaum in Anspruch genommen werden. Gleichwohl gelingt es Whitehead, sichtbar zu machen, daß sich die Abfolge von Methoden im Bereich wissenschaftlicher Theoriebildung in denselben evolutionistischen Kategorien wie das allgemeine Naturgeschehen interpretieren läßt und in entsprechender Begrifflichkeit beschreibbar ist. Whitehead betont die entscheidenden Parallelen zwischen den Extremen von rudimentärem Naturgeschehen einerseits und einzelwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen andererseits im Sinne einer generellen zielgerichteten Regelhaftigkeit. Damit bringt er zum Ausdruck, daß Wissenschaft als höchste Form der Ausprägung praktischer Vernunft in eine kohärente Naturaktivität eingebunden ist, und betont zugleich den Gegensatz von praktischer und theoretischer Vernunft. Konstitutive Voraussetzung für Philosophie und damit vorrangig für die vorliegende Untersuchung ist die mit Platon identifizierte theoretische bzw. spekulative Vernunft. Diese wird in FR weitgehend ex negativo, hinsichtlich ihrer Gegensätze zur praktischen Vernunft, bestimmt. Nach Whitehead bedeutet die Orientierung an einer herrschenden Methode immer zugleich eine Einschränkung, wie er u. a. in kritischer Bezugnahme auf die durch die praktische Vernunft dominierten modernen Wissenschaften feststellt. Die theoretische bzw. spekulative Vernunft dagegen ist von derartigen methodischen Einschränkungen frei bzw. stellt diese in Frage. Die Tatsache, daß die spekulative Vernunft ihrem Wesen nach keinen methodischen Einschränkungen im Sinne der praktischen Vernunft unterworfen ist, bedeutet jedoch nicht, daß ein methodisches Vorgehen 160

Dieses letzte Stadium der »Erstarrung« differenziert Whitehead ausführlich in die Wege der »Blindheit«, des »Rhythmus« und der »Vergänglichkeit« (FR, 20 ff. / 20 ff.).

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etwa im Widerspruch zur Betätigung der spekulativen Vernunft steht bzw. sich mit dieser wechselseitig ausschließt. Vielmehr führt Whitehead die Bedeutung, die der spekulativen Vernunft innerhalb der letzten zweitausend Jahre als Voraussetzung für die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft zukommt, auf die Entdeckung zurück, daß es auch für die spekulative Vernunft ein methodisch-geordnetes Fortschreiten gebe – eine Entdeckung, die er in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entwicklung von Mathematik und Logik durch die Griechen sieht (FR, 40, 66 / 35 f., 54 f.). Der entscheidende Fortschritt der spekulativen Vernunft zu ihrer methodisch regulierten Ausprägung ist für Whitehead von epochaler Relevanz: »Sie [die spekulative Vernunft] wurde dadurch aus der ausschließlichen Abhängigkeit von mystischen Visionen und phantasievollen Mutmaßungen befreit und konnte sich nach einer Methode weiterentwickeln, die ihr selbst entstammte. Von nun an produzierte sie nicht mehr vereinzelte Urteile, sondern Systeme – Systeme statt Inspirationen.« (FR, 40 f. / 36) Aus Whiteheads Ausführungen lassen sich wie folgt zwei Aspekte des methodischen Charakters der spekulativen Vernunft rekonstruieren: (i) Methodisches Vorgehen der spekulativen Vernunft ist wissenschaftskonstitutiv, da es eine Voraussetzung für den Übergang von sporadischen Inspirationen zu Systemen darstellt. Der Wert dieser Systeme liegt darin, daß sie »dem vereinzelten Gedanken Leben und Bewegung geben. Wenn es nicht diese Versuche eines zusammenordnenden Erfassens gäbe, würden die einzelnen Gedanken je für sich nur einen flüchtigen und müßigen Augenblick der Reflexion erleuchten, vorübergehen und vergessen sein. Wie weit die Intuition reicht, läßt sich nur durch ihre Zusammenordnung mit anderen Vorstellungen des gleichen Allgemeinheitsgrades bestimmen.« (AI, 144 / 283) Whitehead schreibt der Systembildung im Sinne der Zusammenordnung von Vorstellungen eine zweifache Funktion zu: Einerseits bedeutet Systembildung eine Bestimmung und Gewährleistung der Relevanz und Reichweite einer einzelnen Intuition, andererseits kommt der Systembildung eine Funktion der Konservierung von Intuitionen über Zeit zu.161 (ii) Außerdem hat methodisches Vorgehen der spekulativen Vernunft die Aufgabe einer Disziplinierung dort, wo die Methoden der Einzelwissenschaften transzendiert werden. Die Lösung von einer Ordnung bedeutet nach Whitehead immer ein ›anarchisches‹ Element, das Selbstregulation erfordert. Dieses anarchische Element und die Selbstregulation sieht Whitehead schon in 161

Zur Systembildung vgl. 2.3.3.

Platonische und odysseische Vernunft

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der Bezeichnung »spekulative Vernunft« selbst ausgedrückt: »›Vernunft‹ bezeichnet dabei das Moment des geordneten, ›vernünftigen‹ Vorgehens, während ›spekulativ‹ darauf hinweist, daß es die vorgegebenen methodischen Schranken zu überschreiten gilt.« (FR, 66 f. / 54) Generell erfährt die praktische, odysseische Vernunft, soweit sie für Wissenschaft konstitutiv ist, bei Whitehead eine deutliche Abwertung, während die theoretische, platonische Vernunft als genuine Quelle und Bedingung für Philosophie positiv hervorgehoben wird. Die Kritik an der praktischen Vernunft stellt das Fundament für eine Wissenschafts- und Positivismuskritik dar, während die Aufwertung der theoretischen Vernunft eine Forderung nach der im Anfangsteil von PR programmatisch anvisierten Erneuerung der spekulativen Philosophie beinhaltet. Durch die wechselseitige Angewiesenheit von theoretischer bzw. spekulativer und praktischer Vernunft aufeinander erfährt die Auf- bzw. Abwertung beider Instanzen aber eine Relativierung. Gestützt wird die These wechselseitiger Angewiesenheit wiederum aus historischer Perspektive: Wissenschaftliche Erfolge haben sich nach Whitehead immer dann eingestellt, wenn praktische und spekulative Vernunft eine Synthese eingegangen sind. »Die enormen technischen Fortschritte der letzten hundertfünfzig Jahre sind das Resultat des endlich hergestellten Kontakts zwischen der spekulativen und der praktischen Vernunft.« (FR, 42f. / 37) Bei Whitehead steht, wie Lachmann feststellt, Vernunft »nicht mehr außerhalb der Geschichte, sondern wird als eine Funktion in sie hineingenommen«.162 So zutreffend diese Feststellung ist, wenn man unter »Geschichte« hier die allgemeine Naturgeschichte im Sinne Whiteheads versteht, so sehr läßt sie sich bezogen auf die Geschichte von Philosophie und Wissenschaft noch verstärken: In FR rekonstruiert und betrachtet Whitehead die Geschichte von Philosophie und Wissenschaft generell als Geschichte einer wechselnden Dominanz von theoretischer und praktischer Vernunft, und damit eben als Vernunftgeschichte. Die Entwicklungsgeschichte der Vernunft zieht sich als roter Faden, als eigentliche und wesentliche Markierung, durch die Naturgeschichte. Dabei entwickelt Whitehead eine Untersuchungsperspektive, die gewisse Parallelen zu derjenigen Kants aufweist. Kant konzipiert erstmals eine dem expliziten Anspruch nach philosophische bzw. ›philosophierende‹ Geschichte der Philosophie,163 die sich – insofern Whiteheads Intention 162

Lachmann (1994), 135. Zu Kants Historiographie von Philosophie und Vernunft vgl. Geldsetzer (1968), 21–23, Braun (1990), 217–236, Schneider (1990), 309–316 und Kolmer (1998), 245 ff. 163

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Voraussetzungen der Philosophie

nicht unähnlich – von einem empirischen, besonders von einem rein chronistischen, Zugang distanziert.164 Für diese Konzeption prägt Kant den Begriff einer »philosophischen Archäologie«, der er die Aufgabe stellt, die Philosophiegeschichte über eine Analyse der menschlichen Vernunft zu rekonstruieren: »Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch sondern rational d. i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt, so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie«.165 Zwar meint Kant, mittels Vernunftanalyse ein »Schema zu der Geschichte der Philosophie a priori«,166 eine apriorische Philosophiegeschichte, gewinnen zu können, während sich in Whiteheads VernunftAnalyse spekulative und empirische Annahmen hinsichtlich der historischen Manifestation von Vernunft verbinden. Überdies geht es Whitehead anders als Kant keineswegs allein um die menschliche Vernunft, sondern um Vernunft als allgemeinen Faktor im Naturgeschehen. Die oftmals einfach vorausgesetzte ontologische Ausnahmestellung des Menschen verschwindet in seiner Behandlung der praktischen Vernunft, um erst im Kontext der theoretischen Vernunft umso dezidierter wieder hervorzutreten. Bedeutsam für den vorliegenden Zusammenhang indessen ist die gemeinsame Grundintention Kants und Whiteheads, die Entwicklung des jeweils mit »Vernunft« Gemeinten erkennbar zu machen. Beide thematisieren die Vernunft als ein sich organistisch entwickelndes Subjekt – und eben nicht (nur) Objekt – der Philosophiegeschichte, wobei Whitehead die umfassend verstandene Vernunft als Faktor in der Naturgeschichte, Kant hingegen die menschliche Vernunft als Formbestimmung der Geistesgeschichte versteht. Ein Resumé, in dem Schneider die philosophiegeschichtlichen Intentionen Kants zusammenfaßt, trifft dabei gewiß auch auf Whitehead zu: »Das philosophische Interesse an der Philosophiegeschichte drückt sich also am deutlichsten darin aus, daß es die Natur der Vernunft als, und das heißt: in deren Geschichte erkennt.«167 Gegenstand des historischen Interesses ist hier wie dort die Genese der Vernunft, die sich als Philosophie verwirklicht. Bei Kant und bei Whitehead begegnen damit unterschiedliche Versionen eines doppel164

Vgl. 1.1. Lose Blätter F 3, in: Kants Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XX, Berlin 1942, 341. 166 Ebd., 343. 167 Schneider (1990), 315. 165

Spekulative Philosophie und kosmologische Schemata

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ten Motivs, das nicht zuletzt auch für Hegels Geschichtsphilosophie charakteristisch ist – das Motiv eines Historisierens der Vernunft und eines Rationalisierens der Geschichte.

2.3 Spekulative Philosophie und kosmologische Schemata Im Vorwort zu PR nennt Whitehead neun »Denkgewohnheiten« (habits of thought), die er, sofern sie von Einfluß auf die Philosophie sind, zurückweisen will. Die erste dieser Denkgewohnheiten ist »das Mißtrauen in spekulative Philosophie« (PR, xiii / 24). Ein solches Mißtrauen hat teils in Form eines irrationalen Argwohns, teils aber auch in Form einer argumentativen Skepsis sowohl in den modernen Wissenschaften als auch in der Philosophie selbst Ausdruck gefunden. In den Wissenschaften ist es greifbar als Vorbehalt gegen spekulativ entwickelte Theorien, die die Grenzen der Erfahrung, besonders der Beobachtung und der Induktion, übersteigen. In der Philosophie ist das Mißtrauen in Spekulation, das vor allem metaphysischen Ansätzen gilt, nicht auf die positivistischen und analytischen Traditionen des 20. Jahrhunderts beschränkt, sondern stellt einen Grundzug neuzeitlichen Philosophierens überhaupt dar und findet sich u. a. bei Descartes, Hume und Kant. Whitehead begegnet dem Mißtrauen in spekulative Philosophie auf eigene Weise. Anstatt etwa gegen das genannte Mißtrauen zu argumentieren, entwickelt er eine spekulative Neukonzeption, die der üblichen Opposition keine Angriffsfläche bieten soll, und gründet diese Neukonzeption auf eine Neubestimmung dessen, was spekulative Philosophie sein kann oder sein sollte. Whiteheads Beitrag zur spekulativen Philosophie in PR kann in drei eng verbundene Aspekte ein- und desselben Anspruchs differenziert werden: Die Tradition spekulativer Philosophie fortzusetzen, spekulative Philosophie zu erneuern und auf spekulative Philosophie sowie ihre Voraussetzungen und Kriterien zu reflektieren. So offensichtlich sich die beiden ersten Aspekte der philosophiegeschichtlichen Perspektive Whiteheads verdanken, so eindeutig erscheint der dritte Aspekt, eine Reflexion auf spekulative Philosophie, prima facie als ein systematisches Anliegen. Indessen zeigt sich bei näherer Untersuchung, daß Whitehead auch hier von philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkten, Begriffen und Entwicklungslinien ausgeht. Er führt seine metaphysische Konzeption nicht nur inhaltlich, sondern auch methodologisch auf die Philosophiegeschichte, insbesondere die Griechen, zurück.

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Voraussetzungen der Philosophie

Nachdem zunächst auf Whiteheads Charakterisierung der Vernunft als Quelle bzw. Instanz spekulativer Philosophie eingegangen wurde,168 geht es nun darum, das Wesen, die Aufgabe und die Methode spekulativer Philosophie in den Blick zu nehmen. Vorrangige Aufgabe der spekulativen Vernunft ist nach Auffassung Whiteheads die Entwicklung kosmologischer Schemata. Erläuterungsbedürftig erscheint hier sowohl der Begriff des Kosmologischen bzw. der Kosmologie als auch der des Schemas, denn beiden Begriffen kommt bei Whitehead eine spezielle terminologische Bedeutung sowie ein besonderes programmatisches Gewicht zu. Eine Analyse dieser Begriffe ist Voraussetzung nicht nur für ein Verständnis seiner erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Positionen, sondern zugleich für eine Rekonstruktion des methodischen Anspruchs seines im Untertitel als »Entwurf einer Kosmologie« (An Essay in Cosmology) bezeichneten Hauptwerks PR. Für das bei ihm unter einer Kosmologie bzw. einem kosmologischen Schema Verstandene formuliert Whitehead bestimmte Kriterien, die für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung sind, weil er sie nicht nur seiner eigenen Konzeption zugrundelegt, sondern auch auf die griechischen Wurzeln spekulativen Denkens zurückführt und sie gleichzeitig als Bewertungsmaßstab für zentrale Positionen der Philosophiegeschichte in Anspruch nimmt.

2.3.1 Whiteheads Kosmologiebegriff Der Begriff »Kosmologie« geht ursprünglich als Bezeichnung für eine philosophische Teildisziplin auf Wolff zurück, der die traditionelle Einteilung der Metaphysik in eine allgemeine Metaphysik (›metaphysica generalis‹ / ›ontologia‹) sowie Bereichsmetaphysiken (›metaphysicae speciales‹), und zwar (rationale) Theologie, (rationale) Psychologie und (rationale) Kosmologie, begründet hat.169 Thema einer so ausdifferenzierten Kosmologie ist primär die Erklärung der Welt als natürliches System physischer Substanzen,170 wobei hier metaphysische sowie ontologische Denkansätze zusammengefaßt werden, die sich historisch bis zu den Anfängen des vorsokratischen Denkens zurückverfolgen lassen. Systema168

Vgl. 2.2. »Discursus praeliminaris de philosophia in genere«, § 77, in: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata, Frankfurt / Leipzig 1928. 170 Cosmologia generalis, Frankfurt / Leipzig 1731, § 1. 169

Whiteheads Kosmologiebegriff

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tisch umfaßt diese Kosmologie sowohl empirische Konzeptionen, etwa im Bereich astronomischer Untersuchungen, als auch von Beobachtung unabhängige, rein spekulative Lehren, was in Wolffs Differenzierung von ›cosmologia experimentalis‹ und ›cosmologia rationalis‹ bzw. ›cosmologia scientifica‹ zum Ausdruck kommt.171 Diese von Wolff zwar unterschiedenen, aber doch in der gemeinsamen Disziplin der Kosmologie aufgehenden empirischen und nicht-empirischen Ansätze erfuhren erst eine deutlichere Abgrenzung infolge moderner naturwissenschaftlicher Forschungsansätze, welche durch die Entwicklung instrumenteller Hilfsmittel und hiermit verbundener spezialistischer Fragestellungen die heutige Kosmologie als eine naturwissenschaftliche Einzeldisziplin entstehen ließen. Im Rahmen dieser Disziplin, die traditionelle spekulative Fragestellungen ausklammert, wendet man sich vor allem astronomisch-physikalischen und chemischen Eigenschaften des Universums zu, die auch und gerade im Hinblick auf dessen Entstehung analysiert werden. Weder der traditionellen Kosmologie im Sinne Wolffs noch der Kosmologie als moderner naturwissenschaftlicher Disziplin läßt sich Whiteheads Projekt einer philosophischen Kosmologie angemessen subsumieren. Im Hinblick auf die traditionelle Differenzierung ist Whiteheads Ansatz keinesfalls auf das Thema der Bereichsmetaphysik der Kosmologie beschränkt, sondern reicht gleichermaßen in die Problemstellungen der anderen Bereichsmetaphysiken wie auch der allgemeinen Metaphysik hinein. Eine gewisse Nähe zur Kosmologie als moderner naturwissenschaftlicher Disziplin läßt Whiteheads Ansatz lediglich insoweit erkennen, als er einerseits, besonders in PR und SMW, auf einen Anschluß an naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Begriffsbildungen ausgerichtet ist und andererseits, besonders in FR, Hypothesen über Ursprung und Entwicklungsbedingungen des materiellen Kosmos impliziert. Als spekulatives System mit universellem Geltungsanspruch geht Whiteheads Konzeption aber, wie noch zu zeigen sein wird, über die prinzipiell begrenzten Funktionszusammenhänge hinaus, die Gegenstand der empirischen Naturwissenschaften sind. Eine nähere Bestimmung des Whiteheadschen Kosmologiebegriffs über vorgängige und geläufige Disziplinabgrenzungen ist also nicht ohne weiteres möglich.172 171

Ebd., § 4. Zu Whiteheads Kosmologiebegriff und seiner philosophiegeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Einordnung vgl. auch Wolf-Gazo (1980), 9–12. Ein Plädoyer für eine philosophische Kosmologie, das einerseits Konvergenzen zwischen Whitehead und Hartmann aufzeigen und sich andererseits mit Kant als Protagonist 172

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Voraussetzungen der Philosophie

Die Schwierigkeit, Whiteheads Kosmologiebegriff und die damit verbundenen Ansprüche präzise zu erfassen, resultiert nicht allein daraus, daß dieser Begriff sich kaum mit den geläufigen traditionellen und modernen Disziplinabgrenzungen deckt, sondern auch daraus, daß Whitehead den Begriff »Kosmologie« bzw. »kosmologisch« offenbar uneinheitlich verwendet. Die zahlreichen Vorkommnisse können in mindestens drei zwar nicht differenzierend eingeführte, jedoch ersichtlich divergierende Bedeutungen unterschieden werden: (i) In einer ersten Bedeutung versteht Whitehead unter einer Kosmologie ein Weltbild im allgemeinen Sinne einer »Weltanschauung« (SMW, 21 f. / 29 f.) oder auch »kosmologischen Weltanschauung« (SMW, 171 / 162), worunter er nicht nur wissenschaftlich begründete Weltbilder wie das durch Kopernikus »symbolisierte« (SMW, 1 / 11), sondern auch rudimentäre Weltbilder früh- oder vorwissenschaftlicher Epochen begreift, die auf »allgemeineren kosmologischen Ideen« beruhen (AI, 103 / 223). So repräsentieren die religiösen Kosmologien der Antike (AI, 104 / 224), etwa die ›dramatische‹ Kosmologie des frühen Griechentums (SMW, 9 f. / 18 f.), allgemeine Weltbilder in Form einer elementaren »Anschauung über die Natur des Kosmos« (AI, 12 / 91). Jedes aktive Zeitalter ist – weitgehend implizit – durch eine derartige »fundamentale Kosmologie« bestimmt, die »die jeweils aktuellen Motive des Handelns prägt« (ebd.) und insofern lebenspraktisch wirksam wird. In diesem Sinne spricht Whitehead z. B. generalisierend von der mittelalterlichen Kosmologie (AI, 155 / 300). Neben religiösen Komponenten können auch Wissenschaft, Ästhetik, Ethik usw. als »vielfältige menschliche Interessen« Kosmologien anregen, gleichzeitig in umgekehrter Weise aber auch von einer jeweils wirksamen Kosmologie beeinflußt werden (SMW, ix / 7). Dabei müssen sich keinesfalls ausgewogene oder einstimmige Weltbilder ergeben: Eine Kosmologie, verstanden als allgemeines Weltbild, wird, wie Whitehead darlegt, von den dominierenden Interessen der jeweiligen Zeit her bestimmt, unter denen Wissenschaft eine neben anderen sein kann. Die Dominanz der modernen Wissenschaften während der »letzten drei Jahrhunderte« (also des 17. bis 19. Jahrhunderts) kritisiert er als eine Beschränktheit auf Kosten anderer Gesichtspunkte (ebd.). So sieht Whitehead in der wissenschaftlichen Emphase der Neuzeit einen weltander entscheidenden Bruchstelle der kosmologischen Tradition auseinandersetzt, legt Wein (1954) vor. Zu einer historisch-systematischen Bestandsaufnahme und den Erklärungsansprüchen philosophischer Kosmologie vgl. Kather (1998), die Whiteheads Konzeption besonders ausführlich berücksichtigt (ebd., 357–480).

Whiteheads Kosmologiebegriff

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schaulichen bzw. kosmologischen Provinzialismus, aus dem er eine wesentliche korrigierende Aufgabe der Philosophie ableitet, worauf noch eingegangen wird.173 (ii) In einer zweiten Bedeutung scheint Whitehead den Begriff »Kosmologie« im Sinne der Bezeichnung für eine wissenschaftliche Einzeldisziplin verwenden zu wollen, die sich von den anderen Einzeldisziplinen formal durch einen höheren Grad von Allgemeinheit unterscheidet. Diese Auffassung wird einerseits durch Whiteheads metaphorische Formulierung angedeutet, daß es »eine einzige Kosmologie« geben müsse, die »eine Vielzahl von Wissenschaften regiert« (FR, 87 / 71), andererseits und konkreter aber auch durch seine Forderung an eine so verstandene Kosmologie, mit anderen Einzeldisziplinen, die sich zu ihr wie Arten zu einer Gattung verhalten, in eine wechselseitige Kritik einzutreten. »Die eingeschränkte Morphologie einer Einzelwissenschaft ist erklärtermaßen nicht imstande, mit Hilfe ihrer Grundbegriffe alle Formen zum Ausdruck zu bringen, die in der Welt exemplifiziert sind. Die Kosmologie dagegen muß sie adäquat zum Ausdruck bringen, und deshalb muß sie – neben der Gesamtheit der Einzelwissenschaften – auch alle diejenigen Faktoren einbeziehen, die in keiner Einzelwissenschaft hinreichend behandelt worden sind.« (FR, 77 / 63) Whiteheads Bemerkungen zum Verhältnis von Kosmologie und Einzelwissenschaften als hierarchisch geordnete Disziplinen lassen einige Fragen offen. Wenn »Kosmologie« Gattungsbegriff im Hinblick auf Einzelwissenschaften sein soll, kann Kosmologie nicht ihrerseits eine eigene, von diesen verschiedene Disziplin sein. Vielmehr läge eine Entsprechung z. B. zu dem Verhältnis von »Naturwissenschaft« als Gattungsbegriff im Hinblick auf Einzelwissenschaften wie Physik, Chemie usw. vor. Gilt andererseits Kosmologie gleichsam als Metadisziplin nach Art einer Wissenschaftstheorie, also als eine Disziplin, von der aus man sich anderen Wissenschaften theoretisch zuwenden und diese einer Kritik unterziehen kann, so ist dies mit einem Gattungs-Art-Verhältnis nicht vereinbar. Die von Whitehead geforderte wechselseitige Kritik von Kosmologie und Einzelwissenschaften scheint wiederum mit beiden Auffassungen, dem Gattungs-Art-Verhältnis sowie dem Verhältnis einer Metadisziplin zu den Einzelwissenschaften, unverträglich und würde vielmehr Kosmologie als eine den anderen Disziplinen formal gleichgeordnete Wissenschaft voraussetzen. Faßt man also das Verhältnis von Kosmologie zu den Einzelwissenschaften, wie von Whitehead angedeu173

Vgl. 2.3.1.

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Voraussetzungen der Philosophie

tet, als das einer übergeordneten Disziplin auf, so bleibt das epistemologische Verhältnis jener zu diesen letztlich unklar. (iii) In einer dritten Bedeutung versteht Whitehead unter einer Kosmologie eine philosophisch-wissenschaftliche Theorie wie die von ihm selbst in PR entworfene, also eine Konzeption im Binnenbereich einer Einzelwissenschaft. Dabei kann es sich entweder um eine naturwissenschaftliche Konzeption handeln – etwa diejenige Newtons, die von Whitehead mehrfach exemplarisch genannt wird (AI, 156 / 300 f.; PR, xiv / 25 f., et passim), oder aber um eine im engeren Sinn philosophische Konzeption. Whitehead sieht nämlich Platons Timaios als Paradigma einer Kosmologie an (PR, xiv / 25; 93 / 183, et passim) und bezeichnet auch metaphysische Entwürfe als »monistische« oder »monadische« Kosmologien (PR, 19, 27 / 59, 72). Eine Kosmologie ist hiernach also weder mit einem allgemeinen Weltbild im Sinne von (i) noch mit einer wissenschaftlichen Disziplin im Sinne von (ii) zu identifizieren. Ebensowenig ist die Bezeichnung »Kosmologie« auf naturwissenschaftliche oder geisteswissenschaftliche Theoriengebilde beschränkt, eine Dichotomie, die Whitehead als Einteilungsschema der Wissenschaften ohnehin kritisiert.174 Gemeinsamer Ausgangspunkt, der es rechtfertigt, auch völlig unterschiedliche Konzeptionen als Kosmologien zu bezeichnen, ist die alle Disziplinabgrenzungen und Einteilungsschemata der Wissenschaften transzendierende Ausgangsfrage »Worauf läuft das alles hinaus?« (PR, xiii / 24). Diese Frage, die nach Whitehead »das kosmologische Problem« (ebd.) anspricht, formuliert in allgemeinster Weise auch die Perspektive von Whiteheads eigenem Unternehmen. Offensichtlich überschneidet sich Whiteheads Begriff von Kosmologie in dem hier beschriebenen dritten Sinn mit wesentlichen Komponenten der beiden zuvor genannten Verwendungsweisen bzw. beinhaltet sie mit. Dies wird einerseits an Whiteheads Bestimmungen von Kosmologie im Sinne einer philosophisch-wissenschaftlichen Konzeption, andererseits an der Durchführung seiner eigenen Kosmologie selbst sichtbar. Wir können eine Kosmologie in dieser dritten, bei Whitehead vorrangigen Bedeutung des Wortes als eine wissenschaftlich-philosophische oder auch metaphysische Konzeption auffassen, in der die Systematik einer Einzelwissenschaft mit der Totalität der Perspektive eines vorwissenschaftlichen, ganzheitlichen Weltbezugs oder Weltbildes verbunden wird. Die Charakterisierung von Kosmologie im Sinne einer philosophischwissenschaftlichen Konzeption verbindet sich bei Whitehead mit einer 174

Vgl. 3.3.2.

Whiteheads Kosmologiebegriff

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allgemeinen Bestimmung der Aufgabe von Philosophie. Wenn Whitehead als eine Funktion der Philosophie die »Kritik der Kosmologien« bezeichnet (SMW, xxi / 7), so kann darunter verstanden werden, daß die Philosophie sowohl kosmologische Konzeptionen als auch allgemeine Weltbilder kritisieren soll. Dies vermag sie vor allem im Rahmen einer konstruktiven Eigenleistung der spekulativen Vernunft, nämlich als philosophische Kosmologie in Form eines eigenen, umfassenden Interpretationsmodells der Erfahrungswirklichkeit. Dieser philosophischen Kosmologie fällt so eine »doppelte Aufgabe« zu (FR, 76 / 62), wobei aber beide der Sache nach zusammenfallen: Im Zuge der Entwicklung eines eigenen Interpretationsmodells soll die Kosmologie als kritische Instanz perspektivische Beschränkungen der Einzelwissenschaften überwinden. So ist die Kosmologie »das Resultat des höchsten Allgemeinheitsgrades der Spekulation – und als solches die kritische Instanz, die allen Spekulationen geringeren Allgemeinheitsgrades übergeordnet ist« (FR, 86 / 71). Der Weg der Kritik ist indessen keineswegs einseitig, sondern kommutativ, insofern, wie erwähnt, auch die philosophische Kosmologie ihrerseits einzelwissenschaftlicher Kritik unterzogen werden muß (FR, 77 / 63).175 In dieser Bedeutung – also als Konzeption im Sinne von (iii), nicht aber als gattungsmäßig übergeordnete Disziplin im Sinne von (ii) – wird der Anspruch an eine philosophische Kosmologie im Hinblick auf die Einzelwissenschaften klarer. Dies bedeutet für den konkreten Fall der in PR entwickelten Kosmologie, daß sie in direktem Anschluß an einzelwissenschaftliche Konzeptionen entwickelt und durch deren künftige Erkenntnisse modifizierbar sein soll. Darüber hinaus muß sie aber auch Dimensionen berücksichtigen, die durch die Naturwissenschaften nicht erfaßt werden. Es gilt für Whitehead als »eines der Motive einer vollständigen Kosmologie […], eine gedankliche Konzeption zu entwerfen, in der die ästhetischen, moralischen und religiösen Interessen mit jenen Begriffen von der Welt in Verbindung gebracht werden, die ihren Ursprung in den Naturwissenschaften haben« (PR, xii / 22).176 175

Entsprechend fordert Whitehead auch wechselseitige kritische Impulse im Hinblick auf Philosophie und Einzelwissenschaften, wobei Philosophie als die Instanz verstanden werden kann, die Kosmologien i. S. v. (iii) hervorbringt (AI, 146 / 286). 176 Diese oft zitierte Aufgabenstellung an eine Kosmologie erinnert an A.E. Taylor, auf den Whitehead sich ausdrücklich oder auch unausgesprochen häufig bezieht, und dessen Metaphysik-Bestimmung mit ganz ähnlichen universalistischen Ansprüchen verbunden ist. So nennt Taylor (1903), 43, als Thema von Metaphysik »the meaning and validity of the most universal conceptions of which we seek to understand the nature of the individual objects which make up the experienced physical world […]«.

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Voraussetzungen der Philosophie

Diese Bestimmung ist signifikant für Whiteheads Konzeption und den damit verbundenen universalistischen Anspruch. Diesem Anspruch wird man weder gerecht, wenn man Whitehead einen genuin naturwissenschaftlichen Kosmologiebegriff unterstellt,177 noch, indem man Whiteheads System mit heutigen naturwissenschaftlichen Kosmologien in eine direkte Konkurrenz setzt.178 Beide Sichtweisen bedeuten eine Verkürzung auf Bereiche und Fragestellungen, über die Whitehead erklärtermaßen hinausgehen will. Auffällig ist zudem, daß dort, wo man sich der grundlegenden Unterschiedlichkeit der Whiteheadschen Kosmologie und moderner naturwissenschaftlicher Ansätze bewußt ist, Whiteheads Konzeption aus der Darstellung einer Disziplingeschichte von Kosmologie, die sich als ein Beitrag zur Philosophie der Natur versteht, zugunsten naturwissenschaftlicher Ansätze ausdrücklich ausgeklammert wird.179 Andererseits gibt eine Identifizierung von »Kosmologie« in Whiteheads Sinn mit »Philosophie der Natur« seinen universalistischen Anspruch nur unvollkommen wieder.180 Whiteheads recht vage Bestimmung der Aufgabe der Kosmologie, wonach diese die Begrifflichkeiten der ästhetischen, moralischen, religiösen und wissenschaftlichen Interessen bzw. Begriffe miteinander »in Verbindung« bringen soll, ist so zu verstehen, daß die Kosmologie ein universalistisches Interpretationsmodell für die Erfahrungswirklichkeit darstellen, zugleich aber auch Reflexionsinstanz für disparate Zugangsweisen 177

Z. B. spricht Rapp (1990), 144, 147, von »der« Kosmologie und identifiziert dieselbe ohne weiteres mit dem »Paradigma der Physik«, um dann wiederum die so verstandene Kosmologie als »Paradigma für die Metaphysik« Whiteheads zu bezeichnen. Auch Welker (31985), 272, findet Whiteheads programmatische Einleitung »fragwürdig« hinsichtlich der »gegenwärtigen Erwartungshaltung einer Kosmologie gegenüber«, wobei er von einem modernen naturwissenschaftlichen Kosmologiebegriff ausgeht. 178 Z. B. bezeichnet Mittelstraß (1976), Sp. 1154, Bemühungen um die Erneuerung einer philosophischen Kosmologie, exemplifiziert an Whiteheads PR, als »peripher«. 179 Vgl. Kanitscheider (21991), 19; vgl. auch Kanitscheider (1981), 101. In Charon (1970) und Meurers (1984) wird Whitehead nicht einmal erwähnt. Indessen führen alle drei Autoren Kosmologie als moderne naturwissenschaftliche Disziplin auf dieselben historischen Wurzeln und Vorstadien zurück, die auch von Whitehead für seine Konzeption in Anspruch genommen werden. Ähnliches gilt für von Weizsäcker (1971), den mit Whitehead einerseits die betonte Platon-Wertschätzung sowie die Auffassung verbindet, Grundzüge des physikalischen Weltbildes des 20. Jahrhunderts auf die platonische Naturphilosophie zurückführen zu können, der aber andererseits Whiteheads philosophische Kosmologie weitestgehend ignoriert; vgl. Holl (1979), 642 f. 180 Vgl. Leclerc (1980), 119.

Whiteheads Kosmologiebegriff

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zu dieser sein soll, wobei die Zugangsweisen in ihrer Unterschiedlichkeit thematisiert werden. So stellt also eine derartige Kosmologie nicht nur selbst ein Interpretationsmodell der Erfahrungswirklichkeit dar, sondern zugleich eine Hermeneutik für die einzelnen Zugangsweisen zur Erfahrungswirklichkeit, die durch die Kosmologie synthetisiert werden sollen. Trotz der präskriptiven Programmatik einer »vollständigen Kosmologie«, die als Anspruch auf einen ganz neuartigen Typ von Theoriebildung verstanden werden könnte, ordnet Whitehead sein Vorhaben in eine bis zu den Anfängen von Philosophie und Wissenschaften zurückreichende Geschichte ein. Grundlage dafür ist die Annahme eines konstanten Reservoirs von Problemstellungen, die alle modernen Kosmologien (verstanden im Sinne einzelner Konzeptionen) mit ihren klassischen Vorbildern gemeinsam haben: »Es geht in ihnen um unterschiedliche Auffassungen über den Charakter der Naturgesetze, um unterschiedliche Auffassungen über die Kommunikation zwischen realen Individuen, und um verschiedenartige Vorstellungen über die Grundlage, auf der es zu dieser Kommunikation kommt.« (AI, 135 / 270)181 In diesem Sinne geht Whitehead von zwei als klassisch angesehenen Kosmologien aus, auf die sich aus seiner Sicht alle anderen zurückführen lassen, einerseits Platons Timaios und andererseits die von Whitehead als »rivalisierende Kosmologie« bezeichnete, von Demokrit begründete und von Epikur und Lukrez weiterentwickelte Atomlehre (AI, 121 ff. / 251 ff.). Whitehead charakterisiert und differenziert diese Kosmologien mittels einer Unterscheidung der ihnen jeweils zugrundeliegenden Auffassungen hinsichtlich des Wesens der Naturgesetze, wobei er vier derartige Auffassungen unterscheidet: die Immanenzauffassung, die Auferlegtheitsauffassung, die Auffassung von Naturgesetzen als reine Deskriptionen von Vorgängen und die Auffassung von Naturgesetzen als konventionelle Interpretationen (AI, 111 / 236).182 Diese vier Auffassungen stellen insofern eine idealtypische Unterscheidung dar, als Whitehead in den von ihm erörterten Kosmologien einschließlich der beiden klassischen, gleichsam als Grundmodelle angesehenen Konzeptionen jeweils Vermischungen oder Verbindungen oder auch ein Schwanken zwischen mindestens zweien dieser Auffassungen erkennt. So kommt für White181

Von diesen allgemeineren kosmologischen Problemen unterscheidet Whitehead z. B. die Frage nach der Stellung des menschlichen Geistes in der Ordnung der Dinge als spezielleres kosmologisches Problem (AI, 135 / 270). 182 Vgl. 2.1.

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Voraussetzungen der Philosophie

head in Platons Timaios sowohl die Immanenzauffassung als auch die Auferlegtheitsauffassung zum Ausdruck (AI, 121, 122 / 250, 252), während sich bei Epikur eine Verbindung zwischen den Standpunkten der Auferlegtheit und der reinen Deskription andeutet (AI, 122 / 252). Im Sinne von Whiteheads Rückführbarkeitsthese leiten sich sowohl die von Newton begründete Kosmologie des 17. Jahrhunderts als auch die den Positivismus prägende Auffassung der Naturgesetze von Lukrez’ Atomismus ab: Newton vertritt die Auferlegtheitsauffassung, die die Annahme eines transzendenten Gottes voraussetzt, der Positivismus geht von einem rein deskriptiven Charakter der Naturgesetze aus (AI, 122 f. / 252 f.). Für Whitehead sind die Kosmologie Platons und die des 17. Jahrhunderts, welche er in der beschriebenen Weise auf den Atomismus zurückführt, die bislang wichtigsten und einflußreichsten Konzeptionen gewesen. Sie bilden zugleich den Hintergrund, vor dem er seine eigene Kosmologie gleichsam in Form einer Synthese, die zugleich Erkenntnissen neuerer Denktraditionen gerecht werden soll, entwickeln will. In der ausdrücklichen Orientierung an diesen vorgängigen Kosmologien wird sichtbar, welches Gewicht er den zentralen geschichtlichen Voraussetzungen seiner eigenen Konzeption zuweist bzw. wie er auf eine Synthese geschichtlicher Voraussetzungen als angemessenste Methode vertraut. Den Wert der philosophischen Tradition sieht Whitehead primär in ihrer Funktion eines Ideenreservoirs, das sowohl Positionen, die von einer neuen Kosmologie aufzunehmen sind, als auch solche, die kritisiert oder zurückgewiesen werden, umfaßt. Jede neue Kosmologie muß, wie Whitehead bezüglich derjenigen Newtons hervorhebt, imstande sein, ihre Vorgänger zu interpretieren und deren Grenzen sichtbar zu machen (AI, 131 / 265). Im historischen Bezug bilden so die einzelnen kosmologischen Konzeptionen eine Kontinuität, die ihnen die Beliebigkeit nimmt, die ihre Relevanz füreinander voraussetzt, und die so ein Begreifen der Konzeptionen auseinander ermöglicht. Wenn man sich um eine philosophische Kosmologie im Sinne Whiteheads bemüht, ist man aus seiner Sicht und gemäß seinem Anspruch immer schon mit den kosmologischen Fragestellungen und den Konzeptionen der Vorgänger konfrontiert. Die Bedeutung einer neuen Kosmologie erweist sich jeweils im Rahmen eines Vergleichs mit ihren Vorläuferinnen, die dabei Orientierungspunkt und Maßstab für sie sind, so wie sie kritische Instanz für jene ist. Daher bilden die historisch bestimmend gewordenen Kosmologien Platons und Newtons gleichsam die Koordinaten für Whiteheads eigene Position.

Gedankenschemata: Funktion und Genese

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2.3.2 Gedankenschemata: Funktion und Genese Im Rahmen seiner Ausführungen über eine Kosmologie im Sinne einer philosophisch-wissenschaftlichen Konzeption verwendet Whitehead mehrfach den Begriff »kosmologisches Schema« (cosmological scheme). So muß unter der Voraussetzung eines universalistischen Anspruchs die Philosophie »auf der Bewahrung des gesamten Tatsachenmaterials beharren, um unser kosmologisches Schema gestalten zu können« (SMW, xxi / 7). Auch definiert Whitehead Kosmologie als »Versuch, ein Gedankenschema zu entwerfen, das den allgemeinen Charakter des gegenwärtigen Entwicklungszustands des Universums wiedergibt« (FR, 76 / 62). Unter dem Begriff »Gedankenschema« (scheme of thought) faßt Whitehead sowohl kosmologische als auch einzelwissenschaftliche Schemata zusammen. Obwohl er in seinen Ausführungen über Schemata manchmal scheinbar synonym die Ausdrücke »System« (FR, 69 / 56) und »Theorie« (FR, 75 / 61) verwendet, dürfte es sich bei der Bezeichnung »Schema« um einen bewußt gewählten Ausdruck mit eigener terminologischer Bedeutung183 und Relevanz für die epistemologischen Voraussetzungen von Philosophie handeln. Besonders in Whiteheads Rede von der »Nutzbarmachung« (utilization) (FR, 75 / 62) im Sinne einer Anwendung von Schemata wird deutlich, daß er diese als individuelle Bewußtseinsinhalte ansieht, die anläßlich bestimmter Erfahrungen zu Deutungen eines Wirklichkeitsbereichs und ggfs. zu wissenschaftlichen Erklärungen führen: »Millionen von Menschen hatten Äpfel vom Baum fallen sehen; aber die Bedeutung dieses Vorgangs sah erst Newton, in dessen Bewußtsein das Gedankenschema der mathematischen Dynamik gegenwärtig war;« (FR, 73 / 59 f.) So ist ein Schema im hier vorausgesetzten Sinn als geistige Projektion aufzufassen, die der eigentlichen Systembildung oder auch Theoriebildung, verstanden als Aktualisierung bzw. Realisierung des Schemas, vorausgeht. Wenn Whitehead von »kosmologischen Theorien« seiner Vorgänger (PR, 91 / 181) oder von einem »Ideal der kosmologischen Theorie« (PR, 110 / 213) spricht, sind daher die aus entsprechenden Schemata entwickelten bzw. 183

Diese terminologische Bedeutung bleibt in der von Holl vorgelegten Übersetzung von PR verdeckt, da »scheme« im Vorwort uneinheitlich mit »Konzeption«, »System«, »Ansatz« und »Modell«, sonst meist mit »System«, wiedergegeben wird. Bubser dagegen gibt in seiner Übersetzung von FR »scheme« meist mit »Schema« wieder, gelegentlich aber auch mit »Gedankenschema« (FR, dt. 57), wobei er wohl voraussetzt, daß »scheme« eine Verkürzung von »scheme of thought« darstellt.

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zu entwickelnden Konzeptionen gemeint. Das oben problematisierte Art-Gattungs-Verhältnis, das Whitehead für Einzelwissenschaften und Kosmologie anzunehmen scheint, soll auch die ihnen zugrundeliegenden Schemata betreffen: »Das kosmologische Gedankenschema ist gleichsam als die übergeordnete Gattung zu verstehen, der die Gedankenschemata der Einzelwissenschaften als Spezies untergeordnet sind.« (FR, 76 / 62) Whitehead beschreibt ein Gedankenschema näher als eine komplexe Gruppe von propositional verstandenen Grundideen (categoreal notions) (FR, 71 / 58).184 Einige Aussagen des jeweiligen Schemas ermöglichen einen direkten Bezug zur Erfahrungswirklichkeit und bringen so das Schema als ganzes mit ihr in Kontakt. Dabei wird das Maß seiner Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Erfahrungswirklichkeit sichtbar. Läßt sich das Schema nicht in einen ersichtlichen Kontakt mit der Erfahrung bringen, so bedeutet dies, daß es keinen methodologischen Nutzen bringt und nicht in Form einer Theorie konkretisiert wird. Dennoch sind derartige abstrakt bleibende Schemata nicht wertlos oder irrelevant. Sie befriedigen einerseits den Anspruch der spekulativen Vernunft, der sich im Verstehen um seiner selbst willen erfüllt. Andererseits repräsentieren sie ein »Ideenkapital« für die Zukunft, insofern sie ein »Reservoir potentieller Weiterentwicklungen« (FR, 72 / 59) darstellen. Aus den Ausführungen Whiteheads lassen sich die wesentlichen Bestimmungen des Schemabegriffs nicht unmittelbar entnehmen, da eine ausdrückliche terminologische Einführung fehlt. Ebenso kann er kaum mit einem in der Philosophiegeschichte vorgegebenen Schemabegriff identifiziert werden. Man kann aber den Ausdruck »Schema« ausgehend von Whiteheads Verwendungen als einen erkenntnistheoretischen Ordnungsbegriff bestimmen, der zunächst einen individuellen strukturierten Bewußtseinsinhalt bezeichnet, der bei entsprechendem Kontakt mit der Erfahrungswirklichkeit als Theorie objektiviert wird. Dem Schema kommt also eine zumindest virtuelle Korrespondenz mit der Erfahrungswirklichkeit oder Teilen von ihr zu, und es ist im Hinblick auf seine Kompatibilität mit dieser modifizierbar. Eng verbunden mit der Frage des Status ist die der Genese von Gedankenschemata. Poser, der Whiteheads Projekt einer »revidierbaren Metaphysik« auf das Gelingen einer Synthese empiristischer und rationa184

Der Ausdruck »notion« wird von Whitehead uneinheitlich verwendet. Zwar steht er primär für Begriffe, wird aber im vorliegenden Zusammenhang offensichtlich synonym mit »Aussage« (proposition) gebraucht.

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listischer Voraussetzungen hin (mit positivem Resultat) rekonstruiert, versteht Whiteheads Gedankenschemata als »(relativ-)a priorische Bedingung der Erkenntnis und ihrer Gegenstände«, und zwar in enger Parallelität zu Kants Denkformen.185 Der Begriff des Apriorischen deutet dabei die Erfahrungsunabhängigkeit an, der des Relativen die Revidierbarkeit bzw. den Hypothesencharakter von Gedankenschemata. Ganz im Sinne von Whiteheads Ausführungen, wonach »das Denken der Beobachtung vorausgeht« (FR, 72 / 59; vgl. 75 / 61), sieht Poser bei Whitehead diejenige rationalistische Einsicht vertreten, die als Theoriengeleitetheit oder -bedingtheit aller Beobachtung zu einer Grundannahme der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts geworden ist. Danach ist ein Whiteheadsches Gedankenschema Voraussetzung für Erfahrung, kann aber, so Poser im Sinne Kants, seinerseits nicht der Erfahrung entstammen, sondern liegt ihr voraus. Tatsächlich kommt die Position der Theoriengeleitetheit der Beobachtung in Whiteheads FR deutlich zum Ausdruck: »[…] wo man nichts Bestimmtes zu sehen erwartet, gibt es nichts, was die Aufmerksamkeit lenken und auf bestimmte Dinge richten könnte. Die neuartige Beobachtung, die sich rein zufällig ergibt, ist einer der seltensten Zufälle überhaupt – und sie bleibt meistens ohne Folgen, weil es kein Schema gibt, vor dessen Hintergrund ihre Bedeutung erkennbar würde.« (ebd.) Weniger eindeutig ist Whiteheads Position hinsichtlich einer Theoriengeleitetheit der Beobachtung dagegen in AI, wo er die Bildung von wissenschaftlicher Erkenntnis auf das »Zusammentreffen von zwei Erfahrungsordnungen« (orders of experience) zurückführt, einer »Beobachtungsordnung« (observational order) und einer »begrifflichen Ordnung« (conceptual order): »Denn wir sind ja immer schon im Besitz einer uns überkommenen Beobachtungsordnung, nach der sich die Typen von Dingen bestimmen, die wir faktisch unterscheiden, und ebenso im Besitz einer uns überkommenen begrifflichen Ordnung, nämlich der mehr oder weniger groben Vorstellungen, mit deren Hilfe wir die Dinge faktisch interpretieren. […] Und es trifft zwar ohne Zweifel zu, daß neuartige Beobachtungen die begriffliche Ordnung modifizieren; aber ebenso gilt ja auch, daß neuartige Begriffe uns auf neue Möglich185

Poser (1986), 114 f., 123. Den Begriff einer »revidierbaren Metaphysik«, der Whiteheads Kennzeichnung der eigenen Konzeption als »provisorischer Realismus« (SMW, 90 / 90) nahekommt, übernimmt Poser aus Körner (1970) und identifiziert auch dessen »kategoriale Rahmen« (categorial frameworks) mit Whiteheads Gedankenschemata; ebd., 117, 119. Vgl. auch Poser (1987), 214. Zu Whiteheads Ansatz im Hinblick auf Strawsons Unterscheidung von revisionärer und deskriptiver Metaphysik vgl. Lotter (1996), 46–48.

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keiten des beobachtenden Unterscheidens lenken.« (AI, 155 / 298 f.) Anders als in FR wird hier also nicht allein eine Theoriengeleitetheit der Beobachtung, sondern zugleich auch der umgekehrte Weg, gleichsam der einer Beobachtungsgeleitetheit der Theorienbildung bzw. der begrifflichen Ordnung, die wir mit Gedankenschemata identifizieren, in Rechnung gestellt. Die Gegenseitigkeit dieser Modifikation kommt besonders in Whiteheads Vorstellung eines Forschungsweges zum Ausdruck, wonach sich Gedankenschemata anhand von Beobachtungsergebnissen revidieren lassen und umgekehrt neue Beobachtungen durch ein strukturierendes Schema ermöglicht werden. Was dabei unklar bleibt, ist jedoch die Genese der Schemata selbst. Daß sie a priori gelten, eine durch Posers Parallelisierung mit Kants Denkformen erzwungene Interpretation, kollidiert schon damit, daß nach Whitehead für unser gesamtes gegenständliches Wissen, insofern es in zwei »Erfahrungsordnungen« aufgeht, Erfahrung konstitutiv ist. Daher kann der Versuch, ein Gedankenschema als relatives Apriori zu interpretieren, abgesehen von der Problematik dieses Begriffs selbst, nicht überzeugen. Insbesondere wird Posers Charakterisierung, ein solches relatives Apriori sei keinem korrespondenztheoretischen Wahrheitskriterium unterworfen,186 Whiteheads Konzeption nicht gerecht, da die für ein Gedankenschema maßgeblichen Spekulationskriterien der Anwendbarkeit und Adäquatheit187 gerade im Sinne eines solchen korrespondenztheoretischen Kriteriums zu verstehen sind. Damit ist nun noch kein positiver Ansatz gegeben, wie die Genese der Schemata, will man sie nicht a priori, sondern als Erfahrungsordnung verstehen, zu erklären ist. In FR, wo Whitehead von einer Priorität der begrifflichen Ordnung gegenüber der Beobachtungsordnung ausgeht, spricht er von einem »in Gestalt einer noch nicht geklärten Antizipation« (vaguer anticipation) gegenwärtigen Gedankenschema (FR, 73 / 60). In AI, wo er von einer Parallelität der Erfahrungsordnungen ausgeht, bezeichnet er die Frage einer Priorität als »– jedenfalls im Rahmen dieser Diskussion – völlig akademisch« (AI, 155 / 298). Die Frage der Priorität von begrifflicher Ordnung und Beobachtungsordnung wäre beantwortet bzw. würde sich nicht stellen, wenn Whitehead die erstere im Sinne von apriorischen Erfahrungsbedingungen verstanden wissen wollte. Auch wäre es unter der Voraussetzung von Gedankenschemata als »relativen Apriori« kaum sinnvoll, von einer 186 187

Poser (1986), 111. Vgl. 2.3.3.

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»noch nicht geklärten Antizipation« zu reden. Offenbar geht Whitehead, wie schon seine Differenzierung zweier »Erfahrungsordnungen« andeutet, nicht von der Annahme erfahrungsunabhängiger Erkenntnisstrukturen aus. Whitehead entwirft vielmehr aus gattungs- bzw. zivilisationsgeschichtlicher Perspektive das Bild eines undeutlichen Erfassens (apprehension) allgemeiner Begriffe (notions) bzw. Ideen (ideas), wodurch menschliches Leben »vorangetrieben«, d. h. im evolutionären Sinn begünstigt werde (AI, 24 / 110). Um zu ermöglichen, daß die Menschheit in ihrem Begreifen der »allgemeinen Natur der Dinge« voranschreite, müssen diese Ideen nicht einzeln, sondern in Form von Systemen erfaßt werden, wobei die Ideen wechselseitig zu ihrer Klärung beitragen.188 Den Prozeß einer wachsenden Allgemeinheit bzw. Synthese des Erfassens bezeichnet Whitehead als »langsamste aller evolutionären Veränderungen«. Diesen geistigen Entwicklungsprozeß zu fördern ist nach Whitehead Aufgabe der Philosophie (ebd.). Indem Whitehead von einem Vorantreiben menschlichen Lebens durch ein Erfassen von Ideen spricht (eines der Hauptmotive in AI ), nähert er sich seinen Ausführungen in FR an, wonach die Funktion der Vernunft darin bestehe, die Kunst des dort universal verstandenen Lebens zu fördern bzw. ein Übergehen vom Leben zum guten Leben und zum besseren Leben zu ermöglichen.189 Dort wie hier wird dieser melioristische Prozeß als Bestandteil eines allgemeinen Evolutionsgeschehens begriffen und dargestellt. Die Annäherung an ein Begreifen der »allgemeinen Natur der Dinge« durch das Hervorbringen von Systemen, innerhalb derer Ideen in Beziehung zueinander gesetzt werden, erfolgt mittels spekulativer Schemata. Whitehead beschreibt also die Herausbildung einer begrifflichen Erfahrungsordnung als evolutionären Prozeß der Systembildung. Ihr höchstmögliches Niveau, d. h. ihre höchste Allgemeinheit, erreicht diese Systembildung in der Entwicklung kosmologischer Schemata, die eine Interpretation unserer gesamten Erfahrungswirklichkeit leisten sollen, was, wie ausgeführt, einen Vergleich speziellerer untergeordneter Schemata impliziert. So beschreibt Whitehead 188

Die Formulierung »systems of ideas elucidating each other« verstehen wir also in dem Sinne, daß eine Klärung bzw. ein ›Erleuchten‹ die Ideen innerhalb eines Systems, nicht aber Ideensysteme untereinander betrifft, wie es Bubsers Übersetzung – durch den Bezug von »each« auf »systems« anstatt auf »ideas« – zum Ausdruck bringt. 189 Vgl. 2.2.

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Gedankenschemata also nicht im Sinne apriorischer Voraussetzungen von Erkenntnis, sondern im Sinne einer allgemeinen evolutionären Herausbildung.

2.3.3 Die Kriterien spekulativer Philosophie Das Hervorbringen kosmologischer Schemata durch die spekulative Vernunft (FR, 71 / 58) beruht ebenso wie das der spezielleren einzelwissenschaftlichen Schemata auf der Voraussetzung eines »methodisch geordneten Fortschreitens« (FR, 66 / 54). Zwar ist es ein wesentliches Charakteristikum der spekulativen Vernunft, von den methodischen Beschränkungen, denen die praktische, d. h. hier einzelwissenschaftliche, Vernunft unterworfen ist, frei zu sein, jedoch muß ein Überschreiten solcher methodischer Beschränkungen auf wiederum methodische Weise erfolgen, um der spekulativen Vernunft den »Charakter des Anarchischen« zu nehmen (ebd.). Dieser methodische Anspruch wird nach Whitehead durch den Begriff der Vernunft erfaßt, während der Begriff des Spekulativen auf dasjenige Moment verweist, was bereits als Freiheit von methodischen Beschränkungen bzw. als Überschreiten der einzelwissenschaftlichen Schemata angesprochen wurde.190 Die Kunst, methodische Beschränkungen der Einzelwissenschaften auf wiederum methodische Weise, d. h. mittels eines übergeordneten Schemas, zu überwinden, führt Whitehead auf die Griechen und deren Errungenschaft einer »Logik im weitesten Sinn des Wortes« zurück, nämlich der »Logik des Entdeckens« (logic of discovery), worunter er gleichsam eine Methodologie der Spekulation versteht (FR, 67 / 55). Diese »Logik des Entdeckens« impliziert bestimmte Kriterien, denen, wie Whitehead allgemein formuliert, der »Inhalt einer Annahme« (the content of a belief )191 zu unterwerfen ist. Whitehead nennt in FR die folgenden fünf Kriterien (ebd.): 1. Übereinstimmung mit der anschaulichen Erfahrung (conformity to intuitive experience)192 190

Vgl. 2.3.2. Wir weichen hier ab von Bubsers sehr freier Übersetzung von »criteria to which the content of a belief should be subjected« mit »Kriterien […], die eine treffende Beurteilung unserer Meinungen und Überzeugungen ermöglichen« (FR, 67 / 55). 192 Die Übersetzung von »intuitive« mit »anschaulich« ist problematisch. »Intuitive« dürfte hier eher im Sinne von »konkret« als Gegenbegriff zu »abstrakt« zu verstehen zu sein. 191

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2. 3. 4. 5.

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Klarheit des gedanklichen Inhalts (clarity of the propositional content) innere logische Konsistenz (internal logical consistency) äußere logische Konsistenz (external logical consistency) die Einordnung in ein logisches Schema, das (status of a logical scheme with)193 (a) weitgehend mit der Erfahrung übereinstimmt (widespread conformity to experience) (b) nirgendwo mit ihr in Konflikt gerät (no discordance with experience) (c) auf kohärenten Grundbegriffen bzw. Kategorien beruht (coherence among its categoreal notions) (d) bestimmte methodologische Konsequenzen hat (methodological consequences).

Hier stellen sich die Fragen, (i) wie diese Kriterien zu verstehen und in ihrem Verhältnis zueinander zu bestimmen sind, (ii) in welcher Beziehung sie zu denjenigen Kriterien stehen, denen Whitehead in PR sein eigenes kosmologisches Schema unterwirft, (iii) wie einige Kritikpunkte zu bewerten sind, die durch verschiedene Interpreten gegen die genannten Kriterien vorgebracht worden sind und (iv) welche Relevanz den Kriterien für Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive zukommt. (i) Whitehead sieht die Geschichte der Philosophie geprägt von der Konzentration auf die Entwicklung deduktiver Systeme bei gleichzeitiger Vernachlässigung einer kritischen Prüfung der dabei verwendeten Prämissen. Die Kriterien 1 bis 4 repräsentieren nun die für ihn allenfalls auf den ersten Blick einfachen und selbstverständlichen Gesichtspunkte, unter denen diese Prämissen zu prüfen sind. Als gleichermaßen grundlegend und schwierig sieht er den einer deduktiven Folgerung vorausgehenden Schritt an, Prämissen oder Aussagen daraufhin zu prüfen, ob sie mit der Erfahrung in exakter Weise übereinstimmen. Diese Schwierigkeit erscheint ihm zweifach begründet: Einerseits »ist es äußerst schwierig, irgendeinen Satz so klar und genau zu erfassen, daß man zu einer hinreichend vollständigen analytischen Zerlegung in seine Grundbestandteile 193

Ersichtlich ist »status of« mit »Einordnung in« in der dt. Übersetzung von FR nicht präzise wiedergegeben. Versteht man wie Bubser unter der »Annahme« (belief) einen Aussagezusammenhang (vgl. Anm. 191), so ist nach dem Kriterium 5 zu fordern, daß dieser den Status, d. h. die durch (a) bis (d) festgelegte Struktur oder Form eines logischen Schemas aufweist. Versteht man unter einer »Annahme« dagegen eine Einzelaussage (was Bubser aber gerade nicht tut), so ist im Sinne der Übersetzung die Möglichkeit der »Einordnung in« ein logisches Schema zu fordern.

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kommen könnte«, andererseits »ist es äußerst schwierig, die Erfahrung zu analysieren, ohne – möglicherweise fehlerhafte – Interpretationskomponenten einzuführen« (FR, 68 f. / 56). Eine Schwierigkeit besteht also darin, den gedanklichen Inhalt einer Aussage präzise zu erfassen bzw. zu analysieren, denn jede Aussage läßt verschiedene Interpretationen zu. Eine andere Schwierigkeit besteht darin, daß eine Analyse der Erfahrung an und für sich schon der Gefahr fehlerhafter Interpretationskomponenten unterliege. Demnach verteilt sich die Schwierigkeit der Beurteilung, ob eine Aussage in einem präzisen Korrespondenzverhältnis zur Erfahrung steht, auf die Seite der Analyse der zu beschreibenden Erfahrung, worauf das Kriterium 1 reagieren soll, und auf die Seite der Analyse der beschreibenden Aussage, worauf das Kriterium 2 reagieren soll. Bei den Kriterien 3 und 4 dagegen geht es um erfahrungsunabhängige Gesichtspunkte, die die einzelnen Aussagen als solche betreffen: Das Kriterium 3 der inneren logischen Konsistenz fordert die Widerspruchsfreiheit einer für sich betrachteten Aussage, während das Kriterium 4 der äußeren logischen Konsistenz das Verhältnis einer zu prüfenden Aussage zu anderen, bereits als wahr akzeptierten Aussagen betrifft. Das Kriterium 5 formuliert anders als 1 bis 4 nicht Gesichtspunkte zur Prüfung von einzelnen Aussagen, sondern von Aussagezusammenhängen oder -systemen. »Faktisch aber gibt uns dieses letzte Kriterium eine Prozedur an die Hand, die uns hilft, die Schwierigkeiten bei der Beurteilung einzelner Aussagen zu überwinden – durch den Rückgriff auf ein System von Ideen, die wechselseitig zu ihrer Klärung beitragen, weil jede für alle übrigen relevant ist, und bei denen vermöge ihres Zusammenhangs untereinander die Bestätigung der einen oder anderen gleichzeitig auch ein Beitrag zur Bestätigung der übrigen ist. Und wenn dieses System darüber hinaus noch gewisse Methoden einführt und erklärt, bedeutet dies, daß es Ideen erzeugt, die mit ihm in einem kohärenten Zusammenhang stehen und ständig überprüft und bestätigt werden können.« (FR, 69 f. / 56 f.) Die genannten Schwierigkeiten einer Umsetzung der Kriterien 1 und 2 bedeuten erst das Erfordernis weiterer Kriterien: »Wenn sich die ersten beiden Kriterien ohne jede Schwierigkeit anwenden ließen, wäre das selbstverständlich alles, was wir brauchten. Und wenn die Anwendung der ersten vier Kriterien problemlos wäre, wäre das fünfte überflüssig.« (FR, 69 / 56) Die genannten Kriterien sind also nicht gleichrangig bzw. nicht gleich elementar. So wie die Kriterien 3 und 4 lediglich die Anwendung von 1 und 2 sichern oder zumindest erleichtern sollen, so hat das Kriterium 5 dieselbe Aufgabe im Hinblick auf 1 bis 4 zusammen. Dem Kriterium 5 liegt die Vorstellung zugrunde, daß es eine stabilisie-

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rende Bedingung für Einzelaussagen ist, sich als funktionaler Bestandteil in ein Schema einzufügen, das seinerseits wiederum den Kriterien (a) bis (d) entsprechen muß, auf die noch eingegangen wird. Zunächst ist festzuhalten, daß nach dem Kriterium 5 alle spekulativen Gedankenschemata einschließlich eines kosmologischen den ›Status‹ eines logischen Schemas haben sollen, das sich in (a) bis (d) differenzieren läßt. (ii) Auch in PR formuliert Whitehead allgemeine Kriterien, die er nicht nur programmatisch an den Anfang seiner Konzeption stellt, sondern auch in seine Definition spekulativer Philosophie eingehen läßt: »Spekulative Philosophie ist der Versuch, ein kohärentes, logisches und notwendiges System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann.« (PR, 3 / 31)194 Den Begriff »Interpretation« will Whitehead so verstanden wissen, »daß alles, dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewußt sind, den Charakter eines besonderen Falles im allgemeinen System haben soll« (ebd.),195 womit nicht nur der grundsätzliche Gedanke einer Korrespondenz von System und Erfahrung, sondern auch der Anspruch einer vollständigen Subsumierbarkeit der Erfahrung unter ein einheitliches System ausgedrückt wird. Das Kriterium der Notwendigkeit erfährt eine differenzierende Auflösung in Whiteheads Erläuterung, das System solle »kohärent, logisch und, hinsichtlich seiner Interpretation, anwendbar und adäquat sein« (ebd.). Notwendigkeit wird dadurch also in zwei unterschiedliche, erfahrungsbezogene Kriterien aufgelöst, wobei Anwendbarkeit besagt, daß Erfahrung überhaupt durch das System erfaßt werden kann, während Adäquatheit besagt, daß Erfahrung vollständig, d. h. hinsichtlich aller Bereiche und unter Einschluß zukünftiger Erfahrung, durch das System erfaßt werden kann. Beide Kriterien erläutert Whitehead entsprechend im Sinne ihres Oberbegriffs der Notwendigkeit. Demnach besagt Anwendbarkeit: »Für die metaphysischen Prinzipien muß es immer Anschauungsmaterial geben.« (PR, 4 / 34) Das Kriterium der Adäquatheit erläutert Whitehead wie folgt unter Verwendung des Begriffs der Notwendigkeit: »Daher sollte das philosophische System in dem Sinne ›notwendig‹ sein, an sich schon Universalität für 194

Diese Bestimmung spekulativer Philosophie findet sich nahezu wortgleich in AI, 222 / 395; den Kursivdruck führen wir hier zur Hervorhebung der Kriterien ein. 195 Whiteheads Konzeption ist nicht nur mit dem Anspruch einer Interpretation von mentalen Erlebnissen verbunden, soweit sie von Bewußtsein begleitet sind, was die Formulierung an dieser Stelle nahelegt. Gemeint ist vielmehr, daß alles, was im weitesten Sinn kognitiv zugänglich ist, im Rahmen des Systems interpretierbar sein soll.

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alle Erfahrung zu gewährleisten, solange wir uns auf das beschränken, was mit den unmittelbaren Tatsachen in Verbindung steht.« (PR, 4 / 32) Whitehead betont mehrmals den Unterschied zwischen kosmologischen und einzelwissenschaftlichen Schemata durch Hervorhebung der Bedeutung des Adäquatheitskriteriums für Kosmologien (FR, 77, 86 / 63, 70). Dieses besagt, daß eine Kosmologie einzelwissenschaftliche Einschränkungen und Abstraktionen vermeiden und »alle Formen, die in der Welt exemplifiziert sind« – eine Formulierung, in der Whiteheads Platonismus deutlich zum Ausdruck kommt –, interpretierend erfassen müsse. Damit kann jedoch keine Beschränkung des Adäquatheitskriteriums auf Kosmologien gemeint sein. Auch einzelwissenschaftliche Schemata müssen an ihm gemessen werden, was dann universelle Anwendbarkeit im Hinblick auf einen ausgegrenzten Bereich der Erfahrungswirklichkeit bedeutet, während das Adäquatheitskriterium hinsichtlich einer Kosmologie universelle Anwendbarkeit auf einen prinzipiell nicht begrenzten Bereich der Erfahrungswirklichkeit verlangt. Das Adäquatheitskriterium fordert insofern universelle Anwendbarkeit im Hinblick auf ein jeweils unterschiedlich bestimmtes ›universe of discourse‹. Während also die Kriterien der Anwendbarkeit und der Adäquatheit die empirische Seite eines Systems betreffen und deshalb auch von Whitehead mit dem Zusatz »hinsichtlich seiner Interpretation« versehen werden, betreffen die von seiner Interpretation unabhängigen Kriterien der Kohärenz und Logik die rationale Seite des Systems. Die Bedeutung des Kohärenzkriteriums soll darin liegen, daß »die grundlegenden Ideen, anhand derer das System entwickelt wird, einander voraussetzen und isoliert betrachtet sinnlos wären« (PR, 3 / 31). Das Logikkriterium, dem der Terminus »logisch« nach Whitehead »in seiner herkömmlichen Bedeutung« zugrundeliegt (PR, 3 / 32), bezieht sich »auf die innere ›Logik‹ oder Widerspruchsfreiheit« des Systems. Schon die Tatsache, daß FR und dort besonders Kap. 3 als eine Programmskizze zu PR gelesen werden kann, läßt es naheliegend erscheinen, daß die in beiden Schriften vorkommenden Kriterien-Aufstellungen, obwohl sie nicht identisch sind, in einer engen Korrespondenz zueinander stehen. Im einzelnen entsprechen offenbar die vier in PR genannten und zugrundegelegten Kriterien dem in (a) bis (d) differenzierten Kriterium 5.196 Dies ist sachlich begründet, da es ja in PR um 196

Die Auffassung von Rust (1987), 63, wonach die Kriterien in FR anders als in PR nur im Hinblick auf bestimmte ausgegrenzte Erfahrungsbereiche bzw. auf Einzelwis-

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Kriterien für ein System und nicht für Einzelaussagen geht, und wird auch dadurch bestätigt, daß Whitehead in PR von Kriterien hinsichtlich eines Systems oder Schemas spricht, während er in FR die Kriterien 1 bis 4 im Hinblick auf Aussagen (propositions), gelegentlich auch Prämissen (premises), formuliert. Die Zuordnungsfähigkeit der Kriterien der Anwendbarkeit, Adäquatheit und Kohärenz in PR zu den Kriterien 5 (a) bis (c) in FR ist schon vom Wortlaut her offensichtlich. Erläuterungsbedürftig bleibt in dieser Hinsicht aber das Kriterium der Logik. Clarke interpretiert dieses in seiner auf PR beschränkten Untersuchung im speziellen Sinn der in den Principia Mathematica entwickelten ›logischen Konstruktion‹ (logical construction),197 muß dann aber feststellen, daß PR einem derartigen axiomatischen Aufbau letztlich kaum entspricht.198 Hieraus und aus dem Umstand, daß Whitehead den rationalen Kriterien für ein spekulatives Schema insgesamt nur geringen Raum gewidmet habe, schließt Clarke, daß Whitehead in PR nur eine Einlösung der empirischen Seite seines Systemprogramms beanspruche, während eine logische Systematisierung dort nur eingefordert, aber nicht realisiert sei.199 Entgegen dieser zugleich vagen und voraussetzungsreichen Interpretation ergibt sich, nimmt man die aus Gründen der Symmetrie unseres Kriterien-Vergleichs zu erwartende Identifizierbarkeit des Logikkriteriums mit dem Kriterium 5 (d) an, eine auf wissenschaftliche Gedankenschemata generell bezogene allgemeinere Auslegung. Da das Kriterium der Logik sich nicht nur »auf die innere ›Logik‹ oder Widerspruchsfreiheit« bezieht, sondern auch »die logische Bestimmung von Konstrukten, die Veranschaulichung logischer Allgemeinbegriffe durch Einzelfälle und die Prinzipien der Schlußfolgerung« einschließt (PR, 3 / 32), scheint es im Sinne von 5 (d) verstehbar, wonach ein System »bestimmte methodologische Konsequenzen« hat (FR, 68 / 55) bzw. »gesenschaften formuliert werden, ist nicht einsichtig, da auch in FR die spekulative Kosmologie als ein Gedankenschema neben anderen behandelt wird, für die der dort aufgestellte Kriterienkatalog relevant sein soll (FR, 76 ff. / 62 ff.). 197 Clarke (1982), 518: »By the technique of logical construction, I mean the technique of explicating and organizing a set of concepts by constructing a set of definitions, based on some primitive, or undefined term, or terms, and utilizing the logical terms, which have also been constructed along the same lines. The primitives, both logical and non-logical, are governed by a set of axioms, from which, along with the definitions, the necessary truths of the system are derived by the logical principles of inference.« 198 Ebd., 523. 199 Ebd., 524.

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wisse Methoden einführt und erklärt« (suggesting methodologies of which it is explanatory) (FR, 69 / 56 f.). Dabei geht es offenbar um mehr als um logische Verhältnisse zwischen vorliegenden Sätzen und die Frage, wie man sie begründen bzw. ihre Gültigkeit legitimieren kann, nämlich darum, wie man neue Sätze finden kann. Das Kriterium 5 (d) bezeichnet so den Aspekt des Entdeckens in der von Whitehead hervorgehobenen genuin griechischen ›logic of discovery‹ und konnotiert zugleich Whiteheads Methode der phantasievollen Verallgemeinerung, die nach Whitehead »wahre Forschungsmethode«, die einem Gedankenschema Erweiterungen seines Anwendungsbereichs ermöglicht. Insofern also die vier Kriterien in PR den Kriterien 5 (a) bis (d) in FR entsprechen, bilden sie die Kriterien, an denen Whitehead seinen Entwurf einer Kosmologie als logisches Schema orientieren will. Freilich werden damit für die Einzelaussagen der Kosmologie zugleich die Kriterien 1 bis 4 aus FR in Anspruch genommen, da das Kriterium 5, wie ausgeführt, nur deshalb gefordert wird, da es eine Realisierung von 1 bis 4 erleichtert. Entspricht ein Gedankenschema dem Kriterium 5, so entspricht es nach Whitehead zugleich immer auch den Kriterien 1 bis 4. Dem Kriterium 5 entspricht es dann als Schema, den Kriterien 1 bis 4 entsprechen die einzelnen Aussagen, die das Schema bilden. Zum Begriff »Kohärenz« ist hervorzuheben, daß Whitehead diesen nicht ausschließlich in der Bedeutung eines Kriteriums für spekulative Schemata verwendet. Die methodologische Bedeutung, wonach »Kohärenz« die Relation bezeichnet, in der die Grundbegriffe von Gedankenschemata zueinander stehen sollen, beruht nach Whiteheads Konzeption vielmehr auf einer ontologischen Kohärenz auf seiten des durch das Schema Beschriebenen, und zwar wiederum in zweierlei Bedeutung: Zunächst setzt Kohärenz im methodologischen Sinn eine Kohärenz bzw. einen Funktionszusammenhang aller Einzelwesen im Universum voraus.200 Diese ontologische Kohärenz, wonach »kein Einzelwesen in vollständiger Abstraktion vom System des Universums gedacht werden kann« (PR, 3 / 31; vgl. 67 / 140), setzt wiederum eine ontologische Kohärenz im Sinne des Resultats des Werdeprozesses eines Einzelwesens voraus, den Whitehead als »Transformation von Inkohärenz in Kohärenz« definiert (PR, 25 / 69 f.; vgl. 7 / 38). Das methodologische Kriterium der Kohärenz bezogen auf eine Kosmologie im Sinne Whiteheads fordert also, daß die Grundbegriffe 200

Vgl. Fetz (1981), 24. Zu Whiteheads Begriff des wirklichen Einzelwesens vgl. bes. 3.2.

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des Systems die Bestandteile des zu beschreibenden Universums als kohärente Bestandteile beschreiben und erklären. Schon Bubser bemerkt daher bezogen auf dieses Kriterium treffend, damit sei »aus einer rein logischen Technik unversehens etwas ganz anderes geworden, nämlich eine der zentralen Thesen des englischen Hegelianismus, nach der Aussagen nur dann im vollen Sinn des Wortes wahr sein könnten, wenn sie eine systematische Übersicht über die Welt im ganzen gäben.«201 Diese Interpretation kann sich auf Whiteheads Ausführungen berufen, wonach sich »jede Aussage auf ein Universum bezieht, das einen allgemein systematischen, metaphysischen Charakter erkennen läßt. […] Daher muß jede Aussage, die eine Tatsachenbehauptung aufstellt, in ihrer vollständigen Analyse den allgemeinen Charakter des Universums festlegen, der für diese Tatsache vorausgesetzt wird. Es gibt keine selbständigen Tatsachen, die im Nichts treiben.« (PR, 11 / 45 f.) Hier wird die Auffassung deutlich, daß der Konzeption eines kosmologischen Schemas oder Systems eine Annahme über seinen Objektbereich vorausgehen muß, nämlich die Annahme einer ontologischen Kohärenz in dem oben erwähnten Sinn eines Funktionszusammenhangs aller Einzelwesen, die ihrerseits eine ontologische Kohärenz als Resultat des Werdeprozesses eines Einzelwesens voraussetzt: »Die Kohärenz, nach der das System strebt, liegt in der Einsicht, daß der Prozeß, oder die Konkretisierung jedes wirklichen Einzelwesens, die anderen wirklichen Einzelwesen als seine Bestandteile enthält. Auf diese Weise erklärt sich die offensichtliche Solidarität der Welt.« (PR, 7 / 38) So beruht also die Bedeutung des methodologischen Kohärenzkriteriums auf von vornherein unterstellten metaphysichen Grundannahmen. Zwar sind diese deshalb nicht auf den »Status von Behauptungen« zu reduzieren,202 da sie ja gleichzeitig den 201

Bubser (21979), 279 f. So die These von Kasprzik (1988), 30, die u. a. den Zusammenhang von methodologischem und ontologischem Kohärenzkriterium analysiert und hypothetisch versucht, Whiteheads Position durch den Aufweis zu stärken, daß nicht nur das methodologische Kriterium Whiteheads ontologischen Grundannahmen folgt, sondern auch umgekehrt dieses Kriterium »Bedingungen vorgibt, derentwegen die Natur des Seienden als Zusammenhangbilden bestimmt werden muß«, so daß also zwischen Kohärenz als methodologischem und als ontologischem Kriterium ein »wechselseitiges Bedingungsverhältnis« bestehe. Dies ist freilich nur dann möglich, wenn für die Ebene des Beschreibenden und des Beschriebenen dieselben Prinzipien angenommen werden. So wäre nach Kasprzik ein Sich-Selbst-Ausgrenzen von Theorie bzw. Philosophie aus dem Seienden zugunsten eines beides umfassenden »allgemeinsten Begriffs« vermieden. Es bleibt aber fraglich, ob dies Whiteheads Intentionen entspricht, da er sich einerseits mit einer auf dem Vorwurf solchen Sich-Selbst-Aus202

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empirischen Kriterien Anwendbarkeit und Adäquatheit unterworfen sind. Gleichwohl kann eine Schwierigkeit darin gesehen werden, daß Whitehead Kriterien für ein System formuliert, das die Erfahrungswirklichkeit interpretieren soll, dabei aber im methodologischen Vorfeld der Systembeschreibung zumindest beim Kohärenzkriterium schon metaphysische Annahmen relevant werden läßt, die sich eigentlich erst innerhalb des methodologisch abgesicherten Systems ergeben dürften. Hierauf wäre jedoch aus Whiteheads Perspektive zu antworten, daß die Grundannahme einer metaphysischen Kohärenz überhaupt erst Bedingung für ein Interpretationsmodell mit universellem Anspruch bzw. für Metaphysik ist, da Whitehead es als deren wesentliche Eigenschaft ansieht, daß sie überall geltende Prinzipien formuliert. Insofern beruht für ihn die Möglichkeit von Metaphysik auf der Grundannahme einer ontologischen Kohärenz, so daß von ihr als beschreibendem System zu fordern ist, daß sie dieser Grundannahme entspreche. Für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem die methodologische Bedeutung von »Kohärenz« von Interesse. Diese weist aber ihrerseits eine Mehrdeutigkeit auf, insofern Whitehead das Kriterium der Kohärenz in FR auf ein System als Zusammenordnung von Aussagen, in PR aber auf ein System als Zusammenordnung von Begriffen zu beziehen scheint. In FR wird eine Kohärenz von Ideen unter Hinweis darauf postuliert, daß »einzelnen Aussagen« eine gegenüber einem »System von Ideen« geringere Interpretationsqualität zukomme, da innerhalb eines Systems eine Idee die »Bestätigung« (verification) einer anderen gewährleisten könne (FR, 69 / 56). Entgegen diesen Ausführungen, die also Kohärenz für die Aussagen eines Systems fordern, bezieht Whitehead in PR Kohärenz auf ebenfalls als Ideen bezeichnete »Begriffe« (notions) und »Grundbegriffe« (PR, 3 / 31) .203 (iii) Whiteheads Kriterien für ein spekulatives Schema sind von verschiedenen Interpreten in mehrfacher Hinsicht kritisiert oder auch mißverstanden worden. Einwände sind dabei vor allem auf einzelne Kriterien als solche sowie Whiteheads Erläuterungen dazu, auf das Verhältnis bestimmter Kriterien zueinander und auf Whiteheads Versuch der methodologischen Systemabsicherung als ganze bezogen. Welker krigrenzens beruhenden Metaphysik-Kritik, der man nach Kasprzik so entgehen könnte, nicht befaßt und andererseits von einer einseitigen Bedingtheit von Theorie durch ontologische Grundstrukturen auszugehen scheint. 203 Die Frage nach Aussagen oder Begriffen offenlassend paraphrasiert Hauskeller (1994), 20, Kohärenz als »die notwendige Bezogenheit aller Glieder des Systems aufeinander«.

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tisiert die Kriterien insgesamt als »unglückliche Exposition«, die die Vorurteile gegen Whiteheads Konzeption nicht nur nicht abzubauen vermöge, sondern sogar noch verstärke, ohne aber zu einer eigentlichen Sachkritik zu gelangen.204 Einwände aller drei genannten Typen werden von Bubser vorgebracht.205 Ausgehend von Whiteheads oben analysierter Definition der spekulativen Philosophie, die er insgesamt als »höchst irritierend und erläuterungsbedürftig« bezeichnet, wendet sich Bubser einer Interpretation der vier Kriterien Logik, Kohärenz, Anwendbarkeit und Adäquatheit in PR zu. Während er das Kriterium der Logik nicht weiter erläutert – Whitehead selbst will, wie erwähnt, Logik hier einfach »im üblichen Sinne« verstanden wissen –, erscheinen Bubser die übrigen Kriterien problematisch. In der geforderten Eigenschaft der Kohärenz, wonach die Ideen eines Systems »einander voraussetzen und isoliert betrachtet sinnlos wären« (PR, 3/31), sieht Bubser »das Verfahren der impliziten Definition« angedeutet.206 Einmal abgesehen davon, daß dabei offenbleibt, welches Verständnis des in der wissenschaftstheoretischen Literatur sehr uneinheitlich verwendeten Begriffs der impliziten Definition hier zugrundegelegt wird, erscheint fraglich, ob ein solches Verfahren hier den Intentionen Whiteheads entspricht. Die geforderte Kohärenz der Ideen, so Whitehead, »besagt […] nicht, daß sie sich gegenseitig definieren ließen; es bedeutet lediglich, daß das Undefinierbare in einem solchen Begriff nicht von seiner Relevanz für die anderen Begriffe abstrahiert werden kann. Es wäre das Ideal spekulativer Philosophie, wenn sich ihre Grundbegriffe nicht so darstellten, als seien sie voneinander abstrahierbar.« (ebd.) Kohärenz in diesem Sinne ist also ein Erfordernis im Hinblick auf die Grundideen des Systems, insoweit sie gerade nicht ineinander aufgehen bzw. voneinander abstrahierbar sind. Der Begriff der Relevanz, den Whitehead auch in FR als Erklärungsbegriff für (dort aber auf Aussagen bezogene) Kohärenz verwendet, bezieht sich gerade auf die »undefinierbaren« bzw. nicht voneinander abstrahierbaren Bedeutungsmomente der Grundbegriffe oder -ideen eines Systems. Der Begriff der Relevanz kann in der Weise veranschaulicht werden, daß bestimmte Begriffe a, b, c, d, usw. vorgestellt werden, von denen jedem eine bestimmte Gruppe von Bedeutungsmomenten zukommt, z. B. dem Begriff a die Bedeutungsmomente A, B, C, dem Begriff b die Bedeutungsmomente B, 204 205 206

Welker (31985), 272–274. Bubser (21979), 278 ff. Ebd., 279; vgl. auch Fetz (1981), 24.

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C, D, dem Begriff c die Bedeutungsmomente C, D, E und dem Begriff d die Bedeutungsmomente D, E, F. Keinem der (als nicht synonym vorausgesetzten) Begriffe kommt eine identische Gruppe von Bedeutungsmomenten zu. Von Begriff zu Begriff kommen aber Übereinstimmungen von Bedeutungsmomenten vor, was ihre ›Relevanz‹ füreinander ausmacht. Dabei kann es der Fall sein, daß Begriffe in keinem Bedeutungsmoment direkt übereinstimmen, wie in unserem Beispiel a und d, deren Relevanz füreinander aber in der durch die anderen Systembegriffe b und c vermittelten Übereinstimmung von Bedeutungsmomenten besteht. Bezogen auf das Kriterium der Anwendbarkeit wirft Bubser die Frage auf, ob dieses »angesichts so außerordentlich starker Forderungen wie dem Kohärenz- und dem Adäquatheitspostulat« nicht »leerlaufen« müsse.207 Dazu ist zunächst zu sagen, daß der Anwendbarkeit als empirischem Kriterium an sich schon ein ganz anderer Status zukommt als dem rationalen Kriterium der Kohärenz, so daß eines das andere nicht überflüssig machen kann.208 Die unterschiedlichen Aufgaben des Anwendungs- und des Adäquatheitskriteriums indessen werden durch Whiteheads metaphorische Skizzierung der »wahren Forschungsmethode« sichtbar: Diese geht aus von der Grundlage einzelner Beobachtungen, wodurch Anwendbarkeit gewährleistet werden soll. In einem zweiten Schritt hebt die Methode von diesem Ausgangspunkt ab, »schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschärft sind« (PR, 5 / 34).209 In diesem dritten Schritt ist die Forschungsmethode am Kriterium der Adäquatheit, d. h. der Kompatibilität mit einem erweiterten Anwendungsbereich zu messen. Die Kriterien bilden insofern keine gleichstufige ›Checkliste‹, sondern stehen für verschiedene Schritte in einem methodisch geordneten Verfahren. Da also die Kriterien Anwendbarkeit und Adäquatheit in unterschiedlichen Sta207

Bubser (21979), 280. 208 Dasselbe wäre der hypothetischen Überlegung von Kasprzik (1988), 27, 29, ob das Kohärenzkriterium auf das Adäquatheitskriterium reduzierbar sei, entgegenzuhalten. 209 Vgl. PR, 16 f. / 55 f.; dieselbe ›Forschungsmethode‹ scheint Whitehead auch in FR zu meinen, wo er den »spekulativen Gedankenflug« (speculative flight) als einen »Übergang vom Denken zu Praxis […] und von der Praxis wieder zurück zum Denken«, als ein »Wechselspiel« zwischen beidem, bezeichnet (FR, 80 f. / 66). – Zu einem interessanten Vergleich dieser Methode mit dem Zusammenwirken von Deduktion, Induktion und Abduktion nach Peirce vgl. Clarke (1982), 524 f.

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dien dieses Verfahrens relevant werden, können sie sich nicht in der von Bubser angedeuteten Weise überflüssig machen. Nur wenn man beide Kriterien im nachhinein auf ein fertig vorliegendes System bezöge, könnte sich die Frage stellen, ob das der Anwendbarkeit in dem der Adäquatheit aufginge. In positiver, dabei aber nicht unproblematischer Weise nimmt Poser Whiteheads Kriterien auf.210 In seiner Skizzierung einer »revidierbaren Metaphysik« orientiert er sich an der (späteren, nicht mehr antimetaphysischen) Position Ayers, der Metaphysik als »sekundäres System« auffaßt, das, anders als die »primären Systeme« der Einzelwissenschaften, keinen Verifikations- und Falsifikationsbedingungen unterworfen sei.211 »Seine Rechtfertigung erfährt ein solches umgreifendes sekundäres System allein aufgrund seines Erklärungswertes, den es vermöge seiner ›Anordnung der Tatsachen‹ der primären Systeme hat.«212 Daß Poser auch Whiteheads Konzeption ohne weiteres im Sinne eines solchen, keinen korrespondenztheoretischen Wahrheitskriterien unterliegenden sekundären Systems interpretieren bzw. exemplarisch nennen kann, verdankt sich nicht zuletzt einer teilweisen Mißdeutung von Whiteheads Kriterien. Denn nachdem Poser zunächst neben den vier in PR formulierten Kriterien das der Notwendigkeit als zusätzliches fünftes Kriterium angesehen hatte,213 während wir, wie ausgeführt, »Notwendigkeit« hier lediglich als Oberbegriff zu »Anwendbarkeit« und »Adäquatheit« verstehen,214 berücksichtigt er schließlich nur noch drei Kriterien, nämlich Kohärenz, Logik und Notwendigkeit,215 wobei er das letztere zwar als »Universalität« paraphrasiert, jedoch offenbar als rationales Kriterium versteht. Die Kriterien der Anwendbarkeit und Adäquatheit, die nach Whitehead den empirischen Aspekt der Geltungssicherung eines Systems ausmachen, läßt Poser, aus dessen eigener Sicht es nicht möglich ist, für Metaphysik »einen Wahrheitsanspruch qua Korrespondenz aufrecht zu erhalten«,216 hier unerwähnt. Diese beiden Kriterien indessen sind gerade im Hinblick auf Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit zu 210

Poser (1986); ders. (1987), 209–211. Zu der auf Ramsey zurückgehenden Unterscheidung primärer und sekundärer Systeme vgl. Ayer (1973), 33, 107, 140–147. 212 Poser (1987), 210. 213 Poser (1986), 123. 214 Dieselbe Auffassung vertritt Clarke (1982), 517, indem er Anwendbarkeit und Adäquatheit als Erklärung für Notwendigkeit ansieht. 215 Poser (1987), 210. 216 Ebd., 232. 211

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verstehen und verhindern insofern eine Identifizierung von Whiteheads Konzeption mit einem sekundären System im Sinne Ayers. Trotz der erwähnten Mängel und Schwierigkeiten – insbesondere die Mehrdeutigkeit des Ideenbegriffs und die Voraussetzungshaftigkeit von Kohärenz als methodologisches Kriterium – ist der Versuch, überhaupt methodologische Kriterien für eine metaphysische Konzeption zu formulieren, insofern sinnvoll, als ihm die Intention zugrundeliegt, eine differenzierende Begründung des Wahrheitsanspruchs zu leisten, der mit entsprechenden Konzeptionen meist unausgesprochen verbunden ist. Neben dieser Intention ist es besonders die Verbindung von empirischen und rationalen Kriterien, die Whiteheads methodologische Konzeption als gelungene Systemabsicherung erscheinen läßt.

2.3.4 Spekulationskriterien und Philosophiegeschichte Der Begriff des spekulativen Schemas und seiner Kriterien ist nicht nur auf seine systematische Bedeutung hin zu befragen, er ist auch für eine Rekonstruktion der philosophiegeschichtlichen Prämissen Whiteheads in zweierlei Weise relevant: (i) Whiteheads Kritik an seinen Bezugsautoren läuft in der Regel darauf hinaus, daß deren Konzeptionen einem oder mehreren dieser Kriterien nicht oder nur in einem eingeschränkten Sinn gerecht werden. Sie stellen also einen Bewertungsmaßstab spekulativer Systeme der Vergangenheit dar. Nahezu alle wichtigen philosophiegeschichtlichen Bezugnahmen Whiteheads sind damit verbunden, daß er der jeweiligen Position eine Orientierung an einem oder mehreren Kriterien zu- oder abspricht. Als Verstöße gegen das Kriterium der Kohärenz betrachtet Whitehead z. B. den cartesischen Dualismus217 und die Lehre von den Substanzen und ihren Modi bei Spinoza,218 obgleich dessen Philosophie »Descartes’ Position zu größerer Kohärenz modifiziert« (PR, 6 / 37). Die 217

»Inkohärenz ist die willkürliche Zusammenhanglosigkeit zwischen den Grundprinzipien. In der modernen Philosophie wird Inkohärenz durch Descartes’ Zweiteilung in körperliche und geistige Substanzen veranschaulicht. Es gibt in Descartes’ Philosophie keinen Grund, warum es nicht eine Welt geben sollte, die nur aus geistigen oder nur aus körperlichen Substanzen aufgebaut ist.« (PR, 5 / 37) 218 »Spinoza beginnt mit einer Substanz, die causa sui ist, und betrachtet ihre wesentlichen Attribute sowie ihre individualisierten Modi, d. h. die ›affectiones substantiae ‹. Der Bruch im System entsteht durch die willkürliche Einführung der ›Modi‹.« (PR, 6 f. / 37)

Spekulationskriterien und Philosophiegeschichte

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Qualität von Lockes Treatise Concerning Human Understanding sieht Whitehead weniger in dessen »Folgerichtigkeit« als in dessen Adäquatheit (PR, 51 / 112). Generell wirft Whitehead den Kosmologien der Vergangenheit vor, inadäquat zu bleiben und den »zulässigen Anwendungsbereich ihrer spezialisierten Begriffe« zu überschreiten (FR, 88 / 72). (ii) Whitehead führt die Idee eines spekulativen Schemas mit seinen Kriterien auf die Griechen zurück, denen er das Verdienst zuschreibt, die Möglichkeit eines methodisch geordneten Fortschreitens der spekulativen Vernunft entdeckt zu haben (FR, 66 f. / 54 f.). Konkrete Angaben darüber, wo er die Kriterien wissenschaftlich-methodischen Vorgehens, die für ihn die »Logik des Entdeckens« ausmachen, erstmalig ansatzweise formuliert oder auch realisiert sieht, macht Whitehead jedoch nicht. Freilich liegt es nahe, in diesem Zusammenhang zunächst an Aristoteles zu denken. So sieht auch Whitehead die starke mittelalterliche Orientierung an Aristoteles darin begründet, daß sich aus dessen Philosophie ein »kohärentes Gedankensystem« habe ableiten lassen, wobei aber die »logische Kohärenz«,219 die diese Quelle verbürgte, das scholastische Defizit an »direkter Beobachtung« als kritisches Korrektiv nicht kompensieren konnte (AI, 117 / 245).220 Während sich die aristotelische Philosophie durchaus als ein Gedankensystem im Sinne von Whiteheads Kriterien begreifen läßt, trifft dies auf die platonische Philosophie in weitaus geringerem Maße zu, da diese kaum als System, das den »Status eines logischen Schemas« im Sinne des fünften Kriteriums aufwiese, gelten kann, was auch Whitehead deutlich moniert. Demnach ist Platon 219

Den Begriff der logischen Kohärenz, den Whitehead auch in Bezug auf Euklids Lehrbuch der Geometrie (AI, 105 / 226) sowie auf die Metaphysik Spinozas (PR, 73 / 150) verwendet, verstehen wir im methodologischen Sinn und damit im Gegensatz zu dem ontologisch oder metaphysisch verwendeten Kohärenzbegriff. 220 Die Textstelle lautet im Original: »They [i. e. the Scholastics] trusted Aristotle because they could derive from him a coherent system of thought. […] They trusted to the logical coherence of the system as a guarantee of the unrestricted relevance of his primary notions.« In Bubsers Übersetzung wird »the system« mit »seines Systems«, d. h. dem des Aristoteles, anstatt mit »des Systems«, d. h. des von den Scholastikern aus den aristotelischen Schriften abgeleiteten Systems, wiedergegeben, was den Sinn verschiebt. Aus Whiteheads Sicht muß die logische Kohärenz eines Systems tatsächlich die gegenseitige Relevanz seiner eigenen Grundbegriffe garantieren. Indessen wirft er den Scholastikern vor, von den aristotelischen Grundbegriffen her ein kohärentes System zu entwickeln und von diesem aus jenen Grundbegriffen gegenseitige Relevanz nur zu unterstellen, wobei sie verkannten, daß die Hauptideen des Aristoteles teils aus der Bekanntschaft mit Erfahrungstatsachen und teils aus spekulativen bzw. prinzipiellen Erwägungen, d. h. aus ganz disparaten Quellen, resultierten.

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»nie ganz konsistent, explizit und frei von Mehrdeutigkeiten« und bewegt sich in seinem »fragmentarischen System wie jemand, den sein eigener Scharfblick geblendet hat« (AI, 146 f. / 286). Whitehead lobt Platon gleichermaßen als »größten aller Metaphysiker«, wie er ihn als »schwächsten Systematiker« kritisiert: »Überhaupt waren die Fehlschläge seiner systematischen Versuche ja fast ebenso unfehlbar wie die Tiefe seiner metaphysischen Einsichten […].« (AI, 166 / 315) Während sich diese Beurteilung auf Platons Systematik generell bezieht, finden sich bei Whitehead Bemerkungen auch dazu, wie er die einzelnen Kriterien bei Platon realisiert sieht: »[…] im siebenten Brief bestreitet er ausdrücklich die Möglichkeit eines adäquaten philosophischen Systems. Die Moral seiner Schriften ist, daß alle Standpunkte, denen vernünftige Kohärenz und in gewissem Sinne Anwendbarkeit zu eigen ist, etwas zu unserem Verständnis des Universums beizutragen haben […].« (AI, 52 / 149 f.)221 Aber auch das Kriterium der Kohärenz findet Whitehead bei Platon selbst nicht realisiert. Interpretationsversuche, die die Philosophie Platons als ein »kohärentes System« rekonstruieren, finden sich früher oder später mit der Tatsache konfrontiert, daß Platon an anderer Stelle eben die »Irrlehren« vertrete, die mit dem »vermeintlichen System« unverträglich sind (AI, 105 / 227). Den Entwurf eines solchen kohärenten Systems sieht Whitehead aber gerade als die zentrale Aufgabe der Philosophie an. Diese hat von sieben metaphysischen Grundelementen aus den späten Dialogen Platons auszugehen – er nennt die Ideen, die physischen Elemente, die Psyche, den Eros, die Harmonie, die mathematischen Beziehungen und den Raum bzw. das Worin 222 – und diese mit der Zielsetzung eines »kohärenten Systems« zu modifizieren und zu koordinieren, das bei Platon noch nicht vorliegt (AI, 275 / 478; vgl. 129 / 261).223 Ein solches System zu realisieren, ist Whiteheads Anspruch in PR. 221

Whitehead bezieht sich hier offenbar auf die Textstelle 341 c, die er später im Sinne der platonischen Position deutet, ein endgültiges System sei nicht sprachlich formulierbar (AI, 147 / 287). Dabei dürfte Whitehead weniger im Blick haben, daß Platon sich im siebenten Brief gegen die Möglichkeit einer adäquaten Verschriftlichung philosophischen Wissens wendet, als vielmehr an dessen zugleich vertretene Auffassung denken, daß eine vollständige und sichere Erkenntnis dem Menschen nicht möglich sei (vgl. auch Parmenides, 134 c f.), was Whiteheads Sichtweise entspricht, wonach die Adäquatheit eines philosophischen Systems immer nur annäherungsweise möglich ist. Vgl. 2.3.3. 222 Vgl. 1.3.3. 223 Zu Platons rudimentärer Einsicht in die Möglichkeit systematischen Ordnens von Wissen und zu entsprechenden Ansätzen vgl. Hare (1990), 126 ff.

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In Whiteheads Äußerungen, ob bzw. inwieweit in Platons Philosophie Systematik und Spekulationskriterien realisiert seien, stehen unseres Erachtens verschiedene Aspekte letztlich unvermittelt nebeneinander. Neben der krassen Kritik fehlgeschlagener Systematik steht der dem siebenten Brief entnommene ausdrückliche Verzicht Platons auf Endgültigkeit. Hinzu kommt noch Whiteheads Verweis auf mißlungene Versuche von Platon-Interpreten, dort Systematik zu suchen bzw. zu unterstellen, wo sie tatsächlich nicht vorliege, sei es infolge eines Mißlingens oder eines Verzichts. Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß Whitehead bei Platon Systemansprüche und Spekulationskriterien formuliert, aber nicht realisiert sieht. »[…] Platon hat uns kein System der Metaphysik hinterlassen.« (AI, 275 / 479) Insofern stellt seine Konzeption den Versuch dar, einen dort schon vorgegebenen, aber noch nicht maßgeblichen bzw. wirksamen Kriterien verpflichteten Beitrag zur Interpretation der Erfahrungswirklichkeit zu leisten. Dem steht auch nicht entgegen, daß Platon die Adäquatheit eines Systems für unerfüllbar erachtet, die bei Whitehead aber gleichwohl als Kriterium formuliert wird. Adäquatheit eines Systems im Sinne Whiteheads ist ein Ideal, dem sich metaphysische Konzeptionen asymptotisch annähern. Die Tatsache, daß sich Platons Philosophie allenfalls auf einer sehr frühen Annäherungsstufe befindet, ist natürlich und unproblematisch. Das Kriterium der Adäquatheit ist immer zugleich Anspruch an ein System und Maßstab, der zu neuen hypothetischen Systemen herausfordert. Die Zurückführung auf griechisches Denken macht deutlich, daß es sich bei den Kriterien für ein spekulatives Schema nicht um eine Besonderheit bzw. eine methodologische Eigentümlichkeit innerhalb Whiteheads eigener Konzeption handelt, als welche die Interpreten sie meist anzusehen scheinen. Vielmehr haben diese Kriterien zumindest aus seiner Sicht – und sei es nur in Form eines unerfüllten Anspruchs – seit alters her philosophische Spekulation reguliert bzw. geprägt. Mit seinen Kriterien für ein spekulatives Schema will Whitehead ein im griechischen Denken angelegtes, durch die vorgängige Philosophietradition nur unvollkommen realisiertes Systemprogamm umsetzen. Wie das kosmologische Schema, das aktuell gestaltet wird, aus einer kritischen Auseinandersetzung mit seinen historischen Vorläufern erwachsen soll, so werden auch die aktuell formulierten Kriterien nicht ad hoc aufgestellt, sondern gehen aus einem Verfahren der geschichtlichen Vergewisserung der eigenen Position und des eigenen Anspruchs hervor.

3 Geschichte der Philosophie

3.1 Platon: Die Kosmologie des Werdens als Prozeß-Paradigma Für die Whitehead-Interpretation ist seit jeher strittig, ob Whiteheads philosophische Kosmologie mehr an Platons Timaios orientiert oder mehr dem aristotelischen Denken verpflichtet ist.224 Diese Kontroverse soll hier nicht aufgegriffen oder erneuert werden. Es ist aber jedenfalls darauf hinzuweisen, daß die Auffassung, nach der bei Whitehead platonische Einflüsse dominieren, gegenüber der eine Aristoteles-Orientierung behauptenden und betonenden Interpretation den Vorzug hat, nicht auf spekulative Rekonstruktionen oder Thesen angewiesen zu sein, sondern sich auf eine Vielzahl von Äußerungen berufen zu können, in denen Whitehead selbst die besondere Relevanz der platonischen Philosophie, insbesondere des Timaios, für seine eigene kosmologische Konzeption hervorhebt, während er sich andererseits von Aristoteles ausdrücklich distanziert. Wer Whitehead dennoch einer aristotelischen Tradition zuordnen will, steht vor der Aufgabe zu zeigen, daß Whitehead die Konzeptionen Platons und Aristoteles’, ggfs. sogar seine eigene, in einer Weise fehldeutet, daß er zu einem falschen Bild philosophiegeschichtlicher Affinitäten und Gegensätze gelangt. Insofern die vorliegende Untersuchung auf Whiteheads eigene Genealogien konzentriert sein soll, ist seine Organismusphilosophie jedenfalls in eine platonische Traditionslinie einzuordnen. Dabei soll hier weder der Anspruch einer vollständigen Sichtung der Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen Whiteheads und Platons erhoben noch der detaillierte Aufweis (zweifellos vorhandener) Divergenzen versucht werden. Vielmehr ist in Grundzügen zu zeigen, inwieweit bei Platon diejenige Konzeption vorliegt, in der Whiteheads prozeßphilosophische Zielsetzung in paradigmatischer Weise vorbereitet ist und an der sie orientiert sein will. Dabei wird deutlich werden, daß alle von White224

Wolf-Gazo (1980), 26, nennt für beide Auffassungen repräsentative Vertreter, die ihm ihren jeweiligen Standpunkt auch in persönlichen Gesprächen bestätigt haben: Lowe und Emmet sehen bei Whitehead eine deutliche Platon-Orientierung, Leclerc und Ford dagegen stellen mehr die Möglichkeit einer Abhängigkeit Whiteheads von Aristoteles in den Vordergrund.

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head vorrangig behandelten Nachfolgekonzeptionen, angefangen mit dem aristotelischen Substanzdenken, von dem für Whitehead zentralen prozeßtheoretischen Ansatz Platons weggeführt haben. Whitehead versteht seine Prozeßphilosophie als eine Rückkehr zu Platon, die er zugleich durch moderne naturwissenschaftliche Entwicklungen nahegelegt sieht. Er entwirft eine systematisierende Erneuerung des noch fragmentarisch erscheinenden platonischen Ansatzes sowie eine kritische Revision der von Platons Prozeß-Paradigma wegführenden ›Fußnoten‹ der nachfolgenden philosophischen Tradition. Ein erstes, elementares Verbindungselement zu Platon sieht Whitehead darin, daß dieser sich in seinen Spätdialogen, d. h. insbesondere im Timaios, vor allem für Kosmologie interessiere (AI, 129 / 262). Tatsächlich hat der Timaios, vielleicht der wirkungsgeschichtlich bedeutendste Platon-Dialog überhaupt, die gesamte Folgetradition besonders der spekulativen oder philosophischen Kosmologie entscheidend angeregt. Dabei ist im Timaios stets eine Konzeption gesehen worden, in der es mehr um eine Interpretation des Seienden jenseits der Erfahrungswirklichkeit geht als in dem eher als empiristisch wahrgenommenen naturphilosophischen Denken des Aristoteles. Bis heute werden Platon als Interpret der Ideenwelt und Aristoteles als Erforscher der sinnlich erfahrbaren Welt kontrastierend gegenübergestellt. Daraus ergibt sich zuweilen eine szientistisch motivierte Platon-Kritik wie diejenige Kanitscheiders, der – bei gleichzeitiger Würdigung von Platons mathematischer Ausrichtung – in dessen »animistischem Hylozoismus« geradezu ein Wissenschaftshemmnis sieht.225 Ein solches Hemmnis wird man freilich dann nicht mehr ohne weiteres konstatieren, wenn man berücksichtigt, daß sich z. B. Kepler wie auch Galilei in ihrer Begründung der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft auf die pythagoreisch-platonische Tradition (und gerade nicht auf Aristoteles) berufen. Zudem hat die platonische Kosmologie, worauf Wolf-Gazo treffend hinweist,226 nicht nur Whiteheads Konzeption, sondern auch Diskussionen innerhalb der Physik des 20. Jahrhunderts angeregt. Von Weizsäcker greift die platonische Frage nach den Elementarstrukturen der Materie ebenso auf 227 wie Heisenberg, der die »Elementarteilchen« für mit »den regulären Körpern in Platos ›Timaios‹« vergleichbar hält, sie zugleich aber auch als »die Urbilder, die Ideen der

225 226 227

Kanitscheider (21991), 57. Wolf-Gazo (1980), 26 f. Vgl. Heisenberg (1973), 280.

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Materie« bezeichnet.228 In der Tat wurden die »Grundgedanken der Atomlehre« für Heisenberg infolge seiner Timaios-Lektüre »viel klarer«, entsprechend unverzichtbar erscheint ihm die griechische Naturphilosophie für eine Beschäftigung mit moderner Atomphysik.229 So begegnet uns also bei Platon eine Konzeption, der sowohl die spekulative Philosophie als auch die modernen Wissenschaften entscheidende Impulse verdanken. In Platons Timaios werden alle Fragen, die den Aufbau des Kosmos und die Stellung des Menschen in ihm betreffen, erstmals umfassend erörtert. In Untersuchungen zum Ursprung der Welt und den Ursachen ihrer Entstehung, in vergleichender Analyse der einzelnen Seinsbereiche sowie in der Reflexion auf die Rolle des menschlichen Daseins und Verhaltens im kosmischen Zusammenhang wird der Timaios dem traditionellen Anspruch der Philosophie, begründete Aussagen über die Welt als Ganzes zu machen, in exemplarischer Weise gerecht.230 Die Konstitution des Kosmos wird im Timaios zugleich mathematisierend und ästhetisierend beschrieben und erklärt: Der Demiurg ordnet im Rückgriff auf unwandelbare ideale Formen als Vorbilder für die Vielfalt der Sinnenwelt, die er hervorbringt, das zunächst Regellose zu einem einzigen, durchgängig verbundenen Ganzen. Wie in dem naturphilosophisch-metaphysischen Kernstück des Dialogs geht es auch in Whiteheads Konzeption um die für den Kosmos konstitutiven Ordnungsprinzipien und, damit verbunden, um den Grundgedanken der Übereinstimmung von Sein und Werden. Daß »alle Dinge fließen« ist für Whitehead eine erste vage Verallgemeinerung, die eine zunächst noch unsystematische und unanalysierte, in Dichtung und Philosophie dann allgegenwärtige Intuition des Menschen zum Ausdruck bringt (PR, 208 / 385). Diese Intuition, die von Heraklit formelgleich und wirkmächtig zum Ausdruck gebracht wurde, erklärt Whitehead zu einer höchsten Verallgemeinerung, um die er den Kern seines philosophischen Systems bilden müsse, gilt ihm doch die Aufklärung der in ihr ausgedrückten Erfahrung als die zentrale Aufgabe der Metaphysik. Einer konkurrieren-

228

Ebd., 281. Heisenberg (1955), 41 f. 230 Ergiebige Untersuchungen zu Platon und Whitehead finden sich bereits in der frühesten, unmittelbar nach PR erschienenen Einführung in die Organismusphilosophie von Emmet (21966), 102–139, 220–241. Als neuere Analyse zum Timaios unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Kosmologie ist Kather (1998), 39–59, zu nennen. 229

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den, der Vorstellung des Fließenden prima facie gegenläufigen Intuition zufolge verharren, dauern oder bleiben die Dinge. Diese Intuition wird für Whitehead nicht durch einen entsprechend unvergänglichen Ausspruch exemplifiziert, sondern für sie stehen »die feste Erde, die Berge, die ägyptischen Pyramiden, der menschliche Geist, Gott« (PR, 208 / 386). Die antithetischen Vorstellungen von Prozeß und Dauer haben in der »Metaphysik des ›Fließens‹« und der »Metaphysik der ›Substanz‹« Ausdruck gefunden. Als charakteristisch für die Mehrzahl der Philosophen nennt Whitehead ein »schwankendes Gleichgewicht« zwischen beiden Positionen (PR, 209 / 386), worunter weniger eine Unentschiedenheit zu verstehen ist als vielmehr die Einsicht in das Erfordernis, beide Intuitionen in einem einheitlichen Ansatz zu vermitteln. Whiteheads zentrales Beispiel für die oft gesuchte Balance ist Platons Philosophie: »Platon fand das Bleibende in einem statischen Ideenhimmel, und sein Fluß entspricht der Verwicklung seiner Formen in die fließenden Unvollkommenheiten der physischen Welt.« (ebd.) Er hält es unter Vorbehalt für berechtigt, mit Bezug auf Platon die »fließenden Dinge« als unvollkommen im Sinne von »begrenzt« und »endgültig ausschließend für vieles, was sie hätten sein können, aber nicht sind« zu bezeichnen (PR, 209 / 387), wobei sie den Gegenpol zur platonischen »Vision himmlischer Vollkommenheit« bilden (PR, 209 / 388). Eine ganz andere Gewichtung habe Aristoteles seinem »Platonismus« gegeben: Er war vor allem »der Apostel von ›Substanz und Attribut‹ sowie der klassifikatorischen Logik, die aus dieser Vorstellung folgt.« (PR, 209 / 387) So entschieden sich Whitehead von der aristotelischen Substanzkonzeption distanziert, so ausdrücklich schließt er sich an Grundzüge der platonischen Kosmologie des Werdens an. Platons Timaios und Newtons Scholium 231 bezeichnet Whitehead wiederholt als einflußreichste Kosmologien in der Geschichte des Denkens, beide Werke würdigt er als richtungsweisend für nachfolgende Traditionen (PR, 93 / 183). Als »Darstellung wissenschaftlicher Einzelheiten« freilich wirkt der Timaios im direkten Vergleich »schlicht und einfach töricht« (ebd.; vgl. 94 / 186), womit aber Platon keinesfalls diskreditiert ist. Der offensichtliche Mangel des Timaios an wissenschaftlichen Einzelheiten (gemessen an der Komplexität und Subtilität moderner Naturwissenschaften) wird, so Whitehead, durch »philosophische Tiefe« ausgeglichen 231

Die Bezeichnung »Scholium«, mittels derer sich Whitehead meist auf das Hauptwerk Newtons, Philosophiae naturalis principia mathematica (London 1687), bezieht, ist der verkürzte Titel des Scholium generale, eines Erweiterungsteils, der dem genannten Werk in der 2. Auflage von 1713 angefügt wurde.

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(ebd.). Der profunde Wert und das Erklärungspotential des Timaios verbergen sich hinter der Allegorie, als die man ihn lesen kann. 232 Die Qualität des Scholium hingegen liegt für Whitehead in der Exposition deduktiv verbundener Wahrheiten auf einer einheitlichen Abstraktionsstufe, wobei ihn Newtons Konzeption als Philosophie nicht überzeugt, da sie die eigene Anwendbarkeit nicht reflektiere und daher auch keinen Aufschluß über die Grenzen dieser Anwendbarkeit gebe (PR, 93 / 184).233 Anders als das Scholium sieht Whitehead den Timaios nicht nur als verträglich mit der modernen Evolutionslehre und ihrer ganzen Tragweite an – den Platon des Timaios hätte diese Lehre aufgeklärt, während sie den Newton des Scholium verwirrt hätte (ebd.). Letztlich ist es der »metaphysische Charakter« des Timaios, der im Scholium keine Entsprechung findet. Hierunter versteht Whitehead das Bemühen Platons, in seiner Kosmologie »das Verhalten der Dinge mit ihrer formalen Natur zu verbinden. Das Verhalten, abgesehen von den Dingen, ist abstrakt, und das trifft auch auf die Dinge abgesehen von ihrem Verhalten zu« (PR, 94 / 185). Newton läßt seine Konzeption von diesen Abstraktionen bestimmt sein, während Platon sie zu vermeiden versucht. Der »metaphysische Charakter« des Timaios drückt sich also im Transzendieren derjenigen Abstraktionen aus, die für die modernen Wissenschaften charakteristisch sind, und hinter die Whitehead durch eine philosophische Kritik der Abstraktionen zurückgehen will. Wie verbindet Platon nun – anders als Newton – das Verhalten der Dinge mit ihrer formalen Natur? Wie erweist er sich – anders als Newton – als Metaphysiker? Zunächst verknüpft er das Verhalten der Dinge mit ihren »grundlegenden molekularen Eigenschaften« (PR, 94 / 186). Platon entwickelt die Vorstellung einer Gruppenbildung von molekularen Einzelwesen, wobei jede Gruppe abgrenzende Charakteristika besitzt, die die Einheitlichkeit des jeweiligen Dinges ausmachen. Eine solche Gruppe, das direkte Vorbild einer Gesellschaft (society) von wirklichen Einzelwesen (actual entities) in Whiteheads Konzeption, denkt Platon nicht im Sinne einer causa sui. Vielmehr geht er von untergeordneten Gottheiten aus, die, gemäß der Immanenzauffassung der Naturgesetze, in den physischen Elementen als treibende Kräfte fungieren. 232

Entstehung und Grundstrukturen des Kosmos werden im Timaios unter Rückgriff auf ›wahrscheinliche Geschichten‹ erklärt, was eine Relativierung des Geltungsanspruchs der Aussagen über den Kosmos bedeutet. Auch in dieser Hinsicht hat der Timaios für Whitehead eine wichtige paradigmatische Funktion; vgl. 3.3.1. 233 Vgl. 3.4.

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Wenn Whitehead bemerkt, daß viele Aussagen in Platons Timaios heute »Torheiten« (ebd.) seien, so ist dies nicht eine Kritik dahingehend, daß Platon etwas mißlungen sei, was er hätte besser machen können. Vielmehr ist die Bemerkung als Hinweis auf die tatsächlichen Wissenschaftsfortschritte der vergangenen zweitausend Jahre zu werten. Gehen wir also einerseits von zwangsläufigen Unzulänglichkeiten aus der Perspektive einer inzwischen fortgeschrittenen Wissenschaftsentwicklung aus, so müssen wir, wie Whitehead geltendmacht, andererseits denjenigen Aspekten platonischer Lehre Kredit geben, die seiner Zeit zweitausend Jahre voraus waren. Platon erklärte sich »die scharfen Unterschiede zwischen Arten natürlicher Dinge, indem er annahm, daß sich die Moleküle der grundlegenden Arten den mathematischen Formen regelmäßiger Körper entsprechend einander annähern« (PR, 94 f. / 186). Zugleich vertritt Platon die Auffassung, »daß gewisse qualitative Kontraste in Vorkommnissen, wie etwa der zwischen musikalischen Tönen, auf der Teilhabe dieser Vorkommnisse an einigen der einfacheren Verhältnisse zwischen ganzen Zahlen beruhten« (ebd.). So wird gerade Platons Einsicht in den Erklärungswert mathematischer Verhältnisse für metaphysische Zusammenhänge von Whitehead immer wieder als zukunftsweisend gewürdigt. Das wissenschaftliche Potential der platonischen Kosmologie ist speziell darin zu sehen, daß die moderne Quantentheorie den wesentlichen Intentionen Platons entgegenkomme bzw. diese sogar aufnehme, wie Whitehead in erneut wissenschaftskritischem Exkurs andeutet (PR, 94 f. / 186 f.): Exemplarisch angeführte Naturtheorien (Newtons Scholium, die biologische Evolutionstheorie, die anders als Platons Theorie die scharfe Unterscheidung von Arten und Gattungen nicht zureichend erklären könne234) beziehen sich nach Whitehead abstrahierend auf bestimmte Grundeigenschaften der Natur, um sie jeweils durch eine »dogmatische ad hoc-Annahme« zu erklären, wobei ihre Erklärungskraft jenseits dieser Abstraktionen nicht mehr greift. So gibt z. B. Newtons Scholium »keinen Hinweis auf die zweiundneunzig Möglichkeiten der Atome oder auf die begrenzte Anzahl von Weisen, in denen Atome zu Molekülen verbunden werden können« (ebd.). Whitehead konstatiert, daß »die Physiker« (d. h. wohl die Vertreter der Quantentheorie) »diese chemischen Tatsachen« (d. h. wohl die Verbindung von Atomen zu Molekülen) »jetzt mit Hilfe von Vorstellungen, die Platon begrüßt hätte«, erklären. Whiteheads Be-

234

Zu Whiteheads Kritik der biologischen Evolutionstheorie vgl. FR, 6 ff. / 7 ff.

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merkungen zu einer teilweisen Antizipation moderner naturwissenschaftlicher Theorien durch Platon bleiben hier freilich überaus vage.235 Eine wesentliche Grundannahme der Organismusphilosophie, mit der sich Whitehead von der biologischen Evolutionstheorie absetzt, ist die einer Evolution der Materie selbst. Diese Annahme sieht er wiederum bei Platon vorgegeben: »Im Timaios wird der Ursprung der gegenwärtigen kosmischen Epoche auf eine ursprüngliche, für unsere Begriffe chaotische, Unordnung zurückgeführt. Das ist die Evolutionslehre der organistischen Philosophie.« (ebd.) Whitehead verweist auf die Gegensätzlichkeit von Platons Vorstellung des kosmischen Ursprungs und dem Dogma seiner Kritiker, die die semitische Lehre eines transzendenten Gottes vertreten, »der aus dem Nichts ein akzidentelles Universum schöpft« (ebd.). Auch Newton, aus dessen mechanistischer Sicht sich die Frage einer Evolution der Materie nicht stellte, ging von diesem transzendenten Schöpfergott aus, der sogar ausdrücklich in seinem System vorausgesetzt ist. Whitehead entwirft ein Geschichtsbild der Ausschließlichkeit zweier starrer Alternativen – beide auf der Prämisse beruhend, daß es keine Evolution der Materie gebe –, die das Denken bis in seine Zeit prägten: »Entweder das materielle Universum mit seinem gegenwärtigen Ordnungstyp ist zeitlos; oder es ist entstanden und wird nach dem fiat Jehovas verschwinden.« (PR, 95 / 188) Das platonische Gegenbild ist das der Evolution eines neuen Ordnungstyps, der »auf neuen Typen vorherrschender Gesellschaften«, d. h. auf neuen Typen von molekularen Gruppenbildungen beruht; nach den Ausführungen im Timaios ist die Erschaffung der Welt das Aufkommen eines bestimmten Ordnungstyps, der eine ›kosmische Epoche‹ begründet, nicht aber der Beginn alles Tatsächlichen (PR, 96 / 189). Dieses jenseits der beiden starren Alternativen entworfene Bild – für Whitehead ein »Tagtraum, der die Kommentatoren verwirrte« – wird zum Paradigma der Organismusphilosophie, die sich hier damit begnügen kann, »Platon zu wiederholen« (PR, 95 / 187). Die nach Whitehead zentrale metaphysische These Platons ist die Bestimmung des Seienden im Sophistes: »Und so würde ich denn mei-

235

In PR, 95 / 187, jeweils zweiter Absatz, auf den wir uns hier beziehen, wird die Quantentheorie als jüngstes Beispiel (instance) einer bestimmten »Eigenschaft der Natur« (character of nature) genannt, wobei wohl gemeint ist, daß diese Theorie eine solche Eigenschaft beschreibt oder erklärt. Auch erscheint der Absatz insgesamt merkwürdig ambivalent, da die Quantentheorie einerseits der wissenschaftlichen Tendenz zu »dogmatischen ad hoc-Annahmen« subsumiert, andererseits aber als aufschlußreiche Nachfolgedoktrin der platonischen Kosmologie dargestellt wird.

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nen, daß alles, was irgendeine Fähigkeit (dynamis) besitzt, auf etwas anderes verändernd einzuwirken, und sei es auch nur ganz geringfügig und momentan, oder selber von etwas anderem affiziert zu werden, ein wahrhaft Seiendes ist, daß also das Seiende nichts anderes ist als das, was etwas bewirken und erleiden kann.« (AI, 119 f. / 248)236 Ausgehend hiervon rekonstruiert Whitehead zunächst Platons Auffassung der Naturgesetze: Liest man Platons These in der Weise, »daß jedem Seienden ein bestimmter kausaler Wirkungszusammenhang mit anderem Seienden auferlegt wäre« (AI, 120 / 249), so versteht man sie im Sinne des Auferlegtheitscharakters der Naturgesetze.237 Dem widerspricht jedoch nach Whitehead Platons Feststellung, daß das Seiende »nichts anderes ist als das, was etwas bewirken und erleiden kann« (ebd.), d. h. daß Bewirken und Erleiden nicht akzidentelle, sondern wesentliche bzw. definitorische238 Bestimmungen des Seienden sind, ist es doch das Wesen des Seienden, mit anderem Seienden in kausalem Wirkungszusammenhang zu stehen. Damit bekennt sich Platon nicht zur Auferlegtheits-, sondern zur Immanenzauffassung der Naturgesetze, wonach das Verhalten der Dinge eine Funktion ihrer inneren Eigenschaften ist – ihrer seelischen Aktivitäten sowie ihrer geometrischen Voraussetzungen (AI, 122 / 252). Platons definitorische Gleichsetzung des Seienden mit der Fähigkeit des Bewirkens und Erleidens ist für Whitehead geradezu die »Gründungsurkunde« (charter) der Immanenzauffassung der Naturgesetze (AI, 129 / 262). Auch in einer dann folgenden Formulierung des Sophistes sieht Whitehead bestätigt, daß das Seiende nicht ohne »Leben und Geist«, verstanden im Sinne einer immanenten Aktivität, sein kann: »[…] denn das Erkennen wirkt auf das Seiende als erkanntes Seiendes ein, und deshalb muß sich das Seiende in Bewegung befinden, weil wir ja festgestellt haben, daß auf etwas Ruhendes nichts einwirken kann. […] Könnten wir uns vorstellen, daß das Seiende ganz ohne Leben und Geist ist und in schrecklicher Sinnlosigkeit ewig bewegungslos verharrt?« (AI, 120 /

236

Sophistes, 247 d–e. Wir folgen der Übersetzung des Platon-Zitats in der dt. Übersetzung von AI, wo Bubser von den »deutschen Standardübersetzungen« der platonischen Schriften abweicht, um der von Whitehead benutzten Platon-Übersetzung von Jowett näherzukommen; angemerkt sei jedoch, daß Whiteheads Platon-Zitate von der Jowett-Übersetzung mehrfach abweichen. 237 Vgl. 2.1. 238 Dies wird im Originaltext klarer als in Bubsers Übersetzung. Platons zentrale These lautet in Whiteheads Worten: »and I hold that the definition of being is simply power«.

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249)239 Aus dieser Unvorstellbarkeit eines Seins »ohne Leben und Geist« – auf etwas Ruhendes kann nichts einwirken, denn etwas, auf das ein anderes einwirkt, ist eben dadurch nichts Ruhendes – ergibt sich für Whitehead die platonische Annahme von »Aktion und Reaktion« als Wesensbestimmung des Seienden, wobei allerdings »Leben und Geist« zugleich als Medium dieser Aktivität des Seienden in Anspruch genommen werden. Die Vorstellung eines Mediums, das die Beständigkeit mit dem Fluß des Werdens verbindet, sieht Whitehead bei Platon in unterschiedlicher Form immer wieder zum Ausdruck gebracht. So bestimmt Whitehead zugleich vom Vorkommen hiervon abweichender Auffassungen in den platonischen Dialogen ausgeht, so deutlich sieht er also an der hier zitierten Textstelle die Auffassung vom Immanenzcharakter der Naturgesetze formuliert. Whitehead erkennt in der Geschichte des europäischen Denkens ein beständiges Hin- und Herschwanken zwischen beiden genannten Sichtweisen, den Vorstellungen von Auferlegtheit und Immanenz der Naturgesetze. Die erste führt zu »der extrem monotheistischen Lehre von einem wesentlich transzendenten und nur akzidentell immanenten Gott«, die zweite führt zu »der pantheistischen Vorstellung von einem wesentlich immanenten und auf keine Weise transzendenten Gott« (AI, 121 / 250). Ein frühes Dokument des Schwankens zwischen beiden Auffassungen ist in Platons Timaios selbst greifbar: »In seiner Kosmologie tritt zuerst ein schattenhafter und ungreifbarer Demiurg auf, der dem Bau der Welt seinen Plan auferlegt. Danach aber betrachtet er die Aktionen und Reaktionen zwischen ihren fundamentalen Bestandteilen als hinreichende und erschöpfende Erklärung für das Werden der Welt: ›Nichts ging von ihr aus, nichts trat in sie ein; es gab nichts als sie selbst.‹« (ebd.; vgl. AI, 122 / 252) In der einen oder anderen Form hat die Verbindung zwischen den beiden genannten Vorstellungen vom Wesen der Naturgesetze das kosmologische Denken bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts beherrscht. Eine für die Kosmologien aller Epochen charakteristische Schwierigkeit, die zu einem Hin- und Herschwanken zwischen der Auferlegtheitsund der Immanenzauffassung der Naturgesetze wesentlich beigetragen haben dürfte, liegt für Whitehead in der latenten Orientierung am Substanz-Qualitäts-Schema, wonach eine Substanz durch ihre Qualitäten bestimmt ist, für die Substanzen in ihren unmittelbaren Beziehungen zu239

Sophistes, 248 e – 249 a; auch hier weicht Whiteheads Platon-Zitat von der Jowett-Übersetzung (41953), 401, ab.

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einander aber keine Erklärungsmöglichkeit bestehe (AI, 132 ff. / 267 ff.). Die Beschreibung eines Dings der physischen Welt besteht vor dem Hintergrund des Substanz-Qualitäts-Schemas in der Aufzählung abstrakter Eigenschaften, die in ihrem Zusammentreffen eine individuelle Einheit bilden, die das jeweilige Ding ausmacht. Diese Erklärung läßt jedes substantielle Ding als in sich abgeschlossene Einheit erscheinen, die keine Bezüge zu anderen substantiellen Dingen aufweist. Die Frage nach Zusammenhängen und Beziehungen zwischen den Dingen bleibt dabei außerhalb der Betrachtung, eine Welt, in der es Beziehungen zwischen realen Individuen gibt, wird »schlechthin unverständlich« (AI, 133 / 267), und das Universum zerfällt in eine Mannigfaltigkeit individueller isolierter Substanzen. Von dieser Schwierigkeit sieht Whitehead auch viele unbefangene Äußerungen und Gedankengänge in Platons Dialogen geprägt, in denen sich insofern schon die aristotelische Logik als Ursprung des Substanz-Qualitäts-Schemas vorbereitet zeige. Andererseits weisen offenbar die antiken Kosmologien – und zwar »einschließlich der aristotelischen Lehre von der Materie« – eine andere gedankliche Richtung auf, die die »Realität der Kommunikation« zwischen den jeweils angenommenen physischen Entitäten betont (AI, 134 / 269).240 Exemplarisch nennt Whitehead Platons Vorstellung vom realen Worin (ποδοχ, χẃρα) sowie Epikurs Begriff vom realen Leeren (κενóν) als zwar in Einzelheiten unterschiedliche Raumkonzeptionen, die jedoch in ihrer Konzentration auf diese »Realität der Kommunikation« zwischen den fundamentalen Entitäten übereinstimmen. Die Kommunikation wird dabei nicht als eine akzidentelle verstanden, sondern es gehört zum Wesen physischer Entitäten, sowohl den Raum zu bestimmen als auch von ihm bestimmt zu werden. Das platonische Worin bzw. der Raum als »Medium der wechselseitigen Kommunikation« (AI, 134 / 270) gibt allem, was geschieht, einen gemeinsamen Zusammenhang, ohne aber diesen Zuammenhang inhaltlich zu bestimmen, und muß daher in seinem abstraktesten Sinn verstanden werden. Dabei hat der Raum »für sich genommen und in Absehung von den realen Dingen, die in ihm sind« für Whitehead »auf keine Weise an den Formen teil« (AI, 134 / 269; vgl. 150 / 291). Insofern erhält der Raum seine Formen erst vermittels des physisch Realen, das sich in ihm befindet, und ist als geform240

Hier zeigt sich, daß Whitehead entgegen der Grundthese von Fetz (1981) die aristotelische Metaphysik, insbesondere den Materiebegriff, durchaus als Vorläuferbegriff im Hinblick auf eine Neufassung relationaler Entitäten berücksichtigt bzw. zumindest nicht übersehen hat.

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ter vom Vorhandensein dieses physisch Realen abhängig. Der Raum selbst und als solcher indessen ist in der Kosmologie des Timaios weder sinnlich noch ideell faßbar. Da ihm weder stoffliches noch ideelles Sein zukommt und er daher weder der Sinnenwelt noch der Ideenwelt zuzuordnen ist, bezeichnet Platon ihn auch oft als Nicht-Seiendes. Die Funktion des Raumes als eines Mediums, welches das wechselseitige Eingehen der vielfältigen physisch realen Dinge in das Wesen der jeweils anderen ermöglicht und erklärbar macht, sieht Whitehead bei Platon gebunden an die »Immanenzauffassung der Gesetze, die hier aus der wechselseitigen Immanenz der realen Dinge abgeleitet ist« (ebd.). Die wechselseitige Immanenz der realen Dinge als das, was die Immanenz der Gesetze ontologisch fundiert, beruht also letztlich auf der platonischen Konzeption des Raumes als Medium einer Wechselwirkung mit dem in ihm Befindlichen. Whitehead parallelisiert in dieser vermittelnden Funktion den Raum bei Platon, das Leere bei Lukrez und Gott bei Leibniz (AI, 135 / 270). Durch Newtons Kosmologie schließlich erscheint ihm die Verbindung von dem Lukrezschen Leeren und Gott bei Leibniz hergestellt, da der leere Raum dort als »Sensorium Gottes« dargestellt wird. Diese rudimentäre Gemeinsamkeit kann aber nicht verdecken, daß unter den genannten Denkern allein Platon dem nahekommt, was für Whitehead eine Annäherung an eine adäquate Kosmologie sein kann: Nur Platon vertritt eine Immanenzauffassung der Naturgesetze, nur Platon erklärt eine Kommunikation zwischen realen Individuen aus deren inneren Prinzipien. Whitehead selbst geht es um eine Betonung der »wesentlichen Verbundenheit aller Dinge«, die er im platonischen Raum bzw. Worin vorgegeben sieht: »In diesem Sinne vertreten wir eine das ganze Universum durchdringende Relativität, die die Gesamtheit aller Dinge gleichsam zu einem ›Worin‹ macht, das alles, was geschieht, umfaßt.« (AI, 153 f. / 297) Die so verstandene Relativität macht jedes einzelne Ding zu einer »Modifikation seiner Umwelt«: In Abstraktion von dieser Umwelt muß es »unverständlich bleiben« (AI, 154 / 298). Whitehead verkennt nicht die auch von Platon selbst gesehene Schwierigkeit des Begriffs »Worin« (AI, 150 / 291). Das Worin ist seinem Wesen nach formlos und kann insofern nicht mit dem geometrischen bzw. mathematisch rekonstruierbaren Raum identifiziert werden. Seine Bedeutung erschließt sich für Whitehead hingegen aus der platonischen Vorstellung einer natürlichen »Matrix« (matrix)241 aller Dinge und der 241

Whiteheads Begriff der Matrix wird in Holls Übersetzung uneinheitlich wieder-

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damit verwandten Metaphorik der »Nährmutter alles Werdenden« (ebd.),242 nach der das Worin als ein notwendiges Element aufzufassen ist, ohne welches eine Analyse der prozeßhaft verstandenen Natur und ihrer physischen Bestandteile nicht gelingen kann bzw. defizitär bleiben muß. Während der platonische Raumbegriff eine grundsätzliche Entsprechung zur aristotelischen Materiekonzeption aufweist, bezeichnet Whitehead jenen (mit Vorsicht) als »etwas subtileren« Begriff (AI, 150 / 292), ohne aber diese Aufwertung näher zu begründen. Der Sache nach handelt es sich jedenfalls um die beschriebenen Momente eines Zusammenhangs oder einer Kommunikation sowie um das einer Matrix als generatives Prinzip, zudem wohl auch um die zeitlichen Konnotationen,243 wodurch für Whitehead das platonische Worin über die aristotelische Materie im Sinne bloßer Potentialität hinausweist. Im Gegensatz zu der allgemeinen konstitutiven Bezogenheit alles Seienden stand die Neigung der Griechen, »jeden Faktor des Universums mit einer ganz eigenständigen Individualität auszustatten«. Diese Individualisierung ist für Whitehead nicht zuletzt in dem »selbstgenügsamen Reich der Ideen« greifbar (AI, 154 / 297), von dem er vor allem das frühe platonische Denken geprägt sieht. In der Tendenz zur Individualisierung sieht er ein grundsätzliches, schon in unserem Sprechen durchgehend präsentes Defizit: Wir gehen von Dingen wie Steinen, Planeten, Tieren auch sprachlich als Individuen aus, ohne uns jeweils Rechenschaft darüber zu geben, daß diese Individuen niemals losgelöst von ihrer Umwelt existieren könnten, die vielmehr immer Wesensbestandteil jedes einzelnen Dings sei. Hier kommt Whiteheads Verständnis des Universums als vollständige Tatsache eines gegenseitigen, für die einzelnen Wesenheiten konstitutiven Bezogenseins zum Ausdruck, worauf seine Kosmologie wesentlich aufbaut. Diese universelle Bezogenheit wird verdeckt durch die Gewohnheit des Abstrahierens – eine »Denknotwendigkeit, bei der die gegeben, einerseits mit »Nährboden« (AI, 150 / 291), andererseits mit »Aufenthaltsort« (AI, 134 / 269). Die letztere Übersetzung, die eher die Vorstellung des Worin aufnimmt, ist völlig unzulänglich, da sie gerade die hier entscheidende dynamische, generative Komponente des platonischen Raumbegriffs verdeckt. Eben diese Konnotation will Whitehead mit »matrix« geltend machen und nähert sich damit einem Matrixbegriff, der auch in den Naturphilosophien der Renaissance und der Romantik Verwendung gefunden hat. 242 Cf. Timaios, 49 a, 52 d; die Wiedergabe von »γενéσευς« (bei Whitehead »becoming«) mit »des Werdenden« ist der verbreiteten Übersetzung mit »des Werdens« (Schleiermacher, Apelt) vorzuziehen. 243 Vgl. 1.3.3.

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entsprechende systematisch geordnete Umwelt stillschweigend vorausgesetzt und in den Hintergrund verdrängt wird« (ebd.). Für Whiteheads Platon-Bild ist charakteristisch, daß er einerseits in dessen Vorstellung des Worin die universelle konstitutive Bezogenheit der Erfahrungswirklichkeit zum Ausdruck gebracht sieht, aber andererseits in dem erwähnten »selbstgenügsamen Reich der Ideen« eine Individualisierungstendenz wahrnimmt, die nicht nur dem Bezogenheitsmotiv widerspricht, sondern zugleich die platonische Philosophie letztlich inkohärent erscheinen lassen muß.244 Whiteheads Kosmologie setzt ihrerseits bei dem Versuch einer Klärung des Verhältnisses von Idealem bzw. Abstraktem und Wirklichem bzw. Konkretem an, wobei wiederum die platonische Metaphysik als Ansatzpunkt dient. Für jede rationalistische Philosophie muß etwas, das wir als gegeben ansehen, auf etwas anderes verweisen, das nicht mehr in demselben Sinn gegeben ist, an dem aber das als gegeben Angesehene teilhat (PR, 42 f. / 97). Im Falle einer roten Kugel unterscheiden wir die Bestimmungen »rot« und »kugelförmig«. Diese beiden Bestimmungen kommen aber nicht notwendig zusammen vor; auch kommen sie nicht nur an dem jeweiligen Gegenstand, sondern zugleich an anderen vor. Bestimmungen, die in der beschriebenen Weise das partikuläre einzelne übersteigen und traditionell »Universalien« genannt werden, heißen im Rahmen der Organismusphilosophie »zeitlose Gegenstände« oder »ewige Objekte« (eternal objects) (SMW, 197 / 185 f.). Die zeitlosen Gegenstände der Organismusphilosophie, die das Konkrete transzendieren, ohne freilich »von ihm getrennt zu sein« (ebd.), stehen, so Whiteheads ausdrückliche Erklärung, für dasjenige, was üblicherweise als »platonische Ideen« oder »Formen« bezeichnet wird (FR, 32 / 30).245 Insofern die Wesensbestimmungen über das individuelle Partikuläre hinausgehen, sind sie etwas Abstraktes. Dies bedeutet, daß sich solche Bestimmungen ohne jeden Bezug zu irgendwelchen bestimmten konkreten Gegenständen der raumzeitlichen Welt begreifen lassen. Wie aber ist dann die Beziehung von Abstraktem und Konkretem genau zu verstehen? In dieser Hinsicht ist die Aufgabe der Philosophie für Whitehead oft mißverstanden worden. Man versuchte nämlich, das Konkrete aus 244

Vgl. 2.3.4. Die zeitlosen Gegenstände bilden Whiteheads fünfte »Kategorie der Existenz« (PR, 22 / 63). Zu dieser besonders im Hinblick auf die Identifizierbarkeit mit den platonischen Ideen umstrittenen Kategorie, die Stegmaier (1988), 71, insofern als »wundesten Punkt« bei Whitehead bezeichnet, vgl. u. a. Leclerc (1958), 91–99, Christian (21967), 125–279, und Parmentier (1968), 297–346. 245

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Abstraktem herzuleiten, als ob das Abstrakte und nicht das Konkrete das fundamental Wirkliche wäre. Whitehead moniert hier insofern eine falsche Fragestellung, als das Konkrete in keiner Weise aus dem Abstrakten entstehen kann. Die ›wahre‹ philosophische Grundfrage kann aus Sicht der Organismusphilosophie nur lauten: Wie kann etwas Konkretes auf Wesenheiten verweisen, die gegenüber diesem Konkreten abstrakt sind, und an denen es trotzdem kraft seiner eigenen Natur teilhat? (PR, 20 / 60)246 Setzt man sich zum Ziel, in diesem Sinne das Verhältnis von Konkretem und Abstraktem zu klären, so muß man berücksichtigen, daß nicht nur jedes Konkrete mehr ist als die Formen, die seine Bestimmtheit ausmachen, sondern auch jede Form das einzelne Konkrete übersteigt und an der ganzen Welt des Faktischen teilhat. Die Einsicht in diese grundlegenden Sachverhalte ist für Whitehead dasjenige, was seit Platon die Philosophie inspirierte, nämlich im Konkreten bzw. Faktischen das Abstrakte, die Formen, zu suchen. Eben diesen generellen Anspruch assoziiert Fetz mit Whiteheads Fußnoten-These: »Verlangt der Werdeprozeß einer ›aktualen Wesenheit‹ eine einheitsstiftende und finalisierende Idee, so kann die Wirklichkeit nur verstanden werden, wenn sie in einem Bezug zu Idealem gesehen wird, wie ihn Platon vorgezeichnet hat. Damit wird auch die Organismusphilosophie schließlich ihre ›Fußnoten zu Platon‹ schreiben müssen, um sich ihr Fundament zu verschaffen.«247 Indem die Organismusphilosophie die Frage nach dem Verhältnis von Konkretem bzw. Wirklichem und Abstraktem bzw. Idealem aufnimmt und sich wesentlich von ihr leiten läßt, versteht sie sich in einem engen Sinn als platonisch (PR, 20, 39 f. / 60f., 92 f.).

3.2 Aristoteles: Die Abstraktionen der Substanzmetaphysik Für Aristoteles geht die Grundfrage nach dem Seienden in der Frage nach der Wesenheit (oσíα) auf,248 nach demjenigen also, was seit der lateinischen Tradition durch den Begriff »Substanz« bezeichnet wird. Whitehead stellt in seinem Hauptwerk PR programmatisch die Frage nach Werden, Sein und Bezogensein von wirklichen Einzelwesen an den 246

Wir geben die hier von Whitehead formulierte Grundfrage paraphrasierend und abweichend von der sehr verwirrenden dt. Übersetzung von PR wieder. 247 Fetz (1981), 139. 248 Metaphysik VII, 1 1028 b 2.

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Anfang (PR, xiii / 25), die, insoweit mit den aristotelischen Substanzen übereinstimmend, »die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist«, bilden (PR, 18 / 57). Anstatt nun, was naheliegen könnte, die Gemeinsamkeit der Fragestellungen zu reflektieren und möglicherweise die aristotelische Konzeption zum Ausgangspunkt des eigenen Systems zu machen, läßt Whitehead die differenzierten substanztheoretischen Untersuchungen der Metaphysik weitgehend unbeachtet. Er konzentriert sich auf eine Kritik des für die logischen Schriften des Aristoteles grundlegenden Substanzbegriffs, den er allerdings als ungeeignet ansieht, für eine metaphysische Beschreibung der Erfahrungswirklichkeit in Anspruch genommen zu werden. Whiteheads wirkliche Einzelwesen sind daher nicht den aristotelischen ersten Substanzen nachgebildet, sondern sollen eine Neukonzeption darstellen, die sich von dem logischen Substanzbegriff des Aristoteles grundlegend distanziert. Die Metaphysik Whiteheads ist motiviert durch die Absicht einer Destruktion des aristotelischen, zugleich die nachfolgenden Traditionen wesentlich prägenden logischen Substanzbegriffs, der durch eine der Erfahrungswirklichkeit angemessenere Wesenheitskonzeption ersetzt werden soll. Anlaß hierfür ist die besondere philosophiegeschichtliche Bedeutung, die dieser Begriff auch und gerade im Bereich der Metaphysik erlangt hat.249 Der logische Substanzbegriff des Aristoteles erfuhr im Mittelalter eine besondere Gewichtung und ging über das Mittelalter in die Moderne ein. Als Grundlage der cartesischen Philosophie war er seit Locke und Hume immer wieder Gegenstand kritischer Stellungnahmen.250 Nach diesem Substanzbegriff wird die Substanz als das ›Insichseiende‹ und als der beharrende Träger von Eigenschaften verstanden. Für Whitehead spiegelt sich hierin der vorwissenschaftliche Dingbegriff, nach dem die Wirklichkeit aus einfach lokalisierbaren, voneinander isolierten Materieeinheiten bestehe, die in ein unverändert dauerndes Wesen, nämlich die Substanz, und in – feste oder veränderliche – Eigenschaften oder Akzidenzien ana249

Daß sich Whitehead besonders mit dem logischen Substanzbegriff der Kategorienschrift befaßt, ist offensichtlich und auch aus seiner philosophiegeschichtlichen Perspektive heraus begründet. Daher können wir uns der Sichtweise von Fetz (1981), 211 f., nicht anschließen, die Whitehead-Interpreten, z. B. Böhme (1980), 46, würden sich »den historischen Vergleich des Aristotelischen und des Whiteheadschen Wesenheitsbegriffs zumeist dadurch erleichtern, daß sie ihm den Substanzbegriff der Kategorienschrift unterlegen«. Dieser ist der von Whitehead selbst hauptsächlich und mit guten Gründen thematisierte Substanzbegriff, der ihm also nicht mehr von außen unterlegt werden muß oder kann. 250 Vgl. Fetz (1981), 34 ff.

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lysierbar seien.251 Whitehead führt skizzenhaft eine Entwicklung vor Augen, wonach dieses Dingkonzept aus einem lebenspraktischen Zugang zur Erfahrungswirklichkeit resultiert, sich in der Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache niedergeschlagen hat und als elementare Sprachstruktur zum Paradigma der Kategorienlehre des Aristoteles wurde. Das logische Substanz-Qualitäts-Schema ist für Whitehead dann in der Weise umgedeutet bzw. ausgeweitet worden, daß man in der Moderne in ihm das metaphysische Grundmodell von Wirklichkeit überhaupt sah, was sich bei näherer Betrachtung als verfehlt und als grundlegender Irrtum der philosophischen Tradition erwiesen habe. Die Subjekt-Prädikat-Form der Aussage geht für Whitehead mit »hohen Abstraktionen« einher, die für die metaphysische Beschreibung der Erfahrungswirklichkeit von untergeordneter Relevanz sind (PR, 30 / 77). Whiteheads Urteil, daß »das Übergewicht seiner Logik […] Aristoteles’ eigenen metaphysischen Spekulationen nicht entsprochen zu haben« scheint (PR, 30 / 78), deutet auf ungeklärte Verhältnisse innerhalb der aristotelischen Philosophie hin, die annehmen lassen, daß »Aristoteles vermutlich kein Aristoteliker« war (PR, 51 / 112). Grundsätzlich richtet sich Whiteheads Kritik jedenfalls weniger gegen Aristoteles als gegen die einseitige Aristoteles-Rezeption der nachfolgenden Traditionen. Whitehead moniert also eine verfehlte Gleichsetzung von logischer und metaphysischer Struktur, die er als latente Gefahr seit der Entdeckung von Mathematik und Logik durch die Griechen betrachtet (PR, 54 / 117). Aber während er Aristoteles selbst von dieser Kritik noch am wenigsten betroffen sieht, da dieser seine Metaphysik nicht von seiner Logik beherrscht sein lasse, wird bei Descartes die Beschreibung der Wirklichkeit mit logischen Kategorien kurzgeschlossen, wobei zwangsläufig erhebliche Dimensionen der Wirklichkeit unberücksichtigt bleiben bzw. unerklärbar werden. Hierin sieht Whitehead den Anlaß, eine radikal neue Konzeption zu entwerfen, in der die statischen Substanzen durch dynamische Prozeßeinheiten und die zuvor dominierenden Qualitäten durch konstitutive bzw. interne Relationen abgelöst werden. Für Whiteheads Organismusphilosophie wird die Kategorie der Relation vorrangig: »In diesen Vorlesungen ist das ›Bezogensein‹ der ›Qualität‹ übergeordnet.« (PR, xiii / 25) Die Quelle der Fehlkonzeption des modernen Substanzbegriffs sieht Whitehead in Aristoteles’ Bestimmung der ersten Substanz, die »weder

251

Zur einfachen Lokalisierung vgl. 3.3.2 und 3.4.

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von einem Subjekt ausgesagt wird, noch in einem Subjekt ist«252 (PR, 50, 59 / 110, 126). Während also der Begriff »Substanz« im Sinne der aristotelischen Definition ein isoliertes Selbstsein ohne jede echte innere Beziehung zu anderen Substanzen konnotiert, wird diese Isolation durch die organistische Konzeption der relational bestimmten wirklichen Einzelwesen negiert. Mit dem Prinzip der universellen Relativität wendet sich Whitehead gegen die aristotelische Bestimmung, daß eine erste Substanz nicht in einem Subjekt sei. Für ihn ist vielmehr ein wirkliches Einzelwesen in anderen wirklichen Einzelwesen, letztlich ist sogar jedes wirkliche Einzelwesen in jedem anderen wirklichen Einzelwesen, wenn auch mit unterschiedlicher Relevanz (PR, 50 / 110 f.). Die an Aristoteles anknüpfende Ausdrucksweise »in einem wirklichen Einzelwesen sein« erweist sich aber für die Organismusphilosophie als präzisierungsbedürftig, da sie die falsche Vorstellung weckt, ein wirkliches Einzelwesen werde einem anderen »simpliciter« hinzugefügt. Die aristotelische Vorstellung des Darinseins wird daher bei Whitehead durch die der Objektivierung ersetzt, welche darauf verweist, »wie jedes wirkliche Einzelwesen durch seine Synthese anderer wirklicher Einzelwesen konstituiert wird« (PR, 50 / 111). In der Wirklichkeitserklärung der Organismusphilosophie soll, so Whiteheads Anspruch, die aristotelische erste Substanz durch die »Kategorie des Elementaren« ersetzt werden (PR, 21 f. / 61 f.). Diese Kategorie stellt eine funktionale Zusammenordnung der Begriffe »Kreativität«, »viele« und »eins« dar. Der Begriff »eins« steht für die Identität und Singularität einer Wesenheit, die darin zum Ausdruck kommt, daß wir uns mittels eines bestimmten oder unbestimmten Artikels oder Pronomens auf sie beziehen. Der Begriff »viele« steht für die Vielheit von Wesenheiten, die sich aus der Perspektive jeder einzelnen Wesenheit als disjunktive Vielheit darstellt. Der Begriff »Kreativität«, der Kernbegriff der Organismusphilosophie und für Whitehead »die Universalie der Universalien«, bezeichnet das Prinzip, das jeder Wesenheit als solcher zukommt, und aufgrund dessen eine Wesenheit in ihrem Konstituierungsprozeß die es umgebende disjunktive Vielheit zu einer Konjunktion, einer komplexen Einheit, und damit einer neuen Wesenheit zusammenwachsen läßt. Whitehead begreift ein wirkliches Einzelwesen als kreatives Voranschreiten von der Getrenntheit zur Verbundenheit. Abweichend von Aristoteles’ Begriff der ersten Substanz beinhaltet Whiteheads

252

Kategorien 5, 2 a 11.

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»Kategorie des Elementaren« die Vorstellung des Entstehens von Neuem.253 So setzt sich Whitehead mit seinem Begriff des wirklichen Einzelwesens bewußt vom aristotelischen Begriff der Substanz im Sinne des ποκεíµενον 254 ab. Dieser Begriff bezeichnet etwas einem Prozeß Zugrundeliegendes oder Vorhergehendes, etwas, das aus der Perspektive der Organismusphilosophie im Prozeß bereits vorliegt anstatt erst aus ihm hervorzugehen. Während die klassischen Substanzlehren das Subjekt immer schon voraussetzen, indem sie ein gegebenes oder bestehendes Subjekt annehmen und dieses dann Objekten gegenüberstellen, geht die Organismusphilosophie von Subjekten aus, die sich aus ihren vorgegebenen Objekten konstituieren. So läßt die Organismusphilosophie die vorgegebenen Objekte durch Akte gegenseitigen Erfassens, sog. Prehensionen (prehensions),255 zu einer neuen Einheit zusammenwachsen. Das diesem Synthetisierungsprozeß vorhergehende oder zugrundeliegende Subjekt ist zu unterscheiden von seinem Resultat, für das Whitehead den eigens gebildeten Gegenbegriff »superject« als passender ansieht (PR, 154 / 290). Die Umkehrung, die die Organismusphilosophie wesentlich von der traditionellen Substanzmetaphysik unterscheidet, besteht also darin, daß ein konstitutiver Prozeß nicht von einem Organismus als einem Subjekt ausgeht, sondern auf einen Organismus als das zu konstituierende »Superjekt« hinzielt. Mit seiner kritischen Bezugnahme auf Aristoteles hat Whitehead nicht nur ein in der Tat wesentliches Grundmuster traditionellen Substanzdenkens erfaßt, sondern zugleich eine Revision gefordert und eingeleitet, wie sie in vergleichbarer Weise im 20. Jahrhundert auch von anderer Seite anvisiert wurde.256 Zugleich weist Whitehead selbst aber auf den erwähnten Sachverhalt hin, daß Aristoteles seine eigene Metaphysik nicht wesentlich an dem logischen Schema der früheren Kategorienschrift orientiert, sondern weitgehend unabhängig davon konzipiert hat (PR, 30 / 78). Eine positive Aufnahme des Substanzbegriffs, der der ari253

Fetz (1981), 132, vergleicht Whiteheads Kreativität »als das allen Wesenheiten Gemeinsame und sie Verbindende« mit der aristotelischen ersten Materie, erkennt aber die Grenzen der Parallelisierbarkeit darin, daß diese Materie bei Aristoteles »als bloße Empfänglichkeit für die sie aktualisierende ›Form‹ der Substanz«, also als »etwas Passives«, verstanden wird, während Whiteheads Kreativität »reine Aktivität« sei. 254 Metaphysik VII, 3, 1028 a. 255 Vgl. 3.3.3. 256 Fetz (1981), 211, Anm. 12, verweist exemplarisch auf Cassirer (1910) und Rombach (21981).

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stotelischen Metaphysik zugrundeliegt, findet sich bei Whitehead aber nirgends. Deshalb bleibt bei ihm auch letztlich ungeklärt, in welcher Beziehung seine Konzeption eines wirklichen Einzelwesens zu der Substanzkonzeption in Aristoteles’ Metaphysik steht.257 Die Interpreten haben das Verhältnis der Metaphysik Whiteheads zum aristotelischen Substanzbegriff als zentrales Anliegen einer systematischen, insbesondere aber auch einer historischen Rekonstruktion herausgestellt.258 So wurde, bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen im einzelnen, mehrfach darauf hingewiesen, daß der von Whitehead kritisierte aristotelische Substanzbegriff wie auch die ihn aufnehmende Tradition zumindest wesentlich komplexer sei als von Whitehead dargestellt. Demnach weichen Whiteheads Ausführungen erheblich von dem ab, was tatsächlich als aristotelische Substanzmetaphysik anzusehen sei. Die Kritiker machten sowohl auf eine Vielschichtigkeit der Substanzkonzeption des Aristoteles selbst als auch auf eine erhebliche Komplexität und Vielschichtigkeit der nachfolgenden Tradition aufmerksam. Faßt man trotz dieser Komplexität den Substanzbegriff als einheitlich und einstimmig faßbar auf, um ihn dann mit einer Kritik oder einem Neuansatz zu konfrontieren, so befindet man sich nach Fetz in der Tradition einer schematisierenden und letztlich zu kurz greifenden Substanzkritik.259 In dieser Linie einer verkürzten Substanzkritik sieht Fetz auch Whitehead.260 Die Kritik von Fetz ist in zwei Hauptaspekte zu differenzieren, einerseits den, daß Whitehead in seiner Konzentration auf eine Kritik der Abstraktionen des Substanz-Qualitäts-Schemas der Komplexität und damit wesentlichen Dimensionen des aristotelischen Substanzdenkens nicht gerecht werde, andererseits den, daß Whitehead (eben infolge dieser Konzentration) nicht hinreichend erkannt habe, wie nahe seine eigene

257

Eine Klärung dieser Frage steht bei Fetz (1981) im Mittelpunkt. Fetz will zeigen, daß in Aristoteles’ Metaphysik ein Substanzbegriff schon vorbereitet und weitgehend entwickelt ist, der in Grundzügen dem Begriff wirklicher Einzelwesen bei Whitehead entspricht. 258 Vgl. u. a. Leclerc (1958), Rorty (1963), Böhme (1980), Fetz (1981) und Mooney (1992). 259 Zur Kritik des Substanzbegriffs in der philosophischen Tradition vgl. Stegmaier (1977), 19 f. 260 Fetz (1981), 210; Freilich ist wiederum ein Mangel an Differenziertheit darin zu sehen, daß Fetz die Substanzkritik Whiteheads, der eine metaphysische Neukonzeption intendiert, mit der grundsätzlich antimetaphysischen Substanzkritik der Empiristen, die sich völlig anderen Gesichtspunkten verdankt, identifiziert.

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Organismusphilosophie der aristotelischen Substanzmetaphysik letztlich komme. Beide Kritikpunkte sollen hier nicht erschöpfend diskutiert werden. Festzustellen ist lediglich, daß sie in unterschiedlicher Weise Whiteheads philosophiegeschichtlicher Perspektive nicht gerecht werden. Wir beginnen mit dem zweiten Punkt. Die Elemente und Aspekte einer Organismusphilosophie, die Fetz bei Aristoteles erkennt und hervorhebt, hat Whitehead keinesfalls übersehen, führt sie jedoch letztlich nicht auf Aristoteles selbst, sondern auf dessen Lehrer Platon zurück: »Sowohl Platon als auch Aristoteles interpretieren den Prozeß der wirklichen Welt als ein reales Eingehen von Formen in reale Potentialität, was zu der realen Gemeinsamkeit führt, die ein wirkliches Ding ist.« (PR, 96 / 189) Fetz selbst erkennt an, daß »schon für Platon und Aristoteles« der Prozeßcharakter der primäre Aspekt der Natur gewesen ist.261 Für beide Denker befinden sich demnach alle »Naturdinge« immer im Werden, sie unterliegen einem Entstehen und Vergehen. Diese Auffassung vom Werden, vom Entstehen und Vergehen bezeichnet Whitehead als »aristotelische – oder richtiger: platonische – Lehre« (AI, 237 / 420). Für Platon und Aristoteles sind ferner die »Naturdinge« stetiger Veränderung unterworfen. Hier drängt sich nun für Fetz ein Unterschied der aristotelischen Lehre zur Organismusphilosophie auf, weil deren wirkliche Einzelwesen nicht mit den Naturdingen selbst identisch sind, sondern ihr metaphysisches Fundament ausmachen. Fetz betont, daß wir, wenn wir von Veränderung sprechen, »meistens die Änderung der ›Eigenschaften‹ an einem ›Ding‹« meinen, und beschreibt diese Veränderung dann im aristotelischen Sinn als einen Wechsel der Akzidenzien an einer als solche gleichbleibenden Substanz.262 Wie oben gezeigt, ist aber der prozeßhafte Seinsbegriff bei Platon nicht nur auf die »Naturdinge« und ihre Eigenschaften, sondern zugleich auf ihr metaphysisches, »molekulares« Fundament bezogen und insofern der für die Organismusphilosophie eigentlich relevante Vorläuferbegriff.263 Im vorliegenden Zusammenhang muß nun nicht entschieden werden, ob der Prozeßcharakter der Wirklichkeit bei Aristoteles vor allem auf die »Naturdinge« als solche oder letztlich auf ihr metaphysisches Fundament bezogen ist. Jedenfalls bleibt folgende Alternative: Entweder sieht Aristoteles die »Naturdinge« als Instanzen des Werdens an, was aus 261 262 263

Fetz (1981), 122. Ebd. Vgl. 3.1.

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Whiteheads prozeßtheoretischer Sicht zu kurz greifen würde, oder der Prozeßcharakter läßt sich auch bei Aristoteles auf eine elementarere metaphysische Ebene zurückführen, wodurch dessen Ansatz aber in eine von Whitehead als ursprünglich platonisch angesehene Tradition einzuordnen wäre. Insofern liegen die Wurzeln der Prozeßphilosophie nicht, wie Fetz geltend machen will, bei Aristoteles, sondern bei Platon. Sofern Aristoteles ein Vertreter des Prozeß-Paradigmas ist, kann er im Sinne Whiteheads nicht als Urheber desselben gelten, sondern als Verfasser von ›Fußnoten‹ zu Platon: »Zunächst einmal geht Aristoteles selbst in seinem Denken auf die theoretische Aktivität Platons zurück;« (AI, 107 / 229) Es ist primär diese Aktivität Platons, der Whiteheads historisches und systematisches Interesse gilt, und sehr viel weniger etwaige Weiterführungen durch Aristoteles. Wie Stegmaier richtig betont, wollte Whitehead »kein Aristoteliker sein und war auch keiner«.264 Fetz macht Whitehead gleichsam zum Aristoteliker wider Willen. Hiermit ist zugleich dem ersten Kritikpunkt begegnet, wonach Whitehead der Komplexität des aristotelischen Substanzdenkens nicht gerecht werde. Da, wie gezeigt, Whitehead bei Aristoteles neben dem logischen Substanzbegriff durchaus auch den Grundgedanken der Prozeßphilosophie erkennt, muß sich Fetz’ Kritik hier auf eine unangemessene Gewichtung bei Whitehead reduzieren. Die von Whitehead gewählte Gewichtung hat freilich ihre eigenen Gründe und ihre eigene Berechtigung, da sie sich aus seiner philosophiegeschichtlichen Perspektive insgesamt ergibt. Whitehead sieht bei Platon Grundzüge, in denen seine Prozeßphilosophie rudimentär vorbereitet ist, und belegt dies überzeugend. Im Mittelpunkt seiner philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Interessen steht das 17. Jahrhundert, das sich von den Positionen der Prozeßphilosophie infolge verschiedener Einflußmomente extrem entfernt hat. Ein erster Schritt der Entfernung liegt im logischen Substanzbegriff des Aristoteles und seiner Wirksamkeit, die sich vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert verstärkt – eine Wirksamkeit, deren Ausrichtung geistesgeschichtlich von Whiteheads eigenen metaphysischen Intentionen weggeführt hat. Teilt man Rortys Auffassung, daß Aristoteles »sein ganzes Leben damit zubrachte, auf die metaphysischen Extravaganzen seiner Vorgänger kaltes Wasser zu gießen«,265 dann wird man umso eher akzeptieren, daß Whitehead bei Platon und nicht bei Aristoteles den Fundamenten seines Prozeß-Paradigmas nachspürt. Sofern es 264 265

Stegmaier (1988), 66. Rorty (1981), 52.

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also Whitehead darum geht, die ursprüngliche Vorläuferkonzeption seiner Prozeßphilosophie zu benennen, verweist er sinnvollerweise auf Platon. Sofern es ihm darum geht, die ersten Etappen, die von dem Prozeß-Paradigma weggeführt haben, zu benennen, konzentriert er sich auf Aristoteles, den »Apostel von ›Substanz und Attribut‹« (PR, 209 / 387), aber freilich nicht auf dessen genuin metaphysischen Substanzbegriff, sondern auf die wirkmächtigen Abstraktionen des logischen Substanzbegriffs. Für Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive spielt Aristoteles damit keine unwichtige Rolle. Die Bedeutung ist jedoch weniger eine unmittelbare als vielmehr eine wirkungsgeschichtliche: Die Abstraktionen der logisch geprägten aristotelischen Substanzmetaphysik werden für Whitehead zur entscheidenden metaphysischen und wissenschaftshistorischen Einflußgröße in der Philosophie des Descartes.

3.3 Descartes: Begründung und Defizite der modernen Philosophie Aus Whiteheads ideengeschichtlicher Perspektive erscheint das 17. Jahrhundert als »Jahrhundert der Genialität« (SMW, 49 / 53). Die emphatische Auszeichnung bestätigt sich im Vergleich mit dem 19. Jahrhundert, das von »widersprüchlichen Lehren« geprägt ist und hinsichtlich seiner wissenschaftlich-geistigen Ausrichtung als das verworrenste der modernen Zeit erscheint (SMW, 102 / 101). Während des 17. Jahrhunderts dagegen sind nach Whitehead »die tiefen Denker zugleich die klaren Denker gewesen«. Hierfür stehen so unterschiedliche Philosophen wie Descartes, Spinoza, Locke und Leibniz: »Sie wußten genau, was sie meinten, und sprachen es aus.« (ebd.) Obwohl Whitehead in seiner Würdigung der wissenschaftlichen und philosophischen Leistungen des 17. Jahrhunderts immer wieder auch auf Descartes verweist, so ist doch seine Einschätzung der cartesischen Philosophie zugleich von einer deutlichen Ambivalenz, oft auch von radikaler Kritik geprägt, und zwar sowohl hinsichtlich ihres methodischen Ansatzes und Anspruchs als auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Grundpositionen. Gleichwohl sind Methode und Inhalt der cartesischen Philosophie sowie die von ihr ausgehenden historischen Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaft wesentliche Bezugspunkte von Whiteheads eigenen methodologischen Überlegungen und seiner Neukonzeption eines philosophischen Systems. Whitehead verbindet die Würdigung von Descartes’ subjektivistischer Erneuerung der Philosophie mit dem Anspruch, Defizite in der cartesischen Konzeption und der von ihr geprägten Tradition aufzuzei-

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gen, um diese Konzeption mit ihren Stärken und Schwächen für sein Projekt einer philosophischen Kosmologie fruchtbar zu machen.

3.3.1 Gewißheitsanspruch als ›overstatement‹ Descartes’ Bedeutung für die Philosophiegeschichte ist wesentlich verbunden mit der Forderung, die Möglichkeit eines angemessenen Ausgangspunktes, von dem aus eine Philosophie mit wissenschaftlichem Anspruch zu konzipieren sei, systematisch und grundsätzlich zu reflektieren. Auch Whitehead entwickelt seine philosophische Konzeption in PR im Ausgang von einer Methodenreflexion, die indessen zu der cartesischen in grundsätzlichem, auch explizitem, Widerspruch steht. Descartes’ Anliegen einer Neubegründung philosophischen Wissens und Whiteheads die Ideengeschichte selektiv aufnehmender, sie kritisch reflektierender und weiterentwickelnder Ansatz verdanken sich gegensätzlichen methodologischen Auffassungen und zugleich konträren Positionen zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte überhaupt. Im Gegensatz zu Whitehead, der erklärt, seine Konzeption in »Vertrauen auf den positiven Wert der philosophischen Tradition« zu entwickeln (PR, xiv / 26), läßt sich bei Descartes ein ausdrückliches Mißtrauen hinsichtlich der tradierten Philosophie wie auch der Wissenschaften insgesamt aufweisen. Dabei erscheint diese Haltung des Descartes zunächst nicht als theoretisch gewonnene, sondern, nimmt man seine autobiographische Darstellungsweise im Discours de la Méthode ernst, als kontingente, aus persönlicher Erfahrung erwachsene. Vor allem im ersten Teil des Discours legt Descartes ausführlich dar, wie er seine wissenschaftliche Ausbildung als Prozeß einer Verstrickung in Zweifel und Irrtümer erfahren hat. Insbesondere die Philosophie ist Descartes als eine Disziplin begegnet, die es ermöglicht, »mit einem Schein von Wahrheit über alles zu reden […]«.266 Bezogen auf die Philosophie und ihre Geschichte hat sich für ihn das Bild ergeben, daß diese noch keinerlei Inhalte aufweise, über die nicht von den Gelehrten gestritten würde, und die insofern nicht zweifelhaft seien.267 Die Vorstellung, wonach sich Philosophie in einer Abfolge von Konzeptionen, die aufeinander bezogen und auseinander entwickelt werden, fortschreitend 266

Discours I, 7, in: Œuvres de Descartes, hrsg. v. Ch. Adam u. P. Tannery, Neuausg. Paris 1964–1974 (= A / T), VI, 6; zit. nach der Übers. von L. Gäbe (Hamburg 1960). 267 Discours I, 12 (A / T VI, 8); vgl. Discours II, 4 (A / T VI, 16).

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konstituiert, verliert so für Descartes jede Relevanz. Entsprechend klar ist die historiographische Charakterisierung des cartesischen Denkens bei Braun: »Die Entgegensetzung von Philosophiegeschichte und Philosophie scheint also total.«268 Aus der Erfahrung der Geschichte als Quelle von Irrtum und Konfusion zieht Descartes die Konsequenz, Wissen nur noch in sich selbst, d. h. durch Introspektion, oder im »großen Buche der Welt«, d. h. durch eigene, unvermittelte Erfahrung,269 jedenfalls aber unabhängig von tradierten Lehrinhalten, zu suchen, um irrtumsfreie Erkenntnisse gewinnen zu können. Der Anspruch letzter, unbezweifelbarer Gewißheit begleitet Descartes’ philosophischen Gedankengang nicht nur von Anfang an, sondern hat ihn überhaupt erst stimuliert. Natürlich hat auch Whitehead die Erfahrung gemacht, aus seiner Sicht fehlerhafter oder mißlungener Philosophie zu begegnen. Auf diese Erfahrung reagiert er jedoch in ganz anderer Weise als Descartes. Während Descartes eher resignative Konsequenzen aus dem vermeintlichen Mangel an bisher in Wissenschaft und Philosophie erreichter Gewißheit zieht, vertritt Whitehead die Auffassung, daß selbst offensichtliche Fehler und Irrwege einen positiven Beitrag zum Erkenntnisfortschritt darstellen. Kritik gilt als motivierendes Moment dieses Fortschritts, widerlegt zu werden kann nach Whitehead höchster Triumph sein (ESP, 87). Deshalb ist die Frage, ob philosophiegeschichtliche Positionen als angemessener Ausgangspunkt eigenen Denkens in Frage kommen, für ihn zunächst ganz unabhängig von der Frage ihrer vermeintlichen Wahrheit oder Falschheit: »Die Entthronung von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke, Berkeley, Hume, Kant und Hegel zeugt lediglich davon, daß die von diesen Männern in die philosophische Tradition eingeführten Ideen mit Einschränkungen, Angleichungen und Umstellungen ausgelegt werden müssen, die ihnen entweder unbekannt waren oder ausdrücklich von ihnen abgelehnt wurden. Eine neue Idee führt eine neue Alternative ein; und wir sind einem 268

Braun (1990), 65. Discours I, 14 (A / T VI, 9); vgl. Discours I, 15 (A / T VI, 10); Die Metapher vom Buch der Natur oder der Welt ist seit Augustinus in der christlichen Literatur des Mittelalters sowie in der Neuzeit gebräuchlich und bezeichnet die Welt im Sinne einer neben der Hl. Schrift ›zweiten Schrift‹, durch die sich Gott den Menschen mitteilt. – Die Wissenssuche im »großen Buche der Welt« erscheint bei Descartes allerdings als Kontrast zu dem rationalistischen Mißtrauen in die Sinneserfahrung und spielt auch für den systematischen Wissensaufbau keine wirkliche Rolle. Im Discours I, 15 (A / T VI, 10) steht das Studium im Buche der Welt sogar für die obsolete Lernphase vor dem Projekt eines Neuaufbaus des Wissens. 269

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Denker nicht weniger verpflichtet, wenn wir die Alternative aufgreifen, die er verwarf.« (PR, 10f. / 44 f.) Aus der Kritik vorgängiger philosophischer und wissenschaftlicher Positionen resultiert also bei Descartes und Whitehead ein prinzipiell unterschiedliches Traditionsverständnis. Durch die cartesische Methode wird die Tradition aus dem Begründungszusammenhang philosophischer Konzeptionen generell ausgeschlossen, während tradierten Lehren bei Whitehead eine zentrale heuristische Funktion zukommt. Diese gegensätzliche Akzentuierung verdankt sich unterschiedlichen Gewißheitsund Endgültigkeitsansprüchen, die nach Descartes und Whitehead philosophischen Konzeptionen zugrundeliegen, und die beide entsprechend auch mit ihren jeweiligen Neukonzeptionen verbinden. Descartes’ Formulierung von traditionsunabhängigen Geltungsansprüchen bedeutet freilich nicht eine Originalitätsbehauptung in dem Sinne, daß nur Annahmen, die von jeder traditionellen Position unabhängig sind, in seine philosophische Konzeption eingingen. Vielmehr betont Descartes, daß er keine Originalität für irgendeine seiner Ansichten beansprucht, indem er darlegt, seine Ansichten weder zu vertreten, weil sie zuvor schon vertreten wurden, noch sie zu vertreten, weil sie niemals zuvor vertreten wurden, sondern daß er strikt neutral zu bzw. unabhängig von der Tradition allein seine Vernunft als Maßstab dafür anerkennt, welche Ansichten er gelten lassen will und welche nicht.270 Die Geltungsfrage philosophischer Ansichten wird damit für traditionsunabhängig erklärt, die Tradition verliert für die Geltungsfrage jede Relevanz. Whiteheads Descartes-Kritik hinsichtlich des methodologischen Anfangsproblems richtet sich nicht nur gegen diesen mit der cartesischen Methode verbundenen programmatischen Verzicht auf die Inanspruchnahme der Ideengeschichte für philosophische Begründungszusammenhänge. Vielmehr greift Whitehead die cartesische Methode und die damit verbundenen Gewißheitsansprüche selbst an, insofern sich diese Methode einer für die frühe Neuzeit insgesamt charakteristischen, für Wissenschaft und Philosophie maßgeblichen Orientierung an der Geometrie bzw. Mathematik verdankt. Diese Mathematik-Orientierung ist sowohl inhaltlich als auch methodisch wirksam geworden. In beiden Hinsichten wird sie von Whitehead kritisiert. (i) Für Philosophie und Wissenschaften des 17. Jahrhunderts ist nach Whitehead die Bedeutung des Einflusses der Mathematik auf die inhaltliche Entwicklung und Ausarbeitung ihrer Grundideen charakteristisch 270

Discours VI, 10 (A / T VI, 77).

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(SMW, 37 ff. / 43 ff.). Whiteheads Beispiele sind Galilei, Descartes, Spinoza, Newton und Leibniz. Diese Denker repräsentieren für ihn eine mathematische Renaissance, während der die Rolle der Mathematik für das philosophisch-wissenschaftliche Denken wieder dieselbe wurde, die ihr erstmals während der voraristotelischen Antike, also während der pythagoreisch-platonischen Epoche, zukam. Sowohl für die Philosophie als auch für die Wissenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts liefert die Mathematik erneut den Hintergrund des spekulativen, nach Whitehead auch »phantasievollen« Denkens, mit dem die Wissenschaftler sich einer Beobachtung der Natur zuwandten, wie sich u. a. an dem wichtigen Beispiel der Periodizität und ihrer Rolle der Begründung für die moderne Physik zeigen läßt (SMW, 40 / 45).271 Dabei macht die Mathematik nicht nur einen auf den Neuplatonismus des Spätmittelalters zurückgehenden unterschwelligen Hintergrund der maßgeblichen wissenschaftlichen Werke jener Epoche aus. Ihre zentrale Erklärungsfunktion wird vielmehr von den Autoren in vielfältiger Weise auch programmatisch zum Ausdruck gebracht. Die cusanische Vorstellung der Welt als mathematisches Gebäude wird in Galileis Diktum erneuert, wonach das »Buch der Natur« in der Sprache der Mathematik geschrieben sei;272 Newton gibt seinem kosmologischen Hauptwerk den Titel »Philosophiae naturalis principia mathematica«, und bei Leibniz heißt es sogar: »Cum DEUS calculat et cogitationem exercet, fit mundus«.273 Nun ist, wie Whitehead besonders betont, mathematisches Denken immer ein Denken in Abstraktionen.274 Damit verbunden ist das Problem, daß sich die Wissenschaftler dieser Abstraktionen oft nicht bewußt sind, sondern dazu neigen, sie für die konkrete Wirklichkeit zu halten (SMW, 69 f. / 71 f.). Die mathematisch orientierten Philosophen, insbesondere auch Descartes, unterliegen inso271

Periodizität wird zunächst in der Alltagserfahrung als Prinzip des Naturgeschehens offensichtlich (Tage, Mondphasen, Herzschläge usw.) und ist, indem sie den Bezug aktueller auf frühere Erfahrungen ermöglicht, allgemein erkenntniskonstitutiv. Wissenschaftlich bedeutsam wurde die Theorie der Periodizität nach Darstellung Whiteheads (SMW, 40 / 45 f.) für Keplers Untersuchung der Planetenbewegung, Galileis Untersuchung von Pendelschwingungen, Newtons Erklärung des Klangs durch Luftwirbel infolge von Verdichtungs- und Verdünnungswellen, Huyghens’ Erklärung des Lichts durch Schwingungswellen eines feinen Äthers, usw. 272 Il Saggiatore 6, in: Opere di Galileo Galilei, Edizione Nazionale VI, Firenze 21965, 232. 273 Dialogus (1677) (GP VII, 191). Unser Zitat ist eine Randnotiz, die in Hauptschriften I, 18, nicht berücksichtigt wurde. 274 Vgl. auch Whitehead (1948), 5 ff., 209 ff.

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fern dem sog. »Trugschluß der unangebrachten Konkretisierung« (fallacy of misplaced concreteness) (PR, 7f. / 39; vgl. SMW, 64 ff. / 66 ff.). Die Kritik der Abstraktionen und der Anspruch der Philosophie, sich den konkreten Fakten zuzuwenden, ist einer der Leitgedanken in Whiteheads Metaphysik, worauf noch zurückzukommen sein wird.275 (ii) Die Mathematik wird vor allem im 16. und 17. Jahrhundert als wesentliches methodisches Instrumentarium für Philosophie in Anspruch genommen, was sich besonders in der Geschichte der axiomatischen Methode manifestiert.276 In Orientierung an dieser Methode war man der Überzeugung, von klaren und distinkten Prinzipien ausgehen zu müssen, um so die Gewißheit des aus ihnen herzuleitenden Systems zu sichern. Unter dieser Voraussetzung sah man die vorrangige Aufgabe der Philosophie im Angeben evidenter Prinzipien, von denen aus ein deduktives System zu errichten sei (PR, 8 / 39). Vor allem auch Descartes betrachtet aus seiner Perspektive einer umfassenden Wissenschaftskritik neben der Logik die mathematischen Disziplinen Analysis und Algebra als diejenigen, welche trotz ihrer vermeintlichen Mängel (etwa Verworrenheit, Praxisferne, Mangel an Nutzen und innovativer Kraft) bei einem Neuaufbau des Wissens methodische Stringenz und Verläßlichkeit gewährleisten können.277 Dieses zweite Moment einer mathematischen Prägung der Philosophie des 16. und 17. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt von Whiteheads methodologischer Descartes-Kritik. Gegen eine Inanspruchnahme mathematischer Methoden im Bereich der Philosophie formuliert Whitehead mehrere Einwände, die sich nicht nur gegen Descartes, sondern zugleich gegen alle verwandten philosophischen Ansätze richten, insofern sie in programmatischem Anschluß an die mathematische Methode eine vermeintlich definitive Gewißheit beanspruchen. Zunächst vertritt Whitehead die Auffassung, daß sich eine präzise Formulierung der »allgemeinsten Prinzipien« (final generalities) nicht einmal in der Mathematik selbst ohne weiteres durchhalten lasse. Auch dort, so Whitehead, werden bisher nicht lösbare Schwierigkeiten sichtbar, will man die »letzten logischen Prinzipien« (ultimate logical 275

Whiteheads Kritik an den Abstraktionen des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens im 17. Jahrhundert, das »von Mathematikern für Mathematiker« geschaffen worden sei und schließlich zum »Ruin der modernen Philosophie« geführt habe (SMW, 70 / 71 f.), ist zu grundsätzlich, um wie Leclerc (1980), 122 f., in PR ohne weiteres eine Konzeption zu erkennen, »die das Philosophische und das Mathematische wieder eng miteinander verbindet«. 276 Vgl. Schüling (1969). 277 Discours II, 6 (A / T VI, 19).

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principles) formulieren, die ihr zugrundeliegen (PR, 8 / 39 f.).278 Wird die erwähnte Methode aber auf die Philosophie übertragen, so werden weitergehende Probleme sichtbar. Ein erster Irrtum liegt für Whitehead in der Auffassung, die mathematische Methode sei überhaupt auf die Philosophie übertragbar, worin er eine »Verfälschung« der Methode der Philosophie sieht: »Die wichtigste Methode der Mathematik ist Deduktion; die der Philosophie ist deskriptive Verallgemeinerung.« (PR, 10 / 44) Whitehead moniert in diesem Sinne sogar eine »Irreführung« der Philosophie durch die Mathematik (PR, 8 / 40). Eine legitime Rolle der Deduktion im Aufbau einer philosophischen Konzeption kann daher lediglich noch in einer Hilfsfunktion in einem abschließenden Stadium seiner Methode der deskriptiven oder anwendungsorientierten Verallgemeinerung bestehen, nämlich dem einer Verifizierung, »mittels derer die Reichweite der allgemeinen Prinzipien erprobt werden kann« (PR, 10 / 44). Die Deduktion kommt demnach dort zur Anwendung, wo von spekulativ entwickelten innersystematischen Aussagen auf Aussagen, die sich auf gegenüber den Ausgangsdaten des Systems erweiterte Erfahrungsbereiche beziehen, schlußfolgernd übergegangen werden soll. Whitehead wendet sich also gegen die aus seiner Sicht letztlich alle wesentlichen Philosophie-Epochen prägende Konzentration auf die Ausarbeitung deduktiver Systeme bei gleichzeitiger Vernachlässigung einer Kritik der dabei verwendeten Prämissen (FR, 68 / 55 f.). Abgesehen von der Frage der prinzipiellen Übertragbarkeit der mathematischen Methode auf die Philosophie bemessen sich Gültigkeit, Leistungsfähigkeit und Wert eines philosophischen Systems für Whitehead nicht nach der Klarheit und vermeintlichen Gewißheit ihrer ersten Prinzipien, sondern nach den Interpretationsmöglichkeiten, die es vermittelt. Bezweifelt wird also, daß sich die mathematische Methode, von der prinzipiellen Übertragbarkeit abgesehen, mit Gewinn auf die Philosophie übertragen lassen würde. Insbesondere die Einfachheit, auf die die axiomatische Methode mit ihrem Postulat eines möglichst geringen Bestands von Grundannahmen abzielt, ist nach Whitehead für das begriffliche Instrumentarium eines philosophischen Systems nicht sinnvoll zu fordern. Vielmehr erwartet er offenbar, daß es mit Hilfe eines differenzierten Begriffsapparats am ehesten gelingen werde, die Komplexität der Erfahrungswirklichkeit zu erfassen.

278

Vgl. auch Whiteheads Ablehnung der Annahme einer Selbstevidenz mathematischer Axiome (ESP, 137 f., und Whitehead (21927), 1 ff.).

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Die exakte Formulierung allgemein akzeptierter Prinzipien kann überdies nach Whitehead nicht Ausgangspunkt im Sinne eines axiomatischen Vorgehens, sondern allenfalls Ziel der philosophischen Arbeit sein. Im Sinne dieser Zielvorgabe impliziert Whiteheads Bestimmung eines spekulativen Schemas, die er zum Ausgangspunkt seiner eigenen Konzeption macht, daß sich jedes Element unserer Erfahrungswirklichkeit als Ausdruck einheitlicher, allgemeingültiger Prinzipien erfassen lassen muß.279 Diese rationalistische Position, die eine durchgängige Erkennbarkeit der Erfahrungswirklichkeit zur Voraussetzung hat, darf aber nach Whitehead nicht so verstanden werden, als könne man die grundlegenden metaphysischen Prinzipien endgültig formulieren. »Metaphysische Kategorien sind nicht dogmatische Feststellungen des Offensichtlichen, sie sind vorläufige Formulierungen der allgemeinsten Prinzipien.« (PR, 8 /40) Die Annahme der Vorläufigkeit, des Provisorischen oder Hypothetischen, prägt sowohl Whiteheads methodologische Vorstellungen als auch seine philosophiegeschichtliche Perspektive. Erkenntnisfortschritt, so Whitehead, ist in der Philosophie immer nur im Sinne einer »asymptotischen Annäherung« (FR, 53 / 46; vgl. 88 f. / 72 f.; PR, 9 / 42) an ein System letzter metaphysischer Prinzipien möglich und möglich gewesen, wobei diese Annäherung immer als relativ zu vorgängigen Konzeptionen und deren Erklärungswert zu verstehen ist. »Schwäche der Einsicht und Unvollkommenheiten der Sprache« stehen definitiver Gewißheit im Wege (PR, 4 / 33). Schon auf der Ebene der Prämissenfindung oder -bewertung sieht Whitehead eine Form von Übertreibung (overstatement) in der Forderung nach klaren und gesicherten Aussagen (PR, 8 / 39), die mit der vorschnellen Annahme verbunden sei, daß fehlerhafte Aussagen ohne Schwierigkeit lokalisiert werden könnten (PR, 8 / 40).280 Seine Annahme, daß keine sprachliche Formulierung das mit ihr Gemeinte vollständig treffe, findet Whitehead durch einen Blick auf die Philosophiegeschichte bestätigt, die eine Folge ganz unterschiedlicher Versuche darstellt, die Erfahrungswirklichkeit mittels allgemeiner Begriffe zu erfassen (PR, 12 f. / 47 ff.). Da die Begrifflichkeit eines Systems selbst die Interpretation der Erfahrungswirklichkeit prägt, stellt sich aus der Perspektive jedes neu konzipierten Systems die Erfahrungswirklichkeit anders dar. Diese Pluralität der Ansätze verweist zugleich auf die Schwierigkeit einer Bewertung einzelner Systeme. Ein etabliertes System 279

Vgl. 2.3 und 2.3.1. Die andere von zwei Hauptformen der Übertreibung sieht Whitehead in dem »Trugschluß der unangebrachten Konkretisierung« (PR, 7 f. / 39; vgl. SMW, 64/66). 280

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ist nicht nur selbst mit einer schon aus der Gewohnheit resultierenden scheinbaren Selbstverständlichkeit behaftet, sondern relativiert aufgrund seines spezifischen Zugangs zur Erfahrungswirklichkeit die Möglichkeit der Kritik durch eine neue Konzeption. Auch kann ein Ansatz, von dem man sich programmatisch distanziert, in einer neuen Konzeption latent wirksam bleiben. So ist der voraussetzungsfreie Zugang zu anderen Systemen nicht möglich, da er immer ein begrifflich vermittelter und interpretierender Zugang ist. Der voraussetzungsfreie Aufbau eines neuen Systems erweist sich prinzipiell als eine Fiktion. Als Voraussetzungen sind einerseits die Sprache und andererseits latente Orientierungen an vorgängigen Konzeptionen immer mit im Spiel. Dies gilt auch für Descartes, der selbst da, wo er sich von allen Voraussetzungen freizumachen glaubt, von den Perspektiven des aristotelischen Substanzbegriffs, des Substanz-Qualitäts-Schemas, des mechanistischen Materialismus usw. ausgeht. Ein voraussetzungsfreier Anfangspunkt des Wissensaufbaus, wie ihn Descartes fordert, ist also aufgrund bestimmter Voraussetzungen, die sich gerade nicht programmatisch eliminieren lassen und insofern immer wirksam bleiben, letztlich wohl überhaupt nicht zu realisieren. Whiteheads Descartes-Kritik läuft insofern auf den Vorwurf einer Selbsttäuschung hinaus. Die »wahre« und damit definitive Metaphysik ist angesichts der Pluralität von Zugängen zur Erfahrungswirklichkeit für Whitehead wenn nicht eine Fiktion so doch ein Ideal, dem sich jede Konzeption nach Möglichkeit annähern soll, ohne dabei aber einen dogmatischen Anspruch auf Endgültigkeit zu erheben. Dagegen ist ein an den Dogmen von Endgültigkeit und Evidenz orientiertes philosophisches Denken Ausdruck der erwähnten programmatischen Übertreibung (PR, 7 f. / 39), die nicht zuletzt auf einer Fehleinschätzung der Gewißheit beruht, die durch streng methodisches Vorgehen verbürgt zu sein scheint. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Gewißheits- oder Endgültigkeitsansprüche nach Whitehead am Anfang des spekulativen Prozesses nicht sinnvoll erhoben werden können und am Ende nicht einlösbar sind. Dem Anspruch eines voraussetzungsfreien Neuanfangs bei Descartes steht nicht zuletzt die Auffassung Whiteheads gegenüber, ›Fußnoten‹ zu verfassen. Seine Fußnoten-These, derzufolge die Tradition der westlichen Philosophie am sichersten als eine Reihe von Fußnoten zu Platon charakterisierbar ist, denen Whitehead auch seine eigene Konzeption subsumieren will,281 steht an sich schon im Gegensatz zu der Zielsetzung bzw. 281

Vgl. 1.3.

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der Möglichkeit des voraussetzungslosen Neuanfangs. Sie bedeutet gerade eine Aufwertung der traditionellen Voraussetzungen im Verhältnis zu aktuellen und möglichen Neukonzeptionen. Subsumiert man eine eigene Konzeption den Fußnoten im hier vorausgesetzten Sinne, so bedeutet dies schon einen Verzicht auf Ansprüche, die Whitehead als ›overstatement‹ kritisiert. Trivialerweise betrifft und umfaßt die Fußnoten-These auch Descartes’ metaphysischen Neuansatz. Zu diesem steht sie insofern in Opposition, als sie impliziert, daß der Anspruch des Neuanfangs nicht über das Faktum der Voraussetzungshaftigkeit hinwegtäuschen kann. Wer sich in der Situation des Neuanfangs wähnt, läuft Gefahr, die historischen und systematischen Voraussetzungen, denen das eigene Denken immer schon unterliegt, zu bagatellisieren, zu übersehen oder zu leugnen. Was kann an die Stelle von Gewißheits- und Endgültigkeitsansprüchen treten, wie sie exemplarisch bei Descartes vorliegen? Eine ganz andere Einstellung, die sich von derartigen Ansprüchen klar distanziert, sieht Whitehead bei Platon gegeben, den er im Hinblick darauf, »wie man seine Meinung vertritt«, mit Augustinus vergleicht (AI, 105 f. / 226 ff.). Augustinus kann für Whitehead als Beispiel einer dogmatischen und mit definitivem Anspruch vertretenen Lehre dienen, da er zwar im Laufe seines Lebens verschiedene seiner Positionen aufgegeben, aber doch die jeweils vertretene Position für definitiv gehalten hat. Als kennzeichnend für die entgegengesetzte, undogmatische Einstellung sieht Whitehead eine Textstelle bei Platon an, wo Timaios seine vorhergehenden kosmologischen Betrachtungen mit den Worten relativiert: »[…] es sollte schon genügen, wenn unsere Geschichte nicht weniger plausibel als andere ist. Wir müssen nämlich immer daran denken, daß wir alle bloß Menschen sind, ich, der ich sie erzähle, und ihr, die ihr sie hört, und daß uns deshalb bei diesen [kosmologischen und metaphysischen] Fragen wohl eine wahrscheinliche Geschichte genügen muß […]« (AI, 106 / 228).282 In demselben Sinn und Kontext zitiert Whitehead eine Formulierung aus Platons Sophistes, wo ein Fremder im Gespräch mit Theaitetos dafür plädiert, für die Vertretbarkeit des Seins von Unkörperlichem mittels »Vorschlägen« (suggestions) zu argumentieren (ebd.). 283 282

Timaios, 29 c. Whitehead zitiert Platon hier nach der Übersetzung von A.E. Taylor; wir folgen der Übersetzung von Bubser in der dt. Ausgabe von AI. Zur Darstellung philosophischer Positionen als ›Geschichten‹ vgl. auch Sophistes, 242 c–e, und Menon, 81 a–b. 283 Sophistes, 247 d; auffallend ist, daß die Textstelle in Jowetts Sophistes-Überset-

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Diese Platon-Bezüge lassen erkennen, daß Whitehead den Entwurf einer wahrscheinlichen Geschichte bzw. eines Vorschlags als die dem spekulativen Denken angemessene Vorgehensweise betrachtet, zumal das spekulative Denken schon aufgrund der prinzipiell beschränkten Erkenntnisfähigkeiten des Menschen immer die Möglichkeit erforderlicher Revisionen in Rechnung stellen muß. Es ist anzunehmen, daß nicht nur Whiteheads Kritik des cartesischen Gewißheitsideals an diesen methodologischen Grundsätzen Platons orientiert ist, sondern daß auch Whiteheads eigene Konzeption eines »provisorischen Realismus« (SMW, 90, 113 / 90, 111) sich diesem Vorbild verdankt. Werden philosophische Annahmen oder Konzeptionen mit dem reduzierten Geltungsanspruch einer nur wahrscheinlichen Geschichte oder eines Vorschlags verbunden, so bedeutet dies einen ausdrücklichen Verzicht auf Gewißheitsansprüche im Sinne Descartes’, der in seinem Methodenentwurf »alles bloß Wahrscheinliche für nahezu falsch« hält.284 Indessen ist daran zu erinnern, daß Descartes im dritten Teil seines Discours de la Méthode Wahrscheinlichkeit als Rationalitätsstandard gelten läßt bzw. sogar ausdrücklich vorsieht. Für die Phase des aufwendigen Projekts eines systematischen Neuaufbaus des Wissens hält Descartes eine »Moral auf Zeit« für erforderlich, die gleichsam als bequeme Unterkunft während der Bauzeit zu dienen habe.285 Diese Metaphorik verweist auf Descartes’ Ansicht, daß, solange der methodisch gesicherte Neuaufbau des Wissens noch nicht abgeschlossen ist, eine provisorische Moral Handlungsorientierung unter pragmatischen Gesichtspunkten ermöglichen kann. Im Rahmen dieser Moral wird als zweite Maxime die für »ganz unbestreitbar wahr« ausgegebene Forderung erhoben, daß wir, wenn es nicht in unserer Macht steht, die »wahrsten Ansichten« zu erkennen, den »wahrscheinlichsten« folgen sollen.286 Der hier verwendete Wahrscheinlichkeitsbegriff kommt auch bereits in Descartes’ erster Maxime zur Anwendung, durch die gefordert wird, sich angesichts einer lebensweltlich gegebenen Pluralität von Gesetzen, Sitten und religiösen Orientierungen an den gemäßigtsten als den »wahrscheinlich […] besten« zung, auf die in AI, 106, Anm. 2, verwiesen wird, gar nicht den Begriff »suggestion«, sondern den Begriff »notion« enthält; der Begriff »suggestion« fällt erst in der übernächsten Antwort des Theaitetos; vgl. Jowett (41953), 400. – Als »Vorschlag« (suggestion) präsentiert Whitehead auch Platons Definition des »wahrhaft Seienden« in Sophistes, 247 e (AI, 119 / 248). 284 Discours I, 12 (A / T VI, 8). 285 Discours III, 1 (A / T VI, 22). 286 Discours III, 3 (A / T VI, 25).

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zu orientieren.287 Ganz anders als in dem Entwurf seiner rationalistischen Methode selbst wird Wahrscheinlichkeit hier also nicht mit Falschheit, sondern mit Wahrheit in Verbindung gebracht, und zwar in der Weise, daß in Bereichen, wo wahre Ansichten nicht verfügbar sind, wahrscheinlichste an ihre Stelle zu treten haben. Dies entspricht nun genau der Situation, die Whitehead im Hinblick auf philosophische Systeme unterstellt: Ein voraussetzungsfreier Anfang ist faktisch nicht gegeben und methodologisch nicht plausibel. Eine wahre Konzeption im Sinne definitiver Geltung hält Whitehead prinzipiell nicht für erreichbar. Deshalb muß es das Ziel sein, vorgegebenen wahrscheinlichen Geschichten im Sinne einer asymptotischen Annäherung an Gewißheit eine jeweils wahrscheinlichere bzw. eine wahrscheinlichste hinzuzufügen.288 Die vorgängigen Konzeptionen sind dabei in Analogie zu Descartes’ vorgegebenen Gesetzen, Sitten und Religionen zu sehen, der Entwurf einer Neukonzeption als das sich an diesen Normen nach Maßgabe von »Wahrscheinlichkeit« orientierende Handeln. Bei Descartes soll die praktische Moral dort als Platzhalter gelten, wo die definitive rationalistische Methode noch nicht verfügbar ist. Whiteheads Stufen einer asymptotischen Annäherung an nicht verfügbare Gewißheit im Sinne eben solcher »Wahrscheinlichkeiten« oder wahrscheinlicher Geschichten verstehen wir also im Sinne jenes Rationalitätsstandards, der in Descartes’ praktischer Philosophie skizziert wird. So wenig in dieser praktischen Philosophie ein absoluter Anfang von Begründung vorkommt, so wenig nimmt Whitehead im Konzipieren seines metaphysischen Systems einen absoluten Anfang der Begründung in Anspruch. Daß Whitehead seine eigene Philosophie, wie erwähnt, als einen »provisorischen Realismus« charakterisiert, entspricht dem provisorischen Charakter der cartesischen praktischen Maximen. Whiteheads Suche nach allgemeinsten metaphysischen Prinzipien versteht sich nicht als Versuch einer voraussetzungslosen Grundlegung, sondern vielmehr als der einer kritischen Differenzierung tradierter Konzeptionen. Der cartesischen Vorstellung einer »Moral auf Zeit« korrespondiert Whiteheads Projekt einer Metaphysik auf Zeit.

287

Discours III, 2 (A / T VI, 23). Derselbe Superlativ, den Descartes verwendet, kommt auch bei Whitehead vor (AI, 147 / 287). Nach Whiteheads Paraphrase wird bei Platon »the most likely tale« angezielt, was in Bubsers Übersetzung »eine einleuchtende und wahrscheinliche Geschichte« nicht deutlich wird. 288

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3.3.2 Substanzmetaphysik und ›bifurcation‹ der Wirklichkeit Whiteheads methodologische Kritik ist oft verbunden mit Einwänden gegen inhaltliche Positionen der cartesischen Philosophie sowie ihre Einflüsse auf nachfolgende philosophische und wissenschaftliche Traditionen. Zwar würdigt Whitehead Descartes’ Subjektivismus als eine Leistung, die diesen zu Recht als Begründer der neuzeitlichen Philosophie erscheinen lasse, weil hier erstmals das erfahrende Subjekt als primärer Untersuchungsgegenstand zur Geltung kommt. Andererseits jedoch wird der Körper-Geist-Dualismus von Whitehead sowohl als metaphysische Lehre als auch im Hinblick auf seine wissenschaftshistorischen Konsequenzen grundlegend kritisiert und überdies dafür verantwortlich gemacht, daß Descartes’ Subjektivismus ein fruchtbarer Ansatz geblieben, nicht aber zu einer adäquaten metaphysischen Konzeption ausgearbeitet worden sei. Der Körper-Geist-Dualismus selbst verdankt sich nach Whitehead zugleich unreflektierten Abstraktionen und verfehlten metaphysischen Voraussetzungen, weshalb er die Ablösung durch eine monistische, organistische Metaphysik erfordert, wie sie in PR vorgelegt wird. Indessen spricht Whitehead selbst von einem »augenfälligen Doppelaspekt« (obvious duality) (FR, 29 / 28) von Körper und Geist, mit dem sich jede Kosmologie auseinandersetzen müsse. Unter einer Kosmologie versteht Whitehead – abweichend von der klassischen terminologischen Grundlegung bei Wolff sowie von dem modernen Verständnis von Kosmologie als naturwissenschaftliche Disziplin – ein dem Anspruch nach universelles Interpretationsmodell unserer Erfahrungswirklichkeit. Als historische Vorbilder einer solchen Kosmologie betrachtet Whitehead einerseits Platons Timaios, andererseits die Naturphilosophie Newtons. Er fordert zugleich in seiner eigenen in PR entwickelten Nachfolgekonzeption eine Synthese von Religion, Ethik, Ästhetik und Naturwissenschaften.289 Sowohl der universalistische Anspruch als auch das Anliegen einer Interpretation unserer Erfahrungswirklichkeit, gewiß aber auch der philosophiegeschichtliche Befund einflußreicher dualistischer Konzeptionen selbst, verlangt eine Auseinandersetzung mit der genannten Körper-Geist-Dichotomie. Wird diese jedoch in Form einer »augenfälligen«, d. h. evidenten, Annahme schon vorausgesetzt, so stellt sich die Frage, mit welchen Intentionen Whitehead Descartes’ Körper-Geist-Dualismus 289

Zu einer ausführlicheren Rekonstruktion von Whiteheads Kosmologiebegriff und seinen Bedeutungselementen vgl. 2.3.1.

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eigentlich kritisiert und in seinem eigenen System durch einen Monismus ersetzt, und inwiefern er selbst dabei dennoch – entsprechend seiner eigenen Forderung an eine Kosmologie – dem genannten Doppelaspekt gerecht wird. Zugleich stellt sich die Frage nach der Berechtigung von Whiteheads Kritik am cartesischen Dualismus. Von beiden Fragen, die natürlich in engem sachlichem Zusammenhang stehen, ist aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung die erste, nämlich die nach den Intentionen von Whiteheads Kritik am cartesischen Dualismus, vorrangig. Welche Elemente der cartesischen Lehre werden mit welchen Gründen kritisiert und auf welche Elemente der cartesischen Lehre kann Whiteheads Organismusphilosophie, die an die Stelle der dualistischen Substanzmetaphysik treten soll, aufbauen? Whitehead kritisiert den cartesischen Körper-Geist-Dualismus als metaphysische Position, die die unkritische Übernahme eines unzulänglichen Gedankenschemas impliziere (SMW, 22 / 30; FR, 59/50), welches eine »Fehldeutung der empirischen Gegebenheiten« beinhalte (FR, 30 / 28) und unzutreffend »in den Rang eines kosmologischen Grundsatzes« erhoben werde (FR, 88 / 72). Zugleich macht Whitehead diesen Dualismus für erhebliche philosophie- und wissenschaftshistorische Fehlentwicklungen der Folgezeit verantwortlich. Was Whitehead Descartes ebenso wie dessen Nachfolgern vorwirft, ist also zunächst die unkritische Akzeptanz der gängigen »wissenschaftlichen Kosmologie« (SMW, 22 / 30), deren Dominanz Whitehead historisch begründet: Die Spätrenaissance zeigt sich geprägt durch die sog. »historische Revolte«, eine Denkbewegung, deren Hauptmerkmal (neben der Reformation) die anti-rationalistische oder anti-intellektualistische Orientierung der aufkommenden wissenschaftlichen Bewegung ist (SMW, 10 / 19). Über diesen Anti-Rationalismus, verstanden als eine Reaktion auf die vernunftzentristische Ausrichtung des mittelalterlichen Denkens, kann auch das Festhalten an der Mathematik als »Relikt des griechischen Rationalismus« nicht hinwegtäuschen (SMW, 20 / 28). Die Opposition der wissenschaftlichen Bewegung der Spätrenaissance gegenüber der Rationalitätsemphase des Mittelalters ging nicht nur gemäß ihrer empiristischen Ausrichtung mit einer Konzentration auf die »nackten Tatsachen« selbst einher, sondern fand ihre Fortsetzung in der Weigerung der Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, ihre kosmologischen Grundideen auf Rationalität hin befragen zu lassen, sprach doch der beeindruckende Erfolg dieser Grundideen für sich (SMW, 22 / 30). Da also der Erfolg der wissenschaftlichen Grundideen einen Versuch, sie etwa kritisch zur Disposition zu stellen, nicht nahelegte, wurde die

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Philosophie hier aus ihrer traditionellen Rolle einer kritischen Reflexionsinstanz verdrängt oder als solche nicht ernstgenommen: »Die Physiker verloren das Interesse an der Philosophie. Sie huldigten dem Anti-Rationalismus der historischen Revolte.« (SMW, 63 / 66) Aus Whiteheads generalisierender Perspektive konnte aber auch die Philosophie selbst von der Erfolgsgeschichte der wissenschaftlichen Bewegung und ihrer Grundideen nicht unbeeinflußt bleiben: »Jede Philosophie mußte sie so oder so als Ganzes schlucken.« (SMW, 22 f. / 30) Das »willkürliche Stehenbleiben« bei bestimmten unreflektierten Abstraktionen (SMW, 250 / 233) betraf so im Ergebnis neben den Wissenschaften selbst auch die Philosophie, welche, nunmehr als kritische Instanz im Hinblick auf die Wissenschaften unwirksam geworden, deren kosmologische Grundlagen unkritisch übernahm.290 So plausibel der Befund einer nahezu zwangsläufigen Übernahme dominierender wissenschaftlicher Grundideen durch die Philosophie nach Whiteheads historischer Skizze erscheinen mag, so wenig paßt sie auf den ersten Blick zu dem betont kritischen Reflexionsmodus, in dem Descartes seine Metaphysik aufbaut. Der wissenschaftskritische Beginn des Discours de la Méthode wie auch das Selbstverständnis der Meditationes geht einher mit der Zielsetzung eines wissenschaftlichen Neubeginns, mit dem gerade beansprucht wird, von jeglicher Inanspruchnahme tradierten Wissens abzusehen. So stehen sich Descartes’ programmatische Absicht und Whiteheads historischer Befund unkritischer Übernahmen anscheinend unvereinbar gegenüber. Worauf Whitehead indessen aufmerksam macht, ist, daß viele Voraussetzungen auch da noch unbemerkt einfließen bzw. eine Rolle spielen können, wo man sich mit kritischem Habitus von allen Voraussetzungen freigemacht zu haben glaubt oder vorgibt. Die Frage, ob das cartesische Cogito nicht tatsächlich entsprechenden Reflexionen des Augustinus entspricht, wurde schon von Descartes’ Zeitgenossen diskutiert. In den cartesischen Gottesbeweisen spie290

Whiteheads Charakterisierung der modernen Wissenschaften erinnert hier an Kuhn (21976), der generell feststellt, daß der Erfolg einer Wissenschaft, genauer der eines wissenschaftlichen Paradigmas, die Bereitschaft zu kritischer Reflexion und zum Einlassen auf eine Kritik von außen hemmt. Whitehead bemerkt in diesem Sinn: »Jedes System ist zunächst ein triumphaler Erfolg, bis es dann endlich zu einem lästigen Hemmschuh des Fortschritts wird.« (AI, 159 / 305) – Eine zweite Parallele Whiteheads zu Kuhn betrifft dessen Auffassung hinsichtlich der Bedingungen einer Ablösung von Theorien, mit der dieser sich gegen den Fallibilismus Poppers wendet und die Whitehead auf die Philosophie überträgt: »Man hat festgestellt, daß philosophische Systeme nie widerlegt werden; sie werden lediglich aufgegeben.« (PR, 6/36)

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geln sich entsprechende scholastische Argumentationsgänge wieder. Auch scheint die Annahme in den Meditationes, wonach vom materiellen Ich hypothetisch abstrahiert werden kann, vom geistigen Ich hingegen nicht, den von Whitehead kritisierten Körper-Geist-Dualismus schon vorauszusetzen. Die näheren Erörterungen der körperlichen Substanzen wiederum sind deutlich von den Prämissen des mechanistischen Materialismus geprägt. Weitere unkritisch übernommene Voraussetzungen und unterschwellige Denkgewohnheiten lassen sich jenseits bzw. unterhalb der Ebene einer bestimmten Lehrmeinung oder Theorie ausmachen. Charakteristisch für solche latent wirksamen Prämissen, soweit sie von Whitehead in Betracht gezogen werden, ist, daß sie sich bis in früheste Phasen der Philosophiegeschichte zurückverfolgen lassen. Nicht zuletzt in dem Aufweis oft unbewußter oder doch uneingestandener Voraussetzungen wird Whiteheads Sichtweise der Philosophiegeschichte als eines kontinuierlichen Ganzen erkennbar, das in Form vorgängiger Denktraditionen immer auch dort präsent ist, wo man sich von ihm unabhängig wähnt oder sogar in programmatischer Absicht von ihm freizumachen glaubt. Wenn Whitehead in seiner Rede von einem augenfälligen Doppelaspekt der Wirklichkeit einen Körper-Geist-Dualismus grundsätzlich anerkennt – für ihn »bezweifelt in gewissem Sinne niemand, daß es Körper und Geister gibt« (RM, 105 / 80) –, so drückt sich hierin zunächst eine Akzeptanz der cartesischen Konzeption aus. Descartes hat »in einem bestimmten Sinne recht«, da Körper und Geist »bis zu einem gewissen Punkt unabhängig voneinander« untersucht werden können (FR, 88 / 72), sind sie doch etwas für die gewöhnliche Erfahrung »Offensichtliches« (SMW, 178 / 168). Gleichzeitig wendet Whitehead kritisch ein, daß der Dualismus von Descartes unangemessen »in den Rang eines kosmologischen Grundsatzes« (FR, 88 / 72) erhoben werde. Seine Kritik betrifft also nicht den cartesischen Dualismus als solchen, sondern vielmehr den Status, den Descartes der genannten Dichotomie zuweist: »Fraglich ist nur die Stellung von Körpern und Geistern im Schema der Dinge.« (RM, 105 / 80 f.) Whitehead bezeichnet den cartesischen Dualismus als »großes Verdienst« und fügt an: »Es gibt Materiestücke, und es gibt Geister. Beide, Materie und Geist, müssen in das metaphysische Schema eingebaut werden.« (RM, 108 / 82) Dieses Zugeständnis geht schon so weit, daß Whiteheads eigene metaphysische Intentionen, die gewiß nicht die Annahme von »Materiestücken« nahelegen, verdeckt werden und sich die Frage stellt, was hier von der einschränkenden, relativierenden Kritik am cartesischen Dualismus eigentlich übrigbleibt.

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Gegenstand der Problematisierung Whiteheads ist vor allem, daß Descartes den Doppelaspekt von Körper und Geist unter Rückgriff auf den Substanzbegriff zum Ausdruck bringt und erklärt. Die beiden mit Körper und Geist identifizierten Substanztypen unterscheidet Descartes über je eine ursprüngliche Qualität, welche ihre Natur und ihr Wesen ausmacht, d. h. über eine wesentliche oder konstitutive Eigenschaft, wobei die Natur bzw. das wesentliche Attribut der körperlichen Substanz in ihrer Ausdehnung, die Natur bzw. das wesentliche Attribut der geistigen Substanz in ihrem Denken besteht. Der Doppelaspekt der Wirklichkeit geht bei Descartes also in der Substanz-Dichotomie von res extensa und res cogitans auf. Whiteheads Abkehr von der Substanzmetaphysik läßt sich aus drei Perspektiven verstehen.291 Erstens setzt Whitehead die durch Locke und Hume repräsentierte empiristische Auflösung des Substanzbegriffs fort. Zweitens will Whitehead der Physik seiner Zeit Rechnung tragen, für die die Vorstellung einer Substanz, welche als Beharrendes den wechselnden an ihr vorkommenden Qualitäten zugrundeliegt, ihre Bedeutung verlieren mußte. Drittens sieht Whitehead eine innere Problematik des Substanzbegriffs, der aufgrund seiner Konnotationen von Selbständigkeit bzw. Selbstgenügsamkeit und Statik der relationalen, dynamischen Grundstruktur der Erfahrungswirklichkeit nicht gerecht werden kann. In Whiteheads kritischen Stellungnahmen zu Descartes ist besonders die dritte der genannten Perspektiven von Bedeutung. Whitehead betrachtet das für die neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft prägende Substanzdenken als unzulängliches Denkschema, wobei seine Begründung zunächst historisch ansetzt: Das SubstanzQualitäts-Schema hat seinen Ursprung in der griechischen Philosophie und ihrer direkten Parallelisierung von allgemeinen Strukturen der Wirklichkeit und Grundstrukturen der Sprache. So wird entsprechend der Struktur einfacher assertorischer Aussagen, in denen einem Subjekt ein Prädikat zugesprochen wird, angenommen, daß die Welt aus Substanzen bestehe, denen bestimmte Eigenschaften zukommen. Wenngleich Aristoteles diese beiden Grundstrukturen – die sprachliche und die metaphysische – zumindest nicht eindeutig und ausdrücklich identifiziert, sondern nach verbreiteter Auffassung seine Metaphysik weitgehend unabhängig von der Subjekt-Prädikat-Struktur assertorischer Aussagen entwickelt, so wird diese doch für spätere metaphysische Konzeptionen, insbesondere die des Descartes, zum zentralen Paradigma. Whitehead macht vor allem 291

Vgl. Böhme (1980), 45 f.

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die besondere Gewichtung der aristotelischen Logik innerhalb der Scholastik für diese Tendenz verantwortlich. Die Aristoteliker des Mittelalters formulierten demnach ihre metaphysischen Konzeptionen vor dem Hintergrund einer logischen Begrifflichkeit und in Orientierung an den Kategorien des Aristoteles. Mit Descartes erlangte das Substanz-Qualitäts-Schema dann seine Schlüsselfunktion und endgültige Dominanz im modernen Denken. Bestimmt als dasjenige, was »zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf«,292 und was Träger verschiedener an ihr vorkommender Qualitäten ist, wird die Substanz zur zentralen Wirklichkeitskategorie und zum dominierenden Erklärungsbegriff. Die Substanz mit ihren Attributen wird letzte Grundannahme für so disparate Konzeptionen wie den Dualismus Descartes’ und den Monismus Spinozas. Nach Whitehead wird die Verdrängung des Dualismus durch den Monismus durch den Substanzbegriff in der bei Descartes vorliegenden Form selbst nahegelegt. Denn die Beschreibung einer cartesischen Substanz, die wesentlich dadurch bestimmt ist, ›selbstgenügsam‹, unabhängig und beziehungslos zu sein, legt als solche schon die Annahme einer Vielheit von Substanzen nicht nahe. Vielmehr impliziert für Whitehead die Annahme einer solchen Vielheit von Substanzen eine Inkohärenz, d. h. »die willkürliche Zusammenhanglosigkeit zwischen den Grundprinzipien« (PR, 6 / 37), und widerspricht so der »offensichtlichen Solidarität der Welt« (PR, 7 / 38). Aus dieser Inkohärenz resultiert die nachfolgende Entwicklung einer monistischen Position bei Spinoza, die dem cartesischen Ansatz zu größerer Kohärenz293 verhilft, was für Whitehead ihre Anziehungskraft ausmacht, fast schon zwangsläufig (ebd.). Whiteheads Kritik an der cartesischen Substanzkonzeption ist jedoch auf dieser elementaren Unterscheidungsebene zweideutig. Er wendet sich einerseits gegen die Annahme einer Vielzahl von einzelnen Substanzen, andererseits gegen mehrere Arten von Substanzen. Diese Zweideutigkeit beruht darauf, daß Whitehead bei Descartes selbst hier eine Unklarheit sieht: Die Frage, »ob es bei Descartes eine individuelle körperliche Substanz mit einer Vielfalt von Bewegungsmodalitäten gibt, oder aber eine Vielzahl individueller körperlicher Substanzen, zwischen denen es nur essentiell äußerliche Beziehungen gibt« (AI, 134 f., Anm. 4 / 270, Anm. 1), ist für Whitehead nicht klar entscheidbar. Er sieht für beide – eigentümlicherweise nur hinsichtlich der körperlichen Substanzen 292

Die Prinzipien der Philosophie I, Abs. 51 (vgl. auch Abs. 52) (A / T VIII–1, 24 f.); zit. hier und im folgenden nach der Übers. von Buchenau. 293 Vgl. 2.3.3 und 2.3.4.

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gegenübergestellten – Auffassungen Schwierigkeiten. Lediglich in den Prinzipien der Philosophie I, Abs. 60, findet Whitehead einen deutlichen Hinweis auf die Annahme einer Vielzahl von körperlichen Substanzen (ebd.).294 Dieselbe Unklarheit setzt nun Whitehead in seiner DescartesInterpretation gleichsam fort, indem er von der »Überwindung von Descartes’ vielen Substanzen durch Spinozas eine Substanz« spricht (PR, 48 / 107), zugleich aber die Inkohärenz, die dann durch Spinoza korrigiert werde, »durch Descartes’ Zweiteilung in körperliche und geistige Substanzen« – der englische Text enthält die Formulierung »two kinds of substance« – veranschaulicht sieht (PR, 6 / 37; vgl. MT, 149).295 Whitehead wechselt also zwischen einer Kritik an der numerischen und der generischen Substanz-Vielheit bei Descartes, wobei freilich die Kritikpunkte insofern zusammenfallen, als eine generische Substanz-Vielheit eine numerische impliziert. Beide kritischen Perspektiven verdanken sich unterschiedlichen Aspekten und eigenen Motiven: Der numerische Substanz-Pluralismus führt zu »metaphysischen Unannehmlichkeiten« (PR, 137 / 260), d. h. zu dem Problem der Relationen zwischen den individuellen Substanzen. Der generische Substanz-Pluralismus läßt dieses metaphysisch-erkenntnistheoretische Grundproblem in das zusätzliche Dilemma der ›bifurcation‹ der Wirklichkeit einmünden. Dem Changieren des kritisierten Dualismusbegriffs steht bei Whitehead ein eindeutiges Monismus-Plädoyer gegenüber: Ein explizit nicht generisch, sondern numerisch verstandener Monismus296 im Sinne Spinozas weist den Ausweg (ebd.) – für Whitehead ist jede nennenswerte Philosophie des Subjekt-Prädikat-Typs monistisch (PR, 137 / 261).

294

(A / T VIII–1, 28 f.); Whitehead bezieht sich auf Descartes’ Formulierung »jede […] körperliche Substanz«; an gleicher Stelle kommt auch die Formulierung »jede […] ausgedehnte Substanz« vor. 295 Whiteheads sich hieran anschließende Formulierung greift zugleich beide möglichen Weisen einer Substanz-Vielheit bei Descartes auf, die numerische und die generische: »There is, in Descartes’ philosophy, no reason why there should not be a one-substance world, only corporeal, or a one-substance world, only mental« (PR, 6). Holls Übersetzung unterschlägt jedoch hier Whiteheads Kritik an einer numerischen Vielheit: »Es gibt in Descartes’ Philosophie keinen Grund, warum es nicht eine Welt geben sollte, die nur aus geistigen oder nur aus körperlichen Substanzen aufgebaut ist« (PR, 37). Zu Whiteheads Kritik an Descartes’ Annahme zweier Substanzarten vgl. auch MT, 149. 296 Die Verwendung des Begriffs »Monismus« auch für Konzeptionen, die eine Vielheit gleichartiger Substanzen annehmen, macht diesen als Gegenbegriff zu »Pluralismus« untauglich; vgl. Horstmann (1984), 28.

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Eine weitere Unklarheit bei Whitehead liegt – zumindest vordergründig – darin, daß er bei Descartes anstatt der Dichotomie von res cogitans und res extensa zuweilen »drei Substanztypen – Gott, Materieteile und Geister« vorausgesetzt sieht (RM, 107 / 81). Ausgehend von diesen drei Substanztypen rekonstruiert Whitehead auch die Grundprinzipien der cartesischen Metaphysik hinsichtlich des Substanz-Qualitäts-Schemas (PR, 144 f. / 271 f.). Demnach besteht eine elementare Aussage über die Wirklichkeit in der Zuordnung einer Qualität zu einer Substanz. Eine Qualität ist für Descartes entweder ein Akzidenz oder ein wesentliches Attribut, woraus sich drei unterschiedliche Möglichkeiten des Vorkommens von Veränderung ergeben: die Veränderung der Akzidenzien einer Substanz, die Entstehung einer Substanz und das Vergehen einer Substanz. Während in Descartes’ Konzeption jede körperliche oder geistige Substanz in ihrer Existenz von anderen körperlichen oder geistigen Substanzen unabhängig ist, ist sie hingegen auf ein Mitwirken der Substanz Gott angewiesen. So sind die wesentlichen Attribute einer geistigen Substanz ihr Denken und ihre Abhängigkeit von Gott; die wesentlichen Attribute einer körperlichen Substanz sind ihre Ausdehnung und ihre Abhängigkeit von Gott. Die Abhängigkeit von Gott fungiert also hier der Sache nach als wesentliches Attribut geistiger und körperlicher Substanzen, obwohl Descartes, wie Whitehead einräumt, den Begriff »Attribut« nicht für jene Abhängigkeit verwendet. In Whiteheads wechselndem Bezug auf die hier beschriebene drei-Substanzen-Lehre des Descartes einerseits und den Körper-Geist-Dualismus andererseits muß indessen keine Inkonsequenz gesehen werden. Der Wechsel verdankt sich vielmehr seiner jeweiligen Untersuchungsperspektive, wie dies auch bei seiner zuvor thematisierten uneinheitlichen Kritik von generischem und numerischem Dualismus der Fall ist. Betrachtet Whitehead Descartes’ Metaphysik als solche und hinsichtlich ihrer allgemeinen Prinzipien, so stellt sich diese als drei-Substanzen-Lehre dar. Betrachtet er sie dagegen in der speziellen Hinsicht eines Interpretationsmodells für die Erfahrungswirklichkeit bzw. für das eigene Selbst, so erscheint sie als Körper-GeistDualismus. Aus beiden Untersuchungsperspektiven erweist sich für Whitehead der cartesische Ansatz aufgrund des verwendeten Substanzbegriffs als angreifbar. Von der uneinheitlichen Kritik am cartesischen Dualismus einerseits und der wechselnden Unterscheidung zweier und dreier Substanztypen andererseits bleibt die eigentliche Intention von Whiteheads Kritik am Substanz-Qualitäts-Schema jedoch unberührt: Unabhängig von Art oder Anzahl der vorausgesetzten Substanzen schließt der Substanzbegriff auf-

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grund der in ihm enthaltenen ontologischen Selbstgenügsamkeit und Isoliertheit ein durchgängiges Verbundensein der Erfahrungswirklichkeit aus. Der Körper-Geist-Dualismus erweist sich besonders im Rahmen der Erklärung gegenständlicher Erkenntnis, die ja wesentlich ein Bezogensein zwischen Erkennendem und Erkanntem voraussetzt, aufgrund der Isoliertheit der jeweils involvierten Substanzen als unzulänglich. So mündet Whiteheads Kritik darin, daß er den cartesischen Dualismus als ungeeignet ansieht, das Phänomen gegenständlicher Erkenntnis in einer Weise zu erklären, die dem natürlichen Menschenverstand und seiner vorreflexiven Sichtweise, wonach diese Erkenntnis eine unmittelbare Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt darstellt, auch nur annähernd gerecht würde.297 Nach Descartes müssen akzidentelle Beziehungen zwischen Substanzen grundsätzlich mittelbar, nämlich über ihre Qualitäten, erklärt werden. Diese Beziehungen werden dann als ein Verhältnis der Korrelation ihrer Qualitäten verstanden. Somit ist auch der relationale Vorgang gegenständlicher Erkenntnis als Beziehung einer Qualität der erkennenden Substanz zu einer Qualität der erkannten Substanz zu verstehen. Die Qualität der erkennenden Substanz bzw. des Erkenntnissubjekts beschreibt Descartes als Idee, die die Qualität der erkannten Substanz bzw. des Erkenntnisobjekts repräsentiert. Dabei ist die Korrelation der Qualitäten bei Descartes nur in der Weise erklärbar, daß ihre Idee selbst eine akzidentelle Qualität der Substanz Gott ist (PR, 144 f. / 271 f.).298 Schon in Descartes’ Auffassung der Erkenntnis als Repräsentation sieht Whitehead eine unüberwindbare Schwierigkeit. Da hiernach nicht der Gegenstand selbst, sondern immer nur seine Repräsentation Inhalt der Erkenntnis ist, bleibt die Frage nach der Angemessenheit oder Gültigkeit der Repräsentation prinzipiell offen. Diesen Sachverhalt kritisiert Whitehead als das »subjektivistische Prinzip«, welches besagt, daß dem Erkennenden nur subjektive Vorstellungen gegeben sind, während die Frage danach, was diesen Vorstellungen in der Wirklichkeit entspricht, bzw. ob ihnen überhaupt etwas Objektives entspricht, letztlich nicht entscheidbar ist.299 Diese Auffassung muß nach Whitehead auf die Illusion eines isolierten Subjekts hinauslaufen, das sich in der Innenwelt 297

Vgl. Fetz (1981), 38 f. Whiteheads Formulierung »God is aware of the correlation« (PR, 144) ist anstatt mit »Gott ist der Idee gewahr« (272) richtiger mit »Gott ist der Korrelation gewahr« zu übersetzen. 299 Vgl. 3.3.3. 298

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des Bewußtseins seiner selbst bewegt. Für einen derartigen »Solipsismus« ist die Annahme einer Wirklichkeitsentsprechung nicht mehr als ein, wie Whitehead es mit Santayanas Worten ausdrückt, »tierischer Glaube« (PR, 81 / 163). So wenig Descartes’ Erklärung des Erkenntnisvorgangs nach Whitehead der vorreflexiven Erfahrung bzw. dem natürlichen Menschenverstand gerecht wird, so eindeutig erscheint sie ihm als das einzige mit dessen metaphysischen Grundprinzipien verträgliche Modell. Als Ausweg aus Descartes’ unbefriedigender Theorie bietet sich für Whitehead grundsätzlich zweierlei an: Einerseits die Reduktion des cartesischen Pluralismus von Substanzen auf einen Substanz-Monismus nach dem Vorbild Spinozas, andererseits eine noch gründlichere Umgestaltung der cartesischen Metaphysik (PR, 145 / 272). Wenn Whitehead den Monismus Spinozas als mögliches Korrekturmodell anführt, so erscheint dies allerdings nur insoweit verständlich, als Spinoza die von Whitehead bei Descartes gesehene Inkohärenz auf metaphysischer Ebene vermeidet. Wie von Spinoza aus eine adäquatere Theorie gegenständlicher Erkenntnis möglich sein soll, bleibt dagegen unklar. Eher erfüllt sich hingegen bei Whitehead selbst der Anspruch einer grundlegenden Revision der cartesischen Metaphysik und Erkenntnistheorie aus der Perspektive der Organismusphilosophie in PR. Whitehead akzeptiert den cartesischen Dualismus, wie ausgeführt, in einschränkender, relativierender Weise. Gegenstand seiner Einwände ist besonders Descartes’ Rückgriff auf das Substanz-Qualitäts-Schema. Was macht dieses Schema letztlich zu einer so ungeeigneten Basis für eine Metaphysik? Die Antwort muß lauten, daß Whiteheads relativierende Kritik sich gegen den abstraktiven Charakter der cartesischen Grundkategorien wendet: »Natürlich hat Descartes’ System einen gewissen Wahrheitsgehalt. Seine Begriffe sind aber zu abstrakt, um zur Natur der Dinge vorzudringen.« (PR, 6 / 37; vgl. FR, 30 / 28) Durch Abstrahieren nämlich sieht man von etwas ab, dem man keine weitere Beachtung schenkt. Nun »ist« Denken grundsätzlich abstrakt (SMW, 23 / 30), ein Denken ohne Abstraktionen für Whitehead daher ausgeschlossen: »Wir können nicht ohne Abstraktionen denken.« (SMW, 73 / 75) Daher kann es nicht darum gehen, Abstraktionen zu vermeiden, sondern darum, sich der Abstraktionen als solcher bewußt zu sein sowie »unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen« (ebd.), d. h. sie kritisch zu reflektieren. Die kritische Reflexion der Abstraktionen oder auch das Erfordernis, verschiedene Abstraktionen in Einklang zu bringen (SMW, 23 / 30), ist für

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Whitehead eine zentrale Aufgabe der Philosophie. Insofern aber die Philosophie die erfolgreichen Abstraktionsweisen der Wissenschaften kritiklos übernimmt, verfehlt sie ihre ureigenste Aufgabe als Reflexionsinstanz. Versäumt man die kritische Reflexion von Abstraktionen, so daß man sich ihrer als solcher nicht bewußt wird, dann hält man das Abstrakte für das Konkrete und unterliegt so dem erwähnten »Trugschluß der unangebrachten Konkretisierung«.300 In dieser Weise fehlverstandene Abstraktionen prägen für Whitehead das cartesische Substanzdenken in mehrfacher Weise. Eine erste Abstraktion liegt im Substanz-QualitätsSchema selbst, sodann stellen auch die Annahmen einer körperlichen und einer geistigen Substanz unreflektierte Abstraktionen dar. Wenn man wie Descartes geistige und körperliche Substanzen unterscheidet und sich dabei an dem traditionellen Substanzbegriff orientiert, so ergibt sich für Whitehead, daß Geist und Körper letztlich nicht in einem realen Zusammenhang stehen können. Ihr Verhältnis ist als ein – allenfalls extern reguliertes – »Nebeneinander« zu verstehen, was den Gedanken nahelegt, daß das eine auch ohne das jeweils andere bestehen könnte. Dieser Gedanke der Selbstgenügsamkeit legt die reduktionistischen Versuche nahe, das eine durch das jeweils andere zu erklären bzw. auf es zurückzuführen. Eine solche Reduktion ist Resultat einer aufgrund der Voraussetzungen des Newtonschen Materialismus und des cartesischen Dualismus falsch gestellten Aufgabe, die gleichwohl »Ideal des spekulativen Denkens« geworden sei (FR, 59 / 50). So betrachtet Hobbes den Bereich des Körperlichen als fundamental und den Geist als ein abgeleitetes Phänomen, während umgekehrt Berkeley von einem fundamentalen Geist und einer abgeleiteten Sphäre des Körperlichen ausgeht, der er den Status bloßer Vorstellungen im Geiste Gottes zuschreibt.301 Als wesentlichstes und einflußreichstes Beispiel eines Reduktionismus, der von einer Priorität des Geistes bzw. des erkennenden Subjekts ausgeht, nennt Whitehead Kants Kritik der reinen Vernunft. Da nach ihr das Naturgeschehen auf bloße Erscheinungen bzw. Phänomene reduziert werde, die Natur selbst aber etwas davon Abgeleitetes sei, könne es, so 300

Vgl. Anm. 280. In RM, wo Whitehead, wie erwähnt, von drei Substanztypen ausgeht, werden auch die Reduktionsweisen anders gefaßt: »Man kann beispielsweise Gott aufgeben und nur Materie und Geist zurückbehalten; oder Gott und Geist verabschieden, wobei, wie im Fall von Hobbes, nur noch die Materie verbleibt; oder man verzichtet auf die Materie und hat dann noch Gott und Geist, wie bei Berkeley; oder man streicht Materie und Geist, so daß allein Gott übrigbleibt. In diesem Fall wird die zeitliche Welt zu einer Erscheinung, die ein Attribut Gottes bildet.« (RM, 107 / 82) 301

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Whiteheads Kant-Resümee, »keine Metaphysik der Natur geben, und keinen Zugang zur Physik durch die Betrachtung der Naturordnung« (FR, 60 / 51). Als wissenschaftsgeschichtliches Resultat bleibt festzuhalten, daß »die Auffassung Kants die Wissenschaft zur Erforschung sekundärer und abgeleiteter Details verurteilen« mußte (ebd.).302 Mehr Zustimmung findet bei Whitehead eine andere Form des Reduktionismus. In kritischer Wendung gegen die Annahme einer geistigen Substanz beruft er sich auf James’ Aufsatz Does Consciousness exist? (1904), den er als eine Kontrastschrift zu Descartes’ Discours betrachtet (SMW, 177 ff. / 167 ff.). Beiden Schriften mißt Whitehead gleichermaßen die Bedeutung zu, für ihre jeweilige Epoche philosophischen Denkens nicht gerade bestimmend, aber doch charakteristisch zu sein. Wenn Whitehead metaphorisch bemerkt, James reinige »die Bühne von der alten Ausstattung« bzw. er verändere »ihre ganze Beleuchtung« (SMW, 177 / 167), so ist vor allem gemeint, daß dieser den cartesischen Dualismus auflöst, indem er die Annahme einer substantiell verstandenen res cogitans aufgibt bzw. zurückweist. Generell werden in Descartes und James wesentliche Repräsentanten der physikorientierten Wirklichkeitsauffassung des 17. Jahrhunderts, die auf eine ›bifurcation‹ der Wirklichkeit in eine materielle und eine geistige Sphäre hinausläuft, mit der physiologisch orientierten Wirklichkeitsauffassung des 19. Jahrhunderts kontrastiert. In einer von Whitehead zitierten Passage von James’ Aufsatz303 wird klar, daß dieser seine Zurückweisung der Annahme einer res cogitans – bezeichnet als »Bewußtsein« (consciousness) – nicht so verstanden wis302

Vgl. 3.8. Der von Whitehead verwendete Begriff »abgeleitet« (derivative) bedeutet hier abweichend von seiner üblichen kalkültheoretischen Verwendung, daß das mit ihm Bezeichnete als etwas ontologisch Sekundäres auf etwas als primär Angenommenes und Anerkanntes zurückgeführt wird. In diesem Zusammenhang kann auch auf Leibniz verwiesen werden, für den geistige Aktivitäten fundamental sind, während die materielle Sphäre auf den Status von in diesem Sinn abgeleiteten Phänomenen reduziert wird; zu Whiteheads Rückgriff auf und Kritik an Leibniz vgl. 3.6. 303 »Plump zu leugnen, daß ›Bewußtsein‹ existiert, scheint auf den ersten Blick so absurd – denn unleugbar gibt es ja ›Gedanken‹ –, daß ich fürchte, einige Leser werden mir nicht weiter folgen. Ich will also unmittelbar erklären; ich bestreite nur, daß das Wort für eine Entität steht, betone jedoch nachdrücklichst, daß es allerdings für eine Funktion steht. Meiner Meinung nach gibt es keinen ursprünglichen Stoff und keine ursprüngliche Seinsqualität, die einen Gegensatz zu dem bilden, woraus materielle Objekte und unsere Gedanken von ihnen bestehen; aber es gibt in der Erfahrung eine Funktion, welche die Gedanken erfüllen und zu deren Erfüllung diese Seinsqualität

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sen will, als bestreite er die Existenz von Bewußtsein, d. h. als sei »Bewußtsein« ein bedeutungsloser Ausdruck, sondern vielmehr so, daß dieser Ausdruck anstatt für eine Entität für eine Funktion stehe. James’ Zurückweisung des Bewußtseins als eine Wesenheit oder Entität wird im Sinne einer Zurückweisung der Auslegung des Bewußtseins als res cogitans interpretiert. Die Bezeichnung des Bewußtseins als Funktion impliziert, daß das Bewußtsein etwas Existierendem zukommt, ohne seinerseits etwas selbständig Existierendes im Sinne einer Substanz zu sein. Nach dieser Position wird also der Dualismus von res cogitans und res extensa durch eine einzige Kategorie von Seiendem ersetzt, für die bestimmte Funktionen anzunehmen sind, zu denen auch Bewußtsein gehören kann. Dies entspricht zugleich der Auffassung der Organismusphilosophie. Nach Whiteheads Ansicht bringt das Substanzdenken aber nicht nur für eine Analyse der geistigen Substanzen, sondern auch der körperlichen Substanzen Schwierigkeiten mit sich. Die gängige wissenschaftliche Kosmologie des 17. Jahrhunderts, die Descartes nach Whitehead unkritisch übernimmt, beruht auf der ersten und wesentlichen Grundannahme einer »widerspenstigen nackten Materie oder eines Materials, das sich in wechselnden Konfigurationen über den ganzen Raum verteilt« (SMW, 22 / 29). Wesentlicher konzeptueller Mangel dieser Auffassung ist nach Whitehead, daß eine solche Materie sinn-, wert- und zweckfrei sei. Er verwendet den Begriff der »leeren substantiellen Existenz«, um deutlich zu machen, daß körperliche Substanzen in ihrer Isoliertheit und Trennung von geistigen Substanzen keinen Grund erkennen lassen, »warum sie anfangen sollten zu existieren, warum sie weiterexistieren sollten oder warum sie aufhören sollten zu existieren« (FR, 30 / 28). Eine erklärende Einsicht sieht Whitehead auch nicht in Descartes’ Annahme, die körperlichen Substanzen würden durch Gott in ihrer Existenz erhalten, da kein angerufen wird. Diese Funktion ist das Erkennen. ›Bewußtsein‹ soll notwendigerweise die Tatsache erklären, daß Dinge nicht nur sind, sondern dargestellt und erkannt werden.« (SMW, 178 / 168) Der im wesentlichen klare Text wird allerdings durch einen Fehler in der dt. Übersetzung beeinträchtigt. Die Rede von Stoff und Seinsqualität, »die einen Gegensatz zu dem bilden, woraus materielle Objekte und unsere Gedanken von ihnen bestehen«, ergibt keinen Sinn, da unsere Gedanken ja gerade nicht zur materiellen, sondern zur mentalen Sphäre, deren ontologischer Status hier problematisiert wird, gehören. Die engl. Formulierung lautet »contrasted with that of which material objects are made, out of which our thoughts of them are made« und ist zu übersetzen mit »woraus – im Gegensatz zu dem, woraus materielle Objekte bestehen – unsere Gedanken von ihnen bestehen«.

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Grund genannt werde, »warum Gott sich diese Mühe machen sollte« (ebd.). Whiteheads Kritik impliziert hier mehreres: Der Substanzbegriff scheint nicht geeignet, die von Whitehead für wesentlich und offensichtlich erachtete Finalursächlichkeit des Naturgeschehens zu erklären. Unterstellt man nun Gott als dritter Substanz eine Finalursächlichkeit, so bedeutet dies einerseits die Belastung des Substanzbegriffs mit einem ihm grundsätzlich nicht zukommenden Bedeutungsmoment. Andererseits verstößt eine finalursächlich verstandene Substanz Gott gegen Whiteheads metaphysisches Kohärenzkriterium, das für metaphysische Entitäten und Prinzipien dieselben durchgängigen Eigenschaften fordert.304 Da nun die übrigen Substanzen nicht finalursächlich bestimmt sind, kann auch die Substanz Gott nicht finalursächlich bestimmt sein. Für Whitehead läßt die Ablehnung der Zweckursachen zugleich die Wirkursachen unerklärlich werden. Sowohl Zweckursächlichkeit als auch Wirkursächlichkeit sind mit der Auffassung des Naturgeschehens als eines Funktionszusammenhangs verbunden, für den die Annahme isolierter, ›selbstgenügsamer‹ Substanzen, der »Begriff der leeren substantiellen Existenz« (ebd.), kein angemessenes Erklärungsmodell darstellen kann. Die cartesische Annahme ›selbstgenügsamer‹ Substanzen will Whitehead daher durch eine Organismuskonzeption ersetzen, in der jede individuelle Wesenheit nicht nur auf andere Wesenheiten angewiesen ist, insofern sie diese konstitutiv in ihren Werdeprozeß einbezieht, sondern auch als eine emergierende Werteinheit begriffen wird. Diese Auffassung will Whitehead in Abgrenzung von der cartesischen als »eher platonisch« verstanden wissen (RM, 108 / 82).305 Das für Descartes’ Metaphysik grundlegende Substanz-Qualitäts-Schema, das Whitehead als unreflektierte Abstraktion kritisiert, bildet die Grundlage der Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten als einer weiteren Abstraktion, die sich ihrerseits zugleich der Voraussetzung des physikalischen Materiebegriffs des 17. Jahrhunderts verdankt.306 Die wesentlichen Erklärungen des 17. Jahrhunderts z. B. von Licht und Schall beruhen auf der Grundannahme einer abstraktiv-materialistischen Naturauffassung. So wurde das Licht entweder durch Schwingungswellen eines materiell verstandenen Äthers (Huyghens) oder durch die Bewegungsübertragung kleinster Korpuskeln einer feinen Materie (Newton) 304 305 306

Vgl. 2.3.3. Vgl. 3.1. Vgl. 3.4.

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gedeutet. Beide Theorien erklären das Licht also letztlich nicht anders als durch Bewegung von Materie. Auch die gesamte Abfolge sinnesphysiologischer Vorgänge, die aus dem Kontakt von Licht und Netzhaut resultiert, wird durch Materiebewegungen erklärt. Analoges gilt für die Erklärungsmodelle des Schalls. Die Einsicht, daß zumindest ein Teil der an den Dingen wahrgenommenen Qualitäten sich nicht ausschließlich über Bewegungsabfolgen von Materieeinheiten erklären läßt – etwa die an einem Gegenstand wahrgenommene Farbe oder der Duft einer Rose – gab dann Anlaß zu der Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten: Primäre Qualitäten kommen den Dingen an sich und wahrnehmungsunabhängig zu, wie z. B. Ausdehnung, Bewegung, Form, Anzahl und Größe. Sekundäre Qualitäten dagegen kommen den Dingen nicht an sich zu, sondern entstehen im erkennenden Subjekt, wenn dieses sinnlich affiziert wird. So resultieren die sekundären Qualitäten, z. B. Farben, Laute, Gerüche usw., aus der Verbindung von Wahrnehmungsaktivitäten des erkennenden Subjekts und den primären Qualitäten der äußeren Dinge und erscheinen dem erkennenden Subjekt lediglich als Qualitäten der Dinge, an denen sie wahrgenommen und denen sie zugesprochen werden. Während also die an den Dingen wahrgenommenen Eigenschaften der Ausdehnung, Bewegung usw. als Abbilder der primären Qualitäten des Objekts selbst verstanden wurden, galten Farben, Laute, Gerüche usw. als Projektionen, die den Gegenständen nur in der vorreflexiven Wahrnehmung und sachlich unzutreffend zugesprochen worden waren und mit denen der Geist die Erkenntnisobjekte gleichsam ausstattet.307 Dieses Ergebnis der wissenschaftlichen Philosophie des 17. Jahrhunderts faßt Whitehead überspitzend – und offensichtlich ironisierend – wie folgt zusammen: »Daher dichten wir der Natur etwas an, was in Wahrheit uns selbst vorbehalten bleiben sollte: der Rose den Duft, der Nachtigall den Gesang, und der Sonne die Strahlen. Die Dichter sind völlig im Irrtum. Sie sollten ihre Lyrik an sich selber richten und sie in 307

Die Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten, die sich sachlich bis zum antiken Atomismus zurückverfolgen läßt, verbindet Whitehead besonders mit ihren Hauptvertretern Galilei, Descartes und Locke. Bei Descartes belegt Whitehead die genannte Unterscheidung u. a. anhand eines Zitats aus den Meditationes, VI, 14 (A / T VII, 81): »Und sicherlich schließe ich daraus, daß ich ganz unterschiedliche Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärme, Härte und dergleichen empfinde, mit Recht, daß in den Körpern, von denen mir diese verschiedenartigen Wahrnehmungen entgegenkommen, gewisse Verschiedenheiten vorhanden sind, die ihnen entsprechen, wenngleich sie ihnen vielleicht nicht ähnlich sind.« (SMW, 68 / 69 f.) Zit. nach der dt. Übers. von SMW, die hier der Übers. von Buchenau entspricht.

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Oden der Selbstverherrlichung aller Vortrefflichkeit des menschlichen Geistes umwandeln. Die Natur ist eine öde Angelegenheit, tonlos, geruchlos und farblos; nichts als das endlose und bedeutungslose Vorbeihuschen von Material. Dies ist das ungeschminkte praktische Ergebnis der tonangebenden wissenschaftlichen Philosophie, mit der das siebzehnte Jahrhundert ausklang.« (SMW, 68 f. / 70) Das Resultat ist also eine Trennung der in der Begrifflichkeit der mathematischen Physik beschreibbaren Natur auf der einen und der außerhalb von ihr befindlichen, weder mechanistisch faßbaren noch mathematisierbaren Geistsphäre auf der anderen Seite, die nur insoweit einen Zusammenhang zu jener Natur hat, als sie von ihr affiziert werden kann. Wie die Natur hiernach als außerhalb des erkennenden Subjekts befindlich gilt, so ist umgekehrt betrachtet das erkennende Subjekt nicht mehr Bestandteil der Natur, sondern steht ihr gleichsam gegenüber. Werden nun die sekundären Qualitäten aus der Natur als der mathematisch faßbaren Sphäre ausgeklammert, so müssen sie, sollen sie überhaupt noch Gegenstand einer theoretischen Zuwendung sein, durch eine Theorie der Erscheinungen, eine Theorie der Subjektivität o. ä., erklärt werden, was unmittelbar zu der von Whitehead kritisierten dichotomischen Aufteilung der Wissenschaften führt: Die Natur wird als für sich selbst seiende angesehen und bildet den Untersuchungsbereich der Naturwissenschaften. Für die Philosophie, die von den Wissenschaften aus der »objektivistischen« Sphäre der materiellen Natur verdrängt wurde, blieb der Rückzug in die »subjektivistische« Geistsphäre (SMW, 176 / 167; vgl. SMW, 70 / 72). Die subjektive Empfindung wurde ihr primäres Datum. Der aus Whiteheads Sicht eigentliche Urheber und wichtigste Repräsentant der kritisch konstatierten Zweiteilung der Wirklichkeit308 ist Descartes. Dieser geht von seinem eigenen »elementaren Geist« (ultima308

Wir geben die Formulierung »bifurcation of nature« mit »Zweiteilung der Wirklichkeit« und nicht »der Natur« wieder. Die gleichzeitige Verwendung von »Natur« für das der Zweiteilung vorausgehende Ganze und für einen aus ihr resultierenden Teilbereich, nämlich die Natur als ausschließlichen Gegenstand der Naturwissenschaften, stellt eine Äquivokation dar. – Die Zweiteilung oder Aufspaltung der Wirklichkeit und ihre philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Konsequenzen, ein wesentliches Thema auch in Whiteheads Schriften der mittleren Periode (vgl. Einleitung, Anm. 2) sind ebenso wie sein Anliegen, die Einheit der Wirklichkeit und der sie interpretierenden Wissenschaften zurückzugewinnen, Gegenstand teils ausführlicher Untersuchungen gewesen; vgl. u. a. Cesselin (1950), Balz (1964) und Felt (1968). Als wichtigster neuerer Beitrag ist Hampe (1990) zu nennen.

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te mind) aus, dessen er sich selbst in einem ersten Schritt seines Philosophierens vergewissert. Dann stellt Descartes die Frage nach den Relationen dieses Geistes zu der ihm äußerlichen »letzten Materie« (ultimate matter), die in der Zweiten Meditation durch den menschlichen Körper und durch ein Stück Wachs exemplifiziert wird. Die nachfolgende philosophische Tradition distanziert sich von der cartesischen Vorstellung eines nach Whitehead harmonischen Nebeneinander beider Sphären und läßt die Frage, »was von was geschluckt wird«, d. h. das Problem der richtigen Reduktion, zur »einzigen Frage« (ebd.) der Philosophie werden. So wenig es sich hierbei nun tatsächlich um die »einzige Frage« der Philosophie handelt, so sehr dominiert sie Whiteheads philosophiegeschichtliche Perspektive auf die nachfolgende Denktradition, repräsentiert durch Locke, Berkeley, Hume und Kant. Diese Denker gehen von der Dichotomie eines Geistbegriffs und eines naturwissenschaftlich vorgegebenen Materiebegriffs aus und widmen sich den Fragen des Verhältnisses, der Rückführbarkeit, der Priorität des so Unterschiedenen. Außerhalb dieser Tradition stehen für Whitehead die Konzeptionen von Leibniz und Spinoza, die sich hinsichtlich ihres philosophischen Einflusses auf die Wissenschaft in einer Isolation befinden, »so als hätten sie sich in Extreme verirrt, die außerhalb der Grenzen einer sicheren Philosophie liegen« (ebd.). Spinozas Sonderstellung beruht für Whitehead auf einem Festhalten an älteren Denkweisen, Leibniz’ Sonderstellung auf der Neuheit seiner Monaden. Auffallend ist, daß Leibniz’ und Spinozas Sonderstellung mit einem geringeren philosophischen Einfluß auf die Wissenschaften begründet wird, da Whitehead zuvor den umgekehrten Einfluß, also den der Wissenschaft auf die Philosophie, dem diese sich kaum habe entziehen können, kritisch in den Vordergrund gestellt hatte. Zudem erscheint es wenig plausibel, gerade Leibniz einen philosophischen Einfluß auf die Wissenschaften absprechen und ihn »außerhalb der Grenzen einer sicheren Philosophie« verorten zu wollen. Schon der Versuch, Leibniz in dieser Hinsicht mit Spinoza auf eine Stufe zu stellen, kann nicht überzeugen. Beiden Denkern gemeinsam ist dagegen – und von hier aus könnte ihnen im vorliegenden Kontext ein gemeinsamer »Sonderstatus« sinnvoll zugeschrieben werden – daß sie von vornherein von einer monistischen Konzeption ausgehen, so daß sich bei ihnen das Problem einer Zweiteilung der Wirklichkeit und der damit verbundenen Probleme, wenigstens aus der Sicht Whiteheads und in der für das 17. Jahrhundert charakteristischen Weise, nicht stellt. Zusammenfassend ist festzustellen, daß nach Whitehead der cartesische Dualismus auf eine Zweiteilung der Wirklichkeit in mehrfachem

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Sinn hinausläuft, indem er als ursprünglich metapysischer Dualismus philosophieinterne Polarisierungen und Reduktionen evoziert, um dann zu einem für Whitehead verfehlten Klassifikationsmodell sowie zu entsprechend defizitären Aufgabenstellungen und Weiterentwicklungen in Philosophie und Wissenschaft überhaupt zu führen. Wird die »objektivistische« Natur den Wissenschaften und die »subjektivistische« Geistsphäre der Philosophie zugeordnet, so bleibt insbesondere auch für eine Philosophie der Natur kein Raum. Whiteheads Konzeption, die sich kritisch gegen eine Zweiteilung der Wirklichkeit wendet, insofern als Erneuerung der Naturphilosophie zu deuten,309 scheint zwar berechtigt, zugleich aber auch zu kurz zu greifen, da es Whitehead um ein (jedenfalls gegenüber jeder klassischen Naturphilosophie) umfassenderes Modell unserer Erfahrungswirklichkeit geht und zugleich um eine umfassendere Revision der Aufgabenstellung der Philosophie. Der Körper-Geist-Dualismus erweist sich in seinen wissenschaftsgeschichtlichen Konsequenzen als folgenreich für beide betroffenen Bereiche: Der ›Blindheit‹ der physikalischen Wissenschaften (MT, 154) korrespondiert für Whitehead der »Ruin der modernen Philosophie« (SMW, 70 / 72). Anliegen der Philosophie Whiteheads ist es daher, die Zweiteilung der Wirklichkeit mit ihren Konsequenzen durch eine kosmologische Konzeption zu revidieren. Eine Erneuerung der Philosophie in diesem Sinne muß sich zunächst von der Begrifflichkeit des Substanz-Qualitäts-Schemas, die an der Wurzel der ›bifurcation‹ liegt, lösen, um eine zweiteilende Wissenschaftsklassifikation, hinter der sich sowohl eine verfehlte Metaphysik als auch eine verfehlte Wissenschaftstheorie verbergen, zu überwinden.

3.3.3 Aspekte des Subjektivismus und seiner Umgestaltung Den Ansatz zu einer Korrektur vermeintlich falscher metaphysischer Kategorien und ihrer Folgen sieht Whitehead wiederum bei Descartes selbst (PR, 159 / 297). Dieser gab dem modernen Denken seine subjektivistische Ausrichtung, indem er die bewußte Erfahrung des erkennenden Subjekts zum eigentlichen Ausgangspunkt des philosophischen Denkens machte. Im Discours und in den Meditationes macht Descartes das eigene Ich, verstanden als Subjekt von Erfahrungen, zum Paradigma seiner Lehre. Hierauf beruht die subjektivistische Ausrichtung der neuzeitlichen Philo309

Vgl. Leclerc (1980).

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sophie. Aufgrund seines Bewußtseins mentaler Aktivitäten wird das Ich sich der eigenen Existenz als einheitlicher Träger dieser Aktivitäten bewußt. Als erste positive Erkenntnis aus der Tatsache seines Denkens bzw. Zweifelns erschließt Descartes die Gewißheit der Erkenntnis des eigenen Ich als primäres Datum. Die spätere Philosophiegeschichte, so Whitehead, »kreist um die kartesianische Formulierung des primären Datums« (SMW, 174 / 165). Geht es noch der »alten Welt«, d. h. dem vorcartesischen Denken, um eine Standortbestimmung gegenüber dem »Drama des Universums«, also der Außenwelt, so bedeutet der moderne cartesische Ansatz eine Standortbestimmung gegenüber dem »inneren Drama der Seele« (ebd.).310 Die von Descartes anerkannte Tatsache der Irrtumsfähigkeit, d. h. der Möglichkeit, daß subjektiven Urteilen keine objektiven Tatsachen korrespondieren, wertet Whitehead als Hinweis darauf, daß Descartes eine »Seele mit Aktivitäten« annehmen muß, »deren Realität sich allein aus ihr selbst herleitet« (SMW, 175 / 165). Dies belegt Whitehead anhand von exemplarischen Textstellen aus den Meditationes, wo Descartes Empfindungen und Einbildungen schildert, denen nichts Äußeres, Objektives entspricht.311 Hier dokumentiert sich der Rückzug der Philosophie in die »subjektivistische Geistsphäre« (SMW, 176 / 167). Welche Bedeutung und Tragweite Whitehead dem cartesischen Subjektivismus beimißt, macht er vor allem vor dem Hintergrund der erwähnten aristotelischen Grundkategorien sprachlicher Bezugnahme auf die Welt deutlich. Eine Aussage des Typs »Dieser Stein ist grau« bringt für Whitehead weder unsere ursprüngliche Wirklichkeitserfahrung zum Ausdruck noch kann sie zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Kategorienlehre gemacht werden. Am Anfang einer Philosophie, die der 310

Man beachte hier die Anklänge an Whiteheads Schilderung der ursprünglichen rudimentär-wissenschaftlichen Mentalität der Antike und ihre Rückführung auf das griechische Drama; vgl. 2.1. 311 Meditationes II, 9 (A / T VII, 29): »Ich sehe doch offenbar jetzt das Licht, ich höre das Geräusch, fühle die Wärme; aber nein – das ist falsch, denn ich schlafe ja. Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das eigentlich ist es, was an mir Empfinden genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist nichts anderes als Bewußtsein […] Hieraus beginne ich in der Tat schon erheblich besser zu erkennen, wer ich bin.« Meditationes III, 1 (A / T VII, 34 f.): »Denn wenn auch – wie schon oben bemerkt – das, was ich empfinde oder mir bildlich vorstelle, außer mir vielleicht nichts ist, so bin ich doch gewiß, daß jene Bewußtseinsbestimmungen, die ich Empfindungen und Einbildungen nenne, bloß als Bewußtseinsbestimmungen in mir vorhanden sind.«

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Erfahrung des erkennenden Subjekts gerecht werden kann, steht demnach nicht eine Aussage wie »Dieser Stein ist grau«, sondern eine Aussage wie »Ich nehme diesen Stein als grau wahr« (PR, 159 / 297 f.). Zwar gibt auch die erstere Aussage einen Aspekt unserer Erfahrung wieder, aber keinesfalls die ganze Erfahrung. Sie bringt eine Beschaffenheit des Objekts zum Ausdruck, jedoch nicht die für Erfahrung konstitutive Tatsache, daß das Objekt als so beschaffenes einem Subjekt gegeben ist. Die erstere Aussage stellt daher für Whitehead eine Abstraktion dar, die gerade von der für die Erfahrung konstitutiven Subjekt-Objekt-Beziehung absieht. Zwar mag diese Abstraktion im Hinblick auf die praktischen Erfordernisse der Alltagssprache angemessen und sinnvoll sein, jedoch darf sie deshalb nicht zum Ausgangspunkt metaphysischer Verallgemeinerungen erhoben werden. Whitehead würdigt also die Bedeutung des Subjektivismus, kritisiert aber gleichzeitig, daß Descartes die Tragweite seiner Entdeckung selbst nicht gesehen habe bzw. ihr in seiner Metaphysik nicht gerecht geworden sei, wofür wiederum das Festhalten am Substanz-Qualitäts-Denken als Erklärungsschema für die Erfahrungen des erkennenden Subjekts verantwortlich sei (PR, 159 / 298). Whitehead konstatiert also einen Widerspruch zwischen der Errungenschaft des traditionellen subjektivistischen Ansatzes, als dessen Kern er das »subjektivistische Prinzip« (PR, 157 ff. / 294 ff.) ansieht, und dem Festhalten am Substanz-Qualitäts-Schema, welches diese Errungenschaft nicht zur Geltung kommen läßt. Whitehead definiert das subjektivistische Prinzip wie folgt: »Das subjektivistische Prinzip besagt, daß das Datum im Erfahrungsakt allein mit Hilfe von Universalien erschöpfend analysiert werden kann.« (PR, 157 / 295) Für Whitehead folgt dieses Prinzip aus drei Prämissen (ebd.): »(i) Der Anerkennung des ›Substanz-Qualitäts‹-Konzepts als das elementare ontologische Prinzip.« Dies bedeutet, das eine elementare metaphysische Tatsache immer als die Inhärenz einer Qualität, d. h. einer Universalie, in einer Substanz erklärt werden kann. »(ii) Die Anerkennung der aristotelischen Definition einer ersten Substanz, die immer ein Subjekt und niemals ein Prädikat sein soll.« Dies bedeutet die Unterscheidung von ersten Substanzen und Qualitäten als zwei sich ausschließende Klassen. (iii) Die dritte Prämisse besteht in »der Annahme, daß das erfahrende Subjekt eine erste Substanz ist.« Whiteheads Argument kann so zusammengefaßt werden: Das Datum eines Erfahrungsakts, verstanden als Bestimmung oder Qualifizierung des erfahrenden Subjekts, kann adäquat nur in Begriffen von Universalien analysiert werden, was genau die Aussage des subjektivistischen Prinzips ist. Whitehead weist alle drei

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Prämissen in der schon dargestellten Weise zurück, und demzufolge auch das subjektivistische Prinzip in der traditionellen Form. Das bei Descartes vorausgesetzte subjektivistische Prinzip impliziert, daß es keine direkte Perzeption eines partikulär Existierenden geben kann. Zwar ist für Whitehead eine solche objektive Realität (realitas objectiva) im Sinne eines partikulär Existierenden in Descartes’ Lehre präsent, allerdings, aufgrund des subjektivistischen Prinzips, in inkonsistenter Weise. Whitehead skizziert einen Ausweg im Rahmen der Konzeption seiner eigenen Organismusphilosophie: Auch sie soll auf dem Boden des Subjektivismus stehen, wonach die Erfahrung des erkennenden Subjekts den Ausgangspunkt für die metaphysische Analyse zu bilden hat. Die korrigierende Abweichung von Descartes besteht jedoch darin, daß die Organismusphilosophie sich vom Substanz-Qualitäts-Schema als Voraussetzung des traditionellen subjektivistischen Prinzips distanziert, indem sie programmatisch vom erfahrenden Subjekt und ihm äußerlicher realer Gegenstände als Basis metaphysischer Kategorien ausgeht (PR, 145 / 273). Mit der Abkehr vom Substanz-Qualitäts-Schema wendet sich Whitehead gegen die Scheinwelt beziehungsloser Subjekte mit ihrer illusorischen (weil aus ihm selbst resultierenden) Erfahrung. Mit ihrer Umgestaltung des subjektivistischen Prinzips, die die Erfahrung von partikulär Existierendem zum Ausgangspunkt der Analyse macht, will die Organismusphilosophie einerseits dem natürlichen Alltagsverstand entgegenkommen und andererseits auf seiten metaphysischer Erklärungsversuche die Schwierigkeiten vermeiden, die der Subjektivismus der Moderne insbesondere für die Erklärung des Erkenntnisvorgangs bedeutet. Whiteheads Konzeption beansprucht daher als Ausgangspunkt ein »reformiertes subjektivistisches Prinzip« (PR, 160, 166 f. / 300, 310 ff.).312 Eine Erklärung des »reformierten subjektivistischen Prinzips« hat zunächst bei Whiteheads erweitertem Erfahrungsbegriff anzusetzen. Wie bereits festgestellt, nimmt die Organismusphilosophie in Übereinstimmung mit Descartes eine Vielzahl letzter Entitäten, sog. wirklicher Einzelwesen (actual entities), an. Diese wirklichen Einzelwesen sind als Subjekte, die sich aus der Erfahrung anderer wirklicher Einzelwesen konstituieren, zu begreifen. Da nach Whiteheads »ontologischem Prinzip« (PR, 19 / 58) nichts außerhalb oder unabhängig von wirklichen Einzelwesen angenommen werden kann, weil jede Erklärung von Wirklichkeit eine Erklärung unter Rückgriff auf wirkliche Einzelwesen oder auf Struk312

Zum subjektivistischen Prinzip und seiner Umgestaltung vgl. Lindsey (1976), Griffin (1977) und Lotter (1996).

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turmomente von wirklichen Einzelwesen sein muß, kann es nichts außerhalb dieser Erfahrung von Subjekten geben. Pointiert stellt Whitehead fest, »daß es abgesehen von den Erfahrungen der Subjekte nichts gibt, nichts, nichts, absolutes Nichts« (PR, 167 / 312). So erfährt das auf Descartes zurückgehende subjektivistische Prinzip der Moderne, wonach die Philosophie wesentlich auf Erfahrungsmomenten von Subjekten thematisch aufbaut, eine Erweiterung, da gemäß dem ontologischen Prinzip die Erfahrung von Subjekten, d. h. Subjektivität, als allgemeines Wirklichkeitsmoment verstanden wird. Gemäß dem reformierten oder umgestalteten subjektivistischen Prinzip aber ist subjektive Erfahrung immer die Erfahrung realer Objekte, zu denen das erkennende Subjekt in realen Beziehungen steht. Unter Beziehungen sind hier Akte konstitutiven Erfassens, nach Whitehead Prehensionen (prehensions), der Objekte durch ein Subjekt zu verstehen. Eine Prehension schließt dabei drei Faktoren ein: Ein prehendierendes Subjekt, prehendierte Objekte als Vorgegebenes (data) und die »subjektive Form«, d. h. die jeweilige Weise der Prehension (PR, 23 / 66). Die Möglichkeit der wechselseitigen Objektivierung von wirklichen Einzelwesen ist der hauptsächliche Charakterzug alles Seienden; dies ist das »Relativitätsprinzip« der Organismusphilosophie: Seiend ist, was in die Beziehung zu einem Subjekt eintreten und so zum Objekt werden kann (PR, 22, 166 / 64, 311). Erneut erweist sich das Substanz-Qualitäts-Schema für Whitehead als obsolet, und zwar aufgrund seiner Unterscheidung akzidenteller und wesentlicher Qualitäten. Für ein wirkliches Einzelwesen, das in seinem Konstituierungsprozeß andere wirkliche Einzelwesen erfaßt, sind diese – als konstitutive – immer wesentlich für ihre eigene Zusammensetzung. Selbst die Annahme negativer Prehensionen, d. h. der aus Bewertung resultierende Ausschluß anderer wirklicher Einzelwesen aus einem individuellen Konstituierungsprozeß, prägt das sich jeweils konstituierende wirkliche Einzelwesen. So ist der Begriff einer unwesentlichen Erfahrung der äußerlichen Welt der organistischen Philosophie grundsätzlich fremd (PR, 145 / 273). Nach Descartes’ Subjektivismus wird Erfahrung als das Erleben einer prinzipiell isolierten individuellen Substanz verstanden, die »ihre Qualifizierung durch Ideen selbst erlebt« (ebd.). Whiteheads Erfahrungsbegriff geht hingegen von der Realität der Beziehung des Subjekts zu einem real existierenden Objekt aus. Dabei wird Erfahrung als ein Erleben verstanden, eines unter vielem zu sein, und eines zu sein, das aus der Zusammensetzung von vielem entsteht. Diese Neufassung bzw. Erweiterung des Erfahrungsbegriffs impliziert aber dadurch, daß Erfahrung zur universel-

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len ontologischen Grundstruktur im Sinne einer realen Subjekt-ObjektBeziehung umgedeutet wird, daß sie nicht mehr sinnvoll auf den von Descartes eigentlich und primär untersuchten Fall bewußter Erfahrung zu beschränken ist. Der cartesische Dualismus bedeutet für Whitehead eine abstrahierende Konzentration auf zwei Extreme der Erfahrungswirklichkeit, nämlich einerseits die Sphäre des menschlichen Bewußtseins und andererseits die Sphäre der anorganischen Wirklichkeit auf ihrer einfachsten Stufe. Damit verbunden ist eine von Whitehead kritisierte Vernachlässigung all dessen, was als Zwischenbereiche zwischen diesen Extremen gelten könnte (MT, 150), nicht zuletzt der Bereich rudimentärer Bedingungen und Vorformen bewußten Erlebens beim Menschen.313 Descartes’ abstrahierende Konzentration auf das menschliche Bewußtsein geht einher mit seinem methodologischen Postulat, wonach klare und distinkte Ideen die Basis philosophischer Erkenntnis sein müßten. Für Whitehead indessen ist es nicht nur falsch zu meinen, es sei einfach zu ermitteln, was klare und distinkte Ideen sind, sondern auch der Versuch, solche Ideen zur Basis philosophischer Erkenntnis zu erheben, erscheint ihm verfehlt. Bewußtsein ist nur wenigen höherentwickelten Wesen eigen und stellt auch dort nur einen Zusatz dar. Insofern ist Bewußtsein nicht notwendiges Element der für Organismen konstitutiven Prehensionen, selbst beim Menschen erhellt es nur einen kleinen Teil seiner Lebensvorgänge, nur einen Ausschnitt seiner Welt- und Selbstwahrnehmung (PR, 161 ff. / 301 ff.). Deshalb kann aus Sicht der Organismusphilosophie der begrenzte Bereich klarer und distinkter Bewußtseinsinhalte nicht zu den fundamentalen Gegebenheiten der Erfahrung zählen. Auch in der individuellen Entwicklungsgeschichte des einzelnen Lebewesens tritt Bewußtsein in einer relativ fortgeschrittenen Entwicklungsphase auf. Bewußt wird nicht die ursprüngliche Konstitution, erst spätere Modifikationen sind von Bewußtsein begleitet. Was uns am klarsten und distinktesten bewußt wird, ist unsere unmittelbare Umwelt und nicht der Bereich der uns letztlich konstituierenden Vorgänge, die, wenn überhaupt, nur vage mit Bewußtsein verbunden sind. So verweist die Tatsache, daß etwas bewußt wird und etwas anderes nicht, keinesfalls darauf, was primär konstituierend bzw. fundamental ist oder nicht. Die fundamentalen Vorgänge müssen wir eher am Rande des Bewußtseins suchen. Whitehead faßt zusammen: »(i) Bewußtsein ist eine subjektive Form, die in den höheren Phasen der Konkretisierung entsteht. (ii) Bewußtsein erhellt primär die höheren Phasen, in denen es auf313

Vgl. Fetz (1981), 108 f.

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kommt, und nur in abgeleiteter Form die früheren Phasen, so wie sie als Bestandteile in der höheren Phase verblieben sind. (iii) Daraus folgt, daß die Ordnung des erwachenden, klaren und deutlichen Bewußtseins nicht die Ordnung metaphysischer Priorität ist« (PR, 162 / 303).314 Aus dieser Einsicht ergibt sich für Whitehead die Verfehltheit des cartesischen Ansatzes, das klar und distinkt Bewußte zur Basis philosophischer Erkenntnis zu machen. Nach Whiteheads neu und weiter gefaßtem Begriff von Erfahrung erfahren wir mehr, als uns in Form klarer und distinkter Erkenntnisse bewußt wird. Die Aufgabe der Philosophie kann, wie Whitehead gegen Descartes geltend macht, nicht in einer kritischen Reduktion unserer Erfahrungsinhalte auf das klar und distinkt Erfahrene liegen. Ihre Aufgabe ist vielmehr die, jene Dimensionen ans Licht zu rücken, die durch die Selektion des Bewußtseins ausgeblendet werden. So hat die Philosophie als »Selbstkorrektur« des Bewußtseins die Aufgabe, das jenseits des Bewußtseins Liegende rational zu erfassen und so die Totalität der Bezogenheit zurückzugewinnen, die in der stets wirksamen selektiven Emphase des bewußten Erlebens verloren ging (PR, 15/52). Eben ein solches Erfassen der nicht bewußten Strukturen des Selbstseins wird für Whitehead durch den cartesischen Ansatz von vornherein verfehlt. Von dieser Kritik kann auch die Formel »Cogito; ergo sum« nicht unberührt bleiben. Für Whitehead ist dasjenige, dessen wir uns bewußt sind, niemals reines Denken oder reine Existenz (MT, 166).315 Whitehead selbst begreift sich in der hypothetisch vergegenwärtigten Rolle des erkennenden Subjekts als Einheit, die Emotionen, Alternativen, Entscheidungen usw. immer wesentlich, d. h. konstitutiv, einschließt, wobei er diese Empfindungen als subjektive Reaktionen auf die Umwelt begreift, die in seiner Natur prägend aktiv wird. Diese Einheit, die Whitehead mit Descartes’ »Cogito« (im Sinne von »sum cogitans«) identifiziert bzw. an seine Stelle setzt, ist der Prozeß der Formung einer das Subjekt umgebenden unstrukturierten Datenfülle zu einem konsi314

Mit »Konkretisierung« ist Whiteheads Begriff »congrescence« (von lat. »congrescere«) nur mißverständlich wiedergegeben. Gemeint ist, im Wortsinn, ein Zusammenwachsen. 315 Whitehead sieht die Formel »Cogito; ergo sum« mit »I think; therefore I am« falsch übersetzt (MT, 166). Seine Kritik zielt insofern auf ein falsches Verständnis der Formel und nicht gegen diese selbst. Eine Übersetzungskorrektur oder -alternative schlägt Whitehead aber nicht vor. Seine kritischen Ausführungen betreffen tatsächlich auch nicht die Übersetzung, sondern die Formel selbst, da der monierte abstraktive Charakter in den Begriffen »cogito« und »sum« (sowie in Descartes’ damit verbundenen Intentionen) liegt, nicht aber in der Übersetzung.

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stenten Muster von Empfindungen, nach Whitehead ›Fühlungen‹ (feelings), d. h. positiven Prehensionen. Im individuellen Erleben werden die Aktivitäten der Umwelt vermittels eines komplexen Gestaltungsprozesses zu einer neuen Einheit geformt, die das eigene Selbst konstituieren. Im Rahmen dieses Gestaltungsprozesses werden äußere Einflüsse zu einer abgestimmten Form synthetisiert, in der das Geschehen der Umwelt eine aktuelle neue Einheit bildet. Das Ich kann aus Whiteheads Sicht einerseits als Selbst in seiner spezifischen Identität betrachtet werden, die aus dieser Synthese erwächst, andererseits aus der Perspektive der vorgängigen Welt, die in diesem synthetisierenden Prozeß ihre Fortsetzung erfährt (MT, 166 f.). Reine, von der Synthese unabhängige Existenz kann nicht ins menschliche Bewußtsein gelangen, es sei denn als entlegenste Abstraktion. Insofern gibt das »Cogito« nach Whitehead das Selbstsein des erkennenden Subjekts prinzipiell defizitär wieder. Nun mag man dieser Descartes-Kritik Whiteheads entgegenhalten, daß sich Descartes dem abstraktiven Charakter seines »Cogito« zweifellos bewußt sei, resultiert es doch gerade aus einem Vorgang methodischen Abstrahierens. Aus Whiteheads Perspektive liegt aber zumindest wiederum der Einwand nahe, daß das »Cogito« eben von wesentlich mehr abstrahiere als Descartes annimmt, und daß dieser der für Whitehead unvertretbaren Auffassung sei, mit dem »Cogito« werde, abgesehen von der Abstraktion des Körpers, doch immerhin ein konkretes Geistwesen bezeichnet. Genereller Ausgangspunkt von Philosophie ist, wie Whitehead in erklärter Übereinstimmung mit Descartes feststellt, die Bestimmung eines Aspekts von Erfahrung, der in möglichst umfassender Weise die allgemeinen, notwendigen Züge der Existenz (»universal necessities of existence«) erkennen läßt (MT, 113). Descartes wählt den Anfangspunkt der klaren und distinkten Erfahrung. Whitehead marginalisiert diese klare und distinkte Erfahrung zu einem vergleichsweise oberflächlichen, zusätzlichen Element unseres Erlebens. Zugleich wird notwendigerweise das cartesische Cogito geradezu umgekehrt: Für Descartes ist der Denkende »Schöpfer seiner zufälligen Gedanken«, die Organismusphilosophie dagegen sieht im Denken »eine für die Erschaffung des zufälligen Denkers konstitutive Tätigkeit« (PR, 151 / 283). Das Denken repräsentiert dabei, wie ausgeführt, nur einen Spezialfall eines für die Organismusphilosophie allgemein bestimmenden Grundgedankens: Diese faßt unter ihrem neu und weiter gefaßten Erfahrungsbegriff die Prozesse, die wir als Realität begreifen, nicht als Vorgänge zusammen, die von einem Subjekt ausgehen, sondern als solche, die auf ein ›superject‹ als Ergebnis ihres Konstituierungsprozesses hinauslaufen.

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3.4 Newton: Die Abstraktionen der mechanistischen Kosmologie Das von der Physik bestimmte wissenschaftliche Weltbild der Moderne, die mechanistische Kosmologie, gewann im 17. Jahrhundert seine beherrschende Stellung. Die Hervorbringung dieses Weltbildes sieht Whitehead als den bedeutendsten Erfolg an, der je von der Menschheit auf einem Gebiet errungen wurde: »Er schafft uns eine Anschauung vom materiellen Universum und befähigt uns, die kleinsten Einzelheiten eines besonderen Vorkommnisses zu berechnen.« (SMW, 58 / 61) Whitehead resümiert den Aufstieg der modernen Wissenschaften ausgehend von den »Schlüsselfiguren« Galilei und Newton (ebd.). Galilei schuf eine wesentliche Voraussetzung dadurch, daß er anstelle der Bewegung der Körper die Veränderung ihrer Bewegung ins Zentrum des Interesses rückte. Auf der Grundlage von Galileis Trägheitsgesetz formulierte Newton das erste Bewegungsgesetz. Er hob die Masse als das allen Körpern gemeinsame Moment hervor, eine Voraussetzung des Beweises für die Konstanz der Masse bei chemischen Veränderungen durch Lavoisier. Die Größe einer Kraft ist, wie Newton erkannte, durch das Produkt der Masse und der Beschleunigung eines Körpers ausdrückbar. »Daraus«, so Whitehead, »ergibt sich die Frage, ob diese Konzeption von der Größe einer Kraft zur Entdeckung einfacher quantitativer Gesetze führt, die auch die alternative Bestimmung von Kräften durch Bedingungen der Konfiguration von Substanzen und ihrer physikalischen Eigenschaften umfassen. Newtons Konzeption hat diese Prüfung während der gesamten modernen Zeit glänzend bestanden. Ihr erster Triumph war das Gravitationsgesetz. Weitere Triumphe feierte sie mit der ganzen Entwicklung der dynamischen Astronomie, der Technik und der Physik.« (SMW, 57 / 60) Für Whitehead ist es kaum verwunderlich, daß angesichts des neuen, überaus erfolgreichen Paradigmas die Wissenschaftler nicht zögerten, ihre Erklärungen auf eine mechanistisch-materialistische Grundlage zu stellen und sich zugleich tiefergehender philosophischer bzw. metaphysischer Überlegungen zu enthalten. So wollte auch »Newton, der zurecht auf seine physikalischen Prinzipien vertraute, […] nichts mit Metaphysik zu tun haben« (PR, 10 / 43; vgl. SMW, 61 / 63). Der Erfolg der wissenschaftlichen Grundannahmen legte es nahe, auf eine kritische Prüfung ihrer Rationalität zu verzichten. Die Philosophie hat nach Whitehead ihrerseits die Grundannahmen der modernen wissenschaftlichen Weltanschauung weitgehend unkritisch hingenommen (SMW, 22 / 30).316 316

Vgl. 3.3.1.

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Um jedoch diesen Vorwurf einer unkritischen Übernahme richtig zu bewerten und ein einseitiges Bild zu vermeiden, ist zu beachten, daß Wissenschaft und Philosophie des 17. Jahrhunderts sich gegenseitig beeinflußt haben. Wie Whitehead selbst erwähnt, hat Newton einige wesentliche Punkte des cartesischen Denkens317 »ganz unbefragt« übernommen, dabei aber dem (für Whitehead besonders wichtigen) Subjektivismus keine Beachtung geschenkt (AI, 131 f. / 265 f.). Sofern sich also von der Tendenz einer unkritischen Übernahme reden läßt, betraf diese jedenfalls nicht allein die Philosophie. Erfolgreiche Erklärungsmodelle scheinen grundsätzlich prädestiniert für unkritische Übernahmen oder Verallgemeinerungen. Die wissenschaftlich dominierte Weltanschauung der Moderne verdankt sich also einer universellen Akzeptanz und Verallgemeinerung der physikorientierten Naturwissenschaften. Die daraus resultierende kosmologische Grundannahme ist die einer unreduzierbaren Materie, die – bei wechselnden räumlichen Anordnungen – selbst sinn-, wert- und ziellos ist. Die wechselnden Anordnungen resultieren aus äußeren, auferlegten Beziehungen, die von der eigentlichen Natur der Materie unabhängig sind (SMW, 22 / 29). Dies ist in Grundzügen Whiteheads Vorstellung vom mechanistischen Materialismus oder Mechanizismus der Moderne. Die auf die frühe ionische Philosophie zurückgehende Frage, woraus die Natur letztlich bestehe, blieb durch alle nachfolgenden philosophisch-wissenschaftlichen Epochen hindurch relevant. Im 17. Jahrhundert wurde sie in der Begrifflichkeit von Stoff, Materie oder Material beantwortet, und zwar nicht allein in Form einer expliziten Lehrmeinung, sondern nach Darstellung Whiteheads zunächst in Form einer als selbstverständlich empfundenen vorwissenschaftlichen Annahme, die die auf ihrer Grundlage formulierten Theorien von vornherein bestimmte und nachhaltig prägte. Die Begriffe von Stoff, Materie oder Material treten stets in enger Verbindung mit dem auf, was Whitehead als »einfache Lokalisierung« (simple location) bezeichnet (SMW, 61 f. / 64 et passim). Dieser Begriff besagt, daß sich Materie im hier vorausgesetzten Sinn immer an einer bestimmten Raum- und Zeitstelle befindet, was darin zum Ausdruck kommt, daß von einer materiellen Einheit gesagt werden kann, sie »sei hier im Raum und hier in der Zeit oder hier in der RaumZeit« (SMW, 62 / 64). Umgekehrt kann man sagen, daß dasjenige, was in 317

Whitehead spricht hier von »Cartesian physics«, was in der dt. Übers. mehrfach mit »cartesische Metaphysik« wiedergegeben wird.

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dieser Weise einfach lokalisierbar ist, zugleich materialistisch begriffen wird. Wenn aber von etwas gesagt werden kann, es sei hier im Raum oder hier in der Zeit, so handelt es sich dabei um einen Bezug auf eine Raum-Zeit-Region, der weder Bezüge auf andere Raum-Zeit-Regionen impliziert noch solche voraussetzt.318 Die Vorstellung eines hier in der Zeit läßt nicht nur den Augenblick im Sinne der einfachen Lokalisierung in den Vordergrund treten, sondern verdeckt zugleich den Aspekt der Dauer. Indem der mechanistische Materialismus Newtons und Descartes’ gleichsam auf einer Augenblicks-Materie (»matter ›at an instant‹«) aufbaut (MT, 88), gerät ihm der Aspekt der Prozeßhaftigkeit der Natur aus dem Blick. Die einfache Lokalisierung, wonach eine materielle Einheit über eine Angabe ihres hier und jetzt eindeutig bestimmbar ist, legt die Auffassung nahe, sie als eine in sich geschlossene Wirklichkeit anzusehen, die ›selbstgenügsam‹ ihre Raum-Zeit-Stelle einnimmt und allenfalls externen Beziehungen unterworfen ist. Diese Äußerlichkeit der Beziehungen zu anderen materiellen Einheiten, die in derselben Weise einfach lokalisierbar sind, versteht Whitehead in enger Parallelität zur substantialistischen Wirklichkeitsauffassung des Descartes. Wie dieser eine Substanz als etwas bestimmt, das zu seiner Existenz nichts außer sich selbst bedarf,319 so kann entsprechend die einfache Lokalisierung als ›Selbstgenügsamkeit‹ einer materiellen Einheit an einem jeweiligen Ort und zu einer jeweiligen Zeit gedacht werden. Das naturwissenschaftliche Weltbild des 17. Jahrhunderts geht aus von einer Vielzahl solcher prinzipiell isolierter, lediglich in externen Beziehungen zueinander stehender und mittels dieser aufeinander einwirkender materieller Einheiten, denen ein ebenfalls prinzipiell isolierter Geist als Beobachter gegenübersteht. Im engeren Bereich der Naturwissenschaften selbst erwies sich das Modell der einfachen Lokalisierung von materiellen Einheiten, das die Beziehungen zwischen ihnen auf Positionsrelationen reduziert, als tragfähig für die wesentlichen kosmologischen Grundpositionen: Die universell wirksamen Naturkräfte wie die Gravitation beruhen auf der Anordnung verschiedener Massen. Die Anordnung der Massen bestimmt die wirksamen Kräfte, welche wiederum die Anordnung der Massen verändern. Dieses in 318

Der Ausdruck »location« wird in der dt. Übers. von PR mit »Ortsbestimmung«, in der von SMW mit »Lokalisierung« wiedergegeben. – Die Eigenschaft der einfachen Lokalisierung ist für Whitehead unabhängig von der Frage der Verwendung eines absoluten oder eines relativen Raumbegriffs (SMW, 62, 72 / 64, 74). 319 Vgl. 3.3.2.

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seinen Grundzügen geschlossene kosmologische Bild bezeichnet Whitehead als das »orthodoxe Kredo« der Physik des 17. Jahrhunderts (SMW, 63 / 66). Die Grundannahmen des mechanistischen Materialismus führen jedoch aus Whiteheads Sicht sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaften zu erheblichen Erklärungsproblemen: (i) Schon bei dem von Bacon grundgelegten Verfahren der Induktion resultiert nach Whitehead aus der Annahme der einfachen Lokalisierung von (im Sinne der cartesischen Substanzen) ›selbstgenügsamen‹ materiellen Einheiten ein kaum lösbares Problem: Existiert nämlich eine selbstgenügsame materielle Anordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt, so läßt sich auf nichts verweisen, was diese zu einer Anordnung zu einem anderen Zeitpunkt in Beziehung setzen würde. Die Annahme der einfachen Lokalisierung schließt die gleichzeitige Annahme aus, daß über etwas jeweils Gegebenes hinaus auf andere Zeitpunkte verwiesen würde: »Denn in der gegenwärtigen Tatsache findet sich nichts, was sich seinem inneren Wesen nach auf Vergangenheit oder Zukunft bezieht.« (SMW, 64 f. / 67) (ii) Auch die Übertragung von Licht und Schall mußte im 17. Jahrhundert aus der allgemeinen Voraussetzung materialistischer Grundannahmen erfolgen. Huygens erklärte die Übertragung des Lichts durch die Schwingungswellen eines materiellen Äthers, Newton durch die Bewegung materieller Korpuskeln. Keine dieser Theorien vermag nach Whitehead unsere Erfahrungstatsachen, nämlich Licht und Farbe als außenweltliche Realität, zu erklären (SMW, 67 / 69). Vielmehr wird auch in der Analyse des Wahrnehmungsvorgangs immer wieder nur auf Bewegung von Materie rekurriert: Das Eindringen des Lichts in die Augen, seine Wirkung auf die Netzhaut, die Einflüsse und Funktionszusammenhänge im Bereich von Nerven und Gehirn, werden gleichfalls ausschließlich als Bewegung von Materie erklärt. Ebenso beruhen die wissenschaftlichen Erklärungen des Schalls auf Bewegungen von Materie. Wie aber lassen sich als Erfahrungstatsachen aufgenommene Farben und Töne, ebenso auch Düfte, als Eigenschaften der Wirklichkeit verstehen, wenn die Wissenschaft als Erklärungsmodell lediglich die Bewegung von materiellen Einheiten anbietet? Whitehead skizziert die im wesentlichen bekannte, von ihm dann ebenfalls problematisierte Antwort (SMW, 67 f. / 69 f.). Die Erkenntnis, daß Farben, Töne und Düfte von den Sinnesorganen des wahrnehmenden Subjekts selbst abhängig seien, legte die u. a. von Galilei, Descartes und Locke vertretene Unterscheidung primärer und sekundärer Quali-

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täten nahe.320 Nur primäre Qualitäten – d. h. solche, die allein der Natur als dem Gegenüber des wahrnehmenden Subjekts zukommen – fallen mit dem zusammen, was der mechanistische Materialismus als Konstituentien und Funktionsprinzipien der Natur annimmt, also Ausdehnung, Gestalt, Masse, Bewegung, usw. Diese Konstituentien und Funktionsprinzipien können durch ein Bewußtsein rezipiert werden, das – entsprechend dem cartesischen Dualismus – einem Körper assoziiert ist. Die bewußte Wahrnehmung wird durch Vorgänge hervorgerufen, die vor allem im Gehirn als einem Teil des mit dem Bewußtsein verbundenen Körpers ablaufen. So nimmt also das Bewußtsein einerseits die – primären – Qualitäten der äußeren Wirklichkeit wahr und aktualisiert gleichzeitig Empfindungen, die letztlich Beiträge des Bewußtseins selbst sind, nämlich die Empfindungen der – sekundären – Qualitäten wie Farben, Töne und Düfte, die das Bewußtsein auf jeweilige Gegenstände der Wahrnehmung projiziert und mit ihnen identifiziert. Die sekundären Qualitäten werden gleichsam in das wahrnehmende Subjekt hineinverlegt, weil der mechanistische Materialismus in der skizzierten Form für sie keine Erklärungsmöglichkeit auf seiten der äußeren Wirklichkeit läßt. Strenggenommen nimmt das wahrnehmende Subjekt an den Körpern Qualitäten wahr, die diesen gar nicht eigen, sondern vielmehr »Qualitäten des Geistes« selbst sind (SMW, 68 / 70). Auch bezogen auf das Handeln des Menschen, seine Freiheit und Verantwortung, ermöglicht der mechanistische Materialismus für Whitehead keine dem natürlichen Bewußtsein angemessene Auslegung (SMW, 97 ff. / 96 ff.). Versteht man gemäß jener Lehre auch den menschlichen Körper als Konglomerat von Materie, das den beschriebenen Funktionsprinzipien unterliegt, so kann für ihn ebensowenig wie für den übrigen Bereich »blind dahinhastender« Körper (SMW, 96 ff. / 96 ff.) Zielstrebigkeit und Sinnerfüllung angenommen werden – Kategorien, die sich mit dem mechanistischen Materialismus in grundlegender Weise wechselseitig ausschließen. Mit dem Wegfallen von Ziel- und Zwecksetzung wird gleichzeitig die Möglichkeit einer persönlichen Verantwortung der an den Körper gebundenen Handlungen hinfällig. Zwangsläufig stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang des Körpers mit dem Bewußtsein. Besteht dieses einfach in der Widerspiegelung körperlicher, d. h. hier dem Mechanizismus unterliegender Vorgänge, so kann eine Verantwortlichkeit des handelnden Subjekts nicht sinnvoll angenommen werden. Nimmt man aber darüber hinausgehende Aktivitäten des Bewußtseins 320

Vgl. 3.3.2.

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an, die von den mechanistischen Prinzipien unabhängig wären, so bliebe die Frage nach der Verantwortung der an den Körper gebundenen Handlungen ebenso ungelöst, ein Dilemma, das sich für Whitehead an dem Determinismus Mills zeigt (SMW, 97 f. / 97 f.). Der mechanistische Materialismus und seine Grundvorstellung einer einfachen Lokalisierung von materiellen Einheiten beruht nach Whitehead auf Descartes’ Substanzdenken, welches seinerseits von einer allgemeinen und vorwissenschaftlichen Vorstellung geprägt ist, derzufolge die Welt primär aus Dingen mit ihren wechselnden Eigenschaften bestehe. Diese Vorstellung kommt in der Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache zum Ausdruck und geht zurück auf das aristotelische Denken mit seiner primär logischen Unterscheidung von Substanzen und Akzidenzien. Nach alltäglicher und vorwissenschaftlicher Auffassung ist ein Ding etwas, das den Sinnen, besonders Gesichtssinn und Tastsinn, zugänglich ist, sich dem Erkennenden als Einheit darstellt und in einer annähernden quantitativen Proportionalität zum Menschen selbst steht (MT, 128 ff.). Mit der Dingvorstellung verbunden sind ferner die Ideen der Festigkeit, des Für-sich-Bestehens und der räumlichen Existenz. Diese räumliche Existenz der Dinge im Sinne des gemeinsamen und insofern auch verbindenden Worin aller Dinge begründet ein Verständnis der Wirklichkeit als die Gesamtheit fester Dinge im Raum, der ohne diese leer wäre. Die Bewegung der Dinge ist eine Bewegung im Raum, die die räumlichen Beziehungen und damit auch die Wechselwirkungen der Dinge verändern kann. Die räumlichen Beziehungen der Dinge, die Grundlage ihrer Wechselwirkungen sind, lassen sich innerhalb der Geometrie analysieren. Die Vorstellung der Festigkeit der Dinge steht in enger Verbindung mit der Vorstellung ihrer Dauerhaftigkeit. Anders als Ereignisse, die ablaufen, überdauern Dinge bestimmte Zeiträume. Ihre Eigenschaft, uns innerhalb dieser Zeiträume als dieselben wieder zu begegnen, führt zu der Vorstellung ihrer Selbstidentität in der Zeit, eine Voraussetzung von elementarer lebenspraktischer Relevanz. Der Vorstellung der Selbstidentität korrespondiert wiederum diejenige der Veränderung, der diese Dinge als dieselben unterworfen sein können. So sind Dinge indifferent oder passiv gegenüber einer Vielzahl von außen an sie herangetragener Eigenschaften. Als unwesentlich bzw. akzidentell kann, zumindest in der Sphäre des Unbelebten, die Einheit des Dings selbst gelten. Whiteheads Beispiel ist ein Stein, der auch gespalten noch ein Stein bleibe. Diese von Whitehead wohl bewußt elementar gehaltenen Überlegungen, die mit dem vorwissenschaftlichen Begriff eines Dings verknüpft

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sind, finden sich in modifizierter Form in der Kosmologie des mechanistischen Materialismus wieder. Während die Sinnesqualitäten (Farben, Gerüche, Töne) als sekundäre Qualitäten von der Sphäre der objektiven Wirklichkeit getrennt sind, werden dieser nur noch die primären Qualitäten oder physikalischen Eigenschaften zugeschrieben. Als Substanz der körperlichen Dinge gilt die Masse als das passive Substrat jener primären Qualitäten. So besteht die Wirklichkeit aus einfach lokalisierten Materieeinheiten, deren Substrat, die Massen, als Träger akzidenteller physikalischer Eigenschaften verstanden wird. Zu der Vorstellung an sich isolierter, ›selbstgenügsamer‹ Materieeinheiten tritt für den mechanistischen Materialismus die Vorstellung räumlicher Beziehungen und demzufolge von Wechselwirkungen hinzu. Newtons allgemeine Bewegungsgesetze bilden den Rahmen, innerhalb dessen speziellere Gesetze Beziehungen der Bewegungen verschiedener Körper beschreiben, wobei solche Beziehungen auch räumlich getrennte Körper betreffen können. So bedeutet Newtons Gravitationsgesetz die Annahme einer mit der Masse verbundenen Kraft, durch die die Bewegungen von Körpern über Distanzen hinweg voneinander abhängig sein können (MT, 134). Whitehead macht hiergegen geltend, daß die Beschreibung des Wesens eines materiellen Körpers in der Begrifflichkeit des mechanistischen Materialismus die Annahme einer solchen Gravitationskraft nicht nahelege. Newton gelingt es nach Whitehead nicht, plausibel zu machen, warum die verschiedenen Faktoren des Naturgeschehens, hier Masse und Gravitation, zusammen vorkommen. Lediglich unter dem Eindruck der Empirie projiziert Newton Verknüpfungen bestimmter Faktoren, ohne daß diese durch die projizierten Verknüpfungen zu einem Sinngefüge würden, das durch das Wesen der verknüpften Faktoren selbst erfordert wäre (MT, 134 f.; 139 f.). Verkürzt gesagt führt die Konzeption des mechanistischen Materialismus zu einer Erklärung der Natur, die die Verknüpfung der verschiedenen Faktoren nicht als aus dem Wesen dieser Faktoren selbst resultierend begreift. So faßt der mechanistische Materialismus die Wirklichkeit als einen Komplex von Gegebenheiten auf, aber eben nicht als ein Sinngefüge, für welches sich innere Gründe des Zusammenwirkens angeben ließen, wie dies nur bei einem organistisch verbundenen ›lebendigen‹ Ganzen zutrifft. Newtons Mechanizismus läuft für Whitehead vielmehr auf die Annahme einer ›toten‹ Natur hinaus, für die sich kein Ziel- und Wertstreben benennen lasse. So bleibt die Feststellung, daß Newtons Konzeption, mag sie auch innerhalb bestimmter Grenzen eine erfolgreiche und gewissermaßen geniale Methode darstellen, für ein Verständnis der konkreten Wirklichkeit

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und insbesondere für die dort anzutreffenden Funktionszusammenhänge kein angemessenes Verständnis ermöglicht. Die Erklärungskraft des mechanistischen Materialismus, auf der sein offensichtlicher und außerordentlicher Erfolg primär beruht, deutet darauf hin, daß er als Interpretationskonzeption nicht einfach falsch sein kann. Andererseits ist offenbar, daß seine Erklärungskraft auf bestimmte Erfahrungsbereiche beschränkt ist. Whitehead hält das Gedankenschema des mechanistischen Materialismus für anwendbar, aber nicht für adäquat. 321 Das Verhältnis der Wissenschaft zu ihren Abstraktionen faßt Whitehead so zusammen: »Ihr genügt es, daß sie anwendbar sind« (SMW, 83 / 84). Die Konzeption des mechanistischen Materialismus repräsentiert einen hohen Abstraktionsgrad. Der mechanistische Materialismus ist darauf beschränkt, einen ausgegrenzten Bereich der Erfahrungswirklichkeit zu erfassen; von Strukturen, die sich in seiner Begrifflichkeit nicht erklären lassen, sieht er ab. Whitehead kritisiert den mechanistischen Materialismus nicht aufgrund dieser Tatsache eines Rückgriffs auf Abstraktionen wie z. B. die der einfachen Lokalisierung selbst, sondern aufgrund der Tendenz seiner Vertreter, diese Abstraktionen mit der Wirklichkeit als ganzer zu identifizieren – wir könnten auch sagen: seine Anwendbarkeit als Adäquatheit in einem universellen Sinn zu betrachten. Die Negationen z. B. von Finalursächlichkeit und damit verbundener Sinnhaftigkeit sind unmittelbare Folgen des Ausschließlichkeitsanspruchs, mit dem man am mechanistischen Materialismus, den abstrahierenden Charakter seiner Begrifflichkeit nicht sehend oder leugnend, festhielt (SMW, 72 ff. / 74 ff.). Die so kritisierte Newtonsche Konzeption bezeichnet Whitehead durchgehend als Kosmologie, macht aber zugleich deutlich, daß diese den von ihm ausführlich reflektierten Maßstab, an dem ein spekulativ-kosmologisches Schema zu messen sei, verfehlt. Wie stellt sich Whiteheads Vorstellung einer Korrektur des mechanistischen Materialismus in Grundzügen dar? Gemäß unserem natürlichen Bewußtsein und unserer Selbsterfahrung erscheint die Natur nicht als ein Nebeneinander isolierter Materieeinheiten, sondern als Geflecht organisch verbundener Wesenheiten. Die mechanistische Grundvorstellung eines hier und jetzt im Sinne der einfachen Lokalisierung eines materiellen Dings korrigiert Whitehead durch seinen Organismusbegriff, indem er geltend macht, daß jedes Element der Wirklichkeit einen inneren Bezug zu anderen Elementen und damit zu anderen Raum-Zeit-Posi321

Vgl. 2.3.3.

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tionen aufweist. Zwar mag man davon ausgehen, daß das Subjekt von Prehensionen seinerseits der Bestimmung eines hier und jetzt unterliegen müsse, jedoch verweist das Einbezogene als solches auf andere RaumZeit-Stellen. Was als noch nicht Erfaßtes dort war, existiert als perspektivisch Erfaßtes zugleich hier : »In gewissem Sinne ist alles immer und überall.« (SMW, 114 / 112) Für diesen Sachverhalt, der sich aus Sicht des mechanistischen Materialismus und seiner Position der einfachen Lokalisierung als Paxadoxie darstellt, beruft Whitehead sich auf unsere ursprüngliche Erfahrung, im Zuge derer ich an einem hier als meinem jeweiligen Ort andere Dinge als Aspekte der Welt zu einer neuen Einheit zusammenfasse. Jedem Naturwesen kommt als solchem – und unabhängig von dem möglicherweise hinzutretenden Moment des Bewußtseins – jene organistische Struktur zu, die es in einem solchen Beziehungsfeld stehen läßt. Diese organische Einheit eines Naturwesens, die für Whitehead in unserer Selbsterfahrung deutlich wird, ist in der Begrifflichkeit des Mechanizismus in keiner Weise zu erfassen (SMW, 113 f. / 111 f.).322 So ist es für Whitehead nicht zuletzt der Modellfall des erfahrenden Subjekts im Hinblick auf die es umgebende Wirklichkeit, der es nahelegt, die Grundvoraussetzungen des mechanistischen Materialismus durch ein organistisches Verständnis der Natur zu ersetzen. Demgegenüber sieht Whitehead letztlich keine Basis einer Vermittlung des mechanistischen Weltbildes mit dem natürlichen Bewußtsein. Für ihn ergibt sich das Erfordernis einer grundlegend erneuerten Wirklichkeitsinterpretation aus der Ablehnung des Substanz-Qualitäts-Schemas, das für die komplementären Positionen des Subjektivismus und Mechanizismus verantwortlich ist. Die für die neue Wirklichkeitsinterpretation grundlegende Organismuskonzeption beruft sich auf den modellhafen Ausgangspunkt der menschlichen Selbsterfahrung, die nach Whiteheads umgestaltetem subjektivistischen Prinzip als Erfahrung von anderem dieses nach dem Muster von Lockes Konzeption des Bewußtseins immer schon konstitutiv einbezieht.323 Diese Struktur versteht die Organismusphilosophie, insofern über Locke hinausgehend, als Wirklichkeitsstruktur schlechthin. So wird, ausgehend von der menschlichen Selbsterfahrung, die Wirklichkeit insgesamt als eine organistische verstanden. Whitehead bewegt sich dabei im Rahmen dessen, was seine Forschungsmethode der phantasievollen Verallgemeinerung324 wesentlich ausmacht: Wir gehen 322 323 324

Vgl. Lovejoy (1930). Vgl. 3.5. Vgl. 2.3.3 und 3.5.

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aus von einem begrenzten Beobachtungsbereich (hier: das erkennende Subjekt bzw. das natürliche Bewußtsein), entwickeln ausgehend davon ein spekulatives Schema (hier: ein organistisches Perzeptionsmodell) und wenden dies auf erweiterte Erfahrungsbereiche (hier: die Erfahrungswirklichkeit in einem umfassenden Sinn) an. Anlaß für eine Revision der zentralen Auffassungen des mechanistischen Materialismus ergeben sich für Whitehead nicht allein aus seinen dargelegten inneren Schwierigkeiten und aus den Inkonsistenzen, die in philosophischen Konzeptionen sichtbar werden, die auf ihm beruhen. Vielmehr legt Whitehead Wert auf die Feststellung, daß auch Entwicklungen innerhalb der Physik selbst zu einer weitgehenden Revision mechanistischer Grundannahmen geführt haben, die durch ein philosophisch-kosmologisches Schema mindestens zu berücksichtigen sind. Vor allem an Untersuchungen zur Übertragung von Licht und Schall wurde die Problematik einer Auffassung deutlich, wonach sich Materieteile an bestimmten Orten innerhalb eines sonst als leer angesehenen Raums befinden. Gerade bei diesen Untersuchungen erwies sich der zuvor für leer gehaltene Raum als Träger von nicht wahrnehmbaren, aber wenigstens hypothetisch anzunehmenden Aktivitäten. Dies führte zur Annahme eines Äthers als Medium solcher Aktivitäten. Whitehead rekonstruiert die Geschichte der Äther-Theorien des 17. bis 19. Jahrhunderts in der Weise, daß der Ätherbegriff seinerseits zunächst in enger Entsprechung zum herkömmlichen Materiebegriff gedacht wurde (SMW, 122 ff. / 119 ff.). Das 19. Jahrhundert ist jedoch geprägt von dem Bewußtsein, daß der Materiebegriff des mechanistischen Materialismus zu modifizieren sei, da der in traditioneller Weise begriffenen Materie fundamentalere Aktivitäten zugrundelagen. Auch dem Äther wurden Eigenschaften zugesprochen, die sich mit dem traditionellen Materiekonzept immer weniger zur Deckung bringen ließen. Verantwortlich für die Distanzierung vom mechanistischen Materialismus während des 19. Jahrhunderts war für Whitehead vor allem die Einsicht in die Oberflächlichkeit der unreflektierten Dingvorstellung, die aus der Sinneserfahrung resultiert. Zugleich prägte aber die Dingvorstellung weiterhin unterschwellig die naturwissenschaftliche Theoriebildung, so daß die neueren, sich hiervon distanzierenden Theorien in Wissenschaft, Naturphilosophie und Erkenntnistheorie aufgrund fehlender Korrespondenz mit der unreflektierten Dingvorstellung der Sinneserfahrung dem Vorwurf der Unverständlichkeit ausgesetzt waren. Die wichtigste Veränderung im Hinblick auf den Begriff der Materie, die sich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert innerhalb der Physik selbst er-

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geben hat, ist schließlich für Whitehead die Preisgabe der Vorstellung von Materiemassen als einem passiven, sich selbst genügenden Substrat, das auch bei akzidentellen Veränderungen über Zeiträume hinweg dasselbe bleibt. Zwar werden dabei weder die Vorstellung passiver Materieeinheiten noch die damit verbundene alltägliche Dingvorstellung hinfällig, jedoch verlieren sie ihren Status als fundamentaler Ausgangspunkt von Wirklichkeitserklärung. Die entscheidende Revolution der Physik des 19. Jahrhunderts besteht darin, daß sich die Masse ihrerseits auf etwas Elementareres zurückführen läßt, nämlich auf Energie. Während Masse gleichsam Energie verkörpert, ist Energie selbst reine Aktivität. So mündet die Gleichsetzung von Masse und Energie in der Vorstellung einer in einem elementaren Sinne aktiven, agierenden Materie, die mit Prozessen und Prozeßeinheiten identifiziert werden kann. Die unreflektierte Vorstellung dauerhafter Dinge wird ergänzt bzw. ersetzt durch die Vorstellung stabiler Gruppierungen von dynamischen Prozeßeinheiten. Für solche Prozeßeinheiten erweist sich der sinnvoll nur auf mechanistisch gedachte Materieeinheiten anwendbare Begriff einer einfachen Lokalisierung als unangemessen. Für Prozeßeinheiten ist charakteristisch, daß sie gerade nicht mit einer präzise begrenzten und angebbaren Raumstelle identifizierbar sind, sondern daß sie Auswirkungen auf entfernte und entfernteste Bereiche der Wirklichkeit haben. Die Vorstellung einer einfachen Lokalisierung kann nicht mehr greifen, wo die vormaligen passiven Materieeinheiten durch aktive Prozeßeinheiten ersetzt werden, die nicht nur einwirkend auf ihre Umgebung übergreifen, sondern auch ihrerseits äußeren Einwirkungen unterliegen. Anstelle der noch mit Newtons mechanistischem Materialismus verträglichen Vorstellung eines leeren Raums tritt der für die wechselseitigen Einwirkungen von Prozeßeinheiten erforderliche Begriff des Kraftfelds. So läßt sich sagen, daß die Physik die in der Begrifflichkeit der einfachen Lokalisierung verstandenen Materieeinheiten gewissermaßen selbst als Abstraktion erkannt und durch adäquatere Erklärungskategorien, nämlich die sich gegenseitig durchdringender Aktivitäten, ersetzt hat. Dabei erweist sich das gesamte Universum als System aufeinander bezogener und einander bedingender Prozeßeinheiten, die die passiven, isolierten Materiemassen als Erkenntniskategorien ablösen (MT, 136 ff.). In diesem Zusammenhang ist auch der von Whitehead geprägte Leitbegriff des Organismus als Erklärungsbegriff für das Naturgeschehen als Gegenbegriff zur gewöhnlichen Dingvorstellung zu sehen, die für das mechanistische Materiekonzept wesentlich ist. In der Distanzierung von der gewöhnlichen Dingvorstellung und der Konzeption seines Organis-

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musbegriffs ist Whitehead an neueren naturwissenschaftlichen Erklärungskategorien orientiert: Gemäß diesen konstituiert sich das Naturgeschehen nicht primär aus Dingen, sondern aus elementaren Einheiten wie Molekülen, Atomen, Protonen, Elektronen, Energiequanten (SMW, 124 ff. / 120 ff.). Die Annahme solcher als einheitlich im Sinne von unteilbar angesehenen Entitäten spielt aus der Sicht Whiteheads für die Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts nur eine unterschwellige Rolle, wird aber im 19. Jahrhundert fast gleichzeitig für fast alle wichtigen Disziplinen bestimmend. Die Atomtheorie wurde durch Dalton in der Chemie vorrangig, mit der Zelltheorie wurde sie innerhalb der Biologie bestimmend, mit der Entdeckung des Elektrons wurde sie zum zentralen Paradigma in der Physik. Im selben Zusammenhang ist wichtig, daß Pasteur mit den Bakterien kleinste Organismen entdeckte. Die elementaren atomistischen Einheiten der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts haben grundlegende gemeinsame Eigenschaften, die im Gegensatz zu der zuvor bestimmenden materialistischen Dingkonzeption stehen, ein weitgehend neues Wirklichkeitsverständnis ermöglichen und das Paradigma für Whiteheads organistische Wirklichkeitskonzeption darstellen. Für die elementaren Entitäten der Physik ist zunächst charakteristisch, daß ihre Einheit eine strukturierte, durch die Prinzipien ihres Selbstaufbaus bedingte ist, von denen sich, anders als bei Dingen im traditionellen und üblichen Sinn, nicht unbeschadet dieser Prinzipien Einzelteile eliminieren lassen, wie dies bei der weitgehend beliebigen, kontingenten Einheit der Dinge möglich ist. In eben dieser Weise kann ein Organismus als solcher nicht ohne seine funktionalen Teile bestehen. Die elementaren Einheiten der Physik unterscheiden sich ebenso wie Whiteheads Organismen von der Passivität der dauerhaften, materiellen Dinge, im Gegensatz zu denen sie agierende Wesenheiten sind (PR, 78 f. / 158 f. et passim). Ihre Aktivität ist eine konstitutive, von der nicht abstrahiert werden kann. Die Einheiten der Physik, deren Selbstsein und Struktur in ihrer Aktivität besteht, stehen – anders als die einfach lokalisierten Dinge – in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Für sie ist charakteristisch, daß sie in Form des von ihnen erzeugten Feldes andere Entitäten in ihr Selbstsein einbeziehen und umgekehrt von den Feldern anderer Entitäten einbezogen werden. Im Gegensatz zu den Dingen durchdringen sich die Einheiten der Physik gegenseitig. Diese Grundeigenschaft macht zugleich ihre Organizität aus: Ihr Selbstaufbau erfolgt unter aktiver Einbeziehung ihrer Umwelt, d. h. anderer Wesenheiten.

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Die beiden Grundideen, die Whitehead der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts entnimmt, und auf denen er seinen Organismusbegriff gründet, ist einerseits der zunächst für die Chemie relevante Begriff der Atomizität und andererseits der zunächst im Elektromagnetismus grundlegende Begriff der Kontinuität der Naturwirklichkeit, die in der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung eine engere Verbindung eingingen (SMW, 124 / 120). Wie nun integriert Whitehead diese beiden Grundbegriffe in seinen Begriff eines Organismus? Whitehead versteht unter einem Organismus eine individuelle, atomare Einheit, die ein kontinuierliches Feld umfaßt, das zugleich das Feld anderer Organismen ist. Damit distanziert er sich nicht nur von der Grundvorstellung eines Dings und seiner einfachen Lokalisierung, sondern auch von der einer Entität, die nur zu äußerlichen Beziehungen fähig ist. Diese konstitutive Verbundenheit der Entitäten untereinander sieht Whitehead in der wissenschaftlichen Konzeption des Atoms unmittelbar vorgegeben, wonach jedes Atom in einem Strukturzusammenhang mit anderen Atomen steht. Dieser Strukturzusammenhang bedeutet, insofern er zwischen prozeßhaften Entitäten angenommen wird, einen dynamischen Funktionszusammenhang bzw. Interaktion. So ist nach Whiteheads organistischer Philosophie die Naturwirklichkeit als Vielheit konstitutiv verbundener Entitäten zu begreifen. Für jede der so verbundenen Entitäten unterscheidet Whitehead ein inneres Wirklichsein bzw. Selbstsein und ein äußerliches Wirklichsein bzw. Sein in anderem, was er auch als »innere« und »äußere« Realität bezeichnet (SMW, 130 / 126). Der organistische Charakter kommt sowohl jeder Entität an sich als auch der durch die Entitäten gemeinsam gebildeten Gesamtheit zu. Gemäß dem neuen wissenschaftlichen Weltbild, das an die Stelle des mechanistischen Materialismus getreten ist, konstituiert sich also die Wirklichkeit aus Organismen. Für alle kleinsten physikalischen Einheiten ist dies zur Standardauffassung geworden. Bei größeren Aggregaten mag die organische Einheit und Beschaffenheit in den Hintergrund treten, sie erscheinen eher als das von sich aus unbestimmte Resultat äußerer Ursachen. Lebewesen lassen dagegen die von innen her gestaltete Struktur verstärkt sichtbar werden. Die Dingvorstellung wird nur einer oberflächlichen Erscheinungsform eines Teilbereichs der materiellen Sphäre gerecht, nicht aber der Naturwirklichkeit und den in ihr tatsächlich relevanten Prinzipien. Die Organismusphilosophie will in Rückwendung zur platonischen Kosmologie des Timaios dem naturwissenschaftlich begründeten Umdenken in der Weise gerecht werden, daß sie anstelle von Dingen von Geschehnissen als den letzten Wesenheiten aus-

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geht. Diese Wesenheiten bezeichnet er wechselnd als »actual entities«, »actualities«, »events« oder »actual occasions«.325 Der atomare Charakter der letzten Prozeßeinheiten besteht darin, daß diese sich nicht wiederum auf untergeordnete Prozeßeinheiten zurückführen lassen. Whitehead nimmt also die Einheiten der Physik zum Modell für seinen Begriff einer organistischen Wirklichkeit. So wie die neuen physikalischen Entitäten Gegenmodelle der mechanistisch verstandenen Dinge sind, so viele Gemeinsamkeiten haben sie andererseits mit der Grundvorstellung des Organismus.

3.5 Locke: Einheit des Bewußtseins als metaphysisches Modell Wie ausgehend von Descartes gezeigt wurde, führt die Substanzmetaphysik zu dem subjektivistischen Prinzip, wonach das erkennende Subjekt über Vorstellungen verfügt, aber prinzipiell nicht in der Lage ist festzustellen, was diesen Vorstellungen in der Wirklichkeit entspricht bzw. ob ihnen überhaupt etwas entspricht.326 Die Einsicht in dieses Problem und der Versuch seiner Vermeidung ist nach Ansicht Whiteheads das den englischen Empirismus prägende Motiv für die Ablehnung des Substanzbegriffs und des Substanz-Qualitäts-Schemas. Sowohl bei Locke als auch bei Hume wird deutlich, daß dieses Schema, wird es auch ausdrücklich zurückgewiesen, dennoch unterschwellig und als stillschweigende Voraussetzung wirksam bleibt. Whitehead will zeigen, welchen Einfluß und welche Konsequenzen das Substanz-Qualitäts-Schema auch dort hat, wo man sich dem Anspruch nach von ihm distanziert, zugleich aber erkenntnistheoretische Überlegungen latent von jenem Schema bestimmt sein läßt. Eine Konzeption, die die genannte Problemlage besonders deutlich sichtbar macht und die zugleich Grundlinien

325

Der Begriff »event« bezeichnet in Whiteheads Schriften der mittleren Periode (vgl. Einleitung, Anm. 2) fundamentale Prozeßeinheiten im naturphilosophischen Sinn; vgl. auch Lowe (21951), 65-88 und Parmentier (1968), 64-68, 79-82. In SMW, 90 f., wird »event« dann für metaphysisch elementare Prozeßeinheiten eingeführt und bezeichnet schließlich in PR, wo der Begriff allerdings nur noch selten vorkommt, einen Funktionszusammenhang von »actual occasions«, d. h. einen »nexus« (PR, 73 / 149 f.); eine weitergehende Untersuchung und Differenzierung dieser Prozeßbegriffe fällt aus dem Rahmen der vorliegenden Untersuchung heraus. 326 Vgl. dazu Whiteheads Kritik der »Abbildungstheorie der Wahrnehmung« (PR, 54 / 117).

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eines verbesserten Ansatzes erkennen läßt, ist für Whitehead die Philosophie Lockes. Locke verkörpert für Whitehead innerhalb der englischen Philosophie eine direkte Entsprechung zu Platon, und zwar im Hinblick auf »seine Lebensepoche, seine persönlichen Begabungen, seine weitgefächerte Erfahrung und seine leidenschaftslose Darstellung widerstreitender Anschauungen« (PR, 60 / 127). Mag auch dieses Locke-Bild dem zuvor entworfenen Platon-Bild (PR, 39 / 92)327 in auffallender Weise entsprechen, so bleiben doch beide Charakterisierungen eher vage und übergehen fundamentale Unterschiede zwischen beiden Denkern, z. B. hinsichtlich der Mathematik. Für die pythagoreisch geprägte Philosophie Platons spielt die Mathematik bekanntlich eine zentrale Rolle. In der wiederum Mathematik-zentrierten Philosophie des 17. Jahrhunderts bildet Locke als Nicht-Mathematiker eine auch von Whitehead registrierte Ausnahme (SMW, 38, 42 / 43, 47). Andererseits verdankt die Philosophie der psychologischen Ausrichtung Lockes maßgebliche Neuimpulse. Er erkannte, »daß in der philosophischen Situation, die Descartes hinterlassen hatte, die Probleme von Erkenntnistheorie und Psychologie angelegt waren« (SMW, 183 / 173). So sorgte Locke für »die Denklinien, welche die Philosophie in Bewegung hielten« (ebd.), und entwickelte den »Keim einer organischen [d. h. organistischen] Theorie der Natur« (SMW, 184 / 173). Gerade die letztere, auch auf Bergson vorausweisende Leistung macht Locke zu einer philosophiegeschichtlichen Zentralfigur zwischen Platon und Whitehead, was seine Aufwertung und Sonderstellung in PR rechtfertigt. Whiteheads in der Platon-Gleichsetzung zur »Huldigung«328 gesteigerte Sympathie für Locke beruht auf der gemeinsamen »Berufung auf die Tatsachen« (PR, 60 / 127) im Sinne eines besonderen Bemühens um Objektivität: Auch wenn die »Tatsachen« zu Lockes theoretischen Annahmen in Widerspruch stehen, widersteht Locke möglichen Versuchungen, diesen Widerspruch einfach wegzuerklären (PR, 145 f. / 273 f.) – Versuchungen, wie Whitehead sie in den modernen Naturwissenschaften wahrnimmt und als Obskurantismus kritisiert (FR, 43 f. / 38). Im Gegensatz hierzu stellt Whitehead die Adäquatheit von Lockes Essay 329 beson327

Vgl. 1.3. Specht (1986), 47. 329 Whitehead zitiert Lockes Hauptwerk An Essay Concerning Human Understanding (= Essay) sehr ausführlich. Soweit diese Zitate hier nochmals angeführt werden, geben wir den Essay (unter Angabe der üblichen Teil / Kapitel / Abschnitt-Zählung) nach der dt. Übersetzung von PR wieder. 328

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ders heraus (PR, 51, 57 / 112, 122). Adäquatheit im Sinne von Whiteheads Spekulationskriterien330 ist hier nicht etwa so zu verstehen, daß Locke eine universell anwendbare Konzeption vorgelegt hätte, denn Whitehead selbst attestiert Lockes Essay nur einen »begrenzten Geltungsbereich« (PR, 145, 210 / 273, 388). Bei diesem Geltungsbereich handelt es sich um die bewußte menschliche Erfahrung: »Locke gibt die leidenschaftslosesten Beschreibungen der verschiedenen Elemente in der Erfahrung, die der gesunde Menschenverstand niemals ausläßt.« (PR, 51 / 112) Dabei wird Locke (im Gegensatz zu Hume, worauf noch einzugehen ist) aus Whiteheads Sicht dem Alltagsverstand in der Weise gerecht, daß er an den Erfahrungselementen als real festhält, die uns selbstverständlich sind oder evident erscheinen. Für Whitehead ist Locke daher derjenige Denker, der dem umgestalteten subjektivistischen Prinzip, wonach einzelnes einer direkten Perzeption zugänglich ist, am nächsten gekommen ist.331 Andererseits kritisiert Whitehead Lockes Essay wiederholt für seine Inkohärenz oder Inkonsistenz (PR, 51, 210 / 112, 388 f.). Er selbst intendiert ein kohärentes System auf der Basis philosophischer Grundbegriffe, die er bei Locke und Descartes explizit formuliert sieht, die dort aber nicht für die Grundlegung eines entsprechenden Systems fruchtbar gemacht würden (PR, 128 / 246). Lockes Inkohärenz führt Whitehead auf zwei verfehlte Voraussetzungen zurück, die beide in ihrer besonderen Bedeutung cartesischen Ursprungs sind. (i) Die erste Voraussetzung, das Substanz-Qualitäts-Schema, verhindert eine konsequente Durchführung von Lockes Erfahrungsinterpretation im Sinne der direkten Perzeption von einzelnem. Dieses Schema beruht für Whitehead auf einer durch Aristoteles eingeleiteten verfehlten Identifikation von logischen und ontologischen Grundkategorien und prägt Lockes Philosophie ebenso wie das philosophische Denken des 17. und 18. Jahrhunderts im allgemeinen (PR, 54 / 117). Die Substanzmetaphysik erlangte mit Descartes ihre nahezu uneingeschränkte Vorherrschaft, der sich Locke widersetzte – allerdings nach Whitehead nicht mit der nötigen Konsequenz (PR, 138 / 261): Locke blieb dem Substanz-QualitätsSchema teilweise verhaftet, was seine Philosophie inkohärent werden ließ und ihre skeptische Widerlegung durch Hume provozierte (PR, 51 / 112). Hume gab Lockes Annahme der »Ideen partikulärer Dinge« auf, wodurch er, so Whitehead, zu einer konsistenteren Position gelangte (PR, 57 / 122; vgl. 147 / 276 f.). Konsistenz bedeutet hier die durchgängige Ver330 331

Vgl. 2.3.3. Vgl. 3.3.3.

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träglichkeit mit dem Substanz-Qualitäts-Schema, das Whitehead mit einer Qualifikation des Bewußtseins durch Ideen partikulärer Dinge für unvereinbar hält. (ii) Die zweite kritisierte Voraussetzung ist die auch für Locke letztlich maßgebliche Zweiteilung der Wirklichkeit,332 die die von ihm nur unzureichend berücksichtigte reale Subjekt-Objekt-Beziehung innerhalb des Erkenntnisvorgangs ausschließt, da der Geist als eine von zwei wesentlich unabhängigen Substanzarten prinzipiell von der materiellen Sphäre getrennt ist (PR, 325 / 586). Als zwangsläufige Folge hiervon können Ideen partikulärer Dinge, verstanden im Sinne einer konstitutiven Einbeziehung von Erkenntnisobjekten, nicht zustande kommen, da das erkennende Subjekt auf Aktivitäten innerhalb seines eigenen Binnenbereichs beschränkt ist, wodurch die Erklärung von Erfahrung nicht gelingen kann oder defizitär bleiben muß. Die Organismusphilosophie will gemäß ihrem umgestalteten subjektivistischen Prinzip an den Ideen partikulärer Dinge festhalten, gleichzeitig aber die mit dieser Annahme unverträglichen Bestandteile von Lockes Konzeption eliminieren (PR, 138 / 262). Ersichtlich handelt es sich bei den beiden verfehlten Voraussetzungen (i) und (ii) um metaphysische Positionen. Locke indessen erklärt die menschliche Erkenntnis zu seinem Untersuchungsgegenstand333 und distanziert sich von der Metaphysik, woraus nach Whitehead sowohl Vorals auch Nachteile resultieren (PR, 145 ff., 153 / 273 ff., 287). Einerseits vermeidet Locke die Voreingenommenheit, die oft mit einer latenten metaphysischen Orientierung einhergeht. Andererseits bedeutet Lockes Metaphysik-Aversion eine perspektivische Beschränkung: In seiner Annahme der Ideen partikulärer Dinge sowie in seiner wiederholten (von Hume weitergeführten) Kritik des Substanzbegriffs opponiert Locke gegen das tradierte Substanz-Qualitäts-Schema, ersetzt es aber letztlich nicht durch ein anderes, angemesseneres Konzept, da ein solches eben nur metaphysisch gewonnen werden kann. Obgleich also Locke nicht zu der erforderlichen Revision traditioneller metaphysischer Kategorien gelangt, die für eine unzulängliche Interpretation unserer Erfahrung wesentlich verantwortlich sind, bietet sein erkenntnistheoretisches Grundmodell den konzeptuellen Rahmen für die von Whitehead intendierte Organismusphilosophie und kommt deren wesentlichen Positionen durchaus nahe. Whitehead nimmt Lockes Er332 333

Vgl. 3.3.2. Essay, Einleitung, 2.

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kenntnistheorie in den Teilen auf, die nicht von den vermeintlich verfehlten Voraussetzungen geprägt sind, und synthetisiert metaphysische mit erkenntnistheoretischen Perspektiven zu einer organistischen Metaphysik der Erfahrung. Die auffallende programmatische Gewichtung schon am Anfang des Vorwortes von PR, wonach Locke die Hauptpositionen der Organismusphilosophie insbesondere in den letzten Büchern seines Essay am umfassendsten vorweggenommen habe (PR, xi / 21; vgl. 51 / 111),334 wird zwar durch Whiteheads Locke-Kritik relativiert, bleibt aber dennoch ein durchgängiges Motiv. Wenn Whitehead Lockes Essay Concerning Human Understanding in PR seinen eigenen Essay in Cosmology gegenüberstellt, so legt schon die programmatische Oberfläche einen Vergleich nahe: Beide Werke repräsentieren das von Whitehead methodologisch aufgewertete Stadium des Entwurfs (essay); Lockes Thema des human understanding wird unter Inanspruchnahme wesentlicher Grundmotive ausgeweitet zu einer philosophischen Kosmologie. Im folgenden ist zu zeigen, inwiefern Lockes Essay den konzeptuellen Rahmen für Whiteheads Organismusphilosophie vorgibt und in welcher Hinsicht Whitehead sich von Locke distanziert bzw. über ihn hinausgeht. Während für Whitehead bei Descartes der Begriff der körperlichen Substanz unangemessen im Vordergrund steht, ist bei Locke, der gleichfalls (wenn auch oft nur implizit) von einem Dualismus ausgeht, die Erklärung der geistigen Substanz zentral. Beide Konzeptionen repräsentieren daher in unterschiedlicher Weise und Gewichtung die von Whitehead kritisierte Zweiteilung der Wirklichkeit. Die Organismusphilosophie ersetzt diese dualistischen Konzeptionen durch einen Monismus in dem Sinne, daß nur ein einziger Typ wirklicher Einzelwesen vorausgesetzt wird. Whitehead will so die aus seiner Sicht unangemessene Präferenz der materiellen Substanz bei Descartes und der geistigen Substanz bei Locke vermeiden bzw. überwinden. Der neue, umfassendere Typ wirklicher Einzelwesen wird dabei nicht Descartes’ materiellen Substanzen, sondern Lockes geistigen Substanzen nachempfunden, die Whitehead als die »tiefere philosophische Beschreibung« (PR, 19 / 59) ansieht. Denn im Vergleich mit Descartes’ statischer res extensa kommt Lockes Bewußtseinskonzeption einem organistischen Wirklichkeitsverständnis näher. Das Ausgehen von Lockes Darstellung der geistigen Substanz erfordert freilich eine »Verallgemeinerung« (generalization), die dieses Modell für eine Gesamtinterpretation der Wirklichkeit auch über den Bereich der bewußten Erfahrung hinaus tauglich macht. So konzipiert 334

Whitehead verweist hier auf Essay IV, 6, 11.

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Whitehead den Begriff des Erfassens bzw. der Prehension mit dem Ziel einer Verallgemeinerung von Lockes Darstellung der menschlichen Geistestätigkeit und zugleich auch von Descartes’ Begriff des Denkens (PR, 19 / 59 f.). Die intendierte Verallgemeinerung von Lockes Darstellung der Geistestätigkeit setzt für Whitehead eine nähere Analyse des hierfür wiederum grundlegenden Begriffs der Idee und seiner systematischen Funktion voraus (PR, 51 ff. / 113 ff.). Locke geht von der Feststellung aus, der menschliche Geist sei »mit einer großen Zahl von einfachen Ideen versehen […], die ihm teils durch die Sinne, so wie sie sich an den Dingen der Außenwelt vorfinden, teils durch Reflexion über seine eigenen Operationen zugeführt werden […].«335 Diese Ideen, die Locke auch als »Objekte des Denkens« bezeichnet, werden durch Wörter wie »Weiße«, »Härte«, »Süßigkeit« usw. ausgedrückt, also durch Namen für Universalien. Daß die Ideen »an den Dingen der Außenwelt« vorgefunden werden, widerspricht der zentralen Position Lockes und anderer Empiristen, wonach das Substrat bzw. die Substanz als den Universalien Zugrundeliegendes eine willkürliche und ungerechtfertigte Voraussetzung sei, die allein daraus resultiere, daß wir uns die einfachen Ideen nicht als etwas für sich Bestehendes vorstellen können, so daß wir einen ihnen gemeinsamen Träger unterstellen. Diese Voraussetzung wird bei Locke selbst insbesondere dort relevant, wo er die Identifizierbarkeit von Dingen der Erfahrungswelt im zeitlichen Ablauf erklären will. Das gemeinsame Auftreten unterschiedlicher Ideen ist, wie Whitehead geltend macht, lediglich als Erklärung für »Momente der unmittelbaren Erfahrung« (PR, 55 / 119) hinreichend. Entsprechend sieht er in Lockes Rede von der Identität dauerhafter physischer Körper über kurze oder lange Zeiträume die explizit kritisierte Vorstellung einer individuellen Substanz (im aristotelischen Sinn), die zwar Träger bestimmter Veränderungen ist, aber als solche immer dieselbe bleibt, unterschwellig vorausgesetzt. Whitehead ersetzt diesen Substanzbegriff durch seinen Begriff des wirklichen Einzelwesens bzw. den des Nexus von wirklichen Einzelwesen mit einem sogenannten »abgrenzenden Charakteristikum« (PR, 56 / 120). Die Beständigkeit physischer Körper wird dann interpretierbar als ein »historischer Weg« (ebd.), den ein solches wirkliches Einzelwesen bzw. ein Nexus durchläuft. Der Begriff des wirklichen Einzelwesens bzw. der für Whitehead gleichbedeutende Begriff des wirklichen Ereignisses ersetzt in der Organismusphilosophie zugleich Lockes Geistbegriff (PR, 141 / 266). 335

Essay II, 23, 1; vgl. PR, 54 / 118.

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Den Universalien fügt Locke an späterer Stelle einen weiteren Typ von Ideen hinzu, die (schon erwähnten) Ideen partikulärer Dinge,336 die er als Fundament der allgemeinen Ideen versteht. Lockes Feststellung, daß es die Fassungskraft des menschlichen Geistes übersteige, von sämtlichen Einzeldingen – analog zu den Universalien – gesonderte Ideen zu bilden,337 kommentiert Whitehead in der Weise, daß das Problem nicht in der Bildung einer Idee von einem individuellen Einzelding liege, sondern vielmehr darin, daß Ideen partikulärer Dinge wegen ihrer Anzahl und individuellen Besonderheit anders als die allgemeinen Ideen nicht durch je eigene Namen bzw. Begriffe ausdrückbar seien (PR, 52, 55 / 114, 118 f.). Gleichwohl sollen die »Dinge der Außenwelt« neben den Universalien ebenfalls direkte Erfahrungsdaten sein können (PR, 141 / 268). Für Whitehead deutet sich hier eine Unvereinbarkeit der beiden Hälften des Essay an: Nach den ersten beiden Büchern werden die Ideen sensualistisch als »bloße Qualifizierungen des Geistes als Substrat« verstanden (PR, 147 / 276) und scheinen vorauszusetzen, daß es keine direkte Perzeption partikulärer Dinge geben könne (PR, 54 / 117). Von dieser letztlich aristotelischen Voraussetzung sieht Whitehead auch Lockes tabula rasa-Metapher geprägt, wonach das menschliche Bewußtsein als erste Substanz wesentlich isoliert und im Sinne des Substanz-QualitätsSchemas als statischer Träger mit Sinneseindrücken gleichsam noch zu beschriften ist (AI, 276 / 479 f.). Das dritte und das vierte Buch des Essay hingegen beziehen die Ideen auf partikuläre Dinge (PR, 146 f., 152 / 275, 284) und geben die Auffassung wieder, diese Dinge könnten unmittelbarer Gegenstand einer bewußten Perzeption sein. Danach werden, so Whitehead, Ideen partikulärer Dinge in die Subjektivität des Wahrnehmenden aufgenommen und bilden »das Datum seiner Erfahrung von der äußeren Welt« (PR, 117 / 225). Zwar scheint ihm diese Auffassung mit dem common sense konform – und hierin sieht er Lockes Adäquatheit –, nicht aber mit der sensualistischen Erkenntnislehre in den Anfangsteilen des Essay – und hierin sieht er seine Inkohärenz. In der Möglichkeit einer unmittelbaren Perzeption der Ideen partikulärer Dinge, wie Whitehead sie im dritten und vierten Buch des Essay vertreten sieht, liegt sein eigentlicher und hauptsächlicher Anknüpfungspunkt an Locke. Lockes Betrachtung der Ideen als »Objekte des Denkens« veranlaßt Whitehead, als »wahres Thema« des Essay die »Analyse von Typen der Erfahrung, die ein wirkliches Einzelwesen macht«, zu betrachten (PR, 336 337

Essay II, 23; III, 3, 2. Essay III, 3, 2; 6 f.

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51 / 112). Die Erfahrung, die ein wirkliches Einzelwesen macht, ist in ihrer Gesamtheit dasjenige, was ein solches Einzelwesen an und für sich ist. Insofern kann Whitehead bei Locke die Prämissen einer dort programmatisch vermiedenen Metaphysik schon vorgegeben sehen. In seiner organistischen Philosophie tritt an die Stelle von Lockes Terminus »Idee« der Begriff des Objektes oder Gegenstandes. Nach Locke erfaßt der Geist Ideen als Objekte seines Denkens, wobei die Erkenntnis als von Einzeldingen ausgehend betrachtet wird: Der abstrakten Idee geht die Idee von einer »Einzelexistenz« voraus, die im üblichen Sinn des Absehens von örtlichen und zeitlichen Umständen abstraktiv gebildet wird (PR, 53, 138 / 116, 262). Entsprechend erfaßt bzw. prehendiert nach Whitehead ein wirkliches Einzelwesen die Objekte oder Gegenstände, die seine Umgebung ausmachen. Subjekt einer Prehension zu sein bedeutet im wörtlichen Sinn, einer Erfahrung zugrundezuliegen. Was erfahren wird, wird dabei objektiviert. Der Prozeß der Umformung des von außen Gegebenen in eine neue aktuale Einheit kann nach Whitehead im Sinne Lockes als die »reale innere Beschaffenheit338 einer Einzelexistenz« bezeichnet werden (PR, 210 / 388). Whitehead sieht insofern seinen metaphysischen Grundbegriff des wirklichen Einzelwesens, das anderes konstitutiv einbezieht, bzw. dessen »reale innere Beschaffenheit« bei Locke vorgegeben,339 der seinerseits »die Beschaffenheit wirklicher Dinge« unter dem Stichwort »reale Wesenheiten« (real internal constitution) behandelt (PR, 53 f. / 116; vgl. 25 / 68) und dabei geradezu eine Grundannahme der Organismusphilosophie vorformuliert: »Zweifellos muß es auch irgendeine reale Beschaffenheit geben, auf der jede Zusammenstellung zusammen existierender einfacher Ideen beruht.« (PR, 59 / 126)340 Eine einfache Idee im Sinne Lockes ist beschreibbar als das Eintreten einer abstrakten, nicht komplexen Qualität (z. B. Weichheit, Wärme, Weiße) in ein wirkliches Einzelwesen (ein Stück Wachs, ein Stück Eis, eine Rose).341 Existieren nun einfache Ideen in einem wirklichen Einzelwesen zusammen, so setzen sie eine reale Beschaffenheit dieses Einzelwesens voraus; mit anderen Wor-

338

Das Zitat folgt der dt. Übersetzung von PR, die Whiteheads Begriff »constitution« mit dem Begriff »Beschaffenheit« wiedergibt, wodurch der Prozeßcharakter verdeckt wird; eine Wiedergabe mit »Konstituierung« würde die Aktivität, mittels derer ein Einzelwesen andere Einzelwesen erfaßt, besser zum Ausdruck bringen. 339 Essay III, 3, 15. 340 Ebd. 341 Essay II, 2, 1.

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ten: Ein Einzelwesen ist als real existierendes erforderlich, damit einfache Ideen in ihm sein können. An dieser Stelle geht die organistische Philosophie über Locke hinaus. Sie versteht »reale Beschaffenheit« so, »daß die zeitlosen Gegenstände wirken, indem sie die Vielheit wirklicher Einzelwesen als konstitutiv für das betroffene wirkliche Einzelwesen einführen« (ebd.). Whiteheads Überlegungen sind hier nicht ohne Schwierigkeit. Er scheint zu meinen, daß die konstitutive Funktion der prehendierten Einzelwesen für das prehendierende Einzelwesen von den zeitlosen Gegenständen abhängt, die die »Objektivierungsformen der wirklichen Einzelwesen füreinander begründen« (PR, 58 / 123). Indem die zeitlosen Gegenstände zusammen mit den objektivierten Einzelwesen ein wirkliches Einzelwesen als ein was bestimmen, bestimmen sie auch ein wo, d. h. seine relative Position zu anderen wirklichen Einzelwesen. Damit wird unmittelbar dem traditionellen Substanzbegriff widersprochen, wonach ein Ding bzw. eine Substanz wesentlich unabhängig von anderen ist. Ein wirkliches Einzelwesen ist abhängig von anderen wirklichen Einzelwesen aufgrund innerer Relationen, es konstituiert sich in seiner Vernetzung in einer realen Welt von es umgebenden, objektivierten wirklichen Einzelwesen. Whitehead vertieft seine konzeptuelle und terminologische Parallelisierung mit Lockes Essay noch weiter, ausgehend von der Unterscheidung negativer und positiver Prehensionen (PR, 41 / 94 f.): Eine negative Prehension ist der endgültige Ausschluß eines jeweiligen potentiellen Prehensionsobjektes von positiver Einwirkung auf die »reale innere Beschaffenheit« des prehendierenden Subjektes. Eine positive Prehension dagegen »läßt die positive Einwirkung auf die reale innere Beschaffenheit des Subjekts endgültig zu«. Für positive Prehensionen führt Whitehead den zusätzlichen Begriff des Empfindens (feeling) ein, dem er eine Verwandtschaft mit Alexanders Begriff »Erleben« (enjoyment), mit Bergsons »Intuition« und wiederum mit Lockes Begriff »Idee« unter Einschluß der »Ideen von den Einzeldingen« zuschreibt. Der Begriff der Empfindung wird – neben dem Begriff des Objekts – von Whitehead als Platzhalter für Lockes Zentralbegriff der Idee in Anspruch genommen (PR, 51 / 113). Da Locke (wie auch Descartes und Hume) oft nicht klar zwischen Objekt und Akt des Vorstellens unterscheidet, bleibt seine Rede von »Ideen von Dingen« zweideutig. Diese Äquivokation löst sich in Whiteheads Unterscheidung von »Objekt« und »Empfindung« als distinkten Nachfolgern des Ideenbegriffs auf. Richtungsweisend für Whitehead ist Lockes Auffassung, daß ein wirkliches Einzelwesen aus einer »komplexen Beschaffenheit« hervorgehe,

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»an der auch andere Einzelwesen beteiligt sind« (PR, 54 / 116). Nur legt Locke aufgrund der statischen Konnotation seiner Terminologie – z. B. wird vermittels der Sinneserfahrung das noch leere »Kabinett« eingerichtet342 – zu wenig Gewicht auf den Begriff »Prozeß«, betrachtet also die komplexe Einheit zu wenig als eine prozeßhafte Einheit. In kritischer Wendung gegen Lockes tabula rasa-Metapher moniert Whitehead die Vorstellung des menschlichen Bewußtseins als eines passiven Trägers von Sinneseindrücken: »Was also bei Locke Realität hat, ist nicht der Prozeß, sondern das, was diesen Prozeß in statischer Beharrung aufnimmt.« (AI, 276 / 480) Für Whitehead ist »der Prozeß selbst […] das, was wirklich ist; und er ist auf keinen schon vor ihm existierenden statischen Träger angewiesen.« (ebd.) Die vergangenen Prozesse selbst werden zur komplexen Ausgangsbasis ihrer Nachfolger. Indem ein wirkliches Einzelwesen im Prozeß seiner Konstituierung Vorgegebenes einbezieht, befindet es sich in Übereinstimmung mit dem Vorgegebenen, insofern es nämlich durch dieses wirkursächlich bestimmt wird. Der prozeßhafte Übergang von Einzelwesen zu Einzelwesen, im Rahmen dessen ein sich konstituierendes Einzelwesen andere, vorgängige Einzelwesen objektiviert, bedeutet, wie Whitehead wiederum mit Locke sagt, ein »stetiges Vergehen« (PR, 210 / 388) des Vorgegebenen, das zugleich als Objektiviertes im Neuen fortdauert und so »objektive Unsterblichkeit« erfährt (PR, 60, 215 / 127 f., 397). Die Organismusphilosophie begreift das Verhältnis wirklicher Einzelwesen zu ihren jeweiligen Vorgängern und Nachfolgern als dynamisch, wobei dem Kraftbegriff besondere Bedeutung zukommt: Von wirklichen Einzelwesen müssen Kräfte ausgehen, die diese Einzelwesen erst zu aktiven Bedingungen der Beschaffenheit ihrer Nachfolger machen (PR, 146 f. / 275 f.). Gerade für die Erklärung dauerhafter Dinge der Erfahrungswelt wird damit die Annahme von Kraft zentral, da nur so eine »entsprechende Intensivierung bei der Durchsetzung von Konformität«, die eben für dauerhafte Dinge erforderlich ist, garantiert werden kann (PR, 56 f. / 120 ff.). Den hier vorausgesetzten Kraftbegriff sieht Whitehead – anders als den von Locke vernachlässigten Prozeßbegriff – in dessen Essay vorgegeben und findet dort gerade in der Einführungspassage des Kraftbegriffs343 die Hauptthesen der organistischen Philosophie entfaltet. Als Hauptthesen nennt Whitehead (1) das Relativitätsprinzip, (2) den relationalen Charakter der zeitlosen Gegenstände, (3) die Kom342 343

Essay I, 1, 15. Essay II, 21, 1-3.

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plexität eines wirklichen Einzelwesens und (4) den Begriff der Kraft selbst als wesentliches Charakteristikum eines wirklichen Einzelwesens (PR, 58 / 123 f.). Daß sich in Lockes Kraft-Lehre nach Whitehead dessen besondere Adäquatheit bei gleichzeitigem Mangel an Kohärenz dokumentiert (PR, 57 / 122), ist wohl so zu verstehen, daß Locke zwar das Erfordernis des Kraftbegriffs für ein angemessenes Wirklichkeitsverständnis gesehen, ihn aber nicht für die Erklärung dauerhafter Gegenstände nutzbar gemacht, sondern statt dessen in der beschriebenen Weise einen statischen Substanzbegriff bzw. das Substanz-Qualitäts-Schema vorausgesetzt hat. Das von Locke vorgegebene Prinzip der Relativität führt Whitehead im Rahmen seiner »Kategorien der Erklärung« an. Unter Relativität ist die metaphysische Eigenschaft alles Seienden – d. h. wirklicher Einzelwesen und nicht-wirklicher Einzelwesen bzw. zeitloser Gegenstände - zu verstehen, Potential für jedes Werdende bzw. potentielles Element »in einer realen Konkretisierung vieler Einzelwesen zu einer Wirklichkeit zu sein« (PR, 22 / 64). Daraus ergibt sich für Whitehead die Notwendigkeit, die Relationen der wirklichen Einzelwesen als innere zu begreifen, was sich aus seiner Sicht einerseits mit der traditionellen Substanzmetaphysik und andererseits mit der Vorstellung der Veränderung eines wirklichen Einzelwesens wechselseitig ausschließt. Zwar gibt Locke den Grundgedanken der Relativität vor, was auch in seiner Andeutung des relationalen Charakters aller Qualitäten zum Ausdruck kommt (PR, 147 / 275), verfehlt nach Whitehead aber die wesentliche Einsicht, wonach es die »Lehre von den inneren Relationen« ausschließe, einem wirklichen Einzelwesen »Veränderung« (change) zuzuschreiben (PR, 59 / 125). Ein wirkliches Einzelwesen ist, was es ist. Es verändert sich nicht, sondern es wird nur. Sein Sein ist demzufolge sein Werden. Den Begriff der Veränderung reserviert Whitehead für einen anderen metaphysischen Aspekt: »›Veränderung‹ beschreibt die Abenteuer zeitloser Gegenstände in dem sich entfaltenden Universum wirklicher Dinge.« (ebd.)344 Whitehead geht mit seiner Organismuskonzeption einerseits von Locke aus und andererseits – im Sinne der für notwendig gehaltenen Revision – über ihn hinaus. Er übernimmt Lockes Grundgedanken, wonach das erkennende Subjekt eine Einheit mit seiner Umgebung bildet, insofern es in Form der Ideen partikulärer Dinge anderes konstitutiv einbezieht – für Locke eine der Grundvoraussetzungen des »gesunden 344

Zur vielfältigen Bedeutung und Intention der Formulierung »Abenteuer zeitloser Gegenstände« bzw. »Abenteuer der Ideen« vgl. Kann (2001).

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Menschenverstandes« (PR, 52 / 114) –, weitet aber diese erkenntnistheoretische Position zu einer allgemeinen metaphysischen Annahme aus, indem er das konstitutive Einbeziehen von anderem als universelle Wirklichkeitsstruktur betrachtet. Seine Organismusphilosophie beruht also auf einer verallgemeinernden Umdeutung der Erkenntnistheorie Lockes. Diese Umdeutung ist für Whitehead der Anlaß, die bei Locke vorgefundenen Grundbegriffe des Verstehens (understanding) und der Wahrnehmung (perception) durch einen Ausdruck, der keine Bewußtseinskonnotationen aufweist, nämlich den schon erwähnten Begriff des Erfassens bzw. der Prehension, zu ersetzen (PR, 52 / 113). Mit dem Ausdruck »prehension«, der die Aktivität zum Ausdruck bringen soll, mittels derer eine Wesenheit andere Wesenheiten erfaßt, will Whitehead die Bewußtseinskonnotation des tradierten Terminus »apprehension« vermeiden. Das Bewußtsein als mögliche Qualifizierung solcher Prehensionen ist für Whitehead die »subjektive Form« (subjective form) der sich durch die Prehensionen konstituierenden wirklichen Einzelwesen. Grundlegend für Whiteheads Organismuskonzeption ist damit ein völlig neu gefaßter Erfahrungsbegriff.345 Die Organismusphilosophie geht davon aus, daß Lockes Bewußtseinsanalyse die wesentlichen Strukturen und Funktionsprinzipien jeder Erfahrung, also auch die nicht bewußter Erfahrung, zum Ausdruck bringt. Insofern Whitehead Erfahrung weder allein im Sinne bewußter Erfahrung noch auch nur im Sinne allgemeiner kognitiver Strukturen, sondern im Sinne universeller Wirklichkeitsstrukturen versteht, betrachtet er Lockes Analyse bewußter Erfahrung als ein Modell, das mit entsprechenden Erweiterungen die metaphysischen Strukturen der Wirklichkeit erfassen kann. Die von Locke aus Whiteheads Sicht versäumte »einschneidendere Revision der traditionellen Kategorien« (PR, 51 / 111 f.) soll mit der metaphysischen Umdeutung von Lockes Bewußtseinsanalyse gleichsam nachgeholt werden. Der entscheidende Schritt hierbei ist die Trennung von Ideen und Bewußtsein – ein Schritt, an dem Locke durch seinen (auch bei Hume greifbaren) »übersteigerten Intellektualismus« (PR, 141 / 267) gehindert werde. Eben hier setzt die Organismusphilosophie an: Sie »vollzieht diese Trennung und verweist dadurch das Bewußtsein in eine untergeordnete metaphysische Position; und sie läßt Lockes Essay eine metaphysische Interpretation angedeihen, die Locke selbst nicht vor Augen hatte« (PR, 139 / 264). Während also bei Locke (wie auch bei Descartes) Erfahrung immer mit Bewußtsein oder Denken verbunden ist, wird Erfahrung im Sinne 345

Vgl. 3.3.3.

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der Organismusphilosophie hiervon prinzipiell gelöst und kann lediglich Erfahrungskomponente sein. Für Whitehead ist Erfahrung Voraussetzung für Bewußtsein, nicht, wie traditionell angenommen, Bewußtsein Voraussetzung für Erfahrung (PR, 53 / 115). Der Annahme einer uns in der Erfahrung bewußten Einheit muß nach Whitehead eine ursprünglichere organische Einheit zugrundeliegen. Die von Locke für den Bereich des Bewußtseins angenommene Struktur eines konstitutiven Einbeziehens von anderem wird bei Whitehead so aus der Verbindung mit dem Bewußtsein herausgelöst und als eine metaphysische Wirklichkeitskonstitution gedeutet, die lediglich von Bewußtsein begleitet sein und in ihm zum Ausdruck kommen kann. So stellt Lockes Interpretation des Bewußtseins, das in Form der Ideen partikulärer Dinge anderes konstitutiv einbezieht, den Kern einer organistischen Interpretation der Wirklichkeit dar, wenn man sie von dem Festhalten an zwei verfehlten traditionellen Denkmustern löst, nämlich dem Substanz-Qualitäts-Schema und dem cartesischen Dualismus. Ein Organismus im für Whitehead grundlegenden, an Locke anknüpfenden Sinn ist zunächst als die Bildung einer Einheit aus voneinander verschiedenen Wesenheiten zu denken. Dabei bezeichnet der neugefaßte, metaphysische Erfahrungsbegriff den Vorgang einer Synthese eines Subjekts mit gleichfalls organistisch zu denkenden Objekten. Betrachten wir also unser bewußtes Erleben als Sonderfall dieses allgemeinen Synthese-Vorgangs, so handelt es sich um eine zum Bewußtsein gebrachte Erfahrung des Organismus, der als solcher, d. h. unabhängig von seiner besonderen Qualität des Bewußtseins, Objekte, die ihn umgebende Welt, zu einer Einheit zusammenführt. Das Bewußtsein ist nicht selbst Substrat dieser Einheit, sondern ein möglicher besonderer Zug an ihr. So faßt Whitehead die von Locke rekonstruierte Bewußtseinsstruktur primär als Struktur des menschlichen Organismus auf, um dieselbe Struktur dann aber verallgemeinernd allen natürlichen Wesenheiten zuzuschreiben und sie in der beim Menschen vorliegenden Form als prinzipiell gleichartige, allerdings besonders komplexe Version zu charakterisieren. Diese Annahme qualitativ unterschiedener aber prinzipiell analoger Strukturen wird schon durch Whiteheads Spekulationskriterium der Kohärenz erzwungen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Whiteheads Organismusphilosophie die Erkenntnistheorie Lockes dahingehend umdeutet und verallgemeinert, daß ein wirkliches Einzelwesen andere Einzelwesen konstitutiv einschließt, so wie sich das menschliche Bewußtsein aus Ideen partikulärer Dinge konstituiert. Jener Konstituierungsvorgang soll die

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offensichtliche Verbundenheit des Universums erklären, die durch die traditionellen Substanzlehren aus der Sicht Whiteheads nicht plausibel gemacht werden kann. Die Defizite dieser Substanzlehren können durch eine Lockes Bewußtseinstheorie nachempfundene und umdeutende Konzeption vermieden werden, wonach dynamisch verstandene Wesenheiten sich in wechselseitigen Prehensionen konstituieren. Eine Kritik der Locke-Bezüge Whiteheads, die Stegmaier nicht unbegründet als »Bravourstück«346 bezeichnet, hat Specht vorgelegt.347 Im vorliegenden Zusammenhang kann diese detaillierte Kritik kaum erschöpfend gewürdigt bzw. wiederum kritisiert, sondern nur in ausgewählten Punkten berücksichtigt werden. Specht meint, Whitehead stelle Locke zu Unrecht als »Ausschalter der Metaphysik« dar.348 Tatsache ist, daß Locke sich ausdrücklich zum Ziel setzt, die verschiedensten Gesichtspunkte und Facetten des human understanding zu untersuchen. Whitehead findet nun in Lockes Erkenntnistheorie Grundlinien seiner Organismusphilosophie vorgegeben und nimmt an, diese erkenntnistheoretischen Grundlinien in spekulativer Erweiterung für eine metaphysische Konzeption fruchtbar machen zu können, die als solche zweifelsfrei nicht Lockes Intention war. Whitehead parallelisiert nicht unplausibel die kritische Grundhaltung Lockes und Humes zur Metaphysik, namentlich zur Substanzlehre. Insofern nimmt Whitehead Lockes Themenstellung und auch seine Untergewichtungen bzw. Auslassungen im wesentlichen richtig wahr. Entgegen Spechts Mutmaßung berücksichtigt Whitehead dabei kaum zu wenig, daß Locke mit dem cartesischen Dualismus »beträchtliche Schwierigkeiten hatte«.349 Whitehead konstatiert nicht ohne weiteres einen Dualismus bei Locke, sondern eine intellektualistische Konzentration auf bewußte Geistestätigkeiten, die aber gerade aus einem latenten Dualismus resultiert bzw. diesen zur Voraussetzung hat. Insofern ist dieser Dualismus, ob unter Schwierigkeiten oder nicht, bei Locke jedenfalls präsent. Spechts Kritik, wonach Whitehead Kennzeichnungen wie »Sensualismus«, »Subjektivismus« und »Rationalismus« zumindest unpräzise verwendet,350 wird dadurch relativiert, daß mit ihnen, wie Specht selbst wiederholt (auch in anderen Arbeiten) betont, facettenreiche, gewiß nicht invariante und längst nicht immer klar abgrenzende Typisierungen, 346 347 348 349 350

Stegmaier (1988), 65. Specht (1986). Ebd., 49. Ebd., 56. Ebd., 49 f.

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sondern eher Richtungsanzeigen gemeint sind. Die textphilologische Präzision Spechts führt streckenweise zu dem, was er eigentlich vermeiden will, nämlich dazu, Whitehead seine vermeintlichen Fehler vorzurechnen, läßt dabei aber dessen eigentliche Intention nicht mehr voll zur Geltung kommen. Die Affinitäten und Gegensätze, die Whitehead zwischen Lockes Essay und der Organismusphilosophie sieht, sind nicht geeignet, gleichsam durch ein historisch-philologisches Mikroskop betrachtet zu werden. Dies ergibt sich schon aus den allgemeineren hermeneutischen Überlegungen, mit denen Specht selbst hier operiert. In seiner Differenzierung verschiedener »Präsenzen« (institutionelle Präsenz, Schulpräsenz, Bildungspräsenz, Sinnpräsenz usw.) macht er auf die sehr unterschiedlichen Rückgriffsmöglichkeiten in der philosophiegeschichtlichen Interpretation aufmerksam, in denen einer Philosophie die Tradition gegenwärtig sein kann, und stellt schließlich die »philologische Präsenz« (Locke und Whitehead bei Specht) und die »Arbeitspräsenz« (Locke bei Whitehead) antipodisch gegenüber.351 Während die philologische Präsenz mittels einer Rekonstruktion nach »textlichen Kriterien« geeignet ist, »Rezeptionsverformungen« sichtbar und beurteilbar zu machen, besteht die Arbeitspräsenz darin, »daß jemand im Rahmen seines Nachdenkens einen durch Bildung tradierten Autor unmittelbar beim Wort nimmt, einzelne Autorthesen so, wie er sie versteht, akzeptiert oder verwirft, sie zum Anlaß eigener Denkbewegungen nimmt und Termini und Denkfiguren nach Ermessen ummontiert«, also in »Freiheit« und mit »Spontaneität« agiert. Trotz der teilweise wohlwollenden Bewertung hat Spechts Verständnis für Wesen und Berechtigung der »Arbeitspräsenz« seine Grenzen: »Ich finde in der Philosophiehistorik für die Arbeitspräsenz keine passenden Kategorien.« Der Grund dafür ist einfach: Sie ist dort deplaziert. Die Arbeitspräsenz der Vorgänger gehört nicht in die Philosophiehistorik, sondern in die historisch reflektierte systematische Philosophie und hat insofern gerade bei Whitehead ihren guten Sinn. Sie steht dafür, wie man ohne Vollständigkeitsverpflichtungen und ohne die Obligationen der philologischen Präsenz, zugleich aber historisch reflektiert und innovativ die Interpretation von Bezugstexten in den Dienst der eigenen systematischen Absicht stellen kann. Die »Eigentümlichkeit« der Arbeitspräsenz, den Intentionen des repräsentierenden Autors (hier: Whitehead) gegenüber dem repräsentierten Autor (hier: Locke) den Vorrang zu geben, ist nur natürlich.

351

Ebd., 66-68.

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Erwähnt sei schließlich Spechts genereller Einwand, daß Whiteheads Wurzeln tatsächlich nicht dort lägen, wo dieser sie vermutet, da die Annahmen Lockes oft nicht originell, sondern vielmehr älteren Traditionen (Scholastik, Gassendi usw.) entnommen seien.352 So fundiert diese Feststellung auch sein mag, so wenig legt sie eine substantielle Kritik Whiteheads und seiner Locke-Interpretation nahe. Zweifellos ist sich Whitehead der traditionellen Elemente bei Locke bewußt, was letztlich schon die Fußnoten-These selbst konnotiert.353 Indem Whitehead aber mit seiner Konzeption vor allem an die Philosophie des 17. Jahrhunderts anknüpfen will, kann er es nicht als seine Aufgabe ansehen, diese im Sinne einer »Autorspezifität«354 in Einzelheiten auf ihre jeweiligen Ursprünge zurückzuführen. Eine Konzentration auf die Philosophie des 17. Jahrhunderts impliziert noch nicht, daß diese selbst als traditionsfrei vorausgesetzt würde. Wichtig für Whitehead ist das Organismus-Paradigma, das er in seiner erkenntnistheoretischen Variante bei Locke selbst, nicht jedoch in Lockes direkten philosophischen Wurzeln vorgegeben sieht. In Whiteheads Rückgriff auf Locke wird exemplarisch der Anspruch erfüllt, den Whitehead mit seinen Kriterien für spekulative Philosophie einerseits und seiner ›Flugbahn‹-Methodologie andererseits erhebt: Ein organistischer Grundgedanke wird von seinem ursprünglichen Anwendungsbereich in spekulativer Ausweitung bzw. ›phantasievoller Verallgemeinerung‹ für eine umfassendere Wirklichkeitsinterpretation fruchtbar gemacht. Im Hinblick auf Whiteheads philosophiegeschichtliche Zentralthese liest sich seine Organismusphilosophie im allgemeinen und seine Locke-Darstellung im besonderen wie eine Reihe von Fußnoten zu dem englischen Empiristen. Eine direkte sachliche Verbindung von Locke zu Platon im Sinne der Fußnoten-These beschränkt sich nicht auf die eingangs erwähnte emphatisch lobende Gleichsetzung beider Denker. Vielmehr scheinen in Lockes Erkenntnistheorie die Grundlinien einer – letztlich platonischen – organistischen Metaphysik auf, die, wäre sie historisch wirksam geworden, im substanzmetaphysisch geprägten Denken des 17. Jahrhunderts für einen Paradigmenwechsel hätte sorgen können. 352

Ebd., 52. Vgl. 1.3. Bemerkenswert ist auch, daß die einzige von Whitehead (SMW, 184 / 173) ausdrücklich angeführte Literatur zu Locke, Gibson (1917), eine philosophiegeschichtliche Arbeit über die »historical relations« von Lockes Erkenntnistheorie darstellt. 354 Specht (1986), 54. 353

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3.6 Leibniz: Substanzmetaphysik und Organismus-Paradigma In Anbetracht der philosophiegeschichtlich reflektierten Suche Whiteheads nach einem organistischen Erklärungsmodell für die Erfahrungswirklichkeit liegt es nahe, daß er selbst und auch seine Interpreten immer wieder auf Affinitäten zu Leibniz’ Metaphysik, speziell zu dessen Monadenlehre, hinweisen.355 Dabei läßt sich auch hier wieder der für Whitehead typische Umgang mit der Tradition beobachten: Die Intention einer selektierenden Aufnahme geeigneter Grundpositionen wird begleitet von zuweilen radikaler Kritik. Als Referenzautor bietet sich Leibniz für Whitehead prima facie aus mehreren Gründen an: Der bei Descartes kritisierte Dualismus wird von Leibniz durch eine monistische Konzeption ersetzt. Die bei Locke monierte abstrahierende Konzentration auf eine Erkenntnistheorie, die erst zu einer allgemeinen Wirklichkeitskonzeption umzumünzen und auszuweiten war, ist Leibniz ebenfalls nicht anzulasten. Wie geeignet erscheint Whitehead die Leibnizsche Metaphysik als Modell einer philosophischen Kosmologie im einzelnen? Whitehead erklärt ein Buch zu dem Thema »The Mind of Leibniz« zum Desiderat (MT, 3). Er hat dieses Buch nicht geschrieben. Dennoch ist man nicht auf eine spekulative Rekonstruktion möglicher Einflüsse angewiesen, sondern kann auf einzelne direkte Bezugnahmen Whiteheads auf Leibniz zurückgreifen, die Affinitäten und Divergenzen beider Konzeptionen erkennbar machen. Whitehead sieht sowohl Leibniz’ Monadenlehre als auch seine eigene Konzeption der wirklichen Einzelwesen in der Tradition einer durch Lukrez und Newton exemplarisch vertretenen atomistischen Auffassung der Wirklichkeit (AI, 131 / 265). Von seinem direkten Zeitgenossen Newton weicht Leibniz nach Darstellung Whiteheads dabei aber in zweierlei Weise ab: Einerseits dadurch, daß er das für Newton charakteristische Weltbild des mechanistischen Materialismus durch eine organistische Konzeption ablöst – »ganz eindeutig muß die Begründung der Philosophie durch die Voraussetzung des Organismus auf Leibniz zurückgeführt werden« (SMW, 193 / 181 f.)356 –, andererseits dadurch, daß er die mit 355

Einen Überblick über die vergleichenden Arbeiten zu Leibniz und Whitehead gibt Lichtigfeld (1971), 180, Anm. 38; als neuere Beiträge sind u. a. Fetz (1981), 80 ff., Mooney (1988-90) und Kann (1994) zu nennen. 356 Whitehead charakterisiert in diesem Sinn Leibniz’ Monade auch als »organisierende Aktivität« (SMW, 193 / 182), was dem von Leibniz für die Monaden verwendeten Begriff »Entelechie« nahekommt; vgl. Monadologie, § 18, in: G.W. Leibniz, Die phi-

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dem mechanistischen Weltbild verbundene objektivistische Sichtweise durch eine subjektivistische Sichtweise ersetzt. Die objektivistische Sichtweise geht von der impliziten Frage aus: »Wie erscheint die Welt der Atome dem sie betrachtenden Intellekt, und was kann er uns über das Schauspiel, das sie bietet, sagen?« (AI, 132 / 266) Dies ist die Frage, die nach Whitehead dem Lukrezschen Lehrgedicht De rerum natura und den Newtonschen Philosophiae naturalis principia mathematica zugrundeliegt. Leibniz’ subjektivistischer Zugang geht dagegen von der Frage aus, »was es heißt, ein Atom zu sein«, d. h. er versetzt sich hypothetisch in die Erfahrungsperspektive der Monaden. Whitehead kontrastiert beide Positionen, indem er feststellt, »daß Lukrez gezeigt hat, wie ein Atom anderen Atomen erscheint, während Leibniz gesagt hat, wie es sich anfühlt, wenn man ein Atom ist« (ebd.). Leibniz’ ersichtlich anthropomorphe Konzeption metaphysischer Grundeinheiten, die sich in entsprechender Weise bei Whiteheads wirklichen Einzelwesen wiederfindet, verdankt sich der erwähnten subjektivistischen Ausrichtung, die Descartes in das metaphysische Denken eingeführt hatte. Während diese Ausrichtung, wie Whitehead feststellt, Newton völlig fremd blieb (AI, 131 / 265), nahm Leibniz sie nicht nur auf, sondern weitete sie aus zu einem universellen metaphysischen Ansatz, im Rahmen dessen alle ›letzten‹ metaphysischen Einheiten als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung gedeutet werden. Diese Deutung macht Leibniz zum eigentlichen Vorgänger Whiteheads im Hinblick auf eine organistische Interpretation der Erfahrungswirklichkeit. Zugleich weist aber Leibniz’ Metaphysik nach Whitehead verschiedene Defizite auf, die verhindern, in der Monadenlehre ein angemessenes Modell der Erfahrungswirklichkeit zu sehen. Im folgenden soll zunächst auf die drei hauptsächlichen Kritikpunkte Whiteheads an Leibniz eingegangen werden: (i) Die Konzeption der Monaden als »Verallgemeinerungen der zeitgenössischen Geistesbegriffe« führt nach Whitehead dazu, daß die materielle Sphäre »nur in untergeordneter und abgeleiteter Form« in Leibniz’ Philosophie eingegangen sei, wohingegen die organistische Philosophie sich »um ein ausgewogeneres Verhältnis« bemüht (PR, 19 / 60). (ii) Die Konzeption der Monaden sieht Whitehead aufgrund ihrer als »Perzeption« und »Apperzeption« beschriebenen Aktivitäten zu sehr an die »Vorstellung von Bewußtseinsvorgängen« gelosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt, Berlin 1875-1890 (= GP), Nachdr. Hildesheim / New York 1960 ff., VI, 609. – Whitehead merkt hier an, daß seine Leibniz-Interpretation, die den Organismus-Charakter der Monaden in den Vordergrund stellt, von Russell (1900) angeregt wurde.

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bunden, was an die auch gegen Locke und Hume gerichtete Intellektualismus-Kritik erinnert (AI, 233 f. / 414). (iii) Die Konzeption der Monaden scheint Whitehead zu sehr von der traditionellen Sichtweise bestimmt, »daß die letzten realen Entitäten Substanzen sind, die Qualitäten unterhalten« (SMW, 193 / 182). Zu (i) ist anzumerken, daß Leibniz die Monaden als die »wahrhaften Atome der Natur« und als die »Elemente der Dinge« bezeichnet, insofern sie als einfache Substanzen konstitutiv in die Dinge bzw. die zusammengesetzten Substanzen eingehen.357 Da diese teilbar sind, während Monaden als Atome unteilbar und als Unteilbares eben nicht materiell sind, kann die materielle Welt als solche nicht unmittelbar aus Monaden zusammengesetzt sein. Entsprechend sieht sich Leibniz auch von de Volder kritisiert, nach dessen Meinung er »die Körper gänzlich aufzuheben« und »sie als bloße Inhalte der Wahrnehmung zu betrachten« scheine, worauf er aber entgegnet: »Ich jedoch hebe den Körper nicht auf, sondern reduziere ihn nur auf das, was er ist, indem ich nachweise, daß die körperliche Masse, von der man annimmt, daß sie noch etwas andres außer den einfachen Substanzen enthält, keine Substanz ist, sondern eine Erscheinung, die aus den einfachen Substanzen, welche allein Einheit und absolute Realität haben, resultiert.«358 In demselben Sinn führt Leibniz aus: »Um aber genau zu sprechen, so setzt sich die Materie nicht aus den konstitutiven Einheiten zusammen, sondern resultiert aus ihnen, da die Materie oder die ausgedehnte Masse nur eine sachlich wohlbegründete Erscheinung ist, wie der Regenbogen oder die Nebensonne, und alle Realität lediglich den Einheiten zukommt. Die Phänomene lassen sich also stets in kleinere Phänomene teilen, die möglicherweise den Vorstellungsinhalt andrer, feiner organisierter Geschöpfe bilden können, und niemals wird man zu kleinsten Phänomenen gelangen. Die substantiellen Einheiten aber sind nicht die Teile, sondern die Grundlagen der Erscheinungen.«359 Offensichtlich bleiben verschiedene Probleme im Hinblick auf das Verhältnis der materiellen Welt und der für sie konstitutiven Monaden bestehen, die Whitehead bei seiner Leibniz-Kritik im Auge haben dürfte. Zunächst ist nicht ohne weiteres klar, in welchem Sinn die körperliche Masse als Erscheinung aus einfachen Substanzen 357

Monadologie, § 3 (GP VI, 607); zit. nach der Übers. von Buchenau, in: G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Hamburg 1966 (= Hauptschriften), II, 435. 358 Leibniz an de Volder (GP II, 275; Hauptschriften II, 349). 359 Leibniz an de Volder (GP II, 268; Hauptschriften II, 343 f.).

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›resultieren‹ soll. Dem Terminus »resultieren«, den Leibniz im Hinblick auf die zusammengesetzten Substanzen verwendet, korrespondiert der Terminus »eingehen« (entrer)360 für die Perspektive der einfachen Substanzen, der metaphorisch und insofern ebenfalls erklärungsbedürftig ist. Weiterhin ist zu fragen, in welchem Sinn die einfachen Substanzen ›Elemente‹ der Dinge seien, da sich für den Begriff »Element« mindestens zwei hier mögliche Bedeutungen, eine im Sinne von »Bestandteil« und eine im Sinne von »Grundstoff«, unterscheiden lassen. Auch bestimmt Leibniz einerseits die körperlichen Dinge als Substanzen, während er zugleich feststellt, die ›körperliche Masse‹ sei keine Substanz. Hinsichtlich der Monaden selbst äußert Leibniz sich ebenfalls nicht eindeutig. Indem er feststellt, daß es einfache Substanzen, also Monaden, geben müsse, weil es Zusammengesetztes gebe, da das Zusammengesetzte nichts anderes sei als eine »Anhäufung« oder ein »Aggregat« von Einfachem,361 scheint Leibniz die einzelne Monade als Teil einer Vielheit und von eben derselben Seinsqualität wie das aus dieser Vielheit Zusammengesetzte aufzufassen. Hierzu stehen jedoch die Bestimmungen der Monade, nach denen sie keine Teile, keine Ausdehnung und keine Gestalt besitzt,362 im Widerspruch, denn diese Bestimmungen sind mit der Auffassung einfacher Substanzen als Bausteine von derselben Seinsqualität wie die zusammengesetzten Substanzen unverträglich. Beide Beschreibungsweisen der Monaden können kurz so kontrastiert werden, daß die eine, und zwar die materialistische, an einem traditionellen Atomismus-Modell im Sinne Demokrits oder Lukrez’ orientiert ist, während die andere, also die nicht materialistische, der die ›wahren‹ Atome der Natur entsprechen sollen, sich gerade hiervon abgrenzt. Eine Kritik, die darauf abstellt, daß Leibniz’ Konzeption der materiellen Sphäre nur in untergeordneter Form gerecht werde, müßte also vor allem auf die Ungeklärtheit des Verhältnisses von einfachen Substanzen und den Dingen der Erfahrungswirklichkeit konzentriert sein bzw. darauf, daß die Konzeption der Monaden eine als selbständig existierend unterstellte physikalische Welt nicht befriedigend zu erklären vermag. Dieses Defizit vermeidet Whitehead in seiner eigenen Konzeption wenigstens dem Anspruch nach dadurch, daß er seinen wirklichen Einzelwesen neben dem psychischen auch einen physischen ›Pol‹ zuschreibt. 360 361 362

Monadologie, § 1 (GP VI, 607; Hauptschriften II, 435). Monadologie, § 2 (ebd.). Monadologie, § 3 (ebd.).

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Zu (ii) ist festzustellen, daß Whiteheads Kritik einer zu starken Bindung der Monadenlehre an die »Vorstellung von Bewußtseinsvorgängen« nicht überzeugt. Die Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption führt Leibniz gerade zum Zweck einer Differenzierung der Aktivitäten der Monaden in unbewußte und bewußte ein und wendet sich damit zugleich gegen die Anhänger des Descartes, deren Position er die wesentliche Schwäche unterstellt, daß unbewußte mentale Aktivitäten nicht berücksichtigt würden, was zur Folge habe, daß etwa zwischen einer langdauernden Betäubung und dem Tod nicht unterschieden werden könne.363 Whiteheads Kritik, die Termini »Perzeption« und »Apperzeption« für niedere und höhere Aktivitäten der Monaden implizierten gleichermaßen Bewußtseinsvorgänge, während der von ihm selbst gewählte Terminus »Prehension« eine entsprechende Konnotation vermeide (AI, 233 f. / 414 f.; vgl. SMW, 86 / 86 f.), wird daher Leibniz nicht gerecht oder kann allenfalls als rein terminologischer Kritikpunkt ernstgenommen werden. Dabei müßte allerdings von einer Kritik an Leibniz’ Begriff der Perzeption wegen kognitiver Konnotationen Whiteheads eigener Terminus »Empfindung«, der positive Prehensionen bezeichnet, seinerseits betroffen sein. Sachlich scheinen die Positionen beider Denker hier kaum auseinanderzuliegen, insofern sie gleichermaßen von einer Abstufung der Aktivitäten von Monaden bzw. wirklichen Einzelwesen ausgehen, wobei die bewußte Wahrnehmung einer Entität durch eine andere als ein Sonderfall im Sinne einer höchsten Hierarchieebene dieser Aktivitäten angesehen wird. Monadenlehre und Organismusphilosophie liegen hier vielleicht näher beieinander, als Whitehead annimmt. Mit (iii) will Whitehead auf eine Inkonsistenz innerhalb des Leibnizschen Systems verweisen. Die Konzeption der Monaden macht aus der Sicht Whiteheads die ›letzten‹ Elemente der physikalischen Welt zu individuellen Einheiten mit abstrakten Eigenschaften (AI, 133 / 267). Nach diesem auf Aristoteles zurückgeführten Substanz-Qualitäts-Schema besteht die vollständige Beschreibung eines Gegenstandes in der Zuschreibung seiner Eigenschaften, die zusammen die in sich abgeschlossene Einheit dieses Gegenstandes bilden. Die entscheidende Schwäche des Substanz-Qualitäts-Schemas sieht Whitehead darin, daß es mit der Organismuskonzeption, für die Beziehungen zwischen Individuen wesentlich sind, unvereinbar sei, insofern es Relationen zwischen den Substanzen nicht gerecht werde, bzw. diese »schlechthin unverständlich« 363

Monadologie, § 14 (GP VI, 608 f.; Hauptschriften II, 438); Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade § 4 (GP VI, 599 f.; Hauptschriften II, 432).

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bleiben lasse (ebd.), wie mit Bezug auf Descartes bereits näher erläutert wurde.364 Die wesentliche Kritik Whiteheads an Leibniz bezieht sich hier also auf dessen Auffassung der Relationen zwischen den einzelnen Monaden. Indessen interpretiert auch Leibniz Relationen als wesentlich für die Konstituierung der Gegenstände der physikalischen Welt, die er als Aggregate von einfachen Substanzen auffaßt.365 Dieser Charakterisierung entspricht bei Whitehead die Auffassung von Gegenständen als ›Gesellschaften‹ (societies) von wirklichen Einzelwesen. Analog zu den Monaden als perzeptiven Einheiten will Whitehead im Sinne der oben angesprochenen terminologischen Abgrenzung seine wirklichen Einzelwesen als prehendierende Einheiten verstanden wissen. Wie jede Monade durch ihre Perzeptionen mit allen anderen verbunden ist und nach Leibniz als »lebendiger, immerwährender Spiegel« das Universum repräsentiert,366 so ist auch jedes wirkliche Einzelwesen in der Weise auf alle anderen bezogen, daß es diese perspektivisch erfaßt. Whitehead bezieht sich bewußt auf Leibniz’ bekannte Metaphorik, indem er feststellt, jedes wirkliche Einzelwesen ›spiegele‹ alle anderen bzw. das Universum in sich (SMW, 87 / 87; vgl. 114 / 112). Mit dieser Metaphorik wendet sich Whitehead gegen die für das Newtonsche Weltbild charakteristische Vorstellung der einfachen Lokalisierung, der er das Bild der »Natur als ein Komplex von erfassenden Vereinigungen« gegenüberstellt (SMW, 90 / 90). Wie stellt sich nun Whitehead letztlich zur Frage der Relationen zwischen den metaphysischen Grundeinheiten, die er bei Leibniz zwar nicht plausibel erklärt, aber doch durch die Spiegel-Metaphorik paradigmatisch erfaßt sieht? Bei Leibniz verbinden sich für Whitehead mit der Organismuskonzeption einerseits und dem Substanzdenken andererseits zwei disparate Sichtweisen: »Die erste [d. h. organistische] Sichtweise beruht auf der Anerkennung innerer Relationen, die alle Realität aneinander binden. Die zweite [d. h. substanzphilosophische] steht im Widerspruch zur Realität solcher Relationen.« (SMW, 193 / 182) Whitehead faßt daher zusammen, daß Leibniz »keine konkrete Realität innerer Relationen« kannte (ebd.). Die damit gegebene Inkonsistenz, die sich also der Orientierung an zwei gegensätzlichen Paradigmen verdankt, sucht Leib364

Vgl. 3.3.2. Monadologie, § 2 (GP VI, 607; Hauptschriften II, 436). 366 Monadologie, § 56 (GP VI, 616; Hauptschriften II, 448); vgl. Discours de Métaphysique, § 14 (GP IV, 440; Hauptschriften II, 154). 365

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niz nach Whitehead durch die Lehre der ›prästabilierten Harmonie‹ zu überwinden. Diese erscheint in der Tat als Versuch, einerseits die Monaden als isolierte Substanzen aufzufassen, zugleich aber ihre durch den Substanzbegriff erzwungene Beziehungslosigkeit zu revidieren und ihren relationalen Charakter zum Ausdruck zu bringen. So ist ein perspektivisches Erfassen einer Monade durch eine andere bei gleichzeitiger ›Fensterlosigkeit‹ nur unter der Annahme der prästabilierten Harmonie möglich. Nach Leibniz steht Gott als Zentralmonade mit jeder einzelnen der anderen Monaden in einer Kommunikation, und zwischen diesen anderen Monaden findet demnach eine indirekte Form der Kommunikation durch die Vermittlung Gottes statt. Prinzipiell aber ist die Aktivität jeder Monade darauf beschränkt, in ihrer Abgeschlossenheit und Isolation eine ›innere Lebensgeschichte‹ ablaufen zu lassen, die ihrem in der Kommunikation mit Gott ursprünglich auferlegten Charakter entspricht. So wesentlich für Whitehead die »Realität der Kommunikation« zwischen metaphysischen Grundeinheiten bei Platon ist, bei dem das Worin als Medium diese Kommunikation gewährleistet (AI, 134 / 269), so defizitär erscheint ihm dasselbe Motiv bei Leibniz berücksichtigt, der die Kommunikation auf eine indirekte Form unter »Vermittlung Gottes« reduziert (AI, 133 / 268). In der Lehre der prästabilierten Harmonie, die die indirekte Kommunikation der Monaden erst erklärbar macht, sieht Whitehead eine »extreme Version« vom »Auferlegtheitscharakter« aller Gesetze (AI, 133 f. / 268 f.).367 Die prästabilierte Harmonie erscheint Whitehead insofern als besondere Schwäche der Monadenlehre, als Leibniz für die Urmonade Gott gegenüber den anderen Monaden abweichende metaphysische Grundprinzipien annehme, wodurch seine Konzeption dem Kohärenzkriterium368 nicht gerecht wird: »Entscheidend jedoch ist, daß sich kein Grund dafür finden läßt, warum die oberste Monade, eben Gott, von der absoluten Isolation, dem gemeinsamen Schicksal aller übrigen Monaden, ausgenommen sein sollte. Die Monaden sind nach Leibniz fensterlos. Warum haben sie Fenster, durch die sie Gott sehen; und warum hat Gott Fenster, durch die er sie sehen kann?« (ebd.) Indem Whitehead die Relationen metaphysischer Grundeinheiten, die er bei Leibniz nicht befriedigend erklärt findet, als innere bezeichnet, nimmt er implizit eine Abgrenzung gegenüber äußeren Relationen vor. Die Unterscheidung innerer bzw. interner und äußerer bzw. externer Relationen entspricht sachlich der Unterscheidung wesentlicher und ak367 368

Vgl. 2.1. Vgl. 2.3.3.

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zidenteller Eigenschaften. Interne Relationen sind diejenigen, ohne die eine Entität, welcher solche Relationen zukommen, nicht dieselbe wäre. Mit der Betonung interner Relationen reagiert Whitehead auf die Abstraktionen des mechanistischen Materialismus bzw. auf dessen Annahme ›selbstgenügsamer‹ Materieeinheiten, welchen – folgt man der Vorstellung einer organistisch verfaßten Wirklichkeit – nichts in der Erfahrungswirklichkeit konkret entspricht, da jeder Entität ein wesentlicher Bezug zu anderen Orten und anderen Zeiten zukommt. Eben diesen Sachverhalt sieht Whitehead in Leibniz’ Formel vom ›Spiegel des Universums‹ ausgedrückt, die für ihn letztlich besagt, daß »in gewissem Sinne« alles nicht hier im Raum und hier in der Zeit ist, sondern »immer und überall« (SMW, 114 / 112; vgl. 87 / 87). Diese Auslegung gibt nach Whitehead Leibniz’ organistische Position wieder, ist aber nicht mit seiner Substanz-Qualitäts-Orientierung vereinbar. Die auf Aristoteles zurückgeführte Position, nach der Relationen als solche innerhalb der Substanz-Qualitäts-Dichotomie nicht zugeordnet werden können und letztlich als Eigenschaften in sich abgeschlossener Substanzen gelten, sieht Whitehead auch bei Leibniz gegeben und gelangt damit zu der Feststellung der erwähnten Inkonsistenz: Interne Relationen sind einerseits unverzichtbar für eine organistische Konzeption der physikalischen Welt, aufgefaßt als ein »Komplex von erfassenden Vereinigungen« (SMW, 90 / 90), andererseits aber unvereinbar mit dem traditionellen Substanzdenken. Anstelle der durch das Organismus-Paradigma geforderten internen Relationen sieht Whitehead in Leibniz’ Konzeption daher lediglich Raum für die Annahme konstitutiver Eigenschaften der jeweils in sich abgeschlossenen einzelnen Monaden. Ein organistisches Wirklichkeitskonzept läßt sich insofern nicht aus der traditionellen Substanzmetaphysik heraus entwickeln. Whiteheads eigener Ansatz erscheint demgegenüber als Versuch, Relationen den Relaten nicht ontologisch nachzuordnen, sondern den wirklichen Einzelwesen und ihren internen Relationen ein gegenseitiges Konstituierungsverhältnis zuzuschreiben. Zusammenfassend ist festzustellen, daß entsprechend den Ausführungen Whiteheads die Konzeption eines organistischen Wirklichkeitsverständnisses eine weitestgehende Lösung von der traditionellen Substanzmetaphysik erfordert, da Relationen in ihr keinen Platz finden. Leibniz will zwar ganz im Sinne von Whiteheads Intention Einheit und Vielfalt des Universums nach Art eines Organismus erklären,369 klassifi369

Vgl. Holz (1958), 15 ff., 32 ff., 136 f.

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ziert seine organistisch verstandenen Monaden aber als Substanzen, ohne der inneren Schwierigkeit des Substanzbegriffs gerecht zu werden. So kann Whiteheads Kritikpunkt (iii) dahingehend zusammengefaßt werden, daß Leibniz in dem Entwurf seiner organistischen Konzeption gleichsam auf halbem Weg stehenbleibt. Während Leibniz’ Konzeption als ein Beitrag zu der traditionellen Frage der Substanz zu lesen ist, liegt bei Whitehead die Idee einer Destruktion der traditionellen Substanzmetaphysik vor. Die Kritikpunkte (i) und (ii) können so resümiert werden, daß Whitehead dem Leibnizschen System letztlich unzureichende Erklärungs- und Differenzierungsmöglichkeiten sowohl im Hinblick auf ›dauernde Organismen‹ als auch im Hinblick auf ›kognitive Organismen‹ unterstellt (SMW, 193 f. / 182). Whiteheads Organismusphilosophie leitet daher aus einer kritischen Revision von Leibniz’ Monadenlehre den Anspruch ab, sich vom traditionellen Substanzdenken zu distanzieren, um jene durch ein konsistentes Modell zu ersetzen, welches ein differenzierteres Erklärungsmodell für ›dauernde Organismen‹ sowie ›kognitive Organismen‹ ermöglicht. Obwohl Leibniz der Philosophiegeschichte ein reges Interesse entgegenbrachte und über entsprechende Kenntnisse verfügte, die denen der meisten seiner Zeitgenossen weit überlegen waren, baut er seine Metaphysik doch sehr viel weniger auf einer direkten Auseinandersetzung mit der Tradition auf als Whitehead. Gleichwohl war Leibniz bewußt, daß philosophische Systeme in Zusammenhängen stehen bzw. Entwicklungslinien bilden, die sich, Whiteheads Überlegungen in AI vergleichbar, unterschiedlichen Phasen der Universal- oder der Zivilisationsgeschichte zuordnen lassen. Dabei vermittelt Leibniz ein facettenreiches Bild von Philosophiegeschichte:370 Er betrachtet sie einerseits als Vorgang, in dem die Philosophie darauf ausgerichtet ist, überzeitlich gültige Wahrheiten systematisierend zusammenzufassen, andererseits auch als ein Moment innerhalb der menschlichen Entwicklungsgeschichte, zu deren Verständnis sie beitragen kann, wobei dann die Frage des Wahrheitsgehalts der philosophischen Systeme in den Hintergrund tritt. So ist für Leibniz die Geschichte der Philosophie – mögen auch Philosophen immer wieder in Irrtümer verfallen oder zuweilen die Tragweite ihrer Einsichten falsch einschätzen – prädestiniert, letztlich in eine scientia generalis, von der die Philosophie einen Teil bildet, einzumünden. Leibniz’ Annahme, daß sich ein einmal gefaßter Gedanke geschichtlich zu immer größerer Klarheit entfaltet und das kollektive Bewußtsein der Menschen 370

Vgl. hierzu den detaillierten Überblick bei Heinekamp (1982).

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zunehmend beeinflußt, läßt den Eindruck entstehen, daß hier die Philosophiegeschichte als einheitlicher, kontinuierlicher Prozeß begriffen wird, in dem die einzelnen Lehren auf einen Punkt, die Wahrheit, hin konvergieren.371 Die Positionen resultieren gleichsam aus einem Dialog mit der Philosophiegeschichte372 bzw. sind, wenigstens idealiter, ein Ergebnis beständiger Auseinandersetzung mit ihr, wie auch umgekehrt die Philosophiegeschichte erst dadurch zum fruchtbaren Untersuchungsgegenstand wird, daß man sie zu der jeweils gegenwärtigen Philosophie in Beziehung setzt. Neue Einsichten gewinnen nach gemeinsamer Auffassung von Leibniz und Whitehead durch die Übereinstimmung mit der Tradition ein besonderes, zusätzliches Gewicht. Leibniz’ Annahme, daß jede Philosophie Wahrheit enthalte und insofern ein virtueller Beitrag zu einem geschichtlichen Konvergenzpunkt ist, läßt sich auch von der Monadenlehre selbst her begründen.373 Da im Sinne der Spiegel-Metaphorik jede Monade die gesamte Welt repräsentiert und alle Monaden sich nur durch die Klarheit und Deutlichkeit ihrer Perzeptionen unterscheiden, kann Leibniz davon ausgehen, daß alle Philosophien der Vergangenheit irgendwie wahr sind. Unter diesem Gesichtspunkt, der für jede Konzeption Wahrheitsansprüche zugleich erhebt und relativiert, versteht Leibniz auch seine eigene Metaphysik lediglich als Hypothese,374 wobei er die auch bei Whitehead und Platon präsente Idee von Wahrscheinlichkeit bzw. von Graden der Wahrscheinlichkeit einführt.375 Damit ist verbunden, daß Leibniz nicht den Anspruch erhebt, mit seiner Philosophie eine definitive und unüberbietbare philosophia perennis vorzulegen, sondern nur eine – in annähernd platonischem Sinne – kontingente, perspektivisch nachbildende Manifestation dieser philosophia perennis, welche urbildlich allen philosophischen Systemen zugrundeliege.376 Diese hypothetische Manifestation bedient sich als weitere Parallele der Sache nach den Whiteheadschen Kriterien für spekulative Philosophie:377 Wenn Leibniz seine metaphysische Hypothese an die Bedingung knüpft, daß jene den Phänomenen überall entsprechen müs371

Vgl. Braun (1990), 100. Vgl. Heinekamp (1982), 135, 137; zu demselben Motiv bei Whitehead vgl. 1.3.1. 373 Vgl. Heinekamp (1982), 121. 374 Vgl. ebd., 139; vgl. auch Poser (1986), 116, der Leibniz dem Konzept einer »revidierbaren Metaphysik« subsumiert; vgl. 2.3.2. 375 Vgl. Braun (1990), 102; vgl. auch 1.3.2 und 3.3.1. 376 Vgl. Heinekamp (1982), 135, 139; vgl. auch Braun (1990), 101. 377 Vgl. 2.3.3. 372

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se,378 so ähnelt dies Whiteheads Kriterium der Adäquatheit ; wenn Leibniz meint, daß in seinem Entwurf die Prinzipien so miteinander verknüpft seien, daß derjenige, der eines kenne, damit alle begriffen habe,379 dann verweist dies auf Whiteheads Kriterium der Kohärenz . Insofern ist Leibniz nicht nur aufgrund seiner eher rhapsodischen Frühfassung einer Organismusphilosophie, sondern auch in methodologischer Hinsicht als Vorbild Whiteheads zu begreifen. In einer allerdings von Whitehead nicht beachteten oder reflektierten Weise hat der hypothetische bzw. provisorische Realismus des Essay in Cosmology bei Leibniz seinen eigentlichen Vorgänger. Leibniz’ metaphysische Hypothese fungiert daher auch in methodologischer Hinsicht als plausibles Bindeglied zwischen Whitehead und Platon.

3.7 Hume: ›Sensualistische Mythologie‹ und kausale Wirksamkeit Whiteheads Bezüge auf Hume ähneln allgemein denen auf Descartes, Locke und Leibniz. Einerseits entnimmt er auch auch der Philosophie Humes Elemente und Anregungen für seine eigene Konzeption, andererseits konfrontiert er dessen empiristische Erkenntnistheorie mit grundlegenden Einwänden. Whitehead erklärt programmatisch, daß er sich Humes Positionen in wesentlichen Teilen anschließen will, ohne aber damit ihre teils impliziten Voraussetzungen und Schlußfolgerungen in Kauf zu nehmen (PR, 130 / 248). Maßstab der Akzeptanz ist die Kompatibilität von Humes Auffassungen mit einer organistischen Wirklichkeitskonzeption.380 Whitehead geht zunächst von einer Revision der Grundzüge von Humes Perzeptionstheorie aus,381 wonach zwei Arten menschlicher Perzep378

Leibniz an Bierling, 7. Juli 1711 (GP VII, 497). Leibniz an des Bosses, 7. November 1710 (GP II, 412). 380 Zu Whiteheads Hume-Rezeption vgl. besonders Merrill (1976) und Welten (1984). Das vorliegende Kapitel ist eng an der ausgezeichneten Studie von Welten orientiert. 381 Die von Whitehead mehrfach hervorgehobene Klarheit von Humes Ausführungen veranlassen ihn zu besonders ausführlichen Zitaten. Wir werden die in PR teils seitenlangen Zitate von Humes A Treatise of Human Nature (= Treatise), soweit Whitehead elementare Grundgedanken der Humeschen Philosophie referiert, hier nicht aufnehmen. Nur in Einzelfällen sollen von Whitehead zitierte Passagen (unter Angabe der üblichen Teil / Kapitel / Abschnitt-Zählung) nochmals angeführt werden, wobei wir der dt. Übersetzung von PR folgen. 379

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tionen zu unterscheiden sind, Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas, thoughts).382 Eindrücke sind dem Geist unmittelbar gegenwärtige und auf ihn einwirkende Perzeptionen, Vorstellungen sind deren Abbilder, die in unser Denken oder Bewußtsein eingehen (PR, 131 / 249). Eindrücke und Vorstellungen unterscheidet Hume im Hinblick auf ihre »Stärke und Lebhaftigkeit«. Sowohl Eindrücke als auch Vorstellungen werden in einfache und zusammengesetzte differenziert. Das Verhältnis von einfachen Eindrücken und einfachen Vorstellungen erklärt Hume mit der allgemeinen Feststellung, wonach »alle unsere einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrücken stammen, welche ihnen entsprechen und die sie genau wiedergeben« (ebd.). Auf diese Feststellung greift Whitehead wiederholt als »Humes Prinzip« zurück, das auch im Zentrum seiner kritischen Hume-Rezeption steht. Diese kritische Rezeption setzt an bei einer näheren Betrachtung, wie einfache Perzeptionen eine zusammengesetzte Perzeption bilden.383 Für Hume sind, wie gesagt, einfache Vorstellungen Abbilder einfacher Eindrücke. Aber es gibt für ihn zusammengesetzte Vorstellungen, die nicht wiederum Abbilder zusammengesetzter Eindrücke sind, sondern vielmehr aus der Zusammensetzung oder Vereinigung einfacher Vorstellungen hervorgehen. Humes Suche gilt daher dem vereinigenden Prinzip bzw. der Art der Zusammensetzung, mittels derer eine Vielheit einfacher Vorstellungen eine einzige komplexe Vorstellung bildet.384 Whitehead sieht allerdings Unklarheiten in Humes Erklärung des Aufbaus einer zusammengesetzten Vorstellung, da dieser schon begrifflich nicht klar zwischen der Art oder Ordnung der Zusammensetzung, der Wirkursache für die Zusammensetzung sowie deren vereinigendem Prinzip unterscheide, wobei die Annahme dieses Prinzips bei Hume für Whitehead auch sachlich nicht gerechtfertigt ist (PR, 131 / 249 f.). Zusammengesetzte Vorstellungen im Sinne Humes sind für Whitehead nur so erklärlich, daß jede besondere Art der Zusammensetzung letztlich ihrerseits eine einfache Vorstellung sein müsse, die – abweichend von Humes Prinzip – selbst 382

Treatise I, 1, 1. »Idea« geben wir bei Hume anders als bei Locke nicht mit »Idee«, sondern mit »Vorstellung« wieder, womit wir Whiteheads Unterscheidung beider Begriffe (PR, 131 / 249) und Holls entsprechender Übersetzung folgen. 383 Vgl. Welten (1984), 387. Angemerkt sei, daß Whitehead die Dichotomie von Einfachheit und Zusammengesetztheit grundsätzlich anzweifelt. Er meint, daß von Einfachheit nicht in Humes absolutem Sinn, sondern stets nur im relativen Sinn eines bestimmten Verfahrens oder Stadiums der Analyse zu reden sei (PR, 133 / 253). 384 Treatise I, 1, 4 und I, 1, 6.

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nicht Abbild eines Eindrucks sei (PR, 132 / 251 f.). Hume selbst hatte auf eine andere Ausnahme von seinem Prinzip hingewiesen, und zwar auf das Beispiel einer abgestuften Farbskala aus Blautönen. Demnach ist ein Betrachter dieser Skala imstande, sich den zwischen zwei Blautönen liegenden, aktuell fehlenden Blauton vorzustellen, auch wenn dieser Vorstellung kein Eindruck zugrundeliegt. Indessen bagatellisiert Hume sein Beispiel als entlegene Ausnahme und hält an seinem allgemeinen Prinzip fest, während Whitehead darauf hinweist, daß diese Ausnahme nicht auf die Farbwahrnehmung beschränkt werden könne, sondern auf alle Bereiche der Sinneswahrnehmung auszudehnen sei, und die umgekehrte Schlußfolgerung zieht: »Daher unterliegt Humes Aussage, daß alle einfachen Vorstellungen Abbilder von einfachen Eindrücken sind, so beachtlichen Einschränkungen, daß [sie] nicht als ein philosophisches Grundprinzip übernommen werden kann […].« (PR, 132 / 252) Ein weiterer das Verhältnis von Eindrücken und Vorstellungen betreffender Kritikpunkt ist für Whitehead die Rolle der Wiederholung in Humes Philosophie (PR, 133 ff. / 253 ff.). Insofern eine einfache Vorstellung gleichsam die Wiederholung eines einfachen Eindrucks ist,385 scheint Humes Philosophie von einem »Begriff der ›Wiederholung‹ durchdrungen« (PR, 136 / 258). Je öfter nun Eindrücke sich wiederholen, desto angemessener sind die Abbilder, die die Vorstellungen von ihnen liefern. Außerdem ist die Häufigkeit von Vorstellungen, die aus der Häufigkeit der ihnen entsprechenden Eindrücke resultiert, von einer Erwartung der Wiederholung des Eindrucks begleitet. Hierauf beruht Humes Lehre von der Gewohnheit, die wiederum für seine Theorie der Kausalität zentral ist. Die Erwartung der Wiederholung ist für Hume »pragmatisch gerechtfertigt« (PR, 133 / 254). In welchem Sinn aber dürfen wir von Kausalität sprechen, wenn wir die Erfahrung ernstnehmen? Die Schwierigkeit der Erklärung von Kausalität besteht für Hume darin, daß Ursache-Wirkungs-Verhältnisse als solche jenseits der unmittelbaren Eindrücke unserer Sinne und unserer Erinnerung liegen. In der Erfahrung können wir niemals die ursächliche Verknüpfung zweier Vorgänge feststellen, sondern nur die zeitliche Folge zweier Sinneseindrücke. Die empirische Rechtfertigung unseres Kausalitätsdenkens erschöpt sich nach Hume in der wiederholten Wahrnehmung von Ereignissen, deren Eindrücke durch das erfahrende Subjekt in einer Assoziation verbunden werden. Da also die Art der Verbindung von Ursache und Wirkung in keinem Eindruck gegeben ist, führt Hume die Vorstellung 385

Treatise I, 3, 6; vgl. Welten (1984), 387 f.

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von Ursache und Wirkung auf die Wiederholung von Eindrücken zurück. Whitehead hält dem entgegen, daß wir nicht eher einen Eindruck von Wiederholung als von Verursachung haben können, d. h. daß von einem Eindruck der Wiederholung nicht mit größerer Berechtigung zu reden ist als von einem Eindruck der Verursachung, so daß sich das Problem nur verlagert. Worauf Hume zurückgreifen kann, ist nichts als eine »Wiederholung von Eindrücken«; was er brauchte, wäre ein »Eindruck von Wiederholungen der Eindrücke«. Für Whitehead hat Hume jedoch beides miteinander verwechselt (PR, 134 / 256). Kann Humes Konzeption der Erinnerung das Problem lösen? Eine nähere Analyse zeigt für Whitehead, daß Erinnerung sich von präsenten Eindrücken nach Hume letztlich nur durch den geringeren Grad von Stärke und Lebhaftigkeit unterscheidet und nicht durch ein Element der Wiederholung, das in der Lehre von Stärke und Lebhaftigkeit verlorengehe. Da Hume letztlich drei Perzeptionstypen, Eindrücke, Erinnerungen und Vorstellungen kennt, die er nur nach Stärke und Lebhaftigkeit unterscheidet, bleibt für das Element der Wiederholung kein systematisch plausibler Platz. Folglich kann Hume sich nicht auf Erinnerung berufen, um die Vorstellung der Wiederholung einzuführen. So ist Humes Lehre von der Erinnerung für Whitehead »nicht sehr überzeugend« (PR, 135 / 257). Whiteheads Kritik setzt bereits bei Humes Argumentationsgang an, auf den sich das genannte Humesche Prinzip gründet, wonach alle einfachen Vorstellungen auf einfache Eindrücke zurückgehen. Humes Beweis geht aus von einer empirischen Betrachtung, bei der er auf einfache Vorstellungen stößt, die nicht von einfachen Eindrücken abgeleitet sind. Whitehead verweist auf die Vorstellungen der Wiederholung und der notwendigen Verbindung ; er könnte den Fall des fehlenden Blautons hinzunehmen. Solche Gegenbeispiele zu Humes Prinzip machen sichtbar, wie wenig dieses einer konsequenten empirischen Prüfung standhält. Hume indessen schiebt das Beispiel des fehlenden Blautons als unwichtig beiseite. Zugleich verwirft er die Vorstellung der notwendigen Verbindung unter Berufung auf sein allgemeines Prinzip, das aber erst noch bewiesen werden muß. So ist Humes Argumentationsgang für Whitehead zirkulär (ebd.).386 Wenn Hume meint, daß wir keine Vorstellung einer notwendigen Verbindung haben könnten, weil ihr kein Eindruck einer notwendigen Verbindung entspreche, so ist diese Auffassung für Whitehead noch aus einem anderen Grund widersprüchlich. Whitehead verweist 386

Vgl. Welten (1984), 388, der auf eine ähnliche Hume-Kritik bei Flew (1961), 25 f., verweist.

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auf Treatise I, 2, 6, wo Hume annimmt, daß alles, was wir denken, eben dadurch, daß wir es denken, in gewissem Sinne existiere. Wenn nun Hume den Gedanken faßt, daß es keinen Eindruck einer notwendigen Verbindung gebe, greift er, so Whitehead, eben dabei auf die Vorstellung einer notwendigen Verbindung zurück, weshalb sein Denken hier widersprüchlich sei (ebd.). Der Begriff der Wiederholung veranlaßt Whitehead zur Kritik an einer wesentlichen Voraussetzung, in der er Hume mit Descartes387 übereinstimmen sieht, und zwar an der einer »individuellen Unabhängigkeit aufeinander folgender zeitlicher Ereignisse« (PR, 137 / 259): »Diese Voraussetzung der individuellen Unabhängigkeit habe ich an anderer Stelle als den ›Trugschluß der einfachen Ortsbestimmung‹ bezeichnet.« (PR, 137 / 260)388 Mit dem Begriff der einfachen Ortsbestimmung oder Lokalisierung charakterisiert Whitehead den mechanistischen Materialismus des 17. Jahrhunderts, wonach sich eine materielle Einheit immer einer bestimmten Raum- und Zeitstelle zuordnen läßt (SMW, 62 / 64). Analog zu den Materieeinheiten des mechanistischen Materialismus sind für Whitehead »auch Humes Eindrücke […] in sich abgeschlossen, und er kann keine zeitliche Beziehung außer der bloßen Abfolge entdecken« (PR, 137 / 260). Die Lehre, die Whitehead dieser Auffassung gegenüberstellt, ist die von der wechselseitigen Verbundenheit der Dinge, der Verbundenheit zwischen Erfahrungsdaten, dem Zusammensein bzw. dem Bezogensein von Dingen innerhalb von Ereignissen der Erfahrung. Was gegen die einfache Lokalisierung zur Geltung gebracht werden muß, ist die »offensichtliche Solidarität der Welt« (PR, 7 / dt. 38),389 womit Whitehead sich gegen die Annahme externer Relationen wendet und zugleich in der Nähe zu »Philosophien der Hegelianer« sieht (PR, 167 / 312). Aus Humes Lehre, die diese Solidarität nicht erklären kann, ergibt sich eine Folge unausweichlicher Konsequenzen für das menschliche Selbst-, Welt- und Wissenschaftsverständnis. In einer Welt aus isolierten Entitäten kann es keine Kausalität geben, ohne die wiederum Erinnerung nicht plausibel erklärbar ist. Ohne Erinnerung aber ist das Bewußtsein nichts anderes als eine zeitliche Abfolge von mentalen Erfahrungen, die nur durch Assoziation und nicht durch ein reales Bezogensein verbunden sind. Eine 387

Whitehead bezieht sich auf Prinzipien der Philosophie I, 21 und 55. Whitehead verweist auf SMW, Kap. III (SMW, 61 f. / 64). Zu seiner Behandlung dieses ›Trugschlusses‹ in den Arbeiten der mittleren Schaffensperiode (vgl. Einleitung, Anm. 2) vgl. Welten (1984), 389. 389 Vgl. 3.3.2. 388

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solche Theorie läßt das Problem der personalen Identität zwangsläufig ungelöst. Schließlich kann, wenn die Entitäten der Welt nicht verbunden oder aufeinander bezogen sind, kein Vorgang irgendeinen Aufschluß über andere Vorgänge geben. So ist, nimmt man Hume beim Wort, auch Induktion nicht rational zu rechtfertigen, eine Ordnung der Natur nicht sinnvoll anzunehmen und Wissenschaft letztlich unmöglich. Da es bei Hume keine metaphysische Grundlage für Induktion gibt, muß er auf die Praxis als elementare Rechtfertigung zurückgreifen (PR, 133 / 254). Humes Rekurs auf die Praxis intendiert einen verbindlichen Wirklichkeitsbezug, den ihm die Philosophie nicht zu gewährleisten scheint. Für Whitehead dagegen verbietet sich ein solcher Rückgriff, der Praxis und Metaphysik gegeneinander ausspielt, ist doch die Metaphysik selbst der Anwendbarkeit auf die Praxis verpflichtet: »Was immer man in der ›Praxis‹ vorfindet, muß innerhalb der Reichweite der metaphysischen Beschreibung liegen. Wenn es der Beschreibung nicht gelingt, die ›Praxis‹ einzubeziehen, ist die Metaphysik inadäquat und bedarf einer Revision. Solange wir mit unseren metaphysischen Thesen zufrieden sind, können wir uns zur Vervollständigung der Metaphysik nicht auf die Praxis berufen.« (PR, 13 / 48) Die vermeintliche Unzulänglichkeit der Humeschen Philosophie beruht also wesentlich auf der Annahme der einfachen Lokalisierung in ihrer epistemologischen Variante, wonach Eindrücke isoliert und in sich abgeschlossen sind. Wo aber liegen die Wurzeln dieser verfehlten Annahme? Bei Whitehead werden drei Voraussetzungen angesprochen: (i) Die Subjekt-Prädikat-Struktur der Aussage, verstanden als Ausdruck einer elementaren metaphysischen Wahrheit, (ii) Descartes’ Subjektivismus und (iii) Humes Vernachlässigung eines bestimmten Perzeptionsmodus, den Whitehead als »Weise der kausalen Wirksamkeit« (mode of causal efficacy) bezeichnet (PR, 178 ff. / 333 ff.). Zu (i) und (ii) wurden an früherer Stelle ausführliche Erläuterungen gegeben.390 Deshalb werden wir hier nur kurz auf sie zurückkommen und uns dann auf (iii) konzentrieren. (i) Die Voraussetzung der Subjekt-Prädikat-Struktur der Aussage als elementare metaphysische Wahrheit beschreibt Whitehead wie folgt: »Die Lehre von der individuellen Unabhängigkeit realer Tatsachen hat ihren Ursprung in der Vorstellung, daß die Subjekt-Prädikat-Form der Darstellung eine metaphysisch grundlegende Wahrheit vermittelt. Nach dieser Ansicht begründet eine individuelle Substanz mit ihren Prädikaten den höchsten Typ von Wirklichkeit. […] Mit dieser metaphysischen Vor390

Vgl. 3.3.2 und 3.3.3.

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aussetzung bereiten die Relationen zwischen individuellen Substanzen metaphysische Unannehmlichkeiten: es ist kein Platz für sie.« (PR, 137 / 260 f.)391 Die so kritisierte Denkvoraussetzung identifiziert Whitehead hauptsächlich mit Descartes, der durch sie im Hintergrund der Humeschen Philosophie präsent ist. (ii) Mit dem Subjekt-Prädikat-Schema als Denkmuster ist bei Hume die explizit zurückgewiesene aber implizit wirksame »Voraussetzung des Geistes als Subjekt und seiner Inhalte als Prädikate« (PR, 51 / 112; vgl. 138 / 263) verbunden. Für Whitehead stellt sich dieser Zusammenhang wie folgt dar (PR, 48 ff. / 106 ff.):392 Die übliche Verwendung des Begriffspaars »Universalie« und »Besonderes« bzw. »Partikuläres« erzeugt ein falsches Verständnis. Danach wird das Partikuläre als individuelles Seiendes begriffen, dem keine wirkliche Beziehung zu irgendeinem anderen Partikulären zukommt. Es korrespondiert der cartesischen Definition einer Substanz, die keines anderen Seienden zu ihrem Selbstsein bedarf, was bedeutet, daß ein Partikuläres nicht in die Konstitution eines anderen Partikulären eintreten kann. Universalien gehen in die Bestimmung verschiedener Partikulärer ein, während ein Partikuläres aus der Bestimmung anderer Partikulärer ausgeschlossen bleibt. Der erkennende Geist ist ein Partikuläres, das entsprechend nur Universalien erfassen und mittels solcher beschrieben werden kann. Humes Eindrücke der Sinneswahrnehmung sind also nichts anderes als Bestimmungen des partikulären Geistes durch Universalien, eine direkte Perzeption irgendeines anderen Partikulären wird ausgeschlossen. Dies ist die Aussage des von Hume (wie auch von Descartes und Locke) vertretenen subjektivistischen Prinzips, wonach »das Datum im Erfahrungsakt allein mit Hilfe von Universalien erschöpfend analysiert werden kann« (PR, 157 / 295). Hume wendet also auf das Subjekt, das Erfahrungen macht, Descartes’ substanzmetaphysische Auffassung an, wonach dieses Subjekt zu keinem anderen wirklichen Einzelwesen, zu keinem anderen Partikulären, in unmittelbarer Beziehung steht. Trotz seiner ausdrücklichen Zurückweisung des Substanzbegriffs faßt Hume implizit den Geist als Substanz auf, der durch allgemeine Ideen oder Universalien ›qualifiziert‹ ist. Z. B. kann von der aus subjektivistischer Perspektive ursprünglichen Erfahrung ›meine Wahrnehmung von diesem Stein als grau‹ (PR, 159 / 298) nach dem Substanz-Qualitäts-Schema nur noch ein Bewußtsein (als Substanz) der Sinneswahrnehmung von Gräue bzw. Grauheit (als Qualität) übrig391 392

Zur Aufwertung der Relationen bei Whitehead vgl. Böhme (1980). Vgl. Welten (1984), 392.

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bleiben, während ›dieser Stein‹ in dem Schema keinen Platz findet. Das Ergebnis, so Whitehead, sind Humes einfache Eindrücke der Sinneswahrnehmung, die die Basis seiner Erkenntnistheorie bilden (PR, 159 f. / 297 ff.). Whitehead lehnt das subjektivistische Prinzip in der ursprünglich cartesischen Form ab und widerspricht der Humeschen Voraussetzung des nur mit allgemeinen Ideen ausgestatteten Geistes, die die direkte Perzeption von Partikulärem ausschließt. Nach Whiteheads Gegenmodell nehmen wir nicht Gräue bzw. Grauheit, sondern vielmehr ›diesen Stein als grau‹ wahr. Gegenstand der Erfahrung sind für ihn nicht Universalien, aus denen wir ein Partikuläres gleichsam konstruieren, sondern wir erfahren ein Partikuläres und abstrahieren von ihm seine Eigenschaften, d. h. die Universalien. Die direkte Perzeption von Partikulärem gehört zu den offensichtlichen Tatsachen der Erfahrung, ihre Leugnung widerspricht nach Whitehead dem common sense ebenso wie jeder rationalistischen Metaphysik und führt zu Skeptizismus und Solipsismus.393 Bezieht man Erfahrung nicht auf einen objektiven Gegenstand, dann gibt es keinen konsistenten Ausweg aus einem solipsistischen Subjektivismus, wonach der Geist immer nur seinen eigenen Inhalt wahrnimmt. Whitehead sieht Humes skeptizistische Konzeption an dem Erfordernis scheitern, Erfahrung mit einem objektiven Inhalt zu füllen. (iii) Die dritte der oben erwähnten Voraussetzungen ist für Whitehead Bestandteil der »sensualistischen Mythologie« (PR, 141 / 268), womit das »sensualistische Prinzip« mit seinen Implikationen und Konsequenzen gemeint ist. Dieses Prinzip definiert Whitehead wie folgt: »Nach dem sensualistischen Prinzip ist die primäre Aktivität im Erfahrungsakt die bloße subjektive Aufnahme des Datums, bar jeglicher subjektiven Form der Rezeption. Dies ist die Lehre von der bloßen Sinneswahrnehmung.« (PR, 157 / 295) Eine subjektive Form ist nach Whitehead ein »privater Sachverhalt« (PR, 22 / 63), der darauf verweist, wie das Subjekt, das Erfahrungen macht, sein Datum prehendiert oder erfaßt. Subjektive Formen der Erfahrung werden durch Humes »sensualistische Mythologie« systematisch unterschlagen. 393

Ob Hume tatsächlich in der von Whitehead kritisierten Weise die direkte Perzeption von Partikulärem übersieht oder negiert, wird u. a. von Welten (1984), 395, und Lotter (1996), 171 ff., kritisch hinterfragt. Der Sachverhalt ist hier nicht zu diskutieren. Zu beachten ist aber, daß Whiteheads eigentlicher Punkt weniger der ist, daß Hume keine direkte Perzeption von Partikulärem annimmt, als vielmehr der, daß dieser sich auf metaphysische Prämissen stützt, die ihn eine direkte Perzeption von Partikulärem nicht konsistent vertreten lassen.

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Die Organismusphilosophie stellt sich die Aufgabe einer gegenüber der »sensualistischen Mythologie« angemesseneren Erfahrungsinterpretation. Sie will zeigen, inwiefern der Sensualismus mit seiner Vorstellung der bloßen Rezeption isolierter Daten, gleichsam einem mentalen Atomismus, zu kurz greift. Im Hinblick auf Humes Kritik des Kausalitätsdenkens geht es ihr um den Nachweis, daß nicht nur Eindrücke aufgrund rezipierter Einzeldaten, sondern vielmehr eine Erfahrung von Kausalität im Sinne eines rezipierten Ursache-Wirkungs-Verhältnisses selbst anzunehmen ist.394 Whiteheads Argumente gegen den Sensualismus sollen also eine die kausale Wirksamkeit selbst erfassende Perzeptionsart zur Geltung bringen, die von der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition, insbesondere auch von Hume, unter dem Einfluß des Sensualismus vernachlässigt, übersehen oder ignoriert wurde. Die Annahme jener Perzeptionsart, in der auch eine Affinität zur Theorie der Erfahrung bei James gesehen worden ist,395 resultiert für Whitehead sowohl aus rein empirischen Beobachtungen als auch aus inneren Erfordernissen seiner organistischen Konzeption, wie noch gezeigt wird. Humes Auffassung, wonach wir nicht Kausalität, sondern nur Abfolgen wahrnehmen können, beruft sich auf die äußeren Sinne und ist mit dem berühmten Beispiel der Billard-Kugeln belegbar. Beim Billardspiel sehen wir, daß die Bewegung einer Kugel, die eine zweite Kugel anstößt, durch eine Bewegung der zweiten Kugel begleitet wird. Was wir nicht sehen, sondern allenfalls unterstellen, ist, daß die eine Bewegung die andere verursacht. Daher argumentiert Hume, daß sich Kausalität selbst nicht wahrnehmen lasse. Whiteheads Kritik stützt sich auf Gegenbeispiele, insbesondere den Fall des Reflexes. Eine Person in einem dunklen Raum blinzelt bei plötzlichem Einschalten von Licht. Die Person wird, so Whitehead, ihre Erfahrung damit erklären, daß das aufscheinende Licht sie zum Blinzeln brachte. Auf zweifelnde Nachfragen würde die Person antworten: »Ich weiß es, denn ich fühlte es.« Die Person spürte demnach die kausale Verbindung zwischen dem Aufleuchten des Lichts und dem eigenen Zwinkern. Sie hatte, so Whitehead, eine Erfahrung von Kausalität (PR, 174 f. / 326 ff.). Das Beispiel soll dokumentieren, daß es eine ursprünglichere und komplexere Weise der Erfahrung gibt als die von Hume in Betracht gezogene. Nach Whitehead erfährt die blinzelnde Person, daß sie wegen des Aufleuchtens von Licht blinzelt. Das Blinzeln des Auges er394 395

Vgl. Fetz (1981), 101-105; Welten (1984), 397 ff. Vgl. Lowe (1962), 342 ff.; Schrag (1969), 479 ff.

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folgt für die natürliche Wahrnehmung annähernd gleichzeitig mit dem Aufleuchten des Lichts. Für Whitehead ist daher nicht die (ohnehin kaum wahrnehmbare) zeitliche Abfolge der Anlaß, auf Kausalität zu schließen. Vielmehr macht er eine umgekehrte Priorität geltend: Das Bewußtsein von der zeitlichen Abfolge leitet sich erst von der Erfahrung der Ursächlichkeit her. Wenn Hume dieses Verhältnis verkehrt, kann er sich nach Whitehead nicht auf die Erfahrung berufen, sondern gehorcht – so Whiteheads fundamentale Infragestellung des Humeschen Empirismus – eher inneren Erfordernissen seiner Theorie. Whitehead, der den verschiedenen Facetten von Erfahrung besser gerecht werden will, gelangt zu einer Differenzierung zweier Wahrnehmungsweisen, von denen die erste bei Hume und die zweite in seinem Gegenbeispiel zur Darstellung kommt. Humes Thema ist diejenige Wahrnehmung, bei der das Wahrgenommene in direkter Weise präsent und bewußt ist, nach Whitehead die Wahrnehmung in der »Weise der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit« (mode of presentational immediacy). Dieser Wahrnehmungsmodus, dem Humes Eindrücke der Sinneswahrnehmung entsprechen, ist nicht nur mit Bewußtsein verbunden, sondern läßt sich auch selbst durch dieses bestimmen und lenken. Der eigene Körper als involvierter Erfahrungsträger tritt dabei aber zurück. Bei der schon erwähnten Wahrnehmung in der »Weise der kausalen Wirksamkeit« (mode of causal efficacy) wird hingegen die Wirkung des Erfahrungsgegenstandes auf den Körper und damit eben die Tatsache einer kausalen Wirksamkeit direkt erfahren. Whiteheads Dichotomie von Wahrnehmungsmodi resultiert aus einer systematischen, hier nicht im einzelnen zu reflektierenden Analyse des Erfahrungsprozesses und der ihn konstituierenden Abfolge von Prehensionsphasen (PR, 121 ff. / 232 ff.). Der von Hume unterschlagene Modus der kausalen Wirksamkeit betrifft nach Whitehead bereits die frühen, grundlegenden Phasen, während der Modus der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit zu den späteren oder höheren Stufen gehört. So verfehlt Hume für Whitehead die Basis einer adäquaten Erfahrungsanalyse, obwohl der elementare Perzeptionsmodus der kausalen Wirksamkeit schon in dessen eigener Beschreibung von Sinneserfahrung unterschwellig immer wieder zum Ausdruck kommt, etwa in Formulierungen wie »wir sehen mit unseren Augen«, »wir schmecken mit unserem Gaumen« (PR, 81, 122 / 163, 235). Für Whitehead bezeugen solche Aussagen die direkte Erfahrung des vorausgehenden Funktionierens des Körpers in der Sinneswahrnehmung. Wir sehen mit unseren Augen, aber wir sehen nicht unsere Augen. Gleichwohl wissen wir, daß wir mit unseren Augen sehen,

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weil wir es fühlen. Whitehead konstatiert hier ein Fühlen des kausalen Funktionierens unserer Augen in der sinnlichen Wahrnehmung, ein Fühlen im Modus der kausalen Wirksamkeit. Seine wesentliche Intention ist der Nachweis, daß die Wahrnehmung im Modus der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit erhebliche Dimensionen tatsächlich vorkommender Perzeptionen außer acht läßt, was die nähere Beschreibung von Bedeutung und Reichweite des bei Hume vermißten Modus der kausalen Wirksamkeit sichtbar macht: Dieser Modus »bringt Wahrnehmungsgegenstände hervor, die vage, nicht kontrollierbar und voller Emotion sind: Aus ihr kommt der Sinn für die Herkunft aus einer unmittelbaren Vergangenheit und für den Übergang in eine unmittelbare Zukunft; ein Sinn für emotionales Empfinden, das zu einem selbst in der Vergangenheit gehört, auf einen selbst in der Gegenwart übergeht und von einem selbst in der Gegenwart zu einem selbst in der Zukunft übermittelt wird; ein Sinn für das Einfließen von Einflüssen anderer, vagerer Gegenwarten aus der Vergangenheit, die lokalisiert sind und doch der lokalen Abgrenzung entgehen, wobei ein solcher Einfluß den Strom des Empfindens, den wir empfangen, vereinigen, erleben und übertragen, modifiziert, verstärkt, verhindert oder umleitet. Das ist unser allgemeiner Sinn für Existenz als einem Aspekt unter anderen in einer wirkenden wirklichen Welt.« (PR, 178 / 333) Nach Humes Lehre entsteht, wie ausgeführt, ein Gefühl der Kausalität aus der wiederholten Assoziation von Sinnesdaten. Daher wäre zu erwarten, daß ein Ausbleiben oder eine Hinderung solcher Sinnesdaten mit einer entsprechenden Abwesenheit des kausalen Empfindens verbunden wäre. Whitehead stellt aber fest, daß dies gerade nicht der Fall ist: Im Dunkeln, bei Stille oder im Halbschlaf »treten die Vergegenwärtigungen der Sinne zurück und was uns bleibt, ist das vage Empfinden von Einflüssen vager Dinge um uns herum.« (PR, 176 / 329) Für Hume spielt ein solches vages Empfinden von Einflüssen auf der elementaren, unmittelbaren Perzeptionsebene keine Rolle. Er unterscheidet nach Whitehead vier Stufen von Perzeptionen (PR, 140, 151 / 265 f., 284): Die erste Stufe umfaßt Eindrücke der Sinneswahrnehmung, d. h. die Aufnahme oder Apprehension von Sinnesdaten, deren Entstehung Hume als ungeklärt ansieht, die aber für ihn die primären Daten darstellen. Die zweite Stufe umfaßt Vorstellungen, welche die Perzeptionen der ersten Stufe, die Eindrücke der Sinneswahrnehmung, repräsentieren. Die dritte Stufe umfaßt Eindrücke der Reflexion oder Selbstwahrnehmung, wozu Leidenschaften, Sehnsüchte und auch Emotionen gehören. Die vierte Stufe umfaßt Vorstellungen, die wiederum die Eindrücke der Reflexion

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repräsentieren. Whitehead würdigt ausdrücklich, daß Hume den Charakter dieser vier Perzeptionsstufen im Sinne eines Prozesses begreift und sich damit von Lockes morphologischer Betrachtungsweise distanziert, kritisiert aber die Beschreibung der einzelnen Stufen selbst. Wenn wir hypothetisch die erste Stufe als die der sinnlichen Perzeption bezeichnen, können Emotionen nicht dieser Phase zugerechnet werden; wir müssen sie vielmehr als abgeleitet begreifen. Die erste Stufe selbst stellt sich als emotionsfrei dar. Für Whitehead, der allen Perzeptionsphasen oder -typen subjektive Formen zuschreibt, ist dagegen schon die erste Stufe im Erfahrungsprozeß emotional, worin ein direkter Gegensatz zu Humes sensualistischem Prinzip besteht, nach dem die Apprehension von Sinnesdaten emotionslos ist und Emotionen abgeleitet sind. Wiederholt weist Whitehead darauf hin, daß Bewußtsein erst in den höheren Phasen der Erfahrung auftritt und entsprechend vor allem diese höheren Phasen beleuchtet. Vergegenwärtigende Unmittelbarkeit gehört zu den höheren Phasen der Erfahrung, und ihre Perzeptionen sind daher unserem Bewußtsein in klarer und distinkter Weise gegenwärtig. Der Modus der kausalen Wirksamkeit gehört dagegen zu den früheren oder niedrigeren Phasen und bleibt im Hintergrund des Bewußtseins. Whitehead betont unterschiedlich manchmal den emotionalen Charakter dieses Wahrnehmungsmodus, manchmal seine Vagheit, manchmal seine Priorität gegenüber dem Modus der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit. Es ist ein »übersteigerter Intellektualismus« (PR, 141 / 267), die intellektualistische Betonung der klaren und distinkten Elemente unserer Erfahrung, die bei Hume ebenso wie bei Locke zum Vergessen des elementareren Modus der kausalen Wirksamkeit führte. Eine befriedigende Theorie der Erfahrung kann für Whitehead nur unter Berücksichtigung beider Modi der Wahrnehmung entwickelt werden, da diese in der konkreten Erfahrung aufs engste verbunden sind, wobei der Akzent einmal mehr auf dem einen und einmal mehr auf dem anderen Modus liegen kann. Philosophiegeschichtlich haben beide Modi sehr unterschiedliche Bewertungen und Gewichtungen erfahren. Da seit Descartes der Grad des Bewußtseins einer Vorstellung als Kriterium für ihre Ursprünglichkeit und Wahrheit fungierte, konzentrierte sich auch der englische Empirismus auf die Wahrnehmung in der Weise der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit als Erkenntnisquelle und sah von anderen Erfahrungsdimensionen abstrahierend ab. So wurde der Perzeptionsmodus der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit zum eigentlichen Thema von Erkenntnistheorie und -kritik. Wie diese für Whitehead entscheidend defizitäre

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Erfahrungstheorie letztendlich doch noch beansprucht, ein Erklärungsschema auf ihr nicht zugängliche Anwendungsbereiche auszudehnen, zeigt Humes schon oben kritisierte Vorstellung von Gewohnheit. Hume führt die gewohnheitsmäßige Assoziation zweier Eindrücke als Ersatz einer Erfahrung von Ursächlichkeit ein. Whitehead macht jedoch geltend, daß im Wahrnehmungsmodus der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit, der eine Kausalitätsempfindung nicht erfaßt, Gewohnheit ebensowenig erfaßt werden kann. Für die Organismusphilosophie sind, anders als bei Descartes und Hume, die bewußten Strukturen keinesfalls die metaphysisch fundamentalen. Da aus ihrer Sicht vielmehr umgekehrt das Bewußtsein nur eine zur Erfahrung hinzutretende besondere Komponente sein kann, kommt der Wahrnehmung in der Weise der kausalen Wirksamkeit Priorität zu. Die Wahrnehmung im Modus der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit dagegen stellt nur wenige Aspekte aus der kausalen Einwirkung heraus und hält sie bewußt. Die Organismusphilosophie erklärt das Entstehen des Kausalitätsbegriffs aus kausalursächlichen Erfahrungen, die der Mensch an sich selbst macht. Diese vage bleibenden Erfahrungen im Perzeptionsmodus der kausalen Wirksamkeit sind elementarer und damit für unser Wirklichkeitsverständnis bedeutsamer als die distinkten und bewußten Wahrnehmungen im Modus der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit, auf den sich die Aufmerksamkeit des traditionellen Subjektivismus richtet. Während diese nur wenigen hochentwickelten Lebewesen zukommen, sind die Wahrnehmungen im Modus der Wirkursächlichkeit aus Sicht der Organismusphilosophie für das Naturgeschehen im umfassenden Sinn anzunehmen. Whitehead betrachtet die Reaktionen einfacherer Organismen als Anzeichen dafür, daß diese Organismen die Kausalverbindungen, in denen sie zu ihrer Umwelt stehen, registrieren: »Eine Qualle bewegt sich vorwärts und zieht sich wieder zurück, und indem sie dies tut, verrät sie die Wahrnehmung einer kausalen Beziehung zu der sie transzendierenden Welt; eine Pflanze wächst nach unten, in die feuchte Erde, und nach oben, zum Licht.« (PR, 176 / 330) Mit Whitehead läßt sich das Fazit ziehen, daß der Mensch im Rahmen der Wahrnehmung in der Weise der kausalen Wirksamkeit den elementaren Konstituierungsprozessen der Wirklichkeit, die sich an einfachen Organismen beobachten lassen, am nächsten ist. In diesem Wahrnehmungsmodus vollziehen wir gleichsam nach, wie ein Organismus sich in der Prehension seiner Umwelt, die dabei kausalursächlich in sein Wesen eingeht, konstituiert. So ist festzuhalten, daß Whitehead auch hier von erkenntnistheoretischen Analysen, ausgehend von einer Kritik der

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empiristischen Erkenntnistheorie, in spekulativer Erweiterung zu einer metaphysischen Interpretation unserer Erfahrungswirklichkeit gelangt.

3.8 Kant: Die ›kopernikanische Wende‹ und ihre Revision Mit Kant setzt sich eine Entwicklung fort, die auf einer nach Whiteheads Ansicht verfehlten Aufgabenstellung für die Philosophie beruht. Hatten sich die bei Descartes bestimmend gewordenen Vorstellungen einer bloß körperlichen und einer bloß geistigen Substanz erst einmal etabliert, wurde es, so Whitehead, »zum Ideal des spekulativen Denkens, entweder den Geist durch das Körperliche zu erklären oder das Körperliche durch den Geist« (FR, 59 / 50). Nachdem zunächst Hobbes das Körperliche für fundamental gehalten und den Geist für abgeleitet erklärt hatte, entwarf Berkeley das umgekehrte Bild eines fundamentalen Geistes und einer abgeleiteten körperlichen Sphäre. Solche reduktionistischen Versuche trugen auf jeweils eigene Weise dazu bei, den cartesischen Graben zwischen Philosophie und Naturwissenschaften zu vertiefen. Auch für Kant, dessen Kritik der reinen Vernunft (KrV ) das Naturgeschehen nach Darstellung Whiteheads auf bloße Erscheinungen bzw. Phänomene, also etwas Abgeleitetes, reduziert, kann es »keine Metaphysik der Natur geben, und keinen Zugang zur Physik durch die Betrachtung der Naturordnung« (FR, 60 / 51). Aus Kants rein phänomenaler Welt konnte demnach kein Weg zur Metaphysik führen. Zwar räumt Whitehead eine gewisse Verkürzung seiner Darstellung ein – »es stimmt, daß Kant diese Schlußfolgerung nicht so lapidar gezogen hat« (ebd.) –, doch erscheinen ihm die philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Konsequenzen zwingend: Kant mußte die Wissenschaft als Instanz der Erforschung »sekundärer und abgeleiteter Details« verstehen (ebd.). Dennoch zeigte Kant wie auch seine Nachfolger großes Interesse an den Naturwissenschaften und ihrer Erforschung einer vermeintlich nur phänomenalen Welt. Kants Bewunderung bei der Betrachtung des Sternenhimmels396 gilt Whitehead als »ein Triumph des Offensichtlichen über den philosophischen Standpunkt« (ebd.). Es ist nicht zuletzt das Offensichtliche, das Whitehead gegen Kants Philosophie zur Geltung bringen will. Eine der neun »Denkgewohnheiten« (habits of thought), die Whitehead in seiner Organismusphilosophie zurückweisen oder überwinden 396

Kritik der praktischen Vernunft, Beschluß.

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will, ist »die Kantsche Lehre von der objektiven Welt als theoretischem Konstrukt aus rein subjektiver Erfahrung« (PR, xiii / 24). Diese Position zählt Whitehead zu den »Mythen«, mit denen sich die Philosophie des 19. Jahrhunderts den Zugang zu den »gewöhnlichen, eigenwilligen Tatsachen des Alltagslebens verbaut« (ebd.), und bringt so zum Ausdruck, daß Kants Philosophie dem common sense nicht entspreche. Vor allem Descartes, der die Wahrnehmung im Sinne Humes – d. h. auf der Grundlage von Sinneseindrücken und von Vorstellungen, die diese Sinneseindrücke repräsentieren – erklärt, zusätzlich aber den Spezialfall einer Reflexion annimmt, die auf einer inspectio und einem iudicium beruht und aus dem Geist hervorgeht, bereitet Kants »Degradierung der Welt zu einer ›bloßen Erscheinung‹« den Weg (PR, 49 / 109). Diese Degradierung verdankt sich für Whitehead der Fehlannahme einer Konstituierungsleistung des erkennenden Subjekts. Bei Kant spielt aus der Sicht Whiteheads der für die Organismusphilosophie zentrale Prozeßbegriff im wesentlichen für den Vorgang des Denkens (thought) eine Rolle (PR, 152 / 285), der für Erfahrung konstitutive Prozeß wird hauptsächlich »in Form von Denkweisen interpretiert« (PR, 113 / 218). Whitehead sieht hierin offenbar eine ähnliche intellektualistische Verkürzung wie in der Konzentration auf die bewußte Erfahrung bei Descartes, Locke und Hume. Die Organismusphilosophie vollzieht die Trennung von Ideen und dem Bewußtsein, dem Whitehead eine untergeordnete metaphysische Stellung zukommen läßt (PR, 139 / 264). Er will Kants KrV durch eine »Kritik des reinen Empfindens« (critique of pure feeling) ersetzen, die mit dem (beiläufig erhobenen, aber nicht erläuterten) Anspruch verbunden ist, auch Kants übrige Kritiken zu ersetzen (ebd.).397 Whiteheads Konzeption geht also nicht von einem Prozeß des Denkens, sondern von einem Prozeß des Empfindens (feeling) aus, »in dem das Empfundene nicht notwendigerweise analysiert« werde (PR, 153 / 288). Eben hierin liegt für ihn der Unterschied zum Verstehen (understanding),398 bei dem das Verstandene, soweit es verstanden wird, im-

397

In diesem ehrgeizigen Anspruch spiegelt sich Whiteheads universalistische Grundintention wieder, wonach die Grundbegriffe einer philosophischen Kosmologie so zu bilden seien, daß sie in allen Bereichen der Erfahrungswirklichkeit, also auch in Ethik und Ästhetik, als Interpretationsmodell dienen können. Indessen erscheint es Lucas (1990), 16, keinesfalls klar, ob Whitehead mit den anderen kritischen Schriften Kants überhaupt vertraut war. 398 Whitehead scheint hier den Begriff »verstehen« in gleicher Weise wie vorher den Begriff »denken« als Gegenbegriff zu »empfinden« zu verwenden.

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mer analysiert wird. Das Verstehen begreift Whitehead lediglich als eine besondere Form des Empfindens, wie auch Erfahrung bei Descartes und Hume nur ein spezieller Typ von Erfahrung im Sinne Whiteheads ist. Für seine Auffassung, daß das Empfundene nicht notwendig analysiert werde, nimmt er wiederum Kant selbst in Anspruch, indem er dessen »Transzendentale Ästhetik« als eine Lehre liest, wonach »in der Anschauung ein komplexes Datum als eines angeschaut« (ebd.), d. h. insbesondere nicht analysiert wird. Gleichwohl ist auch hier die Grundkonzeption eines »subjektiven Aneignungsprozesses« der Eindrücke als Daten durch die »Ordnung des Empfindens« präsent. Die Daten stehen aber, wie die Organismusphilosophie gegen Kant geltendmacht, ihrerseits in wechselseitigen Zusammenhängen (PR, 190 / 353) und werden in einem mehrstufigen Empfindungsprozeß von einer bloßen Potentialität zur »individualisierten Grundlage für eine komplexe Einheit der Realisierung« (PR, 113 / 218). Whiteheads neu und weiter gefaßter Begriff der Erfahrung bezeichnet den Prozeß der Konstituierung eines wirklichen Einzelwesens (actual entity).399 Eine solches Einzelwesen ist indessen im Stadium der Vollendung seines Konstituierungsprozesses nicht mehr aktual. Whitehead begreift es im Sinne Platons als niemals eigentlich seiend, weil sein Prozeß-Paradigma einen Stillstand auf der Stufe des Erreichten ausschließt. Dennoch geht die Organismusphilosophie von dem Abschluß des Werdeprozesses eines wirklichen Einzelwesens aus, den sie als Phase seiner Erfüllung (satisfaction) versteht (PR, 84 f. / 169). Dieser Begriff bezeichnet sowohl das Ziel eines wirklichen Einzelwesens – es hat seine individuelle Vollendung erreicht – als auch den Abschluß seiner Konstituierung – der Prozeß der Konstituierung liegt hinter ihm. Diesen Erfahrungsakt mit seiner abschließenden Erfüllung setzt Whitehead ansatzweise zu demjenigen Kants in Beziehung (PR, 155 / 290). Darin, daß Kants Erfahrungsakt »im wesentlichen Erkenntnis« sei, liegt, wie gesagt, ein grundlegender Unterschied zur Organismusphilosophie und ihrem erweiterten Erfahrungsbegriff, der die metaphysische Grundstruktur der Wirklichkeit erfassen soll. Für Kant »steckt alles, was nicht Erkenntnis ist, notwendig in den Anfängen und befindet sich bloß auf dem Weg zur Erkenntnis« (ebd.). Das Ende bzw. den Abschluß von Kants Prozeß der Erkenntnis bildet der »›erscheinende‹ objektive Inhalt in Form der ›Gegenstände‹« (ebd.). Diese Gegenstände des Kantschen Erkenntnisprozesses korrespondieren, folgen wir Whitehead, der Phase 399

Vgl. 3.3.3.

230

Geschichte der Philosophie

der Erfüllung in der Organismusphilosophie. Ausgangspunkt jenes Erkenntnisprozesses ist das Datum im Sinne der sensualistischen Philosophie Humes. Whitehead betont die Funktion der Sinneseindrücke als »Materie zur Erkenntnis« in Kants KrV (ebd.).400 Die Organismusphilosophie stimmt mit Kant darin überein, daß das Wirken der Begriffe ein wesentlicher Faktor in der Erkenntnis ist, so daß »Anschauungen ohne Begriffe blind sind«, wie Whitehead im Anschluß an Kant bemerkt (ebd.; vgl. 155 / 291). Allerdings will Whitehead diese bekannte Formel abweichend von Kant nicht im Sinne einer Trennung von Ideen und Bewußtsein verstanden wissen und vertritt daher gewissermaßen eine Kants eigenen Intentionen entgegengesetzte Auslegung. Für Whitehead sind Kants Gegenstände als Ergebnis des Erkenntnisprozesses »das Produkt des begrifflichen Wirkens […], wodurch die kategoriale Form in das Sinnesdatum eingeführt wird« (PR, 156 / 291). Ohne dieses begriffliche Wirken würde der Gegenstand nicht konstituiert, das Sinnesdatum würde »in der Form eines bloß raum-zeitlichen Flusses von Sinnesempfindungen angeschaut« (ebd.). Erkenntnis im Sinne Kants kommt also für Whitehead dadurch zustande, daß »dieser bloße Fluß durch begriffliches Wirken substantiiert wird« (ebd.). Erst begriffliches Wirken macht den Fluß der Sinnesempfindungen als einen »Nexus von ›Gegenständen‹« verständlich (PR, 156 / 292). Mit dieser eher rhapsodischen Schilderung will Whitehead das begriffliche »Wirken« als Konstituierungsleistung des erkennenden Subjekts bei Kant zur Geltung bringen. Derartige Kant-Bezüge Whiteheads sind kaum als Beitrag zu einem verbesserten Kant-Verständnis im engeren Sinn zu verstehen. Ginge es Whitehead um einen solchen Beitrag, hätte er gewiß einen anderen Zugang wählen müssen und können. Whiteheads skizzenhafte KantInterpretation wirft auch auf seine eigene Philosophie nur ein spärliches Licht. Plausibel werden hingegen Grundlinien von Whiteheads philosophiegeschichtlicher Gesamtperspektive: Der Subjektivismus des Descartes und die Zurückweisung metaphysischer Annahmen bei den engli400

Whitehead stützt sich auf folgende Kant-Zitate: »Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.« KrV, B 33; »[…] wo alsdann die Eindrücke der Sinne den ersten Anlaß geben, die ganze Erkenntniskraft in Ansehung ihrer zu eröffnen, und Erfahrung zu Stande zu bringen, die zwei sehr ungleichartige Elemente enthält, nämlich eine Materie zur Erkenntnis aus den Sinnen, und eine gewisse Form, sie zu ordnen, aus dem inneren Quell des reinen Anschauens und Denkens, die, bei Gelegenheit der ersteren, zuerst in Ausübung gebracht werden, und Begriffe hervorbringen.« KrV, B 118

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schen Empiristen hat bei diesen und demzufolge auch bei Kant zu einer Konzentration auf erkenntnistheoretische Problemstellungen geführt. Dem cartesischen Subjektivismus und seinen empiristischen Derivaten bei Locke und Hume fügt Kant in Form seiner Überbetonung der Konstituierungsleistung des erkennenden Subjekts aus Whiteheads Sicht eine dritte Fehlkonzeption hinzu. Gleichwohl kritisiert Whitehead hier nicht den Gedanken einer für Erfahrung wesentlichen Konstituierungsleistung als solchen, sondern die Richtung, die Kant für den Verlauf dieses Prozesses annimmt. Für Whitehead hat Kant »als erster vollständig und ausdrücklich die Konzeption eines Erfahrungsakts als ein konstruktives Wirken, das Subjektivität in Objektivität oder Objektivität in Subjektivität verwandelt«, in die Philosophie eingeführt (PR, 156 / 292). Aus Whiteheads Sicht ist also die Idee des konstitutiven Einbeziehens selbst bedeutsam, wodurch zugleich die Frage ihrer Richtung zentral wird. Bei Locke findet sich in vager und unvollständiger Form die Auffassung eines Subjekts, das sich im Erfahren seiner Objekte konstituiert. Locke kann daher zumindest als ein Vorbereiter der Organismusphilosophie gelten.401 Eine ausgearbeitete Fassung, die die gesamte Reichweite der Vorstellung des konstitutiven Einbeziehens erkennbar macht, ist Kant zu verdanken, der indessen den Konstituierungsprozeß in der aus Sicht der Organismusphilosophie verkehrten Richtung annimmt, wonach ein Subjekt seine Objekte konstituiert. Für Kant ist »der Prozeß, aufgrund dessen es Erfahrung gibt, ein Prozeß von der Subjektivität zur erscheinenden Objektivität hin. Die organistische Philosophie kehrt diese Analyse um und erklärt den Prozeß als einen Verlauf von der Objektivität zur Subjektivität, nämlich von der Objektivität, aufgrund derer die äußere Welt ein Datum ist, zu der Subjektivität, durch die es eine individuelle Erfahrung gibt.« (ebd.) Die hier verwendete Begrifflichkeit der Umkehrung verwendet Whitehead für das Verhältnis seiner Konzeption zu anderen philosophischen Ansätzen mehrfach, z. B. im Hinblick auf Descartes (PR, 151 / 283), Spinoza (PR, 81 / 163) und Bradley (PR, 200 / 371). Besonders deutlich und grundlegend erscheint Whiteheads Intention der Umkehrung jedoch bezogen auf Kant. Da Kant seiner KrV programmatisch das Anliegen einer ›kopernikanischen Wende‹ voranstellt, und da Whitehead mittels der beschriebenen Umkehrung ausdrücklich eine Rückkehr zu vorkantischen Denkweisen anstrebt (PR, xi / 22), könnte man, wie auch Holl in seinem Nachwort zu PR in Erwägung zieht, Whiteheads Ansatz als »›Emanzipa401

Vgl. 3.5.

232

Geschichte der Philosophie

tion des Kosmos‹ oder ›Abermalige Wendung der Kopernikanischen Wende‹« bezeichnen.402 Den Bezugspunkt bilden hier die folgenden Ausführungen Kants: »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten […]. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen.«403 Die hiermit wiederholt beanspruchte »Revolution der Denkart«404 trägt tatsächlich Züge einer wissenschaftlichen Revolution im Sinne Kuhns, die Whiteheads Anspruch nach in Form eines neuerlichen Paradigmenwechsels revidiert werden soll.405 Eine Übertragung von Kants kosmologischer Analogie auf Whitehead liegt schon insofern nahe, als es Whitehead in PR um den »Entwurf einer Kosmologie« (An Essay in Cosmology) geht. Whiteheads unkonventioneller Kosmologiebegriff ist freilich nicht auf die Stellung des Menschen in der Welt konzentriert – sein metaphysischer Ansatz verdankt sich der grundsätzlicheren und umfassenderen Perspektive eines Projekts mit universalwissenschaftlichen Zügen. 402

Holl (1979), 661. KrV, B XVI-XVII; auffallend und deshalb im Zitat hervorgehoben ist Kants wiederholte Redeweise von »Versuchen« philosophischer und wissenschaftlicher Konzeptionen, die Kants Vorrede durchgehend prägt. Wir sehen hier eine Parallele zu Whiteheads gegen die cartesischen Gewißheitsansprüche gerichtete und auf Platon zurückgeführte Betonung des hypothetischen bzw. provisorischen, sich von Dogmatismen distanzierenden Verständnisses von Philosophie und Wissenschaft; vgl. 3.3.1. 404 KrV, B XI ff. 405 Wiehl (1996), 354 ff., zieht verschiedene mögliche Auslegungen von Whiteheads erneuter kopernikanischer Wende in Betracht und zieht das Fazit: »Whiteheads zweite kopernikanische Wende ist eine prinzipielle Revision der Begriffe der Vernunft und der vernünftigen Subjektivität in Kants Transzendentalphilosophie.« (ebd., 374) 403

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Whitehead will also seine Organismusphilosophie als »Umkehrung von Kants Philosophie« verstanden wissen: »Die Kritik der reinen Vernunft beschreibt den Prozeß, durch den die subjektiven Daten in die Erscheinung einer objektiven Welt übergehen. Die organistische Philosophie möchte zeigen, wie objektive Daten in die subjektive Erfüllung übergehen und wie die Ordnung in den objektiven Daten für Intensität in der subjektiven Erfüllung sorgt. Für Kant entsteht die Welt aus dem anschauenden und denkenden Subjekt; für die organistische Philosophie entsteht das Subjekt aus der empfundenen Welt – eher ein ›Superjekt‹ als ein ›Subjekt‹.« (PR, 88 / 175) Aus der Konstituierungsleistung des erkennenden Subjekts im Hinblick auf die Objekte der Erkenntnis bei Kant wird also bei Whitehead eine Selbstkonstituierung des Subjekts in der Prehension seiner Objekte. Diese Selbstkonstituierung vollzieht sich im Rahmen eines die Erfahrungswirklichkeit durchgehend bestimmenden metaphysischen Prozesses.

Schluss

Die Philosophie ist seit alters her mit dem Anspruch aufgetreten, begründete Aussagen über die Welt als Ganzes zu machen. Die Geschichte der Philosophie ist jedoch geprägt von Objektverlusten, die diesem Anspruch entgegenstehen. Mit der Verselbständigung zentraler Gegenstandsbereiche und ihrer Ausgrenzung aus der Philosophie scheint zugleich deren Anspruch verlorengegangen, begründete Aussagen über die Welt als Ganzes zu machen. Der Übergang bestimmter Objektbereiche von einer Wissenschaft in eine andere hat zugleich zum Verlust dessen beigetragen, was man als Weltbild in einem umfassenden Sinn bezeichnen kann. Whiteheads späte Hauptwerke sind mit dem Anspruch verbunden, Objektverluste zu revidieren und ehemalige Objektbereiche der Philosophie zurückzugewinnen. Seine Konzeption einer philosophischen Kosmologie beruht nicht zuletzt auf einer Diagnose von Objektverlusten der Philosophie und, damit verbunden, auf einer kritischen Bestandsaufnahme des wissenschaftlichen Fortschritts sowie durch ihn bedingter Defizite von Weltbildern. Daß diese philosophische Kosmologie nach Whitehead einerseits nur historisch, d. h. anhand der Koordinaten schon vorliegender Kosmologien, gewonnen werden kann und andererseits nur hypothetisch, d. h. ohne den Anspruch definitiver Gewißheit, formulierbar ist, war in der vorliegenden Untersuchung zu zeigen. Im Zentrum der kritischen Rekonstruktion stand dabei Whiteheads Leitgedanke, daß – inhaltlich – eine Orientierung an historischen Koordinaten auf eine in komplexem Sinn platonische Kosmologie hinausläuft, und daß – methodologisch – deren Hypothesenstatus gleichfalls in Anschluß an Platon zu begründen ist. Die beschriebene Tendenz zu Objektverlusten der Philosophie kritisiert Whitehead ausführlich als eine die neuzeitliche Wissenschaftsentwicklung prägende ›bifurcation‹ der Wirklichkeit, die vor allem als ›bifurcation‹ der Wissenschaft, d. h. in der Abgrenzung von Geistes- und Naturwissenschaften, nach wie vor eine zentrale Orientierungsfunktion hat. Mit seinem Anliegen einer ›kosmologischen‹ Überwindung dieser verfestigten Terrainabgrenzung kommt Whitehead der heute schlagwortartig wiederholten Forderung Snows, die moderne Dichotomie der ›two cultures‹ zu überwinden, zuvor.406 Seine kritische Diagnose wird ergänzt 406

Snow (1959).

236

Schluß

durch Blicke hinter die Kulissen: Tendenzen zu Objektverlusten der Philosophie finden im Binnenbereich der verselbständigten Wissenschaften als Tendenz von Arbeitsteilung und Spezialisierung ihre Fortsetzung. Spezialisierung als Konzentration auf einen Gegenstandsbereich ist meist zwangsläufig mit der Konzentration auf eine bestimmte Methode verbunden; Gegenstandsselektion geht einher mit Methodenselektion. Whitehead macht – ganz ähnlich wie später Kuhn407 – darauf aufmerksam, daß Wissenschaftler nicht nur dazu neigen, an einer bestimmten, einmal funktionierenden Methode festzuhalten, sondern auch Wirklichkeitsbereiche, die mit dieser Methode nicht faßbar sind, zu vernachlässigen, auszuklammern, zu ignorieren. Ein scheinbar unabdingbares Spezialistentum erscheint Whitehead verhängnisvoll, denn es »bringt Intellektuelle wie in einer Schiene hervor. […] Befindet man sich nun geistig in einer Schiene, so heißt das, in der Betrachtung einer gegebenen Menge von Abstraktionen zu leben.« (SMW, 245 / 228) Wie die »Schiene« den Blick verengt und Fortschritt nur im Bereich eben dieser Schiene zuläßt, so bedeutet auch die Abstraktion eine perspektivische Beschränkung: Sie »abstrahiert von etwas, dem man keine weitere Beachtung schenkt.« (ebd.) Als Konsequenz fordert Whitehead eine Kritik der Abstraktionen. Diese obliegt der Philosophie als zugleich kritischer und systematisierender, d. h. verlorene Zusammenhänge und Dimensionen zurückgewinnender Instanz. Mit den Abstraktionen sind auch die Wissenschaften zu kritisieren, in denen diese Abstraktionen ihren Ort und ihren Ursprung haben und die damit, wie Husserl in Übereinstimmung mit Whitehead formuliert, den Blick auf deren »Sinnesfundament«, letztlich auf die »Lebenswelt«, verstellen.408 Programmatisch formuliert Whitehead den Anspruch der Philosophie, »die konkreten Fakten zu erleuchten, von denen die Einzelwissenschaften abstrahieren. Und die Einzelwissenschaften sollten ihre Prinzipien in den konkreten Fakten finden, die das philosophische System ihnen präsentiert.« (AI, 146 / 286) Als genuin philosophischen, den Einzelwissenschaften offenbar fremden Erkenntnismodus plädiert Whitehead für eine an Bergsons Begriff der Intuition409 orientierte intellektuelle Einfühlung. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Analyse, die einen Gegenstand auf seine Elemente zurückführt und ihn daher durch etwas ersetzt, was nicht mehr er selbst ist, und jenen letztlich nur noch symbolisch repräsentiert, nimmt diese 407 408 409

Kuhn (21976). Husserl (1954), 48f.; vgl. auch Paci (1961). Bergson (21912), 4f.

Schluß

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Intuition oder intellektuelle Einfühlung ihren Gegenstand als konkreten in den Blick. Mit Whiteheads Forderung nach einer Kritik der Abstraktionen, die zentrales Motiv seiner philosophischen Kosmologie ist, wird zugleich der traditionelle Anspruch der Philosophie erneuert, begründete Aussagen über die Welt als Ganzes zu machen. Als Instanz, die den Wissenschaften in der beschriebenen Weise kritisch und distanziert gegenüberstehen kann, ist für Whitehead die Philosophie – entgegen landläufiger Auffassungen – »mehr als eine Kollektion von noblen Sentiments« (AI, 98 / 219). Sie ist »zugleich allgemein und konkret« (ebd.); allgemein ist sie aufgrund der Universalität ihres Zugangs zur Erfahrungswirklichkeit, aufgrund ihrer erstmals bei Platon faßbaren Frage nach dem Allgemeinen, aufgrund ihrer die Wissenschaften transzendierenden Perspektive. Konkret ist sie, da sie sich auf die »unmittelbare Anschauung« bezieht, der sie »gleichzeitig kritisch und mit Achtung« gegenübersteht (ebd.). Für Whitehead besteht die Philosophie »aus einem Überblick über das Mögliche und seinem Vergleich mit dem Wirklichen« (ebd.) – die platonische Dichotomie von Idealem und Realem wird zum Substrat des Programms für Philosophie: »In ihr werden Fakten, Theorien, Alternativen und Ideale gegeneinander abgewogen. Sie vermittelt uns Einsicht und Voraussicht, und ein Gefühl für den Wert des Lebens, kurz, jenen Sinn für das Bedeutende, der allen zivilisatorischen Bemühungen den Antrieb gibt. Auf den niederen Niveaus des Lebens kommt die Menschheit gut mit barbarischen Bruchstücken von Gedanken aus. Aber auf der Höhe der Zivilisation ist das Fehlen einer zusammenfassenden und im ganzen Gemeinwesen verbreiteten Lebensphilosophie gleichbedeutend mit Dekadenz, Langeweile und dem Nachlassen der Anstrengungen. […] Die Philosophie macht den Versuch, die fundamentalen Überzeugungen zu klären, durch die die Ausrichtung unseres Bewußtseins und damit letztlich unser Charakter bestimmt wird.« (AI, 99 / 219 f.) Neben ihrem Sonderstatus innerhalb der Wissenschaften reicht die Philosophie zugleich über das Ganze der Wissenschaften hinaus, insofern sie für Whitehead die Aufgabe hat, eine Weltanschauung zu formulieren und wirksam werden zu lassen, in der es »Elemente der Verehrung und der Ordnung gibt« und die »von einer unerschrockenen Rationalität durchdrungen ist« (AI, 99 / 220). In einer solchen Weltanschauung sieht Whitehead das Wissen, das »Platon mit der Tugend gleichgesetzt hat« (ebd.). Hiermit ist die ethische Dimension angesprochen, die unverzichtbar ist, soll die Philosophie ihre von Whitehead geforderte Funktion »bei der Orientierung der menschlichen Zwecksetzung« wahrnehmen (AI, 99 / 221).

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Schluß

Whiteheads Anspruch an die Philosophie, für den eine Kritik der Abstraktionen wesentlich und richtungsweisend ist, resultiert ebenso wie seine kosmologische Konzeption selbst nicht aus einer Momentaufnahme, sondern aus einer historischen Analyse. In Platons Timaios erkennt Whitehead einen ersten Ansatz, begründete Aussagen über die Welt als Ganzes zu machen. Entsprechend bestimmt er die Aufgabe der Philosophie näher als den Versuch, durch geeignete Modifikationen der sieben platonischen Grundvorstellungen – Ideen, physische Elemente, Psyche, Eros, Harmonie, mathematische Beziehungen und Raum – zu einem kohärenten System zu gelangen (AI, 275 / 478). Wie ist diese Aufgabenstellung einer systematischen Synthese, die zugleich aus philosophiegeschichtlichen Metamorphosen erwachsen soll, abschließend zu verstehen? Versuchen wir eine Rekapitulation: Platon bildet für Whitehead den eigentlichen Anfang der philosophischen Tradition, die sich, wie seine Darstellung suggeriert, nach Art eines Organismus aus diesem Anfang entwickelt. Damit ist zugleich ein historiographisches Programm formuliert: Die Vorstellung einer ›simple location‹, einer isolierenden Betrachtung in Kategorien des hier und jetzt, muß Whitehead auch für die Philosophiegeschichte verfehlt erscheinen. Ihr Anfang, die sieben platonischen Grundvorstellungen, sind mit allen nachfolgenden Traditionen in einem nexus verbunden. Aber auch da, wo es nicht um historische Anfänge, sondern um epistemologische Voraussetzungen geht, kommt Platon für Whitehead ein Prinzipienstatus zu: Die für Philosophie maßgebliche spekulative bzw. theoretische Vernunft ist für ihn eigentlich »platonische« Vernunft; Kriterien, die für systematische Spekulation leitend sind, werden – wenngleich schemenhaft – erstmals bei Platon faßbar. Das platonische Denken und damit das ursprüngliche philosophische Problemreservoir beruht auf den genannten sieben Grundvorstellungen. Diese Grundvorstellungen, gleichsam Initialen der Philosophie, sind für sich unmittelbar einleuchtend, solange es nicht um »Details ihrer Koordination« geht (ebd.). Koordination ist erfordert, wenn ein System konstruiert werden soll, und ein System ist erfordert, wollen wir nicht bei einzelnen Inspirationen stehenbleiben. Platon hat uns kein System der Metaphysik hinterlassen – dies blieb und bleibt den nachfolgenden Traditionen vorbehalten. Für Whitehead spielen methodologische sowie sachliche Irrtümer und Fehlkonzeptionen bei Platons Nachfolgern eine entscheidende Rolle. Der Systembau ist, anders als diese Nachfolger selbst oft glaubten, indem sie sich um Gewißheit und Endgültigkeit bemühten, über ein Versuchsstadium nicht hinausgekommen. Manche der Nachfolger haben im trügerischen Gefühl von Ge-

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239

wißheit und Endgültigkeit Platons vorsichtige Zurückhaltung, seine Einsicht in das ›overstatement‹ übertriebener Gewißheitsansprüche vermissen lassen. Sie haben sich nicht mit platonischen Vorschlägen oder wahrscheinlichen Geschichten begnügt, sondern sich, geblendet durch die anscheinende oder vorgebliche Gewißheit, die in den Wissenschaften verfügbar schien, auf die Abstraktionen dieser Wissenschaften eingelassen und dabei die ureigenste Aufgabe der Philosophie, eine Kritik der Abstraktionen, aus dem Blick verloren. Im Einlassen auf naturwissenschaftliche Abstraktionen wurde die Philosophie oft weiter von der ursprünglichen Zielsetzung adäquater Kosmologien weggeführt, als die platonischen Grundbegriffe selbst in ihrer unsystematisierten Form es je waren. Die platonischen Grundbegriffe erweisen sich aus Whiteheads historischer Perspektive als genuine Elemente einer erst noch zu leistenden systematisch-philosophischen Synthese. Bei Platon selbst liegt kein eigentliches System vor, wohl aber die Idee eines Systems in Form sachlicher und methodologischer Prämissen. Whitehead erklärt es zur Aufgabe der Philosophie – nicht zuletzt auch zu seiner eigenen –, das von Platon initiierte, aber nicht realisierte System nachzuholen. Whiteheads eigenes System ist gleichwohl ebensowenig mit dem Anspruch verbunden, diese Aufgabe in definitiver Form einzulösen, wie er irgendeinem anderen System bescheinigen würde, diese Aufgabe je eingelöst zu haben. Initiiert duch die aristotelische Substanzmetaphysik hat für Whitehead die Philosophie einen Weg eingeschlagen, der den Gesichtspunkt einer universellen Bezogenheit der Erfahrungswirklichkeit sowie den platonischen Grundgedanken vom Sein als Werden preisgegeben hat. Bei Descartes verfestigt sich die aristotelische Substanzmetaphysik zum zentralen Paradigma, das nicht nur die Philosophie der Neuzeit im engeren Sinne, sondern auch den mechanistischen Materialismus der Newtonschen Kosmologie beherrscht. Locke, Leibniz und Hume formulieren in unterschiedlicher Weise eine Opposition gegen den traditionellen Substanzbegriff, gelangen aber nicht zu einer konsequenten Alternative, sondern nur zu fragmentarischen Ansätzen eines Prozeß-Paradigmas im Sinne der Organismusphilosophie. Auch Kant entwickelt mit seiner Grundannahme, wonach die Erfahrungswirklichkeit sich wesentlichen Konstituierungsleistungen des erkennenden Subjekts verdankt, einen Ansatz, der für die Organismusphilosophie nur in seiner – wiederum ›kopernikanischen‹ – Umkehrung tauglich ist: Das im erweiterten Sinne erfahrende Subjekt konstituiert sich selbst in der Perzeption seiner Umwelt, mit der es sich organistisch synthetisiert. So konnte die neuzeit-

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liche Philosophie in ihren entscheidenden Etappen, an gleichsam topographischen Punkten ihrer Geschichte, nur Fußnoten zu Platon formulieren, dessen Philosophie aber weder ersetzen noch überbieten noch wenigstens eine Konzeption vorlegen, die Whiteheads im Kern platonischen Anforderungen an ein spekulatives System hätte genügen können. Die Aufgabe der Philosophie, ein umfassendes System unserer Erfahrungswirklichkeit zu entwickeln, läßt sich, wie Whitehead aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive in kritischer Zuspitzung gegen Descartes vor Augen führt, nicht voraussetzungsfrei realisieren. Der Versuch der voraussetzungsfreien Konstruktion eines Systems würde die Philosophie zwei Vermittlungsaufgaben gleichermaßen verfehlen lassen, nämlich die Aufgabe der Vermittlung zwischen ihren eigenen Konzeptionen und denen der Wissenschaften, sodann die zwischen ihren jeweils gegenwärtigen Konzeptionen und den Konzeptionen der Vergangenheit, an die sich immer wieder neue Konzeptionen in der Form weiterer Fußnoten anschließen. In Whiteheads Fußnoten-These kulminiert der Appell an die Besinnung auf die unabdingbare Voraussetzungshaftigkeit der Philosophie. Trotz seiner Erklärung, die Fußnoten-These behaupte keinen sich ausdifferenzierenden Platonismus, verfällt Whitehead in seiner philosophiegeschichtlichen Synopsis immer wieder in Standards einer platonistischen, Sein und Werden identifizierenden Metaphysik. Deshalb ist Whitehead aber kaum der Vorwurf der Inkonsequenz oder der Widersprüchlichkeit zu machen. Bereits im Rahmen der Selbstinterpretation seiner Fußnoten-These betont Whitehead das ›sowohl als auch‹ des mit ihr Gemeinten: Die generelle, als einheitlich verstandene und von Platon maßgeblich initiierte europäische Geistestradition einerseits und Platons Begründung des speziellen metaphysischen Prozeß-Paradigmas, das für Whiteheads eigene Konzeption wegweisend ist, andererseits. Beide Aspekte ergänzen sich in Whiteheads Darstellung immer wieder – besonders in den Bezügen auf Platon und auf Locke als dessen neuzeitlichem Pendant, indem beide einerseits allgemein als geistesgeschichtliche Schlüsselfiguren und andererseits als Protagonisten eines konkreten, allerdings nur unvollkommen ausgestalteten Prozeß-Paradigmas angeführt werden, das zu neuen Fußnoten herausfordert. Die Fußnoten-These ist, wie gezeigt wurde, mehr bzw. etwas anderes als ein Bonmot. Sie ist eine sachhaltige, ernstgemeinte und ernstzunehmende philosophiegeschichtliche These. Als solche ist sie Gegenstand einer Selbstinterpretation Whiteheads, wobei diese Selbstinterpretation nur kurz und vage ist. Die Vagheit der Fußnoten-These macht zugleich

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ihre Stärke und ihre Schwäche aus. Die Stärke kommt darin zum Ausdruck, daß die Fußnoten-These in unterschiedlichem Sinn und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen aufschlußreich interpretierbar ist. Aber auch die Schwäche ist evident: Ihre metaphorische Vagheit hat dazu geführt, daß man die Fußnoten-These nicht immer ernstgenommen hat, oder daß man nicht recht wußte, was mit ihr gemeint sein soll. Zuweilen hat man dies wohl auch nicht recht wissen wollen, zugleich die These aber als attraktiv genug empfunden, um im wissenschaftlichen Diskurs auf sie zurückzugreifen. Jedenfalls haben die Interpreten die Fußnoten-These, sofern sie diese überhaupt ernstgenommen haben, viel stärker nach ihrem eigenen Platon-Verständnis und ihrer eigenen Sicht der philosophischen Tradition ausgelegt als nach dem Platon-Verständnis und der Traditionswahrnehmung Whiteheads. So häufig nämlich die Fußnoten-These aufgegriffen wurde, so wenig wurde die Frage gestellt, wie Whitehead selbst sie eigentlich verstanden haben mag. Dies liegt auch darin begründet, daß diejenigen Whitehead-Interpreten, die an systematischen Fragen seiner Philosophie oder Kosmologie interessiert sind, dabei seine philosophiegeschichtliche Sichtweise für eher unerheblich, zuweilen sogar hinderlich, halten. Wer sich hingegen mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt, meint oft, Whiteheads entsprechende Perspektiven übergehen zu können, da Whitehad als Leser der Philosophiegeschichte nicht ernstzunehmen sei. So laufen beide Gruppen, die systematisch interessierten Interpreten ebenso wie die Philosophiehistoriker, gleichermaßen Gefahr, eine entscheidende Intention Whiteheads zu verfehlen. In welchem Maße die genannten Untersuchungsperspektiven zusammenfallen bzw. sich gegenseitig ergänzen, sollte die vorliegende Untersuchung gezeigt haben. Das Zusammenfallen von historischer Perspektive und systematischem Anliegen erwies sich nicht zuletzt in der Rekonstruktion von Whiteheads Kriterien für spekulative Philosophie, die sowohl für seine eigene Konzeption gelten sollen als auch den Bewertungsmaßstab für Konzeptionen der Vergangenheit repräsentieren. Im Zuge dieser Synthese entwickelt Whitehead ein philosophisches System von der Geschichte der Philosophie aus und nähert sich komplementär der philosophischen Tradition unter dem Blickwinkel seiner eigenen metaphysischen Konzeption. Ein kritisches Fazit könnte lauten: Die Fußnoten-These bleibt in ihrer Prägnanz und Plausibilität hinter sonstigen philosophiegeschichtlichen Einzelanalysen Whiteheads ebenso zurück wie hinter seiner systematischen Konzeption. Diese Sichtweise würde aber verkennen, daß die son-

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stigen philosophiegeschichtlichen Analysen ebenso wie die systematische Konzeption letztlich im Dienste der Fußnoten-These stehen. Das macht Whitehead zwar nicht ausdrücklich, etwa über explizite Rückgriffe auf diese These, deutlich, aber jedenfalls implizit. Die Organismusphilosophie selbst schließlich – ihrerseits von Whitehead eingerückt in eine platonische Traditionslinie – bildet von vornherein den systematischen Horizont der Fußnoten-These. Was kann der Grund dafür sein, daß Whitehead nach der zentralen Einführungsstelle nicht mehr ausdrücklich auf die Fußnoten-These zurückkommt? Ist sie nebensächlich, marginal, ein ad hoc-Einfall, der weiterhin unwichtig wird? Hat Whitehead selbst die Fußnoten-These in ihrer Reichweite und Valenz schlicht überschätzt? Oder ist umgekehrt die These von so zwingender Evidenz, daß auf sie gar nicht mehr verwiesen und eingegangen werden müßte? Whitehead versteht die Fußnoten-These offenbar nicht so, daß sie ausdrücklich im Rahmen philosophiegeschichtlicher Rückblicke verifiziert bzw. eingelöst werden müßte. Vielmehr hat sie die Aufgabe einer grundlegenden Richtungsweisung im Hinblick darauf, was die Einheitlichkeit der systematischen Perspektive und ihrer philosophiegeschichtlichen Fundierungen ausmacht. Insofern läßt sich geradezu sagen, daß Whitehead der Versuchung eines wiederholten Aufgreifens der Fußnoten-These widersteht. Es geht ihm nicht darum, die These an der Oberfläche seiner Ausführungen – und damit eben auch ›oberflächlich‹ – einzulösen. Fußnoten zu Platon wurden und werden für Whitehead schließlich auch dort verfaßt, wo weder von Platon noch von der platonischen Philosophie ausdrücklich die Rede ist. Nur in einem spezifischen, abgeschwächten Sinn ist in der Fußnoten-These die Behauptung einer Abhängigkeit zu sehen. Entsprechend kann sich die Fußnoten-These auch dort als signifikant erweisen, wo sie sich ohne ausdrückliche Anführung im philosophiegeschichtlichen Rekurs bewährt und bestätigt. Die Fußnoten-These bewährt und bestätigt sich insbesondere in Whiteheads eigener Konzeption, in der sich somit zwei Aufgabenstellungen an die Philosophie als weniger gegensätzlich erweisen, als dies zunächst den Anschein haben mag: Die Philosophie soll einerseits – in neuartiger Akzentuierung – eine Wissenschaftssynthese leisten und sogar ein Weltbild produzieren, andererseits – in prinzipieller Angewiesenheit auf ihre Tradition – Fußnoten verfassen zu einem kosmologischen Ur- oder Vorbild, dem Timaios, der sich seinerseits dem Anspruch, begründete Aussagen über die Welt als Ganzes zu machen, lediglich in Form »wahrscheinlicher Geschichten« annähern konnte. Das genuin pla-

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tonische Potential der Philosophie erweist sich in Whiteheads historischem Rückblick als tragfähig genug, den in fragmentarischen Abstraktionen befangenen Einzelwissenschaften zugleich kritisch distanziert und produktiv überbietend eine philosophische Kosmologie, ein Weltbild im Sinne einer Gesamtinterpretation unserer Erfahrungswirklichkeit, entgegenzusetzen.

Literaturverzeichnis

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Personenregister

Adam, Ch. 139 Aischylos 65 Alexander, S. 196 Anaxagoras 33 Apelt, O. 128 Archimedes 69 f. Archytas 55 Arieti, J. A. 30 Aristoteles 18 f., 33 f., 36, 40, 51 f., 54 f., 57–59, 69 f., 76–78, 113, 117 f., 120, 126, 128, 130–138, 140, 142, 146, 154 f., 168 f., 180, 190, 193 f., 208, 211, 239 Augustinus 42, 147, 152 Ayer, A. J. 72, 111f. Bacon, F. 79, 178 Balz, A. G. A. 165 Bergson, H. 6, 20, 189, 196, 236 Berkeley, G. 5 f., 140, 160, 166, 227 Böhme, G. 20, 131, 135, 154, 220 Bradley, F. 6, 19, 231 Braeckman, A. 3–5, 7 Braun, L. 13, 22, 33, 83, 140, 213 Bröcker, W. 43 Brumbaugh, R. S. 30 Bubser, E. 2 f., 44, 74, 80, 95, 99–101, 107, 109–111, 113, 124 Buchenau, A. 155, 164, 206 Cassirer, E. 134 Cesselin, F. 165 Charon, J. 92 Christian, W. A. 129 Clarke, B. L. 105, 110 f. Dalton, J. 186 Demokrit 33, 93, 207

Descartes, R. 4, 6–10, 16, 18 f., 21, 67, 85, 112, 131 f., 138, 140–143, 146–174, 176–180, 188–190, 192 f., 196, 199, 201, 204 f., 208 f., 214, 218–221, 225–231, 239 f. Dewey, J. 20 Emmet, D. 3, 117, 119 Empedokles 33 Epikur 67, 77, 93 f., 126 Euklid 113 Euripides 65 Felt, J. W. 165 Ferber, R. 26, 32 Fetz, R. L. 19 f., 34, 106, 109, 126, 130, 131, 134, 135 f., 158, 172, 204, 222 Flew, A. 217 Ford, L. S. 3, 117 Fresco, M. F. 27, 31, 34 Friedländer, P. 29 Gadamer, H.-G. 11, 29, 38 Gäbe, L. 139 Galilei, G. 69, 118, 142, 164, 175, 178 Gassendi, P. 203 Geldsetzer, L. 13, 22, 83 Gerhardt, C. J. 205 Gibson, J. 203 Görgemanns, H. 34 Gracia, J. J. E. 13, 22 Griffin, D. R. 170 Halfwassen, J. 34, 51 Hampe, M. 7, 17, 20, 67 f., 71, 79, 165

Personenregister

Hare, R. M. 31, 36, 114 Hartmann, N. 87 Hauskeller, M. 3, 27, 36, 108 Hegel, G. W. F. 5 f., 15, 19, 85, 140 Heinekamp, A. 212, 213 Heisenberg, W. 118 f. Heitsch, E. 32 Heraklit 33, 119 Hipparchos 55 Hobbes, Th. 160, 227 Holl, H. G. 16, 92, 95, 127, 129, 156, 215, 231 f. Holz, H. 3, 5 Holz, H. H. 211 Horstmann, R.-P. 156 Hume, D. 6 f., 9 f., 18 f., 22, 38 f., 65, 85, 131, 140, 154, 166, 188, 190 f., 196, 199, 201, 206, 214–226, 228–231, 239 Husserl, E. 236 Huyghens, Ch. 142, 178 James, W. 6, 20 f., 39, 161, 162, 222 Jowett, B. 59, 124 f., 148 Kabitoglou, D. 31 Kanitscheider, B. 92, 118 Kann, Ch. 198, 204 Kant, I. 4, 6, 8, 18, 22, 32 f., 83–85, 87, 97 f., 140, 160 f., 166, 227–233, 239 Kasprzik, B. 107 f., 110 Kather, R. 88, 119 Kepler, J. 118, 142 Kobusch, Th. 26–28 Körner, S. 97 Kolmer, P. 13, 83 Kopernikus, N. 88, 232 Kraut, R. 26, 30 f. Kuhn, H. 34 Kuhn, T. S. 14, 80, 152, 232, 236 Lachmann, R. 72, 83 Lavoisier, A. L. 175

251

Leclerc, I. 92, 117, 129, 135, 143, 167 Leibniz, G. W. 6, 19, 50, 68, 127, 138, 140, 142, 161, 166, 204–214, 239 Lichtigfeld, A. 204 Lindsey, J. E. 170 Locke, J. 6 f., 9 f., 18 f., 22, 33, 39, 113, 131, 138, 140, 154, 164, 166, 178, 183, 188–204, 206, 214 f., 220, 225, 228, 231, 239 f. Lotter, M.-S. 38, 97, 170, 221 Lovejoy, A. O. 26, 183 Lowe, V. 2, 6, 117, 188, 222 Lucas, G. R. 3–5, 7, 228 Lukrez 67, 93 f., 127, 204 f., 207 Manasse, E. M. 51 Martin, G. 34, 36 Meier, Ch. 36 Merrill, K. R. 214 Meurers, J. 92 Mill, J. S. 180 Mittelstraß, J. 92 Mojsisch, B. 26–28 Mooney, T. 135, 204 Müller, O. 20 Neville, R. C. 17 Newton, I. 3, 6, 18 f., 63, 67 f., 90, 94 f., 120–123, 127, 142, 150, 160, 163, 175, 177 f., 181 f., 185, 204 f., 209, 239 Nicolaus Cusanus 142 Noonan, H. W. 33 Odysseus 40, 75 Paci, E. 236 Parmenides 26, 32 f. Parmentier, A. 129, 188 Pasteur, L. 186 Peirce, Ch. S. 110 Perikles 45 f. Platon 2, 6 f., 9–11, 18 f., 24–36,

252

Personenregister

40–60, 63, 67 f., 73, 75–77, 81, 90, 92, 93 f., 113–115, 117–130, 136–138, 140, 147 f., 149 f., 163, 187, 189, 203, 210, 213 f., 229, 232, 235, 237–242 Popper, K. R. 152 Poser, H. 68, 96–98, 111, 213 Ptolemaios 55 Pythagoras 33, 55, 118, 142, 189

Snow, C. P. 235 Sokrates 36–38, 44, 46 Sophokles 65 Specht, R. 7, 9, 189, 201–203 Spinoza, B. 67 f., 112 f., 138, 140, 142, 155 f., 159, 166, 231 Stegmaier, W. 3, 5, 7, 21 f., 129, 135, 137, 201 Stevenson, Ch. L. 46 Strawson, P. F. 97

Ramsey, F. P. 111 Rapp, F. 4 f., 92 Robinson, R. 36 Rombach, A. H. 134 Rorty, R. 13, 135, 137 Russell, B. 16, 38, 72, 205 Rust, A. 104

Tannery, P. 139 Taylor, A. E. 91 Taylor, H. O. 6 Theaitetos 147, 148 Thomas von Aquin 140 Thukydides 45 f. Timaios 147

Sandkühler, H. J. 13 Sandvoss, E. 30 Santayana, G. 6, 159 Schelling, F. W. J. 15 Schleiermacher, F. 73, 128 Schneewind, J. B. 13 Schneider, U. J. 13, 83 f. Schrag, C. O. 222 Schüling, H. 143 Skinner, Q. 13 Snell, B. 36

Wein, H. 88 Weizsäcker, C. F. von 27, 92, 118 Welker, M. 92, 108 f. Welten S. J., W. 7, 38, 214–218, 220–222 Wiehl, R. 5, 78, 232 Wieland, W. 25 f., 34, 36, 38, 43 Wittgenstein, L. 32 Wolff, Ch. 86 f., 150 Wolf-Gazo, E. 3, 5, 6, 87, 117 f.

Sachregister

Abstraktes / Konkretes (vgl. Ideales) 129 f., 160 Abstraktion (vgl. Kritik der Abstraktionen) 4, 17, 24, 58–61, 104, 121 f., 128, 132, 138, 142, 150, 152, 159 f., 163, 169, 172, 174, 182, 185 f., 211, 236, 239 Adäquatheit 14, 47, 98, 103–106, 108–111, 113, 115, 127, 150, 182, 185, 189 f., 194, 198, 214, 223, 239 Allgemeines 36 f., 237 Antike 88, 126, 142, 168 Anwendbarkeit 47, 80, 98, 103–106, 108–111, 113 f., 121, 182, 190, 226 Auferlegtheit (der Naturgesetze) 42, 53, 66–68, 93 f., 124, 210 Bewußtsein 95, 159, 161 f., 167 f., 172–174, 179, 183, 199, 200, 205, 208, 215, 225 f., 228, 230 ›bifurcation‹ der Wirklichkeit 16, 79, 150, 156, 161, 165–167, 191 f., 235 Dialog 33, 38–40, 213 –, platonischer 36–38, 44, 46, 76, 125 f. Drama, griechisches 65 f., 88, 168 Dualismus 18, 112, 150 f., 153, 155–162, 166 f., 172, 179, 192, 200 f., 204 Einzelwesen, wirkliches 106 f., 121, 130 f., 133–136, 170 f., 188, 192–199, 204 f., 207–209, 211, 229 Empfinden, Empfindung 22, 174, 196, 208, 228 f.

Erfahrungsbegriff, neugefaßter bzw. erweiterter 22, 170 f., 173 f., 199 f., 229 Eros 51, 53, 114, 238 Evolution(stheorie) 72, 74, 78, 80 f., 99 f., 121–123 Externalismus / Internalismus 14 f., 24 Fragen 35–39, 54 Freiheit 43, 45–47 Funktion 71, 162 Fußnoten(-These) 2, 9 f., 22, 24–37, 39–41, 52, 58, 60, 118, 130, 137, 146 f., 203, 240–242 Gedankenschema vgl. Schema Gegenstände, zeitlose 129, 196–198 Gelehrsamkeit 40–42, 76 f. Geschichte (vgl. Ideen-, Philosophie-, Natur-, Wirkungs-, Wissenschafts-, Zivilisationsgeschichte) 11, 23 f., 56, 83, 85, 212 Geschichten, wahrscheinliche (vgl. Wahrscheinlichkeit) 42 f., 121, 147 f., 239, 242 Gewißheit(sansprüche) (vgl. Wahrscheinlichkeit) 21, 39, 139–141, 146 f., 148 f., 168, 232, 235, 238 f. Griechen 44, 54 f., 69 f., 82, 85 f., 88, 100, 113, 115, 119, 128, 132, 151, 154 Harmonie 45, 49, 51 f., 54, 56–58, 114, 238 Hypothesen(anspruch) 8, 36, 39, 41, 43, 54, 60, 70, 97, 145, 213 f., 232, 235

254

Sachregister

Ideales (vgl. Abstraktes / Konkretes) 34, 45, 129 f., 237 Ideen 28, 49, 67, 77, 99, 102 f., 108 f., 112, 140, 158, 193–196, 199, 215, 228, 230 –, partikulärer Dinge 190 f., 194, 198, 200 –, platonische 51–54, 114, 120, 128 f., 238 Ideengeschichte (vgl. Geschichte) 11f., 23 f., 43, 138 f., 141 Immanenz (der Naturgesetze) 42, 53, 66–68, 93 f., 121, 124 f., 127 Induktion 219 Inkohärenz (vgl. Kohärenz) 42, 68, 106, 112, 129, 155 f., 159, 190, 194 Instinkt 63–65, 69 f. Internalismus vgl. Externalismus Interpretation 103 Kausalität 216, 218 f., 222–226 Kohärenz (vgl. Inkohärenz) 14, 17, 41 f., 47, 50, 81, 101–114, 155, 163, 190, 198, 200, 210, 214, 238 Konkretes vgl. Abstraktes kopernikanische Wende 18, 231 f., 239 Kosmologie(begriff) 3, 63, 67, 86–90, 92–96, 104–106, 113, 118, 120–122, 125–129, 142, 150–153, 162, 167, 175–178, 181 f., 187, 232, 235, 238 f., 241 f. Kosmologie, philosophische 14, 17, 19, 42, 79, 87 f., 90–94, 117 f., 139, 192, 204, 228, 235, 237, 243 Kosmos 43, 52, 73, 87 f., 119, 121 Kraft(begriff) 175, 197 f. Kritik 44 f., 75, 89, 91, 94, 140 f., 146 –, der Abstraktionen (vgl. Abstraktion) 17, 60, 121, 135, 143, 236–239

Logik (Spekulationskriterium) 103–105, 109, 111 –, des Entdeckens 100, 106, 113 Lokalisierung, einfache 131f., 176–178, 180–183, 185–187, 209, 218 f., 238 Materialismus, mechanistischer 19, 146, 153, 160, 176, 177–185, 187, 204, 211, 218, 239 Materie(begriff) 126, 128, 153, 162–164, 166, 176–179, 181, 184 f., 206, 211, 218 Mathematik 55, 57–59, 141–144, 151, 189 mathematische Verhältnisse 51 f., 55 f., 58 f., 114, 122, 238 Mechanizismus 18, 176, 179, 181, 183 Metaphysik (vgl. Substanzmetaphysik) 2–4, 7, 15, 22 f., 34, 36, 49–51, 54, 57, 85–87, 90, 107 f., 111, 114 f., 119–123, 131 f., 134–138, 145 f., 149 f., 154, 159, 161, 163, 167, 169 f., 175, 191 f., 195, 199–201, 203–205, 219–221, 226f., 232 f. –, revidierbare 96 f., 111 Methode 79–82, 106, 236 Mittelalter 64, 66, 69 f., 88, 113, 131, 137, 140, 142, 151, 155 Moderne 18, 131 f., 170 f., 175 f. Monaden(lehre) 19, 166, 204–210, 212 f. Monismus 150 f., 155 f., 159, 166, 192, 204 Naturgeschichte (vgl. Geschichte) 14, 83 f. Naturgesetze 42, 66–68, 70, 93 f. Neuplatonismus 142 Neuzeit 88, 140 f., 150, 167, 235, 239 f. Notwendigkeit (Spekulationskriterium) 103, 111

Sachregister

Objekte, ewige vgl. Gegenstände, zeitlose Ordnung (der Natur) 52 f., 63–66, 69 f., 119, 123, 219 Organismus(begriff) 72–74, 78, 80, 134, 172, 182, 185–188, 200, 203 f., 211 f., 226, 238 Organismusphilosophie (-konzeption, organistische Philosophie) 9, 18 f., 22, 34, 117, 123, 129 f., 132–134, 136, 151, 159, 162 f., 170–172, 174, 183, 187, 191–193, 195–205, 208 f., 211 f., 214, 222, 226–231, 233, 239, 242 Partikuläres vgl. Universalien Philosophiegeschichte (-tradition) (vgl. Geschichte) 1–35, 39, 52, 60, 72, 83–86, 94, 101, 112, 115, 117 f., 131 f., 136–141, 145, 150 f., 153, 166, 168, 189, 202–204, 212 f., 225, 227, 230, 235, 238, 240–242 Physis 56 physische Elemente bzw. Bestandteile 51–53, 56, 114, 121, 128, 238 Platonismus 28, 60, 104, 120, 240 Positivismus 66 f., 74, 79, 83, 85, 94 Prehension 134, 171 f., 174, 183, 193, 195 f., 199, 201, 208 f., 221, 223, 226, 233 Prinzip, ontologisches 170 f. –, subjektivistisches / umgestaltetes bzw. reformiertes subjektivistisches (vgl. Subjektivismus) 169–171, 183, 188, 190 f., 220 f. Prozeß 29, 43, 56, 107, 120, 132, 134, 136 f., 163, 173 f., 185, 187 f., 195, 197, 225, 228 f., 231, 233, 239 f. Prozeßphilosophie 117 f., 137 f. Psyche 44f., 51–53, 68, 114, 238

255

Qualitäten, primäre / sekundäre 163–165, 178 f., 181 Raum(begriff) (vgl. Worin) 51 f., 114, 126–128, 176 f. 180–183, 185, 211, 218, 230, 238 Realismus, provisorischer 97, 148 f., 214 Reduktion(ismus) 160 f., 167, 173, 227 Relation (Beziehung) 19, 49 f., 66, 125 f., 132 f., 155 f., 158, 166, 176–178, 180 f., 187, 196, 198, 208–211, 218, 220 Renaissance 77, 128, 151 Schema (Gedankenschema) 95–98, 105 f., 108, 151 –, kosmologisches 78, 86, 95, 99–101, 103 f., 107, 115, 184 –, logisches 101, 103, 106, 113 –, metaphysisches 153 –, spekulatives 99, 103, 108, 112 f., 115, 145, 184 Sensualismus 221 f., 225, 230 Skeptizismus 47, 221 Spekulation (spekulative Philosophie) 10, 15, 21, 37, 40–42, 46, 57, 66 f., 76 f., 83, 85 f., 91, 100, 103, 109, 115, 142, 146, 148, 160, 203, 213, 227, 238, 240 f. Subjektivismus (vgl. Prinzip, subjektivistisches) 18, 138, 150, 158, 165, 167–171, 176, 183, 205, 219–221, 226, 230 f. Subjekt-Prädikat-Struktur 132, 154, 156, 180, 219 f. Substanz(begriff) 16, 19, 86, 120, 126, 130–138, 146, 153–163, 168 f., 177 f., 180 f., 188, 191–194, 196, 198, 201, 206–212, 219 f., 227, 239 Substanzmetaphysik (vgl. Metaphysik) 34, 134–136, 138, 151, 154, 188, 190, 198, 203, 211, 220, 239

256

Sachregister

Substanz-Qualitäts-Schema 125 f., 132, 135, 146, 154 f., 157, 159 f., 163, 167, 169–171, 183, 188, 190 f., 194, 198, 200, 208, 211, 220 System (Systematisierung, Systematik) 33, 41 f., 51, 77, 82, 95, 99, 102–115, 138, 143–146, 149, 190, 212 f., 238–241 –, primäres / sekundäres 111 f.

Verstehen 228 f. vollständiges Faktum 59–61

Überredung 48–50, 53 f. Überzeugung 35, 48, 52–54 Universalien 169, 194, 220 f.

Wahrheitsanspruch 13 f., 39, 41, 43, 112, 213 Wahrscheinlichkeit (vgl. Geschichten, wahrscheinliche; Gewißheit) 42 f., 148 f., 213 Werden 19, 29, 43, 106 f., 119 f., 125, 136, 163, 198, 229, 239 f. Wiederholung 217 f. wirkliches Einzelwesen siehe Einzelwesen, wirkliches Wirkungsgeschichte (vgl. Geschichte) 11, 26, 34, 36, 138 Wissenschaftsgeschichte (vgl. Geschichte) 12–14, 17, 23, 25, 32, 39, 58, 63, 68, 139, 150 f., 161, 167, 227 Worin (vgl. Raum) 52, 56, 114, 126–129, 180, 210

Verallgemeinerung 23, 106, 144, 169, 176, 183, 192 f., 203 Vernunft 71–73, 83–85, 99 f. –, praktische (odysseische) 40, 71–81, 83, 100 –, theoretische (spekulative, platonische) 40 f., 70–78, 81–83, 86, 91, 96, 100, 113, 238

Zeit 176–178, 180, 182 f., 211, 218, 230 Zivilisation 43–46, 48 f., 64, 77, 237 Zivilisationsgeschichte (vgl. Geschichte) 12, 14, 24, 30, 63, 74, 76, 99, 212 Zweiteilung der Wirklichkeit siehe ›bifurcation‹ der Wirklichkeit

Teleologie (Final- bzw. Zweckursächlichkeit) 34, 78 f., 130, 163, 182 Theoriengeleitetheit der Beobachtung 23 f., 97 f. Toleranz 41, 45–47