Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie: Teil 2 Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen [Reprint 2014 ed.] 9783110204803, 9783110181784

Th. A. Szlezák's book Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren

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German Pages 271 [274] Year 2004

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Kapitel 1. Politeia. Der richtige Umgang mit Dialektik
Kapitel 2. Nomoi. Übereinstimmung mit der Politeia
Kapitel 3. Der Siebte Brief. Das Testen des Kandidaten ist Aufgabe des Dialektikers
Kapitel 4. Die Thematisierung des Überlieferungsweges. Symposion, Theaitetos, Parmenides
Kapitel 5. Parmenides. Ideenphilosophie und Prinzipiendialektik
Kapitel 6. Theaitetos. Maieutik und Metaphysik
Kapitel 7. Sophistes. Theaitetos und der Gast aus Elea
Kapitel 8. Politikos. Ein genaues Pendant zum Sophistes?
Kapitel 9. Philebos. Die Dialektik als Gabe der Götter und die neue Deutlichkeit des Sokrates über seine Gesprächsführung
Kapitel 10. Timaios. Der Umgang des Kosmologen mit den Prinzipien
Backmatter
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Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie: Teil 2 Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen [Reprint 2014 ed.]
 9783110204803, 9783110181784

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Thomas Alexander Szlezák Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen

Thomas Alexander Szlezák

Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie Teil II

Walter de Gruyter · Berlin · New York

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-018178-9 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: Selignow Verlagsservice, Berlin Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Maria und Walter Burkert gewidmet

Vorwort Die Interpretation der frühen und mittleren Dialoge in „Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie“, 1985 (= PSP I) führte auf das Ergebnis, daß der platonische Dialektiker dem jeweiligen Gespräch argumentativ weit voraus ist und immer wieder durchblicken läßt, daß er zu weiterer Begründung seines Standpunktes fähig wäre. Zu deuten war dieser Befund aus der Analogie zur Schriftkritik, nach der den Namen philosophos nur der verdient, der in der Lage ist, seiner anfangs entfalteten Darlegung bei Bedarf in mündlicher Stellungnahme zu ‚helfen‘ und sie hierbei inhaltlich durch Besseres zu überbieten (Phdr. 278 c d). Ähnlich ist in den Dialogen das, was zunächst geboten wird, auf Ergänzung durch spätere ‚Hilfe‘ angelegt, mithin bewußt unvollständig gehalten. Den Sinn solchen Zurückhaltens von vorhandenen und prinzipiell auch mitteilbaren Antworten erklärt die platonische Wortprägung aprorrheta (@provrrhta): es gibt Dinge, die nicht vorzeitig mitteilbar sind, weil sie, vor der Zeit mitgeteilt, nichts vom Gemeinten klarmachen würden. Der Befund der frühen und mittleren Dialoge wird durch die Analyse der Art der philosophischen Kommunikation in den späten Dialogen eindrucksvoll bestätigt. Dies im einzelnen nachzuweisen, war aus mehreren Gründen angezeigt, nicht zuletzt auch um dem Irrtum entgegenzutreten, die späten Dialoge brächten die Lösung für alles, was in den früheren offen geblieben war. Es wird sich zeigen, daß sie in Wirklichkeit ihrerseits immer wieder Wesentliches gezielt offen lassen und ständig über sich hinausweisen. Die Untersuchung steht, wie die Interpretationen von PSP I, durchaus auf dem Boden der Schleiermacherschen Hermeneutik, für die die Form des Dialogs nicht poetische Einkleidung ist, sondern wesentlich für den Inhalt. Schleiermachers Art, die Dialoge ‚proleptisch‘ zu lesen, d.h. im inhaltlichen Vorgriff auf noch nicht (schriftlich) Vorliegendes, wird erneut bestätigt (vgl. schon PSP I 328). Nur kann es sich nicht um eine Prolepsis handeln, die allein auf das Hauptwerk Politeia (die für

VIII

Vorwort

Schleiermacher das späteste Werk war) bezogen wäre, vielmehr erweist sich eine Modifikation dieses Ansatzes als unumgänglich. Sinnvoll ist nur eine Prolepsis in zwei Schritten: so wahr die frühen Dialoge auf die Politeia vorausweisen und die Lösung der meisten ihrer Probleme in diesem Hauptwerk der mittleren Periode finden, so sicher weisen die Politeia selbst und alle auf sie folgenden Dialoge auf etwas anderes voraus – auf eine mündliche Philosophie, die die allenthalben aufscheinende Frage nach den Prinzipien in Angriff nehmen wird. * Die hier vorgelegten Analysen gehen in ihrem Kern in die Zeit zurück, in der auch PSP I konzipiert wurde und Gestalt gewann. Sie wurden in der Zwischenzeit im akademischen Unterricht getestet. Den Teilnehmern dieser Seminare an zwei Universitäten danke ich für Kritik und Zustimmung. Zwei Kapitel wurden vorweg separat publiziert: das Sophistes-Kapitel in den „Beiträgen zur antiken Philosophie“ (hrsgg. von H.-C. Günther und A. Rengakos, Stuttgart 1997), das Timaios-Kapitel in den Akten des IV Symposium Platonicum von 1995 („Interpreting the Timaeus-Critias“, ed. by T. Calvo und L. Brisson, 1997). Danken möchte ich den Freunden im In- und Ausland, die mich über die Jahre hinweg drängten, „Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie“ durch Hinzufügung eines zweiten Teils zu vervollständigen. Von denen, die bei der Herstellung des fertigen Buches hilfreich waren, danke ich besonders Frau Lisa Härlin, die die Reinschrift des Typoskriptes erstellt und die Druckfahnen korrigiert hat, Frau Katrin Hofmann, die den Index locorum anfertigte sowie Frau Dr. Sabine Vogt vom Verlag Walter de Gruyter für die vorzügliche Betreuung während der Drucklegung. Tübingen, 10.5.2004

Thomas Alexander Szlezák

Inhalt Kapitel 1. Politeia. Der richtige Umgang mit Dialektik . . . . . . . . . 1) Ein Staat für die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Der Rang des philosophischen epitedeuma . . . . . . . a) Die gesellschaftliche Geltung der Philosophie . b) Wer sind die Unbefugten, wer die Geeigneten? c) Platons Selbsteinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Rang des Erkenntnisziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Die Dialektik ist Thema – und wird nicht expliziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Menge wird die Philosophenherrschaft akzeptieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Verzicht der Gesprächspartner auf den längeren Weg und Glaukons Bitte um eine Skizze der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Politeia stellt sich in den Kontext des mündlichen Philosophierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sokrates’ Auffassung von Dialektik . . . . . . . . . . . 4) Das Sokrates-Porträt als Bild des wahren Dialektikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 2 2 5 13 20

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Kapitel 2. Nomoi. Übereinstimmung mit der Politeia . . . . . . . . . .

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22 22

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Kapitel 3. Der Siebte Brief. Das Testen des Kandidaten ist Aufgabe des Dialektikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Kapitel 4. Die Thematisierung des Überlieferungsweges. Symposion, Theaitetos, Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Kapitel 5. Parmenides. Ideenphilosophie und Prinzipiendialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1) Erinnerung an die Schriftkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

X

Inhalt

2) Die gestufte Abfolge der Logoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die fünf Logoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigenart und Zielsetzung der Logoi . . . . . . . . . . . c) Synkrisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Methoden und Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) Der alte und der junge Philosoph oder Die zwei Stufen der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 71 76 77 77 78 80 88

Kapitel 6. Theaitetos. Maieutik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 91 1) Sokrates’ verborgen gebliebene Hebammenkunst 91 2) Widersprüche der sokratischen maieutike . . . . . . . . 97 3) Die Teilnehmer des Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Theodoros: der geistige Horizont des Mathematikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Theaitetos: die Schönheit des häßlichen Jünglings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Sokrates: ein Mann ohne eigene Ansichten? . . . 109 4) Der Sokrates des Exkurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5) Maieutik und Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Kapitel 7. Sophistes. Theaitetos und der Gast aus Elea . . . . . . . . . 1) Was die Einleitung impliziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Forschen, Lernen, Belehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Theaitetos als manqánwn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) Der Gast als didáskwn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5) Theaitetos als künftiger filósofoc . . . . . . . . . . . . . . . 6) Der Gast als Dialektiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7) Die Gesprächsführung des Eleaten . . . . . . . . . . . . . . . . 8) Die Mimesis im Sophistes und der „Philosophos“

128 129 133 135 139 141 145 150 155

Kapitel 8. Politikos. Ein genaues Pendant zum Sophistes? . . . . . . 1) Anknüpfung an den Sophistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Das intellektuelle Format des Jüngeren Sokrates . 3) Der Eleat als philosophischer Lehrer . . . . . . . . . . . . . 4) Der Exkurs in der Mitte des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . 5) Das Wissen des Eleaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Methodenwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 157 161 168 176 185 186

Inhalt

XI

b) Gebrauchswissen im Umgang mit Logoi . . . . . . 186 c) Theoretisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Kapitel 9. Philebos. Die Dialektik als Gabe der Götter und die neue Deutlichkeit des Sokrates über seine Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1) Sokrates zeichnet ein Bild der Dialektik . . . . . . . . . . 193 2) Dialektik als Gabe der Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3) Aporie und Euporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4) Die drei Personen des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Philebos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Protarchos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 c) Sokrates’ Abstand zu seinem Partner . . . . . . . . . . 210 5) Ein unsokratischer Sokrates? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Kapitel 10.Timaios. Der Umgang des Kosmologen mit den Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 1) Monolog vor Gleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2) Die drei die Prinzipien betreffenden Aussparungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3) Wie Platon sich korrigiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4) Unterschiedliche Ausführlichkeit in der Darstellung der Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 5) Die Art der Behandlung der archai im Timaios . . . 227 Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (a) Antike Autoren außer Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (b) Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Kapitel 1 Politeia Der richtige Umgang mit Dialektik 1 1) Ein Staat für die Philosophie Der ideale Staat Platons wäre, wenn er Wirklichkeit würde, nach der Vorstellung seines Schöpfers nicht nur das denkbar vollkommenste Ergebnis philosophischer Reflexion in der Praxis, sondern umgekehrt auch die beste vorstellbare Vorkehrung der Praxis für das sichere Gelingen künftigen Philosophierens. Platon war überzeugt, daß die bis auf seine Zeit existierenden Staaten alle aufgrund ihrer gesellschaftlichen Struktur philosophiefeindlich waren und bleiben würden. Wie er die heutigen Staaten unter diesem Aspekt beurteilt hätte, wenn er auf irgend eine Weise Kenntnis von ihrer Konstruktion und Funktionsweise hätte haben können, mag offen bleiben – vielleicht nicht besser als die damaligen. Die griechische Gesellschaft seiner Zeit jedenfalls ließ es seiner Ansicht nach kaum zu, daß philosophische Naturen sich ihren Anlagen gemäß ausbilden und entfalten konnten. Gelang es doch einmal einem außergewöhnlichen Menschen, Philosoph zu werden, – Philosoph im vollen, inhaltsschweren Sinn, den Platon dem Wort gegeben hatte –, so geschah das jedenfalls ohne Zutun der Polis, meist sogar gegen sie. Öffentliches Wirken bedeutete für einen, der in philosophischem Sinne der Wahrheit verpflichtet war, die Gefahr des tödlichen Konfliktes (vgl. Apologie 31 d – 32 a). Selbst Sokrates, der die politische Betätigung für sich abgelehnt hatte, wurde in einem politischen 1

Dieses Kapitel dient als Brücke zwischen Teil I und II von „Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie“. Teil I, im Folgenden zitiert als PSP I, erschien 1985 mit dem Untertitel „Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen“. Den Schluß bildete ein Politeia-Kapitel (PSP I 271 – 326), dessen Ergebnisse hier aufgenommen und weiterentwickelt werden.

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Politeia

Prozeß beseitigt, und dies wegen nichts anderem als seiner Wahrheitssuche. Die Konstruktion des künftigen besten Staates wäre demgegenüber auf die Einsicht gegründet, daß das Philosophieren die eigentliche Zweckbestimmung des Menschen ist. Der ganze Staat wäre so eingerichtet, daß die Ausbildung zur Philosophie und die Verwirklichung dieser höchsten Möglichkeit des Menschen institutionell gesichert und in allen Phasen und allen Aspekten gefördert würden. Ein Ereignis wie die Ermordung des wahren Philosophen wäre im Idealstaat von der Anlage des Ganzen her ausgeschlossen. So wie der beste Staat als Muster im Himmel aufgestellt ist für den, der es zu sehen und sich selbst danach zu ‚begründen‘ (êautòn katoikízein) gewillt ist (Politeia 592 b), so müßte auch die Schilderung der Organisation und des Vollzugs der philosophischen Beschäftigung (ëpit2deuma) in der Politeia für den, der richtig philosophieren will, als Modell dienen können. Anders gesagt: wenn es Platon gelungen ist, in seinem Entwurf eines besten Staates seine Vorstellungen von der optimalen Regelung der menschlichen Verhältnisse auszudrücken, dann hat er hier auch zu erkennen gegeben, wie nach seiner Ansicht die Beschäftigung mit der Philosophie betrieben werden soll. Der deskriptive Nachvollzug der Angaben der Politeia über die Art und die Regelung dieses epitedeuma (oder ‚Geschäftes‘, vgl. 539 d 1) verspricht einen guten Zugang zu Platons Philosophiebegriff zu liefern.

2) Der Rang des philosophischen epitedeuma a) Die gesellschaftliche Geltung der Philosophie Gegen Ende des siebten Buches der Politeia schildert Platon das Verhalten von Leuten, die in allzu jungen Jahren zum ersten Mal mit der Disputierkunst in Berührung kommen. Sie pflegen das Argumentieren wie ein Spiel zu betreiben und empfinden eine kindische Freude, wenn sie andere – offenbar um des bloßen Widerlegens willen – widerlegen können. Freilich werden sie dabei auch selbst oft widerlegt, bis sie all ihre früheren Überzeugungen verloren haben. So geraten sie bei den anderen Menschen in Verruf, und mit ihnen alles, was mit der Philosophie zusammenhängt (539 b 2 – c 3).

Der richtige Umgang mit Dialektik

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Anders verläuft die Begegnung mit der Disputierkunst, wenn ein Älterer sich ihr zuwendet. Er wird sie nicht als Sport betreiben, der das Widersprechen als Selbstzweck pflegt, sondern den nachahmen, der das dialégecqai (statt der @ntilogía) und die Erforschung der Wahrheit sucht, und wird so selbst charakterlich gewinnen und überdies dem Geschäft (dem epitedeuma) der Dialektik „einen höheren Rang verschaffen statt eines geringeren“ (kaì tò ëpit2deuma timiøteron @ntì @timotérou poi2cei 539 d 1). Da die allzu jugendlichen Widerlegungskünstler das kunstgemäße Argumentieren „bei den anderen Menschen“ (eıc toùc Állouc c 3) in Verruf bringen, muß auch die antithetisch dagegen gesetzte Hebung des Ranges durch den älteren Adepten den gesellschaftlichen Rang der Dialektik (nicht ihren in der Sache selbst gründenden philosophischen Rang) betreffen. Aber verfolgt nicht dieser ältere und gesetztere Interessent, mag er sich auch vom Wahnsinn (manía, c 6) der Antilogik fernhalten, doch die falschen Ziele? Wozu bedarf es einer Hebung des gesellschaftlichen Ranges der Dialektik, wo doch ihr philosophischer Rang in der zu erforschenden Sache selbst – letztlich der Idee des Guten – gründet? Treibt ihn verkehrter Ehrgeiz? Bloßes Geltungsbedürfnis? Verlangt nicht die philosophische Haltung, daß man sich „wenig um Sokrates kümmert“ (Phaidon 91 c 1), und dann selbstverständlich noch viel weniger um andere Menschen, daß man also allein die Wahrheit im Blick behält? Doch solch ein Bedenken würde den Duktus und die Zielrichtung der platonischen Argumentation verfehlen. Es ist die Ansicht des Sokrates, daß das Fernhalten der Jungen von der Dialektik eine unerläßliche Vorsichtsmaßnahme (eÿlábeia, 539 b 1) im Interesse der Sache selbst ist (b 1 – 2). Mehr noch: auch was vor dieser Bestimmung ausgeführt worden war, bestand insgesamt aus Vorsichtsmaßnahmen (ëp^ eÿlabeí+ pánta proeírhtai, d 3 – 5). Und Sokrates hatte kurz vor der Darlegung des Zeitplans für die Erziehung der Philosophen zu erkennen gegeben, daß das Bestreben, den gesellschaftlichen Rang der Philosophie zu heben, auch seines ist: er klagt sich selbst an, daß sein Temperament mit ihm durchgegangen sei, als er sah, wie die Philosophie unverdientermaßen verächtlich gemacht wird (filocofían ... ıd§n propephlakicménhn @naxíwc, 536 c 3). Bei solch entehrender Behandlung der Philosophie bleibt auch der stets überlegene Sokrates nicht gleichgültig, sondern reagiert mit heftigem Unwillen (@ganakt2cac, c 3).

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Politeia

Der Zweck der erwähnten Vorsichtsmaßnahmen aber war, zu verhindern, daß „jeder Beliebige und Unbefugte“ 2 sich an die Dialektik macht. Der gezielte Ausschluß der ‚Unbefugten‘ oder ‚Unberufenen‘ erscheint hier als Abschluß einer längeren Überlegung über die Auswahl 3 der künftigen Philosophen und die Risiken der Vermittlung der Dialektik, die großer Wachsamkeit bedarf (poll4c fulak4c Érgon, 537 d 7). Und wenn J. Adam recht hat, die ‚zuvor genannten‘ (proeirhména, 539 d 3) Vorsichtsmaßnahmen auf die charakterlichen Anforderungen für die Philosophenherrscher zu beziehen4, die schon im 6. Buch erörtert worden waren, so wird die Forderung des Ausschlusses der Ungeeigneten zur praktischen Quintessenz der mittleren Bücher der Politeia, die der Natur, der Auswahl und Erziehung der Philosophen gewidmet sind. Denn wenn die Gründer der Stadt noch so gut Bescheid wüßten über die theoretischen Grundlagen des Herrschaftsanspruchs der Philosophen – wovon die Abschnitte über die Ideenlehre, die Dialektik und die drei Gleichnisse über das Gute handeln 5 –, dabei aber nicht in der Lage wären, die richtigen Kandidaten ‚mit gesunden Gliedern und gesundem Verstand‘ (536 b 1) für das Studium der Dialektik und damit für die spätere Ausübung der Herrschaft auszuwählen, so hätten sie die Dike selbst gegen sich, würden die Stadt nicht erhalten können und überdies noch mehr Gelächter auf die Philosophie ziehen (536 b 1 – 6). Vor der philosophischen Erziehung von ‚anders Beschaffenen‘ (@llo$oi, b 4) werden sich die Gründer also mehr als vor allem anderen ‚hüten müssen‘ (dieulabhtéon, a 9). Halten wir also fest: gegen Ende der langen und zentral wichtigen Abschnitte über die Natur (ab 474 b) und die Erziehung (ab 502 c) der Philosophen fordert Sokrates für den idealen Staat eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung für die Philosophie. Er wäre bereit, diese im idealen Staat durch konkrete ‚Vorsichtsmaßnahmen‘ zu sichern, die letztlich alle auf das Fernhalten der unphilosophischen Naturen von der Erziehung zur Dialektik abzielen. Er ist sich bewußt, damit in krassem Gegensatz zur Wirklichkeit seiner Zeit zu stehen: „nicht wie 2

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ô tuc§n kaì oÿdèn proc2kwn, 539 d 5. Die oben zitierte Übersetzung ist die von Rufener. Apelt spricht von ‚Unberufenen‘. ëklog2 535 a 6, mit Erinnerung an die ‚frühere Auswahl der Regenten‘. J. Adam, The Republic of Plato. Ed. with critical notes and commentary. Cambridge 1902 (1975), II 152. Politeia 474 b – 480 a, 531 d – 534 e, 507 a – 517 c.

Der richtige Umgang mit Dialektik

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jetzt“, m3 !c nñn soll die philosophische Ausbildung im besten Staat geregelt sein (539 d 5, vgl. 537 e 1 – 2 tò nñn perì tò dialégecqai kakòn gignómenon). Im Folgenden müssen wir uns fragen, ob diese Forderung des Sokrates kurz vor Ende des großen Komplexes der mittleren Bücher mehr eine beiläufig hingeworfene, sachlich wenig belangvolle Bemerkung ist – denn so wird sie von der gegenwärtigen Platondeutung überwiegend behandelt, sofern sie überhaupt behandelt wird –, oder ob sie in der vorangegangenen Gedankenentwicklung fest verankert ist, was ihren Aussagewert für Platons Konzeption vom richtigen Philosophieren erhöhen würde.

b) Wer sind die Unbefugten, wer die Geeigneten? Der Typus von Mensch, den Sokrates im besten Staat zur Ausbildung in der Dialektik nicht zulassen würde, ist in den gängigen deutschen Übersetzungen der ‚Unberufene‘ (Apelt) oder ‚Unbefugte‘ (Rufener) 6. Die Ausdrucksweise, die Platon hier wählt – ô tuc§n kaì oÿdèn proc2kwn (539 d 5 – 6) – erinnert an eine Formulierung anläßlich der Schilderung des zweiten der drei Mängel der Schrift im Phaidros. Es heißt dort: ist ein Logos einmal niedergeschrieben, so wälzt er sich überall herum (kulinde$tai mèn pantacoñ), gleichermaßen bei den Verständigen, ebenso aber auch par’ o‰c oÿdèn proc2kei (Phaidros 275 e 1 – 2); so versteht das Buch sich nicht darauf, zu denen zu reden, zu denen man reden soll, zu den anderen aber nicht zu reden (e 3). Hingegen ist die lebendige Rede des ‚Wissenden‘ ëpict2mwn légein te kaì cigãn pròc oŸc de$ (276 a 6 – 7), verfügt also über das Wissen, zu wem man reden und zu wem man schweigen soll. An unserer Stelle ist es klar, daß die Leiter der dialektischen Schulung im besten Staat zu Interessenten vom Typus des oÿdèn proc2kwn nicht über Dialektik reden würden. (Da aber keine Schrift zu solchem ‚Schweigen‘ fähig ist, sollte hier schon klar sein, daß die philosophische Ausbildung der künftigen Herrscher ohne den Gebrauch eines Buches (oder von Büchern) über Dialektik auskommen wird – mehr dazu unten 12 f.). 6

Schleiermachers „der gar nicht taugt“ verfehlt die sprachliche Nuance von ô oÿdèn proc2kwn.

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Politeia

Der Vorstellung vom wahllosen Sich-Herumtreiben des Buches (kulinde$tai pantacoñ) in der Schriftkritik (275 e 1) entspricht hier das verächtliche ô tucøn (539 d 5). Die unkontrollierte Beliebigkeit der schriftlichen Wissensvermittlung und die unterschiedslose Zulassung des ‚ersten besten‘ verstoßen gleichermaßen gegen das Prinzip der notwendigen Auswahl (ëklog2), dessen Bedeutung Platon schon in der ersten Skizze des Idealstaates betont hatte (412 b – 414 a) und zu dem er mit gutem Grund nach der Skizze der Dialektik zurückkehrt (535 a ff.). Wir erwähnten bereits: Versagen in der Aufgabe der richtigen Auswahl wäre gleichbedeutend mit Versagen in der Errichtung des besten Staates (536 b). Das Buch erreicht sinnwidrigerweise auch die, o‰c oÿdèn proc2kei: ‚die (die Sache, d. h. der Inhalt der Schrift) nichts angeht‘, die mit ihr ‚nichts zu schaffen haben‘. Von hier aus ist das Partizip ô oÿdèn proc2kwn an unserer Stelle zu verstehen: es meint den, der mit der Sache der Philosophie ‚nichts zu tun hat‘, den platonische Dialektik ‚nichts angeht‘. Bedenkt man, daß die Zulassung zur Dialektik bereits das Versprechen der Zulassung zur Herrschaft enthält, so zeigt sich der rechtliche Aspekt der zu treffenden Auswahl. Unter diesem Aspekt wäre die Übersetzung als ‚Unbefugter‘ derjenigen als ‚Unberufener‘ vorzuziehen. proc2kwn heißt im Griechischen aber auch ‚nahestehend, angehörig, verwandt‘. Daß der, der von der Dialektik fernzuhalten ist, ‚in keiner Weise verwandt‘ ist, ergibt einen sehr guten Sinn, wenn man darunter die Verwandtschaft mit der Sache versteht, die die Voraussetzung für platonische ômoíwcic qeŒ ist. Das durch die dialektische Bemühung um die Wahrheit erzeugte ‚Aufleuchten‘ der Einsicht ist nach dem Siebten Brief nur dem erreichbar, der cuggen3c toñ prágmatoc , ‚mit der Sache verwandt‘ ist (Ep. 7, 344 a 2, 5 – 6). Nach dem Phaidros bedarf der Dialektiker, um seine mündliche Kunst der Dialektik zu entfalten, einer yuc3 proc2kouca, einer zur Sache der Philosophie ‚zugehörigen‘, ihr verwandten Seele (276 e 6). Diese yuc3 proc2kouca ist im Rahmen des Gleichnisses vom vernünftigen Bauern wiederum in Analogie gesetzt zum proc4kon, in das der Bauer sät, also dem für Landbau ‚gehörigen‘ oder ‚geeigneten‘ Boden (276 b 7). Die ‚geeignete‘ oder ‚zugehörige‘ oder ‚verwandte‘ Seele ist aber die einzige, an die die Vermittlung der Methoden, Ergebnisse und Einsichten der Dialektik zulässig wäre. Weder für den griechischen Rezipienten noch für Platon als Autor bestand die Notwendigkeit, die hier aus-

Der richtige Umgang mit Dialektik

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einandergelegten semantischen Facetten des Ausdrucks ô oÿdèn proc2kwn trennend zu benennen: der ‚Ungeeignete‘ oder ‚Unzugehörige‘ ist in dem Sinne zugleich der ‚Unbefugte‘, in dem es – nach einer bekannten Stelle des Gorgias, an der philosophische Belehrung und Mysterieneinweihung parallelisiert werden – nicht erlaubt, oÿ qemitón, wäre, die Großen Mysterien dem zu eröffnen, der in die Kleinen nicht eingeweiht ist (Gorg. 497 c 3 – 4). Worin die Eignung zur Philosophie besteht, wird in der Politeia zweimal unter recht verschiedenen Gesichtspunkten dargelegt. Die entscheidende Voraussetzung ist, daß der künftige Regent in der Lage ist, den Unterschied zwischen der einen unveränderlichen Idee und ihren vielen wandelbaren Erscheinungen zu erfassen. Daher beginnt die Explikation des Philosophenkönigssatzes (473 c 11 – e 5), der notwendig ungläubiges Staunen und instinktiven Widerstand auslöst (vgl. 473 e 6 ff.), mit der Unterscheidung zwischen Idee und Einzelding und zwischen den Erkenntnisweisen, die diesen beiden Gegenstandsbereichen zugeordnet sind (474 b – 480 a). Platon ist überzeugt, daß nur der Mensch, der die Idee als eine von den Sinnendingen unabhängige und ihnen vorgeordnete Wesenheit zu erfassen vermag, etwas von der ‚Wahrheit‘ erblickt. Der Mensch der gewöhnlichen Erkenntnishaltung rechnet nur mit der Vielfalt der gleichgearteten Einzeldinge, will aber die Existenz der zugehörigen jeweils einen Idee nicht gelten lassen (479 a 1 – 5, 480 a 4), ganz einfach weil ihm die Fähigkeit abgeht (476 b 7), in und über dem Wahrnehmbaren eine nur dem geistigen Auge zugängliche ‚intelligible‘ Wesenheit zu sehen. Die mit der Betrachtung der sinnlichen Vielfalt Zufriedenen nennt Platon die ‚Schaulustigen‘ und ‚Freunde des Meinens‘ (filoqeámonec, 475 d 2 u. ö., filódoxoi, 480 a 6,12), die am Erkennen der Idee Orientierten die ‚Freunde der Weisheit‘ oder Philosophen. Entscheidend wichtig ist nun, daß den für die Konstruktion des Idealstaates so wichtigen auszeichnenden Namen filócofoc allein diejenigen zu Recht tragen, deren Denken der Zuwendung zu den Ideen fähig ist: ... oŸc mónouc Án tic örqõc proceípoi filocófouc (476 b 1 – 2). Doch mit dieser Grundbedingung der Fähigkeit zum Ideendenken ist die Eignung zum künftigen Philosophenherrscher noch nicht hinreichend umschrieben. Da das Ziel die ‚Angleichung‘ der erkennenden Seele an die ewige Ordnung der Ideenwelt ist 7, muß die Seele des Phi7

Politeia 500 c, 611 e 3 – 5, 613 b 1, vgl. Tim. 90 d, Tht. 176 b.

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losophen selbst geordnet sein. Philosophie ist für Platon nicht allein eine Frage der intellektuellen Begabung, sondern auch der ethischen Haltung. Mit bildhafter Eindringlichkeit ist das im Höhlengleichnis ausgedrückt: die gefesselten Höhlenbewohner haben nicht die Möglichkeit, allein die Augen nach ‚hinten‘ und ‚oben‘ zu wenden und so das Licht zu erblicken, das hinter und über ihnen die Höhle erleuchtet; sie müssen sich, nach Lösung ihrer Fesseln, mit dem ganzen Körper umwenden, bevor ihre Augen sich auf das Licht richten können. Ebenso ist für das Erblicken des Lichts der Idee des Guten eine Umwendung „mit der ganzen Seele“ (cùn Ôlæ tÆ yucÆ, 518 c 8) erforderlich, d. h. nicht allein mit dem Denkvermögen. Daher finden wir in der Liste der Vorzüge, über die die künftigen Philosophenherrscher verfügen müssen, neben intellektuellen Fähigkeiten auch die Kardinaltugenden Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit (485 a – 487 a). Nicht weniger eindeutig ist hierin der Siebte Brief, der als Voraussetzung für das Erreichen des Ziels der Dialektik – Klarheit über Irrtum und Wahrheit betreffend das Sein in seiner Gesamtheit (344 b 2) – eine in der Veranlagung begründete charakterliche Wohlgeratenheit und eine natürliche Zugehörigkeit und Verwandtschaft zum Gerechten und zu den übrigen sittlichen Werten nennt (343 e 3 – 344 b 1) 8. Platon ist sich wohl bewußt, daß der Katalog von Vorzügen, den er für die Physis der künftigen Philosophen erstellt hat, durchaus Gegensätzliches enthält. Sie sollen sowohl über schnelle Auffassungsgabe und intellektuelle Schärfe als auch über charakterliche Gesetztheit, Festigkeit und Verläßlichkeit verfügen (503 c 2 – 7). Statt den Katalog der Anforderungen zu modifizieren, läßt er Sokrates nüchtern feststellen, daß, da diese gegensätzlichen Züge nur selten gemeinsam auftreten, die Philosophen eben sehr wenige sein werden (503 b 7); wer nicht von der geforderten Art ist, soll nicht Anteil haben „an der genauesten Erziehung“, d. h. an der Dialektik, noch an Ehre und Herrschaft der Philosophenkönige (d 7 – 10). Nun ist es aber nicht so, daß die charakterlichen Vorzüge zusätzlich eingeführt werden müßten, um einen etwaigen Überschuß an philosophischen Naturen auf das benötigte Maß zu reduzieren. Vielmehr ist 8

Wer das Aufleuchten der Erkenntnis (344 b 7) erleben will, muß eÿ pefukøc (343 b 3) sein, und zwar auch eıc tà legómena 8qh (e 4). Zu tõn dikaíwn ... procfue$c 344 a 5 geben LSJ die Bedeutung „naturally belonging to a thing“. Diese natürliche Zugehörigkeit zur Sittlichkeit ist weit wichtiger als intellektuelle Wendigkeit: 344 a 6 – 7, vgl. Nom. 689 c d.

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das eigentlich philosophische Kriterium, die Fähigkeit zum Erkennen der Idee, für sich genommen schon geeignet und auch dazu bestimmt, die Vielen von den Wenigen zu scheiden. Die ‚das Schöne an sich‘ und die anderen Ideen zu sehen vermögen sind selten (cpánioi, 476 b 11), und es kommt ihnen kraft ihrer Natur, fúcei, zu, sich mit Philosophie zu befassen und dann auch die Führung in der Stadt zu übernehmen; allen anderen kommt es ebenso fúcei nicht zu, an die Philosophie zu rühren, sie sind zum Folgen bestimmt (474 c 1 – 3). Die Seltenheit der philosophischen Naturen ist also nach beiden Kriterien, dem im modernen Sinn ‚philosophischen‘ und dem charakterlichen – das aber für Platon gleichfalls ein philosophisches, oder doch von der @lhqin3 filocofía (vgl. 521 b 2) auf keine Weise zu trennendes Kriterium ist – ein nicht zu bestreitendes Faktum. Wenn aber beide Kriterien darauf führen, ist es wenig verwunderlich, daß Platon nicht müde wird, dieses Faktum immer wieder auszusprechen – weit öfter, als es dem modernen Leser der ‚offenen Gesellschaft‘ in nachpopperianischer Zeit lieb sein kann. „Unmöglich kann die Menge philosophisch sein“ (494 a 4) – die Häufigkeit und Intensität, mit der Platon diese Überzeugung vertritt, haben wohl nicht nur mit der offenkundigen politischen Konsequenz, daß die Menge folglich auch zum (SichSelbst-)Regieren nicht fähig ist, zu tun, sondern vielleicht auch mit seiner Erfahrung als philosophischer Lehrer 9 sowie mit seiner weiteren, metaphysich begründeten Überzeugung, daß die philosophische Natur ‚göttlich‘, qe$oc, sei. (Hierzu mehr unten 21 f.) Diesen notwendig äußerst seltenen philosophischen Naturen drohen nun eine Vielzahl ernster Gefahren 10. Die bestehenden Gesellschaften sind dazu angetan, sie von ihrer eigentlichen Bestimmung auf jede Weise abzuziehen (491 b – 495 b). Darüber hinaus führt der schwierigste Teil der Philosophie, die Kunst des richtigen Gebrauchs der Logoi11, d. h. die Dialektik, weitere, in der Sache selbst gelegene Gefahren mit sich: zum unrichtigen Zeitpunkt in der geistigen Entwicklung begon9

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Zeugnisse zu diesem Aspekt seines Wirkens sind leider spärlich. Immerhin könnte man auf die offenbar als Methode ausgebildete ‚Probe‘, pe$ra, im 7. Brief verweisen sowie auf die öffentlich gehaltene Vorlesung „Über das Gute“, von der Aristoxenos berichtet (Elementa harmonica II p. 30 f. Meibom = Testimonium Platonicum 7 Gaiser [in: K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 1968 2, Anhang: Testimonia Platonica (443 – 557); im Folgenden zitiert als TP 7 G.]). 491 b 4 – 5: toútwn d3 tõn ölígwn ckópei !c polloì Óleqroi kaì megáloi. 498 a 3: légw dè calepøtaton tò perì toùc lógouc. Vgl. 539 b 3 ... Ôtan prõton lógwn geúwntai.

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nen, und verantwortungslos als Widerlegungsspiel betrieben, wird der (falsche) Umgang mit lógoi den jungen Philosophen mehr schädigen als fördern (497 e ff., 537 e ff.). Wie es möglich ist, daß die lógoi sich solchem Mißbrauch darbieten, hat Platon in der Politeia nicht von Grund auf zu klären unternommen. Der ‚philosophische Exkurs‘ des Siebten Briefes ist zu dieser Frage das deutlichste Zeugnis des platonischen Denkens. Die konstitutive ‚Schwäche der Logoi‘ (tò tõn lógwn @cqenéc Epist. 7, 343 a 1) und die Eigenart der Erkenntnismittel, der Seele, die das ‚Was‘ (tí) des jeweiligen Dinges zu wissen begehrt, statt dessen ein ‚Wie Beschaffenes‘ (po$ón ti) hinzuhalten, bewirken, daß eine Unklarheit in allen menschlichen Annäherungsversuchen an die Wahrheit bleibt, die die Dialektik letztlich zwar ën eÿmenécin ëlégcoic unter Gleichgesinnten zu überwinden vermag (343 e 1 – 344 c 1), die es aber dem Eristiker erlaubt, vor Hörern, die an philosophisches Fragen nicht gewöhnt sind, stets Verwirrung zu stiften und gegenüber dem Philosophen scheinbar Recht zu behalten (343 c 5 – e 1). Diese Gefahren, die gesellschaftlichen wie die in der Sache gelegenen, zwingen zu der ‚Wachsamkeit‘ und ‚Vorsicht‘ 12, mit der Sokrates das Geschäft der Dialektik zu betreiben rät. Von den Prinzipien und Methoden moderner Bildungspolitik und Nachwuchsförderung ist diese Haltung so weit entfernt wie nur möglich. Den Slogan ‚Bildung ist Bürgerrecht‘ würde der Sokrates der Politeia gewiß nicht verwerfen, wohl aber mit dem entscheidenden Zusatz versehen katà tò dunatòn êkáctœ, ‚so weit es dem Einzelnen möglich ist‘. Und statt des Rechtes des Individuums, die ihm zustehende Bildung zu erhalten, betont er das Recht – und die Pflicht – des Staates, jedem die Ausbildung und damit auch die soziale Stellung zu sichern, die seiner Physis entspricht (415 b 3 – c 6, vgl. c 1 f.: t3n tÆ fúcei proc2koucan tim3n @podóntec). Um aber festzustellen, welche ‚Natur‘ es wie weit bringen kann, verläßt man sich heute gern auf ein Verfahren, das treffend mit der Nutzung eines Fischteiches verglichen wurde: große und kleine Fische läßt man unterschiedslos im gleichen Teich heranwachsen und läßt auch das Fischfutter unterschiedslos allen zugute kommen; erst beim Ablassen des Teiches zeigt sich, bei welchen Fischen sich die Aufzucht gelohnt hat; daß viel vom Futter an Fische geht, die bis zuletzt ungenießbar oder zu klein bleiben, wird nicht als Verlust gewertet. 12

fulak2 537 d 7, eÿlábeia 539 b 1, d 3, vgl. dieulabhtéon 536 a 9.

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Demgegenüber zielen die Maßnahmen, die Sokrates befürwortet, nicht auf ein breites Angebot dialektischer Schulung für möglichst viele, um sich am Ende vom Ergebnis so oder so überraschen zu lassen, sondern, wie wir sahen, ganz konkret auf den Ausschluß der ‚Unbefugten‘, und das heißt: aller bis auf die sehr wenigen außergewöhnlich Begabten. Die dianom2, die ‚Zuteilung‘ der maq2mata (535 a 3 – 4) ist daher das passende Thema für das letzte Kapitel (535 a – 541 b) der Schilderung der Erziehung der Philosophen – passend gleichsam als Brücke zur Praxis. Das allgemeine Prinzip der Zuteilung war schon zu Beginn dieses Hauptteils angesprochen worden, nämlich daß man dem, der nicht allen Anforderungen genügt, „keinen Anteil geben (darf) an der genauesten Erziehung“ (m2te paideíac t4c @kribectáthc de$n aÿtŒ metadidónai, 503 d 8 – 9). Hierauf zurückgreifend bringt Sokrates den weitgespannten gedanklichen Bogen zu Ende, wenn er jetzt daran erinnert, schon die anfangs genannten ‚Vorsichtsmaßnahmen‘ hätten zum Ziel gehabt, die charakterliche Festigkeit derer zu sichern o‰c tic metadøcei tõn lógwn (539 d 5). Wer für die ‚Zuteilung‘ des máqhma der Dialektik in Frage kommt, muß in fortwährenden Prüfungen und Proben entschieden werden 13. Getestet wird, wer zum Denken der Ideen, losgelöst von sinnlicher Wahrnehmung, fähig ist und wer es vermag, zu einer ‚Zusammenschau‘ der Verwandtschaft der mathematischen Wissenschaften untereinander und mit der Natur der Dinge zu gelangen – denn die Fähigkeit zur Synopsis ist die ‚entscheidendste Probe‘ (megícth pe$ra, 537 c 6) für die Ermittlung einer dialektischen Natur. Die nächsten Parallelen im Oeuvre Platons zu diesen Überlegungen finden sich im 7. Brief und im Schlußteil des Phaidros – wohl nicht zufällig also in den beiden Texten, die den restriktiven Gebrauch der philosophischen Mitteilung ausdrücklich thematisieren. Der starken Betonung der bácanoi bzw. des bacanízein und der pe$ra in der Politeia entspricht die Angabe im 7. Brief, daß Platon als Lehrer über eine Methode des pe$ran lambánein verfügte, um herauszufinden, ob einer wirklich von philosophischer Art sei (Epist. 7, 340 b 4 – d 6). In beiden Texten erweist sich die ‚Probe‘ als nötig nicht zuletzt auch im Hinblick auf den immensen Umfang der zu bewältigenden maq2mata 14.

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503 e 1 – 4, 537 b 5 f., b 8 – d 7. Epist. 7, 340 d 8 ıdóntec te Ôca maq2matá ëctin kaì ô pónoc 1líkoc und c 1 di^ Ôcwn pragmátwn kaì Ôcon pónon Écei. Politeia 503 e 3 – 504 a 1, 531 d 5 – 8.

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Die Entscheidung aber, einem Kandidaten, der sich nicht bewährt hat, „keinen Anteil zu geben“ an der Dialektik, ist der konkrete Vollzug des Rechts und der Pflicht des Dialektikers, denen gegenüber zu schweigen, die mit der Sache der Philosophie nichts zu schaffen haben (Phaidros 276 a 6 – 7 mit 275 e 2, vgl. oben 5 – 7). Der geforderte Ausschluß der vorwitzigen und bis zur Manie (539 c 6) disputierfreudigen Jugend (539 b 1 – 2) läßt die Frage aufkommen, wie man diese Interessentengruppe von der Dialektik fernhalten will in einer philosophischen Kultur, die über ein reiches und detailliertes Schrifttum über diesen Bereich der Philosophie verfügt. Platon weiß sehr wohl, daß ein Buch, einmal geschrieben, ‚sich überall herumtreibt‘ (Phaidros 275 e 1). Er schildert im Parmenides den Fall des Zenon, dessen Buch gestohlen wurde, so daß er gar nicht mehr überlegen konnte, ob er es an die Öffentlichkeit geben solle oder nicht 15. Würden nicht auch die Dialektiker in Platons Idealstaat bald in dieselbe Lage kommen und so ihren Entschluß – und ihre Pflicht –, den ‚Unbefugten‘ „keinen Anteil zu geben an der genauesten Erziehung“, gar nicht mehr ausführen können? Und wie soll der Zeitplan funktionieren? Die entscheidende Phase der dialektischen Zuwendung zum mégicton máqhma der Idee des Guten beginnt für die am besten Bewährten mit 50 Jahren (540 a 4 ff.). Läßt sich da nicht absehen, daß andere, und vielleicht gerade die früh Ausgeschiedenen, sich längst mit philosophischen Schriften über die Theorie des Guten befassen, schon um zu zeigen, daß man sie zu Unrecht zurückgesetzt hat? Man muß diese naheliegenden Fragen nur stellen, um zu sehen: Sokrates’ Schilderung der Art, wie die Philosophen im besten Staat heranzubilden wären, setzt eine mündliche philosophische Kultur voraus. Zur Dialektik jedenfalls und ihrem Kernbereich, der Theorie des Guten als Prinzips aller Dinge, wird es philosophische Schriften nicht geben 16, obwohl es an formulierbaren Inhalten und Methoden wahrlich keinen Mangel hätte (hierzu s. u. 36 – 39). Vergessen wir nicht, daß auch das erklärte Ziel des Sokrates, nämlich dem Geschäft der Philosophie höhere Achtung zu verschaffen 17, durch die Existenz von Bü15

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Parm. 128 d 7 – e 1: kaí tic aÿtò Ékleye grafén, !cte oÿdè bouleúecqai ëxegéneto eÍt^ ëxoictéon aÿtò eıc tò fõc eÍte m2. Andere Disziplinen, die dem Mißbrauch weniger ausgesetzt sind und deren falscher Gebrauch die Adepten auch nicht in die Gesetzwidrigkeit (paranomía, 537 e 4) führen würde, also z. B. die mathematischen Disziplinen, könnten wohl auch im Idealstaat mit Hilfe von Büchern unterrichtet werden. tò ëpit2deuma timiøteron ... poi4cai 539 d 1, vgl. o. 3 ff.

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chern über die Dialektik erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht würde 18. Und Platons eigene Haltung des cébecqai, des Ehrfurchterweisens durch Verzicht auf die Publikation – die nach dem Siebten Brief ein unwürdiges ‚Hinauswerfen‘, ëkbállein, wäre: 344 d 7 – 9 –, wäre durch solche Schriften vollends desavouiert. Faktisch wird denn auch nichts von Büchern für den Philosophieunterricht gesagt, obschon Platon sonst durchaus der Ansicht war, daß seine eigenen Schriften sich als Lektüre für die Jugend besser eigneten als alles andere (Nomoi 811 c 10 – d 5) – nur eben nicht für die dialektische Schulung, denn eine Schrift Platons perì %n ëcpoúdazen gab es nicht (vgl. Epist. 7, 341 b 3 – c 5).

c) Platons Selbsteinschätzung Die gesellschaftliche Geringschätzung und öffentliche Herabwürdigung der Philosophie kann Sokrates, wie wir sahen, in Harnisch bringen. 19 Uns Heutigen mag sein Ärger und Unwille kleinlich und überflüssig erscheinen. Doch sollten wir uns hüten, diese Einschätzung vorschnell auf Platon zu übertragen. Hätte er die Haltung, die er seinem Sokrates beilegt, nicht selbst geteilt, so wäre bei seinem ausgeprägten satirischen Talent das Porträt an dieser Stelle zur Parodie geraten. Davon ist indes im Text nichts zu spüren. Wundern wird sich darüber nur, wem die Stellen im Werk Platons nicht präsent sind, die zeigen, daß er gegenüber dem Phänomen ‚Ehre‘ nicht unempfindlich war und daß er durchaus eine hohe Meinung von sich und seiner Familie hatte. So wird die Abstammung des Charmides, des Bruders seiner Mutter Periktione, im Charmides (157 e ff.) in den höchsten Tönen gepriesen. Noch näher an den Autor selbst rückt das Lob heran, wenn zu Beginn des konstruktiven Teils der Politeia Glaukon und Adeimantos – Platons leibliche Brüder – als qe$on génoc apostrophiert werden (368 a). Der entfernte Vorfahr Solon wird im Timaios (21 c d) seinem Talent nach auf die Stufe Homers und Hesiods gehoben – nur die Ablenkung durch die Staatsgeschäfte habe ihn ge18

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Dem geschriebenen Logos über Dialektik in falschen Händen würde es widerfahren, daß er, plhmmeloúmenoc kaì oÿk ën díkæ loidorhqeíc (Phaidros 275 e 3 – 4), der Verachtung der nicht Vorgebildeten anheim fiele. Vgl. Epist. 7, 341 e 4 sowie den Bericht des Aristoxenos, TP 7 G. S. oben 3 zu 536 c 3.

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hindert, den größten Epikern gleichzukommen –, und daß die poetische Begabung sich von Solon her in der Familie weiter vererbte, bemerkte ‚Sokrates‘ schon im Charmides (155 a 2 – 3). Wenn Charmides (und Kritias) von dieser Erbanlage profitieren konnten, warum dann nicht auch ihr Neffe Platon? Und in der Tat finden wir, daß der ‚Athener‘ an der erwähnten Stelle der Nomoi die von ihm selbst geführten und gelenkten Gespräche für so etwas wie Dichtung ansieht (Édoxan ... poi2cei tinì procomoíwc eır4cqai) und überzeugt ist, daß sie nicht ohne göttliche Inspiration geführt wurden (811 c 8 – 10). Beim Rückblick auf diese inspirierten Reden kommt den Gesprächsführer ‚große Freude‘ an (ëp4lqe ... mála 1cq4nai, d 1 – 2). Wird damit nur der Athener als Figur charakterisiert, oder spricht durch ihn vielleicht auch der Autor? Immerhin schreibt Platon dem philosophischen Autor diese ‚Freude‘ am hübschen Aufgehen seiner literarischen ‚Adonisgärten‘ auch in der Schriftkritik zu, wenige Zeilen vor der deutlichen Anspielung auf sein eigenes Hauptwerk Politeia, dessen ‚Geschichtenerzählen‘ über Gerechtigkeit als ‚wunderschönes Spiel‘ taxiert wird20. Nicht nur die eigene Herkunft und Dichtung erscheint in den Dialogen in günstigem Licht, auch einzelne philosophische Errungenschaften des platonischen Denkens werden dezent zwar, aber für den Kenner doch deutlich genug mit positiven Prädikaten versehen. Wenn Sokrates in der Politeia bemerkt, sämtliche Arten der Bewegung (forá) könnte vielleicht ein cofóc aufzählen (530 d 1), so fällt es schwer, nicht an die Aufzählung der zehn Arten von Bewegung (kínhcic) zu denken, die der ‚Athener‘ in den Nomoi gibt (893 b – 894 a). Selbst wenn nicht exakt dasselbe gemeint sein sollte an den beiden Stellen, gewinnt man doch den Eindruck, daß eine vollständige Benennung aller eÍdh ohne weiteres auch in der Reichweite des Sokrates der Politeia läge, der sich dann wohl selbst – nicht ohne leise Ironie – implizit als cofóc 21 einschätzen würde 22. 20

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Phaidros 276 d 4 – 5 1cq2cetai te aÿtoùc (sc. toùc ën grámmaci k2pouc) qewrõn fuoménouc âpaloúc. Die Anspielung auf die Politeia in den Worten dikaiocúnhc te kaì tõn Állwn %n légeic péri muqologoñnta, Phaidros 276 e 2 – 3 (vgl. Politeia 376 d 9, 501 e 4) erkannte W. Luther, Die Schwäche des geschriebenen Logos, Gymnasium 68, 1961, 526 – 548, hier 536 f. ‚Sachkundiger‘ Rufener, ‚Eingeweihter‘ Apelt. Bei entwicklungsgeschichtlicher Betrachtungsweise müßte man natürlich versichern, daß Platon, als er die Erfassung aller Arten der Bewegung einem cofóc zuschrieb, unmöglich selbst schon über sie verfügt haben könne, und daß er, als er 20 oder 30 Jahre später das einst nur Geahnte gefunden hatte, vor lauter Bescheidenheit

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Im Phaidros läßt Platon seinen Sokrates sagen, das kunstgemäße Erfassen des Vermögens zweier eÍdh, die sich in seinen Eros-Reden – angeblich durch Zufall – gezeigt hätten, wäre ‚nicht unwillkommen‘ (oÿk Ácari, 265 d 1). Im Fortgang zeigt sich, daß die zwei eÍdh das dialektische Doppelverfahren von diaírecic und cunagwg2 meinen. Wer sich auf solches begriffliches Zerlegen und Zusammenfassen versteht, dessen Spur folgt Sokrates „wie der eines Gottes“, wie er mit homerischem Zitat sagt (265 d 3 – 266 b 7). Die hyperbolische Ausdrucksweise ist verständlich, handelt es sich bei der doppelten Fähigkeit doch um die Grundlage des Redens und Denkens (Îna o‰óc te Õ légein te kaì frone$n, 266 b 4). Weder kann man hier Sokrates abnehmen, daß die Beispiele von Begriffszerteilung und Begriffszusammenfassung rein zufällig in seine Eros-Reden kamen, noch kann man verkennen, daß Platon seine eigene Errungenschaft, das Dihairesis-Verfahren, als hochwillkommene, gleichsam ‚göttliche‘ methodische Anleitung zu korrektem Denken preisen läßt. Im Parmenides sind wir der dramatischen Fiktion nach in einer Phase des Denkens, in der der Begriff einer platonischen ‚Idee‘ zwar schon klar konzipiert ist, die mit dieser Konzeption verbundenen Aporien des Chorismos jedoch noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden können. Nur ein außergewöhnlich begabter Mensch vermag zu verstehen, sagt Parmenides, daß es zu jeglichem Ding eine Idee als ein an sich Seiendes gibt, „und noch mehr Bewunderung verdient der Mann, welcher imstande wäre dies alles selber aufzufinden und es einem anderen in deutlicher und wohlgegliederter Darlegung klarzumachen“ (Parmenides 135 a 7 – b 2, b 1 – 2) 23. Es ist philosophiegeschichtlich nicht (mehr) strittig, wer es war, der ‚dies alles selber aufgefunden‘ hat. Es sollte auch nicht strittig sein, daß die dialogische Entwicklung der Aporien des Chorismos (130 b – 135 a) und die Durchführung der ‚Übung‘, die die Fähigkeit zur Überwindung der Aporien stärken soll (vgl. 136 c 4 – 5), nur von einem geleistet werden konnte, der sich tatsächlich ‚alles in deutlicher und wohlgegliederter Darlegung klargemacht‘ hat. Anders gesagt: es wäre mehr als künstlich, unter dem ‚noch bewunderungswürdigeren‘ Mann jemand anderen verstehen zu wollen als Platon selbst.

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sogleich aufgehört hätte, darin noch die Leistung eines cofóc zu sehen. – Die ‚Bescheidenheit‘ Platons beleuchten die oben folgenden Beispiele. In der Übersetzung von O. Apelt (Leipzig 1922 2).

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Im Euthydemos erzählt Sokrates, wie auf der Suche nach dem maßgeblichen und glücklich machenden Wissen jemand den Gedanken äußerte, die mathematischen Wissenschaften könnten mit ihren Ergebnissen nichts anfangen und übergäben sie daher den Dialektikern. Als der Empfänger des Berichts, Kriton, anzweifelt, ob das wirklich der philosophisch ungeübte junge Kleinias gesagt haben kann, meint Sokrates, es könne auch von „einem der Höheren, der zugegen war“, gesagt worden sein (Euthydemos 290 c 1 – 291 a 4, Zitat a 4). Der Gedanke, dem hier ein göttlicher Ursprung zugeschrieben wird, ist aus der Politeia bekannt: da die Vertreter der mathematischen Wissenschaften nicht nach der @rc2 fragen, sondern nur im Ausgang von ihren Hypothesen deduzierend zu ihren Ergebnissen gelangen (511 c 6 – d 2), gewinnen sie keine volle Einsicht in das Wesen ihrer Objekte – dafür bedürften sie der Dialektik, die die ‚Hypothesen‘ aufhebt und zum Prinzip fortschreitet (511 b 5 – 7). Ein Kernstück der platonischen Wissenschaftstheorie und Ontologie, das Verhältnis zwischen Mathematik und Dialektik bzw. zwischen den mathematischen Gegenständen und den Ideen, wird hier aus dem Bereich menschlichen Wissens herausgehoben: wer solches sagen konnte, bedürfte keines Menschen mehr für seine paideía (Euthydemos 290 e 5 – 6). Und schließlich sagt Sokrates im Charmides, wo es um die Frage geht, welche Vermögen sich auf sich selbst beziehen können, es bedürfe „eines großen Mannes“, um von allen Dingen ihre mögliche Selbstbezüglichkeit zu bestimmen (169 a 1 – 5). Da aber ‚Sokrates‘ hier im Dialog mit dieser Aufgabe bereits begonnen hat und in methodisch sicheren Schritten auch schon ein Stück weit gekommen ist, und da zu den Aufgaben jenes ‚großen Mannes‘ auch gehören würde zu entscheiden, ob es eine sich selbst bewegende Bewegung gibt – was Platon bekanntlich mit seinem Begriff der Seele als der sich selbst bewegenden Kraft positiv beantwortet (vgl. Phaidros 245 c – e) –, so ist es klar, daß der von ‚Sokrates‘ in die Zukunft projizierte ‚große Mann‘ kein anderer ist als der, der so distanziert über ihn schreibt. Angesichts dieser wiederkehrenden Aussagen der Dialoge über den ‚göttlichen‘ Status der Ideendialektik und die Bedeutung des Mannes, der sie aufzufinden und klar darzulegen vermöchte kann es nicht verwundern, wenn Platon auch im autobiographisch akzentuierten Schreiben an die Dioneer ein klares Bewußtsein von der Würde und der Bedeutung des von ihm betriebenen ëpit2deuma zeigt. Er sieht sich als Vertreter einer geachteten Beschäftigungs- und Lebensform

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(Epist. 7, 329 b 2), der die grundlegend wichtigen Wahrheiten über die Prinzipien der Realität (vgl. tà perì fúcewc Ákra kaì prõta, 344 d 4 – 5) am besten von allen auch schriftlich darlegen könnte (341 d 2 – 3), wenn er denn auf geltungssüchtiges Sich-Profilieren vor den Menschen angewiesen wäre (vgl. 344 e 2 – 4). Doch das ist er gerade nicht, die religiös empfundene Achtung (vgl. ëcébeto, 344 d 7) für die ‚ernsthaftesten Dinge‘ (cpouda$a, cpoudaiótata, 344 c 2, 6) ist ihm wichtiger als die Bewunderung der Menschen. Im übrigen weiß er, daß er bei den wirklich Urteilsfähigen anerkannt ist (345 b 5 – 7). Diese Zeugnisse lassen zusammengenommen nur den Schluß zu, daß Platon die gesellschaftliche Geltung der Philosophie und die Würdigung seiner eigenen Leistung durchaus nicht gleichgültig waren. Sokrates’ Verärgerung über die Herabsetzung der Philosophie (Politeia 536 c 3) hat gewiß wenig mit dem historischen Sokrates, aber viel mit dem Schöpfer der Dialogfigur ‚Sokrates‘ zu tun. Vor diesem Hintergrund versteht man die mit spürbarer innerer Anteilnahme – deren Platon sich bewußt ist: 498 c 5 – geschriebene Schilderung des gegenwärtigen unerfreulichem Zustandes (487 b ff.): weil das Philosophieren öffentlich und privat falsch gehandhabt wird, die Begabten entmutigt und verdorben werden, Unwürdige sich vordrängen, hat die Öffentlichkeit – gemeint ist offensichtlich in erster Linie die Öffentlichkeit in Athen – die schlechteste Meinung von den Philosophen und kann daher im Philosophenkönigssatz nur den reinen Widersinn sehen. Sokrates ist trotz allem optimistisch, daß die Menge nach Aufklärung über Natur und Intentionen der wahren Philosophen den Gedanken der Philosophenherrschaft schließlich akzeptieren wird (500 d 10 – 502 a 3). Schuld am schlechten öffentlichen Erscheinungsbild der Philosophie sind einerseits ungeeignete Vertreter, andererseits ungeeignete Verfahren. Die ungeeigneten Vertreter sind die, die nach dem Ausscheiden der wahrhaft philosophischen Naturen (490 e – 495 b) in den nunmehr ‚verwaisten‘ (495 c 2) Bereich eindringen, angezogen von dem Ansehen der Philosphie, das trotz allem noch besteht, jedenfalls im Vergleich mit dem geringen Ansehen der Berufe (technai), aus denen sie kommen (495 c 2 – d 7). Das ungeeignete Verfahren besteht in der Zulassung von unreifen Jünglingen zum Schwierigsten der Philosophie sowie das Betreiben der philosophischen Studien als Nebensache (497 e 9 – 498 a 6). In einem ebenso einprägsamen wie verletzenden Bild vergleicht Platon die, die ‚von außen unbefugterweise hereinströmen‘ (500 b 3), mit Unfreien, die durch ihre niedere banausische Tätigkeit körperlich und

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seelisch entstellt sind (495 c 8 – e 2). Ein kleiner kahlköpfiger Schmied, der zu Geld gekommen ist, will nun, nach der Entlassung aus dem Gefängnis frisch gebadet und neu eingekleidet, die verarmte und verlassene Tochter seines ehemaligen Herren heiraten (495 e 4 – 9) – das an Bösartigkeit grenzende Bild zeigt die volle Verachtung des Aristokraten Platon für die Unterschicht und des Philosophen Platon für bestimmte Konkurrenten. Diese unfreien falschen Philosophen, die die Menge bisher mit den wahren verwechselt, wissen nichts von geistig freien Gesprächen, die um der Erkenntnis als Selbstzweck willen geführt werden (499 a 4 – 6); sie ergehen sich in eristischen Künsteleien, die für Streit und Prozesse gut sind (499 a 6 – 8) und reden in ganz unphilosophischer Manier vor allem von Personen statt von Sachen, wobei sie sich zanksüchtig gegenseitig schmähen (500 b 3 – 6). Unzweifelhaft schildert Platon hier einen Typus, aber ebenso unzweifelhaft trägt seine Schilderung auch spezifische Züge, die man seit langem auf Isokrates bezogen hat 24. Dies wohl zu Recht, denn erstens hat Isokrates selbst die Bemerkung über die Zanksucht der falschen Philosophen auf sich bezogen 25, und zweitens ist er der prominenteste Vertreter jenes gekünstelten Stils, der 498 e 1 – 2 charakterisiert, 495 e 5 – 6 parodiert wird 26 – ganz abgesehen davon, daß der Aufstieg aus den banausischen technai doch wohl an den Berufswechsel des Isokrates vom Prozeßredenschreiber zum prätentiösen ethisch-politischen Publizisten erinnern soll. Es ist aber dieser Typus des zweifelhaften und unwürdigen ‚Philosophen‘, dessen lautstarke Präsenz die Öffentlichkeit gegen die von Platon propagierte wahre Philosophie einnimmt (500 b 1 – 2). Platons Sorge um die gesellschaftliche Geltung seines ëpit2deuma gewinnt so einen konkreten historischen Bezug, der von persönlicher Schärfe nicht frei ist (was angesichts der lebenslangen Konkurrenz mit der Schule des Isokrates verzeihlich sein mag). Die Beziehung auf Isokrates wird auch dadurch wahrscheinlich gemacht, daß im gleichen Zusammenhang das Verhältnis weiterer historischer Persönlichkeiten zur Philosophie thematisiert wird: der Fall 24 25

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Ältere Literatur dazu zitiert Adam (oben S. 4 Anm. 4) II 29 (zu 495 e 4). In der Antidosis-Rede 260. Vgl. U. von Wilamowitz-Moellendorff, Platon II, Berlin 1919, 1969 4, 120 – 122 (Wilamowitz betont allerdings mehr den generischen Charakter der Schilderung als ihre Anwendbarkeit auf Isokrates, die er nicht bestreitet). Die auffällige Parisose in newctì mèn ëk decmõn leluménou, ën balaneíœ dè lelouménou wirkt parodistisch, entspricht sie doch nicht dem ungezwungenen Dialogstil, dessen sich Sokrates 498 e 2 rühmt.

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des Theages und der des Sokrates werden in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit besprochen, wobei die Erwähnung von Sokrates’ Daimonion zeigt, daß hier nun wirklich vom historischen Sokrates die Rede ist (den Platon freilich nirgends von seiner literarischen Schöpfung trennt). Daß wirkliche Philosophen gelegentlich doch auch aus den technai kommen können (496 b 5 – 6), hat man auf Simon den Schuster bezogen 27, was plausibel, wenn auch nicht zwingend ist. So gut wie zwingend sind hingegen die historischen Anspielungen in der Schilderung (494 b – 495 b) jenes einzigartig begabten jungen Mannes, der in einer bedeutenden Stadt gerade wegen des Glanzes seiner Herkunft, seiner sozialen Stellung und seines Reichtums von den unterschiedlichsten Gruppen gehindert wird, sich der Philosophie zu widmen: hier kann nur Alkibiades gemeint sein, wie Plutarch schon sah28. Bleibt die Frage, wer gemeint sein mag bei der Schilderung jener echten Philosophen, die erkannt haben, wie lustvoll und beseligend die Philosophie ist und zugleich sehen, wie die Menge im Wahn lebt und keiner ihrer Politiker etwas Vernünftiges unternimmt, die ferner feststellen müssen, daß es unmöglich ist, Verbündete im Kampf für das Recht zu finden, daß man aber als Einzelkämpfer Gefahr läuft, zugrunde gerichtet zu werden bevor man etwas ausrichten konnte, und die schließlich angesichts dieser Lage sich ins Unpolitische zurückziehen wie man bei einem Sturm Unterschlupf im Schutz einer Mauer sucht (496 c 5 – e 2). Auch hier kann man, wie im Fall des Isokrates, sich dabei beruhigen, daß nur ein Typus beschrieben werden soll. Andererseits entsprechen die Erfahrungen und die Reaktion dieses Typus so genau dem, was Platon im 7. Brief (324 b – 326 b) vom Entstehen seiner eigenen Haltung erzählt, daß sich der Schluß aufdrängt, daß er hier auch – oder sogar in erster Linie – seinen eigenen Fall im Blick hatte 29. 27 28

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Adam (oben S. 4 Anm. 4) II 31 (mit Verweis auf ältere Literatur). Adam (oben S. 4 Anm. 4) II 25 machte darauf aufmerksam, daß Plutarchs Bemerkungen über die charakterliche Gefährdung des Alkibiades (Alk. 4.1) sprachlich an unsere Stelle erinnern. Wer weiter an der Unechtheit des 7. Briefes festhalten möchte – trotz des Scheiterns aller ‚Beweise‘ –, mag annehmen, daß der Autor des Briefes die Politeia-Stelle für seine Darstellung benützte. Aber wer sagte ihm, daß der Passus auf Platon persönlich zu beziehen sei? Gab es sonst keine Nachrichten über die Genese von Platons politischer Philosophie? Die willkürliche Annahme der Abhängigkeit des Briefes von Politeia 496 c – e würde nur den selbständigen Zeugniswert des Briefes aufheben, nicht aber beweisen können, daß die Beziehung auf Platon verfehlt ist. Eine hohe Wahrscheinlichkeit bliebe dieser Deutung auch so.

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Die Sorge um die gesellschaftliche Geltung der Philosophie ist also fest verankert in der Gedankenentwicklung der Politeia und steht überdies in Einklang mit der Selbsteinschätzung Platons in anderen Dialogen sowie mit seinem autobiographischen Bericht.

d) Der Rang des Erkenntnisziels Die wirkliche Bedeutung des timiøteron poi4cai des Geschäfts der Dialektik zeigt sich aber erst, wenn wir beachten, daß es dabei um mehr geht als nur um den gesellschaftlichen Rang des philosophischen ëpit2deuma. Fehlentscheidungen bei der Auswahl der Philosophen werden nicht nur die Philosophie noch mehr dem Gelächter preisgeben, sondern nachgerade den Erhalt von Stadt und Verfassung unmöglich machen (536 b 3 – 6). Die restriktive Handhabung der Zulassung zum Studium der Dialektik ist erforderlich, um die Gesinnung der ‚Gesetzwidrigkeit‘ (paranomía, 537 e 4) nicht aufkommen zu lassen, die den Staat zugrunde richten würde. Die falsche Dialektik verfehlt notwendig die Wahrheit (vgl. 538 e 6), was zu einer falschen Lebensführung verleitet. Die Wahrheit zu suchen und zu finden – denn sie ist auffindbar – bedeutet die eigentliche Natur des Menschen verwirklichen, was wiederum dem Erreichen des dem Menschen möglichen Glücks gleichkommt. Das Glück der Stadt als ganzer, das am Schluß von Buch 7 beschworen wird (541 a 6), hängt von der korrekten Durchführung des seit 502 d entwickelten Erziehungsplans für die künftigen Philosophen ab, und in diesem kommt dem konsequenten Ausschluß der ‚Unbefugten‘ von der höchsten Stufe der Bildung, der mehrjährigen Schulung in Dialektik, die entscheidende Bedeutung zu. Der tiefere Grund für das Bestreben, das Ansehen des Geschäftes der Philosophie zu heben, liegt also nicht in der Rücksicht auf das Urteil der Gesellschaft, sondern darin, daß nur so die Verwirklichung des wahren Wesens des Menschen durch den Staat und für den Staat zu sichern ist. Die Philosophie muß in Ehren gehalten werden, weil sie ihrerseits das in Ehren hält, was an sich von hohem Rang und ‚wertvoll‘ (tímion) ist. Das sind nicht die jetzt in den Städten geltenden Ehren, sondern das Richtige und das Gerechte 30. tímia sind auch die anerzogenen rich30

540 d 5 – e 2 (von den wahren Philosophen:)... tõn mèn nñn timõn katafron2cwcin ..., tò dè örqòn perì pleíctou poihcámenoi kaì tàc @pò toútou timác, mégicton dè kaì @nagkaiótaton tò díkaion.

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tigen Überzeugungen (dógmata) über das Gerechte und das sittlich Schöne 31, sind sie doch entfernte Abbilder der Ideen von Gerechtigkeit und Besonnenheit, die ihrem Wesen nach tímia yuca$c sind (so Phaidros 250 b 2). Gewiß sind alle Ideen an sich tímia, aber nicht alle in gleichem Maße: die Ideenwelt hat ‚ranghöhere und rangniedrigere Teile‘ (die die echten Philosophen allerdings gleichermaßen studieren werden) 32. Die Hierarchie der Ideenwelt bestimmt sich nach dem Abstand von der Idee des Guten, die die letzte Quelle von Rang und ‚Ehre‘ ist: sie ist „noch höher zu ehren“ sogar als Erkenntnis und Wahrheit, so hoch diese auch stehen mögen 33. Ja sie ragt „an Würde und Macht noch jenseits des Seins“ hinaus 34. Die hierarchisch gestufte Ideenwelt, die von einem solchen Prinzip ihren ontologischen Rang erhält, ist für Platon ‚göttlich‘ 35. Ein ‚göttliches‘ Element im Menschen ist die Denkseele, mit der er die Ideen zu erfassen vermag36. ‚Göttlich‘ ist folglich auch der Mensch, der diesen göttlichen Teil in sich seiner Bestimmung gemäß zu entfalten vermag: immer wieder erhält der filócofoc bei Platon das Prädikat qe$oc 37. Die Forderung, den Rang der Dialektik zu heben, von der wir ausgingen, erklärt sich also letztlich aus der Beziehung der Dialektik auf die Idee des Guten. Die Dialektik erschließt dem ‚göttlichen‘ Philosophen den Zugang zur göttlichen Ideensphäre und ihrem transzendenten Prinzip, von dem alle tim2 und precbeía sich herleitet. Durch diesen Zugang zur Ideenwelt gewinnt der Mensch seinen Rang als ‚nicht irdisches, sondern himmlisches Gewächs‘, das seine Wurzeln ‚oben‘ im Intelligiblen 31

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Vgl. 538 e 5 (von einem unsicher gewordenen jungen Menschen gesagt) Ôtan ... m2te tañta 1g4tai tímia ... (tañta verweist auf die dógmata ëk paídwn perì dikaíwn kaì kalõn 538 c 6). Politeia 485 b 6 – 7 (von den philosophischen Naturen:) oÚte timiwtérou oÚte @timotérou mérouc (sc. t4c oÿcíac t4c @eì oÚchc, b 3) êkóntec @fíentai. Politeia 508 e 3 – 509 a 7 Éti meizónwc timhtéon t3n toñ @gaqoñ Êxin, a 4 – 5 oÛtw kalõn @mfotérwn Óntwn, gnøceøc te kaì @lhqeíac , ... 509 b 8 – 10 oÿk oÿcíac Óntoc toñ @gaqoñ, @ll’ Éti ëpékeina t4c oÿcíac precbeí+ kaì dunámei ûperécontoc. Mit dem Wort precbeí+, das Aristoteles in freier Paraphrase durch timióthc ersetzt (EN X, 1178 a 1 – 2: dunámei kaì timióthti ... ûperécei), nimmt Platon die Thematik des ontologischen Ranges aus 509a 4 (meizónwc timhtéon) wieder auf. tímion war offenbar ein akademischer terminus technicus zur Beschreibung des vom Prinzip herkommenden ontologischen Ranges, s. meinen Beitrag: Von der tim2 der Götter zur timióthc des Prinzips. Aristoteles und Platon über den Rang des Wissens und seiner Objekte, in: Ansichten griechischer Rituale (Festschrift W. Burkert), hrsg. von Fritz Graf, 1998, 420 – 439. Politeia 500 c 9, 611 e 2 – 3. Politeia 589 d 1, e 4, 590 d 1 – 4, vgl. 518 e 2. Politeia 497 c 1 – 3, 500 d 1, vgl. 492 e 5, 540 c 2; Epist. 7, 340 c 3, Soph. 216 b 9 – c 2.

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hat (vgl. Tim. 90 a 5 – b 1). Die Philosophie in Ehren halten heißt also die an sich bestehende, von der Idee des Guten herrührende ontologische Rangordnung wiederherstellen und zum Nutzen der Menschen sichtbar machen, so weit sie der einzelne zu erfassen vermag. Nicht Geltungsbedürfnis und nicht Sektenmentalität diktieren Platon die Forderung nach dem rigorosen Fernhalten der Unbefugten von der Dialektik, sondern die Überzeugung, daß sie das höchste Gut für den Menschen ist (vgl. Tim. 47 b 1 – 2) und daß es folglich frevelhaft wäre, der Gefährdung dieses Gutes durch unsachgemäßen Umgang tatenlos zuzusehen. 3) Die Dialektik ist Thema – und wird nicht expliziert a) Die Menge wird die Philosophenherrschaft akzeptieren So pessimistisch Platon auch das philosophische Potential der Menge beurteilt (s. o. 8 – 12), so optimistisch denkt er über die Möglichkeit, sie zur freiwilligen Annahme der Herrschaft der Philosophen zu bewegen. Das Volk ist alles andere als bösartig, die ‚Milde‘ des Volkes, nach Aristoteles und Isokrates ein Charakteristikum der Athener38, ist auch für Platon ein Faktum (Politeia 500 a 4 – 8). So wird es möglich sein, die ursprüngliche Empörung der Menge über den Philosophenkönigssatz (vgl. 473 e 6 – 474 a 3) zu beschwichtigen, indem man ihnen klar macht, daß die Herrschaft nicht in die Hände jener zänkischen Pseudophilosophen gelegt werden soll, die sich unbefugterweise in die Philosophie eingedrängt haben und sie durch ihre persönlichen Polemiken in Verruf gebracht haben (500 b 3 – 6), sondern in die Hände jener wahren Philosophen, deren Sinnen ganz auf die wohlgeordnete göttliche Ideenwelt, auf ‚das Sein und die Wahrheit‘ gerichtet ist und die die erforderlichen außergewöhnlichen Charaktereigenschaften besitzen (500 b 8 – d 1, 501 d 1 – 5). Hierüber aufgeklärt, werden ‚die Vielen‘ nicht mehr ‚erbost‘ und nicht mehr ‚wütend‘ sein, sondern – ihrer eigentlichen Natur gemäß – ‚gänzlich mild werden‘ und das sachlich Richtige freiwillig akzeptieren 39. 38

39

Aristoteles erwähnt ‚die gewohnte Milde des Demos‘ (1 eıwqu$a toñ d2mou pr+óthc) Ath. pol. 22.4. Nach Isokrates, Antidosis-Rede 20 u. 300 waren die Menschen keiner Polis milder und umgänglicher als die Athener. Platon geht davon aus, daß der Demos Áfqonoc te ka$ pr*oc ist, 500 a 5. 500 e 5 oÿ calepanoñcin, 501 e 2 [oÿk] @grianoñcin, 501 c 8 praÜnontai, 502 a 1 pantápacin pr„ouc gegonénai kaì pepe$cqai.

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Diese optimistischen Erwartungen Platons hinsichtlich der friedlichen Annahme der Philosophenherrschaft durch die Nichtphilosophen, die natürlich komplementär zu seiner Ablehnung der Revolution stehen 40, kommen nach der scharfen Abhebung der notwendig äußerst seltenen philosophischen Naturen gegen die Menge der Ungeeigneten mehr als überraschend. Ist es denn wirklich möglich, die Eigenart und den Rang des Geschäftes der Philosophie den Ungeeigneten und Unbefugten (den oÿdèn proc2koucin vgl. 539 d 5 – 6) so weit klar zu machen, daß sie zur Aufgabe ihrer politischen Rechte bereit wären? Platon legt den Nachdruck vor allem auf die charakterlichen Vorzüge der künftigen Herrscher (so besonders in 499 d 10 – 500 d 8), die die Menge überzeugen werden. Indes ist klar, daß sich ihre fúcic ohne ihre ëpit2deucic nicht voll erfassen läßt, ihre ëpit2deucic aber nicht ohne Verständnis der intelligiblen Welt, auf die ihr Denken allein gerichtet ist. Daß es aber überhaupt so etwas wie ewig sich gleich bleibende Ideen gibt (und nicht nur die veränderlichen Einzeldinge), ist ein Gedanke, den das Denken der Menge weder nachzuvollziehen fähig noch überhaupt zu ‚dulden‘ oder ‚auszuhalten‘ (@nécecqai) imstande ist 41. Nimmt man hinzu, daß die Menge der Ungeeigneten von der das Ideendenken entbindenden Beschäftigung mit Dialektik strikt auszuschließen ist 42, so ist klar, daß es nach Platons eigenen Voraussetzungen unmöglich sein müßte, t2n te fúcin kaì t3n ëpit2deucin (500 a 1) der Philosophen den Unphilosophischen zu vermitteln. Doch der Gedanke der graduellen Annäherung an die vollkommene Verwirklichung, der bekanntlich gleich zu Beginn von Platons Erörterung des utopischen Charakters seines Entwurf begegnet (472 c d, 473 a b), kann uns davor bewahren, ihm vorschnell einen krassen Widerspruch in seiner Konzeption anzukreiden. Wir fragen also nicht, ob es möglich ist, ‚Natur und Beschäftigung‘ der Philosophen der Menge klarzumachen, sondern, etwas weniger radikal, wie weit das möglich ist.

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496 d 6 – e 1 (vom wahren Philosophen) 1cucían Écwn kaì tà aûtoñ práttwn .... @gap* eÍ pæ aÿtòc kaqaròc @dikíac te kaì @nocíwn Érgwn ... biøcetai. Vgl. Epist. 7, 331 c d. 476 b 4 – 9 aÿtoñ dè toñ kaloñ @dúnatoc aÿtõn 1 diánoia t3n fúcin ıde$n, 480 a 3 – 4 aÿtò dè tò kalòn oÿd’ @nécecqai