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German Pages 222 [224] Year 1932
Das Bild des Menschen in Schopenhauers Philosophie
Das Bild des Menschen in Schopenhauers Philosophie
An Hand der Texte dar
gestellt und erläutert von
Konrad Pfeisfer
Berlin und Leipzig 1932
Walter de Gruyter & Co. vormals G. I- Göschen'sche Derlagshandlung - I. Guttentag, Verlagsbuch handlung • Georg Reimer • Karl I. Trübner • Veit & Comp.
Vorwort Das Bild des Menschen philosophisch zu zeichnen ist kein anderer so sehr
berufen wie Schopenhauer, in dessen Philosophie all die großen Menschheitögedanken, die die Jahrtausende überdauern, wie in einem Zentrum Zu
sammentreffen. Die indische, vom Leiden ausgehende Erlösungssehnsucht, die christliche, auf der sündlichen Natur des Menschen beruhende Forderung der Selbstverleugnung, die kunstfrohe Lebensauffassung der Griechen,
Goethes treue Hingabe an die Natur und der geniale Tiefsinn Kants — alles das stndet seine einheitliche und einzigartige Zusammenfassung und
Deutung erst durch Schopenhauer, diesen menschlichsten und lebenswahrsten aller Philosophen.
Aber die großen Gedanken kommen aus dem Herzen: das Bild des
Menschen, wie es sich aus dem Bilde der ganzen Welt, das Schopenhauer uns in seinen Schriften hinterlassen, herausheben läßt, ist ihm nicht nur aus
dieser Vielstimmigkeit philosophischen Denkens erwachsen, sondern es ist von ihm tief innerlich erlebt, in allen seinen Teilen. Denn in seiner Brust schlug ihm ein lebenswarmes, ja glühendes Herz, welches er
freilich nicht jedem öffnete und welches auch heute nicht jeder zu sinden weiß.
Der Leser der folgenden Blätter aber wird es entdecken können und an sich selbst, so hoffe ich, die Überzeugungskraft der Schopenhauerschen Philo sophie erfahren, die in dieser Erlebnisgrundlage wurzelt: „Denn es muß von
Herzen gehen, was auf Herzen wirken soll."
Wir werden hier auf Schopenhauers Methode zu philosophieren geführt. Noch Kant betrachtete sich als einen wissenschaftlichen Forscher, Schopenhauer aber hat der Philosophie den Weg der Kunst gewiesen und
sie nur insofern als Wissenschaft gelten lassen, als das Niederlegen ihrer Ergebnisse in Begriffen ein Wissen ist. Deshalb tritt die wissenschaftlich
kritische Verstandesarbeit bei ihm nicht etwa in den Hintergrund, im Gegen
teil, Schopenhauer ist einer der schärfsten und klarsten Denker, aber er ver bindet hiermit — und das gibt seiner Philosophie den Charakter des durchaus Einmaligen — eine schon äußerlich an der Pracht seiner Sprache erkennbare künstlerisch-geniale Intuition, die ihn immer wieder aus den Tiefen seines
Erlebens das wahre Wesen der Welt in allen ihren Gestaltungen erfassen und so Wahrheiten sinden ließ, die, wie das aus der gleichen Quelle geschöpfte
echte Kunstwerk, von Ewigkeitswert sind.
Sehen wir solchergestalt die Philosophie in der Nähe der Kunst, so ist hier
daran zu erinnern, daß auf diesem Gebiet niemand Schopenhauer so nahe
gestanden hat wie Goethe. An ihm, dessen vertrauten Umgang er zu jener Zeit genoß, als sich die Grundgedanken seines Systems in ihm bildeten,
sah er das Wesen des Genius, den er in sich selbst aufkeimen fühlte, in un mittelbarer Nähe, und je mehr er sich des Unterschiedes zwischen sich und
.den Andern bewußt wurde, desto mehr belehrte ihn das Goethesche Vorbild über seinen eigenen Wert und seine Aufgabe. Und wie oft mag er sich in späteren Jahren ein Goethewort zum Trost vor die Seele gerufen haben,
zu einer Zeit, da eine immer größer werdende Lebensöde sich um ihn aus breitete, bis endlich seine eigenen Jünger ihn derselben innigen und un
wandelbaren Verehrung versicherten, wie er solche, seltsamerweise mit den
gleichen Worten, vierzig Jahre zuvor in seinen Briefen an Goethe zum Ausdruck gebracht hatte und zeitlebens sich bewahrte.
Um dieses so
wenig bekannten und so selten behandelten Verhältnisses zwischen Goethe
und Schopenhauer zu gedenken und zugleich, in knappster Form, darzulegen, daß trotz der Grundverschiedenheit des Lebensgefühls und der Geistesrichtung dennoch eine Synthese dieser beiden mächtigen Geister
gegeben werden kann, ist jedem Kapitel des vorliegenden Buches ein Goethewort als Motto vorgesetzt worden.
Die einleitenden Bemerkungen am Anfang eines jeden Teiles und Kapitels haben den Zweck, auf den Inhalt der ausgewählten Text stellen erläuternd hinzuweisen und den inneren Zusammenhang der einzelnen
Kapitel und damit die Einheit des Systems darzulegen, wodurch allein ein
wirkliches Weltverständnis zu erlangen ist und das Bild des Menschen zu tiefst erschaut werden kann. Auch wird an dem jeweils geeigneten Ort auf die Eigentümlichkeiten der Denkweise Schopenhauers, sowie auf die
wichtigsten Fragen und die am häusigsten anzutreffenden Mißverständnisse
seiner Lehre kurz eingegangen, wobei aber das Bestreben, allgemein rer-
ständlich zu sein, niemals außer Betracht gelassen ist. Auf diese Weise glaubte ich, meine Aufgabe, den vollen Reichtum der Schopenhauerschen Behandlung des Menschheitsproblems jedem Gebildeten zugänglich zu
machen, am besten erfüllen zu können.
Schließlich hat sich
ganz von selbst, entsprechend dem Erlebnis
charakter dieser Philosophie, mitunter die Anwendung ihrer Sätze auf ihren
Schöpfer selbst ergeben, so daß aus dem Gesamtbild des Menschen, das diese Blatter zeichnen wollen, dann und wann das Bild des Menschen
Schopenhauer uns entgegensieht und oft genug menschlich ganz naheran
uns herantritt. Der Leser aber erhalt hierdurch und durch die hin und wieder eingestreuten Ereignisse aus Schopenhauers Erdenleben mehr als nur biographisch interessante Einzelheiten. Denn an diesem Menschen war durch die Weltweite seines Denkens und Fühlens alles ins Überpersönliche
gesteigert, so daß er, selbst in seinem persönlichen Lebensschicksal, als ein
Sinnbild allgemeiner Menschlichkeit vor uns steht.
Als ein Symbol darf auch das Titelbild gelten. Dieses Bild ist fast unbekannt und ist doch eines der schönsten. Es stellt den Philosophen im 63. Lebensjahre dar, zeigt aber noch keine Spuren des Greisenalters, wenngleich die bekannte Altersphysiognomie sich bereits ankündigt; aber
gerade hierdurch ist es uns wiederum vertraut und wirkt nicht befremdend.
Unmittelbar
nach Vollendung
seines letzten Werkes entstanden, im
August 1850, zu der Zeit, als er vergeblich nach einem Verleger für fein Buch suchte, spricht es durch das leuchtende, siegesgewisse Auge und den stolz erhobenen Kopf dennoch
„von jenem Mut, der früher oder später den Widerstand der stumpfen Welt besiegt" und erweckt den Eindruck, als ob der Dargestellte wüßte, daß diese Zeit des Sieges gekommen sei und daß er nun aus dem Dunkel der Ver
gessenheit hervortreten werde in das Licht des Weltruhms, wie das dann
auch wirklich, eben durch jenes Werk, der Fall gewesen. So zeigt dieses
Bild nicht nur des Philosophen äußere Gestalt, sondern ist zugleich sym bolisch für seine Wirkung auf kommende Zeiten und Geschlechter, deren
sein Genius bis zur llntrüglichkeit gewiß gewesen war. Halle, im August 1931.
Konrad Pfeiffer
Inhaltsverzeichnis Erster Teil: Des Menschen Erdenlos
u
1. Kapitel: Eines Schattens Traum ist der Mensch
13
2. Kapitel: Zeit und Gegenwart
16
e
3. Kapitel: Der Zweck des Lebens
21
4. Kapitel: Die beiden Pole des Menschenlebens
27
5. Kapitel: Von den Höhen des Lebens
30
6. Kapitel: Menschliches Glück
34
7. Kapitel: Dom Unterschiede der Lebensalter
39
6. Kapitel: Der Tod und die große Unsterblichkeitslehre der Natur
45
e
9. Kapitel: Menschenschicksal
54
10. Kapitel: Mensch und Erdgeist
Zweiter Teil: Die ewige Idee des Menschen
62 65
11. Kapitel: Der Wille zum Leben — der Mensch sein eignes Werk
67
12. Kapitel: Die Stufenleiter der Natur
73
13. Kapitel: Menschliche Schönheit •
76
14. Kapitel: Von der Seele
76
15. Kapitel: Herz und Kopf
80 •
16. Kapitel: Wurzel und Krone des Menschen
64
17. Kapitel: Dom Unterschied der Geschlechter
67
18. Kapitel: Die Liebe als Geist der Gattung
92
19. Kapitel: Der Brennpunkt des Willens zum Leben
99
20. Kapitel: Metaphysische Einheit des Menschengeschlechts •
102
21. Kapitel: Dom Charakter der Menschenwelt
105
22. Kapitel: Physiognomik
in
2Z. Kapitel: Aristokratie der Natur
n4
24. Kapitel: Wahre Größe
117 e
25. Kapitel: Irrtümer der Menschheit
120
26. Kapitel: Zeitgeist und Fortschritt
124
9
27. Kapitel: Metaphysisches Bedürfnis des Menschen
128
28. Kapitel: Letzte Fragen und Grenzen der Menschheit
133
Dritter Teil: Grade des Menschentums
141
29. Kapitel: Skala des menschlichen Bewußtseins
143
30. Kapitel: Sogenannte Menschen
147
31. Kapitel: Alltagsköpfe
i49
32. Kapitel: Der Philister
156
33. Kapitel: Der Gelehrte
159
34. Kapitel: Menschen edlerer Art
163
35. Kapitel: Das Genie
167
Vierter Teil: Moralische Bedeutung des Menschenlebens 36. Kapitel: Der große Egoist Mensch
175 177
37. Kapitel: Ethischer Unterschied der Charaktere
181
38. Kapitel: Innere Zwietracht
187
• 39. Kapitel: Die wahre moralische Freiheit
190
40. Kapitel: Unveränderlichkeit des Charakters
195
41. Kapitel: Schuld und Verdienst •
202
42. Kapitel:
205
Erbsünde
43. Kapitel: Verneinung des Willens zum Leben — Heiligung
und Erlösung
44. Kapitel: Stellennachweis
Die beiden Gipfel menschlichen Daseins
208 217
Erster Teil
Des Menschen Erbenlos
Der erste Teil ist gleichsam der Grund, auf dem das Bild des Menschen gemalt ist. Er ist immer der gleiche geblieben und das Thema der Dichter
und Denker aller Zeiten gewesen, weil dem Herzen des Menschen nichts näher
liegen kann als sein Erdenlos. Der Dichter des Hiob hat es vor mehr als
zweieinhalb Jahrtausenden ergreifend geschildert: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und
fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht." Und der Philosoph des 19. Jahrhunderts, Schopenhauer, ruft es uns in unseren Tagen nicht weniger
eindringlich vor die Seele: „Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht, findet der Wille sich als Individuum in einer end- und grenzenlosen
Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit." Ist aber jene alte Dichtung trostlos, indem sie bei ihrer stillen Resignation stehen bleibt, so hat unser Denker dem „strebenden" Menschen das Ziel der
Erlösung gegeben, dem „leidenden" den Weg zur Überwindung des Leidens gezeigt und den „irrenden" an die Erleuchter der Menschheit verwiesen, er
hat „die Nacht der Bewußtlosigkeit" vor der Geburt und nach dem Tode wohl unterschieden von der ewigen Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens,
und in dem „bangen Traum" des Lebens hat er auch des Lebens Höhen
gesehen.
i3
i. Kapitel
Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis.
Eines Schattens Traum istderMensch „Eines Schattens Traum ist der Mensch" — so sang unübertrefflich schön der alte griechische Dichter Plndar. Aber im Munde des Poeten hat dieses
Wort
auch
nur
eine
poetische
Bedeutung,
und der
gleiche
bei
Plato und den Indern auftretende Gedanke ist mehr einer mythischen als eigentlich philosophischen Anschauung der Welt entsprungen.
Erst
Schopenhauer, der hier auf der Kantifchen Lehre von der Idealität
der Zeit
und
des
Raumes
fußt, hat jene Erkenntnis zu voller
philosophischer Klarheit erhoben. Mit der Traumnatur des Lebens ist es
Schopenhauer völlig Ernst. Denn wenn Zeit und Raum nicht dem „Ding an sich" angehören, sondern nur die Formen sind, in denen wir die Erscheinung
dieses Dinges an sich auffassen, — dies ist Kants Lehre — so hat diese Er scheinungswelt nur einen traumartigen Charakter, ein Gedanke, der freilich Kant selbst noch ganz fern lag. Wir aber haben durch diese Erkenntnis Schopenhauers von der traumartigen Beschaffenheit unseres Daseins nichts
verloren, im Gegenteil: wir haben die philosophische Gewißheit gewonnen, daß eben hierdurch Platz geschaffen wird „für eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die der Natur ist". Denn die Idealität von Zeit und Raum ist der Schlüssel zu aller wahren Metaphysik.
i] Das Leben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches. Das Lesen im Zusammenhänge heißt wirkliches Leben. Wann aber die jedesmalige Lesestunde (der Tag) zu Ende und die Erholungszeit gekommen ist, so blättern wir oft noch müßig und schlagen, ohne Ordnung und Zusammenhang, bald hier, bald dort ein Blatt auf: oft ist es ein schon gelesenes, oft ein noch unbekanntes, aber immer aus dem selben Buch. So ein einzeln gelesenes Blatt ist zwar außer Zusammenhang mit der folgerechten Durchlefung: doch
4 steht es hiedurch nicht so gar sehr hinter dieser zurück, wenn man be denkt, daß auch das Ganze der folgerechten Lektüre ebenso aus dem Stegreife anhebt und endigt und sonach nur als ein größeres einzelnes Blatt anzusehen ist. 2] Jedes Individuum, jedes Menschengesicht und dessen Lebenslauf ist nur ein kurzer Traum mehr des unendlichen Naturgeistes, des beharrlichen Willens zum Leben, ist nur ein siüchtiges Gebilde mehr, das er spielend hinzeichnet auf sein unendliches Blatt, Raum und Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine Weile bestehen läßt, dann auslöscht, neuen Platz zu machen. 3] Meine Phantasie spielt oft (besonders bei Musik) mit dem Gedanken, aller Menschen Leben und mein eignes seien nur Träume eines ewigen Geistes, böse und gute Träume, und jeder Tod ein Erwachen. 4] Wie Kants . . . Sonderung der Erscheinung vom Dinge an sich in ihrer Begründung an Tiefsinn und Besonnenheit alles, was je dagewesen, weit übertraf, so war sie auch in ihren Ergebnissen un endlich folgenreich. Denn ganz aus sich selbst, auf eine völlig neue Weise, von einer neuen Seite und auf einem neuen Wege gefunden, stellte er hierin die selbe Wahrheit dar, die schon Platon unermüdlich wiederholt und in seiner Sprache meistens so ausdrückt: diese, den Sinnen erscheinende Welt habe kein wahres Sein, sondern nur ein unaufhörliches Werden, sie sei und sei auch nicht, und ihre Auf fassung sei nicht sowohl eine Erkenntnis, als ein Wahn. Dies ist es auch, was er in der . . . wichtigsten Stelle aller seiner Werke, dem Anfänge des siebenten Buches der Republik, mythisch ausspricht, indem er sagt, die Menschen, in einer sinstern Höhle festgekettet, sähen weder das echte ursprüngliche Licht, noch die wirklichen Dinge, sondern nur das dürftige Licht des Feuers in der Höhle und die Schatten wirklicher Dinge, die hinter ihrem Rücken an diesem Feuer vorüberziehen: sie meinten jedoch, die Schatten feien die Realität, und die Bestimmung der Succession dieser Schatten sei die wahre Weisheit. — Die selbe Wahrheit, wieder ganz anders dargestellt, ist auch eine Hauptlehre der Deden und Puranas, die Lehre von der Maja, worunter eben auch nichts anderes verstanden wird, als was Kant die Erscheinung, im Gegensatze des Dinges an sich nennt: denn das Werk der Maja wird eben angegeben als diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufener Zauber, ein bestandloser, an sich wesenloser Schein, der optischen Illusion und dem Traume zu ver gleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein umfängt, ein
io
Etwas, davon es gleich falsch und gleich wahr ist zu sagen, daß es sei, als daß es nicht sei. — Kant nun aber drückte nicht allein die selbe Lehre auf eine völlig neue und originelle Weise aus, sondern machte sie, mittelst der ruhigsten und nüchternsten Darstellung, zur erwiesenen und unstreitigen Wahrheit; während sowohl Platon, als die Inder, ihre Behauptungen bloß auf eine allgemeine Anschauung der Welt gegründet hatten, sie als unmittelbaren Ausspruch ihres Be wußtseins vorbrachten, und sie mehr mythisch und poetisch, als philosophisch und deutlich darstellten. In dieser Hinsicht verhalten sie sich zu Kant wie die Pythagoreer Hiketas, Philolaos und Aristarch, welche schon die Bewegung der Erde um die ruhende Sonne behaupteten, zum Kopernikus. Solche deutliche Erkenntnis und ruhige, besonnene Darstellung dieser traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt ist eigentlich die Basis der ganzen Kantischen Philo sophie, ist ihre Seele und ihr allergrößtes Verdienst. 5] Was die Geschichte erzählt, ist in der Tat nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit.
i6
2. Kapitel
Jeder Zustand, ja jeder Augen blick ist von Wert, denn er ist ein Repräsentant der Ewigkeit.
Zeit und Gegenwart Ein näheres Eingehen auf die erkenntnis-theoretischen Zeit- und Raum probleme der Kant-Schopenhauerschen Philosophie würde den Rahmen
dieses Buches weit überschreiten. Immerhin verdient wenigstens die Zeit insofern eine besondere Berücksichtigung, als sie, der „Urtypus aller End
lichkeit", mit dem menschlichen Dasein viel inniger verbunden ist als der Raum. Die hier mitgeteilten Gedanken unseres Philosophen, die aus allen Perioden seines Lebens stammen, von den ersten Aufzeichnungen des Acht
zehnjährigen bis zu den letzten Schriften des alten Frankfurter Weisen,
zeigen, daß auch Schopenhauer sein Leben lang von der unaufhaltsamen Flucht der Zeit viel mehr ergriffen wurde als von der Allgegenwärtigkeit des Raumes, und geben uns schon hier einen Beleg für die Erlebnisgrundlage
seiner ganzen Philosophie.
1] So sehr auch auf der Bühne der Welt die Stücke und die Masken wechseln, so bleiben doch in allen die Schauspieler die selben. Wir sitzen zusammen und reden und regen einander auf, und die Augen leuchten und die Stimmen werden schallender: ganz ebenso haben andere gesessen, vor tausend Jahren: es war das Selbe und es waren die Selben: ebenso wird es sein über tausend Jahre. Die Vorrichtung, wodurch wir dessen nicht inne werden, ist die Zeit.
2] Die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. Die Gegen wart ist immer da samt ihrem Inhalt: beide stehen fest, ohne zu wanken; wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart sicher und gewiß. Freilich,
wenn wir zurückdenken an die verflossenen Jahrtausende, an die Millionen von Menschen, die in ihnen lebten; dann fragen wir: Was waren sie? Was ist aus ihnen geworden? — Aber wir dürfen dagegen nur die Vergangenheit unseres eigenenLebens uns zurückrufen und ihre Szenen lebhaft in der Phantasie erneuern, und nun wieder fragen: Was war dies alles? Was ist aus ihm geworden? —Wie mit ihm, so ist es mit dem Leben jener Millionen. Oder sollten wir meinen, die Vergangenheit erhielte dadurch, daß sie durch den Tod besiegelt ist, ein neues Dasein? Unsere eigene Vergangenheit, auch die nächste und der gestrige Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der Phan tasie, und das selbe ist die Vergangenheit aller jenerMillionen... Die Gegenwart allein ist das, was immer da ist und unverrückbar feststeht. Empirisch aufgefaßt das Flüchtigste von allem, stellt sie dem meta physischen Blick, der über die Formen der empirischen Anschauung hinwegsieht, sich als das allein Beharrende dar, das Nunc stans der Scholastiker. Die Duelle und der Träger ihres Inhalts ist der Wille zum Leben oder das Ding an sich, — welches wir sind. Das, was immerfort wird und vergeht, indem es entweder schon gewesen ist oder noch kommen soll, gehört der Erscheinung als solcher an, ver möge ihrer Formen, welche das Entstehen und Vergehen möglich machen . . . Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise ver gleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende die Zunkunft; oben aber der unteilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart: wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Be rührungspunkt des Objektes, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist. Oder: die Zeit gleicht einem unaufhaltsamen Strom und die Gegenwart einem Felsen, an dem sich jener bricht, aber nicht ihn mit fortreißt. 3] Was gewesen ist, das ist nicht mehr; ist eben so wenig wie das, was nie gewesen ist. Aber alles, was ist, ist im nächsten Augenblick schon gewesen. Daher hat vor der bedeutendsten Vergangenheit die unbedeutendste Gegenwart die Wirklichkeit voraus; wodurch sie zu jener sich verhält wie Etwas zu Nichts. . . . Jedem Vorgang unsers Lebens gehört nur auf einen Augenblick das Ist; sodann für immer das War. Jeden Wend sind wir um einen Tag ärmer. Wir würden vielleicht, beim Anblick dieses Ablaufens unserer kurzen Zeitspanne, rasend werden; wenn nicht im tiefsten Grunde unsres Wesens ein heim liches Bewußtsein läge, daß uns der nie zu erschöpfende Born Pfeiffer, Bild d. Menschen 2
i8 der Ewigkeit gehört, um immerdar die Zeit des Lebens daraus erneuern zu können. Auf Betrachtungen, wie die obigen, kann man allerdings die Lehre gründen, daß die Gegenwart zu genießen und dies zum Zwecke feines Lebens zu machen, die größte Weisheit fei; weil ja jene allein real, alles andere nur Gedankenspiel wäre. Aber eben so gut könnte man es die größte Torheit nennen: denn was im nächsten Augenblick nicht mehr ist, was so gänzlich verschwindet wie ein Traum, ist nimmermehr eines ernstlichen Strebens wert. 4] Das Vergessen überstandener Verzweiflung ist ein so seltsamer Zug der menschlichen Natur, daß man dergleichen nicht glauben würde, wenn man es nicht sähe. Herrlich hat Tieck es ausgedrückt in ungefähr den Worten: „Wir stehen und jammern und fragen die Sterne, wer je unglücklicher gewesen ist als wir, indes hinter unserm Rücken schon die spottende Zukunft steht und über den vergänglichen Schmerz des Menschen lacht." Aber gewiß, es soll so sein, nichts soll standhalten im vergänglichen Leben: kein unendlicher Schmerz, keine ewige Freude, kein bleibender Eindruck, kein dauernder Enthusiasmus, kein hoher Entschluß, der gelten könnte fürs Leben! Alles löst sich auf im Strom der Zeit. Die Minuten, die zahllosen Atome von Kleinig keiten, in die jede Handlung zerfällt, sind die Würmer, die an allem Großen und Kühnen zehren und es zerstören. Das Ungeheuer All täglichkeit drückt alles nieder, was emporstrebt. Es wird mit nichts Ernst im menschlichen Leben, weil der Staub es nicht wert ist. Was sollten auch ewige Leidenschaften dieser Armseligkeiten wegen! 5] Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen Verhältnis, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit teils der Gegen wart, teils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere verderbe. Diele leben zu sehr in der Gegenwart: die Leichtsinnigen; — andere zu sehr in der Zunkunft: die Ängstlichen und Besorglichen.
Selten wird einer genau das rechte Maß halten. Die, welche, mittels Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwärts sehen und mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst das wahre Glück bringen sollen, inzwischen aber die Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorbeiziehn lassen, sind, trotz ihren altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt dadurch beschleunigt wird, daß an einem ihrem Kopf ange hefteten Stock ein Bündel Heu hängt, welches sie daher stets dicht vor sich sehn und zu erreichen hoffen. Denn sie betrügen sich selbst um ihr ganzes Dasein, indem sie stets nur ad interim leben, — bis sie tot
i9
sind. — (Statt also mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft aus schließlich und immerdar beschäftigt zu sein oder aber uns der Sehn sucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die Gegenwart allein real und allein gewiß ist; hingegen die Zu kunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders war, und zwar so, daß es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich hat, als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstände verkleinert, vergrößert sie dem Gedanken. Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer heiteren Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbarenWiderwärtigkeiten oder Schmerzen freie Stunde mit Bewußtsein als solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit oder Besorgnisse für die Zukunft. Denn es ist durchaus töricht, eine gute gegenwärtige Stunde von sich zu stoßen, oder sie sich mutwillig zu verderben, aus Verdruß über das Ver gangene oder Besorgnis wegen des Kommenden. Der Sorge, ja, selbst der Reue, sei ihre bestimmte Zeit gewidmet: danach aber soll man über das Geschehene denken: AMa Ta pEv itpoTETu^dac EaaopEV a^vupE^ot Ttsp, Gupov eve ott^eooi tptlov SapaaavvET avapcfl, fAber so sehr es uns kränkte, wir wollen es lassen geschehn sein Und, so schwer es uns wird, den Unmut zähmen im Herzens* und über das Künftige: Htoi Taura Dscuv sv youvaac xEirat, fDoch das liegt im Schoße der Götter] hingegen über die Gegenwart: singulas dies singulas vitas puta (Sen.) fJeden besonderen Tag sieh als ein besonderes Leben an] und diese allein reale Zeit sich so angenehm wie möglich machen. Uns zu beunruhigen sind bloß solche künftigen Übel berechtigt, welche gewiß sind und deren Eintrittszeit ebenfalls gewiß ist. Dies werden aber sehr wenige sein: denn die Übel sind entweder bloß möglich, allenfalls wahrscheinlich; oder sie sind zwar gewiß, allein ihre Eintrittszeit ist völlig ungewiß. Läßt man nun auf diese beiden Arten sich ein, so hat man keinen ruhigen Augenblick mehr. Um also nicht der Ruhe unseres Lebens durch ungewisse oder unbestimmte Übel verlustig zu werden, müssen wir uns gewöhnen, jene anzusehen, als kämen sie nie; diese, als kämen sie gewiß nicht so bald. * Oie Übersetzungen in eckigen Klammern sind vom Versager beigefügt, und zwar, soweit es sich um Zitate handelt, im Anschluß an die Übertragungen in der Oeusien'schen Schopenhauer-Ausgabe (Verlag Piper & Co.).
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Je mehr nun aber einem die Furcht Ruhe läßt, desto mehr be unruhigen ihn die Wunsche, die Begierden und Ansprüche. Goethes so beliebtes Lied „ich hab' mein' Sach auf nichts gestellt" besagt eigentlich, daß erst nachdem der Mensch aus allen möglichen An sprüchen herausgetrieben und auf das nackte, kahle Dasein zurück gewiesen ist, er derjenigen Geistesruhe teilhaft wird, welche die Grundlage des menschlichen Glücks ausmacht, indem sie nötig ist, um die Gegenwart und somit das ganze Leben genießbar zu sinden. Zu eben diesem Zwecke sollten wir stets eingedenk sein, daß der heutige Tag nur Ein Mal kommt und nimmer wieder. Aber wir wähnen, er käme morgen wieder: morgen ist jedoch ein anderer Tag, der auch nur Ein Mal kommt. Wir aber vergessen, daß jeder Tag ein inte grierender und daher unersetzlicher Teil des Lebens ist, und betrachten ihn vielmehr als unter demselben so enthalten, wie die Individuen unter dem Gemeinbegriff. — Ebenfalls würden wir die Gegenwart besser würdigen und genießen, wenn wir, in guten und gesunden Tagen, uns stets bewußt wären, wie, in Krankheiten oder Betrüb nissen, die Erinnerung uns jede schmerz- und entbehrungslose Stunde als unendlich beneidenswert, als ein verlorenes Paradies, als einen verkannten Freund vorhält. Aber wir verleben unsere schönen Tage, ohne sie zu bemerken: erst wann die schlimmen kommen, wünschen wir jene zurück. Tausend heitere, angenehme Stunden lassen wir, mit verdrießlichem Gesicht, ungenossen an uns vorüberziehen, um nachher, zur trüben Zeit, mit vergeblicher Sehnsucht ihnen nachzu seufzen. Statt dessen sollten wir jede erträgliche Gegenwart, auch die alltägliche, welche wir jetzt so gleichgültig vorüberziehen lassen und wohl gar noch ungeduldig nachschieben, — in Ehren halten, stets eingedenk, daß sie eben jetzt hinüberwallt in jene Apotheose der Ver gangenheit, woselbst sie fortan, vom Lichte der Unvergänglichkeit umstrahlt, vom Gedächtnisse aufbewahrt wird, um, wann dieses einst, besonders zur schlimmen Stunde, den Vorhang lüftet, als ein Gegenstand unsrer innigen Sehnsucht sich darzustellen.
Z. Kapitel
Was kann die Welt mir wohl gewähren? Entbehren sollst du, sollst entbehren! OaS ist der ewige Gesang, Oer jedem an die Ohren klingt, Den unser ganzes Leben lang Uns heiser jede Stunde singt.
Der Zweck des Lebens Schopenhauer hat seine Lehre selbst als Pessimismus bezeichnet, aber er
hat unter Pessimismus nichts anderes verstanden, als daß unsere Welt,
entsprechend der Heftigkeit des in ihr erscheinenden Lebenswillens (Kap. u) und des hierdurch hervorgerufenen Leidens die schlechteste aller möglichen Wel ten sei, d. h. daß sie zu einer „Hölle" werden müßte, wenn ein noch weiter ge
steigerter Lebenswille noch größeres Leiden mit sich brächte. Aber er ist bei
der Erkenntnis, daß das Leben wesentlich Leiden sei, nicht stehen geblieben,
sondern hat dem Leiden und damit dem Leben einen Zweck und Sinn
gegeben, indem er die heiligende Kraft des Leidens für notwendig er klärte, um im Menschen das „bessere Bewußtsein" lebendig zu erhalten,
d. h. seine Gedanken vom Zeitlichen aufs Ewige zu richten und so möglicherweise zur Erlösung zu gelangen.
Don diesem hohen ethischen Standpunkt aus, welcher der Lehre des Neuen Testaments entspricht, konnte Schopenhauer das sonst mißverständ
liche Wort wagen, daß der Optimismus eine „ruchlose Denkungsart" fei,
da als den Zweck des Lebens das Glück des Menschen darstelle und somit dem
wahren Zweck geradezu entgegenarbeite, und da er überdies ein bitterer Hohn sei auf die Leiden der Menschheit. Und doch kann man Schopenhauers Lehre, freilich in einem ganz anderen Sinne, als Optimismus bezeichnen. Denn abgesehen von der Verheißung der Erlösung, welche der Heiligkeit der Gesinnung winkt, trifft nach dieser
Lehre das Leiden denMenschen ja nur, sofern er im gewöhnlichen Bewußffein,
ein sinnliches, zeitliches Wesen zu sein, verharrt, und fallt von ihm ab, sobald
in ihm das schon vorhin erwähnte „bessere Bewußtsein", daß er ein „außer-
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zeitliches übersinnliches, freies, unbedingt seliges Wesen" ist, erwacht. Gerade hierin aber beruht des Menschen eigentliche höhere Daseinsform,
während das gewöhnliche Bewußtsein nur das des „Traumes
eines
Schattens" ist und der darin verharrende Mensch nur ein relatives Dasein
führt. Nimmt man also nicht diese relative, sondern jene eigentliche
höhere Daseinsform als Maßstab für die Beurteilung der Schopenhauerschen Philosophie, so kann man sie sehr wohl in diesem Sinne als Opti
mismus bezeichnen.
Bleibt man indessen bei der gewöhnlichen Betrachtungsart stehen, so zeigt sich der Schopenhauersche Pessimismus als eine Weltanschauung
des tiefsten Ernstes, die nur derjenige völlig erfaßt, der sie nicht bloß gedanklich zu verstehen, sondern auch in ihren an den innersten Menschen greifenden Mahnungen wahrhaft zu erleben imstande ist, und es bleibt
eines der größten Verdienste Schopenhauers, ohne jede Schönfärberei
auf die unauflösbare Tragik hingewiesen zu haben, mit welcher der an sich selbst zehrende Weltwille von Grund aus behaftet ist.
1] Das Leben ist eine Sprache, in der uns eine Lehre gegeben wird. Könnte diese Lehre uns auf eine andere Weise beigebracht werden, so lebten wir nicht. Nie werden daher Weisheitssprüche oder Klug heitsregeln die Erfahrung ersetzen und so ein Surrogat für das Leben selbst sein. Doch sind sie nicht zu verwerfen, denn sie gehören eben mit zum Leben; vielmehr sind sie hochzuachten und anzusehen als die Hefte, die Andere jener großen Lehre des Weltgeistes nachgeschrieben haben, die aber ihrer Natur nach unvollkommen sein mußten und nie jene wahrhafte viva vox ersehen konnten. Um so weniger konnten sie es, da jene Lehre (das Leben) jedem anderes sagt, weil jeder anderes bedarf, und den am Psingfttage predigenden Aposteln gleicht, die, die Menge unterrichtend, jedem in seiner Zunge zu reden scheinen. 2] Das Leben ist durchaus anzusehen als eine strenge Lektion, die uns erteilt wird, wenngleich wir, mit unseren auf ganz andere Zwecke angelegten Denkformen, nicht verstehen können, wie wir haben dazu kommen können, ihrer zu bedürfen. Demgemäß aber sollen wir auf unsere Hingeschiedenen Freunde zurücksehn mit Be friedigung, erwägend, daß sie ihre Lektion überstanden haben, und mit dem herzlichen Wunsch, daß sie angeschlagen habe; und vom selben Gesichtspunkt aus sollen wir unserm eigenen Tode entgegen sehn als einer erwünschten und erfreulichen Begebenheit; — statt, wie meistens geschieht, mit Zagen und Grausen.
3] Ein der Ethik verwandter Punkt ist der Optimismus aller philo sophischen Systeme, der, als obligat, in keinem fehlen darf: denn die Welt will hören, daß sie löblich und vortrefsiich sei, und die Philo sophen wollen der Welt gefallen. Mit mir steht es anders: ich habe gesehn, was der Welt gefällt, und werde daher, ihr zu gefallen, keinen Schritt vom Pfade der Wahrheit abgehn. Also weicht auch in diesem Punkt mein System von den übrigen ab und steht allein. Aber nachdem jene sämtlich ihre Demonstrationen vollendet und dazu ihr Lied von der besten Welt gesungen haben; da kommt zuletzt, hinten im System, als ein spater Rächer des Unbilds, wie ein Geist aus den Gräbern, wie der steinerne Gast zum Don Juan, die Frage nach dem Ursprung des Übels, des ungeheuren, namenlosen Übels,
des entsetzlichen herzzerreißenden Jammers in der Welt: — und sie verstummen oder haben nichts als Worte, leere, tönende Worte, um eine so schwere Rechnung abzuzahlen. 4] Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntnis die Fähigkeit Schmerz zu empsinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, — dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend. — Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hinein sehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Tälern, Strömen, Psianzen, Tieren u. s. f. — Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehen sind diese Dinge freilich schön, aber sie zu sein ist ganz etwas anderes.
5] Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte Selbstlob des eigentlichen Urhebers der Welt, des Willens zum Leben, der sich wohlgefällig in seinem Werke spiegelt: und demgemäß ist er nicht nur eine falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre. Denn er stellt uns das Leben als einen wünschenswerten Zustand, und als Zweck des selben das Glück des Menschen dar. Davon ausgehend glaubt dann jeder den gerechtesten Anspruch auf Glück und Genuß zu haben: werden nun diese, wie es zu geschehen psiegt, ihm nicht zuteil, so glaubt er, ihm geschehe Unrecht, ja, er verfehle den Zweck seines Daseins; — während es viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Not und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck unsersLebens zu betrachten
24 (wie dies Brahmanismus und Buddhaismus, und auch das echte Christentum tun); weil diese es sind, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten. Im Neuen Testament ist die Welt dargestellt als ein Jammertal, das Leben als ein Läuterungsprozeß, und ein Marterinstrument ist das Symbol des Christentums. 6] Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, und es ist der, daß wir da sind, um glücklich zu sein. Angeboren ist er uns, weil er mit unserm Dasein selbst zusammenfällt und unser ganzes Wesen eben nur seine Paraphrase, ja unser Leib sein Monogramm ist: sind wir doch eben nur Wille zum Leben; die successive Befriedigung alles unsers Wollens aber ist was man durch den Begriff des Glückes denkt. Solange wir in diesem angeborenen Irrtum verharren, auch wohl gar noch durch optimistische Dogmen in ihm bestärkt werden, er scheint uns die Welt voll Widersprüche. Denn bei jedem Schritt, im Großen wie im Kleinen, müssen wir erfahren, daß die Welt und das Leben durchaus nicht darauf eingerichtet sind, ein glückliches Dasein zu enthalten. Während nun hierdurch der Gedankenlose sich eben bloß in der Wirklichkeit geplagt fühlt, kommt bei dem, welcher denkt, zur Pein in der Realität noch die theoretische Perplexität hinzu, warum eine Welt und ein Leben, welche doch einmal dazu da sind, daß man darin glücklich sei, ihrem Zwecke so schlecht entsprechen? Sie macht vor der Hand sich Luft in Stoßseufzern, wie „Ach, warum sind der Tränen unterm Mond so Diel?" u. dgl. m., in ihrem Gefolge aber kommen beunruhigende Skrupel gegen die Voraussetzungen jener vorgefaßten optimistischen Dogmen. Immerhin mag man dabei versuchen, die Schuld seiner individuellen Unglückseligkeit bald auf die Umstände, bald auf andere Menschen, bald auf sein eigenes Miß geschick oder auch Ungeschick zu schieben, auch wohl erkennen, wie diese sämtlich dazu mitgewirkt haben; dieses ändert doch nichts in dem Ergebnis, daß man den eigentlichen Zweck des Lebens, der ja im Glücklichsein bestehe, verfehlt habe; worüber dann die Betrachtung, zumal wenn es mit dem Leben schon auf die Neige geht, oft sehr niederschlagend ausfällt: daher tragen fast alle ältlichen Gesichter den Ausdruck dessen, was man aufEnglisch cllsLppointment(Enttäuschung) nennt. Überdies aber hat uns bis dahin schon jeder Tag unseres Lebens gelehrt, daß die Freuden und Genüsse, auch wenn erlangt, an sich selbst trügerisch sind, nicht leisten, was sie versprechen, das Herz nicht zufrieden stellen, und endlich ihr Besitz wenigstens durch die sie begleitenden oder aus ihnen entspringenden Unannehmlichkeiten ver gällt wird, während hingegen die Schmerzen und Leiden sich als sehr real erweisen und oft alle Erwartung übertreffen. — So ist denn
allerdings im Leben alles geeignet, uns von jenem ursprünglichen Irrtum zurückzubringen und uns zu überzeugen, daß der Zweck unsers Daseins nicht der ist, glücklich zu sein. Ja, wenn näher und unbe fangen betrachtet, stellt das Leben sich vielmehr dar, wie ganz eigent lich darauf abgesehen, daß wir uns nicht glücklich darin fühlen sollen, indem dasselbe, durch seine ganze Beschaffenheit, den Charakter trägt von etwas, daran uns der Geschmack benommen, das uns verleidet werden soll und davon wir, als von einem Irrtum, zurück zukommen haben, damit unser Herz von der Sucht zu genießen, ja, zu leben, geheilt und von der Welt abgewendet werde. In diesem Sinne wäre es demnach richtiger, den Zweck des Lebens in unser Wehe, als in unser Wohl zu setzen. 7] Bei dem naturgemäßen Verlauf kommt im Alter das Absterben des Leibes dem Absterben des Willens entgegen. Die Sucht nach Genüssen verschwindet leicht mit der Fähigkeit zu denselben. Der Anlaß des heftigsten Wollens, der Brennpunkt des Willens, der Geschlechtstrieb, erlischt zuerst, wodurch der Mensch in einen Stand versetzt wird, der dem der Unschuld, die vor der Entwicklung des Genitalsystems da war, ähnlich ist. Die Illusionen, welche Chimären als höchst wünschenswerte Güter darstellten, verschwinden, und an ihre Stelle tritt die Erkenntnis der Nichtigkeit aller irdischen Güter. Die Selbstsucht wird durch die Liebe zu den Kindern verdrängt, wo durch der Mensch schon anfängt, mehr im fremden Ich zu leben als im eigenen, welches nun bald nicht mehr fein wird. Dieser Verlauf ist wenigstens der wünschenswerte: es ist die Euthanasie des Willens. In Hoffnung auf denselben ist dem Brahmanen verordnet, nach Zurücklegung der besten Lebensjahre Eigentum und Familie zu ver lassen und ein Einsiedlerleben zu führen. Aber wenn, umgekehrt, die Gier die Fähigkeit zum Genießen überlebt und man jetzt einzelne im Leben verfehlte Genüsse bereut, statt die Leerheit und Nichtigkeit aller einzusehen; und wenn sodann an die Stelle der Gegenstände der Lüste, für welche der Sinn abgestorben ist, der abstrakte Repräsentant aller dieser Gegenstände, das Geld, tritt, welches nunmehr die selben heftigen Leidenschaften erregt, die ehemals von den Gegenständen wirklichen Genusses, verzeihlicher, erweckt wurden, und also jetzt, bei abgestorbenen Sinnen, ein lebloser oder unzerstörbarer Gegen stand mit gleich unzerstörbarer Gier gewollt wird; oder auch wenn, auf gleiche Weise, das Dasein in der fremden Meinung die Stelle des Daseins und Wirkens in der wirklichen Welt vertreten soll und nun
die gleichen Leidenschaften entzündet; — dann hat sich, im Geiz oder in der Ehrsucht, der Wille sublimiert und vergeistigt, dadurch aber
26 sich in die letzte Festung geworfen, in welcher nur noch der Tod ihn belagert. Der Zweck des Daseins ist verfehlt. 8] Damit der Mensch eine erhabene Gesinnung in sich erhalte, seine Gedanken vom Zeitlichen auf das Ewige richte, mit einem Wort, damit das beffre Bewußtsein in ihm rege sei, ist ihm Schmerz, Leiden und Mißlingen so notwendig wie dem Schiffe der es beschwe rende Ballast, ohne welchen es keine Tiefe ermißt, ein Spiel der Wogen und Winde keinen bestimmten Weg geht und leicht um schlägt.
g] Können wir nun, durch Betrachtungen, wie die obigen, also von einem sehr hohen Standpunkt aus, eine Rechtfertigung der Leiden der Menschheit absehn; so erstreckt jedoch diese sich nicht auf die Tiere, deren Leiden, zwar großenteils durch den Menschen herbeigeführt, oft aber auch ohne dessen Zutun, bedeutend sind. Da drangt sich also die Frage auf: wozu dieser gequälte, ge ängstigte Wille in so tausendfachen Gestalten, ohne die durch Be sonnenheit bedingte Freiheit zur Erlösung? — Das Leiden der Tierwelt ist bloß daraus zu rechtfertigen, daß der Wille zum Leben, weil außer ihm, in der Erscheinungswelt, gar nichts vorhanden und er ein hungriger Wille ist, an seinem eigenen Fleische zehren muß. Daher die Stufenfolge seiner Erscheinungen, deren jede auf Kosten einer anderen lebt.
4- Kapitel
Ach, den sterblichen Menschen Lässet die Sorge nicht los, eh' ihn das Leben verläßt.
Die beiden Pole des Menschenlebens Insofern man die Philosophie Schopenhauers tatsächlich als Pessimis
mus bezeichnen kann (s. vor. Kap.), ist sie philosophischer Pessimismus, nicht Weltschmerz oder Schwarzseherei, also kein Stimmungöpessimismus. Denn nicht aus verdüsterter und verdüsternder persönlicher Stimmung des Gemüts siießt dieser Pessimismus, zu dessen Überwindung Schopenhauer
übrigens selbst den Weg gewiesen hat (s. Kap. 43)/ sondern aus der philo sophischen Erkenntnis, daß der Wille zum Leben, der Kern unseres Wesens,
blind, grundlos und seiner Natur noch niemals zu befriedigen ist (vgl. Kapitel 11). Unerfülltes Wollen aber ist Schmerz. Ist also der Schmerz der eine Pol des Menschenlebens, so ist der andere
die Langeweile. Denn sie tritt sofort ein, wenn der Schmerz, indem unser Wollen für den Augenblick befriedigt ist, uns verläßt.
Schopenhauer hatte jedoch eine eigentümliche Neigung, die Dinge von allen Seiten zu betrachten. So sah er in jener an sich niederschlagenden philosophischen Erkenntnis anch etwas Tröstliches: Wenn wir wissen, daß das Leiden dem Leben wesentlich, also notwendig ist, so schmerzt es uns
weniger, als wenn wir es, mit dem nicht berechtigten Anspruch auf Glück, als nur zufällig und gerade auf uns gekommen ansehen.
1] Versucht man, die Gesamtheit der Menschenwelt in einen Blick zusammenzufasfen, so erblickt man überall einen rastlosen Kampf, ein gewaltiges Ringen, mit Anstrengung aller Körper- und Geistes kräfte, um Leben und Dasein, drohenden und jeden Augenblick treffenden Gefahren und Übeln aller Art gegenüber. — Und be trachtet man dann den Preis, dem alles dieses gilt, das Dasein und Leben selbst, so sindet man einigeZwischenräume schmerzloser Existenz, auf welche sogleich die Langeweile Angriff macht, und welche neue Not schnell beendigt. —
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Daß hinter der Not sogleich die Langeweile liegt, welche sogar die klügeren Tiere befällt, ist eine Folge davon, daß das Leben keinen wahren, echten Gehalt hat, sondern bloß durch Bedürfnis und Illusion in Bewegung erhalten wird: sobald aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseins zu Tage.
2] . . . Aber, was auch Natur, was auch das Glück getan haben mag; wer man auch sei, und was man auch besitze; der dem Leben wesentliche Schmerz läßt sich nicht abwälzen . . . Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert. Diese ist ursprünglich Mangel, Not, Sorge um die Erhaltung des Lebens. Ist es, was sehr schwer hält, geglückt, den Schmerz in dieser Gestalt zu verdrängen, so stellt er sogleich sich in tausend anderen ein, abwechselnd nach Alter und Umständen, als Geschlechtstrieb, leidenschaftliche Liebe, Eifersucht, Neid, Haß, Angst, Ehrgeiz, Geldgeiz, Krankheit usw. usw. Kann er endlich in keiner andern Gestalt Eingang sinden, so kommt er im traurigen, grauen Gewand des Überdrusses und der. Langenweile, gegen welche dann mancherlei versucht wird. Gelingt es endlich, diese zu verscheuchen, so wird es schwerlich geschehen, ohne dabei den Schmerz in einer der vorigen Gestalten wieder einzulassen, und so den Tanz von vorne zu beginnen; denn zwischen Schmerz und Langer weile wird jedes Menschenleben hin und her geworfen. So nieder schlagend diese Betrachtung ist, so will ich doch nebenher auf eine Seite derselben aufmerksam machen, aus der sich ein Trost schöpfen, ja vielleicht gar eine stoische Gleichgültigkeit gegen das vorhandene eigene Übel erlangen läßt. Denn unsere Ungeduld über dieses entsteht
großenteils daraus, daß wir es als zufällig erkennen, als herbeigeführt durch eine Kette von Ursachen, die leicht anders sein könnte. Denn über die unmittelbar notwendigen und ganz allgemeinen Übel, z. B.
Notwendigkeit des Alters und des Todes und vieler täglichen Un bequemlichkeiten, pflegen wir uns nicht zu betrüben. Es st vielmehr die Betrachtung der Zufälligkeit der Umstände, die gerode auf uns ehr Leiden brachten, was diesem den Stachel gibt. Wern wir nun aber erkannt haben, daß der Schmerz als solcher dem Leien wesent lich und unausweichbar ist und nichts weiter als seine blcße Gestalt, die Form, unter der er sich darstellt, vom Zufall abhänot, daß also unser gegenwärtiges Leiden eine Stelle ausfüllt, in welche, ohne dasselbe, sogleich ein anderes träte, das jetzt von jenem ausgeschlossen wird, daß demnach, im wesentlichen, das Schicksal uns wenig an haben kann; so könnte eine solche Reflexion, wenn sie zurlebendigen
Überzeugung würde, einen bedeutenden Grad stoischen Gleichmuts
herbeiführen und die ängstliche Besorgnis um das eigene Wohl sehr vermindern. Übrigens könnte man durch jene Betrachtung über die Unver
meidlichkeit des Schmerzes und über das Verdrängen des einen durch den anderen und das Herbeiziehen des neuen durch den Austritt des vorigen, sogar auf die paradoxe, aber nicht ungereimte Hypothese geleitet werden, daß in jedem Individuum das Maß des ihm we sentlichen Schmerzes durch seine Natur ein für allemal bestimmt wäre, welches Maß weder leer bleiben, noch überfüllt werden könnte, wie sehr auch die Form des Leidens wechseln mag. Sein Leiden und Wohlsein wäre demnach gar nicht von außen, sondern eben nur durch jenes Maß, jene Anlage, bestimmt, welche zwar durch das physische Besinden einige Ab- und Zunahme zu verschiedenen Zeiten erfahren möchte, im ganzen aber doch die selbe bliebe und nichts anderes wäre, als was man sein Temperament nennt, oder genauer, der Grad, in welchem er, wie Platon es im ersten Buch der Republik ausdrückt, auxoÄoq oder SuoxoXos, d. i. leichten oder schweren Sinnes wäre.
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5- Kapitel
Das Edle zu erkennen, ist Gewinst, Oer nimmer uns entrissen werden kann.
Von den Höhen des Lebens Der altgriechische Mythos erzählt von einem Könige in Thessalien, Ixion, der in Liebe zu Zeus' Gemahlin Hera entbrannt war, aber an deren
Stelle durch Zeus' Veranstaltung nur ein Wolkenbild umarmte. Zur Strafe für sein frevelhaftes Beginnen wurde er sodann in der Unterwelt
an ein sich stets drehendes feuriges Rad gefesselt. Die Poesie dieses Mythos gleichsam festhaltend, hat Schopenhauer in dem berühmten Gleichnis vom Rade des Jxion in hochpoetischer, ja fast
feierlicher Sprache den Zustand geschildert, der uns von dem unstillbaren Orange des Willens zum Leben, auf dem alles Leiden beruht (f. Kap. 3 und 4), befreit und fo das Rad des Jxion ftillftehen laßt. Dieser Zustand wird erreicht auf dem Wege bloßer Erkenntnis, auf dem wir uns also
gewissermaßen über das Leben erheben, die Höhen des Lebens betreten, in der ästhetischen und philosophischen Kontemplation.
Im dritten Kapitel lernten wir den Begriff des „besseren Bewußtseins" kennen, aber nur in dessen ethischer Bedeutung; hier sehen wir auch seinen ästhetischen Inhalt. Und obwohl dieser Begriff als solcher später von Schopenhauer aufgegeben wurde, ist er ihm doch zu einem Grundstein seines
Systems geworden. Denn das bessere Bewußffein ist nicht nur diejenige Erkenntnisweise, von der die Kunst und die Philosophie ausgehen, sondern
wir erkennen in ihm auch „diejenige Stimmung des Gemüts, welche allein zur wahren Heiligkeit und Erlösung von der Welt führt". — So ist also das Überwiegen
des
Erkennens
über
das Wollen
das erlösende
Prinzip, hier in der Ästhetik, wo die Erlösung freilich nur auf Augenblicke
eintritt, wie auch in der Ethik: Die Einheit und Einfachheit des Systems wird schon hier offenbar.
i] Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden. Diesem macht die Erfüllung ein Ende; jedoch gegen einen Wunsch, der erfüllt wird, bleiben wenigstens zehn versagt: ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehen ins Unendliche; die Erfüllung ist kurz und kärglich gemessen. Sogar aber ist die endliche Befriedigung selbst nur scheinbar: der erfüllte Wunsch macht gleich einem neuen Platz: jener ist ein erkannter, dieser noch ein unerkannter Irrtum. Dauernde, nicht mehr weichende Befriedigung kann kein erlangtes Objekt des Wollens geben: sondern es gleicht immer nur dem Almosen, das dem Bettler zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Qual auf morgen zu verlängern.— Darum nun, solange unser Bewußtsein von unserm Willen erfüllt ist, solange wir dem Drange der Wünsche, mit seinem steten Hoffen und Fürchten, hin gegeben sind, solange wir Subjekt des Wollens sind, wird uns nimmermehr dauerndes Glück, noch Ruhe. Ob wir jagen oder siiehen, Unheil fürchten oder nach Genuß streben, ist im wesentlichen einerlei: die Sorge für den stets fordernden Willen, gleichviel in welcher Gestalt, erfüllt und bewegt fortdauernd das Bewußtsein; ohne Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlsein möglich. So liegt das Sub jekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Jxion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus. Wann aber äußerer Anlaß, oder innere Stimmung, uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: dann ist die auf jenem ersten Wege des Wollens immer gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe mit einemMale von selbst eingetreten, und uns ist völlig wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, denEpikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges ent ledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Jxion steht still .......................................So viel leistet ganz allein die innere Kraft eines künstlerischen Gemütes: aber erleichtert und von außen beför dert wird jene rein objektive Gemütsstimmung durch entgegen kommende Objekte, durch die zu ihrem Anschauen einladende, ja sich aufdringende Fülle der schönen Natur. Ihr gelingt es, so oft sie mit einem Male unserem Blicke sich auftut, fast immer, uns, wenn auch
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nur auf Augenblicke, der Subjektivität, dem Sklavendienste des Willens zu entreißen und in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen. Darum wird auch der von Leidenschaften oder Not und Sorge Gequälte durch einen einzigen freien Blick in die Natur so plötzlich erquickt, erheitert und aufgerichtet: der Sturm der Leiden schaften, der Drang des Wunsches und der Furcht und alle Dual des Wollens sind dann sogleich auf eine wundervolle Art beschwichtigt. Denn in dem Augenblicke, wo wir, vom Wollen losgerissen, uns dem reinen willenlosen Erkennen hingegeben haben, sind wir gleichsam in eine andere Welt getreten, wo alles, was unseren Willen bewegt und dadurch uns so heftig erschüttert, nicht mehr ist. Jenes Frei werden der Erkenntnis hebt uns aus dem Allen ebenso sehr und ganz heraus, wie der Schlaf und der Traum: Gluck und Unglück sind verschwunden: wir sind nicht mehr das Individuum, es ist vergessen, sondern nur noch reines Subjekt der Erkenntnis: wir sind nur noch da als das eine Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen allein aber völlig frei vom Dienste des Willens werden kann, wodurch aller Unterschied der Individualität so gänzlich ver schwindet, daß es alsdann einerlei ist, ob das schauende Auge einem mächtigen König oder einem gepeinigten Bettler angehört. Denn weder Gluck noch Jammer wird über jene Grenze mit hinüber genommen. So nahe liegt uns beständig ein Gebiet, auf welchem wir allem unserem Jammer gänzlich entronnen sind; aber wer hat die Kraft, sich lange darauf zu erhalten? Sobald irgendeine Be ziehung eben jener also rein angeschauten Objekte zu unserem Willen, zu unserer Person, wieder ins Bewußtsein tritt, hat der Zauber ein Ende: wir fallen zurück in die Erkenntnis, welche der Satz vom Grunde beherrscht, erkennen nun nicht mehr die Idee, sondern das einzelne Ding, das Glied einer Kette, zu der auch wir gehören, und wir sind allem unserem Jammer wieder hingegeben. 2] Nur wo der Intellekt schon das notwendige Maß überschreitet, wird das Erkennen, mehr oder weniger, Selbstzweck. Demnach ist es eine ganz abnorme Begebenheit, wann, in irgendeinem Menschen, der Intellekt seine natürliche Bestimmung, also den Dienst des Willens und demgemäß die Auffassung der bloßen Relationen der Dinge, verläßt, um sich rein objektiv zu beschäftigen. Aber eben dies ist der Ursprung der Kunst, der Poesie und der Philosophie, welche also durch ein Organ hervorgebracht werden, das ursprünglich nicht für sie bestimmt ist. Der Intellekt nämlich ist, von Hause aus, ein sauerer Arbeit obliegende Manufakturlöhnling, den sein viel fordernder Herr, der Wille, vom Morgen bis in die Nacht beschäftigt
hält. Kommt aber dennoch dieser getriebene Fronknecht einmal dazu, in einer Feierstunde, ein Stück von seiner Arbeit freiwillig, aus eigenem Antrieb und ohne Nebenabsicht, bloß zu eigener Befriedi gung und Ergötzung zu verfertigen; — dann ist dies ein echtes Kunst werk, ja, wenn hoch getrieben, das Werk des Genies.
3] Jenem rein intellektuellen Leben des Einzelnen entspricht ein ebensolches des Ganzen der Menschheit, deren reales Leben ja ebenfalls im Willen liegt, sowohl seiner empirischen, als seiner transscendenten Bedeutung nach. Dieses rein intellektuelle Leben der Menschheit besteht in ihrer fortschreitenden Erkenntnis mittels der Wissenschaften, und in der Vervollkommnung der Künste, welche beide, Menschenalter und Jahrhunderte hindurch, sich langsam fort setzen, und zu denen ihren Beitrag liefernd, die einzelnen Geschlechter vorübereilen. Dieses intellektuelle Leben schwebt, wie eine ätherische Zugabe, ein sich aus der Gärung entwickelnder wohlriechender Duft über dem weltlichen Treiben, dem eigentlich realen, vom Willen geführten Leben der Völker, und neben derWeltgeschichte geht schuld los und nicht blutbefleckt die Geschichte der Philosophie, der Wissen schaft und der Künste. 4] Die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d. h. die jenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinaus führt, ist gerade die, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem Was der Welt frägt, d. h. welche die Dinge nicht nach irgendeiner Relation, nicht als werdend und vergehend, ... be trachtet; sondern umgekehrt, gerade das, was nach Aussonderung dieser ganzen. . . Betrachtungsart noch übrigbleibt, das in allen Relationen erscheinende, selbst aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben zum Gegenstand hat. Von solcher Erkenntnis geht, wie die Kunst, so auch die Philosophie aus, ja, wie wir in diesem Buche finden werden, auch diejenige Stimmung des Gemütes, welche allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt.
Pfeiffer, Bild d. Menschen 3
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6. Kapitel
Wem wohl das Glück die schönste Palme Beut? Wer freudig tut, sich des Getanen freut.
Menschliches Glück Schopenhauers Ästhetik hat einen aristokratischen Charakter: Nicht jedem
ist es vergönnt, die Höhen des Lebens zu erreichen. Aber auch der weniger Begünstigte mag sich bei unserem Philosophen Rat und Trost holen. Denn
erstlich steht über aller Erkenntnis, wie hoch sie auch führen und wie sehr sie auch beglücken mag, des Menschen Handeln: „Unser Tun, nicht unser Er kennen gehört der Ewigkeit an." Sodann aber liegt ein Glück auch im
Streben nach einem Ziel, darin, daß wir „etwas machen, sei es ein Korb, sei es ein Buch", wobei freilich, je edler das Ziel, desto edler auch das
Glück dieses Strebens ist. Die rastlose Unruhe jedoch und lärmende Ge
schäftigkeit der meisten Menschen ist im Sinne Schopenhauers nicht mehr
als Glück zu bezeichnen. So wird ein jeder, dem die Höhen des Lebens nicht immer erreichbar sind, an manchem Wort des alten Frankfurter Weisen sich erfreuen und
es für sich in Anspruch nehmen dürfen. Sind doch Schopenhauers Gedanken über das alltägliche Menschenglück gerade in den Aphorismen zur Lebens weisheit, denen der größte Teil des hier folgenden Textes angehört, von
einzigartiger Abgeklärtheit und Herzlichkeit, wiewohl er hier ausdrücklich
von dem Standpunkt feiner Philosophie, daß das Leben überhaupt nicht dazu da sei, um genossen zu werden, absieht und „diesen Irrtum gleichsam festhält".
i] Was einer in sich ist und an sich selber hat, kurz die Persönlichkeit und deren Wert, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlsein. Alles andere ist mittelbar; daher auch dessen Wirkung vereitelt werden kann, aber die der Persönlichkeit nie. Darum eben ist der auf persönliche Vorzüge gerichtete Neid der unversöhnlichste.
wie er auch der am sorgfältigsten verhehlte ist. Ferner ist allein die Beschaffenheit des Bewußtseins das Bleibende und Beharrende, und die Individualität wirkt fortdauernd, anhaltend, mehr oder minder in jedem Augenblick: alles andere hingegen wirkt immer nur zu Zeiten, gelegentlich, vorübergehend, und ist zudem auch noch selbst dem Wechsel und Wandel unterworfen . . . Hierauf beruht es, daß wir ein ganz und gar von außen auf uns gekommenes Unglück mit mehr Fassung ertragen als ein selbstverschuldetes: denn das Schicksal kann sich ändern, aber die eigene Beschaffenheit nimmer. Demnach also sind die subjektiven Güter, wie ein edler Charakter, ein fähiger Kopf, ein glückliches Temperament, ein heiterer Sinn und ein wohl beschaffener, völlig gesunder Leib, also überhaupt mens sana in corpore sano zu unserem Glücke die ersten und wichtigsten; wes halb wir auf die Beförderung und Erhaltung derselben viel mehr bedacht sein sollten als auf den Besitz äußerer Güter und äußerer Ehre. Was nun aber, von jenem allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes: denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist, hat allemal Ursache es zu sein, nämlich eben diese, daß er es ist. Nichts kann so sehr wie diese Eigenschaft jedes andere Gut vollkommen ersetzen, während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei jung, schön, reich und geehrt, so frägt sich, wenn man sein Glück beurteilen will, ob er dabei heiter sei; ist er hingegen heiter, so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder pucklich, arm oder reich sei: er ist glücklich. In früher Jugend machte ich einmal ein altes Buch auf, und da stand: „wer viel lacht, ist glücklich, und wer viel weint, ist unglück lich", — eine sehr einfältige Bemerkung, die ich aber, wegen ihrer einfachen Wahrheit, doch nicht habe vergessen können, so sehr sie auch der Superlativ eines truisnVs ist. Dieserwegen also sollen wir der Heiterkeit, wann immer sie sich einstellt, Tür und Tor öffnen: denn sie kommt nie zur unrechten Zeit; statt daß wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursache haben, zufrieden zu sein; oder auch, weil wir fürchten, in unseren ernsthaften Über legungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden: allein was wir durch diese bessern, ist ungewiß, hingegen ist Heiterkeit un mittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam die bare Münze des Glückes und nicht, wie alles andere, bloß der Bankzettel, weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt, weshalb sie das höchste Gut ist für Wesen, deren Wirklichkeit die Form einer unteilbaren Gegenwart zwischen zwei unendlichen Zeiten hat.
36 2] ' 0 ßiot iv Tiy xc^aet eoTt sdas Leben besteht in der Bewegung^ sagt Aristoteles, mit offenbarem Recht: und wie demnach unser physisches Leben nur in und durch eine unaufhörliche Bewegung besteht; so verlangt auch unser inneres, geistiges Leben fortwährend Beschäfti gung, Beschäftigung mit irgend etwas, durch Tun oder Denken; einen Beweis hievon gibt schon das Trommeln mit den Händen oder irgendeinem Gerät, zu welchem unbeschäftigte und gedankenlose Menschen sogleich greifen. Unser Dasein nämlich ist ein wesentlich rastloses: daher wird die gänzliche Untätigkeit uns bald unerträglich, indem sie die entsetzlichste Langeweile herbeiführt. Diesen Trieb nun soll man regeln, um ihn methodisch und dadurch besser zu befriedigen. Daher also ist Tätigkeit, etwas treiben, womöglich etwas machen, wenigstens aber etwas lernen, — zum Glück des Menschen uner läßlich: seine Kräfte verlangen nach ihrem Gebrauch, und er möchte den Erfolg desselben irgendwie wahrnehmen. Die größte Befriedi gung jedoch, in dieser Hinsicht, gewährt es, etwas zu machen, zu verfertigen, sei es ein Korb, sei es ein Buch; aber daß man ein Werk unter seinen Händen täglich wachsen und endlich seine Vollendung erreichen sehe, beglückt unmittelbar. Dies leistet ein Kunstwerk, eine Schrift, ja selbst eine bloße Handarbeit; freilich, je edlerer Art das Werk, desto höher der Genuß. Am glücklichsten sind, in diesem Betracht, die Hochbegabten, welche sich der Fähigkeit zur Hervor bringung bedeutsamer, großer und zusammenhängender Werke be wußt sind. Denn dadurch verbreitet ein Interesse höherer Art sich über ihr ganzes Dasein und erteilt ihm eine Würze, welche dem der Übrigen abgeht, welches demnach, mit jenem verglichen, gar schal ist. Für sie nämlich hat das Leben und die Welt, neben dem Allen gemeinsamen materiellen, noch ein zweites und höheres, ein formelles Interesse, indem es den Stoff zu ihren Werken enthält, mit dessen Einsammlung sie, ihr Leben hindurch, emsig beschäftigt sind, sobald nur die persönliche Not sie irgend atmen läßt. Auch ist ihr Intellekt gewissermaßen ein doppelter: teils einer für die gewöhnlichen Be ziehungen (Angelegenheiten des Willens) gleich dem aller andern; teils einer für die rein objektive Auffassung der Dinge. So leben sie zwiefach, sind Zuschauer und Schauspieler zugleich, während die übrigen letzteres allein sind.
3] Das beste und meiste muß daher jeder sich selber sein und leisten. Je mehr nun dieses ist, und je mehr demzufolge er die Quellen seiner Genüsse in sich selbst sindet, desto glücklicher wird er sein. Mit größtem Rechte also sagt Aristoteles: H euSacpovca tcov auTapxcov earc, zu deutsch: das Glück gehört denen, die sich selber genügen. Denn alle
äußeren Quellen des Glückes und Genusses sind, ihrer Natur nach, höchst unsicher, mißlich, vergänglich und dem Zufall unterworfen, dürften daher, selbst unter den günstigsten Umständen, leicht stocken; ja, dieses ist unvermeidlich, sofern sie doch nicht stets zur Hand sein können. Im Alter nun gar versiegen sie fast alle notwendig: denn da verläßt uns Liebe, Scherz, Reiselust, Pferdelust und Tauglichkeit für die Gesellschaft; sogar die Freunde und Verwandten entführt uns der Tod. Da kommt es denn mehr als je darauf an, was Einer an sich selber habe. Denn dieses wird am längsten Stich halten. Aber auch in jedem Alter ist und bleibt es die echte und allein aus dauernde Quelle des Glücks. Ist doch in der Welt überall nicht viel zu holen: Not und Schmerz erfüllen sie, und auf die, welche diesen entronnen sind, lauert in allen Winkeln die Langeweile. Zudem hat in der Regel die Schlechtigkeit die Herrschaft darin und die Torheit das große Wort. Das Schicksal ist grausam und die Menschen er bärmlich. In einer so beschaffenen Welt gleicht der, welcher viel an sich selber hat, der hellen, warmen, lustigen Weihnachtsstube, mitten im Schnee und Eise der Dezembernacht. Demnach ist eine vorzügliche, eine reiche Individualität und besonders sehr viel Geist zu haben, ohne Zweifel das glücklichste Los auf Erden, so verschieden es etwa auch von dem glänzendsten ausgefallen sein mag. Daher war es ein weiser Ausspruch der erst igjährigen Königin Christine von Schweden, über den ihr noch bloß durch einen Aufsatz und aus mündlichen Berichten bekannt gewordenen Kartesius, welcher da mals seit 20 Jahren in der tiefsten Einsamkeit, in Holland, lebte: Mr. Descartes est le plus heureux de tous les honunes, et sa condition me semble digne d’envie. sHerr Descartes ist der glücklichste unter allen Menschen, und seine Lage scheint mir be neidenswert zu fein.] Nur müssen, wie es eben auch der Fall des Kartesius war, die äußern Umstände es so weit begünstigen, daß man auch sich selbst besitzen und seiner froh werden könne; wes halb schon Koheleth (7, 12) sagt: „Weisheit ist gut mit einem Erbgut, und hilft, daß Einer sich der Sonne freuen kann." Wem nun, durch Gunst der Natur und des Schicksals, dieses Los beschieden ist, der wird mit ängstlicher Sorgfalt darüber wachen, daß die innere Quelle seines Glückes ihm zugänglich bleibe; wo zu Unabhängigkeit und Muße die Bedingungen sind. Diese wird er daher gern durch Mäßigkeit und Sparsamkeit erkaufen; um so mehr, als er nicht, gleich den andern, auf die äußeren Quellen der Genüsse verwiesen ist. Darum wird die Aussicht auf Ämter, Geld, Gunst und Beifall der Welt, ihn nicht verleiten, sich selber aufzugeben, um den niedrigen Absichten, oder dem schlechten Ge-
38 schmacke der Menschen sich zu fügen. Vorkommendenfalls wird er es machen wie Horaz in der Epistel an den Mäcenas (Lib. I ep. 7). Es ist eine große Torheit, um nach außen zu gewinnen, nach innen zu verlieren, d. h. für Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre, feine Ruhe, Muße und Unabhängigkeit ganz oder großenteils hinzugeben. Dies hat aber Goethe getan. Mich hat mein Genius mit Entschiedenheit nach der anderen Seite gezogen. 4] Ich fand eine Feldblume, bewunderte ihre Schönheit, ihre Voll endung in allen Teilen, und rief aus: „Aber alles dieses, in ihr und Tausenden ihresgleichen, prangt und verblüht, von niemandem betrachtet, ja, oft von keinem Auge auch nur gesehn!" — Sie aber antwortete: „du Tor! meinst du, ich blühe, um gesehn zu werden? Meiner und nicht der andern wegen blühe ich, blühe, weil's mir gefällt: darin, daß ich blühe und bin, besteht meine Freude und meine Lust". 5] Seltsame Naturen, Sonderlinge, können nur durch seltsame Verhältnisse glücklich werden, die gerade zu ihrer Natur so passen, wie die gewöhnlichen zu den gewöhnlichen Menschen: und diese Ver hältnisse wieder können nur entstehn durch ein ganz eigentümliches Zusammentreffen mit seltsamen Naturen ganz andrer Art, die aber grade zu jenen passen. Darum sind seltne und seltsame Menschen selten glücklich. 6] Jedes Gut will auf seinem eigenen Gebiet errungen sein, und Besitzungen auf einem fremden Gebiet geben keine gültigen Ansprüche. Liebe, Schönheit und Jugend werden nur von Liebe, Schönheit und Jugend erworben; durch Geld oder Macht kann man sie nur scheinbar, nicht wirklich, besitzen. — Würden und Ämter im Staat sind nur durch Tauglichkeit für den Staat zu er werben: durch hohe Geburt und Kunst kann man sie nur scheinbar, nicht wirklich, besitzen. — Freundschaft, Liebe und Anhänglichkeit der Menschen erwirbt man nur durch Freundschaft, Liebe und Anhäng lichkeit an sie; nicht nur nicht Geld, sondern sogar andere Verdienste, selbst die größten, z. B. um Staat, Wissenschaft und Kunst, können hier nicht gelten, selbst wenn die andern sich alle Mühe geben, sie gelten zu lassen: nur scheinbar können sie alsdann, nicht aber wirklich uns jene Güter schenken. — So sind Kunstwerke nur für den künst lerischen Sinn, Bücher nur für Verständige da, — und so überall. So verschafft nur Geselligkeit Gesellschaft u. s. w. Um zu wissen, wieviel GlückEiner imLeben empfangen kann, darf man nur wissen, wieviel er geben kann.
7- Kapitel
Oer Mensch hat verschiedene Stufen, die er durchlaufen muß, und jede Stufe führt ihre besonderen Tugenden und Fehler mit sich.
Vom Unterschiede der Lebensalter Hier werden nochmals einige Proben aus den wegen ihres milden und warmen Tones unvergleichlichen Aphorismen zur Lebensweisheit gegeben,
einem der lesens- und liebenswertesten Bücher der Weltlitteratur, die be kanntlich einen wesentlichen Teil des letzten Werkes Schopenhauers dar
stellen, durch welches der alternde Denker fast unvermittelt aus dem Dunkel der Vergessenheit in das Licht des heranbrechenden Weltruhmes trat. Und
wenn er soeben noch geschrieben hatte, daß man in späteren Jahren die
Empfindung habe, der Menschenwelt „entronnen" zu sein, so traf das auf ihn selbst plötzlich nicht mehr so ganz zu: Fast vier Jahrzehnte lang war er seinen Zeitgenossen verborgen geblieben, jetzt aber empfing er von den
berühmtesten derselben Huldigungsschreiben und -besuche, wobei besonders an Richard Wagner, der ihm den „Ring der Nibelungen" mit der Widmung
„Aus Verehrung und Dankbarkeit" zusandte, und an Friedrich Hebbel er innert sei, der nach zufälliger Bekanntschaft mit Schopenhauers Schriften
sich gedrungen fühlte, den Philosophen in Frankfurt aufzusuchen, „um den großen Genius von Angesicht zu begrüßen, welcher eben jetzt den zwar späten, aber desto glanzvolleren Sonnenaufgang seines Ruhmes erleben dürfe." Aber auch sonst näherten sich ihm aus allen Ländern Europas eine ganze
Anzahl von Künstlern und Gelehrten, Theologen und Juristen, Natur forschern und Philosophen, und das Freundschaftsverhältnis, welches ihn
mit seinen eigentlichen Jüngern verband, brachte in seine letzten Lebensjahre
eine Heiterkeit, die ihm in früherer Zeit unbekannt geblieben war.
i] Unser ganzes Leben hindurch haben wir immer nur die Gegen wart inne, und nie mehr. Was dieselbe unterscheidet, ist bloß, daß wir am Anfang eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber
4o eine lange Vergangenheit hinter uns sehn; sodann, daß unser Tem perament, wiewohl nicht unser Charakter, einige bekannte Verände rungen durchgeht, wodurch jedesmal eine andere Färbung der Gegenwart entsteht. In meinem Hauptwerke. . . habe ich auseinandergeseht, daß und warum wir in der Kindheit uns viel mehr erkennend als wollend verhalten. Gerade hierauf beruht jene Glückseligkeit des ersten Viertels unsers Lebens, infolge welcher es nachher wie ein verlorenes Paradies hinter uns liegt. Wir haben in der Kindheit nur wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also wenig An regung des Willens: der größte Teil unsers Wesens geht demnach im Erkennen auf. . . . Was nun den Rest der ersten Lebenshälfte, die so viele Vor züge vor der zweiten hat, also das jugendliche Alter, trübt, ja un glücklich macht, ist das Jagen nach Glück, in der festen Voraus setzung, es müsse im Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend getäuschte Hoffnung und aus dieser die Unzufriedenheit. Gaukelnde Bilder eines geträumten, unbestimmten Glückes schweben unter kapriziös gewählten Gestalten, uns vor, und wir suchen ver gebens ihr Urbild. Daher sind wir in unsern Jünglingsjahren mit unserer Lage und Umgebung, welche sie auch sei, meistens unzu frieden; weil wir ihr zuschreiben, was der Leerheit und Armseligkeit des menschlichen Lebens überall zukommt, und mit der wir jetzt die erste Bekanntschaft machen, nachdem wir ganz andere Dinge er wartet hatten. — . . . Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück; so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück. Denn mit ihr ist, mehr oder weniger deutlich, die Erkenntnis einge treten, daß alles Glück chimärisch, hingegen das Leiden real sei. Jetzt wird daher, wenigstens von den vernünftigeren Charakteren, mehr bloße Schmerzlosigkeit und ein unangefochtener Zustand, als Genuß angestrebt. Im Alter versteht man besser, die Unglücksfälle zu ver hüten; in der Jugend, sie zu ertragen. —Wenn, in meinen Jüng lingsjahren, es an meiner Tür schellte, wurde ich vergnügt; denn ich dachte, nun käme es. Aber in spätern Jahren hatte meine Empsindung, bei demselben Anlaß, vielmehr etwas dem Schrecken Verwandtes: ich dachte: „da kommt's". — Hinsichtlich der Menschen welt gibt es, für ausgezeichnete und begabte Individuen, die, eben als solche, nicht so ganz eigentlich zu ihr gehören und demnach, mehr oder weniger, je nach dem Grad ihrer Vorzüge, allein stehn, ebenfalls zwei entgegengesetzte Empsindungen: in der Jugend hat man häusig die, von ihr verlassen zu sein; in spätern Jahren hingegen die, ihr
4i entronnen zu sein. Die erstere, eine unangenehme, beruht auf Unbekanntschaft, die zweite, eine angenehme, auf Bekanntschaft mit ihr. . . . Die Zeit selbst hat in unserer Jugend einen viel langsameren Schritt; daher das erste Viertel unsers Lebens nicht nur das glück lichste, sondern auch das längste ist, so daß es viel mehr Erinnerungen zurückläßt, und jeder, wenn es darauf ankäme, aus demselben mehr zu erzählen wissen würde, als aus zweien der folgenden. Sogar werden, wie im Frühling des Jahres, so auch in dem des Lebens, die Tage zuletzt von einer lästigen Länge. Im Herbste beider werden sie kurz, aber heiterer und beständiger . .. Hinsichtlich der Lebenskraft sind wir, bis zum sechsunddreißigsten Jahre, denen zu vergleichen, welche von ihren Zinsen leben: was heute ausgegeben wird, ist morgen wieder da. Aber von jenem Zeitpunkt an ist unser Analogon der Rentenier, welcher anfängt, fein Kapital anzugreifen. Im An fang ist die Sache gar nicht merklich: der größte Teil der Ausgabe stellt sich immer noch von selbst wieder her: ein geringes Defizit dabei wird nicht beachtet. Dieses aber wächst allmählich, wird merklich, feine Zunahme selbst nimmt mit jedem Tage zu: sie reißt immer mehr ein, jedes Heute ist ärmer als das Gestern, ohne Hoff nung auf Stillstand. So beschleunigt sich, wie der Fall der Körper, die Abnahme immer mehr, — bis zuletzt nichts mehr übrig ist. Ein gar trauriger Fall ist es, wenn beide hier Verglichene, Lebenskraft und Eigentum, wirklich zusammen im Wegschmelzen begriffen sind: daher eben wächst mit dem Alter die Liebe zum Besitze. — Hingegen anfangs, bis zur Volljährigkeit und noch etwas darüber hinaus, gleichen wir, hinsichtlich der Lebenskraft, denen, welche von den Zinsen noch etwas zum Kapitale legen: nicht nur das Ausgegebene stellt sich von selbst wieder ein, sondern das Kapital wächst. Und wieder ist auch dieses bisweilen, durch die Fürsorge eines redlichen Vormundes, zugleich mit dem Gelde der Fall. O glückliche Jugend! O trauriges Alter! — . . . Ich habe die Bemerkung gemacht, daß der Charakter fast jedes Menschen Einem Lebensalter vorzugsweise angemessen zu sein scheint; so daß er in diesem sich vorteilhafter ausnimmt. Einige sind liebens würdige Jünglinge, und dann ist's vorbei; Andere kräftige, tätige Männer, denen das Alter allen Wert raubt; manche stellen sich am vorteilhaftesten im Alter dar, als wo sie milder, weil erfahrener und gelassener sind: dies ist oft bei Franzosen der Fall. Die Sache muß darauf beruhen, daß der Charakter selbst etwas Jugendliches, Männliches oder Ältliches an sich hat, womit das jedesmalige
Lebensalter übereinstimmt oder als Korrektiv entgegenwirkt. . .
42 Man pflegt die Jugend die glückliche Zeit des Lebens zu nennen, und das Alter die traurige. Das wäre wahr, wenn die Leidenschaften glücklich machten. Von diesen wird die Jugend hin und her gerissen, mit wenig Freude und vieler Pein. Dem kühlen Alter lassen sie Ruhe, und alsbald erhält es einen kontemplativen Anstrich: denn die Er kenntnis wird frei und erhält die Oberhand. Weil nun diefe, an sich selbst, schmerzlos ist, so wird das Bewußtsein, je mehr sie darin vor herrscht, desto glücklicher. Man braucht nur zu erwägen, daß aller Genuß negativer, der Schmerz positiver Natur ist, um zu begreifen, daß die Leidenschaften nicht beglücken können und daß das Alter deshalb, daß manche Genüsse ihm versagt sind, nicht zu beklagen ist. Denn jeder Genuß ist immer nur die Stillung eines Bedürfnisses: daß nun mit diesem auch jener wegfällt, ist so wenig beklagenswert, wie daß Einer nach Tische nicht mehr essen kann und nach ausgeschafener Nacht wach bleiben muß. Diel richtiger schätzt Platon (im Eingang zur Republik) das Greisenalter glücklich, sofern es den bis dahin uns unablässig beunruhigenden Geschlechtstrieb endlich los ist. Sogar ließe sich behaupten, daß die mannigfaltigen und end losen Grillen, welche der Geschlechtstrieb erzeugt, und die aus ihnen entstehenden Affekte, einen beständigen, gelinden Wahnsinn im Menschen unterhalten, so lange er unter dem Einsiuß jenes Triebes oder jenes Teufels, von dem er stets besessen ist, steht; so daß er erst nach Erlöschen desselben ganz vernünftig würde. Gewiß aber ist, daß, im allgemeinen und abgesehen von allen individuellen Um ständen und Zuständen, der Jugend eine gewisse Melancholie und Traurigkeit, dem Alter eine gewisse Heiterkeit eigen ist: und der Grund hiervon ist kein anderer, als daß die Jugend noch unter der Herrschaft, ja dem Frondienst jenes Dämons steht, der ihr nicht leicht eine freie Stunde gönnt und zugleich der unmittelbare oder mittelbare Urheber fast alles und jedes Unheils ist, das den Menschen trifft oder bedroht: das Alter aber hat die Heiterkeit dessen, der eine lange getragene Fessel los ist und sich nun frei bewegt. — Andererseits jedoch ließe sich sagen, daß nach erloschenem Geschlechtstrieb der eigentliche Kern des Lebens verzehrt und nur noch die Schale des selben vorhanden sei, ja, daß es einer Komödie gliche, die von Menschen angefangen, nachher von Automaten, in deren Kleidern, zu Ende gespielt werde. . . Der Grundunterschied zwischen Jugend und Alter bleibt immer, daß jene das Leben im Prospekt hat, dieses den Tod; daß also jene eine kurze Vergangenheit und eine lange Zukunft besitzt; dieses umgekehrt. Allerdings hat man, wann man alt ist, nur noch den Tod vor sich; aber wann man jung ist, hat man das Leben vor sich.
und es frägt sich, welches von beiden bedenklicher fei, und ob nicht, im ganzen genommen, das Leben eine Sache fei, die es besser ist, hinter sich als vor sich zu haben: sagt doch schon Koheleth (7,2): „der Tag des Todes ist besser denn der Tag der Geburt," Ein sehr langes Leben zu begehren, ist jedenfalls ein verwegener Wunsch. Denn quien larga vida vive mucho mal vide sagt das spanische Sprichwort. — Zwar ist nicht, wie die Astrologie es wollte, der Lebenslauf der Einzelnen in den Planeten vorgezeichnet; wohl aber der Lebenslauf des Menschen überhaupt, sofern jedem Alter desselben ein Planet, der Reihenfolge nach, entspricht und sein Leben demnach sukzessive von allen Planeten beherrscht wird. — Im zehnten Lebensjahre regiert Merkur. Wie dieser bewegt der Mensch sich schnell und leicht, im engsten Kreise: er ist durch Kleinigkeiten umzustimmen; aber er lernt viel und leicht, unter der Herrschaft des Gottes der Schlauheit und Beredsamkeit. —Mit dem zwanzigsten Jahre tritt die Herrschaft der Venus ein: Liebe und Weiber haben ihn ganz im Besitze. Im dreißig sten Lebensjahre herrscht Mars: der Mensch ist jetzt heftig, stark, kühn, kriegerisch und trotzig. — Im vierzigsten regieren die vier Planetoiden: sein Leben geht demnach in die Breite: er ist frugi, d. h. frönt dem Nützlichen, kraft der Ceres: er hat seinen eigenen Herd, kraft der Vesta: er hat gelernt, was er zu wissen braucht, kraft der Pallas: und als Juno regiert die Herrin des Hauses, seine Gattin*. — Im fünfzigsten Jahre aber herrscht Jupiter. Schon hat der Mensch die meisten überlebt, und dem jetzigen Geschlechte fühlt er sich überlegen. Noch im vollen Genuß seiner Kraft, ist er reich an Erfahrung und Kenntnis: er hat (nach Maßgabe seiner Individualität und Lage) Autorität über alle, die ihn umgeben. Er will demnach sich nicht mehr befehlen lassen, sondern selbst befehlen» Zum Lenker und Herrscher, in seiner Sphäre, ist er jetzt am geeig netsten. So kulminiert Jupiter und mit ihm der Fünfzigjährige. — Dann aber folgt, im sechzigsten Jahre, Saturn und mit ihm die Schwere, Langsamkeit und Zähigkeit des Bleies:
But old folks, many feign as they were dead; Unwieldy, slow heavy and pale as lead. (Rom. and Jul.)
(Diel' Alte scheinen schon den Toten gleich: Wie Blei, schwer, zähe, ungelenk und bleich.) * Die zirka 60 seitdem noch hinzu entdeckten Planetoiden sind eine Neuerung, von der ich nichts wissen will. 3cf) mache es daher mit ihnen, wie mit mir die Philosophieprofessoren: ich ignoriere sie; weil sie nicht in meinen Kram passen.
44 Zuletzt kommt Uranus: da geht man, wie es heißt, in den Himmel. Den Neptun (so hat ihn leider die Gedankenlosigkeit getauft) kann ich hier nicht in Rechnung ziehn, weil ich ihn nicht bei seinem wahren Namen nennen darf, der Eros ist. Sonst wollte ich zeigen, wie sich an das Ende der Anfang knüpft, wie nämlich der Eros mit dem Tode in einem geheimen Zusammenhänge steht, vermöge dessen der Orkus, oder Amenthes der Ägypter (nach Plutarch), der Xapißavuiv xat StSou^,
also nicht nur der Nehmende, sondern auch der Gebende und der Tod das große Reservoir des Lebens ist. Daher also, daher, aus dem Orkus, kommt alles, und dort ist schon jedes gewesen, das jetzt Leben hat: — wären wir nur fähig, den Taschenspielerstreich zu begreifen, vermöge dessen das geschieht; dann wäre alles klar.
6. Kapitel
Den Beweis der ^Unsterblichkeit muß jeder in sich selbst tragen, außerdem kann er nicht gegeben werden. Wohl ist alles in der Natur Wechsel, aber hin ter dem Wechselnden ruht ein Ewiges.
DerTod und die große Unsterblichkeits lehre der Natur Nirgends zeigt sich wohl mehr als hier, wo wir an den Pforten der Ewigkeit stehen, daß die Philosophie, im Gegensatz zu bloßer Dialektik früherer und jetziger Zeit, mehr ist als ein müßiges Gedankenspiel. Denn nur der philosophischen Betrachtung der Welt erschließt sich die Beant
wortung jener Frage, die gewiß mehr als jede andere den denkenden Men
schen beschäftigt, nämlich der Frage nach der Fortdauer des Individuums nach dem Tode. Die Kant-Schopenhauersche Philosophie löst dieses Problem dahin, daß jeder Mensch einerseits das zeitlich anfangende und endende Individuum
ist, eines Schattens Traum, andrerseits das unzerstörbare Urwesen, das Ding an sich, der Wille zum Leben (s. Kap. 11), „dem das Leben gewiß ist" und auf den die Begriffe von Aufhören und Fortdauern nicht anwendbar sind, weil sie sich nur auf die Erscheinung, im Gegensatz zu diesem Ding an sich, beschranken und sonst keinen Sinn haben. Auf eben diese Unter scheidung zwischen jener der bloßen Erscheinung angehörenden Individu
alität und dem Wesen an sich der Welt gründet sich Schopenhauers Glaube, daß „wir im Augenblick des Sterbens inne werden, daß eine bloße Täuschung unser Dasein auf unsere Person beschrankt hatte". Die
Individuation ist eben nicht die wahre und letzte Daseinsform, sie ist der Schleier der Maja, ein Irrtum. — Wenn irgend etwas, so vermögen diese tiefsinnigen und echt Schopenhauerischen Gedanken uns über den Tod
unserer von uns genommenen Freunde zu trösten und uns über uns selbst hinauszuheben, wenn wir an das unvermeidliche eigene Sterben denken.
46 Und noch mehr: denn Schopenhauers Lehre, daß nur unsere auf die
bloße Erscheinung angelegten Erkenntnisformen es sind, die uns verhindern
zu erkennen, was wir durch den Tod gewinnen, ist eine philosophische Offen barung, über die menschliche Erkenntnis niemals wird hinausgelangen können,
i] Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie, weshalb Sokrates diese auch Savatou ihsästt) sDorbereitung auf den Tod^ definiert hat. Schwerlich sogar würde, auch
ohne den Tod, philosophiert werden. . . Das Tier lebt ohne eigentliche Kenntnis des Todes: daher genießt das tierische Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, indem es sich seiner nur als endlos bewußt ist. Beim Menschen fand sich, mit der Vernunft, notwendig die erschreckende Gewißheit des Todes ein. Wie aber durchgängig in der Natur jedem Übel ein Heilmittel oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist; so verhilft die selbe Reflexion, welche die Erkenntnis des Todes herbei führte, auch zu metaphysischen Ansichten, die darüber trösten, und deren das Tier weder bedürftig noch fähig ist. Hauptsächlich auf diesen Zweck find alle Religionen und philosophischen Systeme ge richtet, sind also zunächst das von der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewißheit des Todes. Der Grad jedoch, in welchem sie diesen Zweck erreichen, ist sehr verschieden, und allerdings wird eine Religion oder Philosophie viel mehr als die andere den Menschen befähigen, ruhigen Blickes dem Tod ins Angesicht zu sehen. Brahmanismus und Buddhaismus, die den Menschen lehren, sich als das Urwesen selbst, daö Brahm, zu betrachten, welchem alles Entstehen und Vergehen wesentlich fremd ist, werden darin viel mehr leisten als solche, welche ihn aus Nichts gemacht sein und seine, von einem andern empfangene Existenz wirklich mit der Geburt anfangen lassen. Dem entsprechend finden wir in Indien eine Zuversicht und eine Verachtung des Todes, von der man in Europa keinen»Begriff hat... Nach allem inzwischen, was über den Tod gelehrt worden, ist nicht zu leugen, daß, wenigstens in Europa, die Meinung der Menschen, ja oft sogar des selben Individuums, gar häufig von neuem hin und her schwankt zwischen der Auffassung des Todes als absoluter Ver nichtung und der Annahme, daß wir gleichsam mit Haut und Haaren unsterblich seien. Beides ist gleich falsch: Allein wir haben nicht sowohl eine richtige Mitte zu treffen, als vielmehr den höheren Gesichts punkt zu gewinnen, von welchem aus solche Ansichten von selbst wegfallen.
Ich will, bei diesen Betrachtungen, zuförderst vom ganz empiri schen Standpunkt ausgehen. — Da liegt uns zunächst die unleugbare Tatsache vor, daß, dem natürlichen Bewußtsein gemäß, der Mensch nicht bloß für seine Person den Tod mehr als alles andere fürchtet, sondern auch über den der ©einigen heftig weint, und zwar offenbar nicht egoistisch über seinen eigenen Verlust, sondern aus Mitleid über das große Unglück, das jene betroffen; daher er auch den, welcher in solchem Falle nicht weint und keine Betrübnis zeigt, als hartherzig und lieblos tadelt. Diesem geht parallel, daß die Rachsucht, in ihren höchsten Graden, den Tod des Gegners sucht, als das größte Übel, das sich verhängen läßt. —Meinungen wechseln nach Zeit und Ort; aber die Stimme der Natur bleibt sich stets und überall gleich, ist daher vor allem zu beachten. Sie scheint nun hier deutlich auszusagen, daß der Tod ein großes Übel sei. In der Sprache der Natur bedeutet
Tod Vernichtung. Und daß es mit dem Tode ernst sei, ließe sich schon daraus abnehmen, daß es mit dem Leben, wie es jeder weiß, kein Spaß ist. Mr müssen wohl nichts Besseres, als diese beiden, wert sein. In der Tat ist die Todesfurcht von aller Erkenntnis unabhängig: denn das Tier hat sie, obwohl es den Tod nicht kennt. Alles, was geboren wird, bringt sie schon mit auf die Welt. Diese Todesfurcht a priori* ist aber eben nur die Kehrseite des Willens zum Leben, welcher wir alle ja sind. Daher ist jedem Tiere, wie die Sorge für seine Erhaltung, so die Furcht vor seiner Zerstörung angeboren: diese also, und nicht das bloße Vermeiden des Schmerzes, ist es, was sich in der ängstlichen Behutsamkeit zeigt, mit der das Tier sich und noch mehr seine Brut vor jedem, der gefährlich werden könnte, sicherzu stellen sucht. Warum siieht das Tier, zittert und sucht sich zu ver bergen? Weil es lauter Wille zum Leben, als solcher aber dem Tode verfallen ist und Zeit gewinnen möchte. Ebenso ist, von Natur, der Mensch. DcßS größte der Übel, das Schlimmste, was überall gedroht
werden kann, ist der Tod, die größte Angst Todesangst. Nichts reißt uns so unwiderstehlich zur lebhaftesten Teilnahme hin wie fremde Lebensgefahr: nichts ist entsetzlicher als eine Hinrichtung. Die hierin hervortretende grenzenlose Anhänglichkeit an das Leben kann nun aber nicht aus der Erkenntnis und Überlegung entsprungen sein: vor
dieser erscheint sie vielmehr töricht, da es um den objektiven Wert des Lebens sehr mißlich steht und wenigstens zweifelhaft bleibt, ob dasselbe dem Nichtsein vorzuziehen fei, ja, wenn Erfahrung und Überlegung zu Worte kommen, das Nichtsein wohl gewinnen muß.
s. S. 56, Anm.
46 Klopfte man an die Gräber und fragte die Toten, ob sie wieder auf stehen wollten; sie würden mit dem Kopfe schütteln . . . Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen läßt, der Gedanke des Nichtseins wäre, so müßten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstößlich gewiß, daß das Nichtsein nach dem Tode nicht verschieden sein kann von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerter. Eine ganze Unendlichkeit ist abgelaufen, als wir noch nicht waren: aber das betrübt uns keineswegs. Hingegen, daß nach dem momentanen Intermezzo eines ephemeren Daseins eine zweite Unendlichkeit folgen sollte, in der wir nicht mehr sein werden, sinden wir hart, ja un erträglich. Sollte nun dieser Durst nach Dasein etwa dadurch ent standen sein, daß wir es jetzt gekostet und so gar allerliebst gefunden hätten? Wie schon oben kurz erörtert: gewiß nicht; viel eher hätte die gemachte Erfahrung eine unendliche Sehnsucht nach dem ver lorenen Paradies des Nichtseins erwecken können. Auch wird der Hoffnung der Seelen-Unsterblichkeit allemal die einer „bessern Welt" angehängt, — ein Zeichen, daß die gegenwärtige nicht viel taugt. — Dieses allen ungeachtet ist die Frage nach unserem Zustande nach dem Tode gewiß zehntausendmal öfter, in Büchern und mündlich, erörtert worden, als die nach unserm Zustande vor der Geburt. Theoretisch ist dennoch die eine ein ebenso nahe liegendes und berechtigtes Pro blem wie die andere: auch würde, wer die eine beantwortet hätte, mit der andern wohl gleich im klaren sein. . . Bis hierher hat sich uns ergeben, daß der Tod, so sehr er auch gefürchtet wird, doch eigentlich kein Übel sein könne. Oft aber er scheint er sogar als ein Gut, ein Erwünschtes, als Freund Hain. Alles, was auf unüberwindliche Hindernisse seines Daseins oder seiner Bestrebungen gestoßen ist, was an unheilbaren Krankheiten oder an untröstlichem Grame leidet, — hat zur letzten, meistens sich ihm von selbst öffnenden Zusiucht die Rückkehr in den Schoß der Natur, aus welchem es, wie alles andere auch, auf eine kurze Zeit heraufgetaucht war, verlockt durch die Hoffnung auf günstigere Bedingungen des Daseins, als ihm geworden, und von wo aus ihm der selbe Weg stets offen bleibt. Jene Rückkehr ist die cessio bonorum des Lebenden. Jedoch wird sie auch hier erst nach einem physischen oder moralischen Kampfe angetreten: so sehr sträubt jedes sich, dahin zurückzugehen, von wo es so leicht und bereitwillig hervorkam, zu einem Dasein, welches so viele Leiden und so wenige Freuden zu bieten hat. — Die Hindu geben dem Todesgotte Aama zwei Gesichter: ein sehr furcht bares und schreckliches und ein sehr freudiges und gütiges. Dies er klärt sich zum Teil schon durch die eben angestellte Betrachtung . . .
Die Betrachtungen, welche uns bis hierher geführt haben und an welche die ferneren Erörterungen sich knüpften, waren ausgegangen von der auffallenden Todesfurcht, welche alle lebenden Wesen, erfüllt. Jetzt aber wollen wir den Standpunkt wechseln und einmal betrachten, wie, im Gegensatz der Einzelwesen, das Ganze der Natur sich hin sichtlich des Todes verhält; wobei wir jedoch immer noch auf dem empirischen Grund und Boden stehenbleiben. Wir freilich kennen kein höheres Würfelspiel, als das um Tod und Leben: jeder Entscheidung über diese sehn wir mit der äußersten Spannung, Teilnahme und Furcht entgegen: denn es gilt in unsern Augen, alles in allem. — Hingegen die Natur, welche doch nie lügt, sondern aufrichtig und offen ist, spricht über dieses Thema ganz anders, nämlich so wie Krischna im Bhagavad-Gita. Ihre Aussage ist: am Tod oder Leben des Individuums ist gar nichts gelegen. Dieses nämlich drückt sie dadurch aus, daß sie das Leben jedes Tieres und auch des Menschen den unbedeutendsten Zufällen preisgibt, ohne zu seiner Rettung einzutreten. — Betrachtet das Insekt auf eurem Wege: eine kleine, unbewußte Wendung eures Fußtritts ist über sein Leben oder Tod entscheidend. Seht die Waldschnecke, ohne alle Mittel zur Flucht, zur Wehr, zur Täuschung, zum Verbergen, eine bereite Beute für jeden. Seht den Fisch sorglos im noch offenen Netze spielen; den Frosch durch seine Trägheit von der Flucht, die ihn retten könnte, abgehalten; den Vogel, der den über ihm schwebenden Falken nicht gewahr wird; die Schafe, welche der Wolf aus dem Busch ins Auge faßt und mustert. Diese alle gehen, mit wenig Vorsicht ausgerüstet, arglos unter den Gefahren umher, die jeden Augenblick ihr Dasein bedrohen. Indem nun also die Natur ihre so unaussprechlich künst lichen Organismen nicht nur der Raublust des Stärkeren, sondern auch dem blindesten Zufall und der Laune jedes Narren und dem Mut willen jedes Kindes ohne Rückhalt preisgibt, spricht sie aus, daß die Vernichtung dieser Individuen ihr gleichgültig sei, ihr nicht schade, gar nichts zu bedeuten habe, und daß, in jenen Fällen, die Wirkung so wenig auf sich habe wie die Ursache. Sie sagt dies sehr deutlich aus, und sie lügt nie: nur kommentiert sie ihre Aussprüche nicht; vielmehr redet sie im lakonischen Stil der Orakel. Wenn nun die Allmutter so sorglos ihre Kinder tausend drohenden Gefahren, ohne Obhut, entgegensendet, so kann es nur sein, weil sie weiß, daß, wenn sie fallen, sie in ihren Schoß zurückfallen, wo sie geborgen sind, daher ihr Fall nur ein Scherz ist. Sie hält es mit dem Menschen nicht anders als mit den Tieren. Ihre Aussage also erstreckt sich auch auf diesen: Leben und Tod des Individuums sind ihr gleichgültig. Demzufolge sollten sie es, in gewissem Sinne, auch uns sein: denn wir selbst sind Pfeiffer, Bild d. Menschen 4
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ja die Natur. Gewiß würden wir, wenn wir nur tief genug sähen, der Natur beistimmen und Tod oder Leben als so gleichgültig ansehen wie sie. Inzwischen müssen wir, mittels der Reflexion, jene Sorg losigkeit und Gleichgültigkeit der Natur gegen das Leben der Indi viduen dahin auslegen, daß die Zerstörung einer solchen Erscheinung das wahre und eigentliche Wesen derselben im mindesten nicht anficht... Durchgängig und überall ist das echte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der Tat die allgemeinste Form in der Natur, welche sie in allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an bis zum Tod und der Entstehung orga nischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes Dasein, d. i. eine Natur, möglich wird. Wenn man im Herbst die kleine Welt der Insekten betrachtet und nun sieht, wie das eine sich sein Bett bereitet, um zu schlafen, den langen, erstarrenden Winterschlaf; das andere sich einspinnt, um als Puppe zu überwintern und einst, im Frühling, verjüngt und vervoll kommnet zu erwachen; endlich die meisten, als welche ihre Ruhe in den Armen des Todes zu halten gedenken, bloß ihrem Ei sorgfältig die geeignete Lagerstätte anpassen, um einst aus diesem erneut her vorzugehen; — so ist dies die große Unsterblichkeitslehre der Natur, welche uns beibringen möchte, daß zwischen Schlaf und Tod kein radikaler Unterschied ist, sondern der eine so wenig wie der andere das Dasein gefährdet. Die Sorgfalt, mit der das Insekt eine Zelle oder Grube oder Nest bereitet, sein Ei hineinlegt, nebst Futter für die im kommenden Frühling daraus hervorgehende Larve, und dann ruhig stirbt, — gleicht ganz der Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid und sein Frühstück für den kommenden Morgen bereit legt und dann ruhig schlafen geht, und könnte im Grunde gar nicht statt haben, wenn nicht, an sich und seinem wahren Wesen nach, das im Herbste sterbende Insekt mit dem im Frühling auskriechenden eben sowohl identisch wäre, wie der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden. Wenn wir nun, nach diesen Betrachtungen, zu uns selbst und unserem Geschlechte zurückkehren und dann den Blick vorwärts, weit hinaus in die Zukunft werfen, die künftigen Generationen, mit den Millionen ihrer Individuen, in der fremden Gestalt ihrer Sitten und Trachten uns zu vergegenwärtigen suchen, dann aber mit der Frage dazwischenfahren: Woher werden diese alle kommen? Wo sind sie jetzt? —Wo ist der reiche Schoß des weltenschwangeren Nichts, der sie noch birgt, die kommenden Geschlechter? — Wäre darauf
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nicht die lächelnde und wahre Antwort: Wo anders sollen sie sein als dort, wo allein das Reale stets war und sein wird, in der Gegenwart und ihrem Inhalt, also bei Dir, dem betörten Frager, der, in diesem Verkennen seines eigenen Wesens, dem Blatte am Baume gleicht, welches im Herbste welkend und im Begriff abzufallen, jammert über seinen Untergang und sich nicht trösten lassen will durch den Hinblick auf das frische Grün, welches im Frühling den Baum be kleiden wird, sondern klagend spricht: „Das bin ja Ich nicht! Das sind ganz andere Blätter!" — O törichtes Blatt! Wohin willst du? Und woher sollen andere kommen? Wo ist das Nichts, dessen Schlund du fürchtest? — Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade das, was vom Durst nach Dasein so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und dieselbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entstehen und Vergehen. Und nun ob} itep piMujv yevei}, Totijöe xat avdpatv.
sGleich wie Blätter am Baume, so sind die Geschlechter der Menschen.^
Ob die Fliege, die jetzt um mich summt, am Abend einschläft und morgen wieder summt; oder ob sie am Abend stirbt und im Frühjahr, aus ihrem Ei entstanden, eine andere Fliege summt; das ist an sich die selbe Sache: daher aber ist die Erkenntnis, die solches als zwei grundverschiedene Dinge darstellt, keine unbedingte, sondern eine relative, eine Erkenntnis der Erscheinung, nicht des Dinges an sich. Die Fliege ist am Morgen wieder da; sie ist auch im Frühling wieder da. Was unterscheidet für sie den Winter von der Nacht? — ... So weilt alles nur einen Augenblick und eilt dem Tode zu. Die Psianze und das Insekt sterben am Ende des Sommers, das Tier, der Mensch, nach wenig Jahren: der Tod mäht unermüdlich. Desungeachtet aber, ja, als ob dem ganz und gar nicht so wäre, ist jeder zeit alles da und an Ort und Stelle, eben als wenn alles unvergänglich wäre. Jederzeit grünt und blüht die Psianze, schwirrt das Infekt, steht Tier und Mensch in unverwüstlicher Jugend da, und die schon tausendmal genossenen Kirschen haben wir jeden Sommer wieder vor uns. Auch die Völker stehen da, als unsterbliche Indi viduen; wenn sie gleich bisweilen die Namen wechseln; sogar ist ihr Tun, Treiben und Leiden allezeit das selbe; wenngleich die Geschichte stets etwas anderes zu erzählen vorgibt: denn diese ist wie das Kaleidoskop, welches bei jeder Wendung eine neue Konsiguration zeigt, während wir eigentlich immer das selbe vor Augen haben. Was also dringt sich unwiderstehlicher auf als der Gedanke, daß jenes
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Entstehen und Vergehen nicht das eigentliche Wesen der Dinge treffe, sondern dieses davon unberührt bleibe, also unvergänglich sei, daher denn alles und jedes, was da sein will, wirklich fortwährend und ohne Ende da ist. Demgemäß sind in jedem gegebenen Zeitpunkt alle Tiergeschlechter, von der Mücke bis zum Elefanten, vollzählig bei sammen. Sie haben sich bereits viel tausendmal erneuert und sind dabei die selben geblieben. Sie wissen nicht von andern ihresgleichen, die vor ihnen gelebt oder nach ihnen leben werden: die Gattung ist es, die allezeit lebt, und, im Bewußtsein der Unvergänglichkeit der selben und ihrer Identität mit ihr, sind die Individuen da und wohl gemut. Der Wille zum Leben erscheint sich in endloser Gegenwart; weil diese die Form des Lebens der Gattung ist, welche daher nicht altert, sondern immer jung bleibt. Der Tod ist für sie, was der Schlaf für das Individuum, oder was für das Auge dasWinken ist, an dessen Abwesenheit die indischen Götter erkannt werden, wenn sie in Menschengestalt erscheinen. Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick zu sein aufhört; ebenso scheinbar vergeht Mensch und Tier durch den Tod, und ebenso ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. Nun denke man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die beharrliche ObjektivationdesWillens, die bleibenden Ideen der Wesen vor sich, fest stehend, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit. Infolge derselben ist, trotz Jahrtausenden des Todes und der Verwesung, noch nichts verloren gegangen, kein Atom der Materie, noch weniger etwas von dem innern Wesen, welches als die Natur sich darstellt. Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemut ausrufen: „Trotz Zeit, Tod und Verwesung sind wir noch alle beisammen!"
2] Nachdem nun aber durch den Tod ein individuelles Bewußtsein einmal geendigt hat; wäre es da auch nur wünschenswert, daß es wieder angefacht würde, um ins Endlose fortzubestehen? Sein In halt ist, dem größten Teile nach, ja meistens durchweg, nichts als ein Strom kleiner, irdischer, armseliger Gedanken und endloser Sorgen: laßt diese doch endlich beruhigt werden! —Mit richtigem Sinne setzen daher die Alten auf ihre Grabsteine: securitate perpetuae [jti ewiger Geborgenheit^; — oder bonaequieti fzu guter Ruhe^. 3] Zwar ist jeder nur als Erscheinung vergänglich, hingegen als Ding an sich zeitlos, also auch endlos; aber auch ntfr als Erscheinung ist er von den übrigen Dingen der Welt verschieden, als Ding an sich ist er der Wille, der in allen erscheint, und der Tod hebt die Täuschung
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auf, die sein Bewußtsein von dem der übrigen trennt: dies ist die Fortdauer.
4] Für uns ist und bleibt der Tod ein Negatives, — das Aufhören des Lebens: Allein er muß auch eine positive Seite haben, die jedoch uns verdeckt bleibt, weil unser Intellekt durchaus unfähig ist, sie zu fassen. Daher erkennen wir wohl, was wir durch den Tod verlieren, aber nicht, was wir durch ihn gewinnen.
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g. Kapitel
Wie Alles sich zum Ganzen webt. Eins in dem Andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen Und sich die goldnen Eimer reichen, Mit segenduftenden Schwingen Dom Himmel durch die Erde dringen. Harmonisch all das All durchklingen!
Menschenschicksal Vielleicht die tiefsinnigste aller Schriften Schopenhauers ist seine „Trans scendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen", aus welcher das folgende Kapitel einen Auszug darstellt. Diese Schrift geht von dem Gedanken aus, daß der Zufall die Welt beherrscht,
entwickelt aber dann die „Ansicht", die Schopenhauer ausdrücklich als solche bezeichnet, im Gegensatz zu klarer philosophischer Einsicht, daß anscheinend
diesem Zufall eine Absicht unterzulegen sei, indem eine geheime und unerklärliche Macht uns leite, wie es unserem eigentlichen wahren Besten förderlich sei, und daß die Schicksalswege aller Menschen irgendwie mit
einander in Verbindung ständen. —
Schopenhauer hat in seinem eigenen Lebensschicksal einen Beleg zu diesem seinem Glauben gefunden und hat das oft ausgesprochen. Am deutlichsten erkannte er die Hand der Vorsehung in dem von feinem Vater ererbten Vermögen, ohne welches er, die Welt als „eine Art Hölle" ansehend,
in der man „eine feuerfeste Stube" sich zu verschaffen bedacht sein müsse,
nicht
so
völlig unabhängig gewesen wäre,
wie es bei der
Eigenart seines Wesens zu seinem Schaffen durchaus nötig war, und er dankte es seinem Schicksal sowohl wie seinem Vater. „Gedenke", so
sprach er in seinen Erstlingsmanuskripten zu sich selbst, „daß der Zufall, jene
auf dieser Erde (nebst dem Irrtum, seinem Bruder, und der Torheit, seiner Tante, und der Bosheit, seiner Großmutter) herrschende Macht, die jedem
Erdensohne und auch dir, durch große und kleine Streiche, jährlich und täglich, das Leben vergällt; — bedenke, sage ich, daß diese arge Macht es ist, der du
dein Wohlsein und deine Unabhängigkeit verdankest, indem sie dir gab, was sie vielen Tausenden versagte, eben um es einzelnen, wie dir, geben zu können...
Ist er sder Zufalls nun aber noch immer so günstig gegen dich, daß er dir
viel mehr gibt als fast allen, auf deren Fußstapfen du wandeln willst, o so sei froh, eifre nicht über den Besitz seiner geschenkten Gaben, mißbrauche sie nicht, sieh sie als das Lehn eines launigen Herrn an, verwende sie mit
Weisheit und Güte." Seine Gesinnung gegen seinen Vater aber zeigt
am besten die diesem zugedachte Dedikation der zweiten Ausgabe des Hauptwerkes, wo es heißt: „Edler, wohltätiger Geist! Dem ich alles danke,
was ich bin. Deine waltende Vorsorge hat mich geschirmt und getragen, nicht bloß durch die hilflose Kindheit und unbedachtsame Jugend, sondern auch ins Mannesalter und bis auf den heutigen Tag ... Daß ich die Kräfte, die mir die Natur gab, ausbilden und zu dem verwenden konnte, wozu sie bestimmt waren, daß ich dem angeborenen Triebe folgen und für Unzählige denken und arbeiten konnte, während keiner für mich etwas tat: das danke
ich dir, mein Vater, danke es deiner Tätigkeit, deiner Klugheit, deiner Sparsamkeit und Sorgfalt für die Zukunft. Darum sei mir gepriesen, mein
edler Vater!. . . Und so laß meine Dankbarkeit das einzige tun, was ich
für dich, der du vollendet haft, vermag: laß sie deinen Namen so weit bringen, als meiner ihn zu tragen imstande ist."
i] Der Glaube an eine spezielle Vorsehung oder sonst eine über natürliche Lenkung der Begebenheiten im individuellen Lebenslauf
ist zu allen Zeiten allgemein beliebt gewesen, und sogar in denkenden,
aller Superstition abgeneigten Köpfen sindet er sich bisweilen un erschütterlich fest, ja, wohl gar außer allem Zusammenhänge mit
irgend welchen bestimmten Dogmen. — Zuvörderst läßt sich ihm
entgegensetzen, daß er, nach Art alles Götterglaubens, nicht eigentlich aus der
Erkenntnis, sondern aus dem Willen
entsprungen,
nämlich zunächst das Kind unserer Bedürftigkeit sei. Denn die Data, welche bloß die Erkenntnis dazu geliefert hätte, ließen sich vielleicht darauf zurückführen, daß der Zufall, welcher uns hundert arge und
wie durchdacht tückische Streiche spielt, dann und wann einmal aus erlesen günstig ausfällt, oder auch mittelbar sehr gut für uns sorgt.
In allen solchen Fällen erkennen wir in ihm die Hand der Vorsehung, und zwar am deutlichsten dann, wann er, unsrer eigenen Einsicht zuwider, ja, auf von uns verabscheuten Wegen, uns zu einem be
glückenden Ziele hingeführt hat; wo wir alsdann sagen tune bene
navigavi, cum naufragium feci sdamals bin ich gut gefahren, als ich Schiffbruch erlitten habe^, und der Gegensatz zwischen Wahl
56 und Führung ganz unverkennbar, zugleich aber zum Vorteil der letzteren fühlbar wird. Eben dieserhalb trösten wir, bei widrigen Zufällen, uns auch wohl mit dem oft bewährten Sprüchlein „wer weiß, wozu es gut ist", — welches eigentlich aus der Einsicht ent sprungen ist, daß, obwohl der Zufall die Welt beherrscht, er doch den Irrtum zum Mitregenten hat und, weil wir diesem ebenso sehr als jenem unterworfen sind, vielleicht eben Das ein Glück ist, was uns jetzt als ein Unglück erscheint. So siiehen wir dann von den Streichen des einen Welttyrannen zum andern, indem wir vom Zu fall an den Irrtum appellieren. Hievon jedoch abgesehen, ist, dem bloßen, reinen, offenbaren Zufall eine Absicht unterzulegen, ein Gedanke, der an Verwegenheit seines gleichen sucht. Dennoch glaube ich, daß jeder, wenigstens ein mal in seinem Leben, ihn lebhaft gefaßt hat. Auch findet man ihn bei allen Völkern und neben allen Glaubenslehren; wiewohl am entschiedensten bei den Mohammedanern. Es ist ein Gedanke, der, je nachdem man ihn versteht, der absurdeste oder der tiefsinnigste sein kann. Gegen die Beispiele inzwischen, wodurch man ihn belegen möchte, bleibt, so frappant sie auch bisweilen sein mögen, die stehende Einrede diese, daß es das größte Wunder wäre, wenn nie mals ein Zufall unsere Angelegenheiten gut, ja, selbst besser besorgte, als unser Verstand und unsere Einsicht es vermocht hätten. Daß alles, ohne Ausnahme, was geschieht, mit strenger Not wendigkeit eintritt, ist eine a priori* einzusehende, folglich unum stößliche Wahrheit: ich will sie hier den demonstrablen Fatalismus nennen. In meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens ergibt sie sich als das Resultat aller vorhergegangenen Untersuchungen. Sie wird empirisch und a posteriori** Bestätigt durch die nicht mehr zweifel hafte Tatsache, daß magnetische Somnambule, daß mit dem zweiten Gesicht begabte Menschen, ja, daß bisweilen die Träume des ge wöhnlichen Schlafs, das Zukünftige geradezu und genau vorher ver künden. Am auffallendesten ist diese empirische Bestätigung meiner Theorie der strengen Notwendigkeit alles Geschehenden beim zweiten Gesicht. Denn das vermöge desselben oft lange vorher Verkündete sehen wir nachmals, ganz genau und mit allen Nebenumständen, wie sie angegeben waren, eintreten, sogar dann, wann man sich absicht lich und auf alle Weise bemüht hatte, es zu Hintertreiben, oder die eintreffende Begebenheit, wenigstens in irgend einem Nebenumstande, von der mitgeteilten Vision abweichen zu machen; welches stets ver* Das bedeutet „nicht auf dem Wege der Erfahrung gewonnen, also nicht von außen in uns gekommen". ** d. h. auf Grund gemachter Erfahrung.
geblich gewesen ist; indem dann gerade das, welches das vorher Ver kündete vereiteln sollte, allemal es herbeizuführen gedient hat; gerade so, wie sowohl in den Tragödien, als in der Geschichte der Alten, das von Orakeln oder Träumen verkündigte Urteil eben durch die Dorkehrungsmittel dagegen herbeigezogen wird . . . Jedenfalls aber ist die Einsicht, oder vielmehr die Ansicht, daß jene Notwendigkeit alles Geschehenden keine blinde sei, also der Glaube an einen ebenso planmäßigen, wie notwendigen Hergang in unserem Lebenslauf, ein Fatalismus höherer Art, der jedoch nicht, wie der einfache, sich de monstrieren läßt, auf welchen aber dennoch vielleicht jeder, früher oder später, einmal gerät und ihn, nachMaßgabe seiner Denkungsart, eine Zeitlang oder auf immer festhält. Wir können denselben, zum Unterschiede von dem gewöhnlichen und demonstrablen, den trans scendenten Fatalismus nennen. Er stammt nicht, wie jener, aus einer eigentlichen theoretischen Erkenntnis, noch aus der zu dieser nötigen Untersuchung, als zu welcher wenige befähigt sein würden; sondern er seht sich aus den Erfahrungen des eigenen Lebenslaufs allmählich ab. Unter diesen nämlich machen sich jedem gewisse Vor gänge bemerklich, welche einerseits, vermöge ihrer besonderen und großen Zweckmäßigkeit für ihn, den Stempel einer moralischen oder inneren Notwendigkeit, andrerseits jedoch den der äußern, gänzlichen Zufälligkeit deutlich ausgeprägt an sich tragen. Das öftere Vor kommen derselben führt allmählich zu der Ansicht, die oft zur Über zeugung wird, daß der Lebenslauf des Einzelnen, so verworren er auch scheinen mag, ein in sich übereinstimmendes, bestimmte Tendenz und belehrenden Sinn habendes Ganzes sei, so gut wie das durchdachteste Epos . . . Hat man aber einmal den Gesichtspunkt jenes trans scendenten Fatalismus gefaßt und betrachtet nun von ihm aus ein individuelles Leben, so hat man bisweilen das wunderlichste aller Schauspiele vor Augen, an dem Kontraste zwischen der offenbaren physischen Zufälligkeit einer Begebenheit und ihrer moralisch-meta physischen Notwendigkeit, welche letztere jedoch nie demonstrabel ist, vielmehr immer noch bloß eingebildet sein kann. Um dieses durch ein allbekanntes Beispiel, welches zugleich, wegen seiner Grellheit, ge eignet ist, als Typus der Sache zu dienen, sich zu veranschaulichen, betrachte man Schillers „Gang nach dem Eisenhammer". Hier nämlich sieht man Fridolins Verzögerung, durch den Dienst bei der Messe, so ganz zufällig herbeigeführt, wie sie andrerseits für ihn so höchst wichtig und notwendig ist. Vielleicht wird jeder, bei gehöri gem Nachdenken, in seinem eigenen Lebenslaufe analoge Fälle sinden können, wenngleich nicht so wichtige, noch so deutlich ausgeprägte. Gar mancher aber wird hiedurch zu der Annahme getrieben werden.
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daß eine geheime und unerklärliche Macht alle Wendungen und Windungen unsers Lebenslaufes, zwar sehr oft gegen unsere einstweilige Absicht, jedoch so, wie es der objektiven Ganzheit und subjektiven Zweckmäßigkeit desselben angemessen, mithin unserm eigentlichen wahren Besten förderlich ist, leitet; so, daß wir gar oft die Torheit der in entgegengesetzter Richtung gehegten Wünsche hinterher erkennen. Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. (Das Schicksal leitet Willige, zwingt Unwilliges Eine solche Macht nun müßte, mit einem unsichtbaren Faden alle Dinge durchziehend, auch die, welche die Kaufalkette ohne alle Verbindung mit einander läßt, so verknüpfen, daß sie, im erforderten Moment, zufammenträfen. Sie würde demnach die Begebenheiten des wirklichen Lebens so gänzlich beherrschen wie der Dichter die seines Dramas: Zufall aber und Irrtum, als welche zunächst und unmittelbar in den regelmäßigen, kausalen Lauf der Dinge störend eingreifen, würden die bloßen Werk zeuge ihrer unsichtbaren Hand sein. Mehr als alles treibt uns zu der kühnen Annahme einer solchen, aus der Einheit der tieftiegenden Wurzel der Notwendigkeit und Zu fälligkeit entspringenden und unergründlichen Macht die Rücksicht hin, daß die bestimmte, so eigentümliche Individualität jedes Menschen in physischer, moralischer und intellektueller Hinsicht, die ihm Alles in Allem ist und daher aus der höchsten metaphysischen Notwendigkeit entsprungen sein muß, andrerseits (wie ich in meinem Hauptwerke. . . dargetan habe) als das notwendige Resultat des moralischen Charakters des Vaters, der intellektuellen Fähigkeit der Mutter und der gesamten Korporisation Beider sich ergibt; die Ver bindung dieser Eltern nun aber, in der Regel, durch augenscheinlich zufällige Umstände herbeigeführt worden ist. Hier also drängt sich uns die Forderung, oder das metaphysisch-moralische Postulat, einer letzten Einheit der Notwendigkeit und Zufälligkeit unwiderstehlich auf. Don dieser einheitlichen Wurzel beider einen deutlichen Begriff zu erlangen, halte ich jedoch für unmöglich: nur so viel läßt sich sagen, daß sie zugleich das wäre, was die Alten Schicksal, elpappev^, 7t£itpa)pevi}, fatum nannten, das, was sie unter dem leitenden Genius jedes Einzelnen verstanden, nicht minder aber auch das, was die Christen als Vorsehung, npovota, verehren In Wahrheit jedoch kann jene verborgene und sogar die äußern Einsiüsse lenkende Macht ihre Wurzel zuletzt doch nur in unserm eigenen, geheimnisvollen Innern haben; da ja das A und ß alles Daseins zuletzt in uns selbst liegt. Allein auch nur die bloße Möglichkeit hievon werden wir, selbst im glücklichsten Falle, wieder nur mittels Analogien und Gleichnissen, einigermaßen und aus großerFerne absehen können.
Die nächste Analogie nun mit dem Walten jener Macht zeigt uns die Teleologie der Natur, indem sie das Zweckmäßige, als ohne Erkenntnis des Zweckes eintretend, darbietet, zumal da, wo die äußere, d. h. die zwischen verschiedenen, ja verschiedenartigen, Wesen und sogar im Unorganischen stattsindende Zweckmäßigkeit hervor tritt; wie denn ein frappantes Beispiel dieser Art das Treibholz gibt, indem es gerade den baumlosen Polarlandern vom Meere reichlich zugeführt wird; und ein anderes der Umstand, daß das Festland unsers Planeten ganz nach dem Nordpol hingedrängt liegt, dessen Winter, aus astronomischen Gründen, acht Tage kürzer und dadurch wieder viel milder ist als der des Südpols. . . Eine zweite Analogie, welche, von einer ganz andern Seite, zu einem indirekten Verständnis des in Betrachtung genommenen trans scendenten Fatalismus beitragen kann, gibt der Traum, mit welchem ja überhaupt das Leben eine längst anerkannte und gar oft ausgesprochene Ähnlichkeit hat; so sehr, daß sogar Kants trans
scendentaler Idealismus aufgefaßt werden kann als die deutlichste Darlegung dieser traumartigen Beschaffenheit unsers bewußten Da seins; wie ich dies in meiner Kritik seiner Philosophie auch ausge sprochen habe. — Und zwar ist es diese Analogie mit dem Traume, welche uns, wenn auch wieder nur in neblichter Ferne, absehn läßt, wie die geheime Macht, welche die uns berührenden äußeren Vor gänge, zum Behufe ihrer Zwecke mit uns, beherrscht und lenkt, doch ihre Wurzel in der Tiefe unsers eigenen, unergründlichen Wesens haben könnte. Auch im Traume nämlich treffen die Umstände, welche die Motive unserer Handlungen daselbst werden, als äußerliche und von uns selbst unabhängige, ja oft verabscheute, rein zufällig zu sammen: dabei ist aber dennoch zwischen ihnen eine geheime und zweckmäßige Verbindung; indem eine verborgene Macht, welcher alle Zufälle im Traume gehorchen, auch diese Umstände, und zwar einzig und allein in Beziehung auf uns, lenkt und fügt. Das Allerfeltfamste hiebei aber ist, daß diefeMacht zuletzt keine andere sein kann, als unser eigener Wille, jedoch von einem Standpunkt aus, der nicht in unser träumendes Bewußtsein fällt; daher es kommt, daß die Vor gänge des Traums so oft ganz gegen unsere Wünsche in demselben ausschlagen, uns in Erstaunen, in Verdruß, ja, in Schrecken und Todesangst versetzen, ohne daß das Schicksal, welches wir doch heimlich selbst lenken, zu unserer Rettung herbeikäme; imgleichen, daß wir begierig nach etwas fragen und eine Antwort erhalten, über die wir erstaunen; oder auch wieder, — daß wir selbst gefragt werden, wie etwa in einem Examen, und unfähig sind, die Antwort zu sinden, worauf ein anderer, zu unserer Beschämung, sie vortrefflich gibt;
6o wahrend doch im einen wie im andern Fall die Antwort immer nur aus unsern eigenen Mitteln kommen kann . . . Sollte es nun mit dem Schicksal in der Wirklichkeit und mit der Planmäßigkeit, die vielleicht jeder, in seinem eigenen Lebenslaufe, demselben abmerkt, nicht ein Bewandtnis haben können, die dem am Traume dargelegten analog wäre? . . . Wenn wir nun, um die dargelegte Ansicht uns einigermaßen faßlich zu machen, die anerkannte Ähnlichkeit des individuellen Lebens mit dem Traume zu Hilfe genommen haben, so ist andrerseits auf den Unterschied aufmerksam zu machen, daß im bloßen Traume das Ver hältnis einseitig ist, nämlich nur ein Ich wirklich will und empsindet, während die übrigen nichts als Phantome sind; im großen Traume des Lebens hingegen ein wechselseitiges Verhältnis stattsindet, indem nicht nur der Eine im Traume des Andern, gerade so wie es daselbst nötig ist, figuriert, sondern auch dieser wieder in dem fieinigen; so daß, vermöge einer wirklichen harmonia praestabilita, jeder doch nur das träumt, was ihm, seiner eigenen metaphysischen Lenkung gemäß, ange messen ist und alleLebenöträume so künstlich in einander verflochten sind, daß jeder erfährt, was ihm gedeihlich ist und zugleich leistet, was andern nötig; wonach denn eine etwaige große Weltbegebenheit sich dem Schicksal vieler Tausende, jedem auf individuelle Weise, anpaßt. Alle Ereignisse im Leben eines Menschen ständen demnach in zwei grundverschiedenen Arten des Zusammenhangs: erstlich, im objek tiven, kausalen Zusammenhänge des Naturlaufs; zweitens, in einem subjektiven Zusammenhänge, der nur in Beziehung auf das sie er lebende Individuum vorhanden und so subjektiv wie dessen eigene Träume ist, in welchem jedoch ihre Succession und Inhalt ebenfalls notwendig bestimmt ist, aber in der Art, wie die Succession der Scenen eines Dramas, durch den Plan des Dichters. Daß nun jene beiden Arten des Zusammenhangs zugleich bestehn und die nämliche Begebenheit, als ein Glied zweier ganz verschiedener Ketten, doch beiden sich genau einfügt, infolge wovon jedesmal das Schicksal des Einen zum Schicksal des Andern paßt und jeder der Held seines eigenen, zugleich aber auch der Figurant im fremden Drama ist, dies ist freilich etwas, das alle unsere Fassungskraft übersteigt und nur vermöge der wundersamsten harmonia praestabilita als möglich gedacht werden kann. Aber wäre es andrerseits nicht engbrüstiger Kleinmut, es für un möglich zu halten, daß die Lebensläufe aller Menschen in ihrem Jneinandergreifen ebensoviel concentus und Harmonie haben sollten, wie der Komponist den vielen, scheinbar durcheinander tobenden Stimmen seiner Symphonie zu geben weiß? Auch wird unsere Scheu vor jenem kolossalen Gedanken sich mindern, wenn wir uns
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erinnern, daß das Subjekt des großen Lebenstraumes in gewissem Sinne nur Eines ist, der Wille zum Leben, und daß alle Vielheit der Erscheinungen durch Zeit und Raum bedingt ist. Es ist ein großer Traum, den jenes Eine Wesen träumt, aber so, daß alle seine Personen ihn mitträumen. Daher greift alles ineinander und paßt zu einander.
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io. Kapitel
3n Lebensfluten, im Tatensturm, Wall' ich auf und ab, webe hin und her! Geburt und Grab» ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, ein glühend Leben, So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Mensch und Erdgeist Don den hier mitgeteilten Gedanken Schopenhauers verdient besondere Beachtung die den Schluß dieses Kapitels bildende Stelle. Denn hier stehen
wir vor der erstaunlichen Tatsache, daß ein aus „trockener Erkenntnistheorie" und „hoffnungslosem Pessimismus" geborener Gedanke sich als eminent be
deutungsvoll und trostreich erweist. Denn vielleicht gar mancher, der in Faustischem Ringen um wahres Wissen dem Erdgeist sich nähert und wohl gar mit ihm zu rechten sich unterfangt, wird klagen nicht bloß um „die ver lorenen Schätze ganzer Weltalter", sondern auch um die durch ungünstige, unüberwindliche Umstände verlorenen Möglichkeiten des eigenen Lebens—:
„Aber der Erdgeist würde lächeln —"
Jener fragende und zweifelnde
Mensch aber mag es als ein gütiges Lächeln ansehen und die ihm zuge
fallene Rolle zwar resigniert, aber, als zum Ganzen der Welt gehörig und zur Möglichkeit des eigenen Heils dienend, mit Freudigkeit und Würde zu
Ende spielen.
i] Siehst du nicht den Erdgeist auf seinem Thron? — In seinen Augen gilt einer dem andern gleich, oder vielmehr keiner gilt, sondern
das ganze Geschlecht: er will bloß das unaufhörliche Getümmel, den
unversiegbaren Strom der Geschlechter: keine Rast, noch Ruhe soll sein; die Augenblicke, in denen du aufsiehst zu einem bessern Sein,
mußt du seinem Scepter erst entwenden: er treibt unablässig vom Bedürfnis zur Erfüllung, von der Erfüllung zum Bedürfnis, auf daß
du dich nährest, wachsest, dich fortpsianzest, sterbest: seine Sorge ist
nicht, den Einzelnen zu erhalten, Tausende mögen untergehn, wenn
sie vorher nur neue Tausende zeugen, daß nur das Leben nicht vertilgt werde, das Gewühl fortdauere. 2] Wurfe man dem Weltgeist vor, daß er die Individuen, nach kurzem Bestehn, vernichtet, so wurde er sagen: „Siehe sie nur an, diese Individuen, siehe ihre Fehler, Lächerlichkeiten, Schlechtigkeiten und Abscheulichkeiten! Die sollte ich auf immer bestehen lassen?!" — Zum Demiurgos würde ich sagen: „Warum, statt, durch ein halbes Wunder, unaufhörlich neue Menschen zu machen und die schon lebenden zu vernichten, läßt du es nicht, ein für allemal, bei den vor handenen bewenden und diese fortbestehn, in alle Ewigkeit?" — Wahrscheinlich würde er antworten: „Sie wollen ja selbst immer neue machen, da muß ich für Platz sorgen. Ja, wenn Das nicht wäre! — Obwohl, unter uns gesagt, ein immer so fortlebendes und es immer so forttreibendes Geschlecht, ohne weiteren Zweck als den, so dazu sein, objektiv lächerlich und subjektiv langweilig wäre, — viel mehr als du dir denken kannst. Mal' es dir nur aus!" Ich: „Nun, sie könnten etwas vor sich bringen, in jeder Art!"
3] Weltgeist: Hier also ist das Pensum deiner Arbeiten und deiner Leiden; dafür sollst du da sein, wie alle andern Dinge dasind. Mensch: Was aber habe ich vom Dasein? Ist es beschäftigt, habe ich Not; ist es unbeschäftigt, Langeweile. Wie kannst du mir für so viel Arbeit und so viel Leiden einen so kümmerlichen Lohn bieten? Weltgeist: Und doch ist er ein Äquivalent aller deiner Mühen und aller deiner Leiden: und dies ist er gerade vermöge seiner Dürftigkeit. Mensch: So?! Das freilich übersteigt meine Fassungskraft. Weltgeist: Ich weiß es. — (Beiseite) Sollte ich Dem sagen, daß der Wert des Lebens gerade darin besteht, daß es ihn lehrt, es nicht zu wollen?! Zu dieser höchsten Weihe muß erst das Leben selbst ihn vorbereiten.
4] Gesetzt, es würde uns einmal ein deutlicher Blick in das Reich der Möglichkeit und über alle Ketten der Ursachen und Wirkungen ge stattet, es träte der Erdgeist hervor und zeigte uns in einem Bilde die vortrefflichsten Individuen, Welterleuchter und Helden, die der Zu fall vor der Zeit ihrer Wirksamkeit zerstört hat, — dann die großen Begebenheiten, welche die Weltgeschichte geändert und Perioden der höchsten Kultur und Aufklärung herbeigeführt haben würden, die aber das blindeste Ungefähr, der unbedeutendste Zufall, bei ihrer
64 Entstehung hemmte, endlich die herrlichen Kräfte großer Individuen, welche ganze Weltalter befruchtet hqben würden, die sie aber, durch Irrtum oder Leidenschaft verleitet, oder durch Notwendigkeit ge zwungen, an unwürdigen und unfruchtbaren Gegenständen nutzlos verschwendeten, oder gar spielend vergeudeten: — sähen wir das alles, wir würden schaudern und wehklagen über die verlorenen Schätze ganzer Weltalter. Aber der Erdgeist würde lächeln und sagen: „Die Quelle, aus der die Individuen und ihre Kräfte stießen, ist un erschöpflich und unendlich wie Zeit und Raum: denn jene sind, eben wie diese Formen aller Erscheinung, doch auch nur Erscheinung, Sichtbarkeit des Willens. Jene unendliche Quelle kann kein endliches Maß erschöpfen: daher steht jeder im Keime erstickten Begebenheit, oder Werk, zur Wiederkehr noch immer die unverminderte Unend lichkeit offen. In dieser Welt der Erscheinung ist so wenig wahrer Verlust, als wahrer Gewinn möglich. Der Wille allein ist: er, das Ding an sich, er, die Quelle aller jener Erscheinungen."
Zweiter Teil
Die ewige Idee des Menschen
Betrachteten wir birfjer des Menschen Los, welches ihn beim Eintritt in
diese Welt als den Schauplatz seines Erdendaseins erwartet, so zeigt uns der zweite Teil sein Wesen und Wirken selbst. Wir sehen ihn als die höchste Stufe
des sich selbst darstellenden Willens zum Leben, dessen entschiedenste Bejahung im Zeugungsakt das Menschengeschlecht zu einer metaphysischen Einheit
verbindet, und haben so die ewige Idee des Menschen vor uns.Wir sehen die Schwächen, Fehler und Irrtümer des Menschen, mit denen sein Wesen behaftet ist, aber wir sehen auch sein Bedürfnis nach höheren Dingen und sein Forschen nach den letzten Fragen — alles, trotz Fortschritt und Ent
wicklung, ewig und unwandelbar im Laufe der Jahrtausende. Wir haben in diesem Teile den Kern des ganzen Schopenhauerschen
Systems vor uns, dessen Einheitlichkeit und Übereinstimmung mit sich selbst, im ersten Teil bereits bei Kap. 5 angedeutet, hier offenbar wird und späterhin (s. besonders Vorbemerkung zum vierten Teil) noch weiter
dargelegt werden soll.
Der Grund hierfür liegt darin, daß Schopen
hauers Philosophie kein ersonnenes Gedankengebäude ist, sondern daß ihre Sätze unmittelbar auf der anschaulichen Welt selbst beruhen, so daß ihr Schöpfer hinsichtlich ihrer Übereinstimmung stets, wie er selbst
gesagt hat, außer Sorgen sein konnte; denn diese ist eben nichts anderes als „die Übereinstimmung der Realität mit sich selbst, die ja niemals fehlen kann".
Hieraus ist es auch zu erklären, daß für viele Dinge,
die heutzutage auf allen „die ewige Idee des Menschen" betreffenden Gebieten als ganz neue Erkenntnisse ausgegeben werden, der Grund
gedanke sich bereits in Schopenhauers Philosophie nachweisen läßt, nur
daß die tiefere, weil letztmögliche, d. h. im Wesen der Sache selbst
liegende Begründung gewöhnlich bei Schopenhauer zu finden ist.
ii. Kapitel
Du führst die Reihe der Lebendigen Dor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder Im stillen Dusch, in Luft und Wasser kennen. Dann führst Du mich zur sichern Höhle, zeigst Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Der Wille zum Leben — der Mensch sein eigenes Werk „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahr haft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Wenn die Spitze dieses
Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen Andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr." So wirkte auf Heinrich v. Kleist Kants Kritik der reinen Vernunft, in welcher der „Alleszermalmer" das Ding an sich von dessen Erscheinung trennte, es aber als
für den Menschengeist unerkennbar stehen ließ. Hieran ist die Leistung Schopenhauers zu ermessen, der jenes Ding an sich In der eigenen Brust
erkannte, wo es, realer als irgend etwas anderes, und überall wesensgleich und für jeden nachprüfbar anzutreffen ist, nämlich im „Willen zum
Leben" — der umfassendste Gedanke in der Geschichte philosophischen
Denkens, wiewohl das Streben der Philosophie, das All-Eine zu finden, welches das innere Wesen aller Dinge sei, so alt ist wie die Philosophie selbst.
Ich möchte deshalb Schopenhauer den Allesumfassenden nennen, denn er hat in der von ihm gegebenen Lösung jenes von Kant aufgegebenen Rätsels zugleich Auffchluß über das ganze Wesen der Welt gegeben und
damit allererst ein wirkliches Weltverständnis ermöglicht, soweit dem Menschen die letzten Tiefen des metaphysischen Verständnisses der Natur überhaupt erreichbar sind.
66 Wir werden diese Lehre von der Allmacht des Willens, dessen Bedeutung für die Ästhetik schon im Kapitel 5 ersichtlich war, im vierten Teile auch
von ihrer ethischen Seite aus kennenlernen, hier sei zuvor darauf hin gewiesen, daß das dunkle Wort Kraft, dessen die Naturwissenschaft sich
bedienen muß, ohne seinen Sinn angeben zu können, durch den Begriff des
Schopenhauerschen „unbewußten Willens", in dem die innigste und tiefste Auffassung der Natur beschlossen liegt, zur letztrnöglichen Verständlichkeit
gebracht worden ist. Und weil das Wesen der Natur unwandelbar ist, so
konnte Schopenhauer mit Recht das Verdienst für sich in Anspruch nehmen,
hier das letzte Wort gesprochen zu haben. Man hat diese wichtigste Entdeckung Schopenhauers, die ihm den Weg zu seinen tiefsinnigen Erklärungen alles Seins eröffnete und feine welt
geschichtliche Bedeutung am sichersten verbürgt, schon zu seinen Lebzeiten zu verkleinern gesucht durch den Hinweis darauf, daß bereits Schelling
gesagt habe: „Wollen ist Ursein." (Schelling, Über das Wesen der mensch
lichen Freiheit, Philosophische Schriften Band 1, S. 4^9- — 1809.) Aber
man hat dabei verschwiegen, daß dieses Wollen im Sinne Schellings mit dem Schopenhauerschen Willenobegriff nichts zu tun hat. Denn Schelling bezeichnet wenige Seiten nach jener Stelle den „Verstand als den Univer
salwillen" (S. 436) und sagt, daß „der Verstand eigentlich der Wille in dem Willen ist" (S. 4s2)/ während die völlige Neuheit der Lehre Schopenhauers
gerade in dem Nachweis des fundamentalen Gegensatzes zwischen Wille und Intellekt besteht. Die nähere Verdeutlichung dieses Nachweises und des
Willensbegriffes selbst sindet man in den Kapiteln 12, 14 und besonders 15. Eine Verkleinerung und zugleich ein völliges Mißverstehen Schopen
hauers liegt auch in dem mitunter versuchten Nachweis seiner Zugehörigkeit zur Romantik seitens derjenigen, die in dem Bestreben, alles historisch einzugliedern, Schopenhauers Philosophie aus seiner Zeit heraus, die ja
der Romantik nahe stand, erklären zu können glauben, wobei besonders auf eben den hier in Rede stehenden, durch Intuition gewonnenen Willens begriff Schopenhauers, auf die Unendlichkeit dieses Willens und auf die
von Schopenhauer dargelegte Traumnatur des Daseins verwiesen wird. Nun aber besteht das Lebensgefühl der Romantik nicht bloß in diesem der
Schopenhauerschen Philosophie allerdings eigentümlichen Irrationalismus, sondern zur Romantik gehört untrennbar und wesentlich das Wunderbare und Phantastische — und hiervon ist gerade bei Schopenhauer nichts
zu finden. Seine Willenslehre ist, wie schon oben gesagt, für jedermann
nachprüfbar, also das Gegenteil von phantastisch, und daß die Traumnatur
des Lebens nichts Romantisch-Wunderbares an sich hat, sondern lediglich
die Folge der erkenntnis-theoretischen Einsichten des „Klassikers" Kant ist, wurde schon in der Vorbemerkung zu Kapitel i dargelegt. Überhaupt aber ist die vollkommene Durchsichtigkeit seines Systems sowohl, wie seiner einzelnen Philosopheme, die Klarheit seiner Sprache und die Redlichkeit seines Forschens, wie er es selbst nannte, alles andere als romantische, an Wunder grenzende Phantastik und Schwärmerei. Ein weltbewegender Geist ist seinem ursprünglichen Wesen nach eben überhaupt nicht abhängig von
einer bestimmten Richtung oder dem jeweiligen Zeitgeist, sondern er erhebt sich durch die Originalität, die Einmaligkeit seines Genius „gleich einem
Palmbaum über den Boden, auf welchem er wurzelt."
1] Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtsein ist bedingt durch den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Accidenz unseres Wesens: denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängenden Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja, in sofern ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt reguliert. . . Diesem zufolge kann man sagen: der Intellekt ist das sekundäre Phänomen, der Organismus das primäre, nämlich die unmittelbare Erscheinung des Willens; — der Wille ist metaphysisch, der Intellekt physisch; — der Intellekt ist, wie seine Objekte, bloße Erscheinung; Ding an sich ist allein der Wille: — sodann in einem mehr und mehr bildlichen Sinne, mithin gleichnisweise: der Wille ist die Substanz des Menschen, der Intellekt das Accidenz: — der Wille ist die Materie, der Intellekt die Form: — der Wille ist die Wärme, der Intellekt das Licht.
2] Der Wille, welcher rein an sich betrachtet, erkenntnislos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist, wie wir ihn noch in der un organischen und vegetabilischen Natur und ihren Gesetzen, wie auch im vegetativen Teil unsers eigenen Lebens erscheinen sehen, erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vor stellung die Erkenntnis von seinem Wollen und von dem, was es sei, das er will, daß es nämlich nichts anderes sei, als diese Welt, das Leben, gerade so wie es dasteht. Wir nannten deshalb die erscheinende Welt seinen Spiegel, seine Objektität: und da, was der Wille will.
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immer das Leben ist, eben weil dasselbe nichts weiter als die Dar stellung jenes Wollens für die Vorstellung ist, so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus, wenn wir statt schlechthin zu sagen „der Wille", sagen „der Wille zum Leben". Da der Wille das Ding an sich, der innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist; das Leben, die sichtbare Welt, die Erscheinung, aber nur der Spiegel des Willens; so wird diese den Willen so unzertrennlich begleiten wie den Körper sein Schatten: und wenn Wille da ist, wird auch Leben, Welt dasein. 3] Jeder Blick auf die Welt, welche zu erklären die Aufgabe des Philosophen ist, bestätigt und bezeugt, daß Wille zum Leben, weit entfernt eine beliebige Hypostase, oder gar ein leeres Wort zu sein, der allein wahre Ausdruck ihres innersten Wesens ist. Alles drängt und treibt zum Dasein, wo möglich zum organischen, d. i. zum Leben, und danach zur möglichsten Steigerung desselben: an der tierischen Natur wird es dann augenscheinlich, daß Wille zum Leben der Grundton ihres Wesens, die einzige unwandelbare und unbedingte Eigenschaft desselben ist. Man betrachte diesen uni versellen Lebensdrang, man sehe die unendliche Bereitwilligkeit, Leich tigkeit und Üppigkeit, mit welcher der Wille zum Leben, unter Milli
onen Formen, überall und jeden Augenblick, mittels Befruchtungen und Keimen, ja, wo diese mangeln, mittels generatio aequivoca, sich ungestüm ins Dasein drängt, jede Gelegenheit ergreifend, jeden lebensfähigen Stoff begierig an sich reißend: und dann wieder werfe man einen Blick auf den entsetzlichen Alarm und wilden Aufruhr desselben, wann er in irgend einer einzelnen Erscheinung aus dem Dasein weichen soll; zumal wo dieses bei deutlichem Bewußtsein ein tritt. Da ist es nicht anders, als ob in dieser einzigen Erscheinung die ganze Welt auf immer vernichtet werden sollte, und das ganze Wesen eines so bedrohten Lebenden verwandelt sich sofort in das ver zweifelteste Sträuben und Wehren gegen den Tod. Man sehe z. B. die unglaubliche Angst eines Menschen in Lebensgefahr, die schnelle und so ernstliche Teilnahme jedes Zeugen derselben und den grenzen losen Jubel nach der Rettung. Man sehe das starre Entsetzen, mit welchem ein Todesurteil vernommen wird, das tiefe Grausen, mit welchem wir die Anstalten zu dessen Vollziehung erblicken, und das herzzerreißende Mitleid, welches uns bei dieser selbst ergreift. Da sollte man glauben, daß es sich um etwas ganz anderes handelte, als bloß um einige Jahre weniger einer leeren, traurigen, durch Plagen jeder Art verbitterten und stets ungewissen Existenz; vielmehr müßte man denken, daßWunder was daran gelegen sei, ob Einer etliche Jahre
früher dahin gelangt, wo er, nach einer ephemeren Existenz, Billionen Jahre zu sein hat. — An solchen Erscheinungen also wird sichtbar, daß ich mit Recht als das nicht weiter Erklärliche, sondern jeder Er klärung zu Grunde zu Legende, den Willen zum Leben gesetzt habe, und daß dieser, weit entfernt, wie das Absolutum, das Unend liche, die Idee und ähnliche Ausdrücke mehr, ein leererWortschwall zu sein, das Allerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Realität selbst. 4] Erinnern wir uns jetzt... an diejenige Entstehung eines Organis mus, welche unserer Beobachtung am zugänglichsten ist. Wer macht das Hühnchen im Ei? Etwa eine von außen kommende und durch die Schale dringende Macht und Kunst? O nein! Das Hühnchen macht sich selbst, und eben die Kraft, welche dieses über allen Ausdruck komplizierte, wohlberechnete und zweckmäßige Werk ausführt und vollendet, durchbricht, sobald es fertig ist, die Schale, und vollzieht nunmehr, unter der Benennung Wille, die äußern Handlungen des Hühnchens. Beides zugleich konnte sie nicht leisten: vorher mit Aus arbeitung des Organismus beschäftigt, hatte sie keine Besorgung nach außen. Nachdem nun aber jener vollendet ist, tritt diese ein, unter Leitung des Gehirns und seiner Fühlfäden, der Sinne, als eines zu diesem Zweck vorhin'bereiteten Werkzeuges, dessen Dienst erst anfängt, wann es im Selbstbewußtsein als Intellekt aufwacht, der die Laterne der Schritte des Willens, fein ifrc/wwxoy, fdas leitende Vermögens, und zugleich der Träger der objektiven Außen welt ist, so beschränkt auch der Horizont dieser im Bewußtsein eines Huhnes sein mag. Was aber jetzt das Huhn, unter Vermittelung dieses Organs, in der Außenwelt zu leisten vermag, ist, als durch ein Sekundäres vermittelt, unendlich geringfügiger, als was es in seiner Ursprünglichkeit leistete, da es sich selbst machte.
5] Aus meiner Lehre folgt allerdings, daß jedes Wesen sein eigenes Werk ist. Die Natur, die nimmer lügen kann, und naiv ist wie das Genie, sagt geradezu das selbe aus, indem jedes Wesen an einem anderen, genau seines gleichen, nur den Lebensfunken anzündet und dann vor unsern Augen sich selbst macht, den Stoff dazu von außen. Form und Bewegung aus sich selbst nehmend; welches man Wachs tum und Entwicklung nennt. So steht auch empirisch jedes Wesen als sein eigenes Werk vor uns. Aber man versteht die Sprache der Natur nicht, weil sie zu einfach ist. 6] Weil jegliches Wesen in der Natur zugleich Erscheinung und Ding an sich, oder auch natura naturata fdie Erscheinung der
72 wirkenden Urkraft^ unb natura naturans [bie wirkende Urkraft selbst] ist, so ist es demgemäß einer zwiefachen Erklärung fähig, einer physischen und einer metaphysischen. Die physische ist allemal aus der Ursache, die metaphysische allemal aus dem Willen: denn dieser ist es, der in der erkenntnislosen Natur sich darstellt als Natur kraft, hoher hinaus als Lebenskraft, in Tier undMenfch aber den Namen Willen erhält. Streng genommen, wäre demnach, an einem gegebenen Menschen, der Grad und die Richtung seiner In telligenz und die moralische Beschaffenheit seines Charakters mög licherweise auch rein physisch abzuleiten. . . Metaphysisch hin gegen müßte der selbe Mensche erklärt werden als die Erscheinung seines eigenen, völlig freien und ursprünglichen Willens, der den ihm angemessenen Intellekt sich schuf.
12. Kapitel
Oie Natur kann zu allem, was sie machen will, nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge.
Die Stufenleiter der Natur Der Wille zum Leben objektiviert sich, d. h. er stellt sich anschaulich dar in verschiedenen Stufen, deren höchste der Mensch ist. Noch höhere Stufen
anzunehmen, sei es, daß diese irgendwo anders vorhanden waren, sei es, daß
sie nach dem Eintritt einer neuen Weltkatastrophe in die Erscheinung treten könnten, haben wir keinen Grund. Denn wenn der Wille sich von Stufe zu Stufe steigert, so ist es ja nur, weil er die Erlösung sucht, zu welcher zu
gelangen der Zweck alles Daseins ist: die Möglichkeit der Erlösung aber ist im Menschen bereits erreicht. (Dgl. Kap. 43*)
i] Die Idee des Menschen durfte, um in der gehörigen Bedeutung zu erscheinen, nicht allein und abgerissen sich darstellen, sondern mußte begleitet sein von der Stufenfolge abwärts durch alle Gestaltungen der Tiere, durch das Pflanzenreich, bis zum Unorganischen: sie alle erst ergänzen sich zur vollständigen Objektivation des Willens; sie werden von der Idee des Menschen so vorausgesetzt, wie die Blüten des Baumes Blätter, Äste, Stamm und Wurzel voraussetzen: sie
bilden eine Pyramide, deren Spitze der Mensch ist. Auch kann man, wenn man an Vergleichungen Wohlgefallen hat, sagen: ihre Er scheinung begleitet die des Menschen so notwendig, wie das volle Licht begleitet ist von den allmählichen Gradationen aller Halb schatten, durch die es sich in die Finsternis verliert. . . Wir finden aber auch jene innere, von der adäquaten Objektität des Willens unzertrennliche Notwendigkeit der Stufenfolge seiner Er scheinungen, in dem Ganzen dieser selbst, durch eine äußere Not wendigkeit ausgedrückt, durch diejenige nämlich, vermöge welcher der Mensch zu seiner Erhaltung der Tiere bedarf, diese stufenweise eines des andern, dann auch der Pfianzen, welche wieder des Bodens
74 bedürfen, des Wassers, der chemischen Elemente und ihrer Mischun gen, des Planeten, der Sonne, der Rotation und des Umlaufs um diese, der Schiefe der Ekliptik u. s. f. — Im Grunde entspringt dies daraus, daß derWille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden. 2] Das Verhältnis der letzten Resultate der Geologie zu meiner Metaphysik würde sich, in der Kürze, folgendermaßen ausdrücken lassen: In der allerersten Periode des Erdballs, welche die dem Granit vorhergängige gewesen ist, hat die Objektivation des Willens zum Leben sich auf ihre untersten Stufen beschränkt, also auf die Kräfte der unorganischen Natur, woselbst sie nun aber sich im allergrößten Stil und mit blindem Ungestüme manifestierte, indem die schon chemisch differenzierten Urstoffe in einen Konflikt gerieten, dessen Schauplatz nicht die bloße Oberfläche, sondern die ganze Masse des Planeten war und dessen Erscheinungen so kolossal gewesen sein müssen, daß keine Einbildungskraft sie zu erreichen vermag. Die jene riesenhaften chemischen Urprozesse begleitenden Lichtentwicklungen werden von jedem Planeten unsers Systems aus sichtbar gewesen sein, während die dabei statthabenden Detonationen, die jedes Ohr gesprengt haben würden, freilich nicht über die Atmosphäre hinaus gelangen konnten. Nachdem endlich dieser Titanenkampf aus getobt und der Granit, als Grabstein, die Kämpfer bedeckt hatte, manifestierte, nach angemessener Pause und dem Zwischenspiel neptunischer Niederschläge, der Wille zum Leben sich, im stärksten Kontraste dazu, auf der nächsthöheren Stufe, im stummen und stillen Leben einer bloßen Pflanzenwelt, welches sich nun aber ebenfalls im kolossalen Maßstabe darstellte, in den himmelhohen und endlosen Wäldern, deren Überreste uns, nach Myriaden von Jahren, mit einem unerschöpflichen Vorrat von Steinkohlen versorgen. Diese Pflanzenwelt dekarbonisierte nun auch allmählich die Luft, wodurch diese allererst für das tierische Leben tauglich wurde. Bis dahin dauerte der lange und tiefe Friede dieser tierlosen Periode und endigte zuletzt durch eine Naturrevolution, welche jenes Pflanzenparadies zerstörte, indem sie dieWälder begrub. Da jetzt die Luft rein geworden war, trat die dritte große Objektivationsstufe des Willens zum Leben ein, in der Tierwelt: Fische und Cetaceen im Meer; aber auf dem Lande noch bloße Reptilien; diese jedoch kolossal. Wieder siel der Weltvorhang, und sodann folgte die höhere Objektivation des Willens im Leben warmblütiger Landtiere, wiewohl solcher, deren genera sogar nicht mehr existieren und die meistens Pachydermata
waren. Nach abermaliger Zerstörung der Erdoberfläche, mit allem Lebenden darauf, entzündete endlich das Leben sich abermals von neuem, indem jetzt der Wille zu demselben sich in eine Tierwelt objek tivierte, die viel zahlreichere und mannigfaltigere Gestalten darbot und deren species zwar nicht mehr, wohl aber noch die genera vorhanden sind. Diese durch solche Vielheit und Verschiedenheit der Gestalten vollkommener gewordene Objektivation des Willens zum Leben steigerte sich bereits bis zum Affen. Allein auch diese, unsre letzte Dorwelt mußte untergehn, um, auf erneuertem Boden, der gegenwärtigen Bevölkerung Platz zu machen, in der die Objektivation die Stufe der Menschheit erreicht hat. Eine interessante Nebenbetrach tung hierbei ist es, sich zu vergegenwärtigen, wie jeder der die zahl losen Sonnen im Raum umkreisenden Planeten, wenn auch noch im chemischen Stadio, wo er der Schauplatz des schrecklichen Kampfes der rohesten Potenzen ist, oder in den stillen Zwischenpausen sich befindet, doch schon in seinem Innern die geheimnisvollen Kräfte birgt, aus denen einst die Pfianzen- und Tierwelt, in der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit ihrer Gestalten, hervorgehn werden, und zu denen jener Kampf nur das Vorspiel ist, indem er ihnen den Schauplatz vorbereitet und die Bedingungen ihres Auftretens ihnen zurechtlegt. Ja, man kann kaum umhin, anzunehmen, daß es das selbe ist, was in jenen Feuer- und Wassersiuten tobt und später jene Flora und Fauna beleben wird. Die Erreichung der letzten Stufe nun aber, der Menschheit, muß, meines Erachtens, die letzte sein; weil auf ihr bereits die Möglichkeit der Verneinung des Willens, also der Umkehr von dem ganzen Treiben, eingetreten ist; wodurch alsdann diese divina commedia ihr Ende erreicht. Wenn demnach auch keine physikalischen Gründe den Nichteintritt einer abermaligen Welt katastrophe verbürgen; so steht einer solchen doch ein moralischer Grund entgegen, nämlich dieser, daß sie jetzt zwecklos sein würde, indem das innere Wesen der Welt jetzt keiner höheren Objektivation zur Möglichkeit seiner Erlösung daraus bedarf. Das Moralische ist aber der Kern, oder der Grundbaß, der Sache; so wenig bloße Phy siker dies begreifen mögen.
76
IZ. Kapitel
Das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch.
Menschliche Schönheit Don den Glanzlichtern, die Schopenhauer seinem Bilde des Menschen aufgesetzt hat, sehen wir hier das erste: die menschliche Schönheit, die
gleichbedeutend ist mit der bis zur höchsten Stufe ihrer Erkennbarkeit ge steigerten Natur. Es geht also von der natürlichen Beleuchtung des Bildes selbst aus. — Dagegen erstrahlt das Genie, welches wir als ein weiteres
Glanzlicht noch späterhin aufleuchten sehen werden, gleichsam in einem eigenen, von ihm selbst ausgehenden Glanze, während das letzte, den
Heiligen verklarende Licht von jenseits der Grenzen dieses Bildes her zu leuchten scheint.
i] Menschliche Schönheit ist ein objektiver Ausdruck, welcher die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit bezeichnet, die Idee des Menschen überhaupt, vollständig auögedrückt in der angeschauten Form. So sehr hier aber auch die objektive Seite des Schönen hervortritt; so bleibt die subjektive doch ihre stete Begleiterin: und eben weil kein Objekt uns so schnell zum rein ästhetischen Anschauen hinreißt wie das schönste Menschenantlih und Gestalt, bei deren Anblick uns augenblicklich ein unaussprechliches Wohlgefallen ergreift und über uns selbst und alles, was uns quält, hinaushebt; so ist dieses nur dadurch möglich, daß diese allerdeutlichste und reinste Erkennbarkeit des Willens uns auch am leichtesten und schnellsten in den Zustand des reinen Erkennens verseht, in welchem unsere Persönlichkeit, unser Wollen mit seiner steten Pein, verschwindet, so lange die rein ästhetische Freude anhält: daher sagt Goethe: „Wer die menschliche Schönheit erblickt, den kann nichts Übles anwehen: er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung." — Daß nun der Natur eine schöne
Menschengestalt gelingt, müssen wir daraus erklären, daß der Wille,
77 indem er sich auf dieser höchsten Stufe in einem Individuum objekti viert, durch glückliche Umstände und seine Kraft, alle die Hindernisse und den Widerstand vollkommen besiegt, welche ihm die Willens erscheinungen niedriger Stufen entgegensetzen, dergleichen dieNaturkräfte sind, welchen er die Allen angehörende Materie immer erst abgewinnen und entreißen muß. Ferner hat die Erscheinung des Willens auf den obern Stufen immer die Mannigfaltigkeit in ihrer Form: schon der Baum ist nur ein systematisches Aggregat der zahl los wiederholten sprossenden Fasern: diese Zusammensetzung nimmt höher herauf immer mehr zu, und der menschliche Körper ist ein höchst kombiniertes System ganz verschiedener Teile, deren jeder ein dem Ganzen untergeordnetes, aber doch auch eigentümliches Leben, vita propria, hat: daß nun alle diese Teile gerade auf die gehörige Weise dem Ganzen untergeordnet und einander nebengeordnet seien, harmonisch zur Darstellung des Ganzen konspirieren, nichts über mäßig, nichts verkümmert sei; — dies alles sind die seltenen Be dingungen, deren Resultat die Schönheit, der vollkommen aus geprägte Gattungscharakter ist. 2] Jedes Menschengesicht ist eine Hieroglyphe, die sich allerdings entziffern läßt, ja, deren Alphabet wir fertig in uns tragen. Sogar sagt das Gesicht eines Menschen, in der Regel, mehr und Inter essanteres als sein Mund: denn es ist das Kompendium alles dessen, was dieser je sagen wird; indem es das Monogramm alles Denkens und Trachtens dieses Menschen ist. Auch spricht der Mund nur Ge danken eines Menschen, das Gesicht einen Gedanken der Natur aus. Daher ist jeder wert, daß man ihn aufmerksam betrachte; wenn auch nicht jeder, daß man mit ihm rede. — Ist nun schon jedes Indivi duum, als ein einzelner Gedanke der Natur, betrachtungswürdig; so ist es im höchsten Grade die Schönheit; denn sie ist ein höherer, all gemeinerer Begriff der Natur: sie ist ihr Gedanke der Species. Darum fesselt sie so mächtig unsern Blick. Sie ist ein Grund- und Hauptgedanke der Natur; während das Individuum nur ein Neben gedanke, ein Korollarium ist.
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14. Kapitel
Ähr folget falscher Spur, Denkt nicht, wir scherzen! Äst nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?
Von der Seele Daß der Mensch bei der Frage nach dem Wesen der Seele vor dem Grundgeheimnis der Natur steht, wußten schon die Inder, die das Wesen
der Natur mit dem der Seele, dem Atman, dem Selbst in uns, identifizierten. Und zu der selben Erkenntnis waren auch die griechischen Philosophen ge
langt. Aber beide hielten die Seele für eine einfache, und zwar eine erkennende Substanz. Schopenhauer hat diese beiden Bestimmungen des Seelenbegriffs als eine Truglehre vom zähesten Leben bezeichnet und dar
getan, daß vielmehr das Prinzip der Natur nicht die Erkenntnis ist, sondern
der Wille, der Wille zum Leben, während die zum Begriff der Seele not wendige Erkenntnis nur da eintritt, wo dieser Wille eine höhere Stufe
erreicht hat. Also ist die Seele „zusammengesetzt", eine „Verbindung des Willens mit dem Intellekt". Hiermit ist das, was nach jener Weisheit des
Altertums nur mystisch erfaßt werden konnte, nämlich die Wesensgleichheit
der Seele mit der ganzen Welt, nach Jahrtausenden des Philosophierens zu philosophischer Klarheit gebracht, und zugleich ist begreiflich geworden, daß das Prinzip der Seele, nämlich der Wille, der Natur auch dort zugrunde
liegt, wo fie noch erkenntnislos ist. Hiermit ist auch dargetan, daß von Leib und Seele als von zwei
grundverschiedenen Substanzen nicht gesprochen werden kann, denn der Leib
ist nicht etwas Materielles, dem die Seele als etwas Immaterielles gegen überstände — das ist nämlich die landläufige primitive Auffassung — son
dern der Leib ist der Objekt gewordene Wille zum Leben, und die Seele, das Ich, ist die Verbindung einer Intelligenz mit diesem Willen.
Unzertrennlich von all diesen Dingen ist die Frage nach der Unsterb
lichkeit der Seele. Ihre Antwort liegt beschlossen in Schopenhauers Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod.
(Vgl. Kap. 6.)
1]