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German Pages 225 [230] Year 2019
Maria Seidl
Pierre Gassendi und die Probleme des Empirismus
Philosophie Franz Steiner Verlag
Studia Leibnitiana – Sonderhefte 55
Pierre Gassendi und die Probleme des Empirismus
studia leibnitiana sonderhefte Im Auftrage der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. herausgegeben von Herbert Breger, Wenchao Li, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok † In Verbindung mit Stefano di Bella, Francois Duchesneau, Michel Fichant, Emily Grosholz, Nicholas Jolley, Klaus Erich Kaehler, Eberhard Knobloch, Massimo Mugnai, Pauline Phemister, Hans Poser, Nicholas Rescher und Catherine Wilson Band 55
Maria Seidl
Pierre Gassendi und die Probleme des Empirismus
Franz Steiner Verlag
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INHALTSVERZEICHNIS 1 2
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Einleitung ................................................................................................ 1.1 Gassendi zwischen Empirismus, Abstraktionismus und Skeptizismus . 1.2 Kurzübersicht der Kapitel ...................................................................... Epikureische und stoische Erkenntnistheorie ......................................... 2.1 Kriterien der Wahrheit ........................................................................... 2.1.1 Wahrnehmung ............................................................................. 2.1.2 Prolepsen ..................................................................................... 2.2 Theoretische Begriffe und theoretisches Wissen ................................... Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi .................................. 3.1 Propsitionen ........................................................................................... 3.2 Ideen als Bilder und Definitionen .......................................................... 3.2.1 Ideen als Definitionen ................................................................. 3.2.2 Ideen als Bilder ........................................................................... 3.2.3 Ideen als moderne Begriffe ......................................................... 3.2.4 Ideen vs. theoretische Vorstellungen .......................................... 3.2.5 Zusammenfassung ....................................................................... 3.3 Species ................................................................................................... Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung ...................................... 4.1 Historische und systematische Perspektiven.......................................... 4.2 Gassendis Auffasung zu Universalien ................................................... 4.3 Ähnlichkeit ............................................................................................. 4.3.1 Eine anti-realistische Ähnlichkeitstheorie................................... 4.3.2 Eine realistische Ähnlichkeitstheorie .......................................... 4.3.3 Ist Gassendi Realist oder Anti-Realist?....................................... 4.3.4 Eine anti-realistische Ähnlichkeitstheorie als Basis für Begriffsbildung ........................................................................... 4.4 Begriffsbildung: species als Basis für Ideen .......................................... 4.4.1 Entstehung von allgemeinens Vorstellungen ............................... 4.4.2 Entstehung von Ideen aus allgemeinens Vorstellungen .............. 4.5 Entstehung von theoretischen Vorstellungen ......................................... 4.6 Zusammenfassung .................................................................................. Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus ....................................... 5.1 Wahrheit ................................................................................................. 5.2 Rechtfertigung und skeptische Szenarien .............................................. 5.2.1 Schlüsse aus Zeichen ................................................................... 5.2.2 Pyrrhonische Einwände ............................................................... 5.2.3 Gassendis Erwiderung ................................................................. 5.2.4 Rechtfertigung empirischer Urteile ............................................. 5.3 Atomismus ............................................................................................. 5.4 Zusammenfassung .................................................................................. Eine empiristische Philosophie der Mathematik .....................................
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Inhaltsverzeichnis
6.1 Anforderungen an eine Philosophie der Mathematik ............................ 6.2 Gassendis Theorie der Mathematik........................................................ 6.2.1 Mathematische Begriffe ............................................................. 6.2.2 Der Status mathematischer Urteile .............................................. 6.2.3 Die Anwendbarkeit der Mathematik ........................................... 6.3 Zusammenfassung .................................................................................. 7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes ................. 7.1 Der menschliche Geist in den Einwänden gegen die Meditationen....... 7.2 Der menschliche Geist im Syntagma philosophicum – die Standardinterpretation ...................................................................... 7.3 Eine alternative Interpretation ................................................................ 7.3.1 Absolute Reflexion als Argument für die Immaterialität des Geistes ......................................................................................... 7.3.2 Der Zusammenhang zwischen Abstraktion und Reflexion ......... 7.4 Gassendis Strategie ................................................................................ 7.5 Einwände ................................................................................................ 7.6 Die theoretische Vorstellung des menschlichen Geistes........................ 7.7 Zusammenfassung .................................................................................. 8 Schluss .................................................................................................... Literaturverzeichnis ............................................................................................
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1 EINLEITUNG Wenn ein Kind geboren wird, scheint es keine Vorstellung davon zu haben, wie die Welt um es herum beschaffen ist. Kinder müssen erst lernen, wie Dinge und Menschen sich verhalten. Sie müssen spielen, probieren – Erfahrung sammeln – und sich auf diese Weise langsam Wissen darüber aneignen, wie die Welt beschaffen ist. Wenn man diesen Prozess beobachtet, scheint die Behauptung intuitiv plausibel, dass unsere Sinneserfahrung die Grundlage für unser Wissen über die Welt ist. Vor sinnlicher Erfahrung der Welt scheint kein Wissen vorhanden zu sein. Und unsere Vorstellungen und Urteile über die Welt scheinen von unserer sinnlichen Erfahrung abzuhängen. Diese intuitiv überzeugende Behauptung, dass alles Wissen auf Sinneserfahrung beruht, steht im Zentrum empiristischer Theorien. Empiristische Theorien können als Ausformulierung der hier dargestellten Intuitionen angesehen werden. Doch kann diese Behauptung auf verschiedene Weise verstanden werden. 1 Es gibt einerseits eine psychologische Interpretation. Dann wird mit der Aussage, dass alles Wissen auf Sinneseindrücken beruht, die Behauptung aufgestellt, dass Sinneseindrücke die Vorstellungen sind, auf denen alle weitere Repräsentation von Gegenständen beruht. Sinneseindrücke sind dann insofern die Basis des Wissens, als wir aus ihnen alle weiteren Repräsentationen bilden. Hier wird also eine Aussage darüber gemacht, wie wir Vorstellungen gewinnen. Andererseits gibt es eine epistemologische Interpretation; diese besteht in der Behauptung, dass alle unsere Urteile schließlich durch Rückgriff auf Sinneseindrücke gerechtfertigt werden können oder müssen. Sinneserfahrung ist dann insofern die Basis des Wissens, als sie unsere Überzeugungen rechtfertigt. Damit wird eine Aussage darüber getroffen, wie wir Wissen erlangen. Diese beiden Interpretationen scheinen inhaltlich voneinander abhängig zu sein. Denn zumindest wenn man die psychologische These stark interpretiert und behauptet, dass Sinneseindrücke die ersten und alle anderen Vorstellungen aus ihnen abgeleitet sind, dann stehen zur Rechtfertigung von Urteilen schließlich auch nur Sinneseindrücke zur Verfügung. Eine andere Rechtfertigung – wie zum Beispiel Gott – beruht dann selbst auf Urteilen, die durch Sinneseindrücke gerechtfertigt sind. Möchte man aber die epistemologische These vertreten und Urteile durch Sinneseindrücke rechtfertigen, ist man, so scheint es, auch zu der Behauptung gezwungen, dass diese Sinneseindrücke allen anderen Vorstellungen vorhergehen.
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Vgl. Carlin 2009, 1. Neben den hier angebotenen psychologischen und epistemologischen Interpretationen gibt es mindestens noch eine dritte, die semantische, nach der die Bedeutung von Sätzen auf sogenannten Protokollsätzen beruht, die nur Bezug auf die Sinneseindrücke des Erkenntnissubjekts nehmen. Diese ist in diesem Zusammenhang nicht von Interesse.
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1 Einleitung
Andernfalls müssten diese anderen Vorstellungen bei der Rechtfertigung ebenfalls eine Rolle spielen. Eine empiristische Theorie ist also eine solche, die Sinneseindrücke in psychologischer und epistemologischer Hinsicht als grundlegend ansieht. Dem französischen Priester, Astronomen und Philosophen Pierre Gassendi (1592–1655) kann ein solcher Empirismus zugeschrieben werden. Denn Gassendi lehnt erstens in seinen Einwänden gegen René Descartes Meditationen über die erste Philosophie Descartes’ Annahme eingeborener Ideen ab und äußert in seiner Instituti o logica (1658) explizit die Ansicht, dass „alles, was sich im Geist an Ideen findet, aus den Sinnen abgeleitet ist“ (I.92b).2 Die Sinne sind also der Ursprung aller Vorstellungen. Zweitens äußert Gassendi die Auffassung, dass „feststeht, dass alles Wissen (notitia) in uns entweder in den Sinnen liegt oder aus den Sinnen stammt (manare)“ (III.192b) und dass daher ebenso feststehe, „dass über nichts ein Urteil gefällt werden kann, wenn die Sinne nicht davon zeugen (testimonium ferat)“ (ebd.).3 Pierre Gassendi war also im hier verstandenen Sinn ein Empirist.4 In dieser Arbeit soll Pierre Gassendis Theorie exemplarisch für empiristische Theorien im Allgemeinen stehen. Anhand seines Beispiels sollen erstens verschiedene Probleme eines solchen empirischen Ansatzes herausgearbeitet werden; zweitens soll untersucht werden, welche Lösungen für diese Probleme innerhalb der Theorie zur Verfügung stehen, wobei sich drittens zeigen soll, welche zusätzlichen Annahmen getroffen werden müssen, damit diese Lösungen möglich werden. Damit Gassendi diesen Zweck erfüllen kann, sollen einleitend kurz Gassendis Leben und ausführlicher einige Grundsät ze der gassendischen Philosophie und sich aus diesen ergebende Probleme dargestellt werden. 1.1 GASSENDI ZWISCHEN EMPIRISMUS, ABSTRAKTIONISMUS UND SKEPTIZISMUS Pierre Gassendi wurde am 22. Januar 1592 in Champtercier bei Digne in der Provence geboren und starb am 24. Oktober 1655 in Paris. Ausgebildet wurde er am College in Digne und später an der Universität in Aix-en-Provence, wo er Philosophie und Theologie studierte und später auch lehrte. Sein Leben lang hatte Gassendi Interesse an astronomischen und physikalischen Fragen. Er war ein Bewunderer Galileis und verteidigte in seinen De-motuBriefen von 1642 den Kopernikanismus gegen einen Einwand. 1632 erschien seine 2 3
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„Omnis, quae in mente habetur Idea ortum ducit a sensibus.“ (I.92b) „Imprimis igitur cum constet notitiam omnem, quae in nobis est, vel sensuum esse, vel manare a sensibus, ideo constare etiam videtur non posse aliquod de ulla re iudicium ferre, nisi cui sensus ferat testimonium.“ (III.192b) Detel 1974 ist anderer Ansicht. Seiner Meinung nach ist fraglich, ob Gassendi als Empirist angesehen werden kann, da anders als bei Epikur „eine rein logische Folgerung theoretischer Sätze aus rein empirischen nicht möglich“ ist (Detel 1974, 191). Daraus, dass eine rein logische Schlussfolgerung nicht möglich ist, scheint allerdings nicht zu folgen, dass wir nicht dennoch zur Rechtfertigung jeglichen Urteils schließlich auf die sinnliche Wahrnehmung verweisen müssen (s.u. S.151).
1.1 Gassendi zwischen Empirismus, Abstraktionismus und Skeptizismus
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Beschreibung eines Merkur-Sonnentransits; auch entwickelte er Theorien bezüglich der Erscheinung der Sonne je nach ihrem Stand am Himmel (De apparente magnitudine solis humilis et sublimis, 1642). 1616 wurde er zum Priester geweiht. Schon ab 1614 war er Kanonikus, ab 1634 schließlich Probst der Kathedrale von Digne. Gassendis Priestertum und seine Verbindung zur katholischen Kirche sind nicht vollständig von seinen philosophischen Ansichten zu trennen. Einerseits waren aufgrund seines Priestertums bestimmte philosophische Positionen für Gassendi wohl von vornherein ausgeschlossen, und seine theologischen Überzeugungen zeigen sich auch in mancher philosophischer Argumentation. So zum Beispiel bei der Diskussion der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele im Syntagma philosophicum (1658), ebenso wie bei der nach ihrer Materialität oder Immaterialität. Andererseits zeigt aber gerade die Diskussion mit Descartes um die Immaterialität der Seele, dass er philosophische Positionen dennoch philosophisch begründet sehen wollte. Denn er bezweifelt nicht, dass die menschliche Seele tatsächlich immateriell ist, wie von Descartes behauptet. Er hält aber Descartes’ Argumentation für unüberzeugend, und weist aus diesem Grund dessen philosophischen Schluss dennoch zurück (AT VII 343/III.401a). Gassendis philosophische und theologische Überzeugungen können also nicht als voneinander unabhängig aufgefasst werden, schon allein, weil Gott als erste Ursache, und damit als Ursprung aller effizienten Verursachung in der Welt eingeführt wird (I.287bff).5 Gott ist zwar nicht die direkte Ursache aller Ereignisse in der Welt. Er ist aber die erste Ursache, und könnte auf sekundäre Ursachen verzichten, wenn er wollte (I.317b). Da Gassendi Naturphilosophie betreiben möchte, muss Gott also notwendigerweise zu einem gewissen Grad eine Rolle spielen. Auf die Existenz Gottes selbst können wir dabei aus unserer Wahrnehmung der Welt als geordnet schließen.6 Diese Ordnung kann nicht Produkt von Zufall sein, sondern muss darauf beruhen, dass die Welt von einem ordnenden Wesen geschaffen wurde (I.294bf). In seiner Ordnung der Welt aber wird Gott von Gassendi als völlig frei aufgefasst. Insofern kann Gassendi als Voluntarist verstanden werden: 7 Gott ist in seinen Entscheidungen durch nichts eingeschränkt, höchstens durch das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch (I.309a). Nicht nur hätte Gott also die Welt anders erschaffen können, als er es tatsächlich getan hat; er ist auch durch die tatsächliche Schöpfung nicht gebunden. So könnte Gott selbst die Naturgesetze ändern (I.381a), da es in der Welt keine Notwendigkeit gibt, die ihn hindern könnte. Dementsprechend äußert Gassendi: „Im Universum gibt es nichts, das Gott nicht zerstören, nichts, das er nicht erschaffen, nichts, das er nicht in etwas mit anderen oder sogar
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„Dari inter causas unam omnium primam, seu quod idem est, Deum esse.“ (I.287b) Vgl. Cho 2004, 23f, Osler 1994, 51f. Vgl. Osler 1994, Brundell 1987, 75.
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1 Einleitung
entgegengesetzten Eigenschaften verändern könnte“8 (I.308a). Nur Dinge, die zugleich widersprüchliche Eigenschaften haben, kann er nicht erschaffen.9 Zwar stammt unser Wissen von Gott entsprechend Gassendis Empirismus (s.u., S.12ff) aus unserer Wahrnehmung der Welt, das heißt aus den Sinnen. Insofern ist unsere Vorstellung von Gott in keiner Weise adäquat, das heißt entspricht dem, wie Gott wirklich ist.10 Denn durch sinnliche Wahrnehmung kann Gott mit seinen Eigenschaften nicht erfasst werden. Dennoch, behauptet Gassendi, können wir Gott verschiedene Eigenschaften zuschreiben, zum Beispiel die der Unendlichkeit, die des Allwissens und der Allmacht (I.302bf).11 Gassendis voluntaristische Einstellung hat zur Folge, dass wir keine notwendigen Aussagen treffen können. Gassendi zufolge gibt es in der Welt keine Notwendigkeit, durch die Gott gebunden ist; damit werden auch alle Aussagen darüber, was notwendigerweise der Fall ist, hinfällig. Die Ordnung, die wir in der Welt wahrnehmen, beruht damit auf Gottes Vorsehung (I.326a). Sie besteht, weil Gott sie aufrechterhält. Philosophie selbst lehrte Gassendi ab 1617 als Professor an der Universität in Aix, eine Stelle, die er 1622 verlassen musste, da er unter der neuen Leitung durch die Jesuiten nicht mehr lehren durfte. Im Weiteren verbrachte Gassendi sein Leben hauptsächlich zwischen Paris und der Provence, wobei er größtenteils von Gönnern abhängig war.12 Im Jahr 1645 allerdings erhielt er einen Lehrstuhl für Mathematik am Collège Royal in Paris. Gassendis erstes philosophisches Werk, Buch I (von sieben geplanten) der Exercitationes Paradoxicae Adversus Aristoteleos (kurz: Exercitationes), erschien 1623. Hier wendet er sich mit skeptischen Argumenten gegen die Lehren der Aristoteliker. Bücher I und II der Exercitationes blieben allerdings die einzig vollendeten, wobei Buch II erst posthum in den Opera omnia erschien. Sein bekanntestes philosophisches Werk sind wohl die Einwände gegen Descartes’ Meditationes de prima philosophia, die 1641 zusammen mit den Meditationen selbst und Descartes’ Erwiderungen erschienen. Offenbar herausgefordert durch Descartes’ Antworten veröffentlichte Gassendi 1644 diese Auseinandersetzung und zusätzliche Einwände auf die Erwiderungen in der Disquisitio metaphysica seu dubitationes et instantiae adversus Renati Catersii Metaphysicam et responsa (im Folgenden kurz: Disquisitio). Doch sein größtes philosophisches Interesse galt spätestens ab 1626 Epikur. Mehrere seiner Werke haben epikureische Themen: so zum Beispiel De vita e mo8
„Nam, cum universe nulla sit res, quam Deus non possit destruere; nulla, quam non producere; nulla, quam non variis, etiam oppositis qualitatibus immutare [...].“ (I.308a) 9 Osler 1994, 53f 10 Vgl. Cho 2004, 102ff. 11 „Ex his quippe sit ut primum omniscius, tum omnipotens; ad-haec optimus, liberrimus, sapientissimus; tandem et beatissimus concipiatur.“ (I.303b) 12 Vgl. Joy 1987, 29. Unter diesen Gönnern war zum Beispiel Nicolas-Claude Fabri de Peiresc, mit dem Gassendi eine tiefe Freundschaft verband. Die Biographie seines Freundes, die Vita Pereiscii (1641), ist wohl Gassendis meistgelesenes Werk.
1.1 Gassendi zwischen Empirismus, Abstraktionismus und Skeptizismus
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ribus Epicurus (1645) ebenso wie die Animadversiones in decimum librum Diogenes Laertii (Animadversiones, 1649); auch sein letztes, posthum in den Opera omnia erschienenes Werk Syntagma philosophicum (Syntagma, 1658) verfolgt ein epikureisches Programm. Im Syntagma entwickelt Gassendi, nachdem er skeptische Einwände zurückgewiesen hat, eine Theorie, die Ideentheorie, Fragen nach der Beschaffenheit der materiellen Welt, naturphilosophische Fragen und Ethik umfasst. Gassendis philosophisches Hauptinteresse galt also dem Epikureismus, wenn er auch in frühen Jahren skeptische Ansätze benutzte, um gegen peripatetische Lehren zu argumentieren. Dementsprechend können die meisten grundsätzlichen Annahmen seines späteren eigenen Systems auf epikureische Thesen zurückgeführt werden. Gassendi übernimmt von Epikur zum Beispiel den Atomismus. Auch seine Erkenntnistheorie und Ethik sind stark epikureisch geprägt. Doch einige Lehren Epikurs stehen in Spannung mit Gassendis oben ausgeführten christlichen Überzeugungen. Daher zählt zu den wichtigsten Hintergründen der gassendischen Theorie die Tatsache, dass sein Programm als Versuch verstanden werden kann, den Epikureismus in ein christliches Weltbild zu übertragen.13 Die Tatsache, dass Gassendi sich in dieser Weise auf Epikur beruft, lässt sich durch seine spezielle historische Methode erklären, die von Lynn Joy in ihrem Buch Gassendi the Atomist ausführlich behandelt wird.14 Joy zufolge besteht Gassendis Methode darin, seine eigenen Überzeugungen durch Beispiele aus der Philosophiegeschichte zu rechtfertigen. Sie vertritt die These, dass Gassendi am besten verstanden werden kann, wenn man beachtet, dass er als Philosophiehistoriker der Auffassung war, dass die Antworten auf philosophische Fragen durch eine Evaluation der bisher gegebenen Antworten zu finden sind.15 Gassendi stellt dementsprechend im Syntagma zu verschiedenen Fragen die Theorien vor allem antiker Autoren dar, um sich dann für eine – die epikureische – zu entscheiden und weiter für sie zu argumentieren und sie zu seiner eigenen Theorie auszuarbeiten. Eine grundlegende Annahme, die Gassendi von Epikur übernimmt, ist dabei der bereits angesprochene psychologische Empirismus. Gassendi stimmt also mit Epikur überein, was den Ursprung unserer Repräsentationen von
13 Osler 1994, 43f, argumentiert, dass dies schon früh das Ziel Gassendis war; dagegen ist Bloch 1971 der Auffassung, dass Gassendi Materialist war und die christlichen Elemente in sein System erst spät eingefügt hat, um den Eindruck eines Materialismus zu vermeiden. So hält er zum Beispiel Gassendis Behauptung, dass der menschliche Geist immateriell ist, nicht für philosophisch begründet (Bloch 1971, 369ff). 14 Joy 1987 15 Joy argumentiert sogar, dass Gassendi seinen Empirismus historisch rechtfertigt (Joy 1987, 221f), obwohl er damit eben diesen empiristischen Annahmen widerspricht (Joy 1987, 222): „[...] Gassendi was willing here to subordinate his reliance on the senses and to adopt another method of justification in order to avoid the circularity of employing an appeal to the senses as a premise in his argument justifying the reliability of the senses.“ Ich halte Joys Analyse für sehr erhellend, was Gassendis Argumentation betrifft. Wie sich zeigen wird, beruhen Gassendis Positionen aber stark auf seiner eigenen Interpretation von Epikurs Aussagen, sodass fraglich ist, ob von einer rein historischen Rechtfertigung gesprochen werden kann.
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1 Einleitung
Gegenständen betrifft:16 Laut Epikur beruhen alle allgemeinen Vorstellungen auf Sinneserfahrung (D.L. 32, in Gassendis Epikur-Darstellung z.B. I.54b). Wie gesagt findet sich diese Aussage ebenso in Gassendis eigener Logik (I.92b). Auch was die Beschaffenheit materieller Gegenstände angeht, übernimmt Gassendi die epikureische Position zumindest im Groben: Es gibt kleinste, unteilbare Teilchen, d.h. Atome, aus denen alle materiellen Gegenstände bestehen. Diese Annahme muss, ebenso wie die Eigenschaften, die diesen Atomen zugeschrieben werden, theoretisch gerechtfertigt werden. Allerdings zeigt sich an der genauen Ausarbeitung des Atomismus auch die angesprochene Christianisierung der epikureischen Theorie durch Gassendi. Denn Gassendi weicht von Epikur hinsichtlich der Frage ab, woher die Atome ihre Bewegungskraft (s.u. S.164) haben. Bei Epikur sind die Atome ewig und bewegen sich von sich aus. Für Gassendi muss Gott, als erste Ursache, der Schöpfer der Atome und derjenige sein, der den Atomen ihre Bewegungskraft verleiht.17 Auch an seiner Position bezüglich der Immaterialität des Geistes wird Gassendis christlicher Hintergrund deutlich. Denn Gassendi stimmt mit Epikur nicht überein, was die Ontologie des menschlichen Geistes betrifft. Epikur ist Materialist, das heißt der menschliche Geist besteht für ihn ebenso wie alles andere auch aus Atomen. Gassendi dagegen argumentiert für die Unkörperlichkeit des menschlichen Geistes, und auch wenn er durchaus philosophische Argumente für diese Position vorbringt (s.u. S.199ff), scheint es doch, dass er schon allein aufgrund seiner christlichen Überzeugung zu einer solchen Argumentation gezwungen war. Auch an Gassendis Ethik zeigt sich die Spannung zwischen Epikureismus und Christentum und Gassendis Versuch, beide zu vereinen. Gassendi übernimmt von Epikur den Hedonismus, nach dem Lust oder Freude das höchste Gut sind.18 Dies scheint zunächst christlicher Moral zu widersprechen, nach der gerade viele menschliche Lüste unmoralisch sind. Doch, so Gassendi, tatsächlich bringt die Tugendhaftigkeit die größte Freude, da sie allein zu Gemütsruhe führt.19 Welche Probleme ergeben sich nun allgemein aus empiristischen Grundüberzeugungen, und für Gassendi speziell? Es scheint, dass für einen psychologischen Empiristen eine Theorie des Begriffserwerbs eine besondere Herausforderung darstellt, und für einen epistemologischen Empiristen eine Rechtfertigung unserer Urteile. Ein allgemeines Problem ergibt sich in Bezug auf abstrakte Wissenschaften. Gassendis psychologischer Empirismus zeigt sich zum einen in einem kurzen Abschnitt in der Institutio Logica aus dem Syntagma, am deutlichsten aber wohl in der Diskussion mit Descartes um die Frage, ob es eingeborene Ideen gibt. In der Institutio Logica stellt Gassendi den Kanon auf, dass alle Ideen aus den Sinnen 16 Wie unten (S.27ff) deutlich werden wird, vertritt Epikur auch eine empiristische Theorie, was die Rechtfertigung von Urteilen betrifft, also die These, die oben die epistemologische genannt wurde. Dies kann zwar Gassendi auch zugeschrieben werden, doch wird sich zeigen, dass Gassendi Epikurs Strategie der Rechtfertigung nicht übernimmt. 17 Vgl. Brundell 1987, 71. 18 Vgl. Sarasohn 1996, 62. 19 Vgl. Sarasohn 1996, 61.
1.1 Gassendi zwischen Empirismus, Abstraktionismus und Skeptizismus
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stammen. Er begründet diese Behauptung mit einem Hinweis auf empirische Tatsachen – dass Blinde keine Idee von Farbe, Taube keine Idee von Klang haben etc., und dass daher Menschen, die ohne die Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung geboren würden, sich nichts vorstellten (imaginari) und somit auch keine Ideen hätten. Daraus zieht Gassendi den Schluss, dass es „nichts im Intellekt gibt, das nicht vorher in den Sinnen war“ (I.92b),20 und dass der Geist, der noch keine Sinneseindrücke empfangen hat, als tabula rasa angesehen werden kann (ebd.).21 Auch in den Einwänden gegen die Meditationen beruft sich Gassendi öfter auf die Tatsache, dass wir in unseren Ideen von Sinneswahrnehmung abhängig sind (z.B. AT VII 283/III.320b). So wendet er sich gegen Descartes’ Behauptung, dass theoretische Vorstellungen wie die der Sonne eingeboren sind, wobei ihm die Tatsache, dass sich die theoretische Idee der Sonne eines Blinden auf wesentliche Weise von der eines Menschen unterscheidet, der sehen kann, als Grundlage für den Schluss dient, dass nichts an der theoretischen Idee der Sonne eingeboren ist (AT VII 284/III.320b/321a). Zum einen versucht Gassendi also, die Behauptung, dass aller Bezug auf Gegenstände auf Sinneserfahrung beruht, durch Verweis auf empirische Tatsachen zu untermauern. Doch in den Einwänden gegen die Meditationen findet sich eine weitere Strategie für diese Behauptung. Descartes unterscheidet zwischen drei Arten von Ideen: eingeborenen, durch Sinneserfahrung erworbenen und ausgedachten. Gassendi argumentiert, dass alle drei Arten in einer zusammenfallen, nämlich der durch Sinneserfahrung erworbenen (AT VII 279f/III.318a/b). Wir können nur selbst Ideen erdenken, weil uns durch die Sinneserfahrung Material zur Verfügung steht (AT VII 280/III.318a). Insofern beruhen also auch erdachte Ideen in einem strengen Sinn auf Sinneseindrücken. Und eingeborene Ideen kann es laut Gassendi nicht geben (AT VII 280/III.318a). Er diskutiert von Descartes vorgebrachte Beispiele für eingeborene Ideen, unter anderem die Idee des Dings. Wenn die Idee des Dings eingeboren – also vor jeder Sinneserfahrung im menschlichen Geist vorhanden – wäre, behauptet Gassendi, dann müssten auch alle Ideen von einzelnen Dingen eingeboren sein, da wir die allgemeine Idee des Dings aus den Ideen von Einzeldingen durch Abstraktion gewinnen. Er sagt: „Ich frage dich jedoch: Auf welche Weise kann diese Idee im Geist sein, wenn sich dort nicht zugleich alle Einzeldinge und ihre Gattungen finden, aus denen der Geist durch Abstraktion einen Begriff [conceptus] bilden soll, der keinem Einzelding eigen ist und dennoch allen zukommt? Gewiss, wenn die Idee des Dinges angeboren ist, dann werden auch die Idee des Tieres, der Pflanze, des Steines und aller Universalien angeboren sein. Und es wird sich auch erübrigen, dass wir uns um die Erkenntnis bemühen, wie sich mehrere Einzeldinge voneinander unterscheiden, um dann nach Abtrennung mannigfaltiger unterscheidender Merkmale lediglich das zurückzubehalten, was allen gemeinsam zu sein scheint: nämlich die Idee einer Gattung.“ 22 (AT VII 281/III.318a/b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
20 „Nihil in intellectu est, quod prius non fuerit in sensu.“ (I.92b) 21 „Spectat et quod dicunt intellectum, seu mentem esse tabulam rasilem, in qua nihil caelatum, depictumve sit.“ (I.92b) 22 „Quaeso te vero haec idea quomodo esse potest in mente, nisi simul sint tot res singulares, illarumque genera, ex quibus mens abstrahat, formetque conceptum, qui nullius singularium
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1 Einleitung
Die Idee des Dings wird damit für Gassendi aus allgemeinen Ideen – in seinen Worten Universalien – wie Pflanze, Stein etc. gewonnen. Diese Universalien aber werden selbst aus Ideen von einzelnen Gegenständen gewonnen, indem von den die einzelnen Ideen unterscheidenden Merkmalen abgesehen und nur das ihnen Gemeinsame betrachtet wird. Damit beruht seine Argumentation auf einer Auffassung von Ideen, nach der solche, die allgemein sind, immer aus weniger allgemeinen gewonnen werden. Weder die erste noch die zweite hier dargestellte Argumentationsstrategie gegen eingeborene Ideen scheint besonders überzeugend. Gegen die erste Art von Argument lässt sich einwenden, dass sicherlich aller sinnliche Gehalt von Vorstellungen auf Sinneserfahrung beruht, dass dadurch allerdings nicht ausgeschlossen ist, dass nicht-sinnlicher Gehalt eingeboren ist oder aus anderen Quellen stammt.23 Das Argument gegen die Eingeborenheit der Idee des Dings dagegen beruht auf einer bestimmten Theorie über die Entstehung von Ideen, die man nicht teilen muss. Entsprechend überrascht zeigt sich Descartes denn auch angesichts dieses Arguments (AT VII 362). Doch unabhängig von der Frage, ob Gassendi mit diesen Argumenten andere von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugen kann, macht die Tatsache, dass er auf diese Weise argumentiert, doch zweierlei deutlich: Erstens wird hier klar, dass Gassendi der grundsätzlichen Überzeugung ist, dass aller Inhalt des Geistes auf Sinneserfahrung beruht. Aufgrund dieser Annahme ist für ihn unverständlich, wie Descartes davon ausgehen kann, dass etwas an der theoretischen Idee der Sonne eingeboren ist. Die zweite Argumentationsstrategie dagegen weist auf einen weiteren wichtigen Aspekt von Gassendis Philosophie und auf ein mit diesen Grundannahmen verbundenes Problem hin. Denn auch wenn man diese Annahme nicht teilen muss, ist Gassendi offenbar der Überzeugung, dass alle allgemeinen Ideen aus Ideen von Einzelgegenständen durch Abstraktion gewonnen werden. Diese Überzeugung ist unproblematisch, wenn die Universalien in den Ideen der Einzelgegenstände in gewissem Sinn enthalten sind, und nur aus ihnen gewonnen werden müssen, wie es zum Beispiel in einer aristotelischen Theorie der Fall ist. Doch im Fall Gassendis geht mit dieser Annahme eine nominalistische, bzw. konzeptualistische Grundeinstellung einher. Gassendi ist der Auffassung, dass es keine allgemeinen Eigenschaften, d.h. Universalien, gibt, und dass wir nur Gegenstände und ihre bestimmten Eigenschaften wahrnehmen können (III.159a).24 Wenn proprius sit, et omnibus tamen conveniat? Profecto si idea rei innata est, innata quoque erit idea animalis, plantae, lapidis, omnium universalium: nihilque erit opus, ut nos fatigemus ad internoscendum plura singularia, quo resectis variis discriminibus, id solum retincamus, quod videbitur omnibus commune, seu, quod idem est, generis ideam.“ (AT VII 281/III.318a/b) 23 Hieran zeigt sich, dass Gassendis Argumentation schon die Annahme zugrunde liegt, dass sinnlicher Gehalt in einem strengen Sinn die Grundlage allen anderen Gehalts ist. 24 „Tu qui naturas universales, easdemque reales tueris, quid animadvertis in mundo, quod singulare non sit? Singularissimus est deus, singularia omnia eius opera, hic angelus, hic homo, hic sol, hic lapis, nihil denique reperire licet, quod singularis haec res non sit? [...] Tu tuum habes corpus, tuam animam, tuas partes ac dotes proprias; mihi quoque propria sunt.“ (III.159a)
1.1 Gassendi zwischen Empirismus, Abstraktionismus und Skeptizismus
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wir allgemeine Vorstellungen bilden wollen, müssen wir diese also aus den Eindrücken von Einzelgegenständen abstrahieren, wobei diese Eindrücke nur bestimmte, und keine allgemeinen Eigenschaften enthalten. Gassendi weist also die Behauptung zurück, dass uns vor jeder Sinneserfahrung allgemeine Begriffe zur Verfügung stehen. Darüber hinaus aber lehnt er ab, dass wir durch Sinneserfahrung Zugang zu allgemeinen Eigenschaften erlangen können. Aus dem Empirismus ergibt sich in Verbindung mit einem Nominalismus damit ein erstes Problem, nämlich das Problem des Begriffserwerbs. Offenbar verwenden wir allgemeine sprachliche Ausdrücke, wir fällen Urteile, bringen damit Dinge unter allgemeine Begriffe, und meinen zumindest, den Gegenständen damit gemeinsame Eigenschaften zuzuschreiben. Doch es stellt sich die Frage, wie genau der Erwerb oder die Bildung allgemeiner Vorstellungen erklärt werden kann, wenn weder eingeborene Ideen noch allgemeine Eigenschaften in den Dingen angenommen werden.25 Wie kommen wir zu allgemeinen Vorstellungen, wenn alles in der Welt, wie Gassendi erklärt, einzeln ist? Eine mögliche Antwort innerhalb einer empiristischen Theorie besteht darin, die Behauptung zurückzuweisen, dass wir über Aggregationen hinaus allgemeine Begriffe bilden. Eine solche Auffassung scheint George Berkeley zu vertreten, wenn er gegen abstrakte Ideen argumentiert (Principles, Einleitung 7ff). Es gibt dann zwar allgemeine Ideen, da wir dazu in der Lage sind, eine einzelne Idee als allgemein aufzufassen, sodass diese Idee für mehrere Gegenstände steht. Dies tut sie dadurch, dass sich die Ideen dieser Gegenstände untereinander ähnlich sind. Es gibt aber keine abstrahierten Vorstellungen, die dadurch allgemein sind, dass sie in sich selbst nicht bestimmt sind. Diese Auffassung hat zur Folge, dass Gegenständen keine allgemeinen Eigenschaften zugeschrieben werden, sondern nur noch Ähnlichkeiten. Es muss dann erklärt werden, warum wir meinen, allgemeine Eigenschaften zuzuschreiben, wenn wir noch nicht einmal über Begriffe verfügen, die uns dies ermöglichen könnten. Wie sich an seiner Argumentation gegen Descartes zeigt, wählt Gassendi einen anderen Ansatz zur Lösung dieses Problems. Ihm zufolge gewinnen wir diese Ideen durch Abstraktion. Auch diese Lösung beruht darauf, dass Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen wahrgenommen werden (III.160a), und aufgrund von Gassendis Nominalismus ist von vornherein ausgeschlossen, dass wir in seiner Theorie jemals zutreffenderweise zwei Gegenständen eine gemeinsame Eigenschaft zuschreiben. Doch scheint Gassendi daran festhalten zu wollen, dass wir mit unseren allgemeinen Ideen diesen Anspruch erheben. Zwar haben nie zwei Gegenstände tatsächlich die gleiche Eigenschaft – doch wenn ich das Urteil fälle, dass X und Y jeweils Tische sind, dann will ich damit nicht nur sagen, dass X und Y sich in gewisser Hinsicht ähnlich sind, sondern dass sie in gewisser Hinsicht gleich sind.
25 In einer empiristischen und moderat realistischen Theorie verschiebt sich dieses Problem auf die Frage, wie wir zu den in den Gegenständen enthaltenen allgemeinen Eigenschaften Zugang erhalten. In einer nominalistischen Theorie muss nur die Anwendung allgemeiner Terme erklärt werden.
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Eine Frage, die sich an eine Theorie wie Gassendis stellt, ist, wie wir dazu in der Lage sind. Das erste Problem, dem sich eine empiristische Theorie, wie sie hier verstanden wird, stellen muss, betrifft also die Entstehung bestimmter Vorstellungen. Doch wie oben erwähnt, kann unter einer empiristischen Theorie nicht nur eine verstanden werden, die die psychologische Annahme trifft, dass alle Vorstellungen auf Sinneserfahrung beruhen. Die sicherlich von dieser Annahme nicht unabhängige Überzeugung, dass alle Urteile durch Rückgriff auf Sinneseindrücke gerechtfertigt werden können, bzw. müssen, kann ebenfalls als empiristische Aussage angesehen werden. Diese Position scheint nun einerseits eine logische Fortsetzung der psychologischen These: wenn die Sinneserfahrung der Ursprung jeglichen Urteils ist, dann ist sie auch der natürliche Kandidat zu Rechtfertigung von Urteilen. Doch ein solcher Versuch der Rechtfertigung kann, besonders in Verbindung mit einer realistischen Einstellung bezüglich materieller Gegenstände, von skeptischen Argumenten angegriffen werden. Denn unabhängig davon, wie genau die Behauptung, dass alle Urteile durch Sinneseindrücke gerechtfertigt werden, erläutert wird, wird doch eine solche Erklärung wesentlich darauf beruhen, dass Gegenstände in Sinneseindrücken auf bestimmte Weise erscheinen. Das heißt, das Urteil, dass dieser Tisch grün ist, wird in einer solchen Theorie, auf näher zu bestimmende Weise, durch einen bestimmten Sinneseindruck gerechtfertigt – zum Beispiel einen Grünen-Tisch-Eindruck. Dies hat allerdings zur Folge, dass das Urteil zunächst, entgegen dem Anschein, nicht von einem Gegenstand, dem Tisch, sondern von einem Sinneseindruck handelt. Dies wird dann problematisch, wenn diese Strategie zur Rechtfertigung mit einer realistischen Einstellung bezüglich materieller Gegenstände einhergeht, wenn also behauptet wird, dass es Gegenstände als materiell und geistunabhängig gibt. Denn in diesem Fall muss von der Tatsache, dass ein Gegenstand auf bestimmte Weise erscheint, darauf geschlossen werden, dass er auf bestimmte Weise beschaffen ist. Es scheint aber, dass unsere Sinneseindrücke die Gegenstände nicht immer zuverlässig darstellen, oder gar so darstellen, wie sie sind. Unter gewissen Umständen, zum Beispiel im Dunkeln, sehen Gegenstände anders aus als in anderen, zum Beispiel im Hellen. Doch deshalb möchte der Realist sicher nicht behaupten, dass Gegenstände im Dunkeln eine andere Farbe haben als im Hellen – es ist also nicht möglich, direkt von der Tatsache, dass uns etwas auf bestimmte Weise erscheint, darauf zu schließen, dass es bestimmte Eigenschaften hat, da ein solcher Schluss zu falschen Urteilen führen würde. Dies hat zur Folge, dass der Schluss von der Erscheinung auf die Eigenschaften des Gegenstands selbst gerechtfertigt werden muss, und zwar – wie alle Urteile – allein auf Grundlage von Sinneseindrücken. Das heißt, nur durch Rückgriff auf Sinneseindrücke muss erklärt werden, unter welchen Umständen von einem Sinneseindruck auf einen Gegenstand geschlossen werden kann, und wann nicht. Doch diese Rechtfertigung ist von skeptischen Argumenten angreifbar. Denn auf welche Weise auch immer der Schluss durch Sinneseindrücke gerechtfertigt wird, es scheint, dass nie ausgeschlossen werden kann, dass die Gegenstände nicht so beschaffen sind, wie sie aufgefasst werden. Ein solches Argument kann zum
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Beispiel darin bestehen, dass ein Szenario aufgeworfen wird, nach dem alle unsere Urteile über die materielle Welt falsch sind, oder auch in dem Hinweis, dass alle Sinneseindrücke prima facie gleich gut sind, und nicht verständlich ist, warum manche Eindrücke direkt einen Schluss auf die Eigenschaften des Gegenstands zulassen sollen, andere aber nicht. All diese Hinweise erhalten besonders dadurch Überzeugungskraft, dass wir laut der empiristischen Erklärungsstrategie von den Inhalten unseres Geistes auf Gegenstände außerhalb unseres Geistes schließen müssen – Gegenstände also, die wesentlich anderer Art sind als die Inhalte unseres Geistes – und dass dieser Schluss nur auf Sinneseindrücken basiert, die selbst durch nichts weiter gerechtfertigt oder rechtfertigbar sind. Eine Position, die eine empiristische Rechtfertigung mit einer realistischen Position die materielle Welt betreffend verbindet, wird dadurch von skeptischen Argumenten besonders angreifbar, da unter der Voraussetzung, dass die skeptischen Argumente greifen, erstens die Gegenstände unserer Erfahrung nicht mehr von der Art sind, wie der Realist behauptet, und zweitens aufgrund der empiristischen Voraussetzung unser gesamtes Überzeugungsnetz betroffen ist. Positionen, die entweder die empiristische oder die realistische Grundannahme nicht treffen, scheinen dagegen nicht in gleicher Stärke von diesen Argumenten betroffen zu sein. In einer zwar empiristischen, aber idealistischen Theorie wie der Berkeleys zum Beispiel muss nicht von einem Sinneseindruck auf einen Gegenstand geschlossen werden, da der Gegenstand in nichts anderem besteht als in Sinneseindrücken (Principles, 1). Hier wird also die realistische Annahme aufgegeben, dass es Gegenstände als materiell und geistunabhängig gibt (Principles, 4) – die Gegenstände, die wir wahrnehmen, sind Ideen. Unter dieser Voraussetzung ist es zwar möglich, dass es nur meine Ideen gibt (und nicht, wie Berkeley meint, auch Gottes Ideen und Ideen in anderen Geistern (Principles, 146ff)); doch auch dann, kann Berkeley behaupten, gibt es noch Gegenstände, wie sie von seiner Theorie postuliert werden, nämlich Ideen. Auch wenn also die Möglichkeit eines Solipsismus nicht ausgeschlossen werden kann, wenn also die Möglichkeit besteht, dass das Erkenntnissubjekt das einzige Erkenntnissubjekt ist, und es entgegen des Anscheins keine anderen Subjekte gibt, hat der Idealist den Vorteil, dass Gegenstände auf die Art existieren, wie die Theorie sie annimmt. In einer Theorie wie der Descartes’ dagegen wird zwar das realistische, nicht aber das empiristische Element aufrechterhalten. Descartes’ Programm ist speziell darauf angelegt, Gewissheit für unsere Überzeugungen zu erlangen. Wenn Descartes mit seiner Argumentation erfolgreich ist, ist also ein absoluter Zweifel ausgeschlossen. Dies soll dadurch erreicht werden, dass alle Erkenntnis auf eine sichere, nämlich angeborene Grundlage gestellt wird. Descartes’ Rechtfertigung für die Existenz der Außenwelt beruht auf unserer eingeborenen Idee von Gott. Diese Idee impliziert die Existenz Gottes als perfekt (AT VII 51), und da jede Täuschung eine Imperfektion ist, kann ausgeschlossen werden, dass Gott mich grundsätzlich täuscht (AT VII 53). Irrtum ist zwar möglich, grundsätzlicher Irrtum durch die Natur Gottes jedoch ausgeschlossen. Eine innatistische Theorie ist damit einer empiristischen gegenüber im Vorteil, dass sie skeptischen Szenarien mehr entgegenzusetzen hat als bloß die Tatsache, dass bestimmte Sinneindrücke auftreten. Sie kann
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sich auch auf den Inhalt der von ihr als angeboren angenommenen Vorstellungen berufen. Im Fall von Gassendi ist das Problem der Rechtfertigung besonders relevant, da er zumindest zeitweise auch die skeptische Position zu vertreten scheint. Denn in den Exercitationes wendet er selbst skeptische Argumente gegen die Aristoteliker an (III.192ff); im späteren Syntagma versucht er zwar, skeptische Argumente zurückzuweisen, lehnt aber Gewissheit was Überzeugungen betrifft ab und beschränkt sich auf Wahrscheinlichkeit (I.132b). Dementsprechend wird Gassendi manchmal selbst als Skeptiker bezeichnet, wenn auch als gemäßigter.26 Schon in der Einleitung zu den Exercitationes äußert Gassendi seine Bewunderung für die akademischen und pyrrhonischen Skeptiker (III.99). In der Exercitatio VI des zweiten Buches schließlich argumentiert er ausführlich mit pyrrhonischen Argumenten gegen die aristotelische Wissensauffassung und behauptet, dass wir kein Wissen über die Eigenschaften oder die Natur der Dinge, bzw. die Dinge „an sich“ (secundum se, z.B. III.201a) haben. Unter Rückgriff auf Argumente von Sextus Empiricus beruft er sich auf die Tatsache, dass die Dinge verschiedenen Subjekten unterschiedlich erscheinen, oder auch dem gleichen Subjekt je nach seiner Verfassung unterschiedlich erscheinen können, und schließt, dass wir nur darüber urteilen können, wie die Dinge uns erscheinen, nicht aber über ihre tatsächliche Natur (III.203a).27 Er bekennt sich zu der Auffassung, dass es „(im aristotelischen Sinn) kein Wissen gibt“ (nihil sciri (puta Aristotelice), III.206a). Darüber hinaus verteidigt er die skeptische Position gegen Einwände: Keineswegs, so Gassendi, tun die Pyrrhoniker der Natur unrecht, wenn sie Aussagen über die Natur der Dinge in Zweifel ziehen (III.206b). Denn selbstverständlich ist Wissen über die Erscheinungsart der Dinge weiterhin möglich. Es wird nur bestritten, dass daraus Schlüsse darüber gezogen werden können, was die innere Beschaffenheit der Dinge betrifft, die nicht durch Erscheinungen gestützt werden können. In den Exercitationes wendet sich Gassendi also explizit gegen die Behauptung, dass wir daraus, wie uns die Dinge erscheinen, auf ihre ontologische oder metaphysische Beschaffenheit schließen können. Später allerdings muss Gassendi diese Behauptung selbst vertreten. Denn er ist nicht nur, wie gesehen, Empirist und Realist. Nicht nur vertritt er also die Auffassung, dass es materielle Gegenstände gibt, die bestimmte Eigenschaften haben und von uns wahrgenommen werden, und möchte in diesem Sinn Aussagen darüber treffen, wie die Dinge in der Welt sich verhalten. Wie gesagt ist darüber hinaus der Atomismus eine der philosophischen Überzeugungen, die Gassendi von Epikur übernimmt. Im Syntagma vertritt Gassendi folglich die Auffassung, dass es kleinste, unteilbare Teilchen gibt, aus denen diese materiellen Gegenstände bestehen, und dass die Eigenschaften der materiellen Gegenstände auf die der Atome zurückgeführt werden können.
26 Popkin 2003, 112f, 120ff 27 „[...] concludamus sciri non posse cuiusmodi res aliqua sit secundum se, vel suapte natura; sed dumtaxat cuiusmodi his aut illis appareat.“ (III.203a)
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Atome sind Gassendi zufolge feste, einfache Körper (I.266a). Sie sind deshalb unteilbar, da sie keinerlei Vakuum enthalten; daher kann nichts in sie eindringen und sie zerteilen (I.258b). Als einfache Dinge haben sie keine Teile (I.267b).28 Darüber hinaus hat jedes Atom eine bestimmte Größe und eine bestimmte Form; außerdem ist ihnen eine von Gott gegebene Bewegungskraft eigen. Atome können sich zu Korpuskeln zusammensetzen, deren Eigenschaften wiederum erklären, dass sie in uns auf bestimmte Weise wirken. So gibt Gassendi sowohl eine allgemeine Erklärung der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften materieller Gegenstände (I.271ff) als auch eine atomistische Erklärung verschiedener Wahrnehmungsprozesse (Syntagma philosophicum, Pars II, Sectio III, Membrum Posterius, Liber VII, De sensibus speciatim). Gassendi möchte also offenbar nicht nur über materielle Gegenstände und diejenigen ihrer Eigenschaften sprechen, die uns durch Sinneserfahrung zugänglich sind, sondern auch über ihre ontologische Beschaffenheit, darüber, woraus diese Gegenstände bestehen, das heißt über Dinge, die wir nicht sinnlich wahrnehmen können. Damit, scheint es, muss er zweierlei Arten von Urteilen rechtfertigen. Erstens die, die von den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände handeln – diese Rechtfertigung wird seinem Empirismus entsprechend durch Sinneseindrücke zu leisten sein. Zweitens aber muss er erklären, wie wir theoretische Urteile fällen können, also solche, die von Dingen handeln, die wahrzunehmen wir grundsätzlich nicht in der Lage sind, wie zum Beispiel Atome und ihre Eigenschaften. Entsprechend der oben dargestellten systematischen Anforderungen an empiristische Theorien und Gassendis besonderer Situation stellt sich also die Frage, wie Gassendi sich dem Problem der Rechtfertigung gegenüber verhält. Wie gesagt scheint kaum eine Theorie der Möglichkeit des Solipsismus entkommen zu können. Doch ein empiristischer Realist wie Gassendi sollte zumindest eine Begründung dafür angeben, wieso wir aufgrund unserer Sinneseindrücke die Existenz von materiellen Gegenständen annehmen können. Und Gassendi speziell muss darlegen, warum und wie entgegen seiner eigenen früheren Einschätzung Aussagen über die ontologische oder metaphysische Beschaffenheit materieller Gegenstände begründet sein können. Es wird also erstens eine Reaktion auf die Herausforderung eines Außenweltskeptizismus benötigt; das heißt, es muss entweder ein expliziter Versuch zur Rechtfertigung empirischer Urteile unternommen werden, oder es muss zumindest erklärt werden, warum das Problem, so wie es der Skeptiker aufwirft, nicht ernst genommen werden muss. Erfolgt keine dieser beiden möglichen Reaktionen, dann ist unklar, wieso man sich überhaupt auf ein empiristischrealistisches Programm einlassen sollte. Zweitens braucht Gassendi eine explizite Antwort auf die Frage, inwiefern skeptische Argumente nicht die Möglichkeit von Aussagen über die innere Natur materieller Gegenstände untergraben, das heißt, eine Rechtfertigung theoretischer Urteile – wobei sich Gassendi bewusst gewesen zu sein scheint, dass Gewissheit in beiden dieser Fragen nicht zu erreichen ist, und 28 Vgl. Cho 2004, 26.
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sich mit einer Antwort zufrieden gibt, die bloß die Wahrheit unserer Urteile wahrscheinlich macht. In Zusammenhang mit Gassendis atomistischer Theorie und seinem Empirismus stellt sich allerdings nicht nur die Frage nach der Rechtfertigung der atomistischen Hypothese, sondern auch die nach den Grenzen ihrer Erklärungskraft. Das erklärte Ziel Descartes’ in den Meditationen ist es, die Immaterialität des menschlichen Geistes aufzuweisen.29 Wie erwähnt lehnt Gassendi in der Disquisitio Descartes’ Argumentation für die Immaterialität des Geistes ab, da sie ihn philosophisch nicht überzeugt. Doch wie verhält sich ein Empirist wie Gassendi in der Frage nach der ontologischen Beschaffenheit des menschlichen Geistes? In Reaktion auf den Rationalismus Descartes’ kann er einerseits einen Materialismus vertreten und dafür argumentieren, dass der menschliche Geist auch atomistisch aufzufassen ist. Andererseits kann er selbst versuchen, für einen unkörperlichen Geist zu argumentieren. Diese Argumentation muss dann allerdings selbst seinen empiristischen Grundeinstellungen genügen. Gassendi muss also aufgrund seines Empirismus nicht nur die Entstehung allgemeiner Vorstellungen erklären; er muss auch ausführen, warum wir davon ausgehen können, durch die Anwendung dieser Vorstellungen in Urteilen etwas über die Welt zu erfahren. Dabei scheint die Tatsache, dass in einer empiristischen Theorie alles Wissen durch Sinneseindrücke erklärt wird, zur Folge zu haben, dass Urteile, in denen wir uns von sinnlichen Inhalten entfernen, weniger gut zu verstehen und schwieriger zu rechtfertigen sind, als solche, die nahe an unserer sinnlichen Erfahrung bleiben. Diese Folgerung macht sich Gassendi in den Einwänden gegen die Meditationen auch unumwunden zu eigen, wenn er sagt: „Es ist nicht dasselbe, wenn wir etwas einerseits durch eine wahre Idee oder ein Bild erfassen oder aber andererseits durch eine notwendige Schlussfolgerung, die von einer zuvor aufgestellten Annahme ausgeht. Denn auf die erste Weise begreifen wir (concipimus), dass ein Ding so und so beschaffen ist; auf die zweite Weise hingegen, dass es so und so beschaffen sein muss. Und wie wir auf die erste Weise ein Ding deutlich und genau so begreifen (intelligimus) wie es an sich ist, so begreifen wir es auf die zweite Weise nur konfus und durch Analogie, d.h. durch etwas, das durch irgendeine Idee erfasst wird.“ (III.322b, Übersetzung Borcherding/ Rubini/Seidl)30
29 Zumindest ihrem Titel (Meditationes de prima philosophia in qua dei existentia et anime immortalitas demonstratur, AT VII) zufolge. 30 „Repeto hoc solum, aliud esse, percipere nos aliquid per veram ideam, seu imaginem; aliud per necessariam ex supposito aliquo antecedente consequutionem. Etenim priore modo concipimus rem esse quid tale, posteriore debere esse quidpiam tale: et ut priore intelligimus rem distincte et qualis in se est; ita posteriore non intelligimis nisi confuse, et analogice, hoc est referendo ad aliquid, quod sit per ideam aliquam perceptum.“ (III.322b) Genau genommen spricht Gassendi hier nicht über abstrakte, sondern über theoretische Vorstellungen; doch ermöglichen uns diese eben dadurch nur konfus Erkenntnis über die Welt, dass sie uns nicht direkt vermitteln, wie ein Gegenstand beschaffen ist. Dies gilt ebenso für abstrakte Gegenstände.
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Problematisch wird diese Konsequenz dann, wenn Fälle auftreten, in denen unsere Intuitionen ihr zu widersprechen scheinen, in denen wir also der Meinung sind, dass empirische Urteile weniger sicher als wahr zu erkennen sind als die einer abstrakten Wissenschaft. Descartes scheint ganz allgemein die Auffassung zu vertreten, dass Urteile über sinnlich Wahrnehmbares weniger gerechtfertigt sind als solche über abstrakte Gegenstände. Doch auch wenn man die Auffassung nicht teilt, dass dies in jedem Fall so ist, scheint es in der Mathematik ein Beispiel für eine Wiss enschaft zu geben, deren Aussagen wir intuitiv als wahr, womöglich sogar als notwendig wahr einschätzen, die aber abstrakt ist, bzw. zumindest abstrakt betrieben werden kann. Dabei scheinen sowohl empirische Urteile, die mathematische Begriffe enthalten wie zum Beispiel „Wenn man von sieben Äpfeln zwei isst, bleiben fünf Äpfel übrig“, als auch reine mathematische Urteile wie „7 - 2 = 5“ als notwendig erlebt zu werden. Man könnte sogar geneigt sein zu behaupten, dass das empirische Urteil in seinem Status vom reinen Urteil abhängt, und somit notwendig wahr ist, weil das reine Urteil notwendig wahr ist. Eine solche Position ist für einen Empiristen natürlich nicht zu vertreten. Im Empirismus beruhen abstrakte Vorstellungen auf sinnlichen Vorstellungen und die Wahrheit von abstrakten Urteilen auf der von sinnlichen Urteilen. Doch es scheint, dass alle empirischen Urteile kontingente Urteile sind – die Welt hätte sich auch immer anders verhalten können. Damit sind die Urteile, auf denen abstrakte Wissenschaften allein beruhen, kontingenterweise wahr, sodass in einer empiristischen Theorie der notwendige Charakter einer abstrakten Wissenschaft wie der Mathematik offenbar nicht gerechtfertigt werden kann. Eine Möglichkeit, innerhalb eines empiristischen Ansatzes mit abstrakten Wissenschaften umzugehen, besteht darin, zurückzuweisen, dass es diese überhaupt gibt. Wenn man wie Berkeley die Existenz abstrahierter und tatsächlich allgemeiner Vorstellungen ablehnt, kann auch keine Wissenschaft tatsächlich abstrakt betrieben werden. Dann muss erklärt werden, wieso es uns so scheint, als könnten wir abstrakte Wissenschaft betreiben, und wie es zum scheinbaren notwendigen Charakter ihrer Urteile kommt. Die andere Möglichkeit besteht darin, anzuerkennen, dass es abstrakte Wissenschaft gibt. Dann besteht die Herausforderung erstens darin zu explizieren, wie wir zu abstrakten Vorstellungen kommen und welcher Status solchen Urteilen tatsächlich zukommt. Zweitens sollte ebenfalls eine Erklärung dafür angegeben werden, warum wir geneigt sind, mathematischen Sätzen notwendige Wahrheit zuzuschreiben, obwohl sie tatsächlich nur kontingenterweise wahr sind. Wenn schon der doch anscheinend notwendige Charakter bestimmter Urteile nicht gerechtfertigt werden kann, sollte eine empiristische Theorie doch in der Lage sein, unsere Intuitionen bezüglich Mathematik zu erklären. Es ergeben sich also vier hauptsächliche Probleme aus einer empiristischen Grundüberzeugung. Erstens stellt sich aufgrund der psychologischen Interpretation dieser Grundüberzeugung die Frage, wie in empiristischen Theorien der Erwerb abstrakter Begriffe erklärt wird. Die epistemologische Interpretation wirft dagegen Probleme mit der Rechtfertigung von Urteilen, empirischen und theoretischen, auf.
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Drittens muss eine Position zur Ontologie des menschlichen Geistes eingenommen und begründet werden. Und schließlich muss eine empiristische Theorie erklären, wieso und in welcher Weise abstrakte Wissenschaft betrieben werden kann. Diese Arbeit hat das Ziel, diese Probleme innerhalb von Pierre Gassendis Theorie zu beantworten und dabei die Stärken und Grenzen eines solchen Ansatzes aufzuzeigen. 1.2 KURZÜBERSICHT DER KAPITEL Aufgrund der hier dargestellten Probleme ergibt sich folgender Aufbau der Arbeit: Kapitel 2 liefert zunächst den epikureischen und stoischen Hintergrund für Gassendis Programm, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Rolle von Prolepsen in den jeweiligen Theorien. Es wird dargestellt, inwiefern Wahrnehmungen und Prolepsen bei Epikur als Kriterien der Wahrheit angesehen werden, das heißt Urteile begründen können, und dieser Ansatz mit dem stoischen verglichen. Die Theorie des Schließens aus Zeichen, als Grundlage für theoretisches Wissen, bildet den Abschluss des Kapitels. Ein Ziel dieser Arbeit ist es, einen abstraktionistisch-empiristischen Ansatz zu Begriffsbildung im Genauen auszuarbeiten. Doch bevor dies versucht werden und somit die Frage danach beantwortet werden kann, wie genau Begriffe aus Sinneseindrücken aufgrund von Ähnlichkeiten gebildet werden, müssen einige Grundlagen geklärt werden. Was sind allgemeine Vorstellungen für Gassendi überhaupt, und welche Eigenschaften haben sie? Was ist die Grundlage für die Abstraktion, das heißt die Sinneseindrücke, und welche Eigenschaften müssen ihnen zugeschrieben werden? Daher werden in Kapitel 3 die Arten von Vorstellungen untersucht, die Gassendi annimmt, damit uns Erkenntnis über die Welt möglich wird – Propositionen, Ideen und species. Eine kurze Analyse von Gassendis Aussagen zu Propositionen liefert dabei die Grundlage für eine ausführliche Diskussion des Ideenbegriffs bei Gassendi. Laut der vorgeschlagenen Analyse müssen Ideen in Gassendis System als wesentlich begriffliche und sinnliche Repräsentationen von Gegenständen aufgefasst werden. Als solche müssen sie einerseits von Sinneseindrücken, andererseits von theoretischen und abstrakten Vorstellungen unterschieden werden. Ideen werden aber aus Sinneseindrücken, den species, gebildet. Diese werden anhand von Gassendis Aussagen als durch einen korpuskularen Prozess ausgelöste, körperliche Vorstellungen von sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften charakterisiert. Auf Grundlage dieser Untersuchungen und Gassendis spärlicher Aussagen zur Begriffsbildung kann dann genauer skizziert werden, welche Prozesse angenommen werden müssen, damit eine Abstraktion allgemeiner Vorstellungen möglich wird. Gassendi trifft die Aussage, dass es zwar keine allgemeinen Eigenschaften gibt, dass aber allgemeine Vorstellungen aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Gegenständen gebildet werden (III.159b). Wie genau Gassendi diese Ähn-
1.2 Kurzübersicht der Kapitel
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lichkeitsbeziehungen auffasst und wie diese als Grundlage zur Begriffsbildung konstruiert werden können, ist das Thema von Kapitel 4. Zunächst wird ein kurzer systematischer und historischer Überblick über das Universalienproblem gegeben und Gassendis nominalistische Einstellung dargestellt. Gassendi stellt die Behauptung auf, dass Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen die Grundlage des Begriffserwerbs darstellen. Eine Untersuchung seiner Einstellung zum ontologischen Status von Relationen ergibt jedoch, dass Gassendi Ähnlichkeiten nicht als real angesehen hat. Damit muss Begriffsbildung darauf beruhen, dass uns bestimmte Eigenschaften oder Gegenstände als ähnlich erscheinen. Der Prozess der Begriffs- bzw. Ideenbildung wird in zwei Schritten erklärt. Zunächst werden allgemeine Vorstellungen betrachtet, wie sie auch Tiere bilden; diese werden durch Assoziation ähnlich erscheinender Eindrücke erklärt. Ich werde argumentieren, dass eine Idee im Sinn Gassendis dadurch entsteht, dass aus einer solchen Gruppe ähnlich erscheinender Eindrücke ein Eindruck als Prototyp für eine bestimmte Art von Gegenstand ausgewählt wird. Dieser Prototyp kann abstrakt betrachtet werden und damit allgemeine Eigenschaften zuschreiben. Kapitel 5 behandelt das Problem der Rechtfertigung empirischer und theoretischer Urteile. Wie gesehen möchte Gassendi die Aussage rechtfertigen, dass materielle Gegenstände aus Atomen als kleinsten, unteilbaren Teilchen bestehen. Um festzustellen, wie wir zu einer solchen Aussage berechtigt sein können, wird zunächst Gassendis Wahrheitsauffassung untersucht und mit den Ergebnissen aus Kapitel 4 in Verbindung gebracht. Daraufhin werden Gassendis Einwände gegen skeptische Argumente untersucht, wobei sich herausstellen wird, dass Gassendi eine bestimmte eingeschränkte Interpretation dieser Argumente vertritt, nach der empirische Urteile von ihnen nicht betroffen sind. Anhand von Gassendis Reaktion auf Descartes’ skeptische Szenarien zeigt sich, dass Gassendi eine pragmatischpsychologistische Theorie der Rechtfertigung empirischer Aussagen vertritt. Theoretische Urteile können aufgrund von empirischen Urteilen durch Analogieschlüsse aus Zeichen gerechtfertigt werden. Zum Abschluss wird dargestellt, wie sich diese Strategie in Gassendis Argumentation für den Atomismus niederschlägt. Kapitel 6 beschäftigt sich mit Gassendis Theorie mathematischer Objekte und Urteile. Nach einer Einführung in die Grundfragen und -probleme der Philosophie der Mathematik werden die Ergebnisse zum Begriffserwerb und der Rechtfertigung aus den Kapiteln 3 und 4 auf die Mathematik angewandt. Mathematische Objekte sind dementsprechend mathematische Ideen bzw. abstrakte mathematische Vorstellungen. Anhand dessen wird diskutiert, wie sich dies auf den Status mathematischer Urteile auswirkt. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage untersucht, inwieweit Gassendi rein abstrakte Begriffe annimmt und welche Rolle sie in seiner Theorie spielen können. In Kapitel 7 schließlich werden die Ergebnisse der Untersuchung an Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes überprüft. Gassendi beruft sich zur Bestätigung der Aussage, dass der menschliche Geist immateriell sein muss,
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auf die Tatsachen, dass wir theoretische und abstrakte Vorstellungen bilden, und dass der menschliche Geist sich auf sich selbst bezieht. Die Analyse seiner Aussagen wird zeigen, dass diese Argumente voneinander abhängig sind: Die Tatsache, dass wir abstrakte und theoretische Vorstellungen bilden, hängt davon ab, dass wir zur Abstraktion fähig sind. Dies wiederum beruht allerdings auf der Fähigkeit des Geistes, auf sich selbst zu reflektieren.
2 EPIKUREISCHE UND STOISCHE ERKENNTNISTHEORIE Gassendis philosophisches Programm ist in großen Teilen epikureisch. Häufig stellt er verschiedene Positionen vor, die bezüglich eines bestimmten Problems eingenommen wurden, um sich dann für die Epikurs als die überzeugendste auszusprechen.1 Da Epikurs Positionen nicht immer mit der christlichen Lehre übereinstimmen, muss Gassendi einige Anpassungen vornehmen. Dennoch ist vor der Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen Grundzügen seiner Philosophie eine Darstellung des epikureischen Hintergrunds sinnvoll, damit Gassendis Thesen besser verständlich und interpretierbar werden. Selbstverständlich kann an dieser Stelle keine komplette Darstellung von Epikurs Philosophie geleistet werden, sondern lediglich ein kurzer Abriss der für Gassendi relevanten Theorieteile. Da Epikurs Schriften zum größten Teil verschollen sind, ist seine Lehre hauptsächlich über Sekundärquellen zugänglich. So behandelt beispielsweise Diogenes Laertius im zehnten Buch von Leben und Lehre der Philosophen Epikurs Philosophie. Ihm zufolge gliedert sich Epikurs Theorie in drei Teile, eine Kanonik, eine Physik und eine Ethik (D.L. X.29). Die Kanonik, die unter anderem Epikurs Erkenntnistheorie enthält, legt die Grundlage für die Untersuchungen sowohl über Physik, das heißt über die Beschaffenheit der Welt, als auch Ethik, das heißt über das gute Leben. Denn man kann nur bewusst gut leben, wenn man die Welt versteht; ein Verständnis der Welt ist aber nur möglich, wenn unsere Überzeugungen über die Welt wahr sind. Die Frage, ob und inwiefern diese Überzeugungen wahr sind, ist also von grundlegender Bedeutung. Allerdings hängt die Beantwortung der Frage nach der Wahrheit unserer Überzeugungen von der Erklärung dessen ab, wie wir überhaupt zu Vorstellungen kommen. So muss zum Beispiel geklärt werden, auf welche Objekte wir uns in diesen Vorstellungen und Überzeugungen beziehen, und wie diese Objekte uns gegebenenfalls affizieren, damit ausgeführt werden kann, unter welchen Umständen wir diesen Gegenständen gerecht werden und somit wahre Überzeugungen bilden. Die epikureische Erklärung für diese Phänomene und Probleme hängt nun von den physikalischen Annahmen der epikureischen Theorie ab. Denn sowohl der menschliche Körper als auch der menschliche Geist sind nach Epikur körperlich, das heißt atomarer Struktur. Wie wir von Gegenständen affiziert werden und mit den dadurch verursachten Eindrücken umgehen, wird innerhalb der atomistischen Physik erklärt. Die Erkenntnistheorie legt also einerseits die Grundlage für die Entwicklung der physikalischen Theorie, hängt aber andererseits von ihr ab.2 1
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So zum Beispiel in der Frage nach der Rechtfertigung von Urteilen (Syntagma philosophicum, Pars I, Liber II, De logica fine, I. 67ff) und der Frage nach einem materiellen Prinzip, das heißt der Existenz der Atome (Syntagma philosophicum, Pars II, Sectio Prima, Liber III, I. 229ff). Vgl. Asmis 1999, 26: „[...] Epicurus joined canonic to physics as both preliminary and subordinate to it“; und auch Detel 1978, 33.
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2 Epikureische und stoische Erkenntnistheorie
2.1 KRITERIEN DER WAHRHEIT Laut Diogenes Laertius gibt es nach Epikur drei sogenannte „Kriterien der Wahrheit“ (D.L. X.31): „Die Wahrnehmungen, die Prolepsen und die Gefühle.“ (D.L. X.31) Um zu verstehen, was ein Kriterium der Wahrheit ist und was es leisten soll, müssen die Begriffe „Wahrheit“ und „Kriterium“ geklärt werden. Der Wahrheitsbegriff („ “) ist doppeldeutig; zum einen meint er die Wirklichkeit oder Existenz eines Gegenstands.3 Dieser erste Sinn von Wahrheit wird im Folgenden als „Wahrheit der Existenz“ bezeichnet. Es scheint, dass Epikur „Wahrheit“ in diesem Sinn verwendet, wenn er davon spricht, dass alle Sinneseindrücke wahr sind (D.L. X.32). Zum anderen bezieht sich der Wahrheitsbegriff auf die Wahrheit einer Aussage oder eines Urteils: „Deswegen sagt er auch, wo er das Wahre und Falsche umreißt: ‚Wahr ist, was so ist, wie gesagt wird, dass es ist‘ und ‚Falsch ist‘, sagt er, ‚was nicht so ist, wie gesagt wird, dass es ist.“4 Dieser zweite Sinn von Wahrheit wird im Folgenden mit „Wahrheit der Korrespondenz“ bezeichnet. Hier ist zu beachten, dass diese beiden Sinne von Wahrheit zusammenhängen, beziehungsweise der zweite Sinn vom ersten abhängt. Denn eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie den Gegenstand in seiner tatsächlichen Existenz darstellt.5 Der zweite Sinn von Wahrheit ist also insofern derivativ, als dass die Tatsache, dass sich etwas auf bestimmte Weise verhält, darauf beruht, dass Gegenstände auf bestimmte Art und Weise existieren. Der Begriff des Kriteriums kann nun auf beide dieser Sinne von Wahrheit bezogen werden.6 Grundsätzlich kann ein Kriterium als ein Instrument verstanden werden, mit dem etwas überprüft oder beurteilt wird. Ein Kriterium der Wahrheit ist demnach erstens ein Instrument dafür, die Wahrheit einer Aussage, das heißt Wahrheit als Korrespondenz, zu überprüfen – ob die Welt also so ist, wie es in einer Aussage behauptet wird. So kann zum Beispiel eine wissenschaftliche Untersuchung das Instrument – und damit ein Kriterium – sein, die Wahrheit einer wissenschaftlichen Hypothese zu überprüfen. Ein Kriterium dafür, ob etwas wahr im Sinn von wirklich ist, zeigt an, dass ein Gegenstand existiert – auch hier kann eine wissenschaftliche Untersuchung ein Kriterium sein; dann nämlich, wenn sich aus ihr schließen lässt, dass wir bestimmte Gegenstände als Erklärung dafür annehmen müssen, wie die Untersuchung verlaufen ist. Es stellt sich nun die Frage, auf welchen Sinn von Wahrheit und Kriterium Epikur sich jeweils bezieht, wenn er behauptet, dass Wahrnehmungen, Prolepsen und Gefühle Kriterien für Wahrheit sind. Gefühle jedoch sind offensichtlich Kriterien für ethische, nicht für erkenntnistheoretische Fragen, wie sie hier von Interesse sind. Ob ein Verhalten richtig oder falsch ist, kann auch nur auf der Grundlage der 3
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Dafür, dass Epikur „aletheia“ auch in diesem Sinn verstanden hat, spricht zum Beispiel Sextus Empiricus, Adversos Mathematicos 8,9: „Epikur sagte, alles Wahrnehmbare sei wahr und seiend. Zu sagen, etwas sei wahr oder existiere, unterscheide sich nämlich nicht.“ Siehe Jürß 1991, 35 für eine detaillierte Darstellung. Sextus Empiricus, Adversos Mathematicos, 8,9 Vgl. Rist 1972, 16. Vgl. Rist 1972, 15f.
2.1 Kriterien der Wahrheit
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Annahme untersucht werden, dass ich die Welt adäquat wahrnehme. Insofern sind Wahrnehmungen als Kriterien für Wahrheit grundlegend dafür, dass auch Gefühle als Kriterien für Wahrheit dienen können (D.L. X.34). 2.1.1 Wahrnehmung Im Rahmen der atomistischen Physik wird der körperliche Aspekt der Wahrnehmung dadurch erklärt, dass von den Gegenständen kontinuierlich Atome abgesondert werden, die auf ein Sinnesorgan treffen und aufgenommen werden. Dies resultiert in der Bildung von Phantasmata, also von Vorstellungen in unserem Geist. Die von den Gegenständen abgesonderten Atome haben die „Gestalt“ (D.L. X.46, Her. 48f), beziehungsweise sind „Abbilder“ der Gegenstände (D.L. X.46), sodass wir „die Formen sehen und denken, weil etwas von außen in uns eindringt“ (D.L. X.49). Wir denken die Formen der Gegenstände, da „bestimmte Modelle von den Gegenständen in uns eindringen – ihnen gleich an Farbe und Form entsprechend der Größe, die in den Gesichtssinn oder den Verstand hineinpasst – und dabei hohe Geschwindigkeiten einhalten“ (Her. 49). Jeder Gegenstand sondert also einen Strom kleiner Abbilder seiner selbst ab, die schnell durch die Luft fliegen und durch die Sinnesorgane in den menschlichen Körper eindringen. Epikur zufolge ist der Ursprung einer Wahrnehmung immer ein solcher Prozess. Auch Träume und Vorstellungen von Dingen, die es nicht gibt, werden durch einen Prozess der Aufnahme von Modellen erklärt, allerdings werden die Atombündel dann nicht von den fünf körperlichen Sinnen aufgenommen, sondern direkt vom Geist, der damit auch als eine Art Sinn gelten darf. Zum Beispiel können sich Atombündel, die von verschiedenen Gegenständen abgesondert wurden, auf ihrem Weg vereinen, sodass aus Bündeln von Menschen und solchen von Pferden solche entstehen, durch die wir eine Vorstellung von Zentauren erhalten; diese spontan gebildeten Bündel erklären die Entstehung von Halluzinationen und Träumen und sind auch der Ursprung unserer Vorstellung von Gott. Für alle diese Wahrnehmungen gilt folgendes: „Jede Wahrnehmung ist unreflektiert und ohne Erinnerung. Weder kann sie durch sich selbst erregt werden, noch, wenn sie durch anderes erregt wird, irgend etwas hinzufügen oder wegnehmen. Nichts kann die Wahrnehmung widerlegen; die gleichartigen können einander nicht widerlegen, weil sie gleichwertig sind, und die ungleichartigen nicht, weil sie sich nicht auf dieselbe Qualität richten; und nicht einmal der Verstand, denn der hängt ganz von den Wahrnehmungen ab. Auch kann die eine Wahrnehmung nicht die andere widerlegen, denn wir haben alle zu akzeptieren. Und die Tatsächlichkeit der Wahrnehmungsaktivitäten beglaubigt die Wahrheit der Wahrnehmungen; denn unser Sehen und Hören ist ebenso wirklich vorhanden wie unser Schmerzempfinden.“ (D.L. X.31/32)
In einer Interpretation lässt sich also die Behauptung, dass Wahrnehmung ein Kriterium für Wahrheit ist, folgendermaßen verstehen: Meine Wahrnehmung eines Gegenstands zeigt an, dass ein Wahrnehmungsprozess stattgefunden hat, und dass sich in meinem Geist ein Phantasma gebildet hat – der „Tatsächlichkeit unserer Wahrnehmungsaktivität“ ist hier nicht zu widersprechen. Die Wahrnehmung zeigt also die Existenz verschiedener Gegenstände an: zum einen die des Gegenstands,
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der meine Wahrnehmung ausgelöst hat, also des Atombündels, und zum anderen die des Phantasmas selbst. Im ersten oben angeführten Sinn von Wahrheit, nämlich Wahrheit als Existenz, sind also alle Wahrnehmungen Kriterien der Wahrheit, da sie anzeigen, dass bestimmte Gegenstände existieren. Sie sind in diesem Sinn von Wahrheit als Existenz allerdings auch selbst wahr. Erstens sind sie für sich genommen, als Sinneseindrücke, wahr – sie existieren. Zweitens sind sie aber auch in Bezug auf ihren Inhalt wahr, denn auch ihr Inhalt existiert auf eine ganz bestimmte Weise. Der Inhalt entsteht aufgrund unserer Interaktion mit der Welt, ohne dass wir selbst einen Einfluss darauf hätten. Jede Wahrnehmung wird in uns durch einen von einem Gegenstand abgesonderten Strom von Atombündeln ausgelöst, und wir sind in der Aufnahme dieser Atome und der Information, die sie tragen, völlig passiv. Insofern kann jede Wahrnehmung als wahr angesehen werden, da sie in jedem Fall die von dem Atombündel übertragene Information über den Gegenstand korrekt wiedergibt – unabhängig davon ob diese auch mit dem Gegenstand selbst übereinstimmt. Durch diese Passivität zeigt eine Wahrnehmung darüber hinaus an, dass ein Gegenstand existiert, der sie ausgelöst hat. Die Passivität garantiert aber keine inhaltliche Übereinstimmung mit dem Gegenstand, also keine Wahrheit als Korrespondenz. Mit Wahrheit der Wahrnehmung in diesem Sinn ist also nicht Wahrheit als Korrespondenz gemeint; es wird nicht behauptet, dass alle Wahrnehmungen die Welt so darstellen, wie sie ist. Sie sind aber wahr im Sinn von Wahrheit als Existenz, insofern sie sind, wie sie sind – und das schließt ihren Inhalt mit ein.7 Aus unserer Passivität bei der Entstehung von Wahrnehmungen kann man innerhalb der Theorie Epikurs zur Entstehung der Wahrnehmung noch auf einen weiteren Sinn von Wahrheit für Wahrnehmungen schließen. Wahrnehmungen wären dann auch im Sinn von Wahrheit als Korrespondenz wahr, indem sie zwar nicht notwendigerweise den Gegenstand, den wir wahrzunehmen meinen, korrekt repräsentieren, aber doch ihren Auslöser, das heißt, das Atombündel, das in ein Sinnesorgan oder in den Geist eingedrungen ist und so die Wahrnehmung verursacht hat. Durch unsere Passivität ist garantiert, dass wir weder eine Wahrnehmung selber hervorbringen noch an dem, was wir durch die Sinne aufnehmen, etwas verändern können; aufgrund der Explikation des Wahrnehmungsvorgangs, nach der wir die Form der Atombündel aufnehmen und in den Wahrnehmungen repräsentieren, folgt dann, dass wir in jedem Fall diese Form in unserer Vorstellung korrekt darstellen.8 Wahrnehmungen zeigen also an, dass bestimmte Gegenstände existieren, und sind insofern Kriterien der Wahrheit als Wirklichkeit. Sie sind aber auch selbst wahr in diesem Sinn, da sie „wirklich“ (D.L. X.32) sind. Weiterhin können sie als 7 8
Vgl. Asmis 1999, 267. Vgl. Detel 1978, 28 für eine ausführliche Darstellung einer solchen Argumentation. Auch laut Striker 1996 meint Epikur, wenn er von Wahrnehmungen als wahr spricht, Wahrheit als Korrespondenz, in dem Sinn, dass „all propositions expressing no more nor less than the content of a given sense impression are true.“ (Striker 1996, 90) Aber auch die Wahrheit solcher Basisoder Protokollsätze kann nicht die unten geschilderte Schwierigkeit im Übergang zu empirischen Sätzen vermeiden, wie auch Detel 1978, 32 bemerkt.
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wahr im korrespondenztheoretischen Sinn bezüglich ihrer direkten Verursacher angesehen werden. Sie sollen aber auch Kriterien im zweiten Sinn, das heißt Maßstab für unsere Überzeugungen sein. Um diese Rolle zu erfüllen, muss die Wahrnehmung uns als Instrument dafür dienen, wahre von falschen Meinungen zu unterscheiden. Das heißt, es soll möglich sein, an einer Wahrnehmung zu überprüfen, ob ein Urteil gerechtfertigt ist oder nicht. Im einfachsten Fall lässt sich das Urteil direkt aus der Wahrnehmung ableiten, sodass eine Wahrnehmung, in der ein Gegenstand weiß erscheint, das Urteil „X ist weiß“ nach sich zieht. Es kann aber auch den Fall geben, dass aus einer Wahrnehmung eines Gegenstands nicht das entsprechende Urteil abgeleitet wird, sondern ein der Wahrnehmung widersprechendes, je nachdem als wie verlässlich die Wahrnehmung eingeschätzt wird. So kann zum Beispiel derselbe Gegenstand mal weiß und mal grau erscheinen, und es ist offensichtlich nicht möglich, aus allen Wahrnehmungen direkt wahre Urteile abzuleiten, da wir ja nicht annehmen, dass der Gegenstand tatsächlich seine Farbe ändert. Damit Wahrnehmungen als Kriterien der Wahrheit für Urteile dienen können, scheint es also, als würde ein weiteres Kriterium benötigt, um die Wahrnehmungen zu überprüfen und festzustellen, wieso wir berechtigt sind, uns bei der Überprüfung von Urteilen eher auf die eine Wahrnehmung zu stützen als auf eine ihr widersprechende. Um das beliebte Beispiel vom Turm heranzuziehen, der aus der Ferne rund aussieht, von nahem aber eckig – was berechtigt mich dazu, mich hier eher auf die zweite Wahrnehmung zu verlassen als auf die erste, wenn doch auch „nicht die gleichartigen Wahrnehmungen [...] einander widerlegen [können], weil sie gleichgewichtig sind“ (D.L., X.32)? Ohne eine Möglichkeit, verlässliche von nichtverlässlichen Wahrnehmungen zu unterscheiden, werden die aufgrund von Wahrnehmung gefällten Urteile beliebig, widersprechen einander, und Epikur hätte somit ein skeptisches Problem. Zunächst einmal muss im Zusammenhang eines solchen Szenarios geklärt werden, wie es überhaupt dazu kommt, dass Wahrnehmungen auftreten, die zwei einander widersprechende Urteile begründen. Wie es zu der Wahrnehmung kommt, die den Gegenstand so darstellt, wie er ist, wurde bereits erklärt: Sie entsteht durch den beschriebenen Prozess des Eindringens von Atombündeln in unsere Sinnesorgane. Der Gegenstand sondert kontinuierlich einen Strom von Atombündeln ab, die seine Form haben; diese Atombündel treten durch die Sinnesorgane in unseren Körper ein und verursachen eine Wahrnehmung des Gegenstands. Aber wie kommt es zu einer Wahrnehmung, die den Gegenstand nicht korrekt darstellt? Auch sie ist wahr in dem Sinn, dass ein Atombündel mit einer ihrem Inhalt entsprechenden Form aufgenommen wurde. Dann aber muss der Gegenstand ein Atombündel mit seiner tatsächlichen Form abgesondert, wir aber eines mit einer anderen Form aufgenommen haben. Zum einen erklärt Epikur, dass sich die Atombündel auf dem Weg vom Gegenstand zum Wahrnehmenden verändern können (Her. 48). So werden sie zum Beispiel abgerieben, dadurch auf dem Weg kleiner und haben daher eine Wahrnehmung zur Folge, in der der Gegenstand kleiner erscheint, als er tatsächlich ist. Dies erklärt, dass Dinge von weitem kleiner aussehen als von nahem. Nicht nur die Atombündel sind aber relevant dafür, welcher Eindruck entsteht, auch der Zustand
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des Sinnesorgans, der die Atome aufnimmt, spielt dabei eine Rolle. So wird erklärt, dass manches in unterschiedlichen Zuständen unterschiedlich schmeckt oder sich anfühlt, obwohl beim Geschmacks- und Tastsinn keine Atombündel die Wahrnehmung hervorrufen, sondern der direkte Kontakt mit dem Gegenstand.9 Nachdem also eine Erklärung dafür vorhanden ist, wie es zu einander widersprechenden Wahrnehmungen kommt, wird nun ein Kriterium benötigt, das es uns erlaubt festzustellen, auf welche dieser Wahrnehmungen wir berechtigterweise ein Urteil gründen können, und auf welche nicht. Um dieses Problem zu lösen, beruft sich Epikur auf die „Evidenz“ (Sextus Empiricus, Adversos Mathematicos 7,211ff) der Sinne. Es ist allerdings unklar, wie die Evidenz eine Unterscheidung zwischen verlässlichen und nicht-verlässlichen Wahrnehmungen ermöglichen soll: Denn alle Wahrnehmungen sind evident in dem Sinn, dass sie ohne Urteil oder Meinung sind. Insofern ist es möglich, dass von zwei einander widersprechenden Urteilen beide durch evidente Wahrnehmungen belegt werden können. Man könnte nun zum einen argumentieren, dass wir die unterschiedlichen Wahrnehmungen vergleichen und miteinander in Beziehung setzen müssen, um ein Urteil über den Gegenstand fällen zu können.10 Es scheint, dass dann die Wahrnehmung eines Sinnes durch die eines anderen gestützt werden kann, sodass man urteilt, dass der Turm eckig ist, weil er erstens eckig aussieht und sich zweitens eckig anfühlt. Zum anderen könnte mit Evidenz auch gemeint sein, dass entgegen der obigen Behauptung doch einige Wahrnehmungen evidenter sind als andere, sodass wir uns auf den Eindruck, den wir aus der Entfernung gewinnen, nicht verlassen können, weil man aus der Entfernung nicht so genau wahrnimmt.11 Die zweite Möglichkeit erscheint systematisch unüberzeugend, da uns erst die Erfahrung zeigt, welche Wahrnehmungen verlässlicher sind als andere. Diese Erfahrung beruht aber selbst darauf, dass manche Urteile als wahr, andere als falsch angesehen werden. Dies müsste durch ein Kriterium festgestellt, also durch Wahrnehmung gestützt werden. Diese können aber erst durch die Erfahrung ihren Status als Kriterien der Wahrheit erhalten. Die erste Möglichkeit wiederum scheint auf den ersten Blick dadurch ausgeschlossen, dass kein Sinn einen anderen widerlegen kann – so kann also eine Wahrnehmung, in der der Turm rund aussieht, durch eine, in der er sich eckig anfühlt, nicht widerlegt werden. Allerdings soll hier nicht die Wahrnehmung, sondern das Urteil, dass der Turm rund ist, widerlegt werden. An der Tatsache, dass eine Wahrnehmung aufgetreten ist, in der der Turm rund erschien, kann auch eine andere Wahrnehmung nichts ändern – insofern ist jede Wahrnehmung wahr. Das Urteil aber muss erst auf seine Wahrheit hin überprüft werden, und kann von Wahrnehmungen belegt oder widerlegt werden. Gibt es nun mehr Wahrnehmungen, die das
9 Lucretius, De rerum natura, IV.668–70, 706–21. Vgl. auch Asmis 1999, 271. 10 Rist 1972, 38 11 Dies scheint Gassendis Verständnis von Epikur gewesen zu sind, vgl. I.58. Und auch Jürß 1991, 54 interpretiert die Quellen zu Epikurs Aussagen so, dass zwar alle Wahrnehmungen einen gewissen Grad an Evidenz haben, andere aber gewisser sind als andere.
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eine als die das andere Urteil belegen, kann ich darauf schließen, dass das erste Urteil wahr ist, das zweite falsch. Auch bei dieser Methode bleibt aber das Problem bestehen, dass mehrere Wahrnehmungen, die ein bestimmtes Urteil belegen, es zwar wahrscheinlich machen, dass diese Wahrnehmungen den Gegenstand so darstellen, wie er ist – und das Urteil damit wahr ist. Sicher kann dies aber nie festgestellt werden, da zu diesem Zweck der Entstehungsprozess jeder dieser Wahrnehmungen betrachtet werden müsste. Dies ist nicht möglich, denn selbst wenn Atome betrachtet werden könnten, hätte eine Beobachtung des Prozesses doch wieder nur Wahrnehmungen der Atome zu Folge, bezüglich derer wieder die Frage gestellt werden kann, ob sie ihren Gegenstand so darstellen, wie er ist. Wahrnehmungen können für Epikur also nur in einem relativen Sinn Kriterien für Wahrheit sein: Sie können eine Meinung wahrscheinlich machen, indem diese Meinung von verschiedenen Wahrnehmungen gestützt wird. Doch „no amount of testing can guarantee that a belief is true“.12 Diese Interpretation Epikurs hat also die systematische Folge, dass es zwar wahre Meinung gibt, nämlich dann, wenn diese Meinung auf einer Wahrnehmung gründet, die durch einen „korrekten“ Strom von Atombündeln hervorgerufen wurde. Es ist aber für uns anhand unserer Wahrnehmung nicht sicher feststellbar, ob eine bestimmte Meinung wahr ist. Entgegen dieser Auffassung davon, wie wir Meinungen begründen können, gehen die Stoiker davon aus, dass Gewissheit über die Wahrheit von Überzeugungen möglich, wenn auch schwierig zu erreichen ist. Auch die Stoiker sehen die Wahrnehmung als Kriterium für Wahrheit an, allerdings sind der stoischen Erkenntnistheorie zufolge nicht alle Wahrnehmungen gleichwertig. Stattdessen gibt es Eindrücke, nämlich die sogenannten „erfassenden Eindrücke“ (phantasiai kataleptikai, cognitive impressions), deren Wahrheit garantiert ist, die wir als wahr erkennen können, und die uns somit auch Urteile ermöglichen, über deren Wahrheit wir uns gewiss sein können. Ein erfassender Eindruck wird in der Beschreibung von Diogenes Laertius folgendermaßen charakterisiert: „Es gebe die erfassende Vorstellung, die sie als Kriterium der Tatsachen bezeichnen, weil sie von einem Vorhandenen herrührt und ihm entsprechend abgesiegelt und abgeformt ist. Und es gibt die nicht erfassende Vorstellung, die von keinem Vorhandenem herrührt oder nicht entsprechend ist und also kein exakter Abdruck ist.“ (D.L. VII, 46)
Es lassen sich also zunächst zwei Bedingungen für einen erfassenden Eindruck festlegen: Erstens muss der Eindruck von etwas stammen, das vorhanden ist, das also existiert. Zweitens muss er diesem Existierenden entsprechen. Die erste Bedingung legt erstens fest, dass einem erfassenden Eindruck in der Welt etwas entsprechen muss, und sorgt zweitens dafür, dass nicht auch eine Vorstellung als eine erfassende bezeichnet werden kann, die zwar einem Gegenstand entspricht, deren Entstehung aber unabhängig von diesem Gegenstand stattgefunden hat. Selbst wenn also ein Eindruck etwas so darstellt, wie es ist, die zweite Be12 Asmis 1999, 285
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dingung also erfüllt ist, kann nicht von einem erfassenden Eindruck gesprochen werden, wenn seine Entstehung nicht mit dem Dargestellten in Verbindung steht. Stelle ich mir also vor, dass mein Schlüsselbund auf dem Tisch liegt, ohne ihn dort gesehen zu haben, ist dies kein erfassender Eindruck, unabhängig davon, ob der Schlüsselbund tatsächlich genau so auf dem Tisch liegt, wie ich es mir vorgestellt habe. Ein erfassender Eindruck muss also nicht nur von etwas handeln, das existiert, sondern auch von diesem Existierenden herrühren, das heißt ausgelöst worden sein. Offen bleibt allerdings nach dieser Beschreibung, welcher Art der Zusammenhang zwischen Objekt und Eindruck sein soll und wie eng er sein muss, damit von einer erfassenden Vorstellung gesprochen werden kann. Die zweite Bedingung nun stellt sicher, dass der Eindruck nicht nur durch etwas Existierendes entsteht, sondern dass er dieses auch korrekt abbildet. Aus der Beschreibung der nicht-erfassenden Vorstellung, die im Gegensatz zur erfassenden als nicht „exakt“ charakterisiert wird, lässt sich schließen, dass diese Darstellung nicht nur eine korrekte, sondern auch eine genaue zu sein hat. Nicht nur, könnte man also denken, müssen die Eigenschaften, die der Eindruck anzeigt, dem Objekt auch zukommen, sondern der Eindruck muss auch alle (zumindest alle sinnlich wahrnehmbaren) Eigenschaften des Objekts anzeigen.13 Diese Forderung scheint allerdings zu stark zu sein: Denn ein sinnlicher Eindruck kann nie alle Eigenschaften eines Objekts abbilden, sondern höchstens die Eigenschaften, die einem bestimmen Sinn zugänglich sind. Aber selbst mit einer solchen Einschränkung scheint die Bedingung einer exakten Darstellung noch über das Ziel hinauszuschießen, da ein Sinn auch nicht in der Lage ist, alle ihm zugänglichen Eigenschaften genau abzubilden. Ein Sinn liefert nie eine perfekte Repräsentation eines Objekts, sondern es gibt immer Eigenschaften, die erst bei einer näheren Betrachtung, z.B. genauerem Hinsehen, erkannt werden. Das Objekt wird also immer Eigenschaften haben, die in einer sinnlichen Vorstellung nicht repräsentiert sind. Aus diesem Grund schlägt Michael Frede vor, unter einer genauen Darstellung eine solche zu verstehen, die alle Eigenschaften des Objekts enthält, die relevant dafür sind, das Objekt zu individuieren.14 Ein erfassender Eindruck stellt also nicht alle Eigenschaften eines Objekts genau dar, wohl aber all die Eigenschaften, die sein Objekt im Vergleich zu anderen Objekten auszeichnen. Nun scheinen die Eigenschaften, die ein Objekt auszeichnen, von Situation zu Situation zu variieren. Zwischen vielen Rubinen reicht es, einen Saphir als blau wahrzunehmen, um ihn zu identifizieren. Suche ich aber einen bestimmten Saphir 13 Diese Interpretation findet sich zum Beispiel bei Sextus Adversos Mathematicos 7,251: „Denn wie die Bildhauer den Vergleich mit allen Teilen dessen, was sie ausführen, vornehmen, und wie die Siegel von Siegelringen immer alle Merkmale genau in das Wachs einkneten, so müssen sich auch diejenigen, welche die Erfassung des Zugrundeliegenden vornehmen, auf alle seine Eigentümlichkeiten richten.“ 14 Frede 1999, 306: „[...] with a cognitive impression, the object is faithfully represented in all its characteristic and relevant detail. With a proper seal we do not expect each and every feature of the seal-ring to be captured in the seal-wax, but we do expect the characteristic and identifying features to be fully stamped in. Without this we would still have an imprint of the seal-ring, but not a seal which left no room for doubt as to its identity.“
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zwischen mehreren Saphiren, werden andere Eigenschaften für die Individuation relevant. Dies zeigt, dass ein erfassender Eindruck nicht einfach die Repräsentation eines Gegenstands, zum Beispiel eines blauen Edelsteins, sein kann; sondern dass der Stein als im Besitz bestimmter Eigenschaften wahrgenommen werden muss. Denn nur wenn der Gegenstand als Träger bestimmter Eigenschaften begriffen wird, ist es möglich, mal die eine und mal die andere Eigenschaft als relevant anzusehen.15 Daraus folgt, wie wir bei der Diskussion der Prolepsen sehen werden, dass wir bei der Bildung erfassender Eindrücke nicht wie bei der epikureischen Wahrnehmungen passiv bleiben, sondern dass der Verstand bei ihrer Entstehung involviert sein muss.16 Die Wahrheit eines erfassenden Eindrucks ist also dadurch garantiert, dass er erstens von etwas handelt, das es tatsächlich gibt, dass zweitens seine Entstehung durch sein Objekt veranlasst war, und dass er drittens sein Objekt korrekt darstellt. Und tatsächlich scheint es, dass kein Eindruck, der diese Bedingungen erfüllt, falsch sein kann. Allerdings ist durch diese Charakterisierung nicht ausgeschlossen, dass ich zufällig eine solche Repräsentation bilde. Ein tatsächlich erfassender Eindruck zeichnet sich also dadurch aus, dass er sein Objekt so darstellt, dass es eindeutig individuiert werden kann. Eine zufällig wahre Repräsentation ist damit ausgeschlossen, da der Eindruck sich eindeutig auf diesen Gegenstand mit bestimmten, klar dargestellten Eigenschaften bezieht. Nun soll aber nicht nur behauptet werden, dass wir Eindrücke haben, die diese Bedingungen erfüllen. Denn damit erfassende Eindrücke als Kriterien der Wahrheit dienen können, muss auch gezeigt werden, dass wir zwischen erfassenden und nicht-erfassenden Eindrücken unterscheiden können. Nur so kann sichergestellt werden, dass nur erfassende Eindrücke zur Überprüfung von Urteilen herangezogen werden. Die Stoiker waren nun der Auffassung, dass es grundsätzlich möglich ist, eine solche Unterscheidung zu fällen, und begründeten dies folgendermaßen.17 Auch Kinder haben – obwohl sie ohne Verstand sind, der bei der Bildung erfassender Eindrücke eine Rolle spielt – erfassende Eindrücke in einem schwächeren Sinn. Sie haben außerdem eine natürliche Disposition, sich nach diesen Eindrücken zu richten. Das heißt, obwohl sie noch keine Urteile fällen, die diesen Eindrücken zustimmen, scheinen sie sie doch in gewissem Sinn für verlässlich zu halten. Aufgrund dieser ersten erfassenden Eindrücke bilden Kinder erste Begriffe, die sogenannten Prolepsen oder Vorbegriffe.18 Daran, dass alle Menschen, die in gleicher Umgebung leben, die gleichen Vorbegriffe bilden, zeigt sich der stoischen Theorie zufolge, dass auch alle grundsätzlich den gleichen Eindrücken zustimmen. Es gibt also eine grundsätzliche Disposition, erfassenden Eindrücken zuzustimmen, gerade weil sie ihre Objekte auf so genaue Weise darstellen. 15 Dementsprechend charakterisiert Frede 1999, 302ff erfassende Eindrücke nicht als Repräsentationen von Gegenständen, sondern von Tatsachen und damit als Eindrücke mit propositionaler Struktur. Und dann gilt: „[...] standardly, [...], a cognitive impression will accord with the fact by representing this book and by representing it as being green.“ (Frede 1999, 305) 16 Vgl. Frede 1999, 307. 17 Siehe für diese Interpretation der stoischen Theorie Frede 1999, 314ff. 18 Siehe unten, S.37
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Diese Disposition ist allerdings nicht unfehlbar, und so werden auch falsche Urteile gebildet. Diese wiederum führen dazu, dass mehr erfassenden Eindrücken nicht zugestimmt wird, da sie aufgrund der falschen Urteile für falsch gehalten werden. Damit wird die Unterscheidung zwischen erfassenden und nichterfassenden Eindrücken erschwert, und sie erfordert damit eine große Aufmerksamkeit und ein ständiges Überprüfen aller Eindrücke und Urteile. Dennoch, so die Stoiker, ist es durch die natürlich gegebene Disposition und die Überprüfung von Urteilen und Eindrücken grundsätzlich möglich, einen Zustand zu erreichen, in dem man nur noch erfassenden Eindrücken zustimmt und damit nur wahre Urteile fällt. 2.1.2 Prolepsen Wie schon erwähnt gibt es sowohl in der epikureischen als auch in der stoischen Theorie neben Wahrnehmungen die sogenannten Prolepsen. Epikureische Prolepsen sind nach Diogenes Laertius Begriffe, die wir aus der wiederholten Wahrnehmung eines oder mehrerer Gegenstände und aus Erinnerungen an diese Wahrnehmungen bilden (D.L. X.33). Sie werden folgendermaßen beschrieben: „Als Prolepse bezeichnen sie so etwas wie Erfassung oder wahre Meinung oder Begriff oder einen [in uns] abgespeicherten, allgemeinen Gedanken, d.h. ein Erinnerungsbild dessen, was sich häufig von außen her zeigt. Z.B. der Satz „Solches ist ein Mensch.“; Zugleich mit dem Wort Mensch wird durch die Prolepse sofort auch sein Typus gedacht, sofern entsprechende Wahrnehmungen vorausgegangen sind. Das jedem Wort erstrangig zugeordnete ist evident. Auch könnten wir ein Problem ohne vorige Kenntnis des Problems gar nicht untersuchen; z.B. um zu entscheiden, ob das da in der Ferne ein Pferd oder eine Kuh ist, muss man zuvor die Gestalt eines Pferdes oder einer Kuh durch die Prolepse kennen. Wir können nicht einmal etwas benennen, dessen Typus wir nicht vorher durch die Prolepse erfasst haben.“ (D.L., X.33)
Und vorher: „Denn alle Begriffe entstehen aus den Wahrnehmungen, und zwar durch Erfahrungspraxis, Analogie, Ähnlichkeit und Kombination, wobei eben Denken hinzukommt.“ (D.L., X.32)
Die Prolepse eines bestimmten Gegenstands wird also gebildet, wenn dieser Gegenstand wiederholt wahrgenommen wird – ich bilde die Prolepse eines bestimmten Menschen aus meinen verschiedenen Wahrnehmungen dieses Menschen, meiner Erfahrungspraxis. Die Prolepse des Menschen allgemein wird dagegen aus meinen Wahrnehmungen verschiedener Menschen gebildet, dadurch, dass diese sich in gewisser Weise ähnlich sind. Diogenes zufolge sind die epikureischen Prolepsen zum einen evident, das heißt sie sind wie die sinnlichen Wahrnehmungen wahr im Sinn von wirklich. Es wird in ihnen also nicht geurteilt und keine Meinung zum Ausdruck gebracht. Außerdem sind sie notwendig dafür, dass wir einen Gegenstand als unter eine bestimmte Art fallend wahrnehmen können. Es ist zwar möglich, ohne die Prolepse des Pferds ein Pferd wahrzunehmen – aber eben nicht als Pferd. Die Prolepse ist also die Vorstellung eines Typs von Gegenstand, im Gegensatz zur Vorstellung eines einzelnen Gegenstands, die es mir erlaubt, die Dinge als Dinge wahrzuneh-
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men, die unter diesen Typ fallen. Dementsprechend ist es nicht möglich, ohne Prolepse die Aussage zu treffen oder zu verstehen, dass ein Gegenstand unter einen bestimmten Typ fällt: Wenn ohne die Prolepse „Mensch“ der Mensch nicht als Mensch wahrgenommen werden kann, kann auch nicht die Aussage getroffen (oder verstanden) werden, dass etwas ein Mensch ist. Die Funktion der Prolepsen besteht also in zweierlei. Zum einen ermöglichen sie es uns, eine gewisse Ordnung in unseren Wahrnehmungen zu schaffen und diese unter Typen zu ordnen. Zum anderen können wir durch sie, auf Grundlage der ersten Funktion, Urteile über die einzelnen Gegenstände fällen. In der Literatur ist nun umstritten, ob diese Vorstellungen bei Epikur aus einer Handlung des Verstandes entstehen oder ob sie selbst rein sinnliche Vorstellungen sind, ohne dass eine aktive Rolle des Verstandes bei ihrer Entstehung und Verwendung nötig wäre.19 Dies ist von Bedeutung in Bezug auf die Frage, welche Art von Vorstellung Prolepsen genau sind und wie sie die eben dargestellten Funktionen erfüllen können. Die Seele und der Verstand waren Epikur zufolge körperlich, das heißt atomarer Struktur; die Seele verteilte sich im ganzen Körper, während der Verstand seinen Sitz im Herzen hatte.20 Dem Verstand soll aber dennoch eine gewisse Autarkie zukommen, sodass nicht alles, was im Verstand geschieht, auch eine Veränderung im Körper hervorruft. Dies wird dadurch gewährleistet, dass im Sitz des Verstandes dessen Atome nicht mit Körper-Atomen vermischt sind, während die Atome der Seele dadurch, dass diese sich über den ganzen Körper verteilt, nie unvermischt auftreten, und somit Tätigkeiten der Seele auch immer mit Tätigkeiten des Körpers einhergehen.21 Dennoch ist der Verstand in seiner Funktion vom Körper und von den Sinnen abhängig. Er arbeitet mit dem, was die Sinne aufnehmen, und kann darüber Urteile fällen. Und er benötigt diese Eindrücke, um überhaupt etwas tun zu können. Ohne die Wahrnehmung kann der Verstand nicht arbeiten. Insofern lässt sich also sagen, dass die Prolepsen in jedem Fall von den Wahrnehmungen abhängen. Die Frage ist aber, wie eng diese Verbindung ist, und inwiefern an den Prolepsen Urteile überprüft werden können, inwiefern sie also eigenständige Kriterien für Wahrheit sind. Es soll hier nicht versucht werden, diese Frage abschließend zu beantworten – eine genauere Betrachtung der unterschiedlichen Interpretationen wird aber für ein Verständnis von Gassendis Theorie hilfreich sein. Wie kann also die Entstehung von Prolepsen erklärt werden? Unter der ersten Interpretation ergeben sich diese Vorstellungen auf natürliche Weise und ohne dass der Geist aktiv wird. Einem Tier, das sich vor allen Menschen fürchtet, weil es von einem Menschen schlecht behandelt wird, würden wir zusprechen, dass es eine allgemeine Vorstellung des Menschen hat, die es ihm erlaubt, auf Menschen in bestimmter Weise zu reagieren. Dennoch würden wir ihm wohl keine begriffliche 19 Die erste Auffassung vertritt zum Beispiel Jürß 1991, 84ff. Für die zweite Auffassung siehe zum Beispiel Glidden 1985 und Rist 1972, 28f. 20 Vgl. Jürß 1991, 20. 21 Vgl. Jürß 1991, 13.
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Vorstellung zuschreiben; vielmehr scheint es plausibel, dass sich in einem solchen Fall eine allgemeine Vorstellung automatisch, durch Assoziation bildet. Auf diese Weise sollen Prolepsen unter David Gliddens Epikur-Interpretation nun auch beim Menschen verstanden werden.22 Die Struktur, die wir unseren Wahrnehmungen geben und unter der wir die Wahrnehmung ordnen, läge bei dieser Interpretation in der Welt selbst. Die Prolepsen beinhalteten dann keine Aktivität des Erkenntnissubjekts, sondern entstünden ohne dessen Zutun, auf die gleiche Weise wir die einzelnen Wahrnehmungen. Für diese Lesart spricht, dass Prolepsen von Diogenes Laertius als „evident“ bezeichnet werden. Das können sie nur sein, wenn sie passiv aufgenommen werden und damit die Möglichkeit eines Irrtums ausgeschlossen ist. Allerdings ist fraglich, ob eine solche Vorstellung uns tatsächlich in die Lage versetzt, etwas als etwas, also ein Pferd wie von Diogenes Laertius beschrieben als Pferd wahrzunehmen. Zwar können Tiere aufgrund von Erfahrung in bestimmter Weise auf einen Gegenstand reagieren, sie können also Reiz-Reaktions-Muster ausbilden. Dies beinhaltet aber nicht, dass sie den Gegenstand auch als ein Ding mit bestimmten Eigenschaften, also als etwas, erkennen. Vielmehr würden wir einem Tier wohl Zweites gerade nicht zusprechen. Auch sind Vorstellungen dieser Art wahrscheinlich notwendig dafür, dass wir schließlich Probleme untersuchen und Gegenstände benennen können. Sie sind aber nicht hinreichend für diese Tätigkeiten. Prolepsen unter dieser Interpretation würden uns also nicht in die Lage versetzen, diese Tätigkeiten tatsächlich auszuführen. Dies schließt nicht aus, dass diese Interpretation Epikurs tatsächliche Position korrekt wiedergibt. Allerdings könnten in diesem Fall Prolepsen nicht die Funktion erfüllen, die ihnen zugeschrieben werden, sodass die Theorie in diesem Fall nicht überzeugen könnte. Unter der anderen Interpretation stellt sich dies anders dar. Werden zum Beispiel mehrere Wahrnehmungen von Menschen miteinander verglichen und die Prolepse „Mensch“ gebildet, findet dieser Vergleich dann dadurch statt, dass der Geist sich den Wahrnehmungen zuwendet und feststellt, dass sie sich in gewisser Hinsicht ähneln; daraufhin bildet er einen Begriff, der diese gemeinsamen Eigenschaften mit einschließt. Die Prolepse ist hier also etwas, das der Geist von außen an die Wahrnehmungen heranträgt, eine Ordnung, unter die er sie von sich aus bringt, und die schon in den Dingen selbst liegt. Für diese Lesart spricht die Verwendung des Worts „Begriff“, der laut Diogenes Laertius’ Beschreibung einem Wort wohl als Bedeutung zugeordnet ist. Auch die Formulierung, dass die Prolepsen aus Wahrnehmungen entstehen, wobei „Denken“ hinzukommt, macht diese Interpretation naheliegend. Die Prolepse in unserem Beispiel wäre dann also die Bedeutung des Wortes „Mensch“ und eine Definition dessen, was ein Mensch ist.23 Die Aussage, dass Prolepsen „ein Erinnerungsbild dessen [sind], was sich häufig von außen her zeigt“ (D.L., X.33), ist unter der ersten Interpretation als eine ontologische Behauptung zu verstehen, sodass eine Prolepse zu haben in nichts anderem besteht als darin, bestimmte Muster wahrzunehmen. Prolepsen wären 22 Vgl. z.B. Glidden 1985, 195f. 23 Siehe zur Prolepse als Definition Jürß 1991, 93.
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dann keine eigenständigen Begriffe, die aus den Wahrnehmungen abgeleitet werden, sondern bestünden bloß in einem Erfassen der Tatsache, dass bestimmte Eigenschaften an bestimmten Gegenständen regelmäßig auftreten. Unter der zweiten Interpretation wäre die Aussage als Explizierung der Entstehung von Prolepsen aufzufassen. Es würde also behauptet, dass Prolepsen durch wiederholte Wahrnehmung entstehen, sie wären aber selbst Begriffe mit eigenständigem Inhalt.24 25 In beiden Fällen aber sind die Prolepsen Kriterien der Wahrheit, indem sie zwischen den Urteilen, die wir fällen, und den einzelnen Wahrnehmungen vermitteln. Ein allgemeines Urteil kann nicht direkt an den einzelnen Wahrnehmungen überprüft werden. Da wir aber in den Prolepsen allgemeine Vorstellungen haben, die aus den Wahrnehmungen mehr oder weniger direkt gewonnen werden, können wir anhand ihrer unsere allgemeinen Urteile auf die Wahrnehmung beziehen. Da die Wahrnehmung unter der oben vorgeschlagenen Epikur-Interpretation nur in einem relativen Sinn ein Kriterium für Wahrheit ist, können auch die Prolepsen, die ja aus Wahrnehmungen gewonnen werden, keine Wahrheit garantieren. Es könnte sein, dass im Fall aller Wahrnehmungen, die zur Bildung er Prolepse „Mensch“ geführt haben, ein Strom an Atombündeln die Ursache war, der nicht mehr die Form des Gegenstands hatte. Dann kann auch die Prolepse den Gegenstand nicht korrekt repräsentieren und so falsche Urteile begründen. Wie im Fall der Wahrnehmung ist dies aber für uns nicht feststellbar. Die zweite Interpretation des Begriffs „Prolepse“ bei Epikur wird von Glidden als die stoische Theorie identifiziert.26 Und tatsächlich findet sich bei Diogenes Laertius eine Beschreibung der Entstehung stoischer Begriffe, die der epikureischen entspricht: „Denn die Denkformen werden erdacht einmal durch die Erfahrungspraxis, dann durch Ähnlichkeit oder durch Analogie oder durch Umstellung, durch Synthese oder durch Opposition. Durch Erfahrungspraxis werden also die Begriffe für Wahrnehmbares erdacht; durch Ähnlichkeit aufgrund irgendeines vorliegenden Gegenstandes wie [der Begriff von] Sokrates aufgrund seines Bildnisses; durch Analogie mittels Vergrößerung etwas der Tityos und Kyklops, mittels Verkleinerung etwa der Pygmäe. Auch das Erdzentrum wird gedacht in Analogie zu kleinen Kugeln. Durch Umstellung etwa entsteht der Begriff eines Wesens mit Augen auf der Brust; durch Synthese wird der Kentaur erdacht; und durch Opposition der Tod. Einiges wird konzipiert durch Übergang wie die Lekta und der Raum. Ganz natürlich werden Begriffe wie gerecht und gut gedacht; auch durch Privation wie ‚handlos‘.“ (D.L. VII.52/53)
Allerdings werden stoische Prolepsen – bzw. Vorbegriffe in der stoischen Theorie – bei Diogenes Laertius auch als solche beschrieben, die „natürlich“ (D.L. VII.54) entstehen. Solche Aussagen rücken die stoische Theorie von Prolepsen an unsere 24 Vgl. zu dieser Unterscheidung Glidden 1985, 180f. Es ist allerdings fraglich, ob ein solches Wahrnehmen von Mustern tatsächlich, wie Glidden meint, ein Erkennen dieser Muster mit einschließt. 25 Auf diese Weise scheint Diogenes Laertius den Begriff interpretiert zu haben. Generell wird behauptet, dass der Begriff der Prolepse bei Epikur und in der Stoa in der gleichen Bedeutung verwendet wird. Dies bestreitet Glidden 1985. 26 Vgl. Glidden 1988, 413.
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2 Epikureische und stoische Erkenntnistheorie
erste Interpretation epikureischer Prolepsen, der zufolge wir bei der Bildung von Prolepsen wie auch bei der epikureischer Wahrnehmungen völlig passiv sind. Im Fall stoischer Prolepsen findet sich also die gleiche Ambiguität wie in der epikureischen Theorie. 2.2 THEORETISCHE BEGRIFFE UND THEORETISCHES WISSEN Um Erkenntnis zu gewinnen, können wir natürlich nicht bei evidenten Wahrnehmungen und Vorbegriffen stehen bleiben – wir müssen uns eine Meinung bilden, die nicht mehr evident ist, sondern einer Bestätigung bedarf. Diese Meinung drückt sich in Urteilsform aus, und um bestimmte Urteile fällen zu können, benötigen wir, auch wenn Prolepsen selbst schon Begriffe sind, Begriffe, die nicht direkt aus dem sinnlich Gegebenen abgeleitet werden können. So entwickelt Epikur eine atomistische Theorie, wobei doch der Begriff des Atoms selbst nicht aus der Wahrnehmung allein gewonnen werden kann, da Atome nicht zu den von uns wahrnehmbaren Gegenständen gehören. Aus den mehr oder weniger direkt gegebenen Wahrnehmungen und Prolepsen leiten wir also weitere, theoretische Begriffe ab und bilden auch mit ihrer Hilfe Urteile über die Welt. Diese Begriffe beziehen sich nicht auf Gegenstände, die wir sinnlich wahrnehmen können, ihr Inhalt kann also nicht durch Wahrnehmung festgelegt sein. Stattdessen muss er durch eine Definition bestimmt sein, in der ausgesagt wird, welche Eigenschaften ein Gegenstand erfüllen muss, damit er unter diesen Begriff fällt. Diese Definition kann völlig unabhängig davon erfolgen, ob es einen solchen Gegenstand gibt. Auch für empirische Begriffe können wir eine solche Definition entwickeln. Unter dem ersten Verständnis von Prolepse müssten wir für eine solche Liste von Eigenschaften über die Prolepse hinausgehen, indem wir das analysieren, was wir sinnlich wahrgenommen haben. Unter dem zweiten Verständnis wären die Prolepsen selbst schon solche Begriffe, das heißt Definitionen, die notwendige und hinreichende Eigenschaften angeben. In beiden Fällen beruht aber der Inhalt dieser Definition auf Wahrnehmungen der Gegenstände, auf die sich der Begriff bezieht, und ist damit nicht unabhängig davon, ob und in welcher Weise Gegenstände in der Welt existieren. Er wird vielmehr dadurch bestimmt, welche Eigenschaften wir an den Gegenständen wahrnehmen.27 Wodurch werden nun Urteile wahr? Im Fall eines Urteils, das nur empirische Begriffe enthält, wenden wir uns den Wahrnehmungen und (gegebenenfalls) den Prolepsen zu, und überprüfen, ob das Urteil ihnen entspricht. Im Fall eines Urteils, das auch theoretische Begriffe enthält, gibt es aber keine Wahrnehmungen, anhand derer das Urteil überprüft werden kann, da zumindest ein Teil der verwendeten Begriffe ja von Gegenständen handeln, die wir nicht sinnlich wahrnehmen können. Ein Urteil wie „Dieser Tisch besteht aus Atomen“ kann also weder direkt durch 27 Epikur lehnt eine Untersuchung und Analyse von empirischen Begriffen als Methode ab, wenn es darum geht, Erkenntnis über die Welt zu gewinnen. Auf welche Art und Weise wir die Wörter gebrauchen, gibt keinen Aufschluss darüber, wie die Welt beschaffen ist (vgl. D.L. X.31).
2.2 Theoretische Begriffe und theoretisches Wissen
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eine Wahrnehmung des Tischs, noch von Atomen gerechtfertigt werden. Dennoch haben wir eine Möglichkeit, die Wahrheit eines solchen Urteils zu überprüfen, und zwar indem wir von etwas Evidentem, das heißt in der Wahrnehmung gegebenen, auf etwas Nicht-Evidentes schließen, also auf etwas, das wir nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen können.28 Laut Epikur ist es also möglich, von der Wahrnehmung, dass etwas der Fall ist, darauf zu schließen, dass etwas anderes der Fall sein muss: „Wenn Epikur sagt, es gebe Leeres, das ja verborgen ist, und dies mit einer evidenten Sache belegt, der Bewegung. Denn wenn es Leeres nicht gibt, sollte es auch die Bewegung nicht geben, da der bewegte Körper keinen Ort hat, an den er übergeht, weil alles voll und kompakt ist.“ (Sextus Empiricus, Adversos Mathematicos, 7, 213)
Theoretische Urteile werden also indirekt von empirischen Urteilen gestützt, wenn diese die Annahme weiterer, nicht zu beobachtender Tatsachen nötig machen. Von der Behauptung, dass sich ein Gegenstand bewegt, kann ich laut Epikur darauf schließen, dass es leeren Raum geben muss, da leerer Raum eine Bedingung der Möglichkeit von Bewegung ist. Obwohl also der leere Raum nicht wahrnehmbar ist und das Urteil damit nicht direkt durch etwas Evidentes gerechtfertigt werden kann, kann die Rechtfertigung indirekt durch ein anderes evidentes Urteil erfolgen. Eine Argumentation, durch die man von etwas Evidentem zu etwas NichtEvidentem kommt, kann also als Schluss von einem Zeichen gedeutet werden: Die Wahrnehmung, dass es Bewegung gibt, zeigt an, dass es auch den leeren Raum geben muss.29 Epikur zufolge erlangen wir also über Wahrnehmungen und Prolepsen Wissen über die einzelnen Gegenstände und ihre Eigenschaften, indem diese Vorstellungen Urteile begründen. Zwar gibt es keine Wahrnehmung, die als Grundlage für Urteile ausgezeichnet wäre, sondern alle Wahrnehmungen stehen auf einer Stufe. Dennoch ist Epikur der Meinung, dass wir zwischen widersprüchlichen Urteilen durch Rekurs auf die Wahrnehmung entscheiden können. Auch theoretische Urteile erhalten ihre Rechtfertigung durch Wahrnehmung, allerdings indirekt, sodass eine Wahrnehmung als Zeichen für die Existenz bestimmter Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften dient.
28 Vgl. Sextus Empiricus, Adversos Mathematicos, 7, 213. 29 Detel 1978, 39ff sieht in Epikurs Theorie des Schlusses aus einem Zeichen den Versuch, theoretische Urteile aus empirischen zu deduzieren, sodass das theoretische Urteil aus dem empirischen logisch folgt. Allen 2001 dagegen schreibt Epikur eine wesentlich analogische Vorgehensweise zu, die auf Induktion beruht (Allen 2001, 195ff).
3 ERKENNTNISTHEORETISCHE GRUNDLAGEN BEI GASSENDI In Gassendis antiken Quellen geht der Erkenntnisprozess also von der Wahrnehmung zu Begriffen und schließlich zu Urteilen. Dabei gehen sowohl Epikur als auch die Stoiker davon aus, dass sich vor den ersten Sinneseindrücken nichts im Geist findet. Diese Annahme teilen sie mit Gassendi (I.92b), in diesem Sinn kann Gassendi also als Empirist verstanden werden und ist auf die Position festgelegt, dass all unsere Erkenntnis auf Sinneseindrücken beruht und aus ihnen zu erklären ist. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Vorstellungen, die in Gassendis Theorie für Erkenntnis notwendig sind. Die grundsätzlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Arten von Vorstellungen werden nach dieser Darstellung und Interpretation von Gassendis Aussagen feststehen: Propositionen sind Urteile und werden aus Ideen gebildet, die als allgemeine Vorstellungen aufgefasst werden müssen und selbst wiederum auf species, das heißt Sinneseindrücken, beruhen. Species stellen damit aufgrund von Gassendis Aussage, dass die Sinne der Ursprung aller Inhalte des Geistes sind, die Grundlage für jegliches Wissen dar. Damit wird der Übergang von species, einzelnen sinnlichen Eindrücken, zu Ideen, allgemeinen Repräsentationen von Gegenständen, entscheidend dafür, ob und wie sie diese Funktion erfüllen können. Diese Frage wird uns im vierten Kapitel beschäftigen. An dieser Stelle sollen als Grundlage für diese Untersuchung die wesentlichen Eigenschaften der verschiedenen Arten von Vorstellungen herausgearbeitet werden. Denn nur wenn klar ist, was species und Ideen für Gassendi genau sind, kann die Frage beantwortet werden, wie die eine Vorstellung aus der anderen entsteht.
3.1 PROPOSITIONEN1 Urteile bzw. Propositionen werden in Teil II der Institutio Logica, der Logik in Gassendis Spätwerk Syntagma philosophicum, eingeführt, nach der Beschreibung der Ideen. Gassendi zufolge ist eine Proposition eine komplexe Vorstellung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie eine propositionale Einstellung, über die Vorstellungen von Gegenständen hinaus, beinhaltet. Gassendi hat zu Propositionen zunächst folgendes zu sagen: „Im Folgenden werden wir über die Proposition bzw. die Aussage sprechen, bei welcher wir uns nicht nur irgendein Ding in einfacher Weise vorstellen und gleichsam nackt sehen, sondern auch irgendein Urteil über es, entweder als Behauptung oder als Verneinung, fällen. Dies ge-
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Dieser Abschnitt und die zwei folgenden (3.2 Ideen als Bilder und Definitionen, 3.3 Species) sind eine Ausarbeitung meiner Darstellung von Gassendis Ideentheorie und ihren Grundlagen und Folgen in Seidl 2010.
3.1 Propositionen
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schieht, wenn der Geist bei Beachtung der mannigfaltigen Ideen, über die er verfügt, die miteinander übereinstimmenden durch Behauptung verbindet und die nicht miteinander übereinstimmenden durch Verneinung trennt; so bildet er aus einfachen Vorstellungen eine zusammengesetzte.“2 (I.99a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl) „Jede Proposition ist im Allgemeinen entweder eine Behauptung oder eine Verneinung. Bekanntlich kommen Behauptung und Verneinung zustande, indem man das Verb ist oder (durch Hinzufügung des negativen Partikels) ist nicht einführt, wie wenn man sagt: Sokrates ist weise; Gerechtigkeit ist kein Laster. Demgemäß muss angemerkt werden: Das Wort, das dem Verb voransteht, wird Subjekt genannt, als sei das etwas, was anderem zugrunde gelegt werde: wie Sokrates und Gerechtigkeit in den eben angeführten Propositionen. Das Wort, das ,dem Verb‘ folgt, wird Attribut oder Prädikat genannt, als sei das etwas, was anderem zugeschrieben oder von anderem prädiziert, d.h. ausgesagt werde: wie weise und Laster in unseren Bespielen.“3 (I.99b/100a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Wie gesagt findet sich dieses Zitat in der Institutio logica, es ist damit auf den Zweck dieser Abhandlung zugeschnitten. Die Institutio logica soll Gassendi zufolge, wie alle Logik, die „Kunst des guten Denkens“ (ars bene cogitandi, I.91a) beschreiben. Es soll also ein System entwickelt werden, das gutes Denken ermöglicht – wobei gutes Denken wiederum darin besteht, dass man wahre Überzeugungen bildet und gültige Schlussfolgerungen zieht. Folgt man also den in der Institutio logica aufgestellten Regeln, soll sich der Irrtum auf ein Minimum reduzieren. In den Exercitationes paradoxicae wendet sich Gassendi noch ausführlich gegen den aristotelischen Syllogismus als Methode zum Wissensgewinn (z.B. III.190a/b). Wie Saul Fisher in Pierre Gassendi’s Philosophy and Science argumentiert, übernimmt Gassendi in der Institutio logica allerdings die Regeln des aristotelischen Syllogismus, wie sie in der Renaissance ausgearbeitet wurden.4 Es ist davon auszugehen, dass Gassendis Hauptkritikpunkte an der scholastischen Auffassung des Syllogismus bestehen bleiben: durch syllogistische Schlüsse lässt sich sicheres Wissen über das Wesen der Dinge nicht gewinnen (Quod nulla sit scientia, et maxime Aristotelea, III.192a).5 Wenn wir aber akzeptieren, dass unser Wissen bloß wahrscheinlich ist, so ist offenbar Gassendis Auffassung im Syntagma, kann uns der Syllogismus weiterhelfen.
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„Sequitur de Propositione, seu Enunciatione dicamus, qua non iam rem aliquam simpliciter imaginamur, et quasi nude intuemur, sed aliquid etiam de ea aut affirmando, aut negando iudicium interponimus. Id nempe sit, dum mens ad varias, quas habet ideas attendens, eas, quae mutuo congruunt, affirmatione copulat; eas, quae non congruunt, negatione deiungit: sicque ex simplicibus imaginationibus compositam facit.“ (I.99a) „Cum omnis porro propositio aut affirmativa, aut negativa generatim sit, et notum sit affirmationem, negationemque fieri intercedente verbo est, aut (particula negativa adhibita) non est: ut cum dicitur, Socrates est sapiens; iustitia non es vitium, adnotandum est illiud nomen, quod verbum praecedit, vocari subiectum, quasi illud sit, quod alteri subiicitur, ut in propositionibus mox allatis Socrates, et iustitia, quod vero sequitur, attributum, auf praedicatum; quasi illud sit, quod alteri tribuitur, aut de eo praedicatur, hoc est, enunciatur; ut sapiens, et vitium in iisdem exemplis.“ (I.99b/100a) Vgl. Fisher 2005, 89ff. Vgl. Jones 1981, XXIIIf.
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
In Bezug auf „Propositionen“,6 die nach Gassendis Meinung den Ansprüchen des guten Denkens gerecht werden, lässt sich als Erstes feststellen, dass sie aus Ideen gebildet werden, die in einer komplexen Vorstellung verbunden werden.7 Der Akt, der die Verbindung zwischen zwei oder mehr Ideen herstellt, ist das Einnehmen einer propositionalen Einstellung. Die Proposition entsteht also dadurch, dass ich behaupte, dass zwei Ideen inhaltlich übereinstimmen oder eben nicht übereinstimmen. Diese Behauptung macht aus zwei oder mehr einzelnen Ideen eine „zusammengesetzte“ Vorstellung; die propositionale Einstellung ist damit wesentlich für die Entstehung einer Proposition. Wie Frege mit seinem Urteilsstrich8 unterscheidet Gassendi damit einen einfachen Satz von einer Proposition dadurch, dass der Satz, um eine Proposition darzustellen, mit einer bestimmten Behauptung ausgesprochen werden muss. Durch eine Proposition wird damit immer behauptet, dass etwas der Fall ist, bzw. nicht der Fall ist. Wie aus dem obigen Zitat ersichtlich ist, geht es Gassendi bei der Beschreibung von Propositionen um wesentlich sprachliche Urteile. Dies zeigt sich zum einen daran, dass er diese Urteile „Propositionen“, also Sätze, nennt; auch die Einteilung der im Urteil verwendeten Ideen durch grammatikalische Begriffe und die Bedeutung des Worts „ist“ bei der Bildung eines Urteils weisen auf diesen Aspekt hin. Die Behauptung oder Verneinung ist wesentlich für das Zustandekommen einer Proposition – durch sie werden die Ideen zu einer komplexen Vorstellung verbunden. Behauptung und Verneinung wiederum beruhen auf den sprachlichen Ausdrücken „ist“ und „ist nicht“. Damit kann ein Urteil im Sinn einer Proposition, wie sie von Gassendi beschrieben wird, nur sprachlich gebildet werden. Ein solches Urteil muss nicht ausgesprochen werden, sondern kann nach Gassendis Formulierung auch bloß in einem geistigen Zusammenfügen von Ideen bestehen, doch dies geschieht notwendig in sprachlicher Form. Dementsprechend können Gassendi zufolge grammatikalische Begriffe auf die im Urteil vorkommenden Vorstellungen angewendet werden. Der Begriff, der den Gegenstand bezeichnet, von dem etwas ausgesagt werden soll, ist das Subjekt in der Proposition; der, der das bezeichnet, was ausgesagt werden soll, das Prädikat. Damit zeigt sich an Gassendis einführender Beschreibung des Urteils, dass er zumindest menschliches Denken als wesentlich propositional und sprachlich auffasst. Die Kunst des guten Denkens liegt darin, Urteile richtig in Verbindung zu setzen. Urteile sind für Gassendi aber Propositionen, das heißt Sätze, in denen wir Worte, die entweder einen oder mehrere Gegenstände bezeichnen können, zueinander in Beziehung setzen. Den sprachlichen Urteilen, in denen wir Wörter in 6
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Diese Bezeichnung erfolgt in Übereinstimmung mit mittelalterlichen Satz-Theorien, nach denen die Rede (oratio) dann als propositio zu bezeichnen ist, wenn sie in einem Syllogismus verwendet wird (vgl. Perler 1992, 71). Dies ist eben die Art, in der Propositionen in der Institutio logica verwendet werden (siehe Institutio logica, Teil III, I.106). Auch wenn Gassendi sagt, die Ideen würden im Fall einer zustimmenden Proposition verbunden, im Fall einer verneinenden Proposition getrennt, so ist dies zwar bezüglich des Inhalt der Ideen korrekt – es wird aber dennoch in beiden Fällen eine Verbindung zwischen den Ideen, sozusagen materialiter, hergestellt. Frege 1964, 1f
3.1 Propositionen
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Beziehung setzen, entsprechen gedankliche Urteile, in denen wir Vorstellungen zueinander in Beziehung setzen – die Bedeutungen dieser Wörter. Diese propositionale Struktur unseres Denkens ist aber außerdem wesentlich eine prädikative. In einem Urteil, so Gassendi, verbinden wir einen Gegenstand mit einem Prädikat, und subsumieren den Gegenstand unter dieses Prädikat, oder eben nicht. Mit der Annahme dieser prädikativen Struktur unseres Denkens ist Gassendi darauf verpflichtet, Vorstellungen anzunehmen, die es uns erlauben, eine unter die andere zu subsumieren – wie es durch die Verwendung der Kopula „ist“ geschieht. Solche Vorstellungen müssen aber in gewissem Sinn allgemein sein, damit eine Subsumtion möglich wird. Vorstellungen, die in diesem Sinn allgemein sind, sollen im Folgenden Begriffe genannt werden. Gassendis Beschreibung des Urteils verpflichtet ihn also zur Annahme von solchen Begriffen als den Bedeutungen unserer allgemeinen Wörter. 9 Da Gassendi Ideen als die Bestandteile von Urteilen nennt, ist davon auszugehen, dass Ideen eben diese Begriffe sind.10 Wie wir sehen werden, gibt es Ideen, die wesentlich nur von einem Gegenstand handeln, zum Beispiel einer Person oder einem bestimmten Buch, und Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen (I.93a/b). Dennoch scheint es, dass jede Art von Idee sowohl an Subjekt- als auch an Prädikatstelle eines Urteils verwendet werden kann. Auf diese Weise werden durch die Verbindung von Ideen in Propositionen nicht nur allgemeine Urteile wie „Ein Tisch ist kein Stuhl“, sondern auch spezifische Urteile wie „Dieser Tisch ist groß“ oder „Dieser Gegenstand ist mein Schlüsselbund“ möglich. Da es auch Ideen von Eigenschaften gibt, ermöglicht die Verbindung verschiedener Ideen durch eine propositionale Einstellung Urteile über unseren gesamten begrifflich erfassbaren Erfahrungsinhalt. Nun erscheint Gassendis Definition von Propositionen als ziemlich eng, das heißt, sie schließt vieles aus, was wir intuitiv als Satz oder Urteil bezeichnen würden. Dass sich Gassendi hier auf sprachliche Urteile beschränkt, ist nicht unbedingt problematisch. Vielmehr stellt sich die Frage, ob es überzeugt, Proposition auf Sätze in Subjekt-Prädikat-Form mit der Kopula „ist“ (bzw. „ist nicht“) zu beschränken. Dies sind gewiss nicht die einzigen Möglichkeiten, Sätze zu bilden, beziehungsweise zwei oder mehrere Vorstellungen zueinander in Beziehung zu setzen – und dies ist ja das ursprüngliche Kriterium für eine Proposition. Schon die Möglichkeit, dass ein Urteil über mich selbst oder eines über mehrere Personen als Proposition angesehen werden kann, scheint durch Gassendis Beschreibung ausgeschlossen zu sein, da es, wenn es grammatikalisch korrekt gebildet ist, nicht das Wort „ist“ enthalten kann. Auch kompliziertere Sätze, die über die SubjektPrädikat-Form hinausgehen, können nicht als Propositionen bezeichnet werden. Zunächst ist hier zu bemerken, dass sich Gassendi mit dieser Theorie von Propositionen an mittelalterliche Diskussionen anschließt. Denn auch hier wird die 9
Auch Epikur schreibt Gassendi die Annahme solcher Vorstellungen zu, III.10 („Necesse est enim respicere nos ad cuiusque vocis notionem, significationemve primariam [...].“), Glidden 1988, 409f zufolge allerdings zu Unrecht. 10 Vgl. Cho 2004, 36.
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
„wahre Rede“ auf Sätze in Subjekt-Prädikat Form eingeschränkt.11 Auch könnte man zunächst der Meinung sein, dass Gassendi sich hier zu Recht auf die einfachste Form des Urteils beschränkt, und dass alle anderen Formen von Urteilen auf diese Form zurückzuführen sind. Demzufolge müsste es möglich sein, alle Urteile in solche in Subjekt-Prädikat-Form in der dritten Person Singular umzuformen. Nun lässt sich von einem systematischen Standpunkt einwenden, dass dies bezüglich der dritten Person Singular sicherlich möglich ist – Urteile über die eigene Person oder über eine einzelne andere Person können auch immer in Sätze dieser Form umformuliert werden. Urteile über mehrere Personen können in einzelne Urteile über jeweils eine Person umgewandelt werden. Es ist also davon auszugehen, dass ein Urteil, das als Kopula eine Form des Verbs „sein“ enthält, in ein Urteil oder mehrere Urteile umgewandelt werden kann, das das Wort „ist“ enthält, ohne dass sich dadurch die Bedeutung der Aussage ändert.12 Eine solche Forderung scheint auch sinnvoll, da sich der Wahrheitsgehalt einer Aussage, die Indexikalia wie „ich“ enthält, verändern kann, je nachdem wer diese Aussage trifft. Dies ist bezüglich Aussagen, die eine eindeutige Identifizierung des Subjekts ermöglichen und damit in der dritten Person formuliert sind, nicht der Fall. Allerdings scheint erstens fraglich, ob alle Sätze in solche umgewandelt werden können, die „ist“ als Verb enthalten. Selbst wenn dies, zum Beispiel durch Partizipialkonstruktionen, möglich wäre, bliebe Gassendis Beschreibung von Propositionen aber ungenügend, da nicht alle grammatikalisch möglichen Sätze in SubjektPrädikat-Form gebracht werden können. Nicht immer wird in einem Satz bloß etwas über ein Subjekt ausgesagt, zumindest müsste auch der Bezug auf ein Objekt möglich sein. Bei noch komplizierteren Satzkonstruktionen müsste Gassendi sich darauf berufen, dass diese in einzelne Sätze aufgeteilt werden können und dann versteckte Schlussfolgerungen zu Tage treten – eine Proposition enthält definitionsgemäß aber nur eine propositionale Einstellung, keine Schlussfolgerung. In einer Schlussfolgerung stellen wir Propositionen zueinander in Beziehung, ebenso wie wir in Propositionen Ideen zueinander in Beziehung setzen. Ebenso wenig wie eine Idee eine propositionale Einstellung beinhalten kann, ist ein Satz, der eine Schlussfolgerung enthält, eine Proposition im Sinn Gassendis. Gassendis Verständnis von Propositionen ist also deshalb sehr eng, da er Propositionen in der Institutio für einen bestimmten Zweck benötigt, nämlich als Grundbausteine von Schlussfolgerungen, bzw. Syllogismen. Unser Wissen besteht aber nicht nur aus dieser Art von Urteilen – das würde auch Gassendi sicher nicht bestreiten. Man kann zum Beispiel auch wissen, dass Vögel fliegen können, weil sie Flügel haben. Dies wäre aber keine Proposition im Sinne Gassendis, sondern eine Schlussfolgerung. Aufgrund dieses engen Verständnisses von Propositionen ist also nicht auszuschließen, dass Gassendi noch andere Arten von Urteilen akzeptiert, neben aus Ideen zusammengesetzten Propositionen. Nicht alle Urteile müssen damit sprachlicher Art sein, und nicht alle Urteile müssen aus Ideen zusammenge11 Vgl. Perler 1992, 70. 12 Davon gingen auch mittelalterliche Autoren aus, vgl. Perler 1992, 83.
3.2 Ideen als Bilder und Definitionen
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setzt sein. Aus Gassendis Beschreibung von Propositionen als sprachliche, wesentlich prädikative Urteile jedoch lässt sich schließen, dass die Vorstellungen, aus denen diese bestehen, nämlich Ideen, Vorstellungen sein müssen, die eine solche Prädikation ermöglichen – das heißt allgemeine Vorstellungen. Wie sich dies in Gassendis Ideentheorie niederschlägt, wird uns nun beschäftigen. 3.2 IDEEN ALS BILDER UND DEFINITIONEN Propositionen sind laut Gassendi Urteile, die dadurch entstehen, dass Ideen durch eine propositionale Einstellung verbunden werden. In einer Proposition wird etwas über einen Gegenstand ausgesagt. In Ideen ist dies nicht der Fall. Sie sind für Gassendi in diesem Sinn einfache Vorstellungen, dass sie rein beschreibend sind, ohne dass in ihnen etwas über den Gegenstand behauptet wird (I.92a). Ideen sind also für Gassendi die Vorstellungen, durch die wir uns ohne Urteil auf Gegenstände beziehen, die aber als Konstituenten von Urteilen auftreten können. In diesem Abschnitt soll die Natur von Ideen genauer untersucht werden, besonders in Hinblick auf die Frage, wie Ideen konzipiert werden müssen, damit sie dieser Charakterisierung gerecht werden. Welcher Art ist also der Bezug auf Gegenstände, den Ideen ermöglichen, und wie kommt er zustande? Und wie sind Ideen beschaffen, bzw. wie müssen sie beschaffen sein, damit sie in Urteilen an Prädikatsstelle auftreten können? Eine erste Annäherung an die Beantwortung dieser Fragen kann Gassendis Begründung für seine Wahl der Bezeichnung „Idee“ liefern: „Das Bild ferner, das dem Geist vorschwebt und gleichsam entgegengestellt wird, wenn wir an ein Ding denken, wird üblicherweise auch mit anderen Namen bezeichnet. Man nennt nämlich dieses Bild auch Idee und species sowie – wenn der Name dem Akt angepasst wird – Notion (notio), Pränotion (praenotio), Prolepse (anticipatio) [...] und ferner Begriff (conceptus), andererseits auch phantasma, sofern es in der phantasia, bzw. im Vorstellungsvermögen seinen Sitz hat. Wir werden häufiger „Idee“ gebrauchen, denn dieses Wort ist schon bekannt und gebräuchlich und auch weniger missverständlich als die anderen. Das Wort „Bild“ umfasst Zuvieles, und das Wort species bezieht sich auf zu viele Dinge, als dass sie für unser Vorhaben hier passend sein könnten.“13 (I.92a/b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Hier entscheidet sich Gassendi unter verschiedenen Ausdrücken, mit denen einfache Vorstellungen, wie er sie beschreiben möchte, bezeichnet werden könnten, für die Bezeichnung „Idee“. Er ist aber offenbar der Auffassung, dass auch die anderen Begriffe als Bezeichnungen für solche einfachen Vorstellungen dienen könnten; 13 „Imago porro illa, quae nobis rem quampiam cogitantibus mento obversatur, ac veluti obiicitur, plerisque etiam aliis donari nominibus solet. Dicitur eim etiam idea ac species, et accommodato nomine actionis, etiam notio, praenotio, anticipatio, [...] ac rursus conceptus, itemque phantasma, prout sedem habet in phantasia, facultateve imaginatrice. Nobis idea crebrius dicetur, quod et iam vox haec familiaris, tritaque sit; et minus prae aliis ambiguo laboret. Certe etiam imaginis vox ad nimis multa extenditur, et vox speciei pluribus datur, quam ut tam proprie accomodari ad institutum valeat.“ (I.92a/b)
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
diese Ausdrücke können nun als Hinweis darauf verstanden werden, was für eine Art von Vorstellung Ideen für Gassendi darstellen. Doch scheint hier eine gewisse Spannung zu bestehen: Einerseits werden Ideen mit Begriffen (notio, conceptus) gleichgesetzt, andererseits mit reinen Sinneseindrücken (phantasma und auch species) und Bildern, und es scheint, dass damit Ideen nicht einheitlich charakterisiert sind. Denn mit Begriffen beziehen wir uns sicher anders auf Gegenstände als mit Sinneseindrücken, und sicher müssen Begriffe als Konstituenten von Urteilen anders aufgefasst werden als Bilder. Nun könnte man versuchen, diese Spannung durch eine Unterscheidung zu erklären, die Gassendi zwischen verschiedenen Arten von Ideen einführt. Denn Gassendi unterscheidet bezüglich ihrer Entstehung zwischen singulären Ideen, d.h. solchen, die sich nur auf einen Gegenstand beziehen, und allgemeinen Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen (können). Man könnte der Meinung sein, dass diese Ideen sich dann auch dahingehend unterscheiden, was sie als Ideen ausmacht.14 Singuläre Ideen können durch unterschiedliche Prozesse entstehen, bzw. gebildet werden. Zwar haben alle Ideen genau genommen ihren Ursprung in den Sinnen, manche davon allerdings direkt, andere nur indirekt.15 Direkt durch Sinneswahrnehmung entstehen singuläre Ideen von Dingen, die es tatsächlich gibt und denen wir schon begegnet sind: „Die Ideen derjenigen Dinge, die durch sich selbst auf die Sinne treffen, gehen zunächst durch einen Sinn hindurch und werden dem Geist eingedrückt. Das sind etwa die Ideen, die wir von Sonne, Mond, Wolken, Donner, Erde, Wasser, Menschen, Pferden, Pflanzen, Blumen, Steinen, allen Metallen haben – kurz gesagt, von den Dingen, die wir sehen, berühren, riechen etc., wenn sie auf einen Sinn treffen und sich ihm zeigen.“16 (I.93a, Übersetzung Borcherding/ Rubini/Seidl)
Hier geht es Gassendi um Ideen, die wesentlich nur einen Gegenstand haben, nämlich den, der die Idee durch sinnliche Wahrnehmung auslöst. Die Idee entsteht durch den Kontakt mit dem Objekt. Diese Beschreibung der Entstehung ähnelt Gassendis Darstellung von species, d.h. Sinneseindrücken, später im Syntagma. Diese werden als tatsächliche Eindrücke im Gehirn beschrieben (s.u., S.72f). Insofern könnten singuläre Ideen, die durch den direkten Kontakt mit ihrem Gegenstand entstehen, also als Sinneseindrücke aufzufassen sein. 14 Wobei diese unterschiedliche Beschreibung auch häufiger vernachlässigt wird, sodass Ideen generell mit species, das heißt Sinneseindrücken, gleichgesetzt werden. So stellt Saul Fisher die entsprechende Behauptung auf, dass „getting an idea consists in getting an image [...]. This is significant, we have seen, given Gassendi’s view that perception is the reception of images of the external world and the proposal that ideas are just images.“ (Fisher 2005, 39). 15 „Alle Ideen kommen entweder durch die Sinne oder werden aus denen gebildet, die durch die Sinne kommen.“ (I.92b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl), „Omnis Idea aut per Sensum transit, aut ex iis, quae transeunt per Sensum, formatur.“ 16 „Imprimis itaque transire per sensum, mentique imprimi illae ideae dicuntur, quae sunt rerum per se in sensus incurrentium; ut sunt, quas habemus solis, lunae, nubium, tonitruum, terrae, aquae, hominum, equorum, plantarum, florum, lapidum, metallorum omnium, ut paucis dicam rerum, quas occurrenteis, et exhibitas sensui, vidimus, tetigimus, olfecimus etc.“ (I.93a)
3.2 Ideen als Bilder und Definitionen
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Doch wir bilden auch singuläre Ideen von Dingen, die es nicht gibt, bzw. die wir nicht wahrgenommen haben. In beiden Fällen liefern die Grundlage für diese Ideen andere singuläre Ideen, die wir durch Sinneserfahrung gewonnen haben. Ideen von Dingen, von denen wir keine Sinneserfahrung haben oder haben können, werden Gassendi zufolge durch drei Prozesse aus Wahrnehmungen gewonnen: „durch Zusammensetzung [compositio] und gleichsam Vereinung [adunatio] mehrerer Ideen; durch Vergrößerung oder Verkleinerung einer Idee; durch Übertragung und Anpassung einer Idee an ein Ding, das anders ist als das, von dem diese Idee stammt“ (I.93a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl).17 Eine solche Idee wird also aus schon vorhandenen, durch Sinneserfahrung gewonnenen Ideen gebildet und ist daher auch indirekt von der Sinneserfahrung abhängig. Da es auch hier um Ideen von Einzelgegenständen geht, ist davon auszugehen, dass sie sich nicht wesentlich von direkt aus der Sinneserfahrung gewonnenen unterscheiden – sie sind von uns selbst aus vorhandenem Material geformte Eindrücke oder Bilder. Es scheint also auf den ersten Blick überzeugend, singuläre Ideen mit Sinneseindrücken zu identifizieren, bzw. mit aus vorhandenen Sinneseindrücken gebildeten Vorstellungen. Im Fall allgemeiner Ideen stellt es sich anders dar. Diese entstehen nicht direkt durch die Wahrnehmung, sondern „es ist [...] der Geist, der aus ähnlichen singulären Ideen eine allgemeine Idee bildet“ (I.93a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl).18 Auf diese Weise beruhen sie natürlich auch indirekt auf Sinneswahrnehmung, da zur Bildung allgemeiner Ideen mindestens eine singuläre benötigt wird. Doch es wird, anders als bei singulären Ideen, eine Vorstellung gebildet, die natürlicherweise nicht hätte entstehen können. Der Geist kann laut Gassendi durch zwei unterschiedliche Prozesse allgemeine aus singulären Ideen bilden, „erstens durch Aggregation (aggregando), zweitens durch Abstraktion (abstrahendo)“19 (I.93a, Übersetzung Borcherding/Rubini/ Seidl). Dabei wird die Aggregation folgendermaßen beschrieben: „Bei der ersten Methode legt der Geist die ähnlichen Ideen gleichsam zurück (seponens) und vereinigt sie zu einem Aggregat (aggeries). Dieses Aggregat enthält alle singulären Ideen und ist somit die Idee von allen; daher wird es eine universale, gemeinsame oder auch allgemeine Idee genannt.“20 (I.93a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
17 „Deinde vero, ex iis, quae per sensum transierunt, ac in mente sunt, variae variisque modis formantur; ut compositione, et quasi adunatione plurium, ampliatione, aut imminutione euisdem; translatione, et accommodatione unius ad rem aliam, quam illam, de qua sumpta est.“ (I.93a) 18 „Omnis idea quae per sensum transit, singularis est; mens autem est, quae ex singularibus consimilibus generalem facit.“ (I.93a) 19 „Cum vero mens habet multas simileis, tum unam ex illis generalem facit, et modo quidem duplici: uno aggregando, alio abstrahendo.“ (I.93a) 20 „Priore enim modo mens simileis ideas veluti seponens in unam cogit aggreriem, quae omneis proinde continens, universarum idea sit, ac universalis proinde, et communis, generalisque dicitur [...].“ (I.93a)
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
Durch Aggregation bilden wir Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen, da wir verschiedene Ideen zu einer Gruppe von Ideen zusammennehmen. Den Prozess der Abstraktion erläutert Gassendi wie folgt: „Obgleich diese singulären Ideen sich in mancher Hinsicht ähnlich sind oder miteinander übereinstimmen, weisen sie zugleich viele Merkmale (discrimina) auf, aufgrund derer sie sich voneinander unterscheiden. Daher betrachtet der Geist diese Ideen gesondert und abstrahiert gleichsam aus ihnen allen das Merkmal, in dem sie alle übereinstimmen, während er von den Merkmalen absieht, oder die Merkmale nicht beachtet, in denen diese Ideen sich voneinander unterscheiden. Hierdurch nimmt er das Merkmal, das so abstrahiert wurde und in dem nichts enthalten ist, was diesen Ideen nicht gemeinsam ist, als eine gemeinsame, allgemeine und universale Idee an.“21 (I.93b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Hier werden also nicht Gruppen von Ideen gebildet, sondern gewissermaßen Gruppen von Eigenschaften, nach denen Gegenstände geordnet werden können. Im Fall der allgemeinen Idee „Mensch“, die durch Aggregation gewonnen wird, ist das Ergebnis eine Gruppe von Ideen von Menschen: „Eine solche Idee ist etwa das Aggregat aus den Ideen von Sokrates, Platon, Aristoteles und allen anderen ähnlichen Dingen“ (I.93a/b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl). Im Fall der allgemeinen Idee „Mensch“, die durch Abstraktion gewonnen wird, ist das Ergebnis eine Liste von Eigenschaften, die Menschen wesentlich zukommen: „Wenn der Geist bemerkt, dass die Ideen von Sokrates, Platon, Aristoteles darin übereinstimmen und sich ähnlich sind, dass sie alle ein Tier repräsentieren, das zweibeinig, aufrecht, vernunftbegabt, lachfähig, lernfähig usf. ist, abstrahiert er gleichsam dieses Merkmal (nämlich ein Tier zu sein, das zweibeinig, aufrecht ist usf.) und bildet daraus die Idee, von der alle Merkmale weggenommen wurden, aufgrund derer sich die Dinge voneinander unterscheiden [...]. Er nimmt eine solche Idee als eine universale oder allgemeine Idee des Menschen an, weil durch sie nicht nur dieser oder jener oder noch ein anderer Mensch im Besonderen repräsentiert wird, sondern der Mensch im Allgemeinen oder gemeinsam.“ 22 (I.93b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Aggregation und Abstraktion sind also unterschiedliche Prozesse zur Bildung von Ideen des gleichen Objekts, zum Beispiel der Idee des Menschen. Diese beiden Ideen sind nun systematisch nicht voneinander unabhängig. Mithilfe einer durch Abstraktion gebildeten Idee lässt sich die Gruppe von Gegenständen festlegen, die die entsprechende durch Aggregation gebildete Idee enthält. Und anhand einer Gruppe von Gegenständen lässt sich untersuchen, was diese Gegenstände verbindet und was sie trennt. Dementsprechend kann man diese beiden Ideen, die von Gas21 „Posteriore modo; cum licet ideae illae singulares in aliquo similes sint, seu mutuo conveniant, multa tamen simul discrimina habeant, quibus inter se differant ideo mens seorsim spectando, ac ideo veluti abstrahendo ex omnibus id, in quo omnes conveniunt, et detractis seu non spectatis discriminibus, quibus differunt; illud sic abstracte spectatum, nihilque non commune habens, pro idea communi, universali generali habet [...].“ (I.93b) 22 „[...] dum mens eorundem Socratis, Platonis, Aristotelis, in eo convenire, simileisque esse attendit, quod unaquaeque earum repraesentet animal bipes, erecta facie, ratiocinans, ridens, disciplinae capax, etc. istud (nempe esse animal bipes, erecta facie, etc.) velut abstrahit, inque ideam format, a qua sint detracta discrimina omnia, quibus illi mutuo differunt [...] ac talem rursus ideam habet pro idea universali, seu generali hominis; quatenus illa repraesentatur non hic, aut ille, aut alius speciatim; sed generatim, seu communiter homo.“ (I.93b)
3.2 Ideen als Bilder und Definitionen
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sendi als unterschiedliche Ideen eines Gegenstands beschrieben werden, als zwei voneinander abhängige Aspekte einer Idee auffassen. Dann zeigt sich, dass Gassendi mit Aggregation, Abstraktion und ihren Ergebnissen die beiden Aspekte von Begriffen, wie sie seit der Logik von Port-Royal von Arnauld und Nicole unterschieden werden, eingefangen hat (Logique, I. Teil, Kapitel V, 51f). Demnach hat ein Begriff eine Extension und eine Intension. Die Extension besteht aus allen Gegenständen, die unter einen Begriff fallen. Die Intension eines Begriffs dagegen legt fest, welche Eigenschaften ein Gegenstand haben muss, soll er unter den Begriff fallen. Man könnte also geneigt sein zu sagen, dass es nicht zwei abstrakte Ideen des Menschen gibt, sondern dass die abstrakte Idee, also die allgemeine Vorstellung des Menschen, eine Intension und eine Extension hat.23 Laut Gassendi kommen allgemeine Ideen im Gegensatz zu singulären also wesentlich durch eine Handlung des Geistes zustande und befassen mehrere Gegenstände unter sich. Seine Beschreibung legt darüber hinaus weniger eine Identifizierung allgemeiner Ideen mit Sinneseindrücken nahe, als vielmehr die Vermutung, dass allgemeine Ideen als Begriffe aufgefasst werden müssen: Durch ihre Allgemeinheit erlauben sie die Kategorisierung von Gegenständen, wie wir es von Begriffen, nicht aber von Sinneseindrücken erwarten. Aufgrund der Tatsache, dass Gassendi auf diese Art zwischen singulären und allgemeinen Ideen unterscheidet, könnte man also annehmen, dass er singuläre Ideen als Sinneseindrücke, allgemeine Ideen als Begriffe versteht. 24 Dies könnte wiederum die Redeweise erklären, dass wir Ideen sowohl Sinneseindrücke als auch Begriffe nennen könnten. Doch wird mit dieser Interpretation die Klasse der Ideen zu einer sehr heterogenen. Denn wenn singuläre Ideen Sinneseindrücke sind und allgemeine Ideen Begriffe, scheinen sie zumindest auf den ersten Blick nicht die gleiche Art von Vorstellung zu sein. Wieso sollten wir sie unter diesen Umständen also beide „Idee“ nennen? Um diese Schwierigkeit zu vermeiden, möchte ich im Folgenden argumentieren, dass alle Ideen sowohl als sinnlich als auch als begrifflich aufzufassen sind. Allgemeine Ideen können demnach auch als species bzw. Bilder bezeichnet werden, da sie sich wie diese nur auf sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften der Gegenstände beziehen; singuläre Ideen müssen insofern als begrifflich aufgefasst werden, als sie es uns ermöglichen, Urteile zu fällen. Diese Charakterisierung aller Ideen als wesentlich sinnlich und begrifflich ermöglicht es, Ideen bei Gassendi erstens einheitlich aufzufassen, und sie zweitens einerseits von Sinneseindrücken abzugrenzen, die einen nicht-begrifflichen Bezug auf Gegenstände ermöglichen, und andererseits von theoretischen und abstrakten Vorstellungen, die sich wesentlich auf nicht sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften von Gegenständen beziehen.
23 Auch Bloch fasst allgemeine Ideen auf diese Weise auf, siehe Bloch 1971, 142f. 24 So identifizieren Fred und Emily Michael in „Gassendi on Sensation and Reflection“ zunächst Ideen mit species und sparen die Charakterisierung von Ideen als Begriffen in ihrer Diskussion aus (Michael 1988, 584f). Abstrahierte Ideen, das heißt diejenigen, die hier von Gassendi als Begriffe charakterisiert werden, sehen sie dagegen als unkörperliche Vorstellungen, und damit als Vorstellungen völlig anderer Art als Sinneseindrücke an (Michael 1988, 587ff).
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
Aus Gassendis Beschreibung von Propositionen wissen wir, dass zumindest manche Ideen – da sie die Konstituenten von Propositionen sind – allgemeine Vorstellungen sein müssen, die Prädikation ermöglichen. Wir werden uns also zunächst diesem Charakter von Ideen zuwenden, bevor untersucht wird, in welchem Sinn alle Ideen auch der Beschreibung als Sinneseindrücke und Bilder gerecht werden. 3.2.1 Ideen als Definitionen Singuläre Ideen scheinen also Sinneseindrücken näher zu sein als Begriffen. Doch wie gesehen unterscheidet Gassendi in den ersten Kanones der Institutio Logica zwischen singulären Ideen von Dingen, die wir tatsächlich wahrgenommen haben, und Ideen von Dingen, die wir nicht wahrnehmen können oder noch nicht wahrgenommen haben. Und ausgerechnet diese Beschreibung der Entstehung singulärer Ideen gibt Grund zu der Annahme, dass Ideen begrifflich aufgefasst werden müssen. Denn er stellt die Behauptung auf, dass Ideen der ersten Art direkt durch Wahrnehmung,25 Ideen der zweiten Art durch die Prozesse der Zusammensetzung bzw. Vereinung, der Vergrößerung bzw. Verkleinerung, und der Übertragung bzw. Anpassung (I. 93a) aus anderen Ideen entstehen. Auf Grundlage dieser Beschreibung lässt sich nun eine erhellende Verbindung zwischen Diogenes Laertius’ Beschreibung von Epikurs Position, Gassendis eigener Darstellung von Epikurs Position und seiner Beschreibung der Ideen herstellen.26 Bei Diogenes Laertius wurden als Prozesse der Entstehung von Prolepsen „Erfahrungspraxis, Analogie, Ähnlichkeit und Kombination“ (s.o., S.34) genannt. Gassendi greift diese Begriffe in seiner Epikur-Darstellung zu Beginn des Syntagma philosophicum auf und erläutert sein Verständnis dieser Prozesse. Er sagt zunächst: „Alles, was im Geist als anticipatio oder praenotio ist, ist von den Sinnen abhängig, und zwar durch Einwirkung, durch Proportion, durch Ähnlichkeit oder durch Komposition“ 27 (I.54b, Übersetzung Seidl).
Mit anticipatio ist also offensichtlich eine Prolepse gemeint, die bei Diogenes Laertius als Begriffe beschrieben wurden, die „aus den Wahrnehmungen, und zwar durch Erfahrungspraxis, Analogie, Ähnlichkeit und Kombination, wobei eben Denken hinzukommt“ (D.L. X.32), entstehen. Gassendi erläutert Einwirkung nun als Begegnung des Gegenstands selbst mit den Sinnen, woraus die Vorstellung 25 „Es entspricht nämlich unserer Erfahrung, dass wir uns ein Ding klar und deutlich vorstellen, von dem wir eine klare und deutliche Idee haben, und dass wir uns ein Ding dunkel und verworren vorstellen, von dem wir eine dunkle und verworrene Idee haben. Denn wir stellen uns einen Menschen, den wir vor langer Zeit einmal oder im Vorbeigehen gesehen haben, nicht so deutlich vor, wie einen, den wir vor kurzem, schon oft, oder bei aufmerksamer Betrachtung gesehen haben.“ (I.92b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl) 26 Siehe z.B. Glidden 1988, LoLordo 2006, 83f. 27 „Omnis, quae in mente est anticipatio, seu praenotio dependet a sensibus; idque vel incursione, vel proportione, vel similitudine, vel compositione.“ (I.54b)
3.2 Ideen als Bilder und Definitionen
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entsteht.28 Mit Proportion ist gemeint, dass eine solche Vorstellung von einem Gegenstand vergrößert oder verkleinert wird, und so die Vorstellung von etwas Größerem oder Kleinerem entsteht.29 Durch Ähnlichkeit werden Vorstellungen gebildet, wenn wir uns etwas, das wir noch nie gesehen haben, nach dem Vorbild eines Gegenstands, den wir kennen, vorstellen; und durch Komposition, wenn zwei Vorstellungen zu einer zusammengefügt werden.30 Betrachtet man nun Gassendis Beschreibung der Entstehung von Ideen, so liegt es nahe, „Erfahrungspraxis“ mit der Entstehung von Ideen durch Sinneserfahrung zu identifizieren, „Ähnlichkeit“ mit ihrer Entstehung durch Vergrößerung oder Verkleinerung, „Analogie“ mit der Genese von Ideen durch Übertragung und Anpassung, und „Kombination“ mit der Entstehung durch Zusammensetzung bzw. Vereinung. Singuläre Ideen werden also laut Gassendi auf die gleiche Weise aus Wahrnehmungen gebildet wie Prolepsen bei Epikur. Es scheint also, dass Gassendi Ideen allgemein als epikureische Prolepsen auffasst – übereinstimmend mit seiner Aussage, dass eine einfache Vorstellung auch „anticipatio“ genannt werden könnte.31 Prolepsen wurden oben als allgemeine Vorstellungen charakterisiert, die wir aus Wahrnehmungen bilden, und die es uns erlauben, einen Gegenstand als etwas zu erkennen. Diese Charakterisierung entspricht unserem Schluss aus der Beschreibung von Propositionen, dass Ideen als die Bestandteile von Urteilen prädikativer Struktur in gewissem Sinn allgemein sein müssen. Denn eine Vorstellung, die allgemein in dem Sinn ist, dass sie von einem anderen Gegenstand präzidiert, bzw. dass ein Gegenstand unter sie subsumiert werden kann, ermöglicht eben dadurch die Wahrnehmung dieses Gegenstands als etwas, das heißt als eine bestimmte Art von Gegenstand. Darüber hinaus wird der Vorschlag, Ideen mit Prolepsen zu identifizieren, durch Gassendis weitere Beschreibung von Ideen unterstützt. Denn jede Idee eines Gegenstands hängt laut Gassendi mit der Definition dessen zusammen, was dieser Gegenstand ist: „Wie die Idee eines Dinges ist, so wird sie von der Definition des Dinges wiedergegeben. Sooft wir gefragt werden oder erklären wollen, was oder wie ein Ding ist, wenden wir uns
28 „Incursione, inquam, seu mavis Incidentia, dum res per seipsam incurrit, inciditve in sensum, veluti dum homo ipsis spectatur oculis, ac deinceps forma, speciesve illius in animo haeret.“ (I.54b) 29 „Proportione item, dum forma, seu notio in Animo haerens, ac iam habita amplificatur, aut extenuatur.“ (ebd.) 30 „Similitudo vero, dum instar alicuius rei, quae fuerit prius sensu percepta, aliam fingimus, ac imaginamur [...]. Compositione denique, dum quas duarum, pluriumve rerum notiones in Animo habemus in unam quasi compingimus; [...].“ (ebd.) 31 I.92a. Für eine detaillierte Darstellung der Übereinstimmung zwischen Gassendis EpikurInterpretation und seiner Ideentheorie siehe Glidden 1988. Glidden ist der Auffassung, dass Gassendis Interpretation stoisch eingefärbt ist und zu viel Gewicht auf den begrifflichen, definitorischen Gehalt von Prolepsen legt.
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi gleich der Idee zu, die wir von ihm haben, und gemäß dieser Idee definieren oder beschreiben wir das Ding selbst.“32 (I.97a/b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Gassendi zufolge hängen also die Idee und die Definition eines Dinges zusammen, sodass wir die Definition dessen, was ein Mensch ist, aus unserer Idee des Menschen gewinnen können, und die Definition, was einen bestimmten Menschen ausmacht, aus unserer Idee des bestimmten Menschen. Die Idee scheint die Definition zu beinhalten – sie liefert uns die Definition, wenn wir sie benötigen. Auch in seiner Epikur-Darstellung bringt Gassendi Prolepsen und Definitionen in Verbindung: „Eine anticipatio ist der Begriff (notio) oder die Definition (definitio) des Dinges, ohne die nichts gefragt, bezweifelt, behauptet oder gar benannt werden kann“ (I.54b, Übersetzung Seidl).33 Und in den Einwänden gegen Descartes bezeichnet Gassendi die Idee des Dreiecks auch als „gleichsam eine Regel, mit deren Hilfe du zu ermitteln suchst, ob etwas verdient, ein Dreieck genannt zu werden“ (AT VII 320/III.375a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl).34 Hier wird also die Idee mit einer Definition, beziehungsweise mit einer Regel zur Subsumtion gleichgesetzt. Diese Aussagen Gassendis zum regelhaften Charakter von Ideen sind im Einklang mit dem Interpretationsvorschlag, Ideen als Prolepsen aufzufassen, das heißt als allgemeine Vorstellungen der Dinge, die uns etwas als etwas erfahrbar machen. Denn eine Definition oder Regel, ob sie nun die Idee selbst ist oder aus ihr gewonnen werden kann, ist immer eine allgemeine Beschreibung dessen, was den Gegenstand ausmacht. Als solche ermöglicht sie es, den Gegenstand mit anderen zu vergleichen und in Beziehung zu setzen. Eine solche Regel ist die Grundlage dafür, wie Gassendi selbst sagt, zu entscheiden, ob ein Gegenstand ein Gegenstand einer bestimmten Art ist oder nicht, da er die Subsumtion einer Vorstellung unter eine allgemeinere Vorstellung möglich macht. Damit sind Ideen als Definitionen oder Regeln eben die Grundlage dafür, dass wir Gegenständen bestimmte Eigenschaften zuschreiben, das heißt sie als etwas erkennen. So identifiziere ich zum Beispiel meinen Schlüsselbund anhand bestimmter Merkmale, die in der Definition dessen, was es heißt, mein Schlüsselbund zu sein, enthalten sind. Die Vorstellung meines Schlüsselbunds, die diese Definition enthält, ermöglicht es mir, meinen Schlüsselbund als meinen Schlüsselbund zu erkennen, wenn ich ihn auf dem Tisch liegen sehe oder ich in meiner Tasche nach ihm taste. Ideen als Definitionen erfüllen also eben jene zentrale Funktion von Prolepsen, Gegenstände als etwas erfassbar zu machen. Diese Charakterisierung von Ideen erklärt aber auch, inwiefern eine Proposition aus mehreren Ideen (zusammen mit einer propositionalen Einstellung) entsteht – eben durch die Subsumtion einer Idee unter eine allgemeinere Idee. 32 „Qualis idea rei est, talis traditur rei definitio. Quoties videlicet rogamur, aut declarare volumus quid, aut cuiusmodi res sit; statim ad eam, quam habemus eius ideam respectamus, et iuxta illam definimus, describimusve ipsam rem.“ (I.97a/b) 33 „Anticipatio est ipsa rei notio, sive definitio, sine qua quidquam quaerere, dubitare, opinari, imo et nominare non licet.“ (I.54b) 34 „Nam triangulus quidem mentalis, est veluti regula qua explores an aliquid mereatur dici triangulum [...].“ (AT VII 320/III.375a)
3.2 Ideen als Bilder und Definitionen
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Aus Gassendis Beschreibung der Entstehung und der Natur von Ideen lässt sich also schließen, dass diese als epikureische Prolepsen aufzufassen sind, die uns durch ihre definitorische bzw. regelhafte Struktur Urteile möglich machen. Doch diese Charakterisierung weist noch einige Lücken auf. Erstens ist bisher nicht geklärt, welcher Art genau die Verbindung zwischen Ideen und Definitionen ist. Zweitens muss Gassendis Verständnis von Definitionen expliziert werden, da sonst die Verbindung zwischen Ideen und Definitionen wenig erhellend bleibt. Und vor allem stellt sich im Licht der oben diskutierten Nähe von singulären Ideen zu Sinneseindrücken drittens die Frage, ob eine solche Verbindung zwischen allen, d.h. auch singulären Ideen und den Definitionen ihrer Objekte besteht, oder nur zwischen allgemeinen Ideen und ihren Definitionen. Gassendis Einstellung zum Zusammenhang zwischen Ideen und den Definitionen ihrer Gegenstände ist nicht eindeutig. Wie erwähnt identifiziert er in seiner Epikur-Darstellung Prolepsen mit Definitionen („Eine anticipatio ist der Begriff oder die Definition des Dinges [...]“ (I.54b, Hervorhebung von mir)), und in den Einwänden Ideen mit Regeln zur Subsumtion. In diesen Fällen scheint er also die Einstellung zum Ausdruck zu bringen, dass Ideen als Definitionen bzw. Regeln aufzufassen sind. In der Institutio logica dagegen legt er sich weniger stark fest, wenn er sagt, dass der Inhalt der Idee „von der Definition wiedergegeben“ wird (I.97a). Diese Aussage ließe auch den Schluss zu, dass Ideen von den Definitionen ihrer Gegenstände unabhängig sind, ihr Inhalt aber durch eine solche Definition ausgedrückt werden kann. Sicherlich können Ideen bei Gassendi nicht als reine Definitionen aufgefasst werden. Doch Gassendis Aussagen lassen nicht eindeutig feststellen, ob er der Auffassung war, dass die Definition oder die Regel aus der Idee nur gewonnen werden kann, oder ob die Idee zumindest zum Teil selbst in einer Definition oder Regel besteht. In dieser Ungenauigkeit spiegelt sich die Frage in Bezug auf epikureische und stoische Prolepsen, ob diese als allgemeine Vorstellungen aufgefasst werden sollen, aus denen wir Begriffe gewinnen können, oder schon als Begriffe selbst. In seiner Beschreibung der epikureischen Interpretation wählt Gassendi die stärkere Variante, im Fall von Ideen in seiner eigenen Theorie scheint er sich nicht festzulegen. Allerdings hatten wir oben die schwächere Interpretation, nach der Prolepsen Vorstellungen sind, die natürlicherweise aus Wahrnehmungen entstehen und die nicht als begrifflich aufzufassen sind, als weniger überzeugend identifiziert, da sie die Funktionen, die Prolepsen zugeschrieben werden – unter anderem, Urteile möglich und etwas als etwas erfahrbar zu machen – nicht erfüllen können. Auch Gassendi schreibt Prolepsen diese Funktionen zu, wenn er sagt, dass ohne sie nichts gefragt oder benannt werden kann (I.54b).35 Da Ideen eindeutig nach dem Vorbild der epikureischen Prolepsen konzipiert sind, sollen wohl auch Ideen diese Funktionen erfüllen. Zusammen mit der Aussage, nach denen Ideen Regeln sind, machen
35 „Anticipatio est ipsa rei notio, sive definitio, sine qua quidquam quaerere, dubitare, opinari, imo et nominare non licet.“ (I.54b)
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
diese Überlegungen es wahrscheinlich, dass Ideen nicht als unabhängig von den Definitionen ihrer Gegenstände aufzufassen sind. Ideen bei Gassendi sind damit als Vorstellungen aufzufassen, die selbst in Definitionen bestehen. Doch wie sind Definitionen, und damit auch Ideen, bei Gassendi genauer zu charakterisieren? Eine Definition besteht für Gassendi laut Kanon XV der Institutio logica in der Angabe von genus und differentia (I.97b), das heißt in der Angabe der Gattung, unter die der Gegenstand fällt, sowie der Eigenschaften, die einen Gegenstand zu einem Gegenstand einer speziellen Art unter dieser Gattung machen. Mit dieser Explikation dessen, was eine Definition ist, übernimmt Gassendi die aristotelische Auffassung, dass „eine gute Definition mittelst der Gattung und der Differenz zustande kommen“ muss (Topik VI, 4, 141b25–28), während er in den Exercitationes noch gegen die Nützlichkeit von Definitionen dieser Art argumentiert. Wie im Fall des Syllogismus allgemein kann hier davon ausgegangen werden, dass Gassendi weiterhin der Auffassung ist, dass Definitionen dieser Art nicht möglich sind, wenn sie zur Erkenntnis des tatsächlichen Wesens eines Gegenstands führen sollen. Eine solche Definition können wir nicht bilden, da wir dafür das Wesen aller Gegenstände erfassen müssten (III.184b). Dies schließt aber nicht aus, dass wir Definitionen bilden können, die zwar dem Gegenstand nicht vollständig gerecht werden, uns aber dennoch ermöglichen, über den Gegenstand nachzudenken und Urteile über ihn zu fällen. Das heißt, wir bilden voneinander abhängige Definitionen, die uns eine gewisse Erkenntnis des Gegenstands ermöglichen, wenn auch keine Erkenntnis seiner Essenz.36 Dieser Art sind Ideen als Definitionen. Im Kanon VI der Institutio logica führt Gassendi dementsprechend den sogenannten „Baum von Porphyr“ an, ein Schema von Genera und Differentiae (I.94, Porphyr, Isagoge). Diesem Schema entsprechend führt er aus, dass man „Mensch“ als „vernunftbegabtes Tier“ zu definieren versuchen könnte. Es sei aber schwierig, die Eigenschaften zu finden, die tatsächlich eine Art von allen anderen Arten eines Genus unterscheidet. Denn die Definition soll Gassendi zufolge „die Natur oder die Essenz eines Dinges erklären (was oder wie dieses Ding ist)“ (I.97b).37 Damit eine Definition die Definition eines bestimmten Gegenstands ist, müssen die in ihr angegebenen Differentia also so genau sein, dass eindeutig ist, welcher Art der Gegenstand zuzuordnen ist. Wenn Gassendi fordert, dass eine Definition die Essenz einer bestimmten Art von Gegenstand angibt, scheint es also, dass er der Auffassung war, dass eine Definition die wesentlichen Eigenschaften einer bestimmten Art von Gegenstand angibt, wenn auch unter der Einschränkung, dass dazu immer das nächsthöhere Genus dieser Art genannt sein muss. Eine solche Definition kann nun als Regel zur Subsumtion verstanden werden, wenn man annimmt, dass wir die Gegenstände, die wir wahrnehmen, anhand einer solchen Liste von Gattung und Eigenschaften überprüfen, um dann den Gegenstand unter einen bestimmten Begriff, 36 Vgl. LoLordo 2006, 90f. 37 „[...] Definitio, hoc est oratio, qua rei naturam, essentiamve (seu quid, aut cuiusmodi sit) declaramus [...].“ (I.97b)
3.2 Ideen als Bilder und Definitionen
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zum Beispiel den des Dreiecks, zu subsumieren. Insofern verweisen Gassendis Aussagen zum definitorischen und zum regelhaften Charakter von Ideen auf die gleiche Eigenschaft von Ideen. Nun ist zu beachten, dass Gassendi die Aussage, dass Ideen Definitionen beinhalten, nicht z.B. auf solche Ideen beschränkt, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen können. Auch beinhaltet die Hierarchie von Ideen, wie Gassendi sie durch den Baum von Porphyr darstellt, Ideen von Individuen, nämlich zum Beispiel „Sokrates“ (I.94). Allerdings übernimmt Gassendi die aristotelische Auffassung von Definition – und nach dieser gibt es nur Definitionen von Arten von Gegenständen, die noch weiter unterteilt werden können, nicht von Einzeldingen.38 Allgemeine Ideen lassen sich unproblematischerweise als Definitionen auffassen. Denn allgemeine Ideen werden durch Abstraktion eben dadurch gebildet, dass wir eine Liste der wesentlichen Eigenschaften einer bestimmten Art von Gegenstand aufgrund des Aggregats aller dieser Gegenstände bilden (s.o., S.47f).39 Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern auch singuläre Ideen als allgemein in dem Sinn angesehen werden können, dass sie eine allgemeine Beschreibung ihres Gegenstands beinhalten oder zugänglich machen, d.h. als begrifflich. Für diese Möglichkeit spricht, dass gerade Gassendis Beschreibung der Entstehung singulärer Ideen darauf schließen lässt, dass er Ideen als Prolepsen auffasst, Prolepsen aber nur dann die ihnen von Gassendi zugeschriebene Funktion erfüllen können, wenn sie als regelhaft aufgefasst werden. Wenn also singuläre Ideen Prolepsen sein sollen, scheinen wir ihnen zuschreiben zu müssen, dass sie Definitionen bzw. Regeln sind. Andererseits muss erklärt werden, wie dies für genuin singuläre Ideen gelten kann. Um dies festzustellen, müssen mehrere Unterscheidungen getroffen werden. Zunächst kann zwischen zwei Arten von Ideen unterschieden werden, die nur einen Gegenstand haben: solchen, die wesentlich nur einen Gegenstand haben, und solchen, die zwar nur einen Gegenstand haben, aber dennoch als Begriffe funktionieren und mehrere Gegenstände haben könnten. Der Unterschied kann zum Beispiel an einer Idee wie „mein Schlüsselbund“ deutlich gemacht werden. Denn zum einen gibt es eine Idee meines Schlüsselbunds, die sich genau und nur auf diesen Gegenstand bezieht. Zum anderen gibt es aber auch eine Idee dessen, was es bedeutet, mein Schlüsselbund zu sein – und unter diese Idee könnten durchaus mehrere Gegenstände fallen, falls ich mehr als einen Schlüsselbund besitze. Tatsächlich aber bezieht sie sich ebenfalls nur auf einen Gegenstand, nämlich meinen einzigen Schlüsselbund. Die zweite Art von Idee entspricht Gassendis Beschreibung von Ideen als Definitionen. Sie ist eine Beschreibung einer bestimmten Eigenschaft, die mehreren Gegenständen zukommen kann oder auch nicht, und ermöglicht damit ein Urteil im Sinn einer Prädikation dieser Eigenschaft. Die erste Art von Idee scheint anderer 38 Smith 2012 39 Da die beiden Arten allgemeiner Ideen voneinander abhängig sind, d.h. zwei Aspekte der gleichen Idee, genügt dies, um allgemeine Ideen generell als Definitionen zu kennzeichnen.
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Art zu sein. Sie ist keine allgemeine Beschreibung einer Eigenschaft, und es ist nicht nur zufällig der Fall, dass es meinen Schlüsselbund nur einmal gibt. Vielmehr müssen alle Gegenstände, die auch dieser bestimmte Gegenstand sein sollen, mit ihm identisch sein. Insofern kann von einer solchen Idee auch nicht behauptet werden, dass sie als Prädikat im Urteil fungieren kann. Unter diesen Umständen könnten, wie zu Anfang des Kapitels erwähnt, genuin singuläre Ideen nicht als allgemein aufgefasst werden. Allerdings lässt sich gegen diese Auffassung einwenden, dass auch Eigennamen an Prädikatstelle im Urteil stehen können, obwohl sie für singuläre Ideen stehen. So ist nicht nur „Peter ist ein Mensch“ eine Proposition, sondern auch „Dieser Mensch ist Peter“. In beiden wird offenbar etwas über einen bestimmten Gegenstand ausgesagt, wenn auch mit „ist Peter“ keine allgemeine Eigenschaft zugeschrieben wird. Zwar scheint es sich also bei „Dieser Mensch ist Peter“ nicht um eine Prädikation im engen Sinn, sondern um eine Identitätsaussage zu handeln; es ist allerdings fraglich, ob Gassendi zwischen diesen beiden Arten von Aussagen unterscheidet, solange sie beide in Subjekt-Prädikat-Form zu formulieren sind. Dann aber scheint angenommen werden zu müssen, dass auch solche Ideen in gewisser Weise allgemein sind. Denn ein Eigenname kann nur dann diese Position in einer Proposition einnehmen, wenn die Idee, für die der Name steht, es möglich macht zu überprüfen, ob ein bestimmter Gegenstand der Gegenstand der Idee ist. Die Idee muss also den Gegenstand mit anderen Gegenständen vergleichbar machen und insofern allgemein anwendbar sein. Insofern sie also ein Urteil ermöglichen und allgemein anwendbar sind, scheint es, müssen auch genuin singuläre Ideen als Prolepsen aufgefasst werden. Doch in diesen Fall lässt sich argumentieren, dass auch Ideen, die wesentlich nur einen Gegenstand haben, definitorisch funktionieren, und zwar auf zweierlei Weise. Denn hier muss wiederum unterschieden werden, und zwar zwischen der Definition, die den Bezug zum Gegenstand herstellt auf der einen Seite, und der Definition, durch die die Idee in einem Urteil anwendbar ist auf der anderen. Jede Idee muss es ermöglichen, ihren Gegenstand eindeutig zu identifizieren. Im Fall von Ideen, die mehr als einen Gegenstand haben können, geschieht dies durch eine allgemeine Beschreibung. Im Fall genuin singulärer Ideen wird dies durch einen Taufakt bzw. eine ostensive Definition erreicht: Es wird festgelegt, dass die Idee genau und nur für diesen Gegenstand steht. Diese Definition kommt laut Gassendi in Folge sinnlicher Wahrnehmung zustande, dadurch also, dass ich bestimmte Eindrücke des Gegenstands und den Gegenstand auf bestimmte Weise und mit bestimmten Eigenschaften wahrgenommen habe. Ein definitorischer Schritt dieser Art legt nun das Bezugsobjekt der Idee fest. Doch er allein kann nicht gewährleisten, dass eine Idee im Urteil an Prädikatstelle stehen kann. Nur wenn die Idee auch eine Liste von Eigenschaften zugänglich macht, die diesen bestimmten Gegenstand ausmachen, kann überprüft werden, ob ein bestimmter Gegenstand dieser Gegenstand ist. Die ostensive Definition liefert den Gegenstand zu einer singulären Idee; doch nur mit einer Regel, die auf die Eigenschaften dieses bestimmten Gegenstands Bezug nimmt, kann das Urteil gefällt werden, dass ein bestimmter Gegenstand dieser Gegenstand ist. Auch im Fall genu-
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in singulärer Ideen ist also die Definition die Grundlage dafür, dass die Idee in einem Urteil anwendbar ist. Im Fall singulärer Ideen muss also zwischen der Definition, die den Gegenstand der Idee festlegt, und der Definition, die die Idee in einem Urteil auf andere Gegenstände anwendbar macht, unterschieden werden. Die erste ist eine ostensive Definition, die zweite eine Definition im Sinn Aristoteles. Im Fall allgemeiner Ideen ist dies nicht der Fall. Der Bezug dieser Ideen wird ebenso wie ihre Anwendbarkeit im Urteil durch eine Definition als Angabe von Genus und Differentia erreicht. Da wir seiner Meinung nach allgemeinere Ideen aus weniger allgemeinen gewinnen, scheint Gassendi der Auffassung zu sein, dass die Definitionen, die wir aus direkt aus der Wahrnehmung gewonnenen Ideen bilden, sehr viele Eigenschaften beinhalten und dementsprechend genau sind. Wollen wir Ideen bilden, die einen höheren Grad an Allgemeinheit haben, müssen wir diese Definitionen gewissermaßen ausdünnen, je nachdem welche Eigenschaften für die Art von Gegenstand, auf den sich die Idee beziehen soll, relevant sind. Damit bewegen wir uns auf der Leiter von Genus und Species auf und ab. So benötigt man beispielsweise, um die allgemeine Idee eines Schlüsselbundes zu bilden, wenigstens die Idee eines konkreten Schlüsselbunds. Um die allgemeinere Idee zu gewinnen, muss nun von nicht-wesentlichen Eigenschaften abgesehen werden, wie zum Beispiel der Eigenschaft, dass ein bestimmter Schlüsselanhänger an einem bestimmten Schlüsselbund hängt. Welche Eigenschaften die Idee und die Definition noch enthalten, bestimmt darüber, von was für einem Gegenstand die Idee handelt. Gassendi beschreibt, dass sich ein solcher Prozess natürlich soweit fortsetzen kann, dass wir nur noch die völlig allgemeine Idee von „Etwas“ haben, ohne irgendeine Eigenschaft zu spezifizieren (I.93b). In dieser Hinsicht unterscheidet sich diese Idee also nicht kategorial von der konkreten Idee meines Schlüsselbunds, sondern nur graduell. Es scheint also sowohl exegetisch als auch systematisch überzeugend, auch singuläre Ideen nicht als einfache Sinneseindrücke anzusehen. Denn Gassendi beschränkt seine Aussage, dass Ideen Definitionen beinhalten, nicht auf allgemeine Ideen. Darüber hinaus konzipiert er gerade singuläre Ideen im Anschluss an Diogenes Laertius’ Beschreibung epikureischer Prolepsen, und singuläre Ideen können tatsächlich, wie man es von Prolepsen erwarten muss, an Prädikatstelle im Urteil auftreten. Dies können sie aber nur dann, wenn sie ebenso wie allgemeine Ideen eine Definition der wesentlichen Eigenschaften ihres Gegenstands enthalten. Mit dieser Interpretation haben wir also Gassendis Ideen als allgemeine, regelhafte Vorstellungen charakterisiert, die es uns ermöglichen, etwas als etwas zu erfassen. Doch wie sich gezeigt hat, bindet Gassendi zumindest genuin singuläre Ideen eng an sinnliche Eindrücke. Es ist also davon auszugehen, dass der regelhafte Charakter nicht die einzige wesentliche Eigenschaft dieser Ideen ist. Im Folgenden soll ausgeführt und argumentiert werden, dass dies auch auf allgemeine Ideen zutrifft.
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3.2.2 Ideen als Bilder In der Institutio logica finden sich einige Aussagen, die nahelegen, dass Gassendi Ideen als piktorial auffasst. Am eindrücklichsten ist folgende Beschreibung der einfachen Vorstellung in der Einleitung: „Um nämlich gut zu denken, ist es von besonderem Wert, sich einen Gegenstand gut vorzustellen, das heißt, ein richtiges und wahres Bild jeden Gegenstands in den Geist aufzunehmen und es dadurch, dass ebendieses Ding geradezu vor dem Geist erscheint, zu erhalten. So wie wenn wir an einen Menschen, die Sonne und andere Dinge denken; denn wir machen die Erfahrung, dass uns die Bilder der Dinge auf diese Art erscheinen, durch die wir sie geradezu betrachten.“40 (I.91a, Übersetzung Seidl)
Im einfachen Vorstellen eines einzelnen Gegenstands schwebt uns diesem Zitat zufolge ein Bild vor. Auch später im Text werden Ideen mit Bildern gleichgesetzt (z.B. I.92a). Allerdings ist es nicht wahrscheinlich, dass Gassendi tatsächlich eine piktoriale Ideentheorie vertritt41 – so schreibt er zum Beispiel Blinden Ideen zu, die sicherlich nicht piktorial sein können (I.92b). Dennoch weisen diese Beschreibungen ebenso wie die Gleichsetzung mit species darauf hin, dass Ideen für Gassendi nicht in reinen begrifflichen Definitionen bestehen. Um diese Beschreibungen einzufangen, werde ich im Folgenden argumentieren, dass für Gassendi der allgemeine, regelhafte Gehalt von Ideen immer sinnlichen Gehalt zur Grundlage hat. Neben dem definitorischen Anteil, den wir allen Ideen zugeschrieben hatten, muss nach dieser Interpretation jeder Idee auch ein sinnlicher Anteil zukommen. Eine Idee besteht damit nicht nur in einem allgemeinen Bezug auf einen oder mehrere Gegenstände, sondern auch in visuellen, taktilen, akustischen oder sonstigen sinnlichen Eindrücken (oder Kombinationen aus diesen). Damit hat eine Idee immer auch ein qualitatives, sinnliches Element, ein Element also, das subjektiv und nicht allgemein oder regelhaft ist. Die Rede von Bildern im Zusammenhang mit Ideen ist also nach dieser Interpretation als Modell für sinnliche Eindrücke zu verstehen – Modell insofern, als Bilder mit Eindrücken aus anderen Sinnen nicht in jeder Hinsicht übereinstimmen, aber doch hinsichtlich der hier erklärungsrelevanten Eigenschaft, nämlich der Sinnlichkeit. Diese ist Bildern und anderen sinnlichen Eindrücken gemeinsam. Die Rede von Bildern in der Institutio logica wird dementsprechend als Versuch Gassendis gedeutet, die Sinnlichkeit von Ideen in den Vordergrund zu stellen. Damit nun die vorgeschlagene Interpretation überzeugen kann, muss gezeigt werden, dass Gassendi tatsächlich der Auffassung war, dass Ideen, auch allgemeine, immer sinnlich sind. In Bezug auf singuläre Ideen scheint diese Behauptung intuitiv überzeugend. Wie wir gesehen haben, können singuläre Ideen, die direkt aus der Wahrnehmung gewonnen werden, als Sinneseindrücke aufgefasst werden, 40 „Ad bene enim cogitandum operae pretium imprimis est unamquamquam rem bene imaginari, hoc est, legitimam, ac veram cuiusque rei imaginem animo praeconcipere, ac per ipsam rem animo quasi obversantem habere. Tale est, dum hominem, solem, caeterasque res cogitamus; experimur enim nobis obversari talium rerum imagines, in quas veluti intueamur.“ (I.91a) 41 Dieser Auffassung ist auch LoLordo 2006, 90.
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die eine Definition des Gegenstands einer Idee möglich machen. Solche Ideen enthalten also spezifische qualitative Elemente, die an einem Gegenstand wahrgenommen wurden – im Fall eines Menschen zum Beispiel den Klang seiner Stimme, wie er mir in meiner Wahrnehmung dieses Menschen erscheint. Insofern stellt also eine singuläre Idee eines Gegenstands, den ich wahrgenommen habe, ein Bild dar. Und betrachtet man die Entstehungsprozesse von indirekt aus der Wahrnehmung gebildeten singulären Ideen, so ergibt sich aus Gassendis Beschreibung, dass alle Ideen, die auf diese Art und Weise gewonnen werden, ebenfalls sinnlichen Gehalt haben. Wie gesagt, werden diese Ideen durch die Prozesse der Zusammensetzung, Vergrößerung und Verkleinerung sowie der Analogie aus solchen sinnlichen Ideen gebildet. Gassendi legt nun bei der Beschreibung der Anwendung dieser Prozesse großen Wert darauf, dass gerade der sinnliche Gehalt der vorhandenen Idee den Gehalt der zu bildenden Idee mitbestimmt: „Zusammensetzung findet statt, wenn der Geist etwa die Idee eines goldenen Berges aus der Idee eines Berges und der Idee von Gold zusammenbildet; [...] Vergrößerung oder Verkleinerung finden statt, wenn der Geist etwa aus der Idee eines Menschen normaler Größe durch Vergrößerung die Idee eines Riesen bildet oder aus derselben Idee durch Verkleinerung die Idee eines Zwergen. Übertragung schließlich und Anpassung bzw. Angleichung und Analogie finden statt, wenn der Geist etwa die Idee einer Stadt auf eine ungesehene Stadt überträgt und dieser anpasst und so die ungesehene Stadt gemäß der ersten ersinnt.“ 42 (I.93a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
In jedem dieser Beispiele wird eine sinnliche Qualität aus einer direkt gewonnenen Idee – zum Beispiel die Größe eines bestimmten Menschen, oder der Farbton von Gold – für die Bildung einer weiteren Idee verwendet. Daraus, wie eine mir bekannte Stadt aussieht, aufgebaut ist, riecht usw., bilde ich die Idee einer anderen Stadt. Es geht dabei nicht darum, welche Eigenschaften im Allgemeinen ein Wesen haben muss, um ein Zwerg genannt zu werden, oder welche eine Ansammlung von Häusern haben muss, um eine Stadt genannt zu werden. Es geht um die speziellen sinnlichen Eigenschaften des direkt wahrgenommenen Gegenstands, die auf eine weitere Idee übertragen werden. Jede durch diese Prozesse aus einer sinnlichen Idee gewonnene Idee hat demnach sinnlichen Gehalt – und da jede Idee selbst direkt eine sinnliche ist oder aus einer sinnlichen gewonnen wird, kann davon ausgegangen werden, dass zumindest alle singulären Ideen für Gassendi sinnlichen Gehalt haben. Es gibt jedoch nicht nur singuläre, sondern auch allgemeine Ideen. Gassendi unterscheidet die Entstehungsprozesse allgemeiner Ideen deutlich von denen singulärer Ideen. Obwohl also auch Ideen von einzelnen Gegenständen als Definitionen
42 „Et compositione quidem, ut cum ex montis, aurique ideis compingit a mente idea montis aurei; cum ex ideis hominis, et equi ideam centauri; cum ex ideis leonis, draconis, et caprae ideam chimaerae; atque ita de ceateris. Ampliatione autem, vel imminutione, ut cum ex idea hominis magnitudinis vulgaris facit adaugendo ideam gigantis; aut ex eadem extenuando, ideam pygmaei. Translatione denique, et accommodatione; seu similitudine, ac proportione, ut cum ideam urbis, ad urbem non visam transfert, et accommodat, sicque urbem non visam visae instar fingit.“ (I.93a)
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allgemein sind, werden allgemeine Ideen von Gassendi in Hinblick auf ihre Entstehung unterschiedlich konzipiert. Und es scheint nun, dass die Prozesse, die zur Bildung dieser Ideen führen, das heißt Aggregation und Abstraktion, nicht garantieren, dass diese Ideen bildlichen bzw. sinnlichen Gehalt haben. Die durch Aggregation gewonnene Idee hat ebenso sinnlichen Gehalt wie die einzelnen Ideen, aus denen sie besteht. Der Prozess der Abstraktion scheint dies allerdings nicht zu gewährleisten: Eine abstrahierte Idee hat nicht notwendigerweise ebenso sinnlichen Gehalt wie die Idee, aus der sie abstrahiert ist. Denn wir könnten gerade die begrifflich nicht vollständig fassbaren qualitativen Eigenschaften der Gegenstände aus der Definition streichen und somit eine Idee gewinnen, die keinen sinnlichen Gehalt mehr hat. Dies scheint jedoch nicht Gassendis Auffassung von Ideen zu entsprechen, wie sich an Gassendis Diskussion von allgemeinen Ideen zeigt, wenn er sagt: „Allgemein genannt wird ferner auch eine durch Abstraktion (abstractio) gewonnene Idee, da sie gleichsam ausgewählt wurde, um das Merkmal zu repräsentieren, das allen singulären Ideen gemeinsam ist. Wenn sie daher etwas beigemischt hat, das nicht all diesen Ideen zukommt, dann wird sie zu diesem Grad weniger allgemein und auch weniger vollkommen sein. Auf diese Weise verhält es sich mit der Idee des Menschen, wenn sie ein vier Ellen großes Tier mit weißem Gesicht, gerader Nase etc. repräsentiert. Denn dies und anderes Derartiges sind Eigenschaften, die einigen Menschen eigentümlich sind und nicht allen gemeinsam. Es ist allerdings schwierig oder gar unmöglich, sich einen Menschen in so reiner Allgemeinheit vorzustellen, dass er weder groß noch klein noch mittlerer Statur, weder alt noch jung noch mittleren Alters, weder Schwarz noch weiß noch einer anderen besonderen Farbe ist. Aber zumindest muss man im Geist behalten, dass der Mensch, den wir als allgemein ansehen wollen, von all diesen unterscheidenden Merkmalen frei sein muss.”43 (I.95b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Der letzte Absatz dieses Zitats erinnert an George Berkeleys Argumentation gegen abstrakte Ideen. Laut Berkeley können wir uns Gegenstände nur mit bestimmten, nicht mit bestimmbaren Eigenschaften vorstellen, daher gibt es keine abstrakten Ideen. Allgemeine Ideen gibt es nur insofern, als dass eine einzelne Idee für viele Gegenstände stehen kann: „Ob andere diese wundersame Fähigkeit der Ideenabstraktion besitzen, wissen sie selbst am besten. Ich für meine Person finde mich im Besitz der Fähigkeit, mir die Ideen der Einzeldinge, die ich wahrgenommen habe, vorzustellen oder zu vergegenwärtigen und in mannigfacher Weise zusammenzusetzen und zu teilen. Ich kann mir einen Menschen mit zwei Köpfen oder Kopf und Oberkörper eines Menschen verbunden mit einem Pferdeleib vorstellen. Ich kann die 43 „Cumque deinde etiam abstractione generalis dicatur, quod selecta veluti sit, ut repraesentet quidpiam commune omnibus singularibus, si quid sane admistum habeat, quod omnibus non competat, eo minus erit generalis, atque adeo minus perfecta. Quo se habet modo hominis idea, si repraesentet animal staturae quadricubitalis, candida facie, naso recto etc. quippe haec, aliaque id genus aliquorum propria, non omnium hominum sunt communia. Ac difficile quidem est, ne dicam impossibile ita pure hominem in commune imaginari, ut neque magnus, neque parvus, neque mediocris staturae sit; ut neque senex, neque infans, neque intermediae aetatis; ut neque albus, neque niger, neque alterius specialis coloris: At mente saltem tenere oportet, hominem, quem communiter consideratum volumus, debere esse his omnibus discriminibus absolutum.“ (I.95b)
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Hand, das Auge, die Nase, jedes für sich abstrakt oder getrennt vom übrigen Körper betrachten. Aber welche Hand oder welches Auge ich mir auch vorstelle, eine bestimmte Gestalt und Farbe muss das Vorgestellte haben. Ebenso muss die Idee eines Menschen, die ich mir bilde, die eines weißen oder schwarzen oder braunen, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines großen oder kleinen oder mittelgroßen Menschen sein. Mit der Bildung der zuvor beschriebenen abstrakten Idee sind meine Geisteskräfte überfordert.“ (Principles, Introduction 10) „Ich muss hier feststellen, dass ich nicht schlechthin bestreite, dass es allgemeine Ideen gibt, sondern nur, dass es abstrakte allgemeine Ideen gibt. [...] Wenn wir sinnvoll reden und nur von dem sprechen wollen, was wir begreifen können, so müssen wir meines Erachtens anerkennen, dass eine Idee, die an und für sich etwas einzelnes (particular) ist, dadurch allgemein wird, dass sie als Repräsentant oder Stellvertreter aller anderen Einzelideen derselben Art gebraucht wird.“ (Principles, Introduction, 12)
Berkeley wendet sich hier gegen Lockes Theorie abstrakter Ideen und lehnt ab, dass wir Ideen bilden können, die in dem Sinn abstrakt sind, dass sie Gegenstände bloß mit bestimmbaren Eigenschaften repräsentieren, ohne gleichzeitig bestimmte Eigenschaften zu beinhalten. Allgemeine Ideen müssen für Berkeley daher in einzelnen Ideen bestehen, die als allgemeine aufgefasst werden. Dies ist aufgrund von Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Ideen möglich. Eine allgemeine Idee ist also eine einzelne, die für alle Ideen „derselben Art“ (ebd.), das heißt ihr in gewisser Hinsicht ähnliche Ideen steht.44 Gassendi sieht das Problem, dass sinnliche Vorstellungen immer bestimmt sind, offenbar auch. Ebenso scheint er der Auffassung zugeneigt, dass eine allgemeine Idee in einer einzelnen Idee besteht, die als allgemeine aufgefasst wird („[...] der Mensch, den wir als allgemein ansehen wollen [...]“, ebd., Hervorhebung von mir). Er scheint also Berkeleys Argumentation gegen Locke vorwegzunehmen, ohne dass Locke seine Position schon entwickelt hätte. Doch anders als für Berkeley hat die Tatsache, dass Ideen dadurch allgemein werden, dass sie für viele andere Ideen stehen, für Gassendi nicht zur Folge, dass Ideen nicht abstrahiert werden. Vielmehr diskutiert er dieses Problem gerade im Zusammenhang mit solchen Ideen, die durch den Prozess der Abstraktion gewonnen werden. Die Bestimmtheit sinnlichen Gehalts ist offenbar für die Allgemeinheit von Ideen ein Problem, weil damit auch Ideen, die durch den Prozess der Abstraktion entstehen, nicht tatsächlich allgemein sein können. Dies ist aber nur unter der Voraussetzung problematisch, dass auch Ideen, die durch Abstraktion entstehen, in jedem Fall sinnlichen Gehalt haben.45 Denn es ist zwar unmöglich, sich bildlich oder sinnlich einen Menschen vorzustellen, der keine bestimmten Eigenschaften hat. Es ist aber möglich, eine so weit abstrakte Definition dessen zu gewinnen, was ein Mensch ist, dass nicht mehr auf sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften von Menschen Bezug genommen wird. Nur wenn also Ideen wesentlich sinnliche Vor44 Pitcher problematisiert die Behauptung, dass einzelne Ideen auf diese Weise allgemein sein können mit dem Hinweis, dass nicht festgelegt ist, wofür eine bestimmte einzelne Idee steht, sondern dass dies vom Subjekt abhängt (Pitcher 1999, 67). 45 Ebenso wie Berkeleys Argumentation gegen abstrakte Ideen auf der Voraussetzung beruht, dass alle Ideen bildlich sind (vgl. Pitcher 1999, 52ff), ergeben auch Gassendis Aussagen nur Sinn, wenn man für Ideen notwendig sinnlichen Gehalt annimmt.
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stellungen sind, sodass eine Vorstellung, die von jeglichem sinnlichen Gehalt abstrahiert, von Gassendi keine Idee mehr genannt wird, kann erklärt werden, dass die Bestimmtheit sinnlichen Gehalts für die Allgemeinheit abstrakter Ideen ein Problem darstellt. Damit zeigt sich, dass für Gassendi alle Ideen, auch abstrakte, notwendigerweise sinnlichen Gehalt haben. An Gassendis Aussage, dass „ein Mensch“ die Eigenschaften exemplifizieren soll, die allen Menschen gemeinsam sind, zeigt sich auch, worin dieser sinnliche Gehalt allgemeiner Ideen besteht – nämlich in einem sinnlichen Eindruck eines bestimmten Gegenstands, der als Prototyp oder Modell für eine bestimmte Art von Gegenstand steht. Zu einer allgemeinen Idee einer bestimmten Art von Gegenstand gehören also ein Sinneseindruck eines bestimmten Gegenstands, eine aus diesem gewonnene Definition der wesentlichen Eigenschaften dieser Art von Gegenstand und eine Kollektion aller Ideen von Gegenständen dieser Art. Ein Sinneseindruck von einem Menschen kann also Teil mehrerer Ideen sein. Er kann Teil einer singulären Idee sein, wenn durch eine ostensive Definition ein bestimmter Gegenstand als Gegenstand der Idee festgelegt wurde, und ich daraus die sehr genaue Definition gewinne, was es bedeutet, dieser Mensch zu sein; und er kann Teil einer allgemeinen Idee sein, wenn ich daraus eine weite Definition dessen gewinne, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und diese Definition auf alle meine singulären Mensch-Ideen anwende. Zumindest für die Anwendung im Urteil zeigt sich daran einerseits, dass die Definition als Teil der Idee aufgefasst werden muss, da andernfalls ein Problem besteht, den Bezug der Idee festzulegen. Denn ein Bild, ein sinnlicher Eindruck, ist nicht eindeutig bezüglich seines Objekts. Ein Eindruck kann für unterschiedliche Dinge stehen, je nachdem wie er aufgefasst wird. Soll also die Idee in einem Urteil auf andere Ideen angewendet werden, muss sie eine Definition enthalten. Andererseits benötigen wir einen Eindruck, um überhaupt in der Lage zu sein, eine Definition zu bilden. Es kann und muss also bei Gassendi innerhalb der Klasse der Ideen nicht kategorial zwischen singulären und allgemeinen Ideen unterschieden werden, auch wenn die Unterscheidung bei oberflächlicher Betrachtung den Schluss nahelegte, dass singuläre Ideen Sinneseindrücke, allgemeine Ideen aber Begriffe sind. Bei genauer Untersuchung der Beschreibung der Entstehungsprozesse singulärer Ideen zeigt sich, dass diese als Prolepsen, und damit als begrifflich aufzufassen sind. Gassendis Beschreibung allgemeiner Ideen dagegen macht deutlich, dass er Sinneseindrücke als wesentliche Bestandteile dieser Ideen ansieht. Alle Ideen müssen demnach aus einem sinnlichen Eindruck eines bestimmten Gegenstands bestehen, und aus einer aus diesem Eindruck gewonnenen Definition dessen, was es bedeutet, ein bestimmter Gegenstand zu sein. 3.2.3 Ideen als moderne Begriffe In der Diskussion von Gassendis Aussagen zu Propositionen hatten wir festgelegt, dass allgemeine Vorstellungen, die Prädikation ermöglichen, Begriffe genannt werden sollen. In diesem Sinn sind Ideen bei Gassendi Begriffe, da sie für ihn die
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Vorstellungen darstellen, unter die eine andere Vorstellung im Urteil subsumiert wird. Es hatte sich auch gezeigt, dass Gassendi mit seiner Theorie von allgemeinen Ideen die Vorstellung der modernen Logik von Extension und Intension eines Begriffs auffangen kann. Ein Exkurs in die analytische Begriffstheorie soll nun das Verständnis von Ideen vertiefen. Es soll zeigen, in welchem Sinn Ideen als Definitionen mit sinnlichem Gehalt nicht nur in einem technischen, sondern auch in einem systematischen Sinn Begriffe genannt werden können. Auf den ersten Blick könnte man aufgrund unserer Analyse des Ideenbegriffs bei Gassendi versucht sein, seine Ideentheorie in die Nähe der sogenannten „klassischen Theorie“ von Begriffen zu rücken. Als die klassische Position in der Begriffstheorie wird die angesehen, nach der Begriffe in Definitionen bestehen bzw. mit Definitionen identifiziert werden.46 Definitionen wiederum werden als Liste notwendiger und hinreichender Bedingungen dafür verstanden, dass ein Gegenstand ein Gegenstand einer bestimmten Art ist.47 Die Ursprünge dieser Theorie werden in der Antike, in den platonischen Dialogen und bei Aristoteles gesehen, wenn sich auch hier nicht die explizite Aussage findet, dass Begriffe mit Definitionen zu identifizieren sind. Im Gegensatz dazu bringt Gassendi Ideen tatsächlich explizit mit Definitionen in Verbindung. Systematische Erwägungen lassen darüber hinaus darauf schließen, dass Ideen tatsächlich Definitionen enthalten, sodass sich die Behauptung aufstellen ließe, dass Gassendi – im Sinn der klassischen Begriffstheorie – der Auffassung ist, dass Ideen zum Teil definitorische Struktur haben. Allerdings ergibt sich dadurch, dass Gassendi die Definitionstheorie Aristoteles’ übernimmt, der Unterschied, dass Definitionen in seiner Ideentheorie nicht aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestehen, sondern in der Angabe von Genus und Differentia einer Art von Gegenstand. Im Gegensatz zu notwendigen und hinreichenden Bedingungen, scheint es, ist es kontextabhängig, welche Differentia dazu dienen, eine bestimmte Art von Gegenstand zu identifizieren. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass ihre definitorische Struktur nicht die einzige wesentliche Eigenschaft von Ideen ist. Aus Gassendis Diskussion von allgemeinen Ideen ließ sich schließen, dass er die Auffassung vertritt, dass eine Idee auch in einem sinnlichen Eindruck (oder auch Eindrücken aus verschiedenen Sinnen) des Gegenstands besteht, auf den sie sich bezieht. Dies gilt sowohl für Ideen, die sich nur auf einen, als auch auf Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen. In jedem Fall kann ein solcher Eindruck nicht alle Eigenschaften einfangen, die den Gegenstand oder die Gegenstände der Idee ausmachen. Insofern ist ein solcher Eindruck immer als Prototyp oder Modell für den repräsentierten Gegenstand zu verstehen. Dieses Modell ist aber unserer Interpretation nach die Grundlage für die Definition, die es uns erlaubt, einen Gegenstand als bestimmten Gegenstand zu identifizieren. Auf dieser Grundlage kann also nicht erwartet werden, dass das Modell es ermöglich, eine Definition zu gewinnen, die notwendige und hinreichende 46 Vgl. Margolis & Laurence 1999b, 8ff. 47 Margolis & Laurence 1999b, 11. „What this means is that most concepts encode necessary and sufficient conditions for their own application.“ (Margolis & Laurence 1999b, 9)
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Bedingungen aufstellt. Die aus einem solchen Modell gewonnene Definition wird nicht alle Eigenschaften, die ein solcher Gegenstand hat, einfangen; vielmehr könnte man meinen, dass in ihr die Eigenschaften angegeben werden, die ein Gegenstand einer bestimmten Art typischerweise hat. In diesem Sinn entspricht Gassendis Ideentheorie einer anderen Form der modernen Begriffstheorie, der Prototyptheorie. Hier werden Begriffe als Beschreibungen angesehen, die eben nicht notwendige Eigenschaften von Gegenständen angeben; so muss ein Gegenstand, der von einer bestimmten Art sein (d.h. unter einen Begriff fallen) soll, nicht alle Eigenschaften haben, die auf die Beschreibung des Prototyps zutreffen.48 Er kann auch unter den Begriff fallen, wenn er nur eine bestimmte Anzahl von, oder bestimmte besonders relevante Eigenschaften hat. Diese Beschreibung passt zu Gassendis Problem mit der allgemeinen Vorstellung des Menschen: Die sinnliche Prototyp-Vorstellung des Menschen hat viele Eigenschaften, die die meisten Menschen nicht haben, und manche Eigenschaft, die manche Menschen nicht haben. Ein Mensch mit nur einem Bein ist ein Mensch, und er sollte unter die allgemeine Idee des Menschen fallen, obwohl der Prototyp-Mensch sicherlich zweibeinig ist, und „zweibeinig“ laut Gassendi (I.97b) auch Teil der Definition sein kann, die aus dem prototypischen Mensch-Eindruck gewonnen wird. Allerdings unterscheidet sich das hier skizzierte gassendische Modell von Ideen als Begriffen von modernen Prototyp-Theorien eben durch den sinnlichen Aspekt. Daraus, dass ein sinnlicher Eindruck Teil der Idee ist, lässt sich im Fall Gassendis schließen, dass auch die Beschreibung des Gegenstands eine Beschreibung typischer Eigenschaften dieser Art von Gegenstand ist. Im Fall moderner Theorien ist der Begriff aber beschränkt auf eben diese Beschreibung der Eigenschaften, ohne dass eine sinnliche Grundlage für diese Eigenschaften als Teil des Begriffs gefordert wird.49 Die sinnliche Grundlage ist aber auch im Fall Gassendis, wie sich oben gezeigt hatte, nicht konstitutiv dafür, worauf sich die Idee bezieht, das heißt von welcher Art Gegenstand die Idee eine Idee ist. Denn ein sinnlicher Eindruck kann als Prototyp für verschiedene Ideen dienen – der Eindruck eines Menschen z.B. für die Idee eines bestimmten Menschen und für die Idee des Menschen im Allgemeinen. Eine Idee wird also dadurch zu der Idee, die sie ist, dass dieser Eindruck auf bestimmte Weise beschrieben wird. Insofern findet zwar der Bezug auf den Gegenstand mithilfe eines sinnlichen Eindrucks statt; der Bezug wird aber durch die Konzeptualisierung des Eindrucks festgelegt. Die Behauptung, dass Ideen bei Gassendi in einem modernen Sinn als Begriffe verstanden werden können, ist also aus diesem Grund nicht fehlgeleitet. Selbstverständlich findet sich in Gassendis Ideentheorie dennoch keine moderne Begriffstheorie. Dieser kurze Vergleich mit zwei modernen Analysen von Be48 Margolis & Laurence 1999b, 27: „According to the Prototype Theory, most concepts – including most lexical concepts – are complex representations whose structure encodes a statistical analysis of the properties their members tend to have. Although the items in the extension of a concept tend to have these properties, for any given feature and the property it expresses, there may be items in the extension of a concept that fail to instantiate the property.“ 49 So zum Beispiel Smith & Medin 1981, 208: „The representation of a concept consists of separate descriptions of some of its exemplars.“
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griffen zeigt dennoch, dass Gassendis Ideen von einem systematischen Standpunkt als begrifflich aufgefasst werden können. Aufgrund ihres wesentlich sinnlichen Gehalts sind Ideen aber, wie wir im Folgenden sehen werden, auf empirische Begriffe beschränkt. 3.2.4 Ideen vs. theoretische Vorstellungen Aufgrund der Entstehung von Ideen, wie Gassendi sie in der Institutio logica beschreibt, scheint sich also zu ergeben, dass er tatsächlich Ideen als wesentlich sowohl regelhafte als auch sinnliche Vorstellungen aufgefasst hat. Doch es scheint, dass wir auch Begriffe bilden, die keinen sinnlichen Anteil haben. Hier sind zwei verschiedene Arten von Begriffen vorstellbar. Zum einen ist es möglich, aus Gassendis Ideen den sinnlichen Anteil zu streichen und so zu einem Begriff zu kommen, der nicht mehr auf die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen Bezug nimmt, sondern diese Eigenschaften komplett abstrahiert von ihren materiellen Instanziierungen darstellt. Ein solches Vorgehen ist zum Beispiel im Fall der reinen Mathematik denkbar. Wir können eine allgemeine sinnliche Vorstellung von Dreiecken aufgrund von Sinneswahrnehmung bilden. Eine solche Idee in Gassendis Sinn bestünde in einem bestimmten Eindruck eines Dreiecks und der aus diesem Eindruck abgeleiteten Definition dessen, was ein Dreieck wesentlich ausmacht – z.B. „dreiwinkliger, geometrischer Körper“. Diese Idee ermöglicht es, Dreiecke in der Welt zu erkennen, zu zeichnen, von anderen Figuren zu unterscheiden etc. Da der Bezug aber über einen Sinneseindruck zustande kommt, bezieht sich diese Definition immer auf Eigenschaften materieller Gegenstände. Wir können aber auch über Dreiecke im Abstrakten sprechen, wie es zum Beispiel in der Euklidischen Geometrie geschieht. Hier haben Dreiecke Eigenschaften, die in der materiellen Welt nicht möglich und damit auch nicht wahrnehmbar sind, wie zum Beispiel aus Linien zu bestehen, die keine Dicke haben. Insofern also arbeitet die reine Mathematik mit abstrakten Begriffen, die Eigenschaften zuschreiben, die in der materiellen Welt nicht auftreten.50 Zum anderen ist es vorstellbar, dass wir theoretische Begriffe bilden, solche also, die wir nicht aus der Sinneserfahrung von Gegenständen direkt bilden, sondern deren mögliche Gegenstände als Erklärung für bestimmte Phänomene eingeführt werden. Auch mit diesen Begriffen werden Gegenständen Eigenschaften zugeschrieben, die nicht wahrgenommen wurden und möglicherweise auch nicht wahrnehmbar sind. Dennoch sind diese Begriffe in Theorien anwendbar und nützlich. Ein Beispiel für Begriffe dieser Art sind Begriffe von Farben, die uns eine optische Theorie der klassischen Physik liefert. Diese nehmen nur Bezug auf Wellenlängen und Lichtstrahlen, nicht darauf, wie eine Farbe in der Sinneswahrnehmung 50 Auf diese Weise fasst Gassendi die Gegenstände der reinen Mathematik auf (vgl. AT VII 329/III.385a/b). Es ist also zumindest davon auszugehen, dass es für ihn reine Mathematik gibt.
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aussieht. Inhaltlich wird bei solchen Begriffen also kein sinnlicher Aspekt benötigt. Ein Blinder kann sich optische Theorien aneignen und mit diesen arbeiten, ohne je einen einzigen optischen Sinneseindruck gehabt zu haben. Diese theoretische Information ist auch völlig unerheblich dafür, außerhalb der Theorie die Farbe Rot zu identifizieren. Weder also scheint der Inhalt der theoretischen Vorstellung der Farbe Rot von dem der sinnlichen Idee abzuhängen; noch benötigen wir für eine korrekte sinnliche Idee von Rot die Information der nicht-sinnlichen Vorstellung. Nun stellt sich die Frage, wie Gassendi mit Begriffen umgeht, die zum Teil oder vollständig über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften von Gegenständen hinausgehen. Grundsätzlich steht ihm einerseits die Möglichkeit offen zu leugnen, dass wir tatsächlich abstrakte und theoretische Begriffe bilden, andererseits die Möglichkeit, ihre Existenz anzuerkennen. Im ersten Fall müsste er die Behauptung aufstellen, dass wir zwar meinen, auf diese Weise über Dinge nachdenken zu können, dass wir aber tatsächlich nicht anders können als uns via ihrer sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften auf Gegenstände zu beziehen. Im zweiten Fall wäre er verpflichtet zu erklären, wie wir solche Begriffe bilden, welche Art Erkenntnis sie ermöglichen und wie sie in Beziehung zu Ideen stehen. In der Disquisitio sind Gassendis Aussagen zu dieser Frage nicht einheitlich. Einerseits scheint er im Zusammenhang einer Diskussion über die theoretische Idee der Sonne durchaus Vorstellungen zuzulassen, die über das sinnliche Erfassen hinausgehen. Descartes stellt die Behauptung auf, dass wir zwei Ideen der Sonne haben, eine empirische und eine theoretische. Die erste entsteht durch Sinneserfahrung, die zweite allein durch astronomische Beweise (AT VII 39). Gassendi scheint diese Unterscheidung grundsätzlich zu akzeptieren, wenn er zurückweist, dass dies zeigt, dass die zweite Idee eingeboren ist: „Dass wir nur durch den Geist jene ungeheuer große Idee der Sonne erfassen, beweist aber nicht, dass sie aus einem angeborenen Begriff gewonnen wird“ (AT VII 283/III.320b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl).51 Während die Eingeborenheit der Idee zurückgewiesen wird, bestätigt Gassendi Descartes’ Behauptung, dass wir eine Vorstellung der Sonne haben, die allein durch den Geist gewonnen wird, und die über sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften der Sonne hinausgeht. Dementsprechend trifft Gassendi später in der Diskussion folgende Unterscheidung: „Es ist nicht dasselbe, wenn wir etwas einerseits durch eine wahre Idee oder ein Bild erfassen oder aber durch die notwendige Schlussfolgerung, die von einer zuvor aufgestellten Annahme ausgeht. Denn auf die erste Weise begreifen wir (concipimus), dass ein Ding so und so beschaffen ist; auf die zweite Weise hingegen, dass es so und so beschaffen sein muss.“ 52 (III.322b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
51 „Quod autem mente sola percipiamus vastam illam ideam solis, non ea propterea elicitur ex innata quadam notione [...].“ (AT VII 283/III.320b) 52 „[A]liud esse, percipere nos aliquid per veram ideam, seu imaginem; aliud per necessariam ex supposito aliquo antecedente consequutionem. Etenim priore modo concipimus rem esse quid tale, posteriore debere esse quidpiam tale [...].“ (III.322b)
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In einer Idee begreifen wir die Eigenschaften der Gegenstände also direkt – wir nehmen an der Sonne eine gewisse Größe, Form, Farbe und Temperatur wahr. Durch eine Schlussfolgerung begreifen wir die Eigenschaften aufgrund von zuvor aufgestellten Annahmen und schreiben der Sonne Eigenschaften zu, die wir nicht wahrnehmen können, nämlich z.B. dass sie „mehr als hundertsechzig Mal so groß ist wie die Erde“53 (AT VII 284/III.321a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl). Diese Aussagen sprechen also dafür, dass Gassendi schon zur Zeit der Einwände genuin theoretische Vorstellungen annimmt. Allerdings gibt es auch Aussagen, die dieser Annahme widersprechen. So scheint Gassendi in der Argumentation gegen die Eingeborenheit der theoretischen Vorstellung zu behaupten, dass auch der theoretische Begriff immer auf sinnlichen Eindrücken beruht und nicht über diese hinausgeht: „Und willst du einsehen, dass von einer solchen Idee der Sonne uns die Natur nichts eingepflanzt hat? Suche sie doch bei einem Blindgeborenen! Du wirst erstens erfahren, dass sie in seinem Geist weder Farbe noch Leuchtkraft aufweist. Ferner wirst du feststellen, dass sie auch nicht rund ist, es sei denn, dass jemand ihn darauf aufmerksam gemacht und er selber einen runden Körper mit seinen Händen bereits ertastet hat. Schließlich wirst du erfahren, dass sie nicht so groß ist, es sei denn, er hat durch eigene Schlussfolgerung oder fremde Autorität die bereits erfasste Idee vergrößert.“54 (AT VII 284/III.320b, Übersetzung Borcherding/ Rubini/Seidl)
Ein Blinder ist demnach nur in der Lage, einen theoretischen Begriff der Sonne zu bilden, weil er sinnliche Eindrücke hat. An anderer Stelle scheint Gassendi in Frage zu stellen, dass eine solche Schlussfolgerung tatsächlich zu einem eigenständigen theoretischen Begriff führt: „Doch ich werfe folgende Frage auf: Haben wir selbst, die wir so oft die Sonne erblickt, so oft ihren erscheinenden Durchmesser beobachtet, so oft ihren wahren berechnet haben – haben wir etwa, frage ich dich, ein anderes Bild von der Sonne als das landläufige? Wir folgern zwar mit der Vernunft [ratione], dass die Sonne mehr als hundertsechzig Mal so groß ist wie die Erde. Aber haben wir deshalb die Idee eines so außerordentlich großen Körpers?“ 55 (AT VII 284/III.320b/321a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Diese Aussage könnte als Abgrenzung zwischen Ideen und theoretischen Vorstellungen verstanden werden, der der vorigen Analyse von Ideen entspräche: wir können kein Bild, das heißt keinen sinnlichen Eindruck der tatsächlichen Größe der Sonne haben. Weil Ideen aber immer einen sinnlichen Eindruck beinhalten, heißt dies, dass wir keine Idee der tatsächlichen Größe der Sonne bilden können. Was
53 „[...] esse solem maiorem terra centum sexaginta [...]“ (AT VII 284/III.321a) 54 „Et capere vis huiusce ideae nihil a natura esse insitum; illam require ex caeco nato. Experiere primum non esse in illius mente coloratam, aut lucidam: experiere deinde neque esse rotundam, nisi quis illum monuerit, ipseque prius corpus rotundum manibus attrectaverit: experiere denique non esse tantam, nisi vel ratione, vel authoritate motus praeacceptam ampliaverit.“ (AT VII 284/III.320b) 55 „[...Q]uaeso te, inquam, habemus-ne aliam, quam vulgarem imaginem solis? Colligimus quidem ratione esse solem maiorem terra centum sexaginta, et pluribus vicibus: at propterea ideam – ne tam vasti corporis habemus?“ (AT VII 284/III.320b/321a)
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wir durch Schlussfolgerungen bilden, sind also Begriffe anderer Art, als Ideen es sind. Allerdings ist fraglich, ob diese Interpretation im Licht anderer Behauptungen in den Einwänden aufrechterhalten werden kann.56 Denn Gassendi lehnt Descartes’ Argumentation für die Immaterialität des Geistes unter anderem deswegen ab, weil er der Auffassung ist, dass wir keine Begriffe bilden, die tatsächlich über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände hinausgehen. So weist er zurück, dass die Vorstellungskraft (imaginatio) tatsächlich vom Verstand unterschieden werden kann. Er bringt die Auffassung zum Ausdruck, dass Tiere nicht wesentlich andere Vermögen haben als Menschen (AT VII 270f/III.304a), sodass der Unterschied zwischen Vorstellungen und Verstehen nur ein gradueller ist: „Daran stört mich nur, dass du hier wieder zwischen Vorstellen und Verstehen unterscheidest. Denn, oh Geist, diese beiden scheinen die Handlung ein und desselben Vermögens zu sein, wie wir oben erwähnt haben, und wenn es einen Unterschied gibt, scheint dieser nur ein gradueller zu sein.“57 (AT VII 329/III.385b, Übersetzung Seidl)
Darüber hinaus stellt Gassendi gegen Descartes in Frage, dass wir Begriffe bilden können, in denen wir über sinnliches Material hinausgehen: „Später fügst du hinzu: Die Kraft, vorzustellen, insoweit sie von der Kraft, einzusehen, unterschieden wird, ist für Dein Wesen nicht erforderlich. Wie aber kann das sein, wenn es sich um ein und dieselbe Kraft handelt, deren Funktionen lediglich graduell verschieden sind? Du fügst hinzu: Der Geist, wenn er vorstellt, wendet sich dem Körper zu, und wenn er einsieht, sich selbst oder der Idee, die er in sich hat. Doch wie kann das so sein, wenn sich der Geist weder sich selbst noch einer Idee zuwenden kann, ohne sich zugleich auch irgendetwas Körperlichem oder durch eine körperliche Idee Repräsentiertem zuzuwenden? Denn zumindest sind das Dreieck, das Fünfeck, das Tausendeck, das Zehntausendeck und die übrigen Figuren oder deren Ideen insgesamt körperlich, und wenn der Geist sie einsieht, kann er sie nur als körperliche Dinge oder gleichsam wie körperliche Dinge betrachten.“58 (AT VII 331f/III.386a, Übersetzung Wohlers)
Hier weist Gassendi also zurück, dass wir Begriffe bilden können, die über das Körperliche hinausgehen. Auch wenn wir uns auf Gegenstände beziehen, die wir nicht als körperlich denken, ist unsere Vorstellung dieser Gegenstände doch immer aus der Wahrnehmung entliehen (AT VII 332/III.386a). In gewissem Sinn sind wir 56 Dies korrigiert meine Auffassung aus Seidl 2010, 73ff, dass Gassendi in den Einwänden für die Einführung theoretischer Begriffe argumentiert. 57 „In eo solum haereo, quod heic iterum imaginationem ab intellectione distinguis. Quippe, o Mens, haec duae videntur unius, eiusdemque facultatis actiones, ut supra insinuavimus, et si quid sit discriminis, id non videtur amplius esse, quam secundum magis, et minus [...].“ (AT VII 329/III.385b) 58 „Asseris postea, vim imaginandi, prout a vi intelligendi distinguitur, ad tui essentiam non requiri: quomodo id vero, si una eademque vis sit, cuius functiones differeant secundum magis et minus duntaxat? Subiicis, mentem imaginando sese convertere ad corpus, intelligendo, ad seipsam, ideamve quam habet in se. Quid ita vero, si non potest mens sese ad seipsam, ideamve ullam convertere, quin simul sese convertat ad aliquid corporeum, ideave corporea repraesentatum? Nam Trigonum quidem, Pentagonum, Chiliagonum, Myriagonum, caeteraeque figurae, earumve ideae corporeae omnino sunt; neque potset mens ad illas, nisi ut corporeas, corporearumve instar intelligendo attendere.“ (AT VII 331f/III.386a)
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damit gar nicht in der Lage, Gegenständen Eigenschaften zuzuschreiben, die uns nicht durch sinnliche Wahrnehmung zugänglich sind. Offenbar vertritt Gassendi also nicht die Auffassung, dass der menschliche Verstand unabhängig und kategorial verschieden von der Vorstellungskraft ist; daher muss auch zurückgewiesen werden, dass der Geist tatsächlich eigenständige Begriffe bildet. 59 Das heißt, man kann nicht davon ausgehen, dass Gassendi in der Disquisitio abstrakte oder theoretische Begriffe einführt, auch wenn er die Möglichkeit an mancher Stelle zuzulassen scheint. Im Syntagma stellt es sich anders dar. Zu abstrakten Begriffen wie denen der reinen Mathematik äußert sich Gassendi nicht ausführlich. Doch bringt er zum Ausdruck, dass reine Mathematik betrieben werden kann, wenn er vor der Anwendung ihrer Ergebnisse in der Physik warnt: „Der Physiker muss sich mit dem Wahrnehmbaren beschäftigen und mit der tatsächlich existierenden Natur der Dinge, sich nicht der (sogenannten) Abstraktionen von der Materie bedienen“ (I.264a, Übersetzung Seidl).60 Wenn dies auch nicht das Feld des Physikers ist, verpflichtet sich Gassendi mit dieser Aussage doch darauf, dass es möglich ist, von der Sinneswahrnehmung zu abstrahieren. Bezüglich theoretischer Begriffe scheint Gassendi aufgrund des Ziels, den Atomismus als überzeugendste philosophische Theorie aufzuweisen, zur Annahme theoretischer Entitäten, und damit auch Begriffe verpflichtet. Denn definitionsgemäß sind wir nicht in der Lage, Atome wahrzunehmen, sie müssen aber in gehaltvollem Sinn postuliert werden, wenn der Atomismus als Theorie ernst genommen werden soll. Dementsprechend unterscheidet Gassendi im Syntagma im Gegensatz zur Disquisitio zwischen Vorstellungskraft (phantasia) und Verstand gerade aufgrund der Tatsache, dass der Verstand theoretische Vorstellungen bildet: „Und so gibt es in unserem Verstand eine species, durch die wir im Schließen soweit fortgeführt werden, dass wir etwas verstehen, was wir uns nicht vorstellen, beziehungsweise von dem wir keine anschauliche Vorstellung haben können, so viel wir auch die Geisteskräfte anstrengen mögen. Ich pflege als Beispiel hierfür die Größe der Sonne heranzuziehen. Freilich verstehen wir, von einer Schlussfolgerung geleitet, dass die Sonne hundertsechzig Mal so groß ist wie die Erde. Unsere Vorstellung aber widerspricht dem, und so sehr wir uns auch anstrengen mögen, wir finden nur heraus, dass wir durch Vorstellen eine solch unermessliche Größe nicht erreichen können; und dass die Größe entweder in der Vorstellung einer so furchtbar kleinen Kugel, wie groß sie uns unser Sinn zeigt, besteht, oder darin, dass wir uns etwas nicht viel größeres undeutlich vorstellen. [... S]o dass feststeht, dass wir verstehen, was wir uns nicht vorstellen können, und dass der Verstand so von der Vorstellungskraft unterschieden werden muss, dass die Vorstellungskraft materielle species hat, unter denen sie sich Dinge vorstellt, der Verstand aber keine hat, unter denen er Dinge versteht; zum Beispiel auch nicht jene der Größe, die er in der Sonne erfasst; sondern er versteht bloß aufgrund der ihm eigenen Kraft
59 Siehe z.B. Bloch 1971, 401. 60 „Physici, inquam, cuius est circa sensibilia, ac in ipsa rerum natura revera exsistentia versari; non vero abstractionibus (quas vocant) a materia uti.“ (I.264a)
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi bzw. durch Schlussfolgerung, dass die Sonne diese Größe hat.“ 61 (II.440b/441a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Zwar kann also die Vorstellungskraft keine Idee bilden, die der tatsächlichen Größe der Sonne entspricht, und wenn sie dies versucht, werden die Vorstellungen nur immer konfuser. Der Verstand aber begreift die tatsächliche Größe der Sonne durch Schlussfolgerung, und obwohl es dazu keinen körperlichen, d.h. sinnlichen Eindruck gibt, ist dies eine legitime Zuschreibung einer Eigenschaft. Obwohl sich die Beschreibungen des Vorgangs ähneln, trennt Gassendi also im späteren Syntagma kategorial zwischen Verstand und Vorstellungskraft, in den Einwänden gegen die Meditationen nicht. Zunächst vertritt Gassendi die Meinung, dass nicht tatsächlich über die Eigenschaften, die der Sonne durch eine Idee zugeschrieben werden, hinausgegangen werden kann, später ändert sich seine Auffassung. Es bleibt allerdings dabei, dass die theoretische Vorstellung der Sonne auf Sinneserfahrung beruht, und auch Eigenschaften beinhaltet, die durchaus sinnlich wahrnehmbar sind. Eine theoretische Vorstellung wird also in vielen Fällen derart sein, dass sie nur in bestimmter Hinsicht über die Idee hinausgeht, und in vielem mit ihr übereinstimmt. Auch wenn Gassendi in den Einwänden noch nicht zu dieser Schlussfolgerung in der Lage ist, kann bezüglich seiner späteren Position doch festgestellt werden, dass theoretische Vorstellungen sich auf die oben dargestellte Weise (III.322b, s.o., S.66f) wesentlich von Ideen unterscheiden: Die einen beziehen sich nur auf die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften materieller Gegenstände, die anderen nicht.62
61 „Itaque est in nobis Intellectionis species, qua ratiocinando eo provenimur, ut aliquid intelligamus, quod imaginari, seu cuius habere obversantem imaginem, quantumcumque animi vireis contenderimus, non possimus. Exemplum petere ex Solis magnitudine soleo. Quippe, cum ratiocinio ducti, intelligamus Solem esse centies sexagies maiorem Terra; Imaginatio tamen refragatur, et quantum libet connitamur, experimur nihilominus, non posse nos imaginandi assequi tantam vastitatem: sed aut in imaginatione tantuli globi, quantulum sensus nobis demonstrat, consistere, aut quid praeterea non multo maius, idque confusum imaginari. [... U]t constet quidpiam nos intelligere, quod imaginari non liceat, et Intellectum ita esse distinctum a Phantasia, ut cum Phantasia habeat materialeis species, sub quibus res imaginetur, non habeat tamen Intellectus, sub quibus res intelligat; neque enim ullam, v.c. habet illius magnitudinis, quam in Sole intelligit; sed tantum vi propria, seu ratiocinando, eam esse in Sole magnitudinem comprehendit;“ (II.440b/441a) 62 Spruit identifiziert Ideen sowohl mit species (Spruit 1995, 412) als auch mit Prolepsen (die er ebenfalls als begrifflich aufzufassen scheint, ebd., 414) als auch mit abstrakten und theoretischen Vorstellungen (ebd., 415: „[...] the fact that all cognitive representations have their origin in sense, did not mean that all ideas are sensible. Of incorporeal things, for example, there are no species, but only ideas.“, ebd., 415). Spruit bezieht sich dabei auf eine Argumentation Gassendis (I.297b), in der Gassendi Schlüsse auf nicht-wahrnehmbare Dinge und Eigenschaften von Dingen erklärt; diese werden von Gassendi allerdings nicht mit dem Begriff der Idee bezeichnet.
3.2 Ideen als Bilder und Definitionen
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3.2.5 Zusammenfassung Nach der hier vorgeschlagenen Interpretation muss der Ideenbegriff also auf eine sehr bestimmte Klasse von Vorstellungen beschränkt bleiben, nämlich solche, die sowohl sinnlichen als auch begrifflichen Gehalt haben. Ideen sind von Gassendi offenbar in Anlehnung an epikureische Prolepsen konzipiert, die aber, wie sich in der Diskussion des epikureischen Hintergrunds herausgestellt hatte, auf zweierlei Weise interpretiert werden können. Vor allem aufgrund der Rolle, die Definitionen in Ideen spielen, ist Gassendi nach unserer Darstellung eher der zweiten Interpretation zuzuordnen, nach der Ideen/Prolepsen nicht bloß assoziativ und automatisch entstehen, sondern der Verstand eine aktive Rolle bei ihrer Bildung einnimmt. Wie gesehen behauptet Gassendi im Syntagma aber nicht, dass dies die einzige Art allgemeiner Vorstellungen ist, sondern er lässt auch die Bildung theoretischer und abstrakter Begriffe zu. Mit der Einführung theoretischer Vorstellungen, die über sinnlichen Gehalt hinausgehen und damit keine Ideen mehr sind, ist eine weitere Stufe im Erkenntnisprozess erreicht, die sich auch bei Epikur findet (s.o., S.38ff). Auf dieser Ebene stehen nicht nur Begriffe, von deren Objekt wir auch eine Idee, also eine sinnliche Vorstellung haben; auch solche, die wir aufgrund von „Zeichen“ gebildet haben, sind theoretische Begriffe dieser Art. Ein solcher Begriff ist zum Beispiel der Begriff des leeren Raums, dessen sinnliche Wahrnehmung uns natürlich nicht möglich ist, den wir aber annehmen müssen, so Gassendi, um die Bewegung der Gegenstände zu erklären (I.193b). Die Bildung theoretischer Begriffe ist allerdings immer abhängig von der Sinneserfahrung, insofern widerspricht die Annahme solcher Begriffe nicht Gassendis Empirismus. Denn entweder bilden wir theoretische Begriffe eines Gegenstands aufgrund der sinnlichen Wahrnehmung dieses Gegenstands. Dies ist zum Beispiel beim theoretischen Begriff der Sonne der Fall. Oder wir bilden theoretische Begriffe als Erklärung für Phänomene, die wir sinnlich wahrnehmen. Auch dann sind wir bei der Bildung des theoretischen Begriffs davon abhängig, was die Sinneserfahrung liefert. Bei der Bildung von Ideen jedoch unterliegen wir den Zwängen dessen, was wir wahrnehmen und wahrnehmen können. Ohne sinnliche Wahrnehmung wären wir nicht in der Lage, Ideen zu bilden. Wie Ideen als allgemeine Vorstellungen die Grundlage von Propositionen und theoretischen Begriffen bilden, so bilden sinnliche Eindrücke von Gegenständen die Grundlage von Ideen. Insofern setzen Ideen als sinnlich-definitorische Vorstellungen voraus, dass wir sinnliche Eindrücke haben. Daher werden wir uns nun Gassendis Theorie ebendieser Eindrücke zuwenden. Diese Betrachtung bildet den Schluss unserer systematischen Untersuchung der Arten von Vorstellungen, die Gassendis Erkenntnistheorie beinhaltet.
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
3.3 SPECIES Wie Epikur unterscheidet Gassendi zwischen drei verschiedenen Arten von Vorstellungen: Wahrnehmung, bei Gassendi species genannt, Idee und Urteil. Wahrnehmungen sind dabei die ersten Vorstellungen, die wir haben. Aus ihnen bilden wir Ideen, und indem wir mehrere einzelne Ideen zu einer komplexen Vorstellung vereinen, urteilen wir. Die species sind dabei die einzelnen Eindrücke, die durch die Sinneserfahrung im Gehirn entstehen. Gassendi beschreibt den Wahrnehmungsprozess in den Büchern VI, VII und VII des dritten Teils der Physik im Syntagma, zu einem Zeitpunkt, als der Atomismus vom Leser zumindest als plausible Hypothese akzeptiert sein sollte. Dementsprechend wird der Wahrnehmungsprozess atomistisch erklärt (II.338a). So wird visuelle Wahrnehmung durch Lichtstrahlen erklärt, die aus Korpuskeln, und diese schließlich aus Atomen bestehen. Diese Lichtstrahlen werden von einem Gegenstand reflektiert und fallen ins Auge ein, wodurch auf der Retina ein Bild des Gegenstands entsteht (II.377b). Im Fall der anderen Sinnesorgane gibt es, so Gassendi, bestimmte Poren oder Räume, in die die Korpuskel eindringen können (II.338a). Diese „simulacra“ genannten Korpuskel sind also dafür verantwortlich, dass unsere Sinne Informationen über einen Gegenstand aufnehmen können. Dringen nun durch einen solchen Prozess außerhalb des Körpers Atome oder Korpuskel in ein Sinnesorgan ein, werden dadurch die Nerven, die an diesem Sinnesorgan enden, gereizt (II.339a). Da die Nerven im Gehirn ihren Ursprung haben, übertragen sie diese Reizung ins Gehirn, wo ein Eindruck entsteht. Hier kann zunächst festgehalten werden, dass aufgrund dieser Beschreibung bei einer Sinneswahrnehmung für jeden einzelnen Sinn ein solcher Eindruck entstehen muss. Sitzt man zum Beispiel einem sprechenden Menschen gegenüber, so entstehen andere Eindrücke für den Sehsinn als für den Hörsinn. Ein solcher Eindruck hat nun, wie wir aus Gassendis Ausführungen über species erfahren, zwei Aspekte; Gassendi unterscheidet zwischen zwei Komponenten einer Wahrnehmung, zwischen zwei Arten von species: „Hier sind nun zweierlei species zu unterscheiden, die in der Vorstellungskraft erkannt werden: nämlich die species impressa und die species expressa. Die species impressa ist nämlich nichts anderes als die Falte selbst, d.h. der Abdruck und die Spur, die durch den erfolgten Eindruck zurückgelassen wurde und nicht in dem Vermögen angesiedelt ist, das gerade ‹etwas› wahrnimmt oder sich ‹etwas› vorstellt. Die species expressa hingegen ist nichts anderes als das, was wir gleichsam sehen (intuemur) oder wahrnehmen, wenn wir uns das Ding selbst vorstellen oder an es denken. [...] Deshalb ist lediglich die species expressa eine species oder ein Bild in eigentlichem Sinn. Denn sie allein ist so beschaffen wie das Ding, das wir uns vorstellen; sie ist vielmehr das Ding selbst, sofern es Objekt einer Vorstellung wird und, wie man gewöhnlich sagt, objektiv (objective) in der Vorstellungskraft selbst existiert. Die species impressa ist aber nicht so sehr eine species oder ein Bild, sondern die Ursache und Gelegenheit dafür, dass wir eine solche species oder ein solches Bild formen. Allein aus diesem Grund kann man ihr diesen Namen geben. Und allein aus diesem Grund kann man sie auch phántasma oder Gesehenes bzw. Erscheinendes (visum) nennen. Denn diese Bezeichnung kommt in eigentlichem Sinn nur der species expressa zu, da nur diese das ist, was gesehen wird oder erscheint und lediglich
3.3 Species
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durch den Vorstellungsakt (actus imaginandi) selbst bestehen kann.“63 (II.405b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Zum einen verursachen die Nervenbewegungen also tatsächlich eine Veränderung, einen Eindruck oder eine Spur, im Gehirngewebe.64 Dies ist die species impressa, die körperliche Komponente einer Wahrnehmung. Die species impressa ist allerdings bloß der Träger des Inhalts einer Wahrnehmung. Sie ist die „Ursache“ (ebd.) dafür, dass wir uns aufgrund der Einwirkung eines Gegenstands etwas vorstellen, konstituiert allein aber noch keine Vorstellung. Sie hat als tatsächlicher körperlicher Abdruck eine bestimmte Form, die sie von anderen unterscheidet – da sie auch von einer der Ursache spezifisch zukommenden Nervenbewegung verursacht wurde. Diese Form stimmt aber nicht, oder nur zufällig mit der Form der Gegenstands überein (II.405a). Anders ist es bei der species expressa, der inhaltlichen Komponente der Wahrnehmung. Sie wird von Gassendi als die eigentliche Vorstellung angesehen, sie ist das, was sich auf den Gegenstand bezieht. Erst durch sie wird etwas vorgestellt oder wahrgenommen. Diese Passage wirft zwei Fragen auf. Erstens muss ausgeführt werden, was genau die species expressa ist. Da sie von Gassendi als der Gegenstand selbst, insofern er objective in der Vorstellungskraft ist, beschrieben wird, muss untersucht werden, was diese Redeweise für Gassendi bedeuten kann. Zweitens ist unklar, wie sich die Beziehung zwischen species expressa und dem Gegenstand der Wahrnehmung erklären lässt. Selbst wenn wir verstehen, inwiefern der Gegenstand objektiv in der Vorstellungskraft ist, ist dadurch noch nicht geklärt, warum es dieser und nicht ein anderer Gegenstand ist, auf den sich die Vorstellung bezieht. Gassendi übernimmt in Bezug auf Wahrnehmungen wie Descartes das scholastische Vokabular bezüglich der Seinsweisen von Vorstellungen – es gibt die Vorstellung materialiter als tatsächliche Modifikation des Gehirns (im Falle Gassendis) bzw. des Geistes (bei Descartes). Diese Modifikation ist der Träger des Inhalts der Vorstellung, der es erst ermöglicht, dass sich die Vorstellung auf den Gegen63 „Heic iam distinguendum ob duplicem speciem, quae in phantasia agnoscitur, impressam nempe, et expressam. Nam impressa quidem nihil aliud est, quam ipsamet plica, seu typus, ac vestigium ex impressione facta relictum, ac etiam non apprehendenti, imaginantive inhaerens. Expressa vero nihil est aliud, quam illud ipsum, quod quasi intuemur, apprehendimus-ve, cum reipsa imaginamur, aut cogitamus [...]. Quamobrem expressa dumtaxat proprie est species, seu imago, ea enim sola talis est, qualis est res, quam imaginamur; seu potius est ipsamet res, quatenus obiectum imaginationis sit, estque obiective, ut vulgo loquuntur in ipsa phantasia. Impressa autem non tam species, aut imago est, quam causa, et occasio, ut huiusmodi speciem, seu imaginem effingamus; ac ob istam solum rationem attribui illi id nominis potest. Quinetiam potest ob eandem solum phantasma, seu visum censeri; nam id nomen proprie soli expressae competit; quando ea sola proprie est id, quod videtur, sive apparet, quodque nisi per ipsum actum imaginandi non consistit.“ (II.405b) 64 „[…] alterum, ut ex tali ictu remaneat, quoddam vestigium, seu quasi character, typusque cerebro impressus” (II.403b/404a). Genau genommen wird diese Spur von Gassendi immer als das erwähnt, das vom Eindruck zurückbleibt, nicht das, was beim Eindruck passiert. Damit aber eine Spur zurückbleiben kann, muss sie vorher aufgedrückt werden. Es ist zu vermuten, dass dies bei der Wahrnehmung selbst passiert.
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
stand bezieht. Dieser Inhalt gehört zur Vorstellung und ist somit im Gehirn bzw. Geist. Allerdings haben wir, wenn wir einen Elefanten wahrnehmen, nicht tatsächlich einen Elefanten im Gehirn; daher ist der Elefant nicht materialiter im Geist wie die Idee, sondern nur objective. Das, was wir uns vorstellen und was also dieser Inhalt darstellt, ist allerdings der Gegenstand; daher ist für Gassendi die species expressa eigentlich der Gegenstand selbst – zwar als Objekt unserer Vorstellung, aber dennoch der Gegenstand. Nun stellt sich allerdings die Frage, was genau es bedeutet, dass der Gegenstand als Objekt unserer Vorstellung im Geist ist. Gassendi ist sicher kein Hylemorphist, der zur Erklärung der Rede von objektivem Sein wie die Scholastiker auf die Unterscheidung zwischen Form und Materie zurückgreifen kann. Der Elefant kann also nicht insofern objektiv im Geist sein, als die Form des Elefanten aufgenommen und erfasst wird. Auch Realdefinitionen und Essenzen lehnt Gassendi ab. So schreibt er in den Einwänden gegen Descartes: „Wenn man behauptet, der Mensch sei solcher Natur, dass er nicht existieren kann, ohne ein Lebewesen zu sein, so darf man nicht deshalb glauben, eine solche Natur sei irgendetwas oder irgendwo außerhalb des Verstands, sondern der Sinn ist nur: Etwas muss, um ein Mensch zu sein, allen anderen Dingen ähnlich sein, denen aufgrund ihrer wechselseitigen Ähnlichkeit dieselbe Bezeichnung „Mensch“ zugeschrieben wird.“65 (AT VII 320/III.375a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Es gibt also keine Natur der Menschen über die Eigenschaften hinaus, die wir allen Menschen zuschreiben. So kann Gassendi hier anders als Descartes nicht zwischen Essenz und materieller Instanziierung einer Essenz unterscheiden. Denn es gibt keine Essenz, die instanziiert werden könnte, sondern nur materielle Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften. Daher ist als Erklärung für objektives Sein auch ausgeschlossen, dass die Vorstellung mit dem Gegenstand insofern identisch ist, als sie beide die gleiche Essenz instanziieren. Nun scheint es aber, dass Gassendi in der Fortführung des oben zitierten Abschnitts aus der Physica einen direkten Realismus in Bezug auf Wahrnehmungen vertritt: „Wenn wir ein anwesendes Ding sehen (intuemur), so richtet sich und achtet das Vermögen nicht auf sich selbst oder auf das Gehirn, das den Stoß erhält, sondern auf dieses Ding, von dem die Bewegung bis hin zum Vermögen ausgegangen ist. Ebenso: Wenn wir uns ein abwesendes Ding vorstellen, so richtet sich und achtet das Vermögen nicht auf sich selbst, auf das Gehirn oder auf die im Gehirn zurückgelassene Spur, sondern einzig auf dieses Ding. Und da dieselbe Bewegung ‹im Gehirn› hervorgebracht wurde, nimmt das Vermögen für sich dieses Ding auf dieselbe Weise als Objekt wahr, wie das Ding erscheint. [...] Wie also die species kein Gemälde ist, so wird sie nicht an sich betrachtet, sondern sie ist lediglich das, auf dessen Grund etwas anderes erkannt wird: nämlich das Ding, von dem sie eingedrückt wurde. So wird
65 „Et addo tamen, cum dicitur hominem esse talis naturae, ut esse non possit quin sit animal; non esse propterea imaginandum talem naturam esse aliquid, aut alicubi praeter intellectum: sed sensum solummodo esse, ad hoc ut aliquid sit homo, debere ipsum similem esse caeteris iis rebus, quibus propter similitudinem mutuam eadem hominis denominatio tributa est [...].“ (AT VII 320/III.375a)
3.3 Species
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auch die species, die dem Auge eingedrückt wurde, nicht selbst gesehen, sondern sie ist allein das, aufgrund dessen das Ding gesehen wird, von dem sie gesendet wurde.“ 66 (II.405b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Laut dieses Zitats ist die species expressa also kein Abbild des Gegenstands, das wir im Geist betrachten und vermittels dessen wir uns auf den Gegenstand beziehen. Wir benötigen nicht zur species einen weiteren Akt des Betrachtens der species. Vielmehr betrachten wir den Gegenstand, indem wir eine species haben. Diese wird als Mittel der Wahrnehmung benötigt, so wie wir das Bild der Retina als Mittel zum Sehen benötigen. Gassendi scheint hier also den Gegenstand selbst als das direkte Objekt unserer Wahrnehmung zu identifizieren, auf das wir uns mithilfe der species richten. Damit könnte er behaupten, dass der Gegenstand objective im Vorstellungsvermögen ist, insofern wir uns vorstellend auf ihn richten. Er benötigte dann keine gemeinsame Eigenschaft von Vorstellung und Gegenstand, da die Vorstellung nichts über den Gegenstand hinaus ist. Allerdings hat eine solche direkt-realistische Position offensichtliche Probleme. Denn ein direkter Realismus mag zwar im Fall veridischer Wahrnehmung intuitiv überzeugend klingen, für den Fall also, dass es tatsächlich einen Gegenstand gibt, auf den wir uns richten, und dass der Gegenstand so ist, wie er sich uns in der Wahrnehmung präsentiert. Im Fall von Halluzination – gibt es also keinen Gegenstand, der meiner Vorstellung entspricht – oder Sinnestäuschung – wird also der Gegenstand in der Vorstellung nicht so dargestellt, wie er ist – ist aber unklar, inwiefern ein materieller Gegenstand direkt Objekt meiner Wahrnehmung sein kann. Grundsätzlich scheint es außerdem, dass die species expressa nicht nur den repräsentationalen, sondern auch den qualitativen, phänomenalen Aspekt der Wahrnehmung erklären muss. Die species expressa ist also nicht nur dafür zuständig, dass etwas vorgestellt wird, sondern auch dafür, wie dieses Etwas aussieht, sich anfühlt oder anhört. Bestünde die species expressa nur in dem Sich-Richten auf den Gegenstand – wäre sie also nicht ein innerer Zustand mit bestimmten Eigenschaften – könnte sie die Phänomenologie meiner Erfahrung in der Wahrnehmung nicht erklären. Um diese Probleme zu lösen, ist es hilfreich, sich zunächst der zweiten oben genannten Frage zuzuwenden, also der nach der Beziehung zwischen Vorstellung und Objekt. Warum also ist dieser und nicht jener Gegenstand das Objekt meiner Wahrnehmung? Die Antwort auf diese Frage findet sich in einer weiteren Passage aus der Physica, die species impressa behandelt:
66 „Et certe, ut dum rem praesentem intuemur, facultas non convertitur, attenditve in seipsam, aut cerebrum, quod percellitur, sed convertitur, attenditque ad rem, a qua usque motio in eam advenit; du sic absentem imaginamur, ea convertitur, attenditque non in seipsam, aut cerebrum, relictumve in eo vestigium; sed omnino in eandem rem, quam, ob factam eandem motionem, apprehendit tanquam eodem modo sibi obiectam, ac apparentem. […] Siquidem ut species pictura non est, sic neque spectatur per se, neque aliud est, quam ratio cognoscendi aliud; id nempe a quo est impressa; eo modo, quo etiam ea species, quae imprimitur oculo, non videtur ipsa, sed est solum ratio videndi eam, rem, a qua est immissa.“ (II.405b)
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi „Eine derartige Falte wird eigentlich eine Art Spur sein. Denn wie eine Spur, die vom Fuß eines Tieres eingedrückt wurde, so beschaffen ist, dass sie zu einem Erfassen (apprehensio) oder einem Bild (imago) des Tieres führt, von dem sie eingedrückt wurde, ebenso ist diese Falte so beschaffen, dass sie eine wiederholte Vorstellung (imaginatio) des sinnenfälligen Dinges erzeugt, durch das sie hervorgebracht wurde. Sie wird zudem eine Art Abdruck (typus) sein. Auch sie entsteht nämlich durch einen bestimmten Eindruck (impressio) und hat, diesem Eindruck entsprechend, eine besondere Gestalt, weshalb sie ein besonderes Zeichen (signum) vielmehr dieses Dinges als eines anderen ist. Denn auch Farbe, Geruch, Geschmack und die übrigen Qualitäten oder vielmehr die Korpuskel, aus denen diese bestehen, haben eine besondere Gestalt, und auf besondere Weisen affizieren sie die Sinnesorgane und fügen ihnen Stöße zu.“67 (II.405a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
Im ersten Teil dieses Abschnitts wird zunächst folgendes Problem entwickelt: Wenn die Spur im Vorstellungsvermögen eine körperliche ist, wie können dann sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften durch diese Spur repräsentiert werden? Sicherlich nicht dadurch, dass die Spur selbst diese Eigenschaften aufweist – beispielsweise ist der Eindruck, der von einem roten Gegenstand in meinem Gehirn entsteht, sicherlich nicht selbst rot. Vielmehr, so Gassendi, kommt es auf den kausalen Prozess an, durch den der Eindruck entsteht. Die repräsentationale Beziehung zwischen Vorstellung und Gegenstand kann also auf eine kausale Beziehung zurückgeführt werden.68 Der Eindruck, der für die Vorstellung verantwortlich ist (wenn er auch nicht selbst die Vorstellung ist, s.o., S.73), wird von dem Gegenstand auf ganz bestimmte Weise hervorgerufen und hat damit eine bestimmte Form, das heißt Gestalt. Dies ist wörtlich zu verstehen, das heißt, der Abdruck im Gehirn, der durch die Nervenbewegung entsteht, ist tatsächlich auf bestimmte Art und Weise geformt. Diese Form ist natürlich unabhängig von der Form des Gegenstands, sodass die kausale Beziehung keine Abbildbeziehung zwischen dem körperlichen Eindruck und dem Gegenstand zur Folge hat. Es ist daher kein Problem, dass der Eindruck selbst keinen Geruch oder Geschmack hat. Die kausale Beziehung hat aber zur Folge, dass der Eindruck eindeutig einem Gegenstand zuzuordnen ist – sie ist ein „Zeichen“ dieses Gegenstands (I.405a), keines anderen. So ist die Vorstellung, die auf diesem Eindruck beruht, eine Vorstellung von eben diesem Gegenstand. Durch die Existenz dieser Falte wird außerdem die Möglichkeit erklärt, sich an vergangene Wahrnehmungen zu erinnern. Denn da, wie Gassendi mehrfach betont, von jedem Eindruck eine Spur zurückbleibt, verschwindet die species impressa nicht, wenn der Gegenstand den Sinnen nicht mehr zugänglich ist. Wir haben nicht immer eine Vorstellung eines einmal wahrgenommenen Gegenstands, da dafür 67 „Atque huiusmodi quidem plica erit revera vestigium quoddam; quoniam ut vestigium ab aimalis pede impressum eiusmodi est, ut in animalis, a quo est impressum, apprehensionem, imaginemve deducat, sic ipsa eiusmodi est, ut sensibilis eius rei, a qua facta est imaginationem iteratam creet. Erit et typus revera quidam; nam et impressione sit quadam, et pro modulo impressionis, speciali ratione figurata est; ut speciale signum sit huiusce potius, quam alterius rei. Siquidem etiam color, odor, sapor, qualitatesque caeterae, corpusculave, ex quibus constant, specialiter configurantur, specialibusque rationibus sensoria afficiunt, imprimuntque ictus.“ (II.405a) 68 Siehe dazu Fisher 2005, 83.
3.3 Species
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mehr als eine „Falte“ (ebd.)69 im Gehirn notwendig ist, nämlich eine aktive Nervenbewegung. Der einmal entstandene Eindruck bleibt aber bestehen und kann durch eine solche Bewegung wieder aktiviert werden. Auf welchen Gegenstand sich eine Vorstellung bezieht, wird also dadurch bestimmt, von welchem Gegenstand der Eindruck verursacht wurde. Diese kausale Kette reicht nun, gemäß der oben skizzierten atomistischen Theorie der Entstehung von Wahrnehmungen, vom Gegenstand durch das Sinnesorgan bis ins Gehirn. Nun behauptet Gassendi mit Epikur, dass alle Wahrnehmungen wahr sind, insofern sie auftreten und unter den gegebenen Umständen auf diese Art und Weise so auftreten mussten (z.B. I.53a/b, III.338). Dies bedeutet natürlich nicht, dass Gassendi alle Wahrnehmung für akkurate Repräsentationen ihrer Gegenstände hält. Es zeigt zunächst, dass er eine bestimmte Interpretation von Epikurs Behauptung, alle Wahrnehmungen seien wahr, akzeptiert.70 Es zeigt aber auch, dass sich Gassendi bewusst ist, dass der Prozess, der zu einer Wahrnehmung führt, nicht immer gleich abläuft; er erkennt an, dass sich der Inhalt einer Wahrnehmung verändert, wenn sich die Umstände verändern, und damit der Entstehungsprozess der Wahrnehmung ein anderer wird. Auch wenn wir uns also direkt auf den Gegenstand beziehen, beziehen wir uns doch immer auf bestimmte Weise auf ihn. Je nachdem, wie die species verursacht wurde, beziehe ich mich auf den Gegenstand als Träger bestimmter Eigenschaften. Der externe Gegenstand ist das Objekt meiner Wahrnehmung, weil er die Ursache meiner Wahrnehmung ist. Nun nehmen wir aber manchmal Eigenschaften an Gegenständen wahr, die diese nicht tatsächlich haben. Erscheint eine blaue Hose bei Dunkelheit schwarz, so kann die Hose allein nicht die Ursache dieser Wahrnehmung sein, denn sie ist ja blau. Um nicht-veridische Wahrnehmung zu erklären, muss man Gassendi also zuschreiben, dass wir uns bei der Wahrnehmung nicht nur auf den Gegenstand beziehen, sondern auch auf die Ursachen, die dafür sorgen, dass wir die Eigenschaften des Gegenstands auf bestimmte Weise wahrnehmen. Zu den Objekten meiner Wahrnehmung im Fall der blauen Hose zählt also nicht nur die Hose, sondern auch die Lichtverhältnisse, die diese schwarz oder blau aussehen lassen. Doch nicht nur der Prozess außerhalb des Körpers bestimmt den Inhalt eines Eindrucks. Auch die Funktionstüchtigkeit meiner Sinnesorgane und Nervenbahnen wird Gassendis Theorie zufolge darauf Einfluss haben, wie ein Gegenstand wahrgenommen wird. Wenn man davon ausgeht, dass es Halluzinationen gibt, muss man mit dieser Theorie behaupten, dass manchmal spontan solche Eindrücke entstehen oder eine Falte wie oben beschrieben unbewusst reaktiviert wird; in einem solchen Fall beziehe ich mich im Vorstellen auf keinen Gegenstand, sondern nur auf die Prozesse, die im Gehirn ablaufen, auch wenn ich mir dessen natürlich nicht bewusst bin. 69 Gassendi gibt hier für die verschiedenen Eigenschaften von Sinneseindrücken als Erklärung die Falte im Gehirn an, da er eine physiologische Grundlage anführen muss – er könnte aber auch jede andere mit seinem Atomismus vereinbare physiologische Grundlage angeben. 70 Nämlich, dass sie erstens wahr im Sinn von Existenz sind, zweitens im Sinn von Korrespondenz in Bezug auf die Atombündel, die sie auslösen, siehe oben, S.27ff.
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
Indem zur Erklärung nicht-veridischer Wahrnehmung auf den kausalen Prozess zurückgegriffen wird, der zu einer Wahrnehmung führt, ist Gassendis Position immer noch eine direkt-realistische. Das Objekt meiner Wahrnehmung ist immer noch die Ursache meiner Wahrnehmung, aber damit bezieht sich eine Wahrnehmung unter Umständen nicht auf einen materiellen Gegenstand, sondern auf Dinge, die den Prozess der Entstehung der Wahrnehmung betreffen. Denn die Ursache der Wahrnehmung einer Eigenschaft, die dem Gegenstand nicht zukommt, liegt nicht im Gegenstand, sondern im Prozess der Entstehung. In Bezug auf die Eigenschaften, die dem Gegenstand tatsächlich zukommen, ist das Objekt der Wahrnehmung also der materielle Gegenstand selbst. In Bezug auf Eigenschaften, die ihm nicht zukommen, ist das Objekt der Wahrnehmung der Prozess, der zu diesem nicht-veridischen Eindruck geführt hat. Eine Wahrnehmung, die den Gegenstand genau so darstellt, wie er ist, hat also als Objekt nur den Gegenstand selbst.71 Mit dieser genaueren Bestimmung von Gassendis direktem Realismus können also Sinnestäuschungen und Halluzinationen erklärt werden. Allerdings ist damit der phänomenale Aspekt der Wahrnehmung noch nicht erklärt. Denn unabhängig davon, ob der Gegenstand korrekt dargestellt wird oder nicht, erscheint er uns doch in der Wahrnehmung auf bestimmte Art und Weise. Die Hose mag nicht tatsächlich schwarz sein, doch sie sieht schwarz aus. Jede Wahrnehmung gibt den Eindruck einer bestimmten Qualität, der Gegenstand sieht aus, fühlt oder hört sich an, riecht oder schmeckt auf bestimmte Weise. Diese Qualität ist ein inneres Erleben und damit zunächst unabhängig von den Eigenschaften des Gegenstands. Insofern muss Gassendi unterscheiden zwischen dem Gegenstand der Wahrnehmung und dem, was uns in der Wahrnehmung präsentiert wird, dem phänomenalen Gehalt.72 Dieser Aspekt der Wahrnehmung muss in Gassendis Theorie eingefangen werden, da sonst nicht erklärt werden kann, worin eine nicht-veridische Wahrnehmung besteht. Was bedeutet es, dass eine blaue Hose schwarz aussieht, wenn es kein Erleben eines Schwarz-Eindrucks gibt? Ein Verweis auf den Entstehungsprozess der Wahrnehmung erklärt nur, wie es dazu kommt, dass die Hose schwarz aussieht, nicht aber, inwiefern sie schwarz aussieht. Es muss ein Eindruck einer schwarzen Hose vorhanden sein, ein Schwarz-Eindruck, damit behauptet werden kann, dass die blaue Hose schwarz aussah. 71 Vgl. LoLordo 2006, 76ff für eine ähnliche Rekonstruktion von Gassendis Theorie. LoLordo unterscheidet aber zwischen dem Objekt der Wahrnehmung und dem, was die Wahrnehmung „präsentiert“ (ebd., 77). Diese Unterscheidung führt sie allerdings aus systematischen Gründen ein, ohne sie in Texten Gassendis zu finden, daher scheint es mir erstrebenswert, diesen Schritt zu vermeiden. Fisher 2005, 38 lehnt entgegen der hier vorgeschlagenen Interpretation eine realistische Lesart von Gassendis Wahrnehmungstheorie ab und favorisiert eine repräsentationalistische. 72 Auch LoLordo 2006, 77ff plädiert für eine solche Unterscheidung, allerdings auf der Grundlage einer, wie ich meine, falschen Interpretation der Aussage, dass alle Wahrnehmungen wahr sind. Dies bedeutet meiner Auffassung nach nicht, dass „the objects of perception must be such as to be represented accurately in all cases.“, (ebd., 77).
3.3 Species
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Nun scheint sich Gassendi des Problems erstens bewusst gewesen zu sein, dass es schwierig ist zu erklären, wie durch einen physikalischen Prozess solch phänomenale Eindrücke entstehen,73 sodass davon auszugehen ist, dass Gassendi den phänomenalen Aspekt der Wahrnehmung anerkannt hat. Allerdings bietet er keine Lösung für dieses Problem an. Die einfachste Antwort auf die Frage nach dem phänomenalen Gehalt scheint die Behauptung, dass dieses phänomenale Erlebnis beim Eindrücken der species impressa auftritt. Jede dieser species wird durch einen speziellen Prozess verursacht, und so ist es nicht erstaunlich, dass jeder solche Eindruck sich auf bestimmte Weise anfühlt. Nehme ich also einen schwarzen Gegenstand visuell wahr, wird die Information durch Atome auf mein Sinnesorgan und von dort ins Gehirn übertragen. Die dadurch ausgelöste Entstehung der Falte im Gehirn, des körperlichen Eindrucks, erlebt das Wahrnehmungssubjekt als SchwarzEindruck. Die Entstehung des species impressa eines blauen, rechteckigen Gegenstands wird aufgrund ihrer spezifischen Form als Blau-und-rechteckig-Eindruck erlebt. Nun ist zu beachten, dass mit der Einführung phänomenaler Eindrücke nicht auch behauptet werden muss, dass diese Eindrücke selbst Objekte der Wahrnehmung sind. Das phänomenale Erleben ist Teil der Wahrnehmung, es geht mit der Wahrnehmung einher; es ist aber nicht der Inhalt der Wahrnehmung, der betrachtet wird und vermittels dessen der Bezug auf den Gegenstand hergestellt wird. Dies ist vor allem relevant angesichts der Tatsache, dass Gassendi durch seinen Anschluss an Epikur in der Aussage, dass alle Wahrnehmung wahr ist, leicht in die Nähe einer Sinnesdatentheorie gerückt wird. Diese Aussage kann so missverstanden werden, dass Sinneseindrücke aufgrund ihrer Wahrheit als unwiderlegbare Basis unseres gesamten Wissens aufgefasst werden, sodass wir eigentlich nicht über Gegenstände in der Welt sprechen oder nachdenken, sondern über unsere Eindrücke. Nun scheinen zwar phänomenale Eindrücke für uns ein wesentlicher Bestandteil von Wahrnehmungen zu sein – es ist nicht vorstellbar, wie wir uns in der sinnlichen Wahrnehmung auf Gegenstände beziehen sollten, wenn nicht über ihre phänomenalen Eigenschaften. Diesen Punkt muss Gassendi allerdings auch nicht verneinen. Denn auch in seiner Theorie ist der phänomenale Aspekt wesentlich, da es erst durch ihn möglich wird, einen Eindruck einem Gegenstand zuzuordnen. Lösten alle Eindrücke das gleiche phänomenale Erlebnis aus, könnten keine Gegenstände und keine Eigenschaften mehr an ihnen unterschieden werden. Nur dadurch, dass jeder Eindruck mit dem ihm zukommenden phänomenalen Eindruck einhergeht, 73 III.472a: „[...] cum sciri revera non possit, qualia sint lucis corpuscula, et quali cum vibratione, aut evolutione ferantur; qualia corpora reflectentia aut refringentia, et qualem, aut quam multiplicem reflexionem, refractionemque facere debeant: qualis, quanta, et quousque umbellarum commistio, caeteraque huiusmodi, quae etiam quamvis pernossemus, sciri nihilominus non posset, quamobrem lux tali appulsu, et com tali reflexione, aut refractione, in tali loco, et cum tali umbrarum permistione facta; colorem potius rubeum, quam caeruleum, aut caeterorum quemlibet gignat? Cur ex tali appulsu exprimatur sensio adeo pulcra, qualis visio est; et seu pupula, seu retina, seu cerebrum, seu facultas, non solum ictum, sive plagam, ut Lucretius loquitur, sed colorem quoque percipiat? Ecqua enim est analogia inter quodvis horum, et quemvis colorem, colorisve sensum?“ Vgl. dazu Fisher 2005, 39.
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3 Erkenntnistheoretische Grundlagen bei Gassendi
wird also die Wahrnehmung von Gegenständen mit bestimmten Eigenschaften möglich. Dennoch ist Gassendi mit einer solchen Unterscheidung zwischen Präsentation und Präsentiertem nicht auf eine Sinnesdatentheorie verpflichtet. Die phänomenalen Eigenschaften der Gegenstände sind nicht die Objekte der Wahrnehmung; Objekt der Wahrnehmung sind die Gegenstände und ihre Eigenschaften selbst, bzw. der Prozess, der zu dem Auftreten des phänomenalen Erlebens führt. Gassendis species können also als körperliche Eindrücke charakterisiert werden, die durch einen korpuskularen Prozess ausgelöst werden und durch die wir uns auf Gegenstände in der Welt beziehen. Die Ursache eines Eindrucks kann als das Objekt einer solchen Vorstellung spezifiziert werden, der außerdem mit einem spezifisch ihm zukommenden phänomenalen Erleben einhergeht. Mit dieser Analyse lässt sich nun die oben angemerkte Konsequenz von Gassendis Beschreibung des Wahrnehmungsprozesses weiter ausführen (s.o., S.72). Denn da die Nervenbewegungen durch das Eintreten von simulacra in ein Sinnesorgan entstehen, und damit für jeden Sinn einzelne Eindrücke entstehen, scheint es, als könnte man sich durch eine species nur auf die Aspekte eines Gegenstands beziehen, die durch diesen Sinn wahrgenommen werden können. Es gibt also eine species für die visuell wahrnehmbaren Eigenschaften eines Menschen, wie Farbe und Form, eine andere für die akustisch wahrnehmbaren Eigenschaften, wie den Klang seiner Stimme, eine dritte für seinen Geruch etc. Eine Verbindung zwischen diesen verschiedenen Eindrücken als Eindrücke eines Gegenstands muss vom wahrnehmenden Subjekt hergestellt werden. Außerdem scheint sich der zu einem bestimmten Zeitpunkt entstandene Eindruck auf alle Eigenschaften zu beziehen, die einem Sinn zu diesem Zeitpunkt zugänglich sind, ohne dass verschiedenen Eigenschaften dabei als verschieden aufgefasst werden.74 Denn das Sinnesorgan wird alle simulacra aufnehmen, die in es eindringen, und diese zusammen werden die Nervenbewegung und damit den Eindruck im Gehirn verursachen. Die species bezieht sich dann auf alles, was zu einem bestimmten Zeitpunkt einem Sinn zur Verfügung steht, zum Beispiel alles, das Lichtstrahlen reflektiert, die in mein Auge eindringen. Zunächst beziehen sich Wahrnehmungen damit nicht auf einen Gegenstand, sondern auf alles, das durch einen Sinn wahrgenommen werden kann. Der zugeordnete phänomenale Eindruck wird dann nicht nur eine Eigenschaft eines Gegenstands darstellen, sondern im Fall visueller Wahrnehmung ein Bild, im Fall akustischer Wahrnehmung ein Zusammenspiel an Geräuschen etc. Im Fall einer visuellen Wahrnehmung zum Beispiel habe ich einen Eindruck vom Gegenstand, der seine Form, seine Farbe und seine Größe enthält. Auch hier muss die Differenzierung zwischen verschiedenen einzelnen Farben, Formen, Geräuschen etc. vom wahrnehmenden Subjekt geleistet werden. Schon damit eine visuelle Wahrnehmung sich auf einen Gegenstand bezieht, bedarf es also einer Leistung des Subjekts. Auch Eigenschaften wie Farbe und Form, die dem gleichen Gegenstand und dem gleichen Sinnesorgan zukommen, müssen nachträglich voneinander getrennt 74 Vgl. LoLordo 2006, 75.
3.3 Species
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werden. Diese Eigenschaften werden also nicht in der Wahrnehmung von uns zusammengesetzt, sondern um sie voneinander getrennt zu betrachten, müssen wir eine Abstraktionsleistung vollbringen: die Einzelteile eines komplexen Eindrucks müssen voneinander getrennt werden.
4 UNIVERSALIEN, ÄHNLICHKEIT UND BEGRIFFSBILDUNG Unsere Untersuchung der verschiedenen Arten von Vorstellungen, die wir Gassendis Aussagen zufolge annehmen müssen, hat Folgendes gezeigt: Propositionen werden aus Ideen zusammen mit einer propositionalen Einstellung gebildet; diese Ideen sind damit allgemeine Vorstellungen, die im Anschluss an epikureische Prolepsen als wesentlich sinnliche und begriffliche Vorstellungen aufgefasst werden müssen. Als solche wesentlich sinnlichen Vorstellungen beruhen sie in ihrem Gehalt auf unseren Sinneseindrücken, die von Gassendi atomistisch erklärt werden und selbst nicht als in irgendeiner Hinsicht analysiert aufgefasst werden können. Aus dieser Ausgangslage ergibt sich nun die Frage, wie genau Ideen als allgemeine, begriffliche Vorstellungen aus species, das heißt einzelnen, sinnlichen, unanalysierten Eindrücken, entstehen. Diese Frage wird umso dringlicher, aber auch umso schwieriger zu beantworten, wenn man Gassendis empiristischen und nominalistischen Hintergrund, das heißt seine Einstellung zu angeborenen Ideen und Universalien in Betracht zieht. Gassendis Ablehnung von eingeborenen Ideen wird sowohl in der Institutio logica als auch in den Einwänden gegen die Meditationen (z.B. III.318aff) deutlich. Unabhängig davon, wie überzeugend seine Argumentation gegen Descartes ist, zeigen seine Aussagen, dass Gassendi selbst nicht glaubte, dass uns Ideen unabhängig von und vor jeglicher Sinneserfahrung zur Verfügung stehen. Damit versagt er sich die Möglichkeit, die Entstehung von Ideen durch Sinneseindrücke mithilfe von schon vorhandenen, weil eingeborenen Ideen zu erklären. Gassendis Nominalismus und seine durch diese Einstellung bedingte Theorie von allgemeinen Eigenschaften wird uns im Folgenden beschäftigen. Systematische und historische Überlegungen zu dieser Frage sollen in Abschnitt 1 das Problemfeld abstecken, bevor wir uns in Abschnitt 2 Gassendis Position genauer widmen. Wie genau die Behauptung zu verstehen ist, dass die Antwort auf die Frage nach der Entstehung von Begriffen nicht in allgemeinen Eigenschaften, sondern in Ähnlichkeiten liegt, wird uns in Abschnitt 3 beschäftigen. Diese Untersuchung ist die Grundlage für eine genaue Analyse des Entstehungsprozesses von Ideen aus species. 4.1 HISTORISCHE UND SYSTEMATISCHE PERSPEKTIVEN In natürlichen Sprachen verwenden wir allgemeine Terme. Diese sollen sich kraft ihrer Allgemeinheit auf mehrere Gegenstände beziehen können, während sich zum Beispiel Eigennamen wesentlich nur auf einen Gegenstand richten. In jedem sprachlichen Urteil tritt notwendigerweise ein solcher allgemeiner Term auf. Denn ein sprachliches Urteil drückt die Subsumtion eines Gegenstands unter einen Begriff aus, also unter eine allgemeine Vorstellung. Erst durch eine solche Sub-
4.1 Historische und systematische Perspektiven
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sumtion wird ein Urteil zum Urteil. Nun scheint weder Sprache noch diskursives Denken ohne Urteile möglich zu sein. Allgemeine Terme, bzw. die ihnen entsprechenden allgemeinen Vorstellungen sind also die Voraussetzung dafür, dass wir so denken und unsere Gedanken so ausdrücken können, wie wir es tun. Um also Sprache und diskursives Denken zu ermöglichen, müssen auf unterschiedlichen Ebenen bestimmte Voraussetzungen getroffen werden. So müssen wir annehmen, dass uns bestimmtes sprachliches Vokabular zur Verfügung steht wie Eigennamen, allgemeine Terme und Urteile. Auf der Ebene der Vorstellungen werden den sprachlichen Ausdrücken entsprechend Einzelvorstellungen, allgemeine Vorstellungen und Propositionen vorausgesetzt. Allgemeine Vorstellungen, und nur diese, werden hier als Begriffe bezeichnet. Darüber hinaus gibt es die ontologische Ebene, auf die wir uns sowohl mit sprachlichen Ausdrücken als auch in Vorstellungen beziehen. Damit dies möglich ist, muss angenommen werden, dass es Gegenstände gibt, die unabhängig von uns existieren und bestimmte Eigenschaften haben – unabhängig davon, auf welche Art diese Eigenschaften aufgefasst werden. Die Diskussion des Universalienproblems wird sich hier auf die Ebene der Vorstellungen beschränken, das heißt, Fragen danach, wie Sprache und Universalien (und Vorstellungen) zusammenhängen, werden ausgeklammert. Das Universalienproblem hat eine epistemische und eine ontologische Dimension und ergibt sich aus den eben genannten Annahmen auf folgende Weise. Die Voraussetzung zum Verständnis eines allgemeinen Terms scheint die Bildung einer allgemeinen Vorstellung, eines Begriffs, zu sein. Und die Voraussetzung zur Bildung eines Begriffs scheint zu sein, dass wahrgenommene Gegenstände nach Eigenschaften geordnet werden. Wäre es nicht möglich, zwischen den Gegenständen Ähnlichkeiten festzustellen und diese zu gruppieren, kurz, wäre es nicht möglich, an den Gegenständen Eigenschaften zu erkennen, könnten auch keine Begriffe gebildet werden. Die ontologische Frage nach Universalien setzt beim Status dieser Eigenschaften an. Denn so wie hier formuliert, müssen wir für die Begriffsbildung und damit schließlich auch für die Verstehbarkeit allgemeiner Terme voraussetzen, dass Gegenstände Eigenschaften haben und dass Gegenstände manchmal die gleichen Eigenschaften haben, sodass wir sie diesen Eigenschaften gemäß gruppieren können.1 Was sind nun diese Eigenschaften, die es uns ermöglichen, Urteile zu fällen?2 Gibt es sie als von den Dingen unabhängige abstrakte Gegenstände? Gibt es sie als Eigenschaften in den Gegenständen? Oder gibt es keine allgemeinen Eigenschaften, sondern bloß allgemeine Vorstellungen im menschlichen Geist?
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Armstrong 1980, 440 formuliert dieses Problem folgendermaßen: „We are continually talking about different things having the same property or quality, being of the same sort or kind, having the same nature, and so on. Philosophers draw the distinction between sameness of token and sameness of type. But they are only making explicit a distinction which ordinary language (and so, ordinary thought) perfectly recognises.“ Armstrong hält die Tatsache, dass wir auf diese Weise sprechen, für ein prima-facie-Argument für einen Universalien-Realismus. Allerdings möchte Armstrong nicht behaupten, dass Universalien tatsächlich die Bedeutungen allgemeiner Terme darstellen (Armstrong 1978, 6). Vgl. Loux 1998, 25ff.
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Grundsätzlich und klassischerweise gibt es zwei mögliche Positionen, sich zu dieser Frage zu verhalten: eine realistische und eine nominalistische. Vereinfacht gesagt bejaht der Realist entweder die beiden ersten oder zumindest die zweite der eben angeführten Fragen. Ein strenger Realist behauptet also, dass es Eigenschaften als vom menschlichen Geist unabhängige abstrakte Objekte gibt, die in mehreren Gegenständen zugleich sein können. Diese benennen wir mit allgemeinen Termen. Ein moderater Realist nimmt von Gegenständen abhängige Universalien an; die Gegenstände haben damit tatsächlich Eigenschaften gemeinsam, es gibt diese Eigenschaften aber nicht als unabhängige abstrakte Gegenstände. Ein Nominalist dagegen verneint die ersten beiden Fragen und gibt nur zu, dass es entweder Begriffe gibt, das heißt allgemeine Vorstellungen, oder deren sprachlichen Ausdruck, das heißt allgemeine Terme, aber nichts darüber hinaus. Über die Fragen nach dem ontologischen Status von Universalien hinaus hat jede Theorie von Universalien auch einen epistemologischen Aspekt. Denn man kann nicht nur fragen, was Universalien sind, sondern auch, wie wir zu allgemeinen Vorstellungen kommen. Durch ihre starken ontologischen Annahmen haben Realisten eine starke Rechtfertigung dafür, dass wir Begriffe so anwenden, wie wir es tun. Damit diese Rechtfertigung zur Verfügung steht, muss eine solche Theorie allerdings auch eine Erklärung unseres epistemischen Zugangs zu Universalien beinhalten. Demgegenüber müssen Nominalisten weder die Natur von allgemeinen Entitäten noch unseren Zugang zu ihnen beschreiben, dafür aber eine Erklärung dafür angeben, wie sich ohne solche Entitäten allgemeine Vorstellungen entwickeln.3 Um den Rahmen für die Diskussion über Universalien abzustecken, soll ein klassisches Beispiel für jede dieser drei Positionen dargestellt und Gassendis Verhältnis zu diesen Theorien diskutiert werden. Das klassische Beispiel einer streng realistischen Auffassung ist die Platos. Plato zufolge gibt es ewige, unveränderliche, abstrakte Entitäten, die unabhängig von der materiellen Welt existieren4 und die sowohl die Eigenschaften der Gegenstände als auch unsere Erkenntnis dieser Gegenstände erklären. Die materiellen Gegenstände haben an den Ideen teil (Phaidon, 100b ff), sie entsprechen ihnen aber nicht genau. So gibt es zum Beispiel in der materiellen Welt keinen echten Kreis, da kein materiell existierender Gegenstand vollkommen rund ist.5 Ein echter Kreis existiert nur als Idee bzw. als die Form aller materiellen Kreise. Dementsprechend können wir durch sinnliche 3 4
5
Vgl. Spade 2002, 148. Ich stimme allerdings nicht mit seiner Einschätzung überein, dass Realisten leichter unser Wissen von Eigenschaften erklären können. „Das Gleiche selbst, das Schöne selbst, und so jegliches, was nur ist, selbst, nimmt das wohl jemals auch nur irgendeine Veränderung an?“ (Phaidon 78d) „Sollen wir also, sprach er, zwei Arten der Dinge setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar?“ (ebd., 79a) Es gibt also einen Bereich des „Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, Eingestaltigen, Unauflöslichen, und immer einerlei und sich selbst gleich sich Verhaltenden“ (ebd., 80a/b), dem die Formen angehören, und einen der „Menschlichen und Sterblichen und Unvernünftigen und Vielgestaltigen und Auflöslichen und nie einerlei und sich selbst gleich Bleibenden“ (ebd., 80b) Dinge. Vgl. Grube 1980, 18. Vgl. Grube 1980, 5f.
4.1 Historische und systematische Perspektiven
85
Wahrnehmung weniger gut das Wesen eines Gegenstands erkennen als durch abstrakte Überlegung (Phaidon, 65b ff). Welche Eigenschaften Kreise haben, lässt sich besser am abstrakten Kreis erkennen als an einem seiner materiellen Abbilder. Dennoch benötigen wir sinnliche Eindrücke für abstrakte Erkenntnis. Denn Seelen bei Plato sind immateriell, unsterblich und werden somit immer wieder mit einem Körper vereinigt. Als immateriell können sie die reinen Formen erkennen, solange sie nicht mit einem Körper vereinigt sind. Als Seelen eines Körpers können sie die Formen nicht mehr direkt erkennen, sich aber an sie erinnern. Insofern ist Erkenntnis immer Erinnerung (Menon, 81c/d). Diese Erinnerung wird aber durch sinnliche Wahrnehmung erst ausgelöst. Zugang zu Ideen wird in einer platonistischen Theorie also dadurch ermöglicht, dass die Seele immateriell ist, dass Seelen wiedergeboren werden, und dass Seelen ohne Körper die Ideen „schauen“ können. Nicht nur müssen also Ideen als abstrakte, ewige und unveränderliche Entitäten angenommen werden, auch unser Wissen von diesen Ideen erfordert eine voraussetzungsreiche Erklärung. Für Gassendi kommt eine platonistische Theorie allerdings vor allem deshalb nicht infrage, da sie beinhaltet, dass vor der ersten Sinneserfahrung Ideen von verschiedenen Gegenständen im Geist sind, und dass diese Ideen aus einer anderen Quelle stammen als der Sinneserfahrung. Demzufolge erlangen wir aus anderer Quelle als der Sinneserfahrung Wissen, nämlich durch das „Schauen“ der Ideen, während die Seele vom Körper getrennt ist. Diese Möglichkeit bestreitet Gassendi.6 Darüber hinaus ist Gassendi der Auffassung, dass die Annahme, dass bestimmte allgemeine Ideen angeboren sind, impliziert, dass auch Ideen von Einzelgegenständen angeboren sind – wie seine Argumentation in den Einwänden gegen die Meditationen zeigt. Hier weist Gassendi Descartes’ Schluss darauf, dass es eingeborene Ideen der Wahrheit, des Denkens und des Dings gibt, mit dem Argument zurück, dass dann alle Ideen eingeboren sein müssten. Denn die Bildung der Ideen geht vom Einzelnen zum Allgemeinen, sodass die Idee des Dings im Allgemeinen die Ideen aller möglichen Einzeldinge voraussetzt (AT VII 281/III.318a/b).7 Für Gassendi impliziert ein Platonismus also, dass nicht nur Ideen von Arten von Gegenständen angeboren sind, sondern auch die Ideen der Gegenstände selbst.
6 7
Z. B. in der Institution Logica, Kanon 2, I.92b, aber auch in den Einwänden gegen Descartes, AT VII 281/III.318a/b, s.o., S. 12f. „Was die species im Geist angeht, die du angeboren nennst, so scheint es sie eigentlich nicht zu geben, und alle, die als solche bezeichnet werden, scheinen ebenfalls äußeren Ursprungs zu sein. Ich begreife, sagst du, aufgrund meiner eigenen Natur, was ein Ding ist. [...] Auch sprichst du nicht von der Idee eines bestimmten Dinges. Denn die Sonne, dieser Stein, alle Einzeldinge sind doch Dinge, von denen du nicht sagst, es gebe von ihnen angeborene Ideen. Du sprichst also von der Idee des Dinges im Allgemeinen, sofern sie gleichbedeutend mit dem Seienden ist und sich ebenso weit wie dieses erstreckt. Ich frage dich jedoch: Auf welche Weise kann diese Idee im Geist sein, wenn sich dort nicht zugleich alle Einzeldinge und ihre Gattungen finden, aus denen der Geist durch Abstraktion einen Begriff bilden soll, der keinem Einzelding eigen ist und dennoch allen zukommt? Gewiss, wenn die Idee des Dinges angeboren ist, dann werden auch die Idee des Tieres, der Pflanze, des Steines und aller Universalien angeboren sein.“ (III.318a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Plato trifft also die starke metaphysische Annahme von ewigen, unveränderlichen abstrakten Formen, denen die materiellen Gegenstände ihre Eigenschaften und wir unser Wissen verdanken. Aristoteles übernimmt die Rede von Form ( ), lehnt aber ab, Formen als unabhängig und den Dingen vorausgehend zu betrachten (Kategorien 5 2a35–2b7, Metaphysik XII 3 1070a23–4).8 Eine aristotelische Theorie wird also die erste und die dritte Frage verneinen und die zweite bejahen. Formen sind dennoch ein wesentlicher Teil aristotelischer Ontologie und Erkenntnistheorie. Denn die Substanzen, die wir wahrnehmen können, sind zusammengesetzt aus Form und Materie (De Anima II 412a6–9).9 Dabei kann Materie als das Material angesehen werden, aus dem etwas besteht, während die Form dafür verantwortlich ist, welcher Art der Gegenstand ist. So kann zum Beispiel ein Tisch aus Holz und Leim bestehen. Aus Holz und Leim allein wird aber noch kein Tisch, sie werden zusammen erst dadurch zum Tisch, dass sie auf bestimmte Art zusammengefügt werden und eine bestimmte Form annehmen – die eines Tisches. Allerdings kann diese Aufteilung in Form und Materie auf verschiedenen Ebenen vollzogen werden, sodass auch Holz erst dadurch Holz wird, dass Materie eine bestimmte Form hat (Metaphysik VIII 4 1044a 15ff).10 Es kann zwischen zwei Arten von Formen unterschieden werden: Substantielle Formen sind dabei solche, die festlegen, welcher Art der Gegenstand ist, sodass der Gegenstand aufhört zu existieren und ein anderer wird, wenn er diese Form verliert.11 Akzidentelle Formen sind solche, die diese Auswirkung nicht haben, sodass ein Übergang von einer Form zur anderen bloß eine Veränderung der akzidentellen Eigenschaften des Gegenstands zur Folge hat. Nun sind die Formen nicht nur dafür verantwortlich, dass die Gegenstände bestimmte Eigenschaften haben, sondern sie ermöglichen auch, wie bei Plato, Erkenntnis dieser Gegenstände. Denn Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie zufolge findet bei der Wahrnehmung eines Gegenstands eine Angleichung der Form des Sinnesorgans an die Form des Gegenstands statt (De Anima II.12 424a17–19).12 In gewissem Sinne wird also die Form vom Gegenstand auf das Wahrnehmungssubjekt übertragen, sodass das Subjekt diesen bestimmten Gegenstand wahrnimmt. Nun kann der Intellekt, durch Abstraktion oder einen anderen Prozess, aus dieser aufgenommenen Form, die ja eine einzelne und einem bestimmten Gegenstand
8
„Dasjenige nun, was bewegende Ursachen sind, besteht schon vorweg. Dasjenige aber, was als Formbegriff Ursache ist, besteht zugleich.“ (Metaphysik XII 3 1070a23–24) Vgl. Barnes 1995, 96f. 9 „Wir fassen als eine Aussagegattung der Wesenheit, von dieser das eine als Materie, das an sich allerdings kein bestimmtes Etwas ist, das andere als Gestalt und Form, vermöge der nun von einem bestimmten Etwas gesprochen wird, und das dritte als beider Zusammensetzung.“ Vgl. auch Shields 1997, 56ff. 10 Vgl. Hankinson 1995, 119n12. 11 Vgl. Shields 1997, 62f. 12 „Wahrnehmung [...] ist [...] das, was fähig ist, die wahrnehmbaren Formen ohne Materie aufzunehmen [...].“ (De Anima II.12 424a17–19) Dies ist möglich, da auch die Sinnesorgane, ebenso wie das Wahrnehmungssubjekt selbst, aus Form und Materie bestehen.
4.1 Historische und systematische Perspektiven
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zugehörige Form ist, einen Begriff bilden, der nicht mehr einzeln, sondern allgemein ist.13 Universalien sind laut Aristoteles das, „was seiner Natur nach dazu geeignet ist, von mehrerem prädiziert zu werden“ (Peri Hermeneias 17a39–40). Diese eben beschriebenen, durch die Wahrnehmung ermöglichten allgemeinen Begriffe scheinen diese Bedingung zu erfüllen, denn sie sind qua ihrer Allgemeinheit auf mehrere Gegenstände anwendbar. Zunächst scheinen Universalien also Begriffe zu sein. Diese allgemeinen Begriffe sind aber abstrahierte Formen von Gegenständen, die vom Gegenstand in das Vorstellungsvermögen und vom Vorstellungsvermögen in den Intellekt gelangen. Das, was von uns von mehreren Gegenständen ausgesagt werden kann, sind also die Formen, die die Gegenstände haben. 14 Es ergibt sich also aus der eben skizzierten aristotelischen Theorie, dass Universalien bei Aristoteles Formen sind, die sowohl in Gegenständen als auch in Wahrnehmungssubjekten instanziiert sein können, und so einerseits dafür verantwortlich sind, dass Gegenstände gemeinsame Eigenschaften haben, andererseits dafür sorgen, dass wir Wissen über die Gegenstände haben können.15 Zumindest die platonischaristotelisch geprägten Philosophen des Mittelalters, die die Frage nach Universalen mit der aristotelischen Theorie zu beantworten versuchten, interpretierten Aristoteles auf diese Weise als moderaten Realisten.16 13 Vgl. Caston 2009, 327. 14 Generell wird die Behauptung, dass Universalien von mehreren Dingen prädiziert werden können, so interpretiert, dass sie also von Begriffen oder Wörtern handelt, die in sprachlichen Urteilen vorkommen, siehe z.B. Spade 1999b. Loux 2009 argumentiert dagegen, dass „predication“ nicht sprachlich verstanden werden müsse, das heißt als tatsächliche Prädikation in einem Urteil, sondern vielmehr als Instantiierung. Loux 2009, 189. 15 Dieser Schluss wird allerdings dadurch kompliziert, dass Aristoteles in Metaphysik VII.13 eine ihm widersprechende Behauptung aufstellt. Denn Formen sollen nicht nur universal, sondern auch die Substanz eines Gegenstands sein. Nun behauptet Aristoteles, es scheine „unmöglich zu sein, dass irgendetwas von dem, was als Allgemeines bezeichnet wird, Wesen sei.“ (Metaphysik VII.13 1038b8–9) Formen sollen also Universalien und Substanzen sein, aber Universalien und Substanzen sind nicht zu identifizieren. Es scheint also, dass die Frage nach dem Status von Universalien bei Aristoteles nicht eindeutig entschieden werden kann (siehe Loux 2009 für einen Überblick über die Beiträge zu der Debatte, auf welche Art und Weise die Inkonsistenz aufgelöst werden kann). 16 So zum Beispiel Boethius. Er diskutierte als erster im Anschluss an Porphyr die Frage nach Universalien und versuchte, sie mit einem aristotelischen Ansatz zu lösen. In seiner Argumentation setzt er voraus, dass etwas, das als genuin universal angesehen werden soll, als Ganzes zur gleichen Zeit in mehreren Dingen existieren muss, und dies in einem metaphysisch gehaltvollen Sinn (Vgl. Spade 1999a, 111. Boethius, Kommentar I.10). Da auf diese Weise nichts existieren kann (Boethius Kommentar, ebd.), müssen Universalien als „bloße Gedanken [intellectus]“ aufgefasst werden. Fraglich ist nun, ob diese Gedanken in Übereinstimmung mit dem Gegenstand gebildet werden oder nicht. Im ersten Fall gäbe es Universalien „auch in der Wirklichkeit der Dinge“ (ebd.), im zweiten Fall nicht. Die zu beantwortende Frage lautet für Boethius also, ob ich mich mit einem allgemeinen Gedanken „adäquat“ (ebd.) auf einen einzelnen Gegenstand beziehen kann. Die Lösung dieser Frage liegt für Boethius in der Abstraktion. Zwar stimmt ein allgemeiner Gedanke nicht mit dem Gegenstand überein – es „verhält sich die Sache nicht so, wie der Gedanke ist“ – der Gedanke kann aber dennoch wahr sein. Dieser Prozess der Abstraktion wird nun aristotelisch erklärt: mit dem Sinneseindruck des Gegen-
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Auch aristotelische Theorien müssen also eine komplizierte Erklärung dafür angeben, wie allgemeine Eigenschaften allgemeine Vorstellungen begründen. Denn erstens muss die Übertragung der Form vom Objekt auf das Erkenntnissubjekt erläutert werden;17 zweitens hat diese Übertragung zunächst eine sinnliche Vorstellung zur Folge, aus der eine abstrakte Vorstellung erst gebildet werden muss.18 Gassendi hat eine grundsätzlich ablehnende Haltung zum Aristotelismus und seinen Ausprägungen im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Damit kommt auch eine aristotelische, moderat realistische Theorie von Universalien für ihn nicht in Frage. So hält Gassendi schon die dieser Theorie zugrundeliegende Unterscheidung zwischen Form und Materie für falsch.19 Formen sind aber sowohl dafür verantwortlich, dass mehrere Gegenstände die gleiche Eigenschaft haben können, als auch dafür, dass wir diese Eigenschaft als allgemein auffassen können. In Gassendis Ontologie gibt es keine vergleichbaren Entitäten, die diese Rolle übernehmen könnten. Auch Ockham verweigert sich aus ontologischen Erwägungen einer realistischen Theorie. Allgemein war er der Auffassung, dass nur so viele Entitäten angenommen werden sollten, wie zur Erklärung der Phänomene nötig ist.20 Bezüglich Universalien kritisierte Ockham, dass die vorgeschlagenen realistischen Theorien untragbare Konsequenzen haben, bzw. gar inkonsistent sind,21 und er postulierte, dass es nichts Allgemeines außerhalb des Geistes gibt (Summa Logicae I.15). Universalien sind für Ockham also nur das, was sprachlich von mehreren Gegenständen ausgesagt werden kann – Begriffe oder Namen. Ein Begriff wie der des Menschen bezieht sich demgemäß nicht auf eine allgemeine Natur in den Gegenständen, sondern nur auf die Gegenstände, die unter ihn fallen, nämlich Menschen. Dies gilt ebenso für einen einem Begriff zugeordneten abstrakten Term wie „Menschsein“.22
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stands wird die „unkörperliche Natur“ (Boethius, Kommentar, I.11) des Gegenstands mit aufgenommen, die der Geist abstrahieren und aus der er den allgemeinen Begriff gewinnen kann, unabhängig von der Materie, in der diese Natur instantiiert ist (vgl. Libera 2005, 137). Damit sind Universalien für Boethius allgemeine Gedanken, die jedoch dadurch gewonnen und begründet werden, dass ihnen in den Dingen etwas entspricht (Koterski 2009, 101: „Considered then as an intellectual way of representation what is within a material object as a structural principle, a universal is not a thing in itself but a mental representation with a foundation in things.“). Die Entwicklung der Universaliendebatte im Mittelalter diskutiert ausführlich Libera 2005. Siehe II.337b und Spruit 1995, 408f für Betrachtungen Gassendis bezüglich dieser Übertragung vom Gegenstand auf das Erkenntnissubjekt. Zu unterschiedlichen Theorien vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit, wie dieser Prozess der Abstraktion vonstattengeht, siehe Spruit 1994, Spruit 1995. So argumentiert Gassendi zum Beispiel, dass die Unterscheidung zwischen Form und Materie nichts erklären kann, was die Eigenschaften und Fähigkeiten eines bestimmten Gegenstands betrifft (III.203bf). Auch wendet er sich im Syntagma gegen Formen als Erklärung für effiziente Verursachung (I.335a/b). Summa logicae, I.51: „[...] multiplicare entia secundum multitudinem terminorum [...] abusivum est et a veritate maxime abducens.“ Vgl. auch Spade 1999a, 103f. Vgl. Spade 1999a, 111f. Siehe dazu Klima 1999, 130.
4.1 Historische und systematische Perspektiven
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Dennoch war Ockham der Meinung, dass wir gerechtfertigt sind, so zu sprechen und zu denken, wie wir es tun. Dies beruht auf der Tatsache, dass dieselbe Eigenschaft zwar nicht in mehreren Dingen sein kann, die Dinge aber trotzdem Eigenschaften haben. Denn Ockham akzeptiert zwei Arten von existierenden Dingen: Substanzen und ihre Akzidenzien, das heißt Substanzen und den Substanzen nicht wesentlich zukommende Eigenschaften.23 In Ockhams nominalistischer Ontologie können also zwei Gegenstände nicht die gleiche Eigenschaft haben, wie es in einer realistischen Theorie der Fall ist. Dennoch sprechen wir nicht über nichts, wenn wir den Dingen Eigenschaften zuschreiben. Durch diese ontologische Reduzierung vermeidet Ockham es, von Allgemeinem sprechen zu müssen, das zugleich mehrere Dinge ist (und damit widersprüchliche Eigenschaften haben kann). Allerdings muss er erklären, wie wir aus der Erfahrung von Einzelgegenständen allgemeine Begriffe bilden. Wie kommen wir von der Erfahrung von einem oder mehreren Menschen dazu, den Begriff des Menschen zu bilden? Diese Lücke versucht Ockham durch eine Kognitionstheorie zu schließen, die auch abstrakte Vorstellungen eng an die Gegenstände bindet. Zunächst verursacht ein Gegenstand in uns kausal eine einfache intellektive Vorstellung. Es wird also nicht nur eine sinnliche Vorstellung des Gegenstands erzeugt, sondern auch der Verstand erfasst den Gegenstand.24 Aufgrund dieser einzelnen intellektiven Vorstellung des Gegenstands bildet der Verstand eine abstrakte Vorstellung. Eine solche Vorstellung ist nicht nur abstrakt, sondern auch immer allgemein,25 d.h. sie bezieht sich zumindest potentiellerweise auf mehrere Gegenstände. Dies beruht darauf, dass der Bezug der abstrakten Vorstellung auf den Gegenstand durch Ähnlichkeit zustande kommt (Quodlibeta V.q.7).26 Die Vorstellung ist ein Abbild des Gegenstands und bezieht sich damit nicht nur auf ihren ursprünglichen Gegenstand, sondern auch auf alle anderen Gegenstände, die mit dem ursprünglichen Gegenstand in relevanter Weise übereinstimmen.27 Wie wir sehen werden, stimmt Gassendi in vielem mit Ockham überein.28 An Ockhams Theorie zeigen sich jedoch symptomatisch die Probleme einer nominalistischen Theorie. Denn der Prozess der Abstraktion, der zur Bildung der allgemeinen Vorstellung führt und die Ähnlichkeit zwischen Vorstellung und Gegenstand zur Folge hat, bleibt weitgehend unerklärt. So kann man einwenden, dass „Ockham has, in effect, bypassed the question of what there is about things that causes (i.e. in some way justifies) our grouping them the way we do [...].“29 Ihre starken ontologischen Annahmen ermöglichen es realistischen Theorien also, unsere Art zu denken und zu sprechen zu rechtfertigen. Universalien als genuin 23 24 25 26 27 28
Panaccio 2004, 9 Panaccio 2004, 6f Panaccio 2004, 9f „[...] conceptus est similis illi cuius est;“ (Quodlibeta V.q.7) Panaccio 2004, 10 Zum Beispiel in der Annahme von Gegenständen und Eigenschaften als einzigen Entitäten (s.u., S.91f). 29 Klima 2003, 205
90
4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
allgemeine Entitäten erklären und rechtfertigen die Bildung und Verwendung von Begriffen und allgemeinen Termen. Allerdings müssen realistische Theorien als Grundlage für diese Rechtfertigung unseren epistemischen Zugang zu Universalien erläutern. Wie wir gesehen haben, sind auch für diese Erklärung starke Annahmen erforderlich. Die Herausforderung für nominalistische Theorien besteht dagegen darin, die Entstehung allgemeiner Begriffe zu erklären, und darzustellen inwiefern diese Begriffe auch ohne echte Entsprechung in der Welt von den Gegenständen, die wir wahrnehmen, handeln können. Es zeigt sich also, dass selbst auf Grundlage starker ontologischer Annahmen die Bildung allgemeiner Vorstellungen nicht selbsterklärend ist. Vielmehr müssen sowohl realistische als auch nominalistische Theorien diesen Prozess voraussetzungsreich erläutern. Nominalisten sehen sich darüber hinaus allerdings auch der Herausforderung gegenüber, unsere Anwendung allgemeiner Begriffe zu rechtfertigen. 4.2 GASSENDIS AUFFASSUNG ZU UNIVERSALIEN Wie wir gesehen haben, steht Gassendi weder eine moderat noch eine streng realistische Theorie von Universalien offen. Und so zeigen zum Beispiel Ausführungen zu Universalien in den Exercitationes paradoxicae auch seine Ablehnung dieser Positionen. Nach einem kurzen Verweis auf Porphyr und die aristotelischen Theorien, die in den Universitäten gelehrt wurden, stellt er zunächst die Behauptung auf, „dass diese großartigen Universalien nichts anderes sind als was die Grammaticis allgemeine Namen (nomina appellativa) nennen, Wörter wie Mensch oder Pferd und alle, die mehrerem zugeschrieben werden können. Ebenso sind Individuen nichts anderes als Eigennamen wie Plato, Bucephalus und alle, die nur einem Ding gegeben werden. Was?, fragst Du, stimmst du also jener wahnsinnigen Meinung der Nominalisten zu, die keine andere Allgemeinheit annehmen, als die der Begriffe oder Namen? Sie ist aber vernünftig (sane). Ich stimme ihr zu, aber ich glaube, dass ich einer völlig vernünftigen (sanam) Meinung zustimme. Ich frage dich, beim unsterblichen Gott! Du, der du allgemeine und ebenso wirkliche Naturen annimmst (tueris), was du in der Welt bemerkst (animadvertis), das nicht einzeln ist? Gott ist das Einzelnste überhaupt, einzeln sind alle seiner Werke, dieser Engel, dieser Mensch, diese Sonne, dieser Stein, man kann nichts finden (reperire), das nicht ein einzelnes Ding wäre. Wo wirst du mir also zeigen, dass dieser Stamm (gens) der Universalien lebt (degere)?“30 (III.159a, Übersetzung Seidl)
30 „[...] nihil esse aliud grandia haec universalia, quam quae Grammatici vocant nomina Appellativa, verbi causa hominem, equum, et quaecumque tribuuntur pluribus; quemadmodum individua nihil aliud sunt, quam nomina propria, ut Plato, Bucephalus, et quaecunque uni soli rei dantur. Quid?, inquies, accedis ergo ad vesanam illam opinionem Nominalium, qui universalitatem aliam non agnoscunt, quam conceptuum aut nominum. Ita sane est; accedo, sed puto me accedere ad opinionem admodum sanam. Quaeso te enim per Deum immortalem! Tu qui naturas universales, easdemque reales tueris, quid animadvertis in Mundo, quod singulare non sit? Singularissimus est Deus, singularia omnia eius opera, hic Angelus, hic Homo, hic Sol, hic lapis, nihil denique reperire licet, quod singularis haec res non sit? Ubinam ergo gentium demonstrabis universalia haec degere.“ (III.159a)
4.2 Gassendis Auffassung zu Universalien
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In seinen weiteren Ausführungen fragt Gassendi, ob das vermeintliche Allgemeine, das die Gegenstände gemeinsam haben, womöglich mit einem Schwert durchschnitten werden könnte, oder ob zwei Gegenstände, die eine Eigenschaft gemeinsam haben, sich beide in einem Gewölbe befinden (III.159a).31 Diese polemische Argumentation kann nicht als ernsthafte Auseinandersetzung mit realistischen Theorien aufgefasst werden. Denn selbst wenn Gassendis Argumente ernst genommen werden, treffen sie höchstens streng realistische Theorien, die tatsächlich der Auffassung sind, dass Gegenstand und Universalium voneinander unabhängig existieren können. Ein moderater Realist, der keine Universalien über die Instanziierung in Gegenständen hinaus annimmt, muss auf diese Ausführungen nicht reagieren. Es lässt sich aus diesen Ausführungen folglich nicht mehr schließen, als dass Gassendi hier eine anti-realistische Position vertritt, der zufolge es Allgemeines nur in dem Sinn gibt, dass etwas von mehreren Dingen ausgesagt bzw. prädiziert werden kann. Sowohl Universalien als auch Individuen werden mit sprachlichen Termini gleichgesetzt. Das Allgemeine wird allerdings exklusiv im (menschlichen) Geist verortet. Dagegen würde Gassendi nicht bestreiten, dass den Individualtermen in der Welt Gegenstände entsprechen, nämlich eben die, denen die Namen gegeben werden. Neben Gegenständen scheint er aber auch Eigenschaften an den Gegenständen anzunehmen, wenn er schreibt, dass er „keine [Natur], die in dir und mir gemeinsam ist“, erkennen kann: „Du hast deinen Körper, deine Seele, deine Teile [partes] und deine eigenen Eigenschaften [dotes]“ (III.159a, Übersetzung Seidl).32 In der Welt gibt es also Gegenstände mit Eigenschaften, aber nichts, was diesen Gegenständen durch ihre Eigenschaften gemeinsam wäre. Allerdings müssen diese Eigenschaften so konstruiert werden, dass sie nicht Instanziierungen einer allgemeinen Eigenschaft sind. Für Gassendi bestehen Eigenschaften als Modi, das heißt als Seinsweise, der Gegenstände. Dies zeigt sich zum Beispiel im Buch VI des ersten Abschnitts der Physik im Syntagma, De Qualitatibus Rerum, wenn er behauptet: „Eine Eigenschaft ist nämlich das, was durch den Sehsinn, den Tastsinn oder weitere Sinne erscheint. [...] Wenn wir irgendetwas an ebendiesen Körpern begreifen oder wahrnehmen, ist dies nicht die Substanz, sondern bloß irgendein Modus der Substanz.“ 33 (I.372a/b, Übersetzung Seidl)
Wir nehmen nur Eigenschaften an den Gegenständen wahr, und das, was wir wahrnehmen, sind bloße Modi der Gegenstände. Eigenschaften werden also von Gas31 „[...] si quispiam autem te inter et me ensem duxerit, abscindere non valeat totam hanc communitatem? Certe enim concipere velim quomodo tu hac huiusmodi communitatem concipias? An ut fornicem ambos includentem [...].“ (III.159a) 32 „[...] ego nullam, quae sit in te, et me eadem, communisque perspicio. Tu tuum habes corpus, tuam animam, tuas partes ac dotes proprias.“ (III.159a) 33 „Qualitas est enim, quicquid visui, tactui, caeterisque sensibus patet. [...] corporibus concipimus, esseve animadvertimur non esse substantiam, sed solum substantiae modum [...].“ (I.372a/b) Vgl. Brundell 1987, 57ff, für eine genau Darstellung von Gassendis Ansichten bezüglich Eigenschaften.
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
sendi als Seins- oder Zustandsweisen der Gegenstände aufgefasst.34 Damit umfasst Gassendis Ontologie die aus Atomen aufgebauten materiellen Gegenstände, die aufgrund der Anordnung der Atome auf bestimmte Weise existieren, und daher bestimmte Eigenschaften haben. Gassendi weist nicht darauf hin, wer die Vertreter des Nominalismus sind, deren Meinung er zustimmt; seine ontologischen Annahmen aber entsprechen unserer Analyse zufolge allerdings denen Ockhams. Auch bleibt in diesem Zitat offen, ob er Universalien als bloße Namen, das heißt sprachliche Ausdrücke versteht, oder ob er davon ausgeht, dass es diesen Namen entsprechende Begriffe gibt, die ebenso im nominalistischen Sinn allgemein sind. Da aber Gassendi auch in den Exercitationes schon davon spricht, dass der Verstand aufgrund von Sinneseindrücken sowohl Begriffe bildet als auch die Dinge mit Namen versieht (III.159b), kann davon ausgegangen werden, dass er hier schon nicht nur allgemeine Terme, sondern auch Begriffe annimmt.35 Aufgrund unserer Beschäftigung mit Ideen sollte klar sein, dass Gassendi spätestens zur Zeit des Syntagma zur Annahme von allgemeinen Begriffen verpflichtet ist. Denn die Analyse des Ideenbegriffs auf Basis der epikureischen Prolepsen hat gezeigt, dass Ideen begrifflich strukturierte, allgemeine Vorstellungen sind. Damit steht Gassendi nicht mehr offen zu behaupten, dass allgemeine Terme die einzigen allgemeinen Entitäten sind. Offenbar war sich Gassendi bewusst, dass eine Ablehnung von Universalien als realer Entitäten eine entsprechende Erklärung dafür erforderlich macht, wie diese Begriffe gebildet werden, denn er gibt zumindest Ansätze einer solchen Erklärung. Wie kommt der Geist also dazu, die Gegenstände zu ordnen, Begriffe zu bilden und die Dinge mit Namen zu benennen? Dies geschieht Gassendis Ausführungen in den Exercitationes zufolge dadurch, dass der Verstand (intellectus) die Einzeldinge, die allein sinnlich wahrgenommen werden, miteinander vergleicht und an ihnen Übereinstimmungen und Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten feststellt (III.159b).36 Gemäß dieser Übereinstimmungen bringt der Verstand die Dinge in eine Ordnung und kann so Begriffe bilden (ebd.). Die Behauptung des Realisten, dass es in mehreren Gegenständen die gleiche Eigenschaft geben kann, wie zum Beispiel das Menschsein in vielen Menschen, kann dann zurückgewiesen werden. Es gibt Gassendi zufolge nicht eine Eigenschaft in vielen Dingen, sondern die Dinge ähneln einander bezüglich ihrer Eigenschaften (III.160a).37 Die Tatsache, dass wir in der Lage sind, Begriffe zu bilden, wird also 34 Vgl. LoLordo 2006, 218ff. 35 Auch Bloch weist darauf hin, dass Gassendi in diesem Sinn einen Nominalismus der Begriffe, nicht einen der Sprache vertritt, Bloch 1971, 115. 36 „Observo Intellectum nostrum nihil primo intuitu videre in rebus, quod singulare revera non sit. Porro cum res variae sint, ac multiplices, tum Intellectus illas inter se comparans, videt illas inter se partim convenire, partim diffidere; seu quasdam esse similes, quasdam vero dissimiles, idque per varios similitudinis et dissimilitudinis gradus. Quare et sepositis dissimilibus, quae sunt similes in eodem, etiam ordine; eodemque modo concipit, unde et eodem nomine donat, exempli causa videt Platonem, Socratem, ceaterosque particulares homines [...].“ (III.159b) 37 „Ut igitur id repetam quod propositum fuerat; cum dicuntur omnes homines esse eiusdem naturae, vel habere eandem naturam humanam, sensus alius esse non potest, quam quod sint si-
4.3 Ähnlichkeit
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von Gassendi ohne den Rückgriff auf Universalien mit Beziehungen der Ähnlichkeit zwischen Gegenständen erklärt. Im Syntagma, in der Institutio logica, finden sich ähnliche Formulierungen. Allgemeine Ideen werden Gassendi zufolge durch Abstraktion gebildet, indem der Verstand sich auf die Eigenschaften konzentriert, bezüglich derer sich die Ideen ähneln, und die Eigenschaften außer Acht lässt, bezüglich derer sie sich voneinander unterscheiden (I.93b). Auch der Prozess der Aggregation setzt voraus, dass die Gegenstände schon nach Ähnlichkeit geordnet sind: „Bei [dieser] Methode legt der Geist die ähnlichen Ideen gleichsam zurück [seponens] und vereinigt sie zu einem Aggregat [aggeries]“ (I.93a, Hervorhebung von mir, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl). Auch hier beruht also die Möglichkeit zur Begriffsbildung darauf, dass Ähnlichkeiten an den Gegenständen festgestellt werden und die Gegenstände schon gemäß ihrer Ähnlichkeit geordnet sind. Eine Kontinuität in Gassendis Position besteht also in seiner Einschätzung, dass Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen die Grundlage der Begriffsbildung darstellen. Die Ähnlichkeit der Gegenstände untereinander ersetzt die gemeinsamen Eigenschaften realistischer Theorien und soll so den Grund dafür liefern, dass wir Gegenstände in Gruppen ordnen können. Aufgrund von Gassendis Charakterisierung ist allerdings unklar, ob er der Meinung ist, dass diese Ähnlichkeitsbeziehungen eine ontologische Basis haben; möchte und kann Gassendi also behaupten, dass die Gegenstände einander tatsächlich ähneln, oder möchte er sagen, dass es uns erscheint, dass sie sich ähnlich sind? Darüber hinaus bleibt Gassendi die Antwort auf die Frage schuldig, wie genau die Ordnung nach Ähnlichkeiten Begriffsbildung ermöglicht, und welche Fähigkeiten des Geistes vorausgesetzt werden müssen, um einen solchen Prozess zu ermöglichen. Drittens stellt sich die im Zuge der allgemeinen Diskussion zu Universalien entwickelte Frage nach der Rechtfertigung der Anwendung von Begriffen.
4.3 ÄHNLICHKEIT Wie ist also Gassendis Einstellung zu Ähnlichkeitsrelationen? Soll die Ähnlichkeit, die die Basis für Begriffserwerb darstellt, tatsächlich in den Dingen verortet werden, oder muss er sie nicht vielmehr als etwas postulieren, das uns bloß an den Gegenständen erscheint. Das Problem lässt sich folgendermaßen formulieren: Gassendi nimmt an, dass es Gegenstände und Eigenschaften dieser Gegenstände gibt. Seine Ontologie beinhaltet also mindestens zwei verschiedene Arten von Dingen. Darüber hinaus stellt er die Behauptung auf, dass sich die Gegenstände in Bezug auf ihre Eigenschaften ähneln. Er könnte nun entweder behaupten, dass die Ähnlichkeit zwischen zwei Gegenständen auch dann besteht, wenn niemand diese Gegenstände wahrnimmt, sodass es eine von einem wahrnehmenden Subjekt unabmilis naturae, vel quod habeant similem naturam, seu verius quod habeant naturas inter se simillimas.“ (III.160a)
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
hängige ontologische Begründung für die Ähnlichkeit gibt. Oder er könnte die Ähnlichkeit zwischen Gegenständen nicht in den Dingen bzw. der Welt verorten, sondern bloß im menschlichen Geist. Parallel zum Fall von Universalien sind also zwei unterschiedliche Auffassungen über den ontologischen Status von Ähnlichkeiten möglich, eine realistische und eine anti-realistische. Im zweiten Fall, einer anti-realistischen Ähnlichkeitstheorie, gibt es nur Gegenstände und ihre Eigenschaften. Ähnlichkeitsbeziehungen werden im menschlichen Geist hergestellt, und zwar zwischen Vorstellungen von Gegenständen. Im ersten Fall, einer realistischen Ähnlichkeitstheorie, gibt es Gegenstände, ihre Eigenschaften und auch Ähnlichkeiten zwischen den Gegenständen.38 Der menschliche Geist nimmt die Gegenstände, und damit auch ihre Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten wahr, und ordnet die Gegenstände dementsprechend. Mit der ersten These wird damit der ontologischen Behauptung des Realisten eine andere ontologische Behauptung gegenübergestellt. Die bisher zitierten Aussagen Gassendis zu Ähnlichkeiten als Grundlage zur Begriffsbildung lassen nun keinen eindeutigen Schluss darauf zu, welche Position er vertritt. Denn einerseits scheint es in den oben angeführten Stellen zu Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen, als konzentriere sich Gassendi auf den menschlichen Geist, der diese feststellt. So heißt es in der Institutio logica, dass ähnliche Ideen zu Gruppen zusammengefügt werden (I.93a),39 bzw. dass der Geist Ähnlichkeiten zwischen Ideen bemerkt.40 Auch in der ersten oben angeführten Stelle aus den Exercitationes stehen der Verstand und seine Funktionsweise im Vordergrund: „[...] der Verstand vergleicht [die Gegenstände] untereinander“41 (III.159b), stellt Übereinstimmungen fest, ordnet und gibt Namen (ebd.). In diesen Zitaten geht es Gassendi also bloß um den erkenntnistheoretischen Aspekt des Problems. Andererseits scheint er in der zweiten angeführten Stelle aus den Exercitationes doch eine ontologische Behauptung aufzustellen, wenn er sagt, dass die Menschen „von ähnlicher Natur sind, oder eine ähnliche Natur haben, oder eher noch, Naturen haben, die einander sehr ähnlich sind“ (III.160b).42 Hier scheint Gassendi nicht nur sagen zu wollen, dass der Verstand die Eindrücke nach festgestellten Übereinstimmungen ordnet, sondern dass es diese Überstimmungen zwischen den Dingen tatsächlich gibt. Gassendis Einstellung zu dieser Frage lässt sich also nicht auf den ersten Blick feststellen. Darüber hinaus ist unklar, wie überzeugend die beiden vertretbaren Positionen jeweils sind und ob sie konsistent ausformuliert werden können. Um zu untersuchen, auf welche Weise die jeweiligen Positionen formuliert werden könn-
38 Grundsätzlich werden nominalistische Theorien, die das Universalienproblem durch Ähnlichkeit lösen möchten, realistisch aufgefasst. So z.B. bei Armstrong 1978, Lewis 1983 und Goodman 1977. 39 „[...] Mens simileis ideas veluti seponens in unam cogit aggreriem [...].“ (I.93a) 40 „[...] Ideae illae singulares in aliquo similes sint [...], Mens seorsim spectando [...].“ (I.93b) 41 „[...] Intellectus illas inter se comparans [...].“ (III.159b) 42 „[...] quod sint similis naturae, vel quod habeant similem naturam, seu verius quod habeant naturas inter se simillimas“. (III.160a)
4.3 Ähnlichkeit
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ten, und um ihre Vorteile und Nachteile genauer aufzuzeigen, sollen die beiden möglichen Theorien im Sinn Gassendis nun ausführlicher entwickelt werden. 4.3.1 Eine anti-realistische Ähnlichkeitstheorie Eine Theorie im ersten Sinn nimmt an, dass es Gegenstände gibt, denen, als Modi, bestimmte Eigenschaften zukommen. Jede Eigenschaft ist aber spezifisch für ihren Gegenstand, sodass zwei Gegenständen nie die gleiche Eigenschaft zukommt. Findet nun eine Wahrnehmung durch ein Subjekt statt, verursachen die Eigenschaften des Gegenstands im Subjekt bestimmte Vorstellungen, die species, die von einem phänomenalen Erleben begleitet werden. In gewissem Sinn kann also behauptet werden, dass die Eigenschaften des Gegenstands in den Geist des wahrnehmenden Subjekts übertragen werden, wobei das Subjekt bei dieser Übertragung passiv ist. Nun muss angenommen werden, dass das Wahrnehmungssubjekt die Fähigkeit besitzt, diese Eindrücke zu vergleichen und verschiedene Grade der Ähnlichkeit an ihnen festzustellen. Die Ähnlichkeit erscheint dabei zwischen verschiedenen phänomenalen Eindrücken. Denn wie oben dargelegt, sind sie es, die es uns erst ermöglichen, uns intentional auf eine sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft eines Gegenstands zu beziehen.43 Gemäß einer anti-realistischen Theorie von Ähnlichkeit scheint also jeder Eindruck, den ein Subjekt bildet, anderen Eindrücken zu bestimmten Graden ähnlich zu sein. Gemäß dieser scheinbaren Ähnlichkeiten werden die Eindrücke dann automatisch sortiert und zu Gruppen zusammengefügt. Ein systematisches Problem dieser Auffassung besteht in der Frage, worin diese Fähigkeit zum Vergleichen und Gruppieren besteht und wie sie begründet werden kann. Aufgrund seiner atomistischen Wahrnehmungstheorie könnte Gassendi auf diese Frage Folgendes antworten: Der Wahrnehmungsapparat und das Gehirn von Wesen, die zur sinnlichen Wahrnehmung fähig sind, sind darauf ausgelegt, hereinkommende Impulse auf bestimmte Art und Weise zu verarbeiten. Dabei werden bestimmte Arten von Impulsen immer auf die gleiche Art und Weise verarbeitet. Diese Art der Verarbeitung hat dann zur Folge, dass auch die entstehenden Vorstellungen und die diese begleitenden phänomenalen Erlebnisse von ähnlicher Art sind. Die Fähigkeit dazu, Eindrücke nach ihrer Ähnlichkeit zu ordnen, beruht nun auf der Tatsache, dass die Erkenntnisvermögen in dieser Art und Weise darauf angelegt sind, Eindrücke hervorzubringen. Unabhängig davon, welcher Art der phänomenale Eindruck ist, wird der Eindruck aufgrund seiner Entstehung mit anderen Eindrücken gruppiert. Problematisch an dieser Antwort ist allerdings, dass in ihr auf Ähnlichkeiten in der Entstehung von Eindrücken die Rede ist, die in gewisser Weise begründen, dass Eindrücke nach Ähnlichkeit gruppiert werden. Damit wird angenommen, dass es zwischen bestimmten Arten der Entstehung bestimmte Grade der Ähnlichkeit gibt. Unsere Voraussetzung für diese Theorie war jedoch, dass die Ähnlichkeit zwischen Eindrücken nicht ontologisch begründet wird. Man darf also nicht davon 43 Siehe oben, S.78f.
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
sprechen, dass bestimmte Dinge, Prozesse etc. einander ähnlich sind. Dementsprechend ist in einer solchen Theorie sogar die Rede davon gefährlich, dass der Geist feststellt, dass species, Ideen etc. einander ähnlich sind. Denn dies impliziert ja, dass tatsächlich eine Ähnlichkeit besteht. Wenn aber species, die ja körperlich sind, einander ähnlich sein können, gibt es keinen Grund, warum dies nicht auch für andere materielle Gegenstände, zum Beispiel die Objekte unserer Wahrnehmung, gelten soll. Wollte Gassendi behaupten, dass Ähnlichkeiten nicht ontologisch real sind, dürfte er also streng genommen nur davon sprechen, dass es uns so erscheint, als seien die Dinge, species, Ideen etc. einander ähnlich. Der Geist stellt also eine Verbindung zwischen Dingen her, die in der Welt nicht besteht. Damit bleibt einer solchen Theorie allerdings auch eine Antwort auf die Frage verwehrt, wieso es dem Geist so erscheint und wie es überhaupt dazu kommt, dass der Geist die Dinge auf diese Art und Weise vergleicht. Die Fähigkeit zum Vergleichen und Gruppieren von species und Ideen nach Ähnlichkeiten muss damit als gegeben angenommen werden, ohne dass sie weiter analysierbar oder erklärbar wäre. Sei steht zwar nicht unbedingt in Konflikt mit Gassendis Empirismus.44 Sie erscheint allerdings dadurch als willkürlich, dass sie in keinerlei Verbindung zu etwas in der Welt steht. Wenn die Gegenstände Eigenschaften haben, die in der Welt in keiner Verbindung zueinander stehen – aus welchem Grund und zu welchem Nutzen sollte dann der Geist eine solche Verbindung herstellen? Diese Frage kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Wie sich aber an Gassendis Strategie zur Rechtfertigung von Urteilen zeigen wird, kann innerhalb von Gassendis System auf dieses Problem reagiert werden, nämlich durch eine pragmatische Einstellung (s.u., S.158f). Allerdings wird dadurch nur erklärt, warum eine solche Gruppierung vollzogen wird, nicht aber, wie der Geist dazu in der Lage ist, eine solche Verbindung herzustellen. Damit muss eine Fähigkeit des Geistes vorausgesetzt werden, scheinbare Ähnlichkeiten zwischen Eindrücken zu konstatieren und die Eindrücke entsprechend dieser Ähnlichkeiten zu sortieren. Wir hatten festgestellt, dass schon die Redeweise davon, dass der Geist Ähnlichkeiten erkennt, bzw. dass Ideen oder species einander ähnlich sind, einer antirealistischen Ähnlichkeitstheorie widersprechen. Nun trifft Gassendi aber durchaus solch scheinbar realistische Aussagen. Zum Beispiel schreibt er im Syntagma: „Bei [dieser] Methode legt der Geist die ähnlichen Ideen gleichsam zurück (seponens) und vereinigt sie zu einem Aggregat (aggeries)“ (I.93a). Hier impliziert seine Redeweise also, dass Ideen einander ähnlich sind; eine solche Aussage erklärt die Ähnlichkeit zwischen Ideen zu etwas ontologisch Realem. Allerdings kann ein Vertreter einer anti-realistischen Ähnlichkeitstheorie argumentieren, dass wir natürlich so sprechen, als seien die Dinge einander tatsächlich ähnlich. Doch jede Aussage, die Dingen Ähnlichkeiten miteinander zuspricht, lässt sich in eine solche 44 Siehe z.B. Quine 1969, 11: „A standard of similarity is in some sense innate. This point is not against empiricism; it is a commonplace of behavioral psychology.“ Dies kann auch für den Fall angenommen werden, dass den wahrgenommenen Ähnlichkeiten keine tatsächlichen Ähnlichkeiten entsprechen.
4.3 Ähnlichkeit
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übersetzen, die bloß aussagt, dass es dem Geist so erscheint, als ob eine Ähnlichkeit bestünde. Der normalsprachliche Ausdruck, den Gassendi verwendet, ließe sich also jederzeit in einen technischen, der Theorie entsprechenden Ausdruck übersetzen. Insofern lässt sich argumentieren, dass Gassendi sowohl im Syntagma als auch in den Exercitationes nicht auf eine realistische Position verpflichtet ist, obwohl es angesichts seiner Aussagen so erscheinen könnte. Auch eine Aussage wie die, dass Menschen ähnliche Naturen haben, lässt sich in eine übersetzen, der zufolge es dem Geist so erscheint, dass Menschen einander ähnliche Naturen haben. 4.3.2 Eine realistische Ähnlichkeitstheorie Gassendis Aussagen können aber auch wörtlich genommen und im Sinne einer realistischen Ähnlichkeitstheorie interpretiert werden. Wie könnte eine solche ontologische Annahme begründet werden? Dafür scheinen zunächst zwei Möglichkeiten offen zu stehen. Erstens kann man die Ähnlichkeit zwischen Gegenständen darauf gründen, dass sie Eigenschaften gemeinsam haben, dass ihnen also das gleiche Universalium zukommt. Diese Möglichkeit hatte Gassendi zurückgewiesen. Keine zwei Gegenstände haben eine Eigenschaft gemeinsam; Ähnlichkeitsbeziehungen sollen ja erst erklären, dass wir zwei Gegenstände unter den gleichen Begriff subsumieren können. Zweitens kann man die Ähnlichkeit selbst als eine Eigenschaft ansehen, die zwei Gegenständen zukommt, das heißt eine relationale Eigenschaft. Problematisch an dieser Lösung ist, dass damit die erste Lösung mit eingekauft zu werden scheint. Denn nimmt man an, dass sich zwei Gegenstände in der gleichen Hinsicht ähneln, in der sich auch zwei weitere Gegenstände ähneln, folgt, dass diese beiden Paare von Gegenständen die relationale Eigenschaft der Ähnlichkeit in dieser Hinsicht gemeinsam haben. Schlimmer noch: Damit die relationale Eigenschaft, die die beiden Paare gemeinsam haben sollen, spezifiziert werden kann, muss darauf verwiesen werden, in welcher Hinsicht, das heißt in Bezug auf welche Eigenschaft sie einander ähneln sollen. Wie aber kann eine solche Eigenschaft bestimmt werden, ohne dass vorausgesetzt werden muss, dass die beiden Gegenstände diese Eigenschaft gemeinsam haben?45 Laut diesen Folgerungen beinhaltet die Annahme von Ähnlichkeiten als ontologischen Entitäten, dass Gegenstände Eigenschaften gemeinsam haben – dass es also Universalien gibt. Sie wäre damit für Gassendi keine Alternative.
45 Dieses Problem wird z.B. von Nelson Goodman aufgeworfen: „When, however, we say that more than two things are all similar in one respect we are in effect saying not only that each two are similar but also that some ‚respect‘ in which any two are similar is the same as that in which any other two are similar. In other words, we are saying that every two members of the class have in common some quality that every other two members have, and this amounts to saying that all memebers of the class have a common quality. But this is precisely what we are trying to define in terms of our given two-place predicate.“ (Goodman 1977, 107f)
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Wie H.H. Price in „Universals and Resemblances“ argumentiert, ist diese Argumentation allerdings nicht überzeugend.46 In seinem Aufsatz vergleicht Price moderat realistische Universalientheorien mit einer Position, die keine allgemeinen Eigenschaften, sondern nur Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Gegenständen annimmt. In Folge dieses Vergleichs entwickelt er Strategien gegen von Universalienrealisten vorgebrachte Argumente. Demnach ist es Price zufolge nicht nötig, Ähnlichkeit als allgemeine Eigenschaft zu postulieren, nur weil man behauptet, dass es Ähnlichkeiten tatsächlich gibt.47 Außerdem, so Price, muss für die Spezifikation der Ähnlichkeitsbeziehung nicht notwendigerweise auf Eigenschaften/ Universalien rekurriert werden.48 Um den ersten Punkt für sich in Anspruch zu nehmen, muss man zurückweisen, dass zwei n-Tupel von Gegenständen tatsächlich in der gleichen Ähnlichkeitsbeziehung stehen können. Höchstens können diese Beziehungen einander wiederum ähnlich sein. Ähneln sich zwei Paare von Gegenständen also bezüglich bestimmter Eigenschaften, besteht auch zwischen den Ähnlichkeitsbeziehungen ein gewisser Grad an Ähnlichkeit. Es muss aber nicht vorausgesetzt werden, dass mehrere Paare in der gleichen Ähnlichkeitsbeziehung stehen können. In diesem Sinn sind also alle Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Gegenständen einander zu einem bestimmten Grad ähnlich. Diese Ähnlichkeit muss allerdings als eine Ähnlichkeit zweiter Stufe erkannt und von Ähnlichkeiten erster Stufe unterschieden werden.49 Indem nun behauptet wird, wie es in der obigen Argumentation geschah, dass aus der Ähnlichkeit zwischen Gegenständen folgt, dass sich manche Gegenstände in der gleichen Hinsicht ähneln, wird schon vorausgesetzt, dass manche Gegenstände die gleiche Eigenschaft haben. Denn ähneln sie sich in der gleichen Hinsicht, ähneln sie sich bezüglich einer bestimmten Eigenschaft. Dass zwei Gegenstände zugleich eine bestimmte Eigenschaft haben können, wird vom Vertreter einer solchen Theorie aber zurückgewiesen. Man kann dieser Argumentation also erwidern, „that it begs the question at issue, that it just purports what it aims to prove.“50 Es bleibt allerdings das Problem bestehen, dass offenbar nicht spezifiziert werden kann, in welcher Hinsicht sich die Gegenstände untereinander ähneln, ohne auf allgemeine Eigenschaften Bezug zu nehmen.51 Ein Realist bezüglich Ähnlichkeit möchte Ähnlichkeitsbeziehungen als basal und Begriffe, die auf mehrere Gegenstände gleichzeitig angewendet werden können, als aus diesen Ähnlichkeitsbeziehungen abgeleitet betrachten. Wenn aber eine Ähnlichkeitsbeziehung nicht beschrieben werden kann, ohne dass dabei auf gemeinsame Eigenschaften der Dinge Bezug genommen wird, sind nicht die Ähnlichkeitsbeziehungen basal, sondern die 46 47 48 49
Price 1953 Price 1953, 34f Price 1953, 31ff Price 1953, 35. Armstrong 1978, 54ff ist allerdings der Auffassung, dass dieser Schritt in einen „teuflischen“ (vicious) Regress führt (Armstrong 1978, 55), da sich diese Ähnlichkeitsbeziehungen wieder ähneln etc., sodass eine Ähnlichkeitstheorie unakzeptabel wird. 50 Price 1953, 34 51 Price 1953, 31
4.3 Ähnlichkeit
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gemeinsamen Eigenschaften, also Universalien. Damit eine realistische Ähnlichkeitstheorie überzeugen kann, muss also ein Weg gefunden werden, Ähnlichkeitsbeziehungen ohne den Rückgriff auf gemeinsame Eigenschaften der Gegenstände zu spezifizieren. Für dieses Problem bietet Price die Lösung an, dass nicht eine Eigenschaft die Spezifikation ermöglicht, sondern eine Gruppe von Gegenständen, die als Standardbeispiele dienen.52 Diese Gegenstände ähneln einander in Bezug auf bestimmte Eigenschaften, die jeder dieser Gegenstände für sich hat. Diese Ähnlichkeit ist nun mehr oder weniger exakt. Zwei Gegenstände können sich bezüglich ihrer Form sehr ähnlich sein, bezüglich ihrer Farbe jedoch nicht.53 Prices Vorschlag ist nun, dass jeder Gegenstand, der den Standardgegenständen mindestens so ähnlich ist wie diese einander ähneln, zu einer bestimmten Menge gehört, zum Beispiel der Menge der roten Gegenstände.54 Ob ein Gegenstand zu einer bestimmten Menge von Gegenständen gehört, wird von den bestehenden Ähnlichkeitsbeziehungen und dem Grad der Ähnlichkeit zwischen den Gegenständen bestimmt. Nun könnte man versucht sein zu sagen, dass immer noch gefragt werden kann, in welcher Hinsicht sich die Standardgegenstände ähneln.55 Doch die Frage nach der Hinsicht, in welcher sich Gegenstände ähneln, ist eine Frage danach, welche Eigenschaften ihnen gemeinsam zukommen. Dies setzt voraus, dass wir schon wissen, was es bedeutet, eine bestimmte allgemeine Eigenschaft zu haben. Doch eine solche Eigenschaft zu haben, die mehreren Gegenständen gemeinsam sein kann, wie zum Beispiel rot zu sein, ist in einer Ähnlichkeits-Theorie definiert als „mindestens einen bestimmten Grad der Ähnlichkeit zu bestimmten Gegenständen zu haben.“ Den „bestimmten Gegenständen“, das heißt den Standardgegenständen, selbst kommt diese Eigenschaft aber trivialerweise zu. Daher ist die Frage innerhalb einer solchen Theorie sinnlos, sie kann nicht auf informative Weise beantwortet werden.56 52 „Roughly, [the answer] consists in substituting ‚resemblance towards ...‘ for ‚resemblance in respect of ...‘. Resemblance towards what? Towards certain standard objects, or exemplars as I shall call them – certain standard red objects, or standard round objects, or whatever it may be.“ (Price 1953, 32) 53 Obwohl diese Feststellung natürlich erst möglich ist, wenn die Ähnlichkeitsbeziehungen schon analysiert und Begriffe gebildet wurden, bestehen diese Ähnlichkeiten aufgrund der realistischen Einstellung eines Vertreters dieser Position bezüglich Eigenschaften (die jeweils nur einem Gegenstand zukommen) und Ähnlichkeitsbeziehungen auch dann, wenn sie nicht erkannt werden. 54 „Every class has, as it were, a nucleus, an inner ring of key-members, consisting of a small group of standard objects or exemplars. The exemplars for the class of red things might be a certain tomato, a certain red brick and a certain British post-box. Let us call them A, B and C for short. Then a red object is any object which resembles A, B and C as closely as they resemble one another.“ (Price 1953, 32) 55 Aus diesem Grund lehnt zum Beispiel Quine eine solche Theorie ab (Quine 1969, 8f). 56 „But this assumes that we know beforehand what ‚being red‘ ist, or what ‚being chracterized by redness‘ amounts to. And this begs the question against the Resemblance Philosophy. The Resemblance Philosophers maintain that our knowledge of what it is for something to be red just consists in a capacity to compare any particular object X with certain standard objects, and thereby to discover whether X does or does not resemble their standard objects as closely as
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Dies bedeutet jedoch, dass im Vornherein nicht festgelegt ist, was für eine Eigenschaft eine Gruppe von Standardgegenständen definiert.57 Von einem Metastandpunkt lässt sich aber sagen, dass jede solche Gruppe für die unterschiedlichsten Eigenschaften als definierend angesehen werden kann, zum Beispiel für Gestalt, Farbe, Größe, Alter etc. Obwohl also auch die Eigenschaft, die wir zu definieren versuchen, durch solche Standardobjekte definiert wird, ist sie nicht die einzige. Eine mögliche Lösung könnte die Annahme sein, dass es um die Eigenschaften geht, bezüglich derer zwischen den Standardobjekten die größte Ähnlichkeit herrscht. Dieser Weg stünde auch Gassendi offen, da er ja davon ausgeht, dass die Gegenstände Eigenschaften haben (bloß keine gemeinsamen Eigenschaften). Insofern kann auch gefragt werden, zwischen welchen der (einzelnen) Eigenschaften der Standardobjekte der größte Grad an Übereinstimmung zu finden ist. Dass diese Eigenschaften dann die Grundlage dafür bilden, welcher Begriff durch diese Gruppe von Standardgegenständen definiert wird, scheint jedoch eine willkürliche Festlegung von außen zu sein, die nicht im Wesen der Dinge zu finden ist, sondern darüber etwas aussagt, wie wir Dinge gruppieren. 4.3.3 Ist Gassendi Realist oder Anti-Realist? Wir haben nun sowohl eine realistische als auch eine anti-realistische Theorie bezüglich Ähnlichkeit kennengelernt. Dies schien sinnvoll, da Gassendis Aussagen zu dieser Frage nicht eindeutig entscheiden ließen, welche Position er bevorzugt. Außerdem war unklar, welche Theorie überzeugender ist bzw. die größere Erklärungskraft hat. Bezüglich der Erklärungskraft ist die realistische Position im Vorteil. Dadurch, dass Ähnlichkeiten als real angesehen werden, kann in einer realistischen Theorie erklärt werden, wie der Intellekt dazu kommt, seine Vorstellungen auf Ähnlichkeiten hin zu überprüfen. Denn mit Gassendis Wahrnehmungstheorie kann davon ausgegangen werden, dass ähnliche Eigenschaften auch ähnliche Vorstellungen produzieren würden. Dadurch, dass Ähnlichkeiten zwischen den Gegenständen unserer Wahrnehmung als real angesehen werden, folgt, dass auch unsere Vorstellungen der Gegenstände einander ähnlich sind. Ihre Gruppierung diesen Ähnlichkeiten gemäß wird damit zu einem natürlichen Vorgang. Auch hat eine realistische Ähnlichkeitstheorie die Möglichkeit, die Anwendung von Begriffen auf Gegenstände zu rechtfertigen. Zwar gibt es nicht tatsächlich allgemeine Eigenschaften, wie es durch die Anwendung von Begriffen suggeriert wird. Dennoch sprechen wir über etwas in der Welt – nämlich Ähnlichkeiten – wenn wir Gegenständen allgemeine Eigenschaften zuschreiben. they resemble each other. It does not make sense to speak of comparing the standard objects with themselves, or to ask whether they resemble one another as closely as they do resemble one another.“ (Price 1953, 33) 57 Vgl. Armstrong 1978, 48: „Now, whatever paradigms are selected, it always remains possible that, over and above the property-class for which they are chosen to be paradigms, they will actually serve as paradigms for a quite distinct class.“
4.3 Ähnlichkeit
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Dies trifft auf eine anti-realistische Position nicht zu. Sie muss die Gruppierung der Gegenstände quasi aus dem Nichts annehmen und die Fähigkeit des Geistes zu dieser Gruppierung unerklärt lassen. Dagegen hat die anti-realistische Theorie den Vorteil, dass sie ontologisch schlanker ist. Nimmt man an, dass die Ähnlichkeitsbeziehungen bloß vom menschlichen Geist hergestellt werden, sind nur Gegenstände und ihre Eigenschaften Entitäten. In einer realistischen Position kommen dagegen mindestens sehr viele, eventuell aber auch unendlich viele Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen hinzu. Denn sollen Ähnlichkeiten Entitäten sein, müssen die Ähnlichkeitsbeziehungen, die jeder Gegenstand zu jedem anderen Gegenstand bezüglich jeder seiner Eigenschaften hat, angenommen werden. Im Vergleich zu einer realistischen Universalientheorie ist dies natürlich unerheblich, da diese noch stärkere ontologische Annahmen macht. Verglichen mit einer anti-realistischen Ähnlichkeitstheorie aber erscheint angesichts der ontologischen Verpflichtungen, die mit Ähnlichkeitsbeziehungen als Entitäten eingegangen werden müssen, die Möglichkeit verlockend, die Ähnlichkeiten in den menschlichen Geist zu verlagern. Dieser Punkt scheint nun der für Gassendi entscheidende. Wie oben dargelegt, lassen sich seine Aussagen im Zusammenhang mit Universalien in die eine oder die andere Richtung lesen. Für eine realistische Theorie können sie wörtlich verstanden werden: Dinge sind einander ähnlich, unabhängig davon, ob diese Ähnlichkeit wahrgenommen wird oder nicht. Behauptungen dieser Art werden sowohl in den Exercitationes als auch im Syntagma aufgestellt (s.o., S.94 und z.B. I.93a, III.160b). Für eine anti-realistische Position müssen diese Aussagen als ungenaue Sprechweise interpretiert werden, die aber jederzeit in eine der Theorie gemäße Sprechweise übersetzt werden kann. Beide Vorgehensweisen sind möglich, wobei eine realistische Lesart dadurch im Vorteil wäre, dass man nicht unterstellen müsste, dass Gassendi sich ungenau ausdrückt. Nun spricht sich Gassendi aber in beiden hier angesprochenen Werken gegen Relationen als Entitäten aus. So vertritt er zum Beispiel in den Exercitationes die Position, dass eine Relation eine „extrinsische Zuschreibung“ (denominatione extrinsecam, III.173a) ist. Im Syntagma werden Relationen als etwas bezeichnet, „das nicht in den Dingen selbst ist, und bloß von einer Operation des referentiellen Intellekts angedichtet wird“ (I.374a, Übersetzung Seidl).58 Nun ließe sich vielleicht einwenden, dass diese Ablehnung sich auf Relationen als allgemeine Entitäten bezieht, wie sie von Universalienrealisten postuliert werden. Ähnlichkeiten in einer realistischen Ähnlichkeitstheorie, wie sie oben beschrieben wurde, sind aber Einzeldinge wie materielle Gegenstände auch, wenn auch abstrakte Einzeldinge. Aber erstens werden die Aussagen bezüglich Relationen explizit auch auf die Ähnlichkeit zwischen Gegenständen bezogen: In den Exercitationes sagt Gassendi in der Diskussion zu Relationen, dass „die Ähnlichkeit eine Relation ist, die einer weißen Wand zugesprochen wird, sooft irgendwo von jemandem eine andere weiße
58 „[...] quod in ipsis rebus non sit, affingaturque solummodo ex operatione Intellectus referentis.“ (I.374a)
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Wand gebaut wird.“59 Offenbar sieht Gassendi hier Ähnlichkeiten als solche Relationen an, deren reale Existenz er ablehnt. Auch im Syntagma ist im Zusammenhang mit Relationen von Ähnlichkeit die Rede (I.173a).60 Damit scheint also zunächst eindeutig, dass Gassendi Ähnlichkeiten sehr wohl als Relationen betrachtet. Zweitens liegt aber der Grund für seine Ablehnung der realen Existenz von Relationen nicht in der angeblichen Allgemeinheit der Ähnlichkeitsbeziehungen. Vielmehr sieht er es als problematisch an, wenn Relationen (und damit auch alle Ähnlichkeiten) „zu den realen Entitäten hinzugezählt“61 werden (III.173a, Übersetzung Seidl). Gassendi lehnt Relationen als Entitäten, und damit auch eine realistische Ähnlichkeitstheorie ab, da es ihm absurd erscheint, dass es derart viele Ähnlichkeitsbeziehungen geben soll. Im Syntagma findet sich folgende Aussage dazu: „Daraus schließe ich, dass, wenn es in der Welt kein Ding gibt, mit dem ein Mensch oder ein Stein oder irgendein anderes Ding nicht die Relation der Gleichheit oder Ungleichheit, der Ähnlichkeit oder der Unähnlichkeit, der Abhängigkeit oder der Unabhängigkeit, etc. haben soll, es scheint, dass es tatsächlich abgesehen von der Substanz und den absoluten Eigenschaften, die in jener sind, nicht darüber hinaus so viele relative Eigenschaften gibt [...]“ (I.374a, Übersetzung Seidl).62 Wenn Ähnlichkeiten so beschaffen sein sollen, dass zwischen einem Gegenstand und allen anderen Gegenständen alle möglichen Ähnlichkeitsbeziehungen bestehen – dann gibt es eben keine Ähnlichkeiten. In den Exercitationes klingt es ähnlich: „Ich füge außerdem hinzu, dass es nichts auf der Welt gibt, Substanz oder Akzidenz, geistig oder körperlich, belebt oder unbelebt etc., zu dem nicht diese Wand eine Relation der Ähnlichkeit, Verschiedenheit und so weiter hat“ (III.173a, Übersetzung Seidl).63 Wieder schließt Gassendi aus dieser Tatsache, „dass du nichts anderes in der Wand siehst und begreifst als eine Weißheit“ (ebd., Übersetzung Seidl).64 59 „Similitudo est Relatio, quae parieti albo advenire dicitur quoties alicubi gentiu construitur alius paries albus.“ (III.173a) 60 „Quod idem dicendum est de colore, respectu cuius dicitur similis Gallo, dissimilis Aethiopi, ac pari ratione de omnibus aliis.“ (I.374a) 61 „Circa Relationem hoc unum observare et mirari licet qua ratione entibus realibus adnumeratur.“ (III.173a) 62 „Ex quo colligo, si cum nulla sit res in Mundo, cum qua seu homo, seu lapis, seu alia quaepiam res non censeatur habere Relationem aequalitatis, aut inaequalitatis; similitudinis, aut dissimilitudinis; dependentiae, aut independentiae, etc. appareat vero praeter substantiam, Qualitatesque absolutas, quae in illa sunt, non esse preaterea tot relativas qualitates [...]“ (I.374a) Mit dieser Aussage ist auch ausgeschlossen, dass die absoluten Eigenschaften als intrinsische, manche Relationen wie zum Beispiel Ähnlichkeit als extrinsische Eigenschaften angesehen werden können. Eine solche extrinsische Eigenschaft käme einem Gegenstand dann aufgrund einer eigenen intrinsischen Eigenschaft, und von intrinsischen Eigenschaften eines anderen Gegenstands zu, könnte aber als real angesehen werden. Doch Gassendi akzeptiert hier eindeutig nur die absoluten, das heißt die intrinsischen Eigenschaften als real. Alle Relationen werden damit zu reinen Zuschreibungen von außen. 63 „Amplius addo, nihil est in Mundo seu substantia, seu accidens, seu spirituale, seu corporeum, seu vivens, seu inanime, etc. ad quod idem hic paries relationem aliquam similitudinis, diversitatis, aliasque non habeat.“ (III.173a) 64 „[...] ut nihil aliud in pariete videas, et intelligas, quam unam albedinem“ (III.173a)
4.3 Ähnlichkeit
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Nehmen wir also Relationen als real an, müssen wir zwischen allen Dingen alle möglichen Ähnlichkeitsbeziehungen konstatieren, ob nun allgemein oder einzeln. Diese Konsequenz aus einer realistischen Position erscheint Gassendi offenbar unannehmbar.65 Als Konstante in Gassendis Denken zeigt sich also die Ablehnung von Relationen als Entitäten aus dem Grund, dass damit jeder Gegenstand zu jedem anderen Gegenstand in unermesslich vielen Relationen stünde, die alle als real angesehen werden müssten. Systematisch lässt sich gegen diese Argumentation allerdings einwenden, dass allein schon die Annahme absoluter Eigenschaften dazu führen kann, dass Gegenstände in bestimmten Relationen zueinander stehen. Ein Beispiel für eine solche Argumentation findet sich in David Lewis „On the Plurality of Worlds“.66 Zunächst nimmt Lewis an, dass es intrinsische und extrinsische Eigenschaften gibt. Intrinsische Eigenschaften kommen den Gegenständen zu „in virtue of the way they themselves are“,67 während extrinsische Eigenschaften solche sind, „which they have in virtue of their relations or lack of relations to other things.“68 Die tatsächliche Existenz von extrinsischen Eigenschaften würde Gassendi zwar ablehnen; doch Lewis intrinsische Eigenschaften scheinen Gassendis „absoluten Eigenschaften“ der Gegenstände zu entsprechen, deren Existenz er zugibt. Nun argumentiert Lewis, dass es Relationen gibt, die auf den intrinsischen Eigenschaften der Gegenstände supervenieren, sogenannte interne Relationen. Das heißt, es ist nicht möglich, dass zwei Gegenstände bestimmte intrinsische Eigenschaften haben, ohne in einer bestimmten Relation zueinander zu stehen.69 Als Beispiel für eine interne Relation kann zum Beispiel die Relation „größer sein als“ genannt werden: sobald zwei Gegenstände die (intrinsische oder absolute) Eigenschaft einer bestimmten Größe besitzen, ist auch einer der beiden Gegenstände größer als der andere. Lewis nennt als Beispiel für eine interne Relation nun die der Ähnlichkeit. 70 Er ist also der Auffassung, dass zwei Gegenstände, die bestimmte intrinsische Eigenschaften haben, allein aufgrund dieser Eigenschaften auch in einer bestimmten Relation der Ähnlichkeit oder Unterschiedlichkeit zueinander stehen. Sollte diese Auffassung systematisch überzeugen, wäre Gassendi allein schon aufgrund der Annahme absoluter Eigenschaften auf die Existenz bestimmter Relationen verpflichtet – im speziellen auf die Existenz von Ähnlichkeitsrelationen.
65 Systematisch stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Einwand gegen realistische Ähnlichkeitstheorien überzeugend ist, zumindest wenn man die Welt als unendlich ansieht. Denn in diesem Fall wird die Anzahl der Gegenstände und ihrer Eigenschaften abzählbar unendlich sein. Damit wird mit der Annahme auch von weiteren abzählbar unendlich vielen Ähnlichkeitsbeziehungen die Anzahl der Entitäten nicht vergrößert – sie bleibt abzählbar unendlich. 66 Lewis 1986 67 Lewis 1986, 61 68 Lewis 1986, ebd. 69 „internal relations“, Lewis 1986, 62. Für Lewis’ Definition von Supervenienz siehe Lewis 1986, 14. 70 Lewis 1986, 62: „Relations of similarity or difference in intrinsic respects are internal [...].“
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Allerdings ist aufgrund unserer obigen Darstellung davon auszugehen, dass Gassendi eine solche Argumentation zurückweisen würde. Seinem Standpunkt nach ergibt sich aus der reinen Tatsache, dass zwei Gegenstände bestimmte Größen haben, eben nicht automatisch, dass einer der Gegenstände größer ist als der andere. Die Zuschreibung dieser Relation ist Gassendi zufolge eine „extrinsische“ (III.173a), eine „Andichtung des Intellekts“ (I.374a). Auf den ersten Blick scheint es, als könnte diese Zurückweisung nicht überzeugen: Ist es nicht so, zumindest im Fall der Relation „größer als“, dass mit der Annahme bestimmter Eigenschaften der Gegenstände alle Vorrausetzungen dafür vorhanden sind, dass einer der Gegenstände größer ist als der andere? Es scheint keine zusätzliche Zuschreibung des Geistes benötigt zu werden, um einen der Gegenstände größer als den anderen werden zu lassen – dadurch, dass beide Gegenstände eine bestimmte Größe haben, ist auch einer größer als der andere. Dieses Argument überzeugt jedoch nur dann, wenn man voraussetzt, dass die beiden Gegenstände eine Eigenschaft der gleichen Art haben – eine bestimmte Größe. Nimmt man die beiden Eigenschaften der Gegenstände als völlig unabhängig voneinander an, verschwindet der Eindruck, dass diese Eigenschaften die Gegenstände in eine bestimmte Relation bringen. Die Eigenschaften an sich sind partikular und haben nichts miteinander zu tun. Erst wenn der Geist die Gegenstände vergleicht, schreibt er ihnen zu, in einer bestimmten Relation zu stehen. Lewis’ Argument für die Annahme von internen Relationen ist also nur unter Annahme eines Universalien- bzw. Eigenschaftenrealismus überzeugend71 und kann damit von Gassendi zurückgewiesen werden. Es drängt sich damit der Schluss auf, dass Gassendi eine ontologische Begründung von Ähnlichkeiten ablehnt und sich für die explanatorisch und ontologisch schwächere Variante einer Ähnlichkeitstheorie entscheidet.72 Einer solchen entsprechend gibt es nur Gegenstände und deren „absolute“ (I.374a) Eigenschaften, sodass wir an einem Gegenstand auch nichts weiter wahrnehmen oder begreifen können als diese Eigenschaften. Damit sind dann die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, die wir an Gegenständen wahrnehmen, rein äußerliche Zuschreibungen, denen nichts an den Gegenständen entspricht. Es erscheint uns so, als hätten die Gegenstände ähnliche Eigenschaften, unser Geist ist auf irgendeine Art und Weise dazu angelegt, solche Ähnlichkeiten zu postulieren. Tatsächlich besteht aber eine solche Ähnlichkeit
71 Lewis bezeichnet sich selbst als „neutral“, was die Frage nach der Existenz von Universalien betrifft (Lewis 1986, 69), er vertritt aber die Auffassung, dass es nicht nur Eigenschaften, nämlich als Klassen möglicher Gegenstände (Lewis 1983, 10), sondern auch sogenannte natürliche Eigenschaften gibt, die die Grundlage für Ähnlichkeitsbeziehungen darstellen (Lewis 1983, 13). Lewis ist insofern neutral bezüglich Universalien, als er weder ausschließt, dass zur Festlegung dieser natürlichen Eigenschaften Universalien eingeführt werden, noch die Einführung von Universalien explizit vornimmt. Wird aber kein Universalien-Realismus vertreten, werden natürliche Eigenschaften als primitiv angenommen. 72 Dagegen ist LoLordo der Meinung, dass Ähnlichkeiten für Gassendi „objektiv“ bestehen (LoLordo 2006, 86). Dies schließt sie aus Gassendis Redeweise über ähnliche Ideen in der Institutio logica.
4.3 Ähnlichkeit
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nicht, weder zwischen den Gegenständen, noch zwischen unseren Vorstellungen der Gegenstände. 4.3.4 Eine anti-realistische Theorie der Ähnlichkeit als Basis für Begriffsbildung Gassendi muss also als Vertreter einer anti-realistischen Ähnlichkeitstheorie aufgefasst werden. Diese Frage stellte sich, da Ähnlichkeiten von Gassendi als nominalistische Alternative zu Universalien als Grundlage für Begriffsbildung vorgestellt wurden. Sollen Ähnlichkeiten dies tatsächlich leisten, muss nun erklärt werden, wie wir auf der Basis von vom Geist zugeschriebenen Ähnlichkeiten zu allgemeinen Begriffen kommen. Wir können gemäß Gassendis Position davon ausgehen, dass wir zunächst von Gegenständen auf solche Art und Weise affiziert werden, dass wir sinnliche Eindrücke dieser Gegenstände bilden. Vermittels dieser Empfindungen stellen wir uns die Eigenschaften der Gegenstände vor. Gassendi geht nun davon aus, dass der Geist in der Lage ist, diese Eindrücke miteinander zu vergleichen und Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu konstatieren. Gemäß diesen Ähnlichkeiten kann der Geist die Eindrücke zu verschiedenen Gruppen zusammenfügen. Nun scheint sich gegen eine solche Theorie der gleiche Einwand vorbringen zu lassen, der uns auch in der Diskussion einer realistischen Ähnlichkeitstheorie begegnete: von einem Metastandpunkt aus lässt sich fragen, bezüglich welcher Eigenschaften der Geist die Eindrücke vergleicht und zu Ähnlichkeitsgruppen ordnet. Doch wie wir gesehen hatten, setzt dieser Einwand voraus, dass die Eindrücke Eigenschaften gemeinsam haben – eine Annahme, die Gassendi nicht teilt. Doch wenn der Geist bei der Sortierung nicht durch gemeinsame Eigenschaften der Eindrücke geleitet wird, wie kommt er dann überhaupt dazu, Gruppen zu bilden, die für uns als Grundlage zur Begriffsbildung dienen können? Wenn Eindrücke weder Eigenschaften gemeinsam noch ähnliche Eigenschaften haben, scheint der Geist völlig willkürlich Eigenschaften der Eindrücke miteinander zu vergleichen und damit willkürliche Gruppen zu bilden. Damit wir Begriffe bilden können, brauchen wir aber Gruppen, die auf bestimmte Art konstituiert sind. Nun könnte Gassendi auf diese Frage antworten, dass diese zur Begriffsbildung notwendige Art der Ordnung eben zur Fähigkeit des Geistes gehört, unsere Eindrücke nach Ähnlichkeit zu gruppieren. Offensichtlich haben wir eine solche Fähigkeit – und es gibt sogar Eindrücke, die uns nicht nur ähnlich, sondern ununterscheidbar, das heißt gleich erscheinen. Eine solche Behauptung widerspricht auch nicht Gassendis grundsätzlich empiristischer Einstellung. Doch lässt sich eine solche Position weiter theoretisch begründen. Und zwar kann die Strategie, die Price für eine realistische Ähnlichkeitstheorie entwickelt, auch Gassendis Position gegenüber diesem Problem stärken. Zunächst ist festzustellen, dass alle Beteiligten darin übereinstimmen, dass Gegenstände, und damit auch unsere Eindrücke, Eigenschaften haben. Zwar kann Gassendi darüber hinaus nicht mit einer realistischen Theorie behaupten, dass zwischen den species bezüglich ihrer Eigenschaften Ähnlichkeiten bestehen; aber er kann doch behaupten, dass es dem Geist so erscheint, als ob Ähnlichkeiten bestün-
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
den. Der Geist nimmt also Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Eindrücken an, unabhängig davon, ob diese auch tatsächlich bestehen. Nun kann man als Erklärung dafür, dass der Geist bestimmte Gruppen von Eindrücken bildet, anführen, dass diese Gruppierung stattfindet, indem der Geist bestimmte Eindrücke als Standard für eine bestimmte Gruppe annimmt, und andere Eindrücke mit diesen Standardeindrücken vergleicht. Dem Geist scheint es also so, dass mehrere Eindrücke einander zu einem bestimmten Grad ähneln. Er gruppiert dann weitere Eindrücke zu diesen Eindrücken, wenn diese den Standardeindrücken mindestens so ähnlich sind wie diese einander. Nun scheint sich auch mit dieser Strategie eine gewisse Willkürlichkeit nicht vermeiden zu lassen. Doch dies ist unausweichlich, wenn der Geist in seiner Strukturierung durch nichts an den Gegenständen geleitet wird. Die Willkürlichkeit liegt zum einen darin, welche Eindrücke als Standardeindrücke ausgewählt werden, und zum anderen darin, in Bezug auf welche Eigenschaften der Geist die Eindrücke vergleicht. Die Realität der Eigenschaften wird ja von Gassendi nicht bestritten, bloß vergleicht der Geist die Gegenstände miteinander nicht bezüglich gemeinsamer, sondern den Gegenständen jeweils allein zukommender Eigenschaften. Wie schon im Fall einer realistischen Ähnlichkeitstheorie ließe sich konstruieren, dass die Gruppierung sowohl der Standardeindrücke als auch der weiter hinzukommenden Eindrücke in Hinsicht auf die Eigenschaften erfolgt, bezüglich derer sich die Eindrücke besonders ähnlich sind. Für die Tatsache, dass der Geist dies tut und dass er zu einem solchen Vorgehen in der Lage ist, kann keine ontologische Begründung gegeben werden. Mit dieser Willkürlichkeit ergibt sich nun für Gassendis Position im Vergleich sowohl zu einer realistischen Ähnlichkeitstheorie als auch zu realistischen Universalientheorien das oben angesprochene Problem der Rechtfertigung. Denn es stellt sich die Frage, inwiefern wir aufgrund der dem Geist so erscheinenden Ähnlichkeiten Begriffe bilden, die uns Wissen über die Gegenstände vermitteln können. Wie können wir etwas über die Gegenstände lernen, wenn wir sie unter Begriffe subsumieren, die aufgrund von bloß scheinbaren Ähnlichkeiten gebildet wurden? Dieses Problem wird uns später ausführlicher beschäftigen (s.u., S.138ff). Doch lässt sich schon an diesem Punkt feststellen, dass damit in gewissem Sinn aus Gassendis Position folgt, dass alle Urteile, die wir fällen, falsch sind. Denn in ihnen wird behauptet, dass Gegenständen allgemeine Eigenschaften zukommen, dass sie Eigenschaften mit anderen Gegenständen teilen – dies ist nie der Fall. In einem anderen Sinn können unsere Urteile dennoch wahr sein. Denn man kann einerseits danach fragen, ob dem Gegenstand tatsächlich eine solche Eigenschaft zukommt, andererseits danach, ob der Gegenstand korrekterweise unter einen bestimmten Begriff subsumiert werden kann. Die erste Frage ist eine Frage nach dem Gegenstand, die andere nach der Anwendung von Begriffen. Bei der Untersuchung von Gassendis Wahrheitsbegriff wird sich herausstellen, dass Gassendi eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vertritt. Die Wahrheit liegt
4.4 Begriffsbildung: species als Basis für Ideen
107
also in der Übereinstimmung zwischen Aussage und Gegenstand. 73 Was muss also eine Aussage wie „Dieser Tisch ist grün“ in Gassendis Theorie bedeuten, damit sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt? Unabhängig davon, wie genau Begriffe durch Gruppierungen nach scheinbaren Ähnlichkeiten entstehen (s.u., S.119ff), lässt sich aufgrund der bisher angeführten Aussagen die Behauptung aufstellen, dass wir nach Gassendis Auffassung Gegenständen allgemeine Eigenschaften zuschreiben, da sie uns in bestimmten Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Gegenständen zu stehen scheinen. Eine Aussage wie „Dieser Tisch ist grün“ bedeutet damit: dieser Tisch hat eine Eigenschaft, die mir unter bestimmten Umständen den Eigenschaften von anderen Gegenständen zu einem gewissen Grad zu ähneln scheint. Hat der Gegenstand tatsächlich eine solche Eigenschaft, ist der Begriff korrekt angewendet. Die Aussage „Dieser Tisch ist grün“ ist somit dann wahr, wenn der Tisch eine Eigenschaft hat, die den Standardgegenständen der „Grün“Gruppe im ausreichenden Grad ähnlich zu sein scheint. Diese Analyse zeigt, was wir Gassendi zufolge aussagen, wenn wir Urteile fällen. Da wir nach dieser Analyse den Gegenständen keine allgemeinen Eigenschaften zuschreiben, können wir durch Urteile dieser Art etwas über den Gegenstand lernen, nämlich in welcher Beziehung er mit seinen Eigenschaften für uns zu anderen Gegenständen steht. Die Ordnung, die die Gruppierung nach scheinbaren Ähnlichkeiten ergibt, mag eine willkürliche sein. Man kann aber im Sinn Gassendis darauf verweisen, dass dieser Prozess der Begriffsbildung offenbar auf Fähigkeiten in uns beruht, die auf die Welt und die Gegenstände in ihr so abgestimmt sind, dass sie zuverlässige Ergebnisse liefern. Damit ermöglicht eine Ordnung der Gegenstände aufgrund eines solchen Prozesses, mit dem wir die Gegenstände nicht nur isoliert betrachten, sondern so zueinander in Beziehung zu setzen, eine geordnete Interaktion mit der Welt und anderen Dingen und Lebewesen. 4.4 BEGRIFFSBILDUNG: SPECIES ALS BASIS FÜR IDEEN Wir haben nun den ontologischen Status von Ähnlichkeiten bei Gassendi geklärt; diese sind von Gassendi dafür vorgesehen, Universalien als Ursache und Grundlage von Begriffsbildung zu ersetzen. Auf Grundlage dieser Analyse kann nun untersucht werden, wie Ideen und species zusammenhängen. Denn einerseits wurden species als einzelne sinnliche Eindrücke charakterisiert, die durch einen kausalen Prozess von materiellen Gegenständen in uns ausgelöst werden. Andererseits hatten wir gesehen, dass Ideen als begrifflich strukturierte Vorstellungen aufgefasst werden müssen, die dazu notwendig ein sinnliches Element haben. Da sowohl spe73 In der Diskussion über die Rechtfertigung von Urteilen wird sich darüber hinaus zeigen, dass Gassendi für Rechtfertigung nicht die Wahrheit, sondern bloß eine gewisse Wahrscheinlichkeit verlangt. Allerdings betrifft dies ganz grundsätzlich die Möglichkeit des Schlusses von unseren Eindrücken auf die Eigenschaften der Gegenstände. Die Möglichkeit dieses Schlusses wurde mit einer pragmatischen Lösung etabliert (wobei natürlich Fehler bei einem solchen Schluss immer möglich sind). Die hier zu beantwortende Frage lautet nun unter der Voraussetzung, dass ein solcher Schluss möglich ist: Wann kann ein Urteil als wahr angesehen werden?
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
cies als auch Ideen Vorstellungen materieller Gegenstände sind, stellt sich die Frage, wie die eine Art der Vorstellung aus der anderen entsteht. Dieser Entstehungsprozess soll sich nach Gassendis eigenen Aussagen mit der von ihm angenommenen Gruppierung nach Ähnlichkeiten erhellen lassen. Wie sich aus der obigen Diskussion über Ideen ergibt, können Ideen aus mehreren Gründen nicht mit species gleichgesetzt werden. Zum einen lässt sich eine solche Identifikation schwer mit Gassendis epikureischem Hintergrund verbinden. Ideen werden nach dem Vorbild von Prolepsen konzipiert, die sowohl bei Epikur als auch in Gassendis Epikur-Interpretation nicht mit Wahrnehmungen identisch sind. Obwohl Gassendi die beiden Begriffe an verschiedenen Stellen zu identifizieren scheint (z.B. I.92a), ist eine solche Gleichsetzung aber auch aus systematischen Gründen nicht geboten. Denn Ideen werden von Gassendi als Vorstellungen beschrieben, die sich durch mehrere Wahrnehmungen verändern können – meine Idee eines Menschen wird umso genauer, je öfter ich ihn getroffen habe. 74 Eine Wahrnehmung kann sich nun nicht auf diese Art und Weise verbessern. Die Wahrnehmung eines Menschen bleibt immer die, die sie ist; es kann sich nicht ändern, dass ich jemanden auf bestimmte Art und Weise wahrgenommen habe – auch wenn ich später feststelle, dass diese Wahrnehmung dem Menschen nicht entspricht. Darüber hinaus werden Ideen von Gassendi als Vorstellungen beschrieben, die Eigenschaften von Gegenständen enthalten, die von verschiedenen Sinnen aufgenommen werden. Wie oben gesehen, wird die Entstehung von species von Gassendi so erklärt, dass diese immer auf einen Sinn beschränkt sind. Die Frage, wie species und Ideen zusammenhängen, ist die für jede nominalistische Theorie problematische Frage danach, wie das Allgemeine aus dem Einzelnen abstrahiert wird. Wie gesehen, beruht zum Beispiel Ockhams Erklärung dieses Vorgangs auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der abstrakten Vorstellung und dem Gegenstand. Diese Strategie steht Gassendi aufgrund seiner anti-realistischen Einstellung zu Ähnlichkeiten offensichtlich nicht offen. Dennoch muss diese Frage beantwortet werden, wenn Gassendis System überzeugen soll. Denn Gassendi behauptet erstens, dass Ideen, also begriffliche Vorstellungen, aus Wahrnehmungen entstehen. Er behauptet zweitens, dass es keine Universalien und keine angeborenen Ideen oder Begriffe gibt, die uns mit bzw. vor den Wahrnehmungen und zu deren Analyse zur Verfügung stehen. Und er vertritt drittens eine Wahrnehmungstheorie, die species nicht zu guten Kandidaten für die Grundlage von Begriffsbildung machen. Um Gassendis Theorien von Ideen und Wahrnehmung konsistent zu machen, muss also eine Erklärung dafür gefunden werden, wie aus species, wie Gassendi sie beschreibt, ohne schon allgemeine Vorstellungen oder Eigenschaften vorauszusetzen, Ideen entstehen können.
74 „Denn wir stellen uns einen Menschen, den wir vor langer Zeit, nur einmal oder im Vorbeigehen gesehen haben, nicht so deutlich vor wie einen, den wir schon oft oder kürzlich erst gesehen oder aufmerksam betrachtet haben; denn die Idee, die im Geist haften bleibt, ist im ersten Fall undeutlich und schwach, im zweiten lebendig und stark.“ (I.92b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
4.4 Begriffsbildung: species als Basis für Ideen
109
Oben wurden species als Eindrücke im Gehirn spezifiziert, die uns den intentionalen Bezug auf einen Gegenstand ermöglichen. Durch eine species bezieht sich das Erkenntnissubjekt auf die Ursache dieser speziellen species, die in einem Objekt, aber auch im Wahrnehmungsprozess liegen kann.75 Jeder Sinn liefert seine eigenen species, es ist also nur der Bezug auf durch einen Sinn wahrnehmbare Eigenschaften möglich. Durch den Wahrnehmungsprozess, wie er von Gassendi beschrieben wird, kann eine kognitive Differenzierung zwischen diesen verschiedenen Eigenschaften nicht erklärt werden; mit einer species bezieht man sich also auf alle zu einem bestimmten Zeitpunkt durch einen Sinn wahrnehmbaren Eigenschaften. Wie wir gesehen haben, ist Gassendi allerdings Realist bezüglich materieller Gegenstände und ihrer Eigenschaften. Die Eigenschaften, die wir im Sinneseindruck erleben, sind also in den Gegenständen unterschiedliche Eigenschaften. Und ebenso wie den Gegenständen kommen den Eindrücken tatsächliche Eigenschaften zu. Ein visueller Eindruck enthält also verschiedene Farben und Formen unterschiedlicher Größe. Dann aber kann davon ausgegangen werden, dass wir die Eigenschaften der Gegenstände mithilfe der Eigenschaften des Eindrucks unterschiedlich wahrnehmen. Die Eigenschaften, die ich durch meinen Eindruck erlebe, sind zunächst alle in einem; dieser Eindruck hat aber eine gewisse Struktur, die abhängig ist von der Oberflächenstruktur der wahrgenommenen Gegenstände. Sinneseindrücke ermöglichen uns also die Wahrnehmung der unterschiedlichen Eigenschaften bestimmter Gegenstände. Allerdings sind dies die spezifischen Eigenschaften bestimmter Gegenstände, die nichts mit den Eigenschaften anderer Gegenstände gemeinsam haben. Außerdem werden für jeden Sinn eigene Eindrücke gebildet. Nach Gassendis Konzeption von species kann aufgrund der Sinneswahrnehmung allein also weder davon ausgegangen werden, dass wir einem Gegenstand Eigenschaften zuschreiben, die durch unterschiedliche Sinne wahrgenommen werden, noch dass wir mehreren Gegenständen die gleiche Eigenschaft zuschreiben. Aufgrund unserer Analyse von Gassendis Ideenbegriff geschieht aber eben das in Ideen. Die Erklärung der Entstehung dieser Ideen wird erwartungsgemäß dadurch besonders erschwert, dass Gassendi sowohl angeborene Ideen76 als auch Universalien ablehnt. Mit angeborenen Ideen stünden schon vor dem ersten sinnlichen Erleben allgemeine Vorstellungen zur Verfügung, die dieses sinnliche Erleben leiten könnten. Als Universalien- oder Ähnlichkeitenrealist könnte man zumindest Folgendes behaupten: Die Gegenstände haben allgemeine Eigenschaften bzw. sind einander ähnlich. Diese Eigenschaften, bzw. Ähnlichkeiten werden durch den Wahrnehmungsprozess auf den sinnlichen Eindruck übertragen. Auch die species hat also allgemeine Eigenschaften bzw. ist anderen species ähnlich. Diese Eigenschaften bzw. Ähnlichkeiten können dann anhand der species abstrahiert bzw. erkannt wer75 Diesem Verständnis von Gassendis Aussagen zufolge wird also für einen bestimmten Bezug der Vorstellung nicht benötigt, dass das Subjekt das Objekt auf irgendeine Art und Weise auffasst. 76 Siehe zum Beispiel I.92b, III.318a.
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
den. Im ersten Fall könnte man davon ausgehen, dass am Ende des Abstraktionsprozesses ein Begriff gebildet wurde, der tatsächlich auf mehrere Gegenstände zutrifft. Im zweiten Fall läge zumindest eine Grundlage dafür vor, eine Gruppe von Gegenständen, die einander zu einem gewissen Grad ähneln, als Träger einer bestimmten Eigenschaft festzulegen. Doch weder die erste noch die zweite Strategie steht hier offen. Es stellt sich also die Frage, was für ein Prozess angenommen werden muss, damit Ideen aus species gebildet werden. Und diese Frage stellt sich bezüglich der beiden eben genannten Merkmale von Ideen, nämlich einem Gegenstand Eigenschaften zuzuschreiben, die durch unterschiedliche Sinne aufgenommen werden, und mehreren Gegenständen die gleiche Eigenschaft zuzuschreiben. In der Diskussion von Gassendis Ideenbegriff hatte sich herausgestellt, dass Ideen immer allgemein in dem Sinn sind, dass sie als Begriffe aufgefasst werden können und eine Definition ihres Gegenstands beinhalten. Insofern betrifft die Frage nach der Entstehung von allgemeinen Vorstellungen aus species alle Ideen im Sinn Gassendis. Dennoch unterscheidet sich die erste Gruppe von der zweiten insofern, als sich die einen nur auf einen Gegenstand beziehen, die anderen auf mehrere Gegenstände. In Bezug auf Ideen äußert Gassendi wie in der Einleitung dargelegt die Auffassung, dass Ideen von natürlichen Arten und Eigenschaften aus singulären Ideen gebildet werden (I.92a). Er scheint also der Meinung zu sein, dass zuerst Ideen von Einzelgegenständen gebildet werden, und aus diesen allgemeine Ideen abstrahiert werden. Als allgemeine Ideen beschreibt Gassendi zunächst nur Ideen von natürlichen Arten. Doch er behauptet auch, dass es Ideen von Eigenschaften gibt: „Eine singuläre Idee ist umso vollkommener, je mehr Teile und Attribute des Dinges sie repräsentiert. [...] Es muss zudem angemerkt werden, dass es auch eigene Ideen der Attribute, Eigenschaften oder Qualitäten insofern gibt, als diese mit abstrakten Namen bezeichnet werden, wenn man sie als gleichsam von ihren Trägern abstrahiert betrachtet, die man gewöhnlich mit konkreten Namen benennt. So haben wir nicht nur die Idee eines weißen Trägers, sondern auch die gesonderte Idee der Weiße; nicht nur die Idee eines Gerechten, sondern auch die gesonderte Idee der Gerechtigkeit; und so des Gleichen weiter.“77 (I.95b, Übersetzung Borcherding/ Rubini/Seidl)
Diese Behauptung scheint zunächst intuitiv und unproblematisch:78 Wir haben Ideen von Eigenschaften, wenn wir die Eigenschaften als von den Trägern abstrahiert betrachten. Es stellen sich jedoch zwei Fragen in Bezug auf diese Aussage. Erstens muss Gassendi die Entstehung dieser Ideen, zweitens ihren Zusammenhang mit singulären Ideen erklären. Die Aussage fällt im Zusammenhang mit der Vollkommenheit von Ideen; da Ideen von Attributen jedoch allgemeine Ideen sein sollen, die mehreren Gegenständen zukommen, ist davon auszugehen, dass sie durch 77 „Idea singularis tanto est perfectior, quanto plureis parteis pluraque adiuncta rei reprasentat. [...] Nota et suas quoque esse adiunctorum, seu proprietatum, qualitatumque ideas, prout illae quidem abstractis exprimuntur nominibus, dum spectantur, quasi secretae a suis subiectis, quae nominibus concretis vulgo exprimuntur. Ita non modo ideam candidi subiecti habemus, sed seorsim quoque candoris; non modo iusti, sed seorsim quoque iustitiae; atque ita de caeteris.“ (I.95b) 78 In den folgenden zwei Absätzen folge ich Seidl 2010, 50f.
4.4 Begriffsbildung: species als Basis für Ideen
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die beiden Prozesse entstehen, durch die auch andere allgemeine Ideen entstehen, nämlich durch Aggregation und Abstraktion. Die Idee der Weiße entsteht also genauso wie die Idee des Tiers einerseits dadurch, dass ich alle Gegenstände, denen diese Eigenschaft zukommt, zusammenfasse, andererseits dadurch, dass ich eine Definition dessen angebe, was es bedeutet, diese Eigenschaft zu haben. Bezüglich der Frage nach dem Zusammenhang mit singulären Ideen scheint sich ein Zirkel zu ergeben: Wie in der Einleitung beschrieben, ist Gassendi der Auffassung, dass singuläre Ideen allgemeinen immer vorhergehen; und dies sind auch die Ideen, deren Entstehung er als erstes beschreibt, im ersten Kanon des ersten Teils der Institutio logica (I.92b). Aus diesen Ideen werden alle anderen Ideen gebildet, unter anderem auch Ideen von Attributen (I.95b). Die Ideen von Einzeldingen enthalten wie ausgeführt (s.o., S.62) auf Grundlage eines Prototyps Bedingungen dafür und damit eine Definition dessen, was es bedeutet, ein bestimmter Gegenstand zu sein. Nun werden in diesen Definitionen aber gerade die Eigenschaften benannt, die für den Gegenstand wesentlich sind – wie kann also die Idee einer Eigenschaft aus der Idee des Gegenstands gebildet werden, wenn die Idee des Gegenstands die der Eigenschaft schon beinhalten soll? Dieses Problem begegnet uns nun nicht nur auf der Ebene der Ideen, sondern auch auf der Ebene der species. Denn bei der Explikation des Begriffsbildungsprozesses müssen mehrere Stufen unterschieden werden. Gassendi scheint wie Epikur der Meinung gewesen zu sein, dass sich Vorstellungen, die in einem gewissen Sinn allgemein sind, natürlicherweise aus unseren sinnlichen Eindrücken bilden. Dies zeigt sich an seiner Beschreibung des Urteils in der Physica (II.410b): „Die zweite Tätigkeit der Vorstellungskraft (phantasia) ist die Zusammensetzung (compositio) und Trennung (divisio) bzw. die Zustimmung und Ablehnung, die auch Behauptung und Verneinung und ebenso Proposition, Aussage oder Urteil (verstanden als ein Urteil in Aussageform) genannt wird. [...] Wenn etwa ein Hund einen Menschen kommen sieht und gleich darauf, ohne diese Wahrnehmung aufzugeben, sein eigenes Herrchen wahrnimmt, verbindet er beide Wahrnehmungen und scheint in seiner Vorstellungskraft diesen Akt hervorzubringen: ‚Der, der kommt, ist das Herrchen.‘ Ein Beleg dafür ist, dass der Hund zu ihm läuft. Falls er, näher gekommen, andere Merkmale als die seines Herrchens sieht, dann trennt er beide Wahrnehmungen voneinander und scheint diesen Akt hervorzubringen: ‚Der, der kommt, ist nicht das Herrchen.‘ Daher wendet er sich von ihm ab.“79 (II.410a/b, Übersetzung Borcherding/ Rubini/Seidl)
Diese Aussagen fallen im Zusammenhang der Beschreibung der Fähigkeiten und Tätigkeiten der Vorstellungskraft (phantasia). Es geht hier also nicht um Verstandesurteile, sondern um gewissermaßen sinnliche Urteile.80 Da die Vorstellungskraft diese Urteile fällt, muss die Fähigkeit zu diesen sinnlichen Urteilen auch solchen 79 „Altera phantasiae operatio est compositio, et divisio; sive assensio, et dissensio, quae affirmatio etiam, et negatio, itemque propositio, enunciatio, et iudicium (intellige enunciatiuum) appelatur. [...] Sic dum canis videt hominem venientem, et apprehensione hac non dimissa apprehendit continuo herum, tum apprensionem utramque coniungens, videtur sua phantasia huiuscemodi operationem elicere, hic veniens est herus; indicioque est, quod ad eum accurrat. Et, si aliquousque progressus alia signa, quam heri videat, tum apprehensionem utramque disiungens, elicere videtur hanc, hic veniens non est herus, unde et ab illo discedit.“ (II.410a/b) 80 Vgl. für diesen und die folgenden Absätze Seidl 2010, 81f.
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Tieren zugesprochen werden, die sinnliche Vorstellungen bilden. Dementsprechend spricht Gassendi hier einem Hund die Fähigkeit zu, Urteile zu fällen. Da Urteile aus einzelnen Vorstellungen zusammengesetzte komplexe Vorstellungen sind, in denen eine Vorstellung eines Gegenstands unter eine allgemeine Vorstellung subsumiert wird, folgt daraus, dass auch Hunde Gassendi zufolge Vorstellungen haben, die zumindest in einem gewissen Sinn allgemein sind.81 Auch in den Einwänden gegen Descartes’ Meditationen spricht Gassendi Tieren die Fähigkeit zu schlussfolgern zu. Gegen Descartes behauptet Gassendi, dass sich die Vernunft von Tieren und ihre Art des Schlussfolgerns nur graduell von der der Menschen unterscheidet (AT VII 270f/III.304a).82 Sollen Tiere aber schlussfolgern, müssen Urteile angenommen werden, aus denen sie Schlüsse ziehen können. Für diese Urteile werden wiederum allgemeine Vorstellungen benötigt. Gassendi war also sowohl in der Disquisitio metaphysica als auch im Syntagma der Auffassung, dass Tiere auf ihre eigene Weise schlussfolgern, urteilen, und damit auch gewisse allgemeine Vorstellungen haben. Dies überzeugt zu einem gewissen Grad: Wir könnten geneigt sein, Hunden zuzusprechen, dass sie allgemeine Vorstellungen haben, da sie offensichtlich in der Lage sind, Gegenstände zu erkennen, so wie der Hund in Gassendis Beispiel sein Herrchen erkennt. Dennoch würden wir einem Hund wohl nicht den gleichen Grad an begrifflichem Erfassen und somit eine von unserer Idee verschiedene Vorstellung dessen zuschreiben, was es bedeutet, das Herrchen eines Hundes zu sein.83 Diese Unterscheidung möchte auch Gassendi fällen, wenn er sagt, dass Tiere ihre eigene Vernunft haben, und sie weniger „vollkommen“ schlussfolgern als Menschen (AT VII 271/III.304a, Übersetzung Wohler). Es gibt also einen Unterschied zwischen der Ebene der tierischen Vernunft und der der Menschen, da Menschen über sinnliche Urteile, wie sie im Syntagma beschrieben werden, hinausgehen. Das bedeutet auch, dass die allgemeinen Vorstellungen, die sinnlichen Urteilen zugrunde liegen, von Ideen als allgemeinen Vorstellungen unterschieden werden müssen, sodass ein sinnliches Urteil wie das des Hundes über sein Herrchen keinen Begriff des Herrchens beinhaltet. Wir müssen also zwischen zwei Arten allgemeiner Vorstellungen unterscheiden: Zum einen gibt es begriffliche allgemeine Vorstellungen, nämlich Ideen, die die Bedeutung 81 Siehe Bloch 1971, 139. 82 „Ratione, inquis, carent Bruta. Sed nimirum carent humana, non sua: adeo proinde ut non videantur dicenda, nisi comparata ad nos, seu ad nostram speciem, cum alioquin , seu ratio tam videatur esse generalis, posseque illis attribui, quam facultas cognoscens sensusve internus. Dicis, ea non ratiocinari. Verum, cum non ratiocinentur tam perfecte, deque tot rebus, ac homines; et ratiocinantur tamen, et nihil videtur discriminis, nisi secundum magis et minus.“ (III.304a) Der Unterschied zu Descartes scheint dabei in der Ontologie begründet zu sein. Auch Descartes schreibt Tieren sinnliche Vorstellungen zu (vgl. Wilson 1995, 7), diese sind aber als körperliche nicht mit den menschlichen Gedanken als Modi der immateriellen Seele vergleichbar. Da Gassendi im Gegensatz dazu auch menschliche Ideen als körperlich ansieht, kann er eine solche strikte Unterscheidung nicht treffen und trifft sie auch nicht. 83 Obwohl man auch geneigt sein könnte, Tieren auf der Grundlage der Tatsache, dass sie Gegenstände wahrzunehmen scheinen, Begriffe zuzuschreiben, vgl. Bogdan 2009, 24. Für Gassendi muss aber, wie gesagt, die Vorstellung eines Gegenstands jeglichen Begriffen vorhergehen.
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der allgemeinen Ausdrücke unserer Sprache darstellen und uns das Erfassen von etwas als etwas ermöglichen. Diese Vorstellungen sollen im Folgenden mit „allgemeinb“ bezeichnet werden. Zum anderen gibt es nicht-begriffliche allgemeine Vorstellungen, die nach Gassendis Aussagen allerdings auch schon Vorstellungen von einem bestimmten Gegenstand (allerdings wohl nicht als Gegenstand) sein sollen. Diese Vorstellungen werden im Folgenden „allgemeins“ heißen. Nun ist davon auszugehen, dass Gassendi auch im Fall von allgemeinens Vorstellungen der Meinung wäre, dass Vorstellungen von Einzelgegenständen, wie die des Hundes von seinem Herrchen, grundlegend für allgemeineres Vorstellungen sind. Denn er ist der Überzeugung, dass sich grundsätzlich allgemeine Vorstellungen aus einzelnen entwickeln (AT VII 281/ III.318a/a). Ist ein Tier zum Beispiel generell ängstlich Menschen gegenüber, weil ein bestimmter Mensch es misshandelt hat, so scheint das Tier in gewissem Sinn über eine allgemeine Vorstellung vom Menschen zu verfügen. Gassendi würde behaupten, dass diese Vorstellung aus Vorstellungen von einzelnen Menschen gebildet wurde. In gleicher Weise ist es sicher vorstellbar, dass ein Tier Verhalten zeigt, dass darauf schließen lässt, dass es über eine allgemeines Vorstellung einer bestimmten Eigenschaft verfügt. Auch einer solchen müssten wiederum Vorstellungen von Einzeldingen zugrunde liegen. Allerdings ist unklar, worin diese Vorstellungen von Einzeldingen bestehen sollen, wenn nicht in einer Gruppierung bestimmter Eigenschaften, die einem Objekt zugeordnet werden. Denn Gegenstände werden erst durch ihre sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften für uns erfahrbar. In den Eindrücken, die durch den Wahrnehmungsprozess entstehen, sind aber noch keine Eigenschaften unterschieden. Wie bei Ideen begegnet uns also auch bei Vorstellungen, die nicht begrifflich sind, das Problem, dass Vorstellungen von Einzeldingen einerseits allgemeinere Vorstellungen bedingen, andererseits diese zur Bedingung haben. Es können also fünf Schritte bei der Bildung von Ideen unterschieden werden. Grundlage allen Gegenstandsbezugs sind Sinneseindrücke. Aufgrund dieser einzelnen Eindrücke bilden Tiere und Menschen allgemeines Vorstellungen einzelner Gegenstände, und allgemeines Vorstellungen von Eigenschaften. Diese wiederum sind die Grundlage für die Bildung singulärer Ideen, aus denen dann allgemeine Ideen gebildet werden. Auf der rein sinnlichen Ebene muss eine Erklärung der Begriffsbildung Folgendes beinhalten. Erstens muss dargelegt werden, wie Gegenstandserfahrung zustande kommt. Diese kann dabei auf der Ebene der einfachen Eindrücke oder auf der Ebene der allgemeinens Vorstellungen einzelner Gegenstände angesiedelt werden. Wie also kommt es dazu, dass Eindrücke für ein Erkenntnissubjekt Eindrücke eines Gegenstands sind? Wie wird ein Eindruck seines Herrchens für den Hund etwas, das auf sein Herrchen verweist? Gassendis Wahrnehmungstheorie zufolge enthält ein Eindruck alle Eigenschaften, die einem Sinn zu einem bestimmten Zeitpunkt zugänglich sind. Der Wahrnehmungsapparat unterscheidet nicht, welchen Gegenständen diese Eigenschaften jeweils zukommen, das heißt, die Eigenschaften sind im Eindruck nicht von vornherein bestimmten Gegenständen zugeordnet. Man könnte in Reaktion auf diese Frage behaupten, dass ein Eindruck, der von einem Gegenstand ausgelöst wurde, hinreichend dafür ist, dass mit diesem Ein-
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druck auch ein Gegenstand wahrgenommen wird. Damit wird davon ausgegangen, dass ein Eindruck nicht analysiert werden muss und es keiner Leistung des Erkenntnissubjekts bedarf, damit der Bezug auf ein Objekt hergestellt wird. Eine solche Behauptung entspräche Gassendis realistischer Einstellung gegenüber materiellen Gegenständen – die Eindrücke stammen von einem Objekt, deshalb beziehen sie sich auch auf ein Objekt. Doch es ist nicht davon auszugehen, dass ein Subjekt von seinem ersten Sinneseindruck an Gegenstandserfahrung hat. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass diese aufgrund eines bestimmten Prozesses möglich wird. Doch wenn ein Sinnesorgan alles ins Gehirn weitergibt, durch das es zu einem bestimmten Zeitpunkt gereizt wird, fragt sich, wie erklärt werden kann, dass die Eigenschaften des Eindrucks, die von einem Gegenstand verursacht wurden, für das Subjekt von solchen unterschieden sein sollen, die sich nicht auf diesen Gegenstand beziehen.84 Neben der Frage, wie Sinneseindrücke für ein Subjekt zu Eindrücken eines Gegenstands werden, stellt sich zweitens die damit zusammenhängende Frage, wie verschiedene Eindrücke für ein Subjekt zu Eindrücken eines Gegenstands werden. Wie also kommt ein Subjekt dazu, verschiedene visuelle, taktile, auditive usw. Eindrücke auf einen bestimmten Gegenstand zu beziehen? Denn vermutlich soll dem Hund die Fähigkeit zugeschrieben werden, sowohl die Stimme als auch das Gesicht seines Herrchens in gewissem Sinn seinem Herrchen zuzuschreiben. Damit wäre die Stufe allgemeiners Vorstellungen von Einzelgegenständen erreicht. Drittens muss die Bildung allgemeiners Vorstellungen von Eigenschaften beschrieben werden. Die oben diskutierte Ordnung nach Ähnlichkeiten kann zur Illustration dieser letzten beiden Prozesse beitragen. Auf dieser Grundlage kann dann untersucht werden, wie Ideen aus diesen Vorstellungen entstehen. 4.4.1 Entstehung von allgemeinens Vorstellungen Da die allgemeines Vorstellung des Hundes von seinem Herrchen keinerlei begrifflichen Gehalt hat, muss davon ausgegangen werden, dass auch die Entstehung der Vorstellung nicht-begrifflicher Natur ist. Damit sind auch die Prozesse der Analyse, die diese Vorstellungen erst möglich machen, nicht begrifflich. Die Analyse der Eindrücke des Hundes geschieht also nicht durch Reflexion über die Inhalte der Eindrücke, und es findet keine begriffliche Analyse statt, sondern die Sortierung muss natürlicherweise durch Assoziation geschehen.85 Da Gassendi der Meinung ist, dass die Ordnung der Eindrücke nach scheinbaren Ähnlichkeiten die Grundlage der Begriffsbildung darstellt, ist davon auszugehen, dass diese Assoziation eben in solchen Prozessen der Ordnung nach Ähnlichkeiten besteht.
84 Aufgrund von Gassendis kausaler Wahrnehmungs- und Intentionalitätstheorie bezieht sich der Eindruck natürlich auf eben die Gegenstände, die ihn ausgelöst haben. Dies stimmt aber nicht notwendigerweise damit überein, worauf sich ein Eindruck für ein Subjekt bezieht. 85 Vgl. Seidl 2010, 82.
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Gassendis empiristischem Programm und seinen Aussagen entsprechend beginnt dieser Prozess mit einzelnen Sinneseindrücken, die durch die verschiedenen Sinne aufgenommen werden. Ein visueller Eindruck zum Beispiel kann verschiedene Farben, Formen und Größen enthalten – diese Eigenschaften sind sowohl in den Gegenständen als auch in den Eindrücken tatsächlich vorhanden. In gleicher Weise können Eindrücke aus anderen Sinnen verschiedene Eigenschaften enthalten, die durch diese Sinne wahrnehmbar sind. Entsprechend unserer Interpretation von Gassendis Theorie von Ähnlichkeiten hat der Geist die Fähigkeit, die Eindrücke hinsichtlich dieser Eigenschaften zu vergleichen. Diese Fähigkeit wird nun automatisch auf jeden Sinneseindruck angewendet. Es erscheint im Zuge dieses Vergleichs so, als ähnelten sich die Eindrücke bezüglich ihrer unterschiedlichen Eigenschaften zu unterschiedlichen Graden. Gemäß der oben entwickelten Gruppierung nach Standardobjekten werden die Eindrücke nun bezüglich dieser scheinbaren Ähnlichkeiten geordnet. Demnach wird durch den Vergleich der Eindrücke bezüglich ihrer unterschiedlichen Eigenschaften und die Gruppierung nach Form, Farbe, Klang, Größe etc. die Unterscheidung dieser Eigenschaften durch das wahrnehmende Subjekt ermöglicht. Die Grundlage zur Begriffsbildung bei Gassendi liegt also darin, dass der Geist die Eindrücke – die mehrere Eigenschaften, die von einem Sinn wahrgenommen wurden, enthalten können – miteinander vergleicht. Dieser Vergleich läuft, wie gesagt, natürlicherweise und rein assoziativ ab – es handelt sich nicht um eine bewusste Handlung des Subjekts. Mit dieser Gruppierung aber werden die einzelnen Eigenschaften noch nicht auf ein Objekt bezogen – sie sind bisher bloß durch Gruppierung für das Subjekt unterscheidbar geworden. Damit stellen diese Gruppen für das Subjekt auch keine Vorstellungen von etwas dar. Nun lässt sich aber argumentieren, dass diese Gruppierung und Unterscheidung von Eigenschaften ermöglicht, dass auch Kombinationen bestimmter Arten von Eigenschaften (das heißt Elemente bestimmter Gruppen) gruppiert werden. Dies trifft sowohl auf Eigenschaften zu, die durch einen Sinn wahrgenommen wurden, als auch auf solche, die aus unterschiedlichen Sinnen stammen. So werden zum Beispiel nicht nur Gruppen von Rund-Eindrücken und Rot-Eindrücken gebildet, sondern auch eine Gruppe von Rund-und-Rot-Eindrücken etc. Die Sortierung nach Ähnlichkeiten erklärt also, wie ein Subjekt verschiedene Eigenschaften, die in einem Eindruck enthalten sind, unterscheiden kann. Wie aber kommt es aufgrund dieser Sortierung dazu, dass das Subjekt diese Eigenschaften einem Objekt zuschreibt und sich auf dieses bezieht? Es steht außer Frage, dass wir zu einem solchen Bezug fähig sind. Es ist auch überzeugend, dass ein solcher Bezug nicht voraussetzungslos ist – dass also eine gewisse Menge an Eindrücken benötigt wird, damit er vollzogen werden kann. Es stellt sich allerdings die systematische Frage, ob ein solcher Bezug ohne Begriffe möglich ist.86 Kant zum Beispiel würde diese Frage verneinen – ihm zufolge 86 Vgl. z.B. Hatfield 2009, 212ff, der argumentiert, dass für Objekt-Wahrnehmung immer begriffliche Fähigkeiten nötig sind. Die Vorstufe einer solchen Wahrnehmung ist für Hatfield das
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kommt Gegenstandserfahrung erst durch die Vereinigung von Mannigfaltigem in einem Begriff zustande (z.B. Kritik A103f/B137).87 Eine empiristische, nominalistische Theorie wie die Gassendis muss dieser Argumentation widersprechen: es muss angenommen werden, dass Gegenstandserfahrung allein durch Sinneserfahrung ermöglicht wird. Ein Beispiel für eine Argumentation in diesem Sinn ist George Berkeleys. Berkeleys Auffassung nach kommt es folgendermaßen zu Gegenstandserfahrung: „Durch den Gesichtssinn empfange ich die Ideen von Licht und Farbe in ihren mannigfachen Abstufungen und Variationen. Mit dem Tastsinn nehme ich beispielsweise Härte und Weichheit, Wärme und Kälte, Bewegung und Widerstand wahr und von all dem mehr oder weniger hinsichtlich der Quantität oder des Grades. Der Geruchssinn versorgt mich mit Düften, der Gaumen mit Geschmacksempfindungen, das Gehör erschließt dem Geist eine Welt von Tönen unterschiedlichster Stärke und Zusammensetzung. Wenn nun beobachtet wird, dass mehrere dieser Ideen einander begleiten, so erhalten sie einen Namen und werden infolgedessen als ein Ding aufgefasst. So geschieht es zum Beispiel, dass eine bestimmte Farb-, Geschmacks-, Geruchsqualität, Gestalt und stoffliche Beschaffenheit, nachdem beobachtet worden ist, dass sie regelmäßig zusammen auftreten, als ein ganz bestimmtes Ding angesehen und mit dem Namen Apfel belegt werden.“ (Principles, Part I, 1)
Berkeley zufolge nehmen wir also zunächst wahr, dass bestimmte Eigenschaften häufig zusammen auftreten und schreiben sie dann einem Objekt zu. Berkeley scheint hier vorauszusetzen, dass wir zu einer solchen Zuschreibung fähig sind. Sie beruht für ihn nicht auf einer begrifflichen Vereinigung der verschiedenen Eigenschaften, sondern kommt allein durch die Wahrnehmung von Eigenschaften und den Fähigkeiten des Subjekts zustande. Eine solche Erklärung bietet sich auch für Gassendi an. Denn die Sortierung von Sinneseindrücken nach Ähnlichkeiten ermöglicht die Bildung eben solcher Gruppen von Eindrücken, die häufig zusammen auftreten. Ist also das Gefüge der Gruppen von Eigenschaften komplex genug – gibt es also genügend Gruppen und haben sie ausreichend viele Elemente – erscheint der Schritt dazu, dass mehrere Eigenschaften auf einen von uns verschiedenen Gegenstand bezogen werden, vorstellbar. Allerdings reicht die Gruppierung von Eindrücken nach scheinbaren Ähnlichkeiten allein für diesen Bezug nicht aus. Genügend geeignete Eindrücke sind eine Sehen eines Gegenstands, indem das Objekt für das Subjekt in einem vorbegrifflichen Schritt ein abgeschlossener, dreidimensionaler Rauminhalt ist (BTV, bounded trackable volume, Hatfield 243). 87 Sellars formuliert diese Position folgendermaßen im Zusammenhang mit Wahrnehmungskontexten: „But, as emphasized above, to eliminate specific implications concerning what is not perceived of an object need not (and indeed cannot) be to eliminate generic or categorical implications.“ (Sellars 1978, 282) Auch wenn dem Objekt so wenige Attribute wie möglich zugeschrieben werden, benötigen wir zur Wahrnehmung eines Objekts dennoch „the concept of an ‚object in general‘.“ (ebd.) Denn um überhaupt eine Wahrnehmung eines Objekts zu sein, „it must be not only a response, but a response to a (correctly or incorrectly) identified object. And it is, of course, the predication contained in the subject term that carries the criteria of identification.“ (Sellars 1978, 280) Wir können also nur ein Objekt wahrnehmen, wenn wir es identifizieren können. Zur Identifikation aber werden Begriffe benötigt.
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notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für einen solchen Bezug. Es muss damit vorausgesetzt werden, dass das Subjekt die Fähigkeit besitzt, den demonstrativen Bezug auf ein Objekt herzustellen. Ist die notwendige Komplexität an Eindrücken gegeben, wird der Bezug auf einen Gegenstand möglich, er muss aber vom Subjekt auch vollzogen werden. Die Fähigkeit dazu, bestimmte wahrgenommene Eigenschaften einem Gegenstand zuzuschreiben, den das Subjekt von sich selbst unterscheidet, kann damit nicht aus der Gruppierung gewonnen werden, sondern muss dem Subjekt unabhängig vom Prozess der Gruppierung zugeschrieben werden. Fred Dretske argumentiert in „Naturalizing the Mind“, dass allein der Prozess der Wahrnehmung für ein Erleben (experience) eines Objekts hinreichend ist.88 Wie Gassendi vertritt er eine kausale Theorie der Wahrnehmung: Eine Wahrnehmung handelt von dem Objekt, von dem sie hervorgerufen wurde. Dies hat zur Folge, dass die Art, wie ein Objekt erscheint, nicht immer damit übereinstimmt, wie es ist.89 Doch nicht nur reicht der Prozess aus, um den tatsächlichen Bezug der Wahrnehmung zu bestimmen, er ist auch verantwortlich für den intentionalen Bezug des Eindrucks, das heißt dafür, dass ein Eindruck für ein Subjekt der Eindruck eines bestimmten Gegenstands ist. Ein intentionaler Bezug kommt Dretske zufolge dann zustande, wenn eine Repräsentation erstens in einer bestimmten Relation zu ihrem Objekt besteht, und zweitens Teil eines repräsentationalen Systems ist, wenn die Repräsentation also die Funktion hat, sich auf dieses Objekt zu beziehen.90 Diese Art des Erlebens von Gegenständen sieht Dretske als nicht-begrifflich an, sie stellt also keine Erfahrung des Gegenstands als etwas (z.B. als Gegenstand) dar; sie ist aber dennoch ein Erleben eines Gegenstands für das Subjekt.91 Eine ähnliche Strategie bietet sich auch für Gassendi an: species beziehen sich, für sich genommen, immer auf das Objekt, das sie verursacht. Intentionalität, das heißt ein Bezug auf dieses Objekt durch das Subjekt, kommt dann zustande, wenn eine species Teil eines repräsentationalen Systems ist; zu diesem System gehören die Sinnesorgane und das Gehirn – sowie eine genügende Menge an Eindrücken. Denn ein System, das zum Beispiel nur aus Sinnesorganen und einem einzigen Eindruck besteht, kann nicht als System angesehen werden, dessen natürliche Funktion es ist, Repräsentationen von Gegenständen hervorzubringen. Erst wenn sich zeigt, dass das System tatsächlich solche Eindrücke hervorbringt, die sich auch zueinander in Verbindung setzen lassen, kann von einem repräsentationalen System gesprochen werden. Eindrücke werden also dadurch für ein Subjekt zu Eindrücken von bestimmten Gegenständen, dass sich ein System von Eindrücken gebildet
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Dretske 1995 Vgl. Dretske 1995, 23f. Dretske 2005, 30 Siehe Dretske 2005, 10 für den Unterschied zwischen begrifflichem und nicht-begrifflichem Erfassen. Dass Dretske diesem Erleben Intentionalität zuschreibt, zeigt sich z.B. hier: „[The] senses – or, more precisely, the internal states (experiences, feelings) the senses produce by way of performing their function – have original intentionality, something they represent, say, or mean, that they do not get from us.“ (Dretske 2005, 8)
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hat. Und zu eben diesem Zeitpunkt wird auch erklärbar, dass verschiedene Eindrücke auf den gleichen Gegenstand bezogen werden. Mit dieser Argumentation kann nun zumindest für den Fall der sinnlichen Vorstellungen Gassendis Annahme aufgefangen werden, dass Vorstellungen von Einzelgegenständen grundlegend für Vorstellungen von Eigenschaften sind. Denn wir hatten ja gesehen, dass die Gruppierung der Eindrücke nach Ähnlichkeiten noch keine Vorstellung von etwas zur Folge hat und damit auch keine Vorstellungen von Eigenschaften. Sie liefert bloß Gruppen von Eindrücken. Damit eine Vorstellung von etwas entsteht, muss der Bezug auf einen Gegenstand vorliegen. Zuerst muss also die Vorstellung eines Gegenstands gebildet sein, damit diesem Gegenstand Eigenschaften zugeschrieben werden können. Können Vorstellungen von Gegenständen gebildet und diesen Gegenständen die Eigenschaften zugeschrieben werden, die vorher quasi blind gruppiert wurden, werden dann die Elemente dieser Gruppen für das Subjekt auch zu Eigenschaften von Gegenständen, und diese Gruppen gewissermaßen zu allgemeinens Vorstellungen von Eigenschaften. Insofern kann also behauptet werden, dass die Vorstellungen von Einzelgegenständen denen von Eigenschaften zugrunde liegen, ohne dass dadurch ein Zirkel entsteht. Wie aber sind diese Vorstellungen von Einzelgegenständen genau beschaffen? Auch eine solche Vorstellung eines bestimmten Gegenstands muss, zusammen mit der erwähnten Kombination von Eigenschaften, als Ordnung nach Ähnlichkeiten beschrieben werden. Aus den einzelnen Eindrücken, die der Hund von seinem Herrchen hat, soll sich durch diese Ordnung eine allgemeine Vorstellung dieses Wesens bilden. Der Hund hat Eindrücke von seinem Herrchen aus verschiedenen Sinnen. Da diese Eindrücke häufig zusammen auftreten und sich die Eindrücke aus einzelnen Sinnen zu ähneln scheinen, werden sie in einer Gruppe zusammengefügt und einem Gegenstand, dem Herrchen, zugeordnet. Auf diese Weise wird sowohl ein Eindruck der Stimme des Herrchens, als auch ein Eindruck des Gesichts des Herrchens zu der Gruppe von Eindrücken hinzugefügt, die wir „Herrchen“ nennen würden. Diese Gruppe ist insofern allgemein, als sie mehrere Gegenstände, nämlich Eindrücke enthält.92 Dies ist also die allgemeine sinnliche Vorstellung des Hundes von seinem Herrchen, die für ein sinnliches Urteil, wie es Gassendi beschreibt, notwendig ist. Das sinnliche Urteil des Hundes selbst besteht nun gewissermaßen in dem Hinzufügen eines weiteren Eindrucks zu dieser Gruppe. Hört der Hund die Stimme seines Herrchens, scheint ihm der Eindruck der Stimme anderen Eindrücken aus dieser Gruppe im erforderlichen Maß zu ähneln. Indem er daraufhin den Eindruck dieser Gruppe zuordnet, fällt er das Urteil: „Der, der ruft, ist das Herrchen.“ Insofern kann also ein solches sinnliches Urteil tatsächlich als die Subsumtion eines einzelnen Eindrucks unter einen allgemeinen Eindruck verstanden werden. Allgemeines Vorstellungen handeln also von Gegenständen, so wie für Dretske das Erleben eines Gegenstands von einem Gegenstand handelt. Daraus ergibt sich, 92 Diese Art der Vorstellung als allgemein zu bezeichnen, entspricht Gassendis Auffassung, dass auch eine Art (oder ein Aspekt) allgemeiner Ideen in der Bildung einer solchen Gruppe ähnlicher Ideen besteht (I.93a).
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dass diese Gruppierungen es nicht ermöglichen, den Gegenstand als Träger bestimmter Eigenschaften wahrzunehmen. Dies ist sowohl intuitiv als auch systematisch unüberzeugend. Denn erstens würden wir dem Hund eben nicht zuschreiben, dass er sein Herrchen als sein Herrchen oder als dunkelhaarig erkennt. Darüber hinaus setzt ein Erkennen von etwas als etwas voraus, dass die Vorstellung begrifflich strukturiert ist.93 Dies ist bei den beschriebenen Vorstellungen nicht der Fall. Diese Vorstellungen erlauben also kein Erkennen von etwas als etwas, sondern bloß das Erkennen von etwas. Der Hund erkennt sein Herrchen, zum Beispiel an seinen Haaren, doch er erkennt sein Herrchen nicht als dunkelhaarig. Der Hund erkennt einen bestimmten Ton, aber er erkennt den Ton nicht als Wort oder Befehl. 4.4.2 Entstehung von Ideen aus allgemeinens Vorstellungen Der Prozess der Begriffsbildung beginnt also mit der Gruppierung von Eindrücken gemäß scheinbarer Ähnlichkeiten zwischen deren Eigenschaften. Mit Hilfe dieser Gruppen werden dann, wiederum durch Gruppierung nach scheinbaren Ähnlichkeiten, nicht-begriffliche, aber allgemeine Vorstellungen gebildet. Diese Gruppierung geschieht nicht durch bewusste Analyse des Inhalts von Sinneseindrücken und ist offensichtlich nicht begrifflich – denn sie bringt ja nicht-begriffliche Vorstellungen hervor. Sie hat aber zur Folge, dass der Inhalt unserer Eindrücke nach Eigenschaften geordnet und auf Gegenstände bezogen wird; eine Ordnung der Eindrücke nach Ähnlichkeit bezüglich verschiedener Eigenschaften geschieht unter dieser Analyse von Gassendis Theorie zunächst automatisch und unbewusst. Diese Ordnung wiederum soll nun die Grundlage dafür liefern, dass Begriffe, also genuin allgemeine (im Folgenden allgemeineb genannt) Vorstellungen, gebildet werden. An diesem Punkt stellt sich die Frage, was benötigt wird, um aus allgemeinens Vorstellungen allgemeineb Vorstellungen zu machen. Diese Frage soll zunächst auf Grundlage unserer Analyse von Gassendis Ideenbegriff behandelt werden, bevor ein Versuch unternommen wird, den oben angesprochenen Zirkel aufzulösen, der sich bei der Entstehung von Ideen, die sich nur auf einen, und Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen, ergibt. Allgemein könnte man der Auffassung sein, dass die Entstehung von Ideen aus allgemeinens Vorstellungen unproblematisch ist, da die beiden Arten von Vorstellungen gleichzusetzen sind. Doch es ist unklar, auf welcher Ebene eine solche Identifizierung vorgenommen werden sollte. Einerseits könnte gemeint sein, dass einzelne species mit singulären, und Aggregate von species mit allgemeinen Ideen identifiziert werden. Allgemeine Ideen bestehen unter dieser Interpretation in allgemeinens Vorstellungen, wobei singuläre 93 Siehe z.B. Hatfield 2009. Er unterscheidet vier Arten, einen Gegenstand zu erleben: 1. Einfaches Sehen eines Gegenstands, 2. Die Wahrnehmung eines Gegenstands als Gegenstand, 3. Die Wahrnehmung eines Gegenstands als eine bestimmte Art von Gegenstand, und 4. Die Wahrnehmung eines Gegenstands als der bestimmte Gegenstand, der er ist (Hatfield 2009, 213). Alle Wahrnehmung, die einschließt, dass der Gegenstand als etwas erlebt wird, beinhaltet, dass der Gegenstand unter einen bestimmten Begriff gebracht wird (Hatfield 2009, 212f).
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Ideen als Sinneseindrücke aufgefasst würden. Doch wie oben festgestellt, überzeugt eine solche Identifikation von Ideen und species exegetisch und systematisch nicht (s.o., S.108). Laut der vorliegenden Analyse von Ideen sind alle Ideen allgemein, da jede Idee theoretisch an Prädikatstelle in einer Proposition stehen können muss. Diese Bedingung erfüllen species nicht. Diese Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen allgemeinens und allgemeinenb Vorstellungen entspricht damit nicht Gassendis Konzeption von Ideen in Anlehnung an epikureische Prolepsen. Denn durch diese Gleichsetzung werden sie unserer Interpretation zufolge zu in jedem Fall allgemeinen Vorstellungen, wohingegen species nicht als allgemein aufgefasst werden können. Nun könnte die Gleichsetzung von allgemeinens und allgemeinenb Vorstellungen aber auch bedeuten, dass alle Ideen mit allgemeinens Vorstellungen identifiziert werden, sodass Ideen zu Aggregaten von species werden. Die allgemeines Vorstellung, die der Hund von seinem Herrchen hat, wäre dann von der gleichen Art wie die, die das Herrchen von seinem Hund hat. Allerdings erscheint auch diese Identifikation aufgrund von Aussagen Gassendis unplausibel. Denn in der Diskussion der Ideen führt Gassendi explizit den Prozess der Abstraktion zur Bildung von Ideen ein, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen (I.93a/b). Solche Ideen werden also nicht nur durch Aggregation, das heißt durch Gruppierung mehrerer Ideen von Einzeldingen, gebildet, sondern auch durch Abstraktion, das heißt dadurch, dass die einzelnen Ideen bezüglich ihrer Eigenschaften verglichen werden, sodass die allgemeine Idee nur die für eine bestimmte Art von Gegenstand wesentlichen Eigenschaften enthält (I.93b). In seiner Beschreibung der Funktionen der Vorstellungskraft schreibt Gassendi diesem Ursprung sinnlicher Vorstellungen aber bloß Aggregate als allgemeine Vorstellungen zu: „Keine Spur in der Vorstellungskraft (phantasia) kann allgemein genannt werden [...], sondern sie ist bloß ein Aggregat oder Kompositum aus vielen, die untereinander ähnlich sind. Da nämlich alles, was die Sinne empfangen, einzeln ist, kann kein anderer als ein einzelner Eindruck hervorgebracht werden; es kann nichts in die Vorstellungskraft (phantasia) eingedrückt werden, das nicht einzeln ist. [...] In der Vorstellungskraft (phantasia) kann keine einzelne und einfache Spur eines Menschen auftreten, die alle Menschen repräsentiert.“ 94 (II.410b, Übersetzung Seidl)
Die Vorstellungskraft bringt also nur einzelne Eindrücke hervor, die zu Aggregaten ähnlicher Eindrücke zusammengefasst werden. Zwar hatten wir festgestellt, dass auch Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen, als wesentlich sinnliche keine genuin allgemeinen Vorstellungen sein können – insofern erfüllen sie also Gassendis Beschreibung der von der Vorstellungskraft hervorgebrachten Vorstel-
94 „Dico ergo nullum vestigium quod sit in phantasia, dici posse universale, quasi sit revera unum, atque simplex; sed solum quasi sit aggregatum, compositumve ex pluribus, quorum inter se sit similitudo. Cum enim quicquid sit sensui obvium, singulare sit, neque aliam, quam singularem creare impressionem possit; ideo nihil potest in phantasia non singulare esse impressum. [...] Sic nullum potest in phantasia occurrere hominis vesitigum, quod unum, simplexque exsistens homines omneis repraesentet [...].“ (II.410b)
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lungen. Allerdings sollen allgemeine Ideen eben nicht nur Aggregate von einzelnen Ideen sein, sondern auch durch Abstraktion entstehen. Diese Beschreibung weist darauf hin, dass für Gassendi nicht alle Ideen mit allgemeinens Vorstellungen identifiziert werden können, da es Ideen gibt, die abstrahiert werden. Diese Folgerung ist im Einklang mit unserer früheren Identifikation von gassendischen Ideen mit epikureischen bzw. stoischen Prolepsen. Wie in der Diskussion von allgemeinens Vorstellungen deutlich wurde, können Aggregate von Sinneseindrücken an sich nur Vorstellungen von etwas, nicht aber von etwas als etwas sein. Mit Ideen führt Gassendi aber Vorstellungen ein, die etwas als etwas repräsentieren. Dieser Aspekt macht deutlich, dass zur Bildung von Ideen etwas zu allgemeinens Vorstellungen hinzukommen muss. Es muss also eine Erklärung dafür gefunden werden, wie solche Vorstellungen aus allgemeinens Vorstellungen entstehen, die es möglich macht, Ideen als allgemeineb Vorstellungen auf diese Weise grundsätzlich von allgemeinens Vorstellungen zu unterscheiden. Aufgrund von Gassendis Aussage, dass singuläre Ideen allgemeinen Ideen vorhergehen, muss sich die Entstehung singulärer Ideen unabhängig erklären lassen. Was also muss zu einer allgemeinens Vorstellung eines einzelnen Gegenstands hinzukommen, damit daraus eine singuläre Idee entsteht? Die Antwort auf diese Frage liegt in der obigen Analyse des gassendischen Ideenbegriffs. Dort wurde festgestellt, dass eine einzelne Idee, wenn sie etwas als etwas erfahrbar machen soll, auf zweierlei Weise auf einer Definition beruht (s.o., S.56f). Erstens zu ihrer Entstehung auf einer ostensiven Definition, durch die ein bestimmter Gegenstand als der Gegenstand der Idee festgelegt wird. Zweitens zur Anwendung in einem Urteil auf einer Definition im aristotelischen Sinn, d.h. in der Angabe der wesentlichen Eigenschaften dieses Gegenstands. Für die zweite Art der Definition wird ein einzelner Eindruck des Gegenstands als Prototyp benötigt, da anhand dieses Prototyps die wesentlichen Eigenschaften bestimmt werden. Doch auch die ostensive Definition scheint auf einem solchen Prototyp zu beruhen – es ist unklar, wodurch der Bezug der Idee festgelegt werden soll, wenn nicht durch einen sinnlichen Eindruck des Gegenstands. Eine allgemeines Vorstellung eines Gegenstands besteht in einem reinen Aggregat ähnlich erscheinender Eindrücke. Dieser Beschreibung zufolge entsteht eine singuläre Idee desselben Gegenstands aus diesem Aggregat durch eine ostensive Definition dadurch, dass ein Eindruck als Prototyp für den Gegenstand aus dem Aggregat ausgewählt wird, und damit festgelegt wird, dass die Idee sich auf diesen, und nur diesen Gegenstand bezieht. Allen in dem Aggregat enthaltenen Eindrücken wird damit eine gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben, nämlich diejenige, Eindrücke ebendieses Gegenstands zu sein. Um eine solche Eigenschaft zuzuschreiben, muss ein Abstraktionsschritt vollzogen werden: die ähnlichen Eindrücke werden in diesem Schritt als gleich aufgefasst, und so wird das Aggregat gewissermaßen zu einer einzigen Vorstellung vereinigt. Der Hund hat von seinem Herrchen eine Gruppe ähnlicher Eindrücke. Um eine Idee seines Herrchens zu bilden, müsste der Hund festlegen, dass diese Eindrücke einander nicht nur ähneln, sondern eine Eigenschaft gemeinsam haben, nämlich Eindrücke seines Herrchens zu sein.
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Singuläre Ideen, das heißt allgemeineb Vorstellungen von Einzelgegenständen, entstehen also aus allgemeinens Vorstellungen dadurch, dass aus den Eindrücken einer als Prototyp der Art von Gegenstand ausgewählt wird. Beim Vergleich von Gassendis Ideentheorie mit modernen Begriffstheorien wurde aber auch festgestellt, dass man Gassendi im Sinne einer Prototyp-Theorie verstehen kann, bei der Begriffe nicht notwendige und hinreichende Eigenschaften einer Art von Gegenstand enthalten, sondern Eigenschaften, die ein Gegenstand einer bestimmten Art typischerweise hat, die immer sinnlich exemplifiziert sind. Darüber hinaus war als einer der Hauptunterschiede zwischen species und Ideen identifiziert worden, dass sich Ideen im Gegensatz zu species auf Eigenschaften von Gegenständen beziehen können, die von unterschiedlichen Sinnen wahrgenommen werden. Bei einer allgemeinenb Vorstellung, bzw. einem Begriff, kann es sich also um eine komplexe sinnliche Vorstellung handeln. Der Prototyp muss also diese unterschiedlichen Eigenschaften darstellen – das heißt, der Eindruck, der die für eine bestimmte Art von Gegenstand typischen Eigenschaften repräsentiert, kann ein aus verschiedenen Eindrücke zusammengesetzter sein. So hat meine Idee eines bestimmten Menschen nicht nur einen visuellen, sondern auch einen auditiven, taktilen etc. Anteil. In der Diskussion um species war der phänomenale Gehalt zur Sprache gekommen, der uns die Eigenschaften der Gegenstände zugänglich macht, ohne dass er dadurch selbst zum Objekt der Wahrnehmung werden muss. So hat der phänomenale Aspekt einer species keine repräsentative Funktion – nicht der phänomenale Gehalt ist das Objekt unserer Vorstellung, sondern der Gegenstand, der die species ausgelöst hat. Der phänomenale Eindruck als Vorstellung ermöglicht es uns aber, Eigenschaften am Gegenstand wahrzunehmen. Diese Eindrücke benötigen wir nun als sinnliches Material, um Ideen zu bilden. Die Grundlage einer Idee ist eine sinnliche Repräsentation eines Gegenstands mit seinen typischen Eigenschaften. Diese typischen Eigenschaften können nur erfasst werden, weil Gegenstände auf bestimmte Weise aussehen, sich anhören, anfühlen etc. Ein solcher Eindruck ist natürlich immer ein spezifischer Eindruck eines Gegenstands. Der Abstraktionsschritt, das begriffliche Element der Idee, besteht nun eben darin, dass von bestimmten spezifischen Eigenschaften des Bildes abgesehen und es als allgemein angesehen wird. Die Tatsache, dass uns eine solche Abstraktionsleistung möglich ist, muss vorausgesetzt werden. Gassendi nimmt an, dass wir zur Abstraktion fähig sind, er erklärt aber ihre Grundlagen nicht weiter. Somit handelt es sich dabei, wie bei der Ordnung nach Ähnlichkeiten und die Fähigkeit zum Gegenstandsbezug, um eine angeborene Fähigkeit des Geistes. Eine solche Annahme widerspricht damit nicht Gassendis Position, dass nichts im Geist ist, das nicht durch die Sinne kommt (I.92a). Denn hierbei bezieht sich Gassendi auf Vorstellung mit einem Inhalt, wie zum Beispiel Ideen, nicht auf Fähigkeiten des Geistes, die allein dem Geist noch keine Vorstellungen mit Gehalt liefern. Eine solche Abstraktion geschieht aber nicht nur in der ostensiven Definition, sondern auch in der Definition, die die Anwendung im Urteil ermöglicht. Diese wird aus dem Prototyp gewonnen. Das Bild eines bestimmten Menschen, das die Idee dieses Menschen darstellt, beinhaltet Eigenschaften, die nicht alle immer und nicht immer alle auf die gleiche Weise einem Eindruck dieses Menschen zukom-
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men. Dennoch ermöglicht es uns die aus diesem Bild gewonnene Definition, diesen Menschen unter unterschiedlichen Umständen als diesen Menschen zu erkennen. Dies wird dadurch möglich, dass die Definition die Eigenschaften anführt, die ein Gegenstand dieser Art typischerweise hat. Abhängig davon, für was für eine Art von Gegenstand das Bild als Modell dienen soll, wird dies eine Liste sinnlicher Eigenschaften sein, die in dem Bild enthalten sind. Je nachdem, ob die Vorstellung eines weißen Sofas die Idee eines bestimmten Sofas, eines Sofas allgemein oder die Idee der Weiße darstellt, werden dann unterschiedliche Eigenschaften des Bildes des weißen Sofas die Definition ausmachen. Da von Gassendi vorausgesetzt wird, dass Ideen von Einzeldingen allgemeinen Ideen vorausgehen, muss davon ausgegangen werden, dass sich der Geist auf die Eigenschaften, die die Definition enthält, zunächst auf nicht-begriffliche Weise beziehen kann. Das heißt, dass der Bezug in der Definition vermittels der allgemeinens Vorstellungen von Eigenschaften vollzogen werden muss. In der Definition wird der Gegenstand damit einer Gruppe von Gegenständen zugeordnet, die sich bezüglich bestimmter Eigenschaften zu gewissen Graden ähneln. Aufgrund dieser Zuordnung werden nun mit diesen rudimentären Ideen von Einzelgegenständen mithilfe der von Gassendi beschriebenen Prozesse allgemeine Ideen gebildet. Zum einen ist dies die Aggregation, eine Gruppierung der Ideen nach Ähnlichkeiten, zum anderen die Abstraktion, bei der die Eigenschaften angegeben werden, die eine bestimmte Art von Gegenstand hat. Zwar legt Gassendis Beschreibung nahe, dass das Ergebnis dieser Prozesse zwei unterschiedliche Ideen sind, allerdings hatten wir schon bei der Untersuchung des Ideenbegriffs festgestellt, dass die beiden Arten allgemeiner Ideen voneinander abhängig sind. Wie wir gesehen haben, entstehen Ideen durch Abstraktion durch Auswahl eines Stellvertreters aus einem Aggregat von Ideen. Insofern wird also zur Bildung dieser allgemeinen Idee ein Aggregat von Einzelideen benötigt. Wie aber wird ein solches Aggregat zu einer Idee? Denn ein Aggregat wird nicht allein dadurch selbst zur Idee, dass es ein Aggregat von Ideen ist. Es muss insofern einen Unterschied zwischen einem Aggregat von Ideen und einem einfachen Aggregat von Eindrücken geben. Es scheint, dass aufgrund unserer Charakterisierung verlangt werden muss, dass in einem Aggregat als Idee den Gegenständen der verschiedenen Ideen allen eine gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben wird, zum Beispiel ein Mensch zu sein, während dies im Falle eines einfachen Aggregats nicht der Fall ist. Eine Aggregation von Mensch-Ideen wird nur dadurch zu einer allgemeinen MenschIdee, dass alle Einzelideen unter einen Begriff gebracht werden. Ebenso muss eine Aggregats-Idee eine Definition dessen möglich machen, was es bedeutet, ein Gegenstand dieser Art zu sein. Insofern müssen Ideen, die durch Aggregation entstehen, das gleiche leisten wie die anderen beschriebenen Ideen auch. Es ist nun unklar, wie dies geschehen soll, wenn nicht durch den Prozess der Abstraktion, das heißt, durch das Auswählen eines Stellvertreters. Diese Behauptung scheint problematisch, da Gassendi ja eine Unterscheidung zwischen Ideen, die durch Abstraktion, und solchen, die durch Aggregation entstehen, einführt; diese würde damit aufgehoben. Aber es muss auch nicht behauptet werden, dass die Aggregations-Idee schließlich in einem Prototyp besteht. Stattdessen ist die Auswahl des Prototyps, wie sie bei der Bildung der Abstraktions-Idee erfolgt, die
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
Grundlage dafür, dass eine Definition gebildet werden kann. Und nur mit dieser Definition kann dann auch den Gegenständen, auf die sich die Aggregations-Idee bezieht, eine gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben werden. Die beiden Arten von Ideen sind also folgendermaßen voneinander abhängig: Das Aggregat liefert die Grundlage dafür, dass überhaupt ein Stellvertreter ausgewählt werden kann, der sich auf mehrere Gegenstände bezieht (nämlich die Gegenstände, auf die sich die Ideen des Aggregats beziehen). Der Schritt der Abstraktion, bei dem von den unterschiedlichen Eigenschaften der einzelnen Ideen abgesehen wird, ist aber die Voraussetzung dafür, dass den Ideen des Aggregats eine gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben werden kann. In einer allgemeinen Idee wird also verschiedenen Gegenständen eine gemeinsame Eigenschaft zugesprochen, nämlich zum Beispiel ein Mensch zu sein, die diesen nicht tatsächlich zukommt. Denn wie die Diskussion um Universalien gezeigt hat, haben keine zwei Ideen oder Gegenstände tatsächlich Eigenschaften gemeinsam, jeder Gegenstand hat seine eigenen Eigenschaften. Sie erscheinen uns bloß ähnlich. In Aggregationen von species, so hatten wir gesehen, werden Gegenstände gemäß dieser Ähnlichkeiten gruppiert, ihnen wird aber nicht eine gemeinsame Eigenschaft zugesprochen, das heißt, sie werden nicht als etwas wahrgenommen und unter einen Begriff subsumiert. Dies soll aber in Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen, der Fall sein. Wenn wir das Urteil fällen, dass David ein Mensch ist, so schreiben wird ihm die Eigenschaft zu, ein Mensch zu sein und erkennen ihn dadurch als Menschen, dass er unter den Begriff des Menschen subsumiert wird. Dadurch, dass eine bestimmte Idee als Prototyp für mehrere Gegenstände ausgewählt, und dass dieser Prototyp abstrakt betrachtet wird, wird eine solche Zuschreibung möglich. Denn nur dadurch, dass bestimmte Eigenschaften als bestimmbare betrachtet werden, kann mehreren Gegenständen dieselbe Eigenschaft zugeschrieben werden. Die Entstehung singulärer Ideen und allgemeiner Ideen stimmt also bezüglich der aristotelischen Definition überein, die sie beinhalten. Eine allgemeines Vorstellung ist zwar eine Vorstellung von etwas, nämlich eines Gegenstands oder einer Eigenschaft, stellt aber keine Vorstellung von etwas als etwas dar. In allgemeinens Vorstellungen beziehen wir uns auf etwas in der Welt, sodass die Vorstellungen von etwas handeln. Damit eine Vorstellung etwas als etwas darstellt, muss dem Gegenstand in der Vorstellung aber darüber hinaus eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben werden. Dies wird dadurch erreicht, dass eine partikulare Vorstellung als allgemein verwendet wird, indem wir an einer bestimmten Vorstellung durch unsere abstraktiven Fähigkeiten bestimmte Eigenschaften anders betrachten als sie in der Vorstellung gegeben sind. Bezüglich der ostensiven Definition, auf denen singuläre Ideen beruhen, ergibt sich jedoch ein Unterschied. Denn im Fall allgemeiner Ideen wird mehreren Gegenständen eine gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben, während im Fall der ostensiven Definition, durch die eine singuläre Idee entsteht, mehreren Eindrücken eine gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben wird. Wir abstrahieren also im Fall von Ideen, die sich auf mehrere Gegenstände beziehen, von den bestimmten Eigenschaften des Prototyps und schreiben daraufhin Gegenständen in der Welt eine
4.4 Begriffsbildung: species als Basis für Ideen
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gemeinsame Eigenschaft zu. Im Fall von Ideen von Einzelgegenständen scheint dies nicht möglich zu sein, da definitionsgemäß nur ein Gegenstand in der Welt dieser bestimmte Gegenstand ist. Insofern scheint hier eine andere Zuschreibung stattzufinden, nämlich die der Eigenschaft von Eindrücken, Eindrücke eines bestimmten Gegenstands zu sein. Bezüglich der aristotelischen Definition jedoch stimmen die beiden Arten von Ideen überein. Dies beruht darauf, dass beide Arten von Ideen abstrahiert sind, und sich nur darin unterscheiden, wie abstrakt ihr Prototyp betrachtet wird. Genau genommen kann der gleiche Prototyp für beide Arten von Ideen stehen, je nachdem, welche Definition aus diesem Prototyp gewonnen wird, das heißt, welche Eigenschaften wie betrachtet werden. Insofern sie also aristotelische Definitionen sind, liefern beide Arten von Ideen die Möglichkeit, Gegenstände daraufhin zu überprüfen, ob sie die Definition erfüllen, das heißt unter den Begriff fallen, oder nicht. Damit liefern auch beide die Möglichkeit, mehreren Gegenständen eine gemeinsame Eigenschaft zuzuschreiben – bloß gibt es im Fall von Ideen von Einzelgegenständen nur einen Gegenstand, der die Definition tatsächlich erfüllt. Daraus folgt, dass alle Ideen Gegenständen Eigenschaften zuschreiben, und nicht Eindrücken die Eigenschaft zuschreiben, Eindrücke eines bestimmten Gegenstands zu sein. Auf Grundlage dieses Bildes der Entstehung von Ideen lässt sich nun der Zirkel auflösen, der sich aus Gassendis Aussagen bezüglich der Entstehung und des Inhalts der Ideen zu ergeben schien. Zunächst müssen wir mit Gassendi annehmen, dass Ideen von Einzelgegenständen die ersten sind, die sich bilden. Auf ihrer Grundlage sollen nun durch Prozesse der Abstraktion und der Aggregation Ideen gebildet werden, die nicht nur einen Gegenstand unter sich befassen, sondern unter die mehrere Gegenstände subsumiert werden können. Dies erschien besonders in Hinblick auf Ideen von Eigenschaften problematisch. Denn es erscheint nicht möglich, dass wir Begriffe von Gegenständen bilden, solange wir uns nicht auf die Eigenschaften der Gegenstände beziehen können. Unsere Analyse des Prozesses zur Entstehung von Ideen zeigt nun aber, dass zum Beispiel die Idee eines weißen Gegenstands nicht die Idee der Weiße voraussetzt. Die Idee des weißen Sofas ist eine prototypische Vorstellung dieses Sofas, die einen Weiß-Eindruck enthält. Die Idee der Weiße wird nur dann vorausgesetzt, wenn behauptet wird, dass das Sofa durch die Idee als weiß erkannt wird. Ein solches Erkennen ist aber für die Bildung einer Idee des Sofas (also für das Erkennen des Sofas als das Sofa, das es ist) nicht nötig. Das Subjekt muss die Möglichkeit haben, sich intentional auf die Eigenschaften, und damit auch auf die Farbe des Sofas zu beziehen. Dieser Bezug ist mit der Gruppierung von Gegenständen nach Ähnlichkeiten, das heißt durch die Bildung allgemeiners Vorstellungen, gegeben. Die Entstehung von singulären Ideen aus allgemeinens Vorstellungen, wie sie von Gassendi auch Tieren zugeschrieben werden, wird also auch dadurch ermöglicht, dass diese Vorstellungen von Eigenschaften sein können. Damit können diese Eigenschaften auch in Ideen der Einzelgegenstände integriert werden. Aus diesen Ideen von Einzelgegenständen können dann Ideen von Eigenschaften gebildet werden.
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
In der Darstellung des epikureischen Hintergrunds von Gassendis Erkenntnistheorie hatten wir zwei mögliche Interpretationen von Prolepsen vorgeschlagen. Nach der einen Interpretation sind Prolepsen Vorstellungen, die assoziativ und automatisch aus Wahrnehmungen gebildet werden. Nach der anderen entstehen sie durch Aktivität des Geistes des Erkenntnissubjekts. Da nur die zweite Interpretation zu gewährleisten schien, dass Prolepsen etwas als etwas erkennbar machen, wie von Epikur und Gassendi gefordert, wurde die erste Interpretation sowohl für epikureische Prolepsen als auch für Ideen bei Gassendi als weniger überzeugend angesehen. Es zeigt sich aber nun, dass solche allgemeinen Vorstellungen, die nichtbegrifflich sind und durch Assoziation gebildet werden, von Gassendi doch angenommen werden müssen, um die Entstehung von Ideen aus species zu erklären. Die natürliche Assoziation und Trennung von Eigenschaften, wie sie Gassendi bei Tieren beschreibt, ist die Grundlage dafür, dass wir bewusst Begriffe bilden, die die typischen Bedingungen dafür angeben, was es heißt, ein Gegenstand einer bestimmten Art zu sein. Obwohl sich mit dieser Interpretation Gassendis Behauptung aufrechterhalten lässt, dass Ideen von Einzelgegenständen die ersten Ideen sind, die wir bilden, lässt sich nicht verkennen, dass diese Ideen – so wie alle Ideen – inhaltlich von anderen Ideen abhängen.95 Es ist also zwar möglich, eine Idee eines Sofas zu bilden, ohne das Sofa als von einer bestimmten Farbe zu erkennen; doch eine solche Idee ist sicher keine vollständige Idee des Sofas. Sobald also Ideen von Eigenschaften des Gegenstands zur Verfügung stehen, werden diese in die Idee integriert. Vermutlich ließen sich auch bei der Begriffsbildung verschiedene Abstraktionsstufen unterscheiden – so wird zum Beispiel sicher die Idee der Weiße gebildet, bevor das Subjekt eine Idee der Gerechtigkeit formt. Dennoch lässt sich aufgrund von Gassendis definitorischem Ansatz bezüglich Ideen feststellen, dass alle Ideen inhaltlich miteinander in Verbindung stehen, und dass die Veränderung einer Idee zur Folge hat, dass sich das Ideensystem verändert. Gassendi spricht diese Tatsache an, wenn er schreibt, dass „die Idee eine Dinges [...] die Beziehung dieses Dinges zu anderen“96 beinhaltet (I.98b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl). Da die Idee nur die Beziehung des Gegenstands zu anderen bekannten Gegenständen beinhalten kann – das heißt Gegenständen, von denen wir auch Ideen haben – beinhaltet eine Idee also auch die Beziehung dieser Idee zu anderen Ideen. Aus dieser Aussage lässt sich also schließen, dass Ideen inhaltlich voneinander abhängig sind und nicht isoliert betrachtet werden können. Eine Idee verweist für Gassendi immer auf andere Ideen.
95 Siehe Seidl 2010, 51f. Auch LoLordo 2006, 90f merkt an, dass Gassendi holistische Ansätze hat, was unser Begriffssystem betrifft. 96 „Qualis Idea rei est; talis intelligitur ipsius ad alia Relatio.“ (I.98b)
4.5 Entstehung von theoretischen Vorstellungen
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4.5 ENTSTEHUNG VON THEORETISCHEN VORSTELLUNGEN Im zweiten Kapitel hatten wir festgestellt, dass Ideen wesentlich Vorstellungen sind, die sich über die sinnlichen Eigenschaften eines Prototyps auf ihre Gegenstände beziehen. Darüber hinaus wurde aber deutlich, dass wir auch genuin abstrakte und theoretische Vorstellungen von Gegenständen bilden, von deren Gegenständen bzw. Eigenschaften wir keine sinnliche Wahrnehmung haben können. Wie aber kann in Gassendis Theorie die Entstehung dieser Vorstellungen erklärt werden? Hier scheinen zwei unterschiedliche Erklärungen nötig zu sein, um die Unterscheidung zwischen diesen beiden verschiedenen Arten von Vorstellung aufzufangen. Zum einen hatten wir angenommen, dass wir genuin abstrakte Vorstellungen bilden können, wie zum Beispiel in der reinen Mathematik. Zur Erklärung der Entstehung dieser Vorstellungen kann in einer Theorie wie Gassendis nun auf die Annahme zurückgegriffen werden, dass wir zur Abstraktion fähig sind, das heißt, dass wir in der begrifflichen Analyse von den bestimmten Eigenschaften der Gegenständen absehen können. So wie wir also von den spezifischen Eigenschaften meines Schlüsselbunds absehen können, um eine allgemeine Idee eines Schlüsselbunds zu bilden, können wir immer mehr der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften einer Art von Gegenstand aus der Definition streichen, die Teil der Idee ist, bis wir schließlich bei einer Vorstellung angelangt sind, die sich auf keine dieser Eigenschaften mehr bezieht. Dadurch werden diese Begriffe in gewissem Sinn leer – sie beziehen sich auf nichts mehr, das wir wahrnehmen können, und vermitteln damit auch keine Information mehr darüber, wie Gegenstände sich verhalten. Wie sich herausstellen wird, sieht Gassendi genau auf diese Weise die Begriffe und Urteile der reinen Mathematik an (s.u., S.181ff, 187ff). Die andere mögliche Entstehungsart von theoretischen Vorstellungen ist die von Gassendi erwähnte „Schlussfolgerung“ (III.322b, II.440b). In diesem Fall wird eine Vorstellung eines Gegenstands dadurch gebildet, dass sich logisch aus unserer Erfahrung ergibt, dass ein Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften existieren muss, bzw. dass ein Gegenstand bestimmte Eigenschaften haben muss, auch wenn uns diese Eigenschaften nicht sinnlich zugänglich sind. Als Beispiel hierfür nennt Gassendi die theoretische Vorstellung der Sonne – durch physikalische Überlegungen und Berechnungen, die auf unserer sinnlichen Erfahrung beruhen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Sonne eine bestimmte Größe haben muss. Zur Entstehung dieser Ideen kann Gassendi sich also nicht einfach auf die Fähigkeit zur Abstraktion berufen, wie er sie schon zur Bildung von Ideen annehmen muss. Wie aber kommen wir dann dazu, auf diese Art und Weise zu schließen, dass wir über das hinausgehen, was uns sinnlich zugänglich ist? Gassendis Beschreibung und Erklärung dieses Prozesses wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen (s.u., S.140ff).
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4 Universalien, Ähnlichkeit und Begriffsbildung
4.6 ZUSAMMENFASSUNG Die Diskussion über verschiedene Lösungen des Universalienproblems hatte gezeigt, dass für alle Lösungsansätze die Frage nach der Entstehung von Begriffen eine besondere Schwierigkeit darstellt. Gassendis Annahme, dass dieses Problem durch Gruppierung nach Ähnlichkeiten gelöst werden kann, wurde hier ausformuliert. Allerdings ist offensichtlich, dass dieses Bild der Begriffsgenese einige Probleme aufweist. Denn damit die Erklärung erfolgreich sein kann, müssen Annahmen gemacht werden, die eine große explanatorische Last tragen, die selbst aber nicht weiter gerechtfertigt werden können. Die erste dieser Annahmen ist die Behauptung, dass der Geist zur Ordnung von Eindrücken nach scheinbaren Ähnlichkeiten in der Lage ist. Hierbei ist besonders Gassendis Insistenz problematisch, dass diesen Ähnlichkeiten nichts in der Welt entspricht; denn daraus ergibt sich ein Rechtfertigungsproblem, das realistische Theorien vermeiden. Die zweite dieser Annahmen betrifft die Fähigkeit, Gegenstände wahrzunehmen; diese Fähigkeit wird von Gassendi auf einer vorbegrifflichen Ebene angesiedelt. Problematisch ist hieran, dass Gassendi diese Fähigkeit voraussetzen muss, aber nicht unumstritten ist, inwieweit eine solche Fähigkeit tatsächlich als nicht-begrifflich aufgefasst werden kann. Die dritte Fähigkeit, die vorausgesetzt werden muss, damit die Entstehung von Ideen erklärt werden kann, ist die Fähigkeit zur Begriffsbildung selbst. Die Bildung von Ideen läuft nach unserer Erklärung in keiner Weise voraussetzungslos ab, dennoch muss angenommen werden, dass der Geist die grundsätzliche Fähigkeit besitzt, den Schritt von einer Gruppierung von Gegenständen zu einem Begriff von Gegenständen zu vollziehen. Auch bezüglich dieser Fähigkeit ließe sich argumentieren, dass ein solcher Schritt voraussetzt, dass bereits Begriffe vorhanden sind.
5 RECHTFERTIGUNG, SKEPTIZISMUS UND ATOMISMUS Wie in der Einleitung dargelegt, stellt die Frage nach der Möglichkeit unserer Erkenntnis über die materielle Welt für Gassendi aus zwei Gründen eine Herausforderung dar. Erstens, da er als Empirist und Realist von skeptischen Argumenten besonders angreifbar scheint. Zweitens, da er nicht nur Aussagen über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände treffen will, sondern auch über ihre ontologische Beschaffenheit. Das Ziel von Gassendis Rechtfertigungsbemühungen ist also die Rechtfertigung des Atomismus als plausibler Theorie. Doch bevor er in der Lage ist, für diese Theorie zu argumentieren, muss er zeigen, dass wir überhaupt berechtigt sind, Urteile über die materielle Welt zu fällen. Offensichtlich fällen wir solche Urteile – wir stellen Behauptungen auf wie „Dieser Tisch ist grün“, oder „Dieser Tisch besteht aus kleinsten, unteilbaren Teilchen“ und schreiben damit Gegenständen in der Welt bestimmte Eigenschaften zu. Im dritten Kapitel hatten wir Ideen als Begriffe als Grundlage dafür identifiziert, dass Urteile gebildet werden können, das heißt, Gegenstände unter Begriffe subsumiert werden. Und im vierten Kapitel stellte sich heraus, dass die Basis zur Begriffsbildung nach Gassendis Auffassung in scheinbaren Ähnlichkeiten liegt, die der Geist an seinen Eindrücken festzustellen meint. Ebenso wie sich die in den Urteilen verwendeten Vorstellungen auf Gegenstände beziehen sollen, möchten wir mit diesen Urteilen etwas über die Gegenstände in der Welt aussagen. Insofern diese Urteile uns also etwas über die Gegenstände vermitteln sollen, müssen sie in gewissem Sinn den Gegenständen entsprechen, von denen sie handeln – das heißt, sie müssen wahr sein. Aber auch eine wahre Überzeugung kann nutzlos sein, wenn sie willkürlich gebildet wird und wir uns nicht darauf verlassen können, dass sie wahr ist. Damit wir Wissen haben, sollten unsere Überzeugungen also wahr sein, und es sollte eine Begründung dafür geben, dass wir diese Überzeugungen haben. Diese Bedingungen der klassischen Wahrheitsdefinition sind hier absichtlich vage gehalten. Denn zwar behauptet Gassendi, dass die Wahrheit eines Urteils in seiner Übereinstimmung mit dem Gegenstand besteht. Doch es wird sich zeigen, dass diese Aussage deutlich abgeschwächt zu verstehen ist, wenn man die im vorigen Kapitel entwickelte Theorie der Ideengenese in Betracht zieht. Auch strebt Gassendi für theoretische Aussagen eine internalistische Rechtfertigung an, das heißt eine, die uns zugänglich ist und die wir philosophisch ausarbeiten können. Wie deutlich werden wird, muss er bezüglich empirischer Urteile aber eher als Externalist und Reliabilist verstanden werden. Die Bedingung der Rechtfertigung der klassischen Definition wird damit ebenfalls abgeschwächt. Abschnitt 1 dieses Kapitels beschäftigt sich mit der Frage, was es für Gassendi heißen muss, dass ein Urteil wahr ist. Abschnitt 2 setzt sich mit seinen Aussagen zur Rechtfertigung theoretischer und empirischer Urteile auseinander. Diese Rechtfertigung versetzt Gassendi in die Lage, für den Atomismus als plausible Theorie
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
zu argumentieren. Eine Betrachtung dieser Argumentation folgt in Abschnitt 3 des Kapitels. 5.1 WAHRHEIT Wahrheit wird von Gassendi in unterschiedlichen Sinnen verwendet, wie an diesem Abschnitt aus der Institutio logica deutlich wird: „Wahr ist die Proposition, die aussagt, dass das der Fall ist, was ist, oder, dass das nicht der Fall ist, was nicht ist. Falsch ist im Gegensatz die Proposition, die entweder aussagt, dass das der Fall ist, was nicht ist, oder, dass das nicht der Fall ist, was ist. Dies ist offensichtlich. Denn unter dem Begriff der Wahrheit pflegt man nichts anderes zu verstehen als die Übereinstimmung einer Aussage mit dem ausgesagten Ding bzw. eines Gedankens (cogitatio) mit dem gedachten Ding; und unter dem Begriff der Falschheit nichts anderes als die NichtÜbereinstimmung oder Diskrepanz einer Aussage mit dem ausgesagten Ding bzw. eines Gedankens mit dem gedachten Ding. Im vorherigen Teil haben wir freilich festgestellt, dass eine wahre Idee eine solche ist, von der man glaubt, dass sie mit dem Ding übereinstimmt, dessen Idee sie ist; und dass eine falsche Idee das Gegenteil ist. Aber solange nichts behauptet oder verneint wird, (I.101a) hängen diese Wahrheit und Falschheit gleichsam in der Luft; und solange es nicht ausgesagt wird, dass das Ding so ist oder nicht so ist, wie die Idee es repräsentiert, wartet man. Daher betreffen Wahrheit und Falschheit in eigentlichem Sinn die Proposition, in der ausgesagt wird, dass das Ding so ist oder nicht so ist. [...] Ferner: Dem Ding selbst kommt Wahrheit zu, die man Wahrheit der Essenz oder der Existenz nennen kann und zu der es keine entgegengesetzte Falschheit gibt. Denn jedes Ding ist an sich – ob wir an es denken oder nicht und ob wir uns über es täuschen oder nicht – immer ein wahres Ding, d.h. eben das, was es ist, und nichts anderes. Es ist dasselbe zu sagen, dass dieses Ding ist oder existiert und dass es ein wahres Ding ist. Denn wir können uns zwar beim Urteil täuschen, dass Messing Gold ist: weshalb wir auch zu sagen pflegen, dass Messing falsches Gold ist. Aber an sich ist es sicherlich kein falsches Gold, sondern wahres Messing.“ 1 (I.100b/101a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
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„Propositio illa est vera, qua id enunciat esse, quod est, vel id non esse, quod non est; et Falsa ex opposito, quae vel id esse, quod non est; vel id, quod est, non esse. Res est perspicua, quia nihil aliud Veritatis nomine intelligi solet, quam Enuncitionis cum re enunciata, seu Cogitationis, cum re cogitata conformitas, et Falsitatis nomine nihi aliud, quam Enunciationis cum re enunciata, seu Cogitationis cum re cogitata difformitas, seu discrepantia. Ac habuimus quidem parte superiore eam Ideam veram, quae est conformis rei, cuius esse idea putatur, et falsam ex opposito: at, quia donec nihil affirmatur, aut negatur, Veritas aut Falsitas haec haeret veluti in suspenso, exspectaturque, donec pronuncietur rem talem esse, aut non esse, qualem idea repraesentat; ideo Veritas, Falsitasque ad Propositionem proprie pertinet, qua eam talem esse, aut non esse pronunciatur. [...] Caeterum enim ipsi rei Veritatem competere, quae dici Essentiae, seu Exsistentiae valeat, cuique opposita falsitas sit nulla. Quippe omnis res, seu nos de ea cogitemus seu non cogitemus; et seu fallamur, seu non fallamur, est semper in se vera res, seu ipsum, quod est, et non aliud, nihil differt dicere ipsam esse aut exsistere, et veram rem esse. Sic nempe nos quidem falli possumus Orichalcum esse aurum iudicantes; unde et solemus Orichalcum falsum aurum dicere: at ipsum in se, non sane aurum falsum, sed verum Orichalcum est.“ (I.100b/101a) Dieselbe Unterscheidung findet sich auch in De Logica fine, I.67b.
5.1 Wahrheit
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Hier zeigt sich, dass Gassendi wie Epikur zwei unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit vertritt.2 So bringt er im letzten Absatz dieses Zitats zum Ausdruck, dass er im Anschluss an Epikur Wahrheit auch im Sinn von Existenz verstanden wissen will (s.o., S.26f). Das heißt, alle Dinge sind wahr, insofern sie existieren. In diesem Sinn muss dann die Aussage verstanden werden, die Gassendi in seiner EpikurDarstellung und in den Einwänden gegen Descartes trifft, dass alle Wahrnehmungen wahr sind. So schreibt er: „Täuschung oder Falschheit liegen nicht in der Sinneswahrnehmung, die sich ja rein passiv verhält und nur das wiedergibt, was erscheint und aufgrund seiner Ursachen so erscheinen muss [...]“ (AT VII 332/III.388a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl).3 Eine Wahrnehmung kann also nicht falsch sein; das heißt, alle Wahrnehmungen müssen wahr sein.4 Gassendis Begründung zeigt aber, dass mit dieser Behauptung nicht gemeint ist, dass die Sinneswahrnehmung immer etwas korrekt repräsentiert. Die Tatsache, dass Wahrnehmungen aufgrund ihrer Ursachen so auftreten, wie sie auftreten, bestätigt vielmehr, dass derselbe Gegenstand unter anderen Umständen eine andere Wahrnehmung hätte auslösen können – dass also nicht alle Wahrnehmung den Gegenstand so repräsentiert, wie er ist. Wahrnehmungen müssen also in einem anderen Sinn wahr sein als in diesem. Und der Sinn von Wahrheit, bei dem es laut Gassendi keine entgegengesetzte Falschheit gibt, ist eben der Sinn von Wahrheit als Existenz bzw. Essenz. Wahrnehmungen sind also wahr, insofern sie so auftreten, wie sie auftreten. Unter diesem Verständnis ist es unsinnig, von falschen Sinneseindrücken zu sprechen, da dies implizieren würde, dass die Eindrücke gar nicht aufgetreten sind. Diese Behauptung beinhaltet bei Gassendi wie bei Epikur (s.o., S.28), dass Wahrnehmungen auch bezüglich ihres Inhalts wahr im Sinn von Existenz sind. Denn es ist nicht nur der Fall, dass eine Wahrnehmung aufgetreten ist, sondern dass diese Wahrnehmung mit ihrem speziellen Inhalt aufgetreten ist. Nun scheint es, dass sich dieses Verständnis von Wahrheit auch auf Ideen und auf Propositionen anwenden lässt. Im Fall von Ideen kann diese Anwendung parallel zu der von Wahrnehmungen vollzogen werden. Auch Ideen treten so auf, wie sie eben auftreten, und können in diesem Sinn als wahr angesehen werden.5 Ihnen kommt Gassendi zufolge aber darüber hinaus im eigentlichen Sinn keine Wahrheit zu. Dies ist bei Propositionen anders. Sie sind natürlich, wie alle Dinge, wahr insofern sie auftreten oder geäußert werden. Wie das Zitat zeigt, sind Propositionen
2 3
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Vgl. dazu und im Folgenden Seidl 2010, 53f. „[...] tametsi enim fallacia, falsitasve sit non in sensu, qui mere passive se habet, refertque solum ea quae apparet, quaeque talia ex suis causis apparere necessum est [...].“ (AT VII 332/III.388a) Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern etwas, das nicht falsch sein kann (sodass die Behauptung, dass es falsch ist, als sinnlos zurückgewiesen wird), in einem gehaltvollen Sinn wahr sein kann. Fisher interpretiert die Wahrheit von Ideen (und in seinem Fall damit auch species) stärker, indem er sie näher an die Wahrheit von Propositionen rückt, siehe Fisher 2005, 58f.
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
darüber hinaus aber für Gassendi die paradigmatischen Träger von Wahrheit oder Falschheit im zweiten beschriebenen Sinn. Dieser Sinn von Wahrheit lässt sich nun mit dem bei Epikur „Wahrheit als Korrespondenz“ genannten Verständnis korrelieren.6 Nach diesem Verständnis von Wahrheit ist eine Vorstellung wahr, wenn sie mit ihrem Gegenstand „übereinstimmt“ (congruit, I.68a, conformis est, I.100b); Vorstellungen, die das nicht tun, sind falsch. Wie oben argumentiert (S.28) lässt sich aus der Tatsache, dass eine Vorstellung wahr im Sinn von Existenz ist, nicht ableiten, dass sie auch einen Gegenstand korrekt repräsentiert. Alle Dinge, die es gibt, sind wahr im Sinn von Existenz; doch von diesen beziehen sich nicht alle auf einen Gegenstand, und auch von denen, die sich auf einen Gegenstand beziehen, sind nicht alle wahr in dem Sinn, dass sie ihren Gegenstand so darstellen, wie er ist. Dennoch hängt Wahrheit im Sinn von Korrespondenz Gassendi zufolge von Wahrheit im Sinn von Existenz ab, da es bei der Korrespondenz ja darauf ankommt, wie der Gegenstand beschaffen ist.7 Wieso sind nun Propositionen die paradigmatischen Träger von Wahrheit in diesem zweiten Sinn? Zunächst scheint es, dass Gassendi der Auffassung ist, dass die Wahrheit (wie von einer Korrespondenztheorie der Wahrheit gefordert) in der „Übereinstimmung“ (I.100b) einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand besteht. Wäre dies aber die einzige Bedingung dafür, wahr im zweiten Sinn zu sein, müssten auch Ideen (und wahrscheinlich auch Wahrnehmungen) wahr im Sinn von Korrespondenz sein können. Denn auch sie können, wie Gassendi zugibt (I.100b/101a), auf ihre Übereinstimmung mit ihrem Gegenstand überprüft werden: Ideen (und auch Wahrnehmungen) können als falsch bezeichnet werden, wenn sie ihren Gegenstand mit Eigenschaften repräsentieren, die diesem nicht tatsächlich zukommen. Damit nur Propositionen die eigentlichen Träger von Wahrheit sein können, muss die Wahrheit einer Vorstellung in mehr als in ihrer Übereinstimmung mit ihrem Gegenstand bestehen. Es scheint, dass Gassendi nicht der Auffassung war, dass der Inhalt einer wahren Vorstellung, die sich auf einen Gegenstand bezieht, und dieser Gegenstand übereinstimmen müssen, sondern dass die Übereinstimmung vielmehr zwischen dem Gegenstand und der Behauptung besteht, die über den Gegenstand gemacht wird: Es geht Gassendi um die „Übersteinstimmung einer Aussage mit dem ausgesagten Ding“ (I.100b, meine Hervorhebung). Damit eine 6
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Eine solche Korrespondenz-Auffassung geht aber nicht allein auf Epikur zurück, sondern kann mindestens auf Aristoteles zurückgeführt werden, der eine ganz ähnliche Formulierung in der Metaphysik verwendet: „Von dem, was ist, zu sagen, dass es nicht ist, oder von dem, was nicht ist, dass es ist, ist falsch, während von dem, was ist, zu sagen, dass es ist, und von dem, was nicht ist, dass es nicht ist, ist wahr.“ (Metaphysik IV 7 1011b 26–7). Vgl. Künne 2003, 94ff für eine Diskussion dieser Aussage und klassischen Korrespondenztheorien der Wahrheit insgesamt. „Quia Veritas, quae in iudicio, enunciationeve est, ab eo, quod in se res est, et cui iudicium, enunciatiove confermis est, pendet; quia item, alicuius rei veritatem inquirere, nihil aliud est, quam utrum, qualisque ea sit, exsistatve investigare; et Veritatem invenire nihil aliud, quam utrum, qualisve aliqua res sit, exsistatve deprehendere; ideo videtur Veritas posse definiri, Id, quod res est, seu mavis, Id, quod res exsistit.“ (I.68a)
5.1 Wahrheit
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Vorstellung wahr sein kann, muss in ihr also eine Behauptung enthalten sein, dass sich die Dinge so verhalten, wie in ihr dargestellt, oder dass sie dies nicht tun. Daher schließt Gassendi auch Wahrheit im Sinn von Korrespondenz für Ideen aus – sie enthalten keine Behauptung. Da nun Propositionen sich gerade dadurch von Ideen unterscheiden, dass sie eine propositionale Einstellung und damit eine Behauptung (entweder positiv oder negativ) über einen Gegenstand beinhalten, werden sie zu natürlichen Beispielen für Vorstellungen, denen diese Art von Wahrheit zukommt. Warum aber war Gassendi der Meinung, dass Wahrheit im Sinn von Korrespondenz auf diese Weise aufgefasst werden muss? Eine mögliche Antwort wird durch seine Betrachtung von Ideen als wahren Vorstellungen nahegelegt. Denn die Wahrheit von Ideen hängt, „solange nichts behauptet oder verneint wird, [...] gleichsam in der Luft“ (I.101a). Der Inhalt einer Idee ist also gewissermaßen neutral, ebenso wie sich zwei Ideen zueinander neutral verhalten; sie können sowohl zu einem positiven wie auch zu einem negativen Urteil zusammengefügt werden, sind aber an sich weder wahr noch falsch. Erst wenn ein Urteil gefällt wird, wird klar, was über die Gegenstände der Ideen ausgesagt werden soll, und erst dann ist es möglich zu untersuchen, ob dies wahr oder falsch ist. Nun scheint diese Behauptung bezüglich zweier Ideen überzeugend. Es ist tatsächlich sinnlos zu fragen, ob die beiden Ideen „Tisch“ und „grün“ zusammen wahr oder falsch sind. Aber gilt dies auch für einzelne Ideen? Dadurch, dass Ideen nach der hier vorgelegten Interpretation begrifflich sind, beinhalten sie Konzeptualisierungen wie „hat mindestens ein Bein“ oder „hat blonde Haare“. Es ist nun nicht sinnlos zu fragen, ob ein Tisch tatsächlich mindestens ein Bein und ein bestimmter Mensch tatsächlich blonde Haare hat. Gassendis Behauptung ist offenbar, dass ein Urteil nötig ist, damit eine solche Frage gestellt werden kann. Allerdings stellt Gassendi in der Institutio logica eine enge Verbindung zwischen Ideen und Definitionen her – Definitionen können zumindest aus Ideen gewonnen werden, wenn Ideen nicht sogar selbst Definitionen sind. Damit stellt sich die Frage, ob nicht Definitionen, und damit auch Ideen, genau genommen schon Urteile sind. Dies mag vom modernen Standpunkt so scheinen, denn eine Definition behauptet zwar nicht, dass es Gegenstände gibt, die ihr entsprechen; sie behauptet aber, dass ein Gegenstand eine bestimmte Art von Gegenstand ist, wenn er bestimmte Eigenschaften hat. In einem Urteil wie „Gerechtigkeit ist kein Laster“ wird nicht behauptet, dass es etwas wie Gerechtigkeit gibt (oder auch nur, dass es jemanden gibt, der gerecht ist), sondern nur, dass wenn es Gerechtigkeit gibt, sie kein Laster ist. Ebenso, könnte man behaupten, wird in einer Definition ausgesagt, dass wenn ein Gegenstand ein Tisch ist, er mindestens ein Bein hat. Dieses Ergebnis wäre für Gassendi problematisch, da sich damit ergeben würde, dass Ideen entweder Propositionen beinhalten oder selbst Propositionen sind. Damit würden sie auch zu Trägern eines Wahrheitswerts, und Gassendis Unterscheidung zwischen Ideen und Propositionen wäre aufgehoben. Die Behauptungen, dass erstens aus Ideen Definitionen gewonnen werden können, und dass zweitens
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
Ideen nicht tatsächlich Träger eines Wahrheitswertes sind, wären damit nicht miteinander vereinbar; Gassendis Position wäre inkonsistent. Doch Gassendi würde dieser Argumentation wohl entgegnen, dass es kein Urteil innerhalb einer Idee geben kann. Urteile entstehen erst durch die Verbindung von zwei Ideen durch eine propositionale Einstellung. Daraus, dass zu meiner Idee des Tischs die Idee eines Tischbeins gehört, ist noch keine solche Verbindung zusammen mit einer propositionalen Einstellung hergestellt, sondern die Beziehung zwischen Genus und Differentium. Es ist zwar möglich, von einer wahren oder falschen Idee zu sprechen; dafür müssen wir aber zuerst die Idee mit den zu ihr gehörenden Teilideen in einem Urteil durch eine propositionale Einstellung in Beziehung setzen. Definitionen wie „Wenn etwas ein Tisch ist, hat es mindestens ein Bein“ sind genau wie Sätze der Art „Gerechtigkeit ist kein Laster“ eben keine Propositionen und auch nicht wahrheitsfähig, solange sie nicht mit irgendeiner Art von Einstellung ausgesprochen werden. Solange keinerlei Behauptung in ihnen enthalten ist, kann weder der eine noch der andere Satz eine Proposition sein. Bezüglich dieser Behauptung stellt Gassendi nun das Wort „ist“ in den Vordergrund (I.92a). Daraus lässt sich folgern, dass nach Gassendis Verständnis in einer Proposition wesentlich eine Existenzaussage getroffen wird. Es ist demzufolge nicht möglich, eine Proposition zu bilden, ohne damit zu behaupten, dass etwas existiert – unabhängig davon, ob es sich dabei um einen materiellen Gegenstand, eine Idee, Gegenstände allgemein, diese Welt, andere mögliche Welten etc. handelt. Für beide Beispielsätze gilt damit, dass sie eine Proposition darstellen, sobald mit ihnen eine Existenzaussage verbunden ist. Ideen müssen dann systematisch so aufgefasst werden, dass durch das Vorhandensein einer Idee keinerlei Aussage über die Existenz eines Gegenstands getroffen wird, auch nicht über die Idee selbst. Man könnte versucht sein, das Verhältnis von Idee und Proposition mit einer Unterscheidung aus der analytischen Philosophie in Verbindung zu bringen: Die Unterscheidung zwischen propositionaler Einstellung und propositionalem Gehalt wird in der analytischen Tradition für die Erklärung sogenannter intensionaler Kontexte benötigt.8 Dies sind Kontexte, in denen die Substitution synonymer Terme nicht wahrheitswerterhaltend möglich ist, z.B. Glaubenskontexte. In einem Glaubenskontext kann nun zwischen der Einstellung des Subjekts, nämlich etwas zu glauben, und dem Inhalt, dem, was das Subjekt glaubt, unterschieden werden. Nun scheint eine solche Unterscheidung auch nötig zu sein, um das Verhältnis zwischen Idee und Proposition zu klären. Denn in einer Proposition kommt zu den Ideen eben noch eine Einstellung hinzu, die bestimmt, was in der Proposition ausgesagt wird. Außerdem kann der propositionale Gehalt eines Glaubenssatzes, ebenso wie Ideen bei Gassendi, in unterschiedlichen Aussagen verwendet werden, z.B. sowohl zu positiven als auch zu negativen Urteilen. Ebenso wie im Fall von Propositionen und Ideen bei Gassendi vervollständigt erst die propositionale Einstellung den propositionalen Gehalt zu einem Satz.
8
Vgl. Taylor 1998, 282ff.
5.1 Wahrheit
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Andererseits ist ein solcher Vergleich zwischen Propositionen und Glaubenssätzen auch irreführend. Denn erstens ist es unwahrscheinlich, dass Gassendi bereit wäre, den theoretischen Ballast, den eine Theorie von propositionalem Gehalt mit sich bringen kann, zu akzeptieren. Zweitens aber kann ein solcher Vergleich eben nicht einfangen, inwiefern Ideen nicht wahrheitsfähig sind. Denn ein propositionaler Gehalt wird in der analytischen Tradition sehr wohl als wahrheitsfähig aufgefasst, sodass die Wahrheitsbedingungen für den propositionalen Gehalt dass die Sonne scheint darin bestehen, dass die Sonne scheint. Im Fall von Ideen bzw. Definitionen bei Gassendi verhält sich dies, wie eben ausgeführt, anders. Eine Idee bzw. Definition kann nur auf ihre Wahrheit überprüft werden, wenn sie in propositionale Form gebracht wird. Damit kann das Verhältnis von Idee, Definition und Proposition folgendermaßen expliziert werden: Ideen beinhalten bzw. sind Definitionen. Eine Definition als Angabe von Genus und Differentia eines bestimmten Gegenstands beinhaltet unserer Interpretation zufolge keine Proposition, da sie keine Aussage darüber enthält, wie die Welt sich verhält. Sie kann zwar insofern als der Gehalt einer Proposition angesehen werden, als aus ihr, zusammen mit einer Einstellung zu dem Gehalt, eine Proposition entstehen kann. Sie ist aber selbst in gewissem Sinn unvollständig, da sie sowohl zu einem positiven als auch einem negativem Urteil geformt werden kann. Insofern stellt sie selbst keinerlei Aussage darüber auf, was auf welche Weise existiert und was nicht. Dies kann nur durch die Einstellung geleistet werden, die damit die Ideen bzw.Definitionen zu einer wahrheitsfähigen Proposition vervollständigt. Nachdem geklärt ist, warum nur Propositionen wahr im Sinn von Korrespondenz sind, stellt sich nun die Frage, was es bedeutet, dass Propositionen mit ihrem Gegenstand übereinstimmen. Damit könnte zum Beispiel gemeint sein, dass sie als Sätze Tatsachen korrekt wiedergeben; in diesem Fall würden Tatsachen Sätze wahr machen. Es könnte auch heißen, dass die Proposition dem Gegenstand (auf den sich das Subjekt in der Proposition bezieht) korrekterweise bestimmte Eigenschaften zuschreibt. Dann würde der Gegenstand, als Träger bestimmter Eigenschaften, die Proposition wahr machen. Obwohl nun in der Übersetzung der zitierten Stelle aus der Institutio logica davon die Rede ist, dass etwas „der Fall ist“ (I.100b), zeigt sich, dass Gassendi keineswegs von Tatsachen spricht, die korrekt dargestellt werden müssen. Vielmehr legt seine Ausdrucksweise in dem Absatz über Ideen nahe („...dass das Ding so ist, wie es die Idee repräsentiert“), dass es ihm darum geht, dass einem Gegenstand korrekterweise eine Eigenschaft zugesprochen wird. Die Wahrheit einer Proposition besteht also nicht darin, dass etwas, das der Fall ist, korrekt in der Proposition zum Ausdruck gebracht wird, sondern dass von einem Gegenstand etwas korrekt prädiziert wird.9
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Dies war seit Aristoteles die verbreitete Position, sie findet sich zum Beispiel bei Kant (Kritik A58/B82f) und Descartes (AT II 597), vgl. Künne 2003. Erst in der analytischen Philosophie
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Im dritten Kapitel hatten wir bei der Diskussion von Propositionen festgestellt, dass sich Propositionen bei Gassendi auf Sätze in Subjekt-Prädikat-Form zu beschränken scheinen. Diese Beschränkung hängt mit seiner Auffassung davon zusammen, inwiefern Proposition und Wirklichkeit korrespondieren. Denn wenn die Wahrheit einer Proposition darin besteht, dass die im Urteil prädizierte Eigenschaft dem Gegenstand tatsächlich zukommt, sind Urteile in Subjekt-Prädikat-Form die einzig relevanten, da in ihnen genau dies geschieht. Tatsachen sind im Gegensatz zu Gegenständen komplex, sodass zum Beispiel auch von der Tatsache, dass Vögel Flügel haben, damit sie fliegen können, gesprochen werden kann. Ließe Gassendi also zu, dass auch komplexere Aussagen wie diese als Propositionen angesehen werden, könnte er nicht annehmen, dass die Wahrheit einer Proposition darin besteht, dass ein Prädikat korrekterweise auf einen Gegenstand angewendet wird. Da er also die Wahrheit von Subjekt-Prädikat-Sätzen als basal ansieht, muss Gassendi davon ausgehen, dass sich die Wahrheit von komplexen Sätzen in jedem Fall auf die Wahrheit von Sätzen in Subjekt-Prädikat-Form zurückführen lässt. Mit einer solchen Auffassung schließt sich Gassendi an mittelalterliche Autoren an, die standardmäßig davon ausgehen, dass eine solche Rückführung auf Sätze in Subjekt-Prädikat-Form möglich ist. Die Wahrheit einer Proposition besteht für Gassendi also darin, dass die Eigenschaft, die dem Gegenstand in der Proposition zugeschrieben wird, dem Gegenstand auch tatsächlich zukommt. Angenommen, in einer Proposition werden zwei Ideen durch eine positive propositionale Einstellung zusammengefügt, wie zum Beispiel in dem Satz „Der Tisch ist grün“. Die Idee an Subjekt-Stelle bezieht sich also auf einen Tisch, die Idee an Prädikat-Stelle auf die Eigenschaft, grün zu sein. Der Satz ist dann wahr, wenn es eine Übereinstimmung zwischen dem Gegenstand, auf den sich die Subjekt-Idee bezieht, und dem Prädikat in der Proposition gibt, wenn also der Tisch tatsächlich grün ist.10 Gassendi äußert sich nicht weiter dazu, wie diese Aussage genau zu verstehen ist. Es scheint also, dass er keine systematische Verbindung zwischen seinem Nominalismus und seiner Wahrheitstheorie hergestellt hat. Zieht man aber seine Einstellung bezüglich Begriffen bzw. Ideen bei der Interpretation dessen in Betracht, was es für eine Proposition bedeutet, wahr zu sein, dann scheint es, als seien diese beiden Positionen nicht gut miteinander vereinbar. Denn die Diskussion von Gassendis Einstellung zu Ähnlichkeiten hatte gezeigt, dass es weder allgemeine Eigenschaften noch Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen gibt. Aufgrund seiner nominalistischen Haltung kann Gassendi also nicht behaupten, dass das Urteil „Der Tisch ist grün“ dann wahr ist, wenn dem Tisch tatsächlich die allgemeine Eigenschaft „grün“ zukommt, die mehreren Gegenständen gemeinsam sein kann. Denn in diesem Fall wären alle Urteile in Gassendis Theorie als falsch anzusehen. hat sich die Auffassung darüber, was Aussagen wahr macht, verändert, sodass Tatsachen als bessere Kandidaten für diese Rolle angesehen werden, siehe Künne 2003, 112ff. 10 Künne 2003, 99 interpretiert Aritstoteles’ Aussagen zu Wahrheit ähnlich, indem er für eine prädikative Interpretation von Aristoteles’ Definition argumentiert.
5.1 Wahrheit
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Vielmehr muss diese Aussage aufgrund seiner Theorie von Ähnlichkeiten und Begriffen uminterpretiert werden. Dieser Theorie zufolge fällt ein Gegenstand dann unter den Begriff grün, wenn der Gegenstand die Eigenschaften hat, die laut der aus dem Grün-Prototyp gewonnenen Definition grünen Gegenständen wesentlich zukommen. Dies ist dann der Fall, wenn die Idee des Gegenstands anderen Ideen verschiedener Gruppen in hinreichender und relevanter Hinsicht ähnelt. Dies wiederum beruht auf der Tatsache, dass die Eindrücke vom Gegenstand anderen Eindrücken ähneln, sodass schließlich einem Gegenstand in dieser Theorie genau dann eine bestimmte, allgemein aufgefasste Eigenschaft zugeschrieben werden kann, wenn der Gegenstand bestimmte Eigenschaften hat, aufgrund derer es dem Erkenntnissubjekt erscheint, als ähnele der Gegenstand den Standardgegenständen bestimmter Gruppen in relevanter und hinreichender Hinsicht. Dabei wird allerdings aufgrund von Gassendis Anti-Realismus bezüglich Ähnlichkeiten nicht impliziert, dass tatsächlich eine Ähnlichkeit zwischen den Gegenständen besteht. Es stellt sich nun die Frage, wann diese Behauptung als wahr bzw. als falsch angesehen werden kann. Da der Zuschreibung weder allgemeine Eigenschaften noch tatsächliche Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen zugrunde liegen, scheint es, als gäbe es keine Möglichkeit, eine solche Zuschreibung als falsch zurückzuweisen. Werden also Urteile auf diese Art und Weise analysiert, müsste für Gassendi Wahrheit als Korrespondenz mit Wahrheit als Existenz zusammenfallen: die Tatsache, dass mir ein Eindruck den Standardeindrücken einer bestimmten Gruppe ähnlich zu sein scheint, kann nicht bezweifelt werden. Insofern würden in diesem Fall alle Urteile trivialerweise wahr – ein Ergebnis, das ebenso wenig wünschenswert ist wie die Falschheit aller Urteile. In einer überzeugenden Theorie sollten zwei Arten von möglicher Falschheit mindestens erklärbar sein. Zum einen ist es möglich, dass das Subjekt den Gegenstand zwar korrekt wahrnimmt, ihn aber dennoch einer falschen Gruppe zuordnet. Hier läge der Fehler also im Assoziationsprozess. Zum anderen kann das Subjekt dem Gegenstand zwar aufgrund seiner Wahrnehmung die richtige Eigenschaft zuschreiben, die Wahrnehmung selbst aber repräsentiert den Gegenstand nicht richtig, sodass die Zuschreibung dennoch als falsch angesehen werden muss. Hier läge der Fehler im Wahrnehmungsprozess. Wie kann eine Erklärung für diese Vorgänge erreicht werden? Da Gassendi sich offenbar für die Folgen einer nominalistischen Auffassung für die Anwendung von Begriffen in Urteilen nicht interessiert, muss hier eine systematische Lösung vorgeschlagen werden. In der obigen Erklärung wird jede Zuschreibung einer Eigenschaft dadurch trivialerweise wahr, dass das Wahrnehmungssubjekt der einzige Standard für die Zuschreibung ist. Das Ergebnis kann damit dadurch verhindert werden, dass die Korrektheit einer Zuschreibung nicht mehr nur von einem Subjekt abhängt, sondern von mehreren. Damit können Einschränkungen bezüglich der Zuschreibung allgemeiner Eigenschaften angegeben werden. So könnte zum Beispiel mit einer Zuschreibung einer allgemeinen Eigenschaft nicht nur ausgesagt werden, dass ein bestimmter Gegenstand einem Subjekt auf bestimmte Art und Weise erscheint, sondern auch, dass der Gegenstand normalerweise/unter bestimmten Umständen dem Subjekt/den meisten Wahrnehmungssubjekten auf diese Art erscheint – das heißt, den Standardgegenständen einer bestimmten Gruppe zu äh-
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neln scheint. Eine solche Einschränkung beruht also auf objektiven, oder zumindest intersubjektiven Tatsachen. Will man innerhalb von Gassendis Theorie also überhaupt in einem gehaltvollen Sinn über Wahrheit von Urteilen über Gegenstände sprechen, kann man sich nicht nur auf die Tatsache berufen, dass bestimmte scheinbare Ähnlichkeiten auftreten; damit eine Diskrepanz zwischen der Zuschreibung einer Eigenschaft und dem Besitz einer Eigenschaft möglich ist, muss auch auf normale/bestimmte Bedingungen und möglicherweise auch andere Wahrnehmungssubjekte Bezug genommen werden. So wird die Behauptung, dass Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen einem Gegenstand und einem Urteil besteht, auch in einer nominalistischen Theorie wie Gassendis sinnvoll.11 Die Bedingungen, die, abgesehen von der Tatsache, dass der Gegenstand dem Subjekt bestimmten anderen Gegenständen in gewisser Hinsicht zu ähneln scheint, erfüllt sein müssen, damit ein Urteil als wahr angesehen werden kann, sind hier vage gehalten. Man könnte zum Beispiel explizieren, dass normale Umstände die sind, unter denen die meisten Erkenntnissubjekte in ihrem Urteil übereinstimmen. Doch wie eine Explikation auch ausgeführt wird, es muss festgestellt werden, dass in einer Theorie wie Gassendis, die eine antirealistische Auffassung zu Ähnlichkeiten beinhaltet, Wahrheit weit schwächer aufgefasst werden muss, als es angesichts von Gassendis korrespondenztheoretischer Aussagen zunächst den Anschein hat. Sie wird reduziert auf die übereinstimmenden Prozesse zwischen Wahrnehmungssubjekten. 5.2 RECHTFERTIGUNG UND SKEPTISCHE SZENARIEN Aufgrund von Gassendis Nominalismus muss also die Behauptung, dass Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen Behauptung und Gegenstand besteht, so interpretiert werden, dass dem Gegenstand tatsächlich eine Eigenschaft zukommt, die ihn unter normalen Umständen den meisten Erkenntnissubjekten bestimmten Gegenständen als ähnlich erscheinen lässt. Es stellt sich nun die Frage, ob wir jemals gerechtfertigt sind, davon auszugehen, dass eine solche „Übereinstimmung“ be11 In diesem Abschnitt wurde nur die Wahrheit von Propositionen, das heißt von empirischen Urteilen thematisiert. Oben hatten wir festgestellt, dass theoretische Vorstellungen Eigenschaften zuschreiben, die für uns aufgrund der Beschränkungen unseres Wahrnehmungsapparats nicht wahrnehmbar sind, dass aber Wesen vorstellbar sind, denen diese Eigenschaften sinnlich zugänglich sind. Es ist wahrscheinlich, dass Gassendi der Meinung wäre, dass auch ein Urteil, dass eine solche Vorstellung enthält, dann wahr ist, wenn dem Gegenstand die ihm zugeschriebene Eigenschaft auch tatsächlich zukommt. Wie aber kann dies in Bezug auf theoretische Urteile analysiert werden, wenn auch in ihrem Fall davon ausgegangen werden muss, dass wir Gegenständen keine allgemeinen Eigenschaften zuschreiben können? Eine Möglichkeit besteht darin, sich auf mögliche Wahrnehmungssituationen und Subjekte zu beziehen und theoretische Begriffe analog zu empirischen aus assoziativ gebildeten Gruppen von Eindrücken aufzufassen, allerdings nur von möglichen Subjekten, nicht von realen, oder gar uns selbst. Damit könnte die Wahrheit von theoretischen Aussagen analog zu der von empirischen aufgefasst werden. Womöglich würde dadurch Gott zum Standard für die Wahrheit solcher Aussagen.
5.2 Rechtfertigung und skeptische Szenarien
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steht. Nach der klassischen Wissensdefinition wird für Wissen erstens eine Überzeugung, zweitens die Wahrheit der Überzeugung und drittens eine mögliche Rechtfertigung der Überzeugung durch das Subjekt benötigt. Soll eine Überzeugung gerechtfertigt sein, muss es möglich sein, Gründe für diese Überzeugung anzugeben. Im Folgenden wird uns beschäftigen, inwiefern Gassendi bereit ist, solche Gründe für unsere Überzeugungen anzugeben. Eine erste Annäherung an Gassendis Antwort auf die Frage nach Rechtfertigung ermöglicht seine Diskussion der verschiedenen Objekte unserer Erkenntnis. Im ersten Kapitel von De Logica fine führt Gassendi mehrere Unterscheidungen bezüglich dieses Themas ein. Dieser Darstellung zufolge gibt es manifeste und verborgene Dinge (manifestas et occultas res, I.68b). Als Beispiele für manifeste Gegenstände unserer Erkenntnis führt Gassendi die äußerlichen Erscheinungen der Dinge (externa rerum facies, ebd.) und das Urteil an, „dass es Tag ist“ (ebd.).12 Bezüglich der verborgenen Gegenstände unserer Erkenntnis wird unter Berufung auf Sextus Empiricus eine weitere Unterscheidung eingeführt: erstens nach solchen Gegenständen, die völlig (penitus) verborgen sind, zweitens nach solchen, die von Natur aus (natura), und drittens nach solchen, die vorübergehend (ad tempus) verborgen sind. Völlig verborgen ist beispielsweise, ob die Anzahl der Sterne gerade oder ungerade ist (I.68b).13 Von Natur aus verborgen sind solche Dinge, die wir nicht wahrnehmen können, die wir aber durch etwas anderes begreifen können (ebd.).14 Vorübergehend verborgen sind Dinge, die im Moment nicht, prinzipiell aber doch wahrnehmbar sind (I.68b/I.69a).15 Vorübergehend verborgene Dinge werden damit zu manifesten, sobald das Hindernis in der Wahrnehmung beseitigt ist (I.69a). Nun stellt Gassendi in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, dass die Philosophie sich weder mit den manifesten noch mit den völlig verborgenen Gegenständen zu beschäftigen habe. Denn die manifesten seien Gegenstände des öffentlichen Wissens, die völlig verborgenen uns dagegen überhaupt nicht zugänglich (I.69a).16 Als mögliche Gegenstände philosophischer Untersuchung bleiben damit die von Natur aus und die vorübergehend verborgenen Gegenstände, wobei die vorübergehend verborgenen Gegenstände zu vernachlässigen sind, da es sich bei ihnen tatsächlich um manifeste Gegenstände handelt, die nur zeitweise nicht zugänglich sind. Für welche Art von Urteil Gassendi auf der Suche nach Rechtfertigung ist, hängt damit davon ab, wo er die Grenze zwischen manifesten und von Natur aus verborgenen Gegenständen zieht. Denn Aussagen über manifeste Gegen12 „Et manifesta quidem sunt, quae ex seipsis in notitiam veniunt, ut lux diurna, seu diem esse, ut externa haec rerum facies [...].“ (I.68b) 13 „Penitus occulta sunt, quae ita se habent, ut nullo modo cadere in comprehensionem possint, cuiusmodi est, stellas esse numero pareis.“ (ebd.) 14 „Occulta natura, quae natura quidem sua, sive per seipsas evidentes fieri non possunt, sed possunt nihilominus per aliquid aliud innotescere, et a nobis comprehendi [...]“ (ebd.) 15 „Occulta ad tempus, quae cum sua natura evidentes sint, propter impedimenta tamen aliqua ad tempus nos lateat [...]“ (I.68b/I.69a) 16 Vgl. Cho 2005, 133.
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stände müssen Gassendi zufolge dann nicht, Aussagen über verborgene Gegenstände schon philosophisch gerechtfertigt werden. Unterscheidet man verschiedene mögliche Urteile, zeigt sich allerdings, dass Gassendis Formulierung hierzu nicht eindeutig ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von der äußeren Erscheinung bzw. dem Aussehen (facies) der Dinge im Gegensatz zu dem, was wir nicht wahrnehmen können und nur durch etwas anderes begreifen können. Systematisch ist aufgrund dieser Beschreibung zunächst offen, wo ein Urteil wie „Dieser Tisch ist grün“ einzuordnen ist. Einerseits beschreibt dieses Urteil prima facie eben die äußere Erscheinung eines Gegenstands; andererseits kann man argumentieren, dass wir erst von den Eigenschaften unseres Sinneseindrucks auf die Eigenschaften des Gegenstands schließen müssen. Um herauszufinden, für welche Art von Urteil Gassendi eine Strategie zur Rechtfertigung entwickeln will, ist also zu untersuchen, was für Gassendi manifeste Wahrheiten darstellen. Versteht er unter manifesten Wahrheiten nur subjektive Urteile wie „Dieser Tisch erscheint mir grün“, wird nach einer Rechtfertigung sowohl für empirische Urteile der Art „Der Tisch ist grün“ als auch theoretischen der Art „Dieser Tisch besteht aus unteilbaren, kleinsten Teilchen“ gesucht. Werden auch Urteile über die äußerlichen Eigenschaften der Dinge in manifestes Wissen mit eingeschlossen, müssten nach Gassendis Auffassung nur theoretische Urteile philosophisch bzw. internalistisch gerechtfertigt werden. Um diese Frage zu beantworten, soll im Folgenden Gassendis Argumentation für die Möglichkeit einer Rechtfertigung analysiert werden. In diesem Zusammenhang ist interessant, welche Argumente Gassendi selbst gegen eine mögliche Rechtfertigung anführt, und welche Urteile systematisch von diesen Argumenten betroffen sind. Gassendis Diskussion bezüglich der Kriterien der Wahrheit schließt skeptische Argumente mit ein, unter anderem die zehn Tropen der pyrrhonischen Skeptiker. Daher werden auch die von Gassendis diskutierten skeptischen Argumente und seine Reaktion auf diese Argumente betrachtet. Dabei wird sich herausstellen, dass Gassendi sich einer bestimmten Interpretation der pyrrhonischen Skepsis anschließt, die Urteile über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände nicht in Frage stellt. Unter Gassendis Interpretation gelten also solche empirischen Urteile als manifeste und müssen nicht philosophisch gerechtfertigt werden. Daran anschließend wird uns beschäftigen, was für eine Art von Rechtfertigung Gassendi für empirische Urteile zur Verfügung steht. 5.2.1 Schlüsse aus Zeichen In seinem Ansatz zur internalistischen Rechtfertigung von Urteilen orientiert sich Gassendi grundsätzlich an Epikur. In der obigen Darstellung der epikureischen Theorie wurde deutlich, dass die Rechtfertigung für Urteile in der Wahrnehmung liegen soll; die Wahrnehmung soll das Kriterium für die Wahrheit von Urteilen darstellen (s.o., S.29f). Auch Gassendi ist auf der Suche nach einem solchen Kriterium, das heißt einem unabhängigen Maßstab, an dem wir unsere Urteile überprü-
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fen und so herausfinden können, „ob [eine verborgene Wahrheit] entdeckt wurde oder nicht“ (I.69a, Übersetzung Seidl).17 Er unterscheidet in seiner einführenden Diskussion zu Kriterien der Wahrheit zwei Aspekte eines Kriteriums:18 erstens das Instrument (id per quod), das heißt das Erkenntnisvermögen, das das Erkenntnissubjekt von Natur aus hat (facultas natura data); darunter versteht Gassendi entweder die Sinne oder den Intellekt („veluti Sensus, aut Intellectus“) (I.69a). Zweitens nennt er den Vorgang (id secundum quod), das heißt das Erkenntnisvermögen in Aktion; damit sind also die Vorgänge des Wahrnehmens bzw. Begreifens gemeint. Obwohl sich die Kontroverse bezüglich der Kriterien der Wahrheit auf das Instrument konzentriert (I.69b), sind beide Aspekte beim Überprüfen eines Urteils zu beachten. Gassendi untersucht also, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen uns die Sinne, der Intellekt oder beide zusammen ein Instrument an die Hand geben, verborgene Gegenstände zu erkennen – wobei noch nicht eindeutig ist, welche Gegenstände Gassendi als verborgen ansieht. Ist es also zum Beispiel möglich, durch die Sinne und/oder den Intellekt die Aussage zu rechtfertigen „Dieser Gegenstand besteht aus unteilbaren, kleinsten Teilchen“? Gassendi illustriert seine Theorie zur Rechtfertigung verborgener Wahrheiten durch die genannten Kriterien der Wahrheit an verschiedenen Beispielen. Anhand dieser Beispiele wird einerseits deutlich, wie seiner Meinung nach gerechtfertigterweise Urteile über verborgene Gegenstände gefällt werden können; diese Beispiele liefern aber andererseits auch eine Antwort auf die Frage, welche Urteile Gassendi überhaupt als zu rechtfertigen ansieht. Gassendis explizites Ziel mit der Einführung von Kriterien der Wahrheit ist es, einen Mittelweg (media via) zwischen den Positionen der Skeptiker und der Dogmatiker zu finden.19 Als dogmatische Position darf zum Beispiel die stoische gelten, der zufolge es Vorstellungen gibt, die wir als wahr erkennen können und die Gewissheit für unsere Überzeugungen gewährleisten (s.o., S.31ff). Als Vertreter der skeptischen Position stellt Gassendi die pyrrhonische Skepsis und deren Tropen in seiner Diskussion der unterschiedlichen Einstellungen zu Kriterien der Wahrheit ausführlich dar (De Logica fine, Caput III, Modi Epoches Scepticorum circa Veritatem, ipsiusque Criteria, I.72b ff). Allerdings stellt Gassendi seinen positiven Ausführungen, inwiefern man seiner Meinung nach Kriterien zur Rechtfertigung angeben kann, die Einschränkung voran, dass bei dem angestrebten Mittelweg zwischen Skeptikern und Dogmatikern nicht die Wahrheit selbst, das heißt gewissermaßen ihr Körper (veritatis quasi corpus I.79b), zu erlangen ist, sondern bloß ihr 17 „Quia vero ad occultae veritatis inventionem et ad ferendum iudicum, inventa ne sit, an non sit, opus est nobis aliquo ad iudicandem instrumento [...]“ (I.69a) 18 „Criterium distinguitur duplex, unum to di’ou, Id per quod, alterum to kath’o, Id secundum quod. Et Criterium quidem per quod, nihil aliud est quam facultas a Natura data, per quam quidpiam cognoscimus, veluti Sensus, aut Intellectus. Criterium vero seundum quod, nihil aliud, quam ipsa facultatis functio, sive operatio, qua re ipsa cogniscimus, veluti, Sensio aut Intellectio.“ (I.69a) 19 „[...] media quaedam via inter Scepticos (quo nomine omneis Criteria tollenteis complector) et Dogmaticos videtur tenenda.“ (I.79b)
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Bild oder Schatten (ipsius imaginem sive potius umbram, ebd.). Gassendi setzt sich also als Ziel nicht die Gewissheit, sondern bloß eine Annäherung an die Wahrheit, eine gewisse Wahrscheinlichkeit (verisimilitudo, I.132b) unserer Überzeugungen über verborgene Gegenstände. Seine Argumentation dafür, dass es Kriterien der Wahrheit gibt, durch die wir eine solche Wahrscheinlichkeit erreichen können, geht von der Behauptung aus, dass sogar die Skeptiker akzeptieren, dass es Erscheinungen gibt und dass Urteile über Erscheinungen möglich sind.20 Aussagen über verborgene Gegenstände, die nicht selbst erscheinen, können dann gerechtfertigt werden, wenn die Erscheinung den verborgenen Gegenstand zugänglich macht. Gassendi ist nun der Auffassung, dass dies durch einen Schluss aus Zeichen erreicht wird. Denn: „Die Wahrheit, um die es geht, ist versteckt, da sie unter den Erscheinungen verborgen ist; es wird also untersucht, da sie uns an sich nicht zugänglich ist, ob es dennoch möglich ist, durch irgendein Zeichen mit ihr bekannt zu werden; und ob es in uns ein Kriterium gibt, durch das wir das Zeichen wahrnehmen, und die Wahrheit oder ihren Gegenstand, beurteilen können“ (I.80b).21 Gassendi möchte also Urteile durch Schlüsse aus Zeichen rechtfertigen. Schlüsse aus Zeichen hatten wir im Zusammenhang mit der epikureischen Theorie kennengelernt. Für Epikur liefern sie die Grundlage theoretischen Wissens, das nicht direkt durch die Wahrnehmung gerechtfertigt werden kann (s.o., S.38ff). Gassendi führt zunächst einige Unterscheidungen bezüglich dessen ein, worauf von einem Zeichen geschlossen werden soll. Generell ist ein Zeichen etwas, das „etwas von ihm Verschiedenes bezeichnet oder bedeutet; oder vielmehr das, was, sobald es bekannt ist, uns zur Bekanntschaft mit etwas anderem führt“ (I.80b, Übersetzung Seidl).22 Unter Berufung auf Aristoteles teilt er die Zeichen in solche, die notwendig (necessarium) sind und damit ein Beweis (tekmeria, indicium), und solche die nicht notwendig bzw. wahrscheinlich (non-necessarium, seu probabile) sind.23 Die erste Art ist wiederum unterteilt in indikative (indicativa) und erinnernde (commonefactiva).24 Dabei sind indikative Zeichen solche, die die von Natur aus verborgenen Dinge zur Kenntnis bringen, wie zum Beispiel der Schweiß die Existenz von Poren in der Haut beweist (I.81a). In einem solchen Fall ist das Verhältnis zwischen Zeichen und dem Gegenstand, auf den geschlossen wird, derart, dass das Zeichen nicht vorhanden sein könnte ohne die Existenz des verborgenen Gegen-
20 „[...] ideo utramque veritatem circa id quod apparet, reliquunt, prout et apparentiam exsistere non dubitant [...] et vere enunciari, iudicarique talem apparentiam exhiberi non controvertunt.“ (I.80b) 21 „Quare veritas, qua de agitur, est occulta, sub apparentiis delitescens; requiritur videlicet, an cum per seipsam non pateat, possit tamen signo sui aliquo innotescere; et an sit in nobis Criterium, quo et signum percipere, et ex eo de veritate, seu re, cuius es, iudicare liceat.“ (I.80b) 22 „Universe itaque dici Signum potest, quod quidpiam a se diversum designat, aut significat; seu mavis, id, quod notum cum sit, in alterius rei notitiam nos ducit:“ (I.80b) 23 Notwendig sind dabei die Zeichen, bei denen von einem allgemeinen Satz auf ein konkretes Phänomen geschlossen wird, wahrscheinlich die Zeichen, bei denen von einem konkreten Phänomen auf einen allgemeinen Satz geschlossen wird. (Vgl. I.81a) 24 Diese Unterscheidung findet sich auch bei Sextus Empiricus, vgl. Allen 2001, 108ff.
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stands,25 sodass die Existenz des verborgenen Gegenstands als notwendige Bedingung für die Existenz des Zeichens angesehen werden kann. Erinnernde Zeichen sind solche, die die vorübergehend verborgenen Dinge anzeigen, wie zum Beispiel Rauch Feuer anzeigt (ebd.). Da wir auf der Suche nach einer Rechtfertigung für Urteile über verborgene Gegenstände sind, muss es damit um indikative Zeichen und Schlüsse auf die notwendigen Bedingungen dafür gehen, dass ein solches Zeichen vorhanden ist. Prima facie sind Urteile, die durch einen solchen Schluss gerechtfertigt werden, damit, wie bei Epikur, deduktiv aus den Erscheinungen abgeleitet, sodass das Urteil über den verborgenen Gegenstand logisch aus dem Auftreten der Erscheinung folgt. Dies lässt sich in Einklang bringen mit Gassendis Aussagen zu theoretischen Vorstellungen in der Disquisitio, nach denen wir uns in diesen weniger etwas vorstellen, als vielmehr verstehen, dass ein Gegenstand bestimmte Eigenschaften haben muss (III.322b). Nun zeigt sich, dass die Sinne und der Verstand, die Gassendi im Anschluss an Epikur als Kriterien der Wahrheit ausgemacht hatte (I.69b), genau die Voraussetzungen für einen solchen Schluss darstellen. Denn die Sinne liefern uns die Zeichen, die Erscheinungen der wahrnehmbaren Dinge, und der Verstand kann durch logische Schlussfolgerung die Bedingungen der Möglichkeit für das Auftreten dieser Erscheinungen ableiten.26 Als Beispiel für einen solchen Schluss, der durch die Sinne und den Verstand gerechtfertigt ist, diskutiert Gassendi nun genauer das Argument, nach dem die Haut Poren haben muss, da sich auf ihr Schweiß bildet. Obwohl die Haut auf den ersten Blick wie ein kontinuierliches Ganzes wirkt, schließt der Verstand von der Existenz des Schweißes auf die der Poren. Hierbei stützt er sich auf induktiv gewonnene Prinzipien, die auf Sinneswahrnehmungen beruhen, wie zum Beispiel, dass sich nicht zwei Körper zugleich am gleichen Ort befinden (I.81b). Zusammen mit diesen Prinzipien kann der Verstand von der Tatsache, dass sich Schweiß auf der Haut bildet, darauf schließen, dass die Haut Poren haben muss. Weitere Beispiele für solche Urteile, die durch die Sinne und den Verstand gerechtfertigt sind, sind der Schluss auf die Existenz einer Seele in einem Körper aus den Handlungen dieses Körpers (I.82a/b), Epikurs Schluss auf die Existenz des leeren Raums aus den Bewegungen der Körper (I.83a), und der Schluss darauf, dass der Mond eine Kugel ist, aus der Tatsache, dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Flächen des Mondes beleuchtet sind (I.83a/b). Diese Beispiele lassen allerdings erkennen, dass Gassendi offenbar, anders als Epikur, bei dieser Methode nicht auf logischer Deduktion des theoretischen Satzes aus Erscheinungen besteht. Denn die Gültigkeit des Beweises der Existenz von Poren in der Haut beruht, wie Detel argumentiert, nicht nur auf Erscheinungen und durch Induktion aus Erscheinungen gewonnenen allgemeinen Prinzipien, sondern 25 „[...] ut nisi res sit, esse ipsum non possit; atque idcirco dum ipsum est, rem quoque esse necesse sit.“ (I.81a) 26 „Unde et sit, ut duplex in nobis possit distingui Criterium, unum, quo percipiamus Signum, videlicet Sensus; alteorum, quo ipsam rem latentem ratiocinando intelligamus; Mens nempe, Intellectus, seu Ratio.“ (I.81b)
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wesentlich auch auf Analogieschlüssen.27 Wie Detel zeigt, hält Gassendi solche Schlüsse für die einzige Möglichkeit, Zugang zu verborgenen Gegenständen zu erlangen (I.87b).28 Am Beispiel des Arguments für die Existenz von Poren in der Haut zeigt sich dies an Gassendis Vergleich der Haut mit einem Sieb („Necesse est ergo ut cutis sit quasi colum sive cribrum [...].“ I.81b). Hätten wir nicht die Idee eines Siebs, dann könnten wir nicht verstehen, was es heißen soll, dass die Haut Poren hat. Wir müssen uns also den Gegenstand, den wir nicht wahrnehmen können, in Analogie zu einem wahrnehmbaren Gegenstand denken, andernfalls bleibt der verborgene Gegenstand unzugänglich. Gassendi erkennt diesen Punkt an, wenn er schreibt: „Und sicherlich ist dies die einzige Art, wie etwas über verborgene Gegenstände offenbart werden kann, sodass man, wenn man sie aus der Philosophie entfernte, dieser geradezu die Augen auskratzte, was schon anhand dessen eingesehen werden kann, was vorher über die Poren gesagt wurde, die in der Haut sind, wie Löcher in einem Sieb oder Seiher.“ 29 (I.87b, Übersetzung Seidl)
Die Möglichkeit, Analogien zu ziehen, ist also eine wesentliche Voraussetzung für Schlüsse aus Zeichen, wie Gassendi sie beschreibt. Nun sind allerdings Analogieschlüsse keineswegs zwingend, das heißt, ein Argument, das auf einem solchen Schluss beruht, zeigt nicht an, dass ein Gegenstand auf bestimmte Weise beschaffen sein muss, sondern nur, dass dies eine mögliche bzw. die beste mögliche Erklärung für die aufgetretenen Phänomene darstellt.30 Im Gegensatz zu einer logischen Deduktion erhält man damit mit Gassendis Schlüssen aus Zeichen keine notwendigen Bedingungen, sondern eine, möglichst die beste, Erklärung der Erscheinung. Aufgrund dieser Aussage ist also zu erwarten, dass Gassendis Argumentation für Aussagen über verborgene Gegenstände nicht nur in deduktiven Herleitungen besteht. Und es erklärt, warum Gassendi sich damit zufriedengibt, Wahrscheinlichkeit für theoretische Urteile zu erlangen und keine Gewissheit. Gassendis Beispiele geben aber nicht nur Auskunft darüber, worin seiner Meinung nach ein Schluss aus Zeichen besteht; sie geben auch einen Hinweis darauf, was für Gassendi die verborgenen Gegenstände unserer Erkenntnis sind, und damit auch, welche Urteile er durch den Schluss von Zeichen rechtfertigen möchte. Denn es fällt auf, dass Gassendi nur theoretische Urteile als Beispiele aufführt, die schon voraussetzen, dass empirische Urteile über die äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge gerechtfertigt sind. Im Argument für die Existenz von Poren in der Haut wird so vom Vorhandensein des Schweißes mithilfe weiterer Annahmen darauf geschlossen, dass es Poren in der Haut geben muss, selbst wenn wir diese nicht wahrnehmen können. Das Zeichen, das als Grundlage für den Schluss dient, ist eine wahrnehmbare Eigenschaft eines Gegenstands, nämlich, dass sich Schweiß 27 Detel 1978, 59f 28 Vgl. Detel 1978, 59 Fn 56. 29 „Et sane is unicus est declarandi res occultas modus, quem a Philosophia se exemeris, oculos quasi effoderis: quod potest utrumque intelligi ex eo, quod est ante dictum de poris, qui in cute sint, foraminum instar, qui in cribro, aut colo.“ (I.87b) 30 Fisher 2005, 45
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bildet. Er erwähnt darüber hinaus explizit, dass diese Art der Rechtfertigung auf induktiv aus der Sinneserfahrung gewonnenen Prinzipien beruht – induktiv können wir aber nur schließen, wenn wir davon ausgehen, dass jede einzelne Instanz tatsächlich so aufgetreten ist, wie es uns schien. Als Schluss von einem Zeichen auf einen verborgenen Gegenstand versteht Gassendi also den Schluss von den äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge auf etwas, das der menschlichen Wahrnehmung nicht zugänglich ist. Gassendis Beispiele beruhen damit auf der Voraussetzung, dass wir die äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge korrekt wahrnehmen.31 Im Gegensatz dazu führt Gassendi aber kein Beispiel an, in dem eben diese Annahme gerechtfertigt wird, bzw. eine Methode, wie empirische Urteile wie „Menschen schwitzen“ oder „Paul schwitzt“ selbst gerechtfertigt werden können. Ebenso wie für Epikur dient der Schluss aus einem Zeichen Gassendi also zur Rechtfertigung theoretischer Urteile.32 Doch das Zeichen, das als Grundlage für den Schluss dient, also die Erscheinung, muss in einer Schlussfolgerung selbst in einem Urteil bestehen, einem Urteil über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände. Für Urteile dieser Art scheint Gassendi an einer internalistischen Rechtfertigung nicht interessiert. So lässt Gassendis Argumentation einerseits vermuten, dass er der Auffassung war, dass empirische Urteile nicht in den Bereich der Erkenntnis über verborgene Dinge fallen, sondern in den der Erkenntnis über manifeste Dinge. Damit sind sie für ihn philosophisch nicht interessant und auch nicht Objekt philosophischer Rechtfertigung. Andererseits müssen wir uns aber, wenn sie als Grundlage für Schlüsse aus Zeichen dienen sollen, auf sie verlassen können; Gassendi geht damit davon aus, dass sie in gewisser Weise gerechtfertigt sind. Seine Reaktion auf die Argumente der pyrrhonischen Skepsis verdeutlicht diese beiden Folgerungen aus seiner positiven Argumentation für die Anwendbarkeit von Kriterien der Wahrheit. Diese Argumente widerlegen, wenn sie erfolgreich sind, die Behauptung, dass es Kriterien der Wahrheit geben kann. Gassendi muss seine Theorie von Kriterien der Wahrheit daher gegen skeptische Einwände verteidigen. Diese Verteidigung zeigt nun, dass Gassendi die skeptischen Argumente für geeignet hält, weder empirische noch theoretische Urteile anzugreifen. Diese Position beruht auf einer urbanen Interpretation skeptischer Argumente. 5.2.2 Pyrrhonische Einwände Gassendi war mit skeptischen Argumenten generell wohlvertraut, da er wie erwähnt selbst in den Exercitationes Paradoxicae einen skeptischen Standpunkt ein-
31 Detel argumentiert, dass dies auch Gassendis explizite Strategie ist, und er nicht vielmehr versucht, seine wissenschaftlichen Aussagen mit Urteilen darüber zu begründen, wie mir die Welt erscheint (Detel 2002, 266ff). 32 Vgl. Cho 2005, 133.
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nimmt, um scholastische Positionen zu widerlegen.33 Auch bei seiner Lektüre der Meditationen von Descartes, gegen die er schließlich Einwände formulierte, begegneten ihm skeptische Positionen. Wie genau versuchen die Skeptiker aber die Möglichkeit der Angabe eines Kriteriums zu untergraben? Die pyrrhonische Skepsis, deren Argumente Gassendi darstellt und diskutiert, geht zurück auf Pyrrho von Elis (365–275 vor Chr.), dessen Lehre aber nur in Fragmenten in den Versen Timons überliefert ist. Der bekannteste Vertreter dieser Schule ist wohl Sextus Empiricus, dessen Werk im Gegensatz dazu in großen Teilen erhalten und überliefert ist. Ein grundsätzliches Argument gegen ein Kriterium der Wahrheit stellt er in seinem Grundriss der pyrrhonischen Skepsis vor: „Ferner, um den entstandenen Streit über das Kriterium zu entscheiden, müssen wir ein anerkanntes Kriterium haben, mit dem wir ihn entscheiden können, und um ein anerkanntes Kriterium zu haben, muss vorher der Streit über das Kriterium entschieden werden. So gerät die Erörterung in die Diallele, und die Auffindung des Kriteriums wird aussichtslos, da wir es einerseits nicht zulassen, dass sie ein Kriterium durch Voraussetzung annehmen, und wir sie andererseits, wenn sie das Kriterium durch ein Kriterium beurteilen wollen, in einen unendlichen Regress treiben.“ (PH, II.20)34
Nach diesem Argument kann also kein Kriterium der Wahrheit angegeben werden, da von den Skeptikern kein Kriterium ohne Grund akzeptiert wird. Zur Begründung eines Kriteriums muss also ein weiteres Kriterium angeführt werden, das wiederum nicht ohne weitere Begründung akzeptiert wird. So entsteht ein infiniter Regress. Darüber hinaus argumentieren die pyrrhonischen Skeptiker, dass aufgrund der Unentscheidbarkeit von Konflikten ein Erkenntnissubjekt davon Abstand nehmen sollte, Urteile über Gegenstände zu fällen. Den Pyrrhoneern zufolge gibt es unentscheidbare Situationen, sodass die Begründung, die für zwei einander widersprechende Urteile angegeben werden kann, genau gleichstark ist. Durch diese Fälle wird die Verlässlichkeit unserer Urteile untergraben, sodass wir laut dem Pyrrhoneer nicht gerechtfertigt sind, überhaupt Aussagen über die Eigenschaften der Dinge zu machen: „Diese [Zurückhaltung] entsteht also – so könnte man allgemeiner sagen – durch die Entgegensetzung der Dinge. Wir setzen dabei entweder Erscheinungen Erscheinungen oder Gedanken Gedanken oder diese einander wechselweise entgegen. Z.B. Erscheinungen Erscheinungen, wenn wir sagen: ‚Derselbe Turm erscheint aus der Ferne rund, aus der Nähe viereckig.‘ Gedanken Gedanken, wenn wir demjenigen, der die Existenz einer Vorsehung aus der Ordnung der Himmelskörper beweist, entgegenhalten, dass es den Guten häufig schlecht, den Schlechten dagegen gut geht, und daraus auf die Nichtexistenz einer Vorsehung schließen. Schließlich setzen wir Gedanken Erscheinungen entgegen, so wie Anaxagoras dem Weißsein des Schnees entgegensetzt, dass der Schnee gefrorenes Wasser, Wasser aber dunkel, also auch der Schnee dunkel sei.“ (PH I.31–33)
33 Vgl. z.B. III.99, wo Gassendi beschreibt, wie er von anderen skeptischen Autoren, unter anderem auch den Akademikern und den Pyrrhoneern, beeinflusst wurde. Für eine ausführliche Darstellung siehe Brundell 1987, Kapitel 1. 34 Gassendi zitiert dieses Argument in De Logica fine, I.75b, es war ihm also bekannt.
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Durch eine Gegenüberstellung einander widersprechender Aussagen soll also die Rechtfertigung von Urteilen untergraben werden. Hierbei, scheint es, kann es sowohl um theoretische Urteile wie das über eine göttliche Vorsehung als auch um Aussagen über materielle Eigenschaften von Gegenständen wie ihre Form gehen. Nicht nur die Tatsache, dass bestimmte Sinneseindrücke auftreten, wird also in der Argumentation verwendet, sondern auch, dass unterschiedliche Meinungen zu theoretischen Problemen vertreten werden. Wichtig ist bei dieser Gegenüberstellung von „unverträglichen“ (PH I.10) Vorstellungen, dass diese gleichwertig sind.35 So kann zum Beispiel ein Gegenstand mal dunkelblau, mal schwarz aussehen, je nachdem in welcher Wahrnehmungssituation das Subjekt sich befindet. Es ist nun bloß anhand der Erscheinungen nicht möglich zu entscheiden, ob der Gegenstand schwarz oder dunkelblau ist. Beide Urteile, „Der Gegenstand ist schwarz“ und „Der Gegenstand ist blau“, können durch einen Sinneseindruck gerechtfertigt werden. Diese Sinneseindrücke haben aber prima facie den gleichen Stellenwert, keiner von beiden ist als besser anzusehen als der andere. In diesem Fall müssen wir uns also eines Urteils enthalten, da nicht entschieden werden kann, welches Urteil gerechtfertigt ist und welches nicht. Nun ergibt sich nach Meinung der Skeptiker durch den Zustand, in dem sich ein Erkenntnissubjekt befindet, ein solcher Unterschied darin, wie die Dinge unterschiedlichen Menschen erscheinen, dass man sich grundsätzlich des Urteils enthalten sollte. Denn für jeden Fall, in dem einem ein Gegenstand auf bestimmte Weise erscheint, gibt es einen anderen Menschen, dem er anders erscheint. Jeder Mensch ist aber immer in einem bestimmten Zustand, der festlegt, wie ihm die Dinge erscheinen (PH I.112). Zu entscheiden, welcher Zustand eine Erscheinung hervorbringt, die dem Gegenstand entspricht, ist von diesem Standpunkt aus nicht möglich (PH I.113). Will man aber ein Kriterium angeben, mit dem einander widersprechende Erscheinungen beurteilt werden sollen, gerät man in den oben beschriebenen Regress. Ein pyrrhonischer Skeptiker kann Sextus Empiricus zufolge dennoch Überzeugungen haben, „denn den vorstellungsmäßig aufgezwungenen Erlebnissen stimmt der Skeptiker zu“ (PH I.13). Daher ist das Kriterium der Skeptiker „das Erscheinende“ (PH I.22). Ein Zweifel daran, wie etwas erscheint, ist sinnlos (ebd.). Nach diesen Aussagen wäre ein Skeptiker berechtigt, Urteile über Erscheinungen zu fällen. Nun stellt sich allerdings die Frage, was in diesem Zusammenhang als Erscheinung zu verstehen ist. Man kann einerseits argumentieren, dass ein Pyrrhoneer mit dieser Einstellung zu Urteilen der Form „Der Gegenstand erscheint mir schwarz“ berechtigt ist, dass er aber aus diesem Urteil keines der Form „Der Gegenstand ist schwarz“ ableiten kann. Urteile über die eigene Wahrnehmungssituation sind dieser Interpretation zufolge also zulässig, diese begründen aber aufgrund
35 „‚Gleichwertigkeit‘ nennen wir die Gleichheit in Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit, sodass keines der unverträglichen Argumente das andere als glaubwürdiger überragt.“ (PH I.10)
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der Relativität der Wahrnehmung keine Urteile über Gegenstände. 36 Dem pyrrhonischen Skeptiker wäre damit nur darüber Erkenntnis möglich, wie ihm Dinge erscheinen, nicht aber ob die Dinge die Eigenschaften, die sie zu haben scheinen, auch tatsächlich haben. Sextus’ Aussagen in PH I.13 allerdings scheinen eine andere Interpretation zumindest möglich zu machen. Hier heißt es: „Vielmehr behaupten wir, nicht zu dogmatisieren in dem Sinn, in dem einige „Dogma“ die Zustimmung zu irgendeiner der in den Wissenschaften erforschten verborgenen Sachen nennen. Denn keinem der verborgenen Dinge stimmt der Pyrrhoneer zu“ (ebd.). Hier scheint Sextus eine Identifikation zwischen verborgenen Dingen und Gegenständen wissenschaftlicher bzw. philosophischer Untersuchung vorzunehmen.37 Dann aber könnte man glauben, dass die äußerlichen Eigenschaften der Dinge eben nicht zu den verborgenen gehören und ein Skeptiker auch Urteilen wie „Dieser Gegenstand ist schwarz“ in einem gewissen Sinn zustimmen kann.38 Ein Vertreter dieser zweiten Interpretation muss dann allerdings die Tropen, die unterschiedliche Wahrnehmungen betreffen, in einen wissenschaftlichen bzw. theoretischen Kontext umdeuten. Wenn es also heißt, dass eine Hose mal schwarz, mal blau aussehen kann, und sich die Frage stellt, ob sie blau oder schwarz ist, darf dies nicht im Sinn der ersten Interpretation als Frage nach den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften verstanden, sondern muss als Frage nach den diesen äußeren Eigenschaften zugrundeliegenden, z.B. physikalischen Eigenschaften aufgefasst werden. Das skeptische Argument wird dann so verstanden, dass die Tatsache, dass ein Gegenstand nicht immer gleich aussieht, einen Schluss auf die physikalischen Eigenschaften verhindert, die die Farbeigenschaft des Gegenstands begründen. Der Unterschied in der Erscheinung verhindert also nicht die Aussage, dass die Hose schwarz ist, sondern eine Aussage darüber, welche Eigenschaften die Hose hat (zum Beispiel, dass sie aus Atomen besteht), die sie schwarz machen. Damit beinhaltet diese Interpretation eine Deutung der pyrrhonischen Tropen, die nicht auf den ersten Blick zwingend ist. Wird diese Deutung aber nicht vorgenommen, müsste zugegeben werden, dass die Tropen doch auch Urteile über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge in Frage stellen. Es sind also zwei Auffassungen darüber vertretbar, welche Urteile von den pyrrhonischen Argumenten angegriffen werden. Doch selbst wenn man der strengeren Interpretation anhängt, nach der der Skeptiker nicht davon ausgehen kann, dass die Dinge so sind, wie sie erscheinen, ist es aufgrund der Erscheinungen dennoch möglich, zu handeln und zu kommunizieren. Denn auch ohne die Überzeugung, dass sich die Dinge so verhalten, wie sie erscheinen, kann der Skeptiker sich so verhalten, als hätte er diese Überzeugung, sodass er ohne Einschränkung leben kann. Der Unterschied liegt in der Einstellung des Skeptikers zu den Erscheinungen, die er ohne Reaktion des Willens über sich ergehen lässt und auf die er ins36 Vgl. Burnyeat 1984, 230. 37 Vgl. Barnes 1997, 2f. 38 Hier ist weniger von Interesse, welche Interpretation historisch korrekt, sondern zunächst nur, dass eine andere Interpretation möglich ist.
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tinktiv reagiert. „Wir halten uns also an die Erscheinungen und leben undogmatisch nach der alltäglichen Lebenserfahrung, da wir gänzlich untätig nicht sein können“ (PH I.23). So erreicht er durch seinen Zweifel den Zustand der Seelenruhe. 5.2.3 Gassendis Erwiderung Gassendi führt die Argumente der Skeptiker gegen die Möglichkeit der Angabe eines Kriteriums auf,39 bevor er darstellt, inwiefern es seiner Meinung nach Kriterien der Wahrheit geben kann. Erst dann diskutiert er, wie man auf die skeptischen Argumente reagieren kann. An seinem Umgang mit den pyrrhonischen Argumenten zeigt sich nun die gleiche Einstellung, die wir auch anhand seiner Beispiele für Kriterien der Wahrheit festgestellt hatten. Seine Argumentation offenbart, dass Gassendi die oben dargestellte Interpretation der pyrrhonischen Skepsis vertritt, nach der die Argumente der Skeptiker nur theoretische Urteile in Zweifel ziehen, nicht aber empirische. Bezüglich des allgemeinen Einwands, dass ein infiniter Regress droht, da jedes Kriterium durch ein weiteres Kriterium gerechtfertigt werden muss, schreibt Gassendi: „Zum Beispiel wird gefragt, ob es irgendeine Art von Wahrheit gibt? Es wird geantwortet, dass es sie gibt, und um einer Ausflucht entgegenzukommen, wird hinzugefügt, dass sie derart sei, wie zum Beispiel dass es Poren in der Haut gibt. Sie fragen, ob dies ohne Beweis oder mit Beweis behauptet wird? Es wird geantwortet, dass es mit Beweis behauptet wird, nämlich dem, der vorher angeführt wurde. Und ob dieser Beweis wahr oder falsch sei? Wahr, wird geantwortet. Aber dieser muss bewiesen werden, und zwar durch einen Beweis, der eines weiteren bedarf, und dieser wieder eines weiteren bis zur Unendlichkeit. Aber dies alles wird zurückgewiesen; denn die Wahrheit des Beweises dafür, dass es Poren in der Haut gibt, erhellt durch sich selbst, das heißt, dass er aus Propositionen besteht, die durch sich selbst bekannt sind, und die der Verstand nicht zurückweisen kann; weshalb man hier stehenbleiben muss. [...] Ebenso, wenn gefragt wird, ob es ein Kriterium gibt, wird geantwortet, dass es eines gibt, und ein Beispiel für ein Kriterium dargebracht, zum Beispiel der Intellekt; und es ist weder nötig, das unendlich fortzuführen, noch in einen Zirkel zu geraten.“40 (I.85b, Übersetzung Seidl)
39 Er stellt die zehn Tropen in Anschluss an Sextus Empiricus dar (I.72bff), gefolgt von weiteren skeptischen Argumenten (I.75bf). 40 „Quaeritur, exempli gratia, an sit quidpiam verum? Respondetur esse, ac ut tergiversatio praeoccupetur, additur, huiusmodi esse, v. c. dari in cute poros. Rogant an sine demonstratione, an cum demonstratione id dicatur? Respondetur, cum demonstratione, et ea quidem, quae est ante allata. At haec demonstratio aut vera est, aut falsa? Vera, respondetur. At hoc est probandum, et demonstratione quidem, quae alia indigeat, ac rursus alia in infinitum. Sed totam negatur; quia demonstrationis, per quam probatur dari poros, veritas per se elucescit, hoc est ex iis constat propositionibus, quae sunt per se notae, quasque Intellectus respuere non possit; unde et in ea consistendum sit. [...] Pari autem ratione, dum quaeritur, An detur Criterium? Respondetur, dari, et exemplum affertur Criterij, v. c. per quod, intellectus, neque opus est, ut aut abeatur in infinitum, aut incidatur in Diallelum.“ (I.85b/86a)
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Bis zu einem gewissen Grad ist Gassendi also bereit, sich auf eine solche Diskussion einzulassen; und zwar genau so lange, bis solche Urteile in Frage gestellt werden, die seiner Auffassung nach entweder „durch sich selbst bekannt“ (per se notae, I.85b) sind – solche also, die auf Induktion beruhen41 – oder auf Sinneserfahrung beruhen, die „keiner Rechtfertigung bedarf“ (ad [experientia] nulla sit demonstratione opus, I.85b). Gassendi weist also die Entstehung eines Regresses bezüglich Wahrheit zurück, da er der Auffassung ist, dass es Urteile gibt, die ohne weitere Rechtfertigung als wahr erkannt werden, nämlich Urteile über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände, aus denen wir Schlüsse ziehen können.42 Aus demselben Grund, so Gassendi, müssen auch der Verstand und die Sinne als Kriterien der Wahrheit, als Instrumente, mit denen theoretische Urteile überprüft werden, nicht wiederum gerechtfertigt werden. Das heißt, dass sowohl die Sinne als auch der Verstand ohne weitere Rechtfertigung als geeignet erkannt werden, Urteile über Gegenstände, die wir nicht wahrnehmen können, zu begründen und zu überprüfen. Gassendi lässt weder Zweifel an empirischen Urteilen noch an der generellen Verlässlichkeit unserer Verstandesaktivitäten zu; offenbar sieht er diese als selbst-evident an. In diesem Sinn ist Gassendi also ein Vertreter der Interpretation des pyrrhonischen Skeptizismus, die die Gültigkeit der skeptischen Argumente auf theoretische Aussagen beschränkt.43 Gassendis Reaktion auf die Tropen, die die Verlässlichkeit der Sinneswahrnehmung in Frage stellen, unterstützt diese Behauptung. Denn wir hatten festgestellt, dass ein Vertreter dieser Interpretation argumentieren muss, dass auch diese Tropen unter der zweiten Interpretation bloß von theoretischen, nicht von empirischen Urteilen handeln. Es ist also zu erwarten, dass Gassendi in der Argumentation gegen die Tropen anführt, inwiefern wir doch wissenschaftliche Aussagen über die Gegenstände unserer Wahrnehmung treffen können. Und tatsächlich argumentiert Gassendi, dass eben diese wissenschaftlichen Theorien, die wir durch Schlüsse aus Zeichen aus empirischen Urteilen ableiten, die Unterschiede in der Wahrnehmung erklären können. Die Tatsache, dass Dinge in Menschen unterschiedliche Eindrücke hervorrufen, kann durch eine wissenschaftliche Untersuchung ihrer nicht wahrnehmbaren Eigenschaften erklärt werden; die wissenschaftliche Untersuchung wird damit nicht durch die skeptischen Argumente untergraben, sondern liefert eine Erklärung für die Phänomene, die die skeptischen Argumente anführen.
41 Diese Auffassung von Sätzen, die durch sich selbst bekannt sind, ist dabei nicht die klassische Interpretation als analytische Sätze (z.B. bei Thomas von Aquin, S.Th I–II, 94,2: „Secundum se quidem quaelibet propositio dicitur per se nota, cujus praedicatum est de ratione subjecti[...].“). Für Gassendi sind dies „unbezweifelbare, aber induktiv gewonnene Grundsätze“ (Detel 1974, 190), das heißt, sie sind unabhängig von der Sinneserfahrung gerechtfertigt. 42 Vgl. Cho 2004, 56. 43 Auch Burnyeat 1984 ist der Auffassung, dass Gassendi und Montaigne verschiedene Wissensbereiche „insulieren“ wollen, sodass nur wissenschaftliche Erkenntnis von skeptischen Argumenten in Frage gestellt wird.
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Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist Gassendis Reaktion auf das oben dargestellte skeptische Argument, dass die Art, wie ein Gegenstand erscheint, davon abhängt, in welchem Zustand das Erkenntnissubjekt sich befindet, sodass kein Zustand mehr als verlässlich angesehen werden kann. Er gibt zu, dass sich solche Unterschiede ergeben, lehnt aber ab, dass sich daraus ergibt, dass wir nichts wissen können. Denn die Unterschiede in den Erkenntnisvermögen der Menschen können erklären, dass der gleiche Gegenstand auf Menschen in unterschiedlichen Zuständen unterschiedlich wirkt. Und es kann wissenschaftlich untersucht werden, welche Eigenschaften der Gegenstand haben muss, damit er all diese Erscheinungen hervorbringen kann (I.84a). Ebenso hält er die übrigen Tropen für dadurch zurückweisbar, dass physikalisch erklärt werden kann, wie sich die Umstände, unter denen etwas wahrgenommen wird, darauf auswirken, wie der Gegenstand erscheint (I.84b). Es scheint auch, dass Gassendi diese Interpretation der skeptischen Position schon in den Exercitationes vertritt. Denn wenn er in der Einleitung die Akademiker und Pyrrhoniker preist, dann dafür, dass sie aufgezeigt haben, dass die „inneren Ursachen“ (intimas causas) natürlicher Phänomene uns verborgen bleiben müssen (III.99). Und er setzt seinen skeptischen Ausführungen zu Wissen nach aristotelischem Standard voraus, dass er keineswegs Aussagen wie „dass ich zu Hause bin und nicht auf dem Marktplatz“ (III.192a) in Zweifel ziehen will.44 Zwar stimmt er also in den Exercitationes der skeptischen Schlussfolgerung, so wie er sie versteht, zu, während er im Syntagma versucht, diese zurückzuweisen. Doch geht es in beiden Fällen nicht um die Frage, ob wir zu Aussagen über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge berechtigt sind, sondern um eine Rechtfertigung für theoretische Aussagen über Gegenstände, die unserer Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Gassendi ist also der Auffassung, dass nur für theoretische Urteile eine internalistische Rechtfertigung notwendig ist, und dass die Rechtfertigung dadurch erfolgt, dass wir diese Urteile durch Schlüsse aus Zeichen herleiten, d.h. aus den wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände. Doch eine Rechtfertigung theoretischer Urteile durch Schlüsse aus Zeichen kann natürlich nur dann erfolgen, wenn man davon ausgeht, dass wir die Zeichen, aus denen wir schließen, korrekt wahrnehmen. Doch für Urteile über diese Eigenschaften möchte Gassendi explizit keine Rechtfertigung dieser Art angeben.
44 „Deinde vero admittere posses appellandam Scientiam esse notitiam quandam experimentalem et rerum apparentium, ut cum dicor scire me sedere, me nunc potiusquam stare, interdiu potiusquam noctu, impransum potiusquam saturum, domi potiusquam in foro.“ (III.192a) Gassendi führt hier zwar mehrere Beispiele an, die eher der ersten Interpretation entsprechen, wie dass Honig süß und Feuer heiß zu sein scheint, und die Sonne hell, und nicht dunkel aussieht (III.192a), doch eben auch „dass ich jetzt sitze und nicht stehe“ (ebd.) und das oben erwähnte, die eher für die zweite Interpretation sprechen.
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5.2.4 Rechtfertigung empirischer Urteile Unter diesen Voraussetzungen stellt sich die Frage, wieso Gassendi der Meinung war, dass er auf eine solche Rechtfertigung verzichten kann. Denn seine Argumentation für den Atomismus, der schließlich eine Theorie darstellt, muss in einem Schluss aus Zeichen bestehen. Und es ist nicht überzeugend anzunehmen, dass sich Gassendi nicht bewusst war, dass Argumente formuliert werden können, die die Basis solcher Schlüsse, das heißt Urteile über die empirische Wirklichkeit, in Frage stellen. Zum einen zeigt sich dies an den dargestellten Tropen selbst. Zwar wird an Gassendis Argumentation deutlich, dass er nicht der Meinung ist, dass die pyrrhonischen Tropen auf Urteile über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände anwendbar sind. Doch nicht nur stellt sich die Frage, ob dies die historisch korrekte Interpretation der Position von Sextus Empiricus darstellt.45 Denn selbst wenn Sextus selbst diese Ansicht nicht vertreten haben sollte, muss sich Gassendi aufgrund seiner umfangreichen Kenntnis der antiken Philosophie doch bewusst gewesen sein, dass eine alternative Interpretation möglich ist. Und laut dieser alternativen Interpretation sind genau die Urteile zweifelhaft, die Gassendi für offenbar gerechtfertigt hält. Mit dieser Interpretation werden die Tropen zu Argumenten, die eben nicht bloß Behauptungen über Dinge in Frage stellen sollen, die wir nicht wahrnehmen können, sondern sie weisen dann gerade den Schluss von unserer eigenen Wahrnehmungssituation auf die Eigenschaften eines Gegenstands in der Welt zurück. Für Gassendi beinhaltet die Erscheinung, das manifeste Ding, schon die Eigenschaften des Gegenstands; doch die alternative Interpretation sieht durch die Tropen genau diese Eigenschaften in Frage gestellt. Insofern also zwei Interpretationen der Aussage möglich sind, dass die Skeptiker Urteile über Erscheinungen nicht zurückweisen, muss davon ausgegangen werden, dass Gassendi bewusst war, dass solche Urteile nicht allgemein als unproblematisch angesehen werden. Auch in Descartes’ Meditationen begegnen ihm Argumente, die empirische Urteile in Frage stellen. In der ersten Meditation bringt Descartes unterschiedliche skeptische Szenarien ins Spiel, unter anderem einen radikalen Außenweltskeptizismus; und die Meditationen werden von Gassendi in seinen Einwänden einer genauen Betrachtung unterzogen. Auch dies lässt den Schluss zu, dass Gassendi sich der Möglichkeit bewusst war, dass empirische Urteile bezweifelt werden. Was also waren seine Gründe, einen solchen Zweifel als unbegründet zurückzuweisen? Sowohl in seinen Aussagen im Syntagma als auch in den Einwänden gegen die Meditationen finden sich Hinweise auf diese Gründe. Wie oben erwähnt, stellt sich Gassendi auf den Standpunkt, dass weder die empirische Erfahrung noch der Verstand als Kriterien der Wahrheit einer weiteren Rechtfertigung bedürfen: 45 Barnes wirft das Problem auf, dass Sextus einen Schluss aus Zeichen zu akzeptieren scheint (Barnes 1997, 86), was für eine Interpretation wie Gassendis spricht (Barnes 1997, 87). Burnyeat 1984 argumentiert dagegen ausführlich, dass eine solche Interpretation nicht in Sextus’ Sinne ist.
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„Wird auf diese Weise gefragt, ob es ein Zeichen gibt, wird geantwortet, dass es eines gibt. [...]. Wenn nachgesetzt wird, ob dies mit Rechtfertigung oder ohne Rechtfertigung gesagt wird, wird geantwortet, dass dies aufgrund der Erfahrung selbst gesagt wird, für die es keiner Rechtfertigung bedarf. Und wenn gesagt wird, dass dies verneint und das Gegenteil behauptet werden kann; so muss geantwortet werden: wie er will; er solle nur sehen, ob die Erfahrung dies unterstützt oder zurückweist. Ebenso, wenn gefragt wird, ob es ein Kriterium gibt, wird geantwortet, dass es eines gibt, und ein Beispiel für ein Kriterium dargebracht, zum Beispiel der Intellekt; und es ist weder nötig, das unendlich fortzuführen, noch in einen Zirkel zu geraten.“ (I.85b/86a, Übersetzung Seidl)46
Diese Aussagen weisen darauf hin, dass Gassendi unsere Sinne und unseren Verstand als grundsätzlich für verlässlich angesehen hat. Es gibt keinen Grund, empirische Urteile und unsere Schlüsse daraus zu bezweifeln, da wir mit diesen beiden Vermögen generell in der Lage sind, wahre Überzeugungen zu bilden. Diese Interpretation wird durch eine Behauptung in den Einwänden gegen die Meditationen bestätigt: „Obwohl wir denken können, dass wir natürlicherweise zur Täuschung neigen, auch bei Dingen, die uns höchst wahr erscheinen; nichtsdestoweniger denken wir auch, dass wir natürlicherweise zur Wahrheit fähig sind“ (AT VII 333/III.388b, Übersetzung Seidl).47 Die Sinne und der Verstand täuschen uns also manchmal, doch wir können davon ausgehen, dass sie, wenn sie normal funktionieren, generell dazu in der Lage sind, uns wahre Überzeugungen bilden zu lassen.48 Jedes einzelne theoretische Urteil muss dadurch gerechtfertigt werden, dass angegeben wird, auf welcher Grundlage und wie aus dieser Grundlage geschlossen wird. Im Gegensatz dazu müssen wir für einzelne empirische Urteile keine solche Rechtfertigung angeben, weil wir davon ausgehen können, dass wir grundsätzlich dazu in der Lage sind, wahre Urteile zu bilden. Es scheint damit, dass Gassendi eine Art Reliabilismus vertritt, wenn es um empirische Urteile geht:49 Solange der Prozess der Urteilsbildung verlässlich abläuft, kann davon ausgegangen werden, dass wir zu wahren Urteilen kommen. Daher müssen empirische Urteile nicht einzeln gerechtfertigt werden. Dies passt zu der obigen Analyse, dass die Wahrheit eines Urteils darin besteht, dass der Gegenstand dem Subjekt so erscheint, wie er auch anderen Subjekten erscheinen würde. Wir sind alle mit ähnlichen Fähigkeiten ausgestattet. Solange diese Fähigkeiten normal 46 „Sic dum quaeritur, utrum signum aliquod detur? Respondetur dari [...]. Dum instatur vero, an id cum demonstratione, aut sine demonstratione dicatur? Respondetur dici, ac probari ipsa experientia, ad quam nulla sit demonstratione opus. Et dum dicitur, licere et neganti afferere oppositum; respondendum, ut ille volet; videat modo an experientiam suffragantem, an refragantem habeat. Pari autem ratione, dum quaeritur, An detur Criterium? Respondetur dari, et exemplum affertur Criterii, v.c. per quod, intellectus, neque opus est, ut aut abeatur in infinitum, aut incidatur in Diallelum.“ (I.85b/86a) 47 „Six cum cogitare possimus nos esse naturae fallaciis obnoxiae, etiam in rebus verissimis visis; nihilominus cogitamus etiam nos esse a natura veritatis capaces [...]“ (AT VII 333/III.388b) 48 „He proposes, in short, that the reliability of the faculties of sensation provides warrant for empirical claims.“ Fisher 2005, 56. 49 Auch Fisher 2005, 69 schreibt Gassendi zu, dass er eine „reliabilist theory of epistemic warrant“ vertritt, da er sich auf die Verlässlichkeit der Sinneswahrnehmung beruft.
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funktionieren, bilden wir wahre Überzeugungen.50 Es gibt also, außer in Einzelfällen, keinen Grund, empirische Urteile anzuzweifeln. Es stellt sich aber die Frage, ob es für Gassendi nur diese externalistische Rechtfertigung empirischer Urteile gibt, sodass jedes einzelne dieser Urteile dann Wissen darstellt, wenn es aufgrund eines verlässlichen, normalen Prozesses gebildet wurde, unabhängig davon ob wir in der Lage sind festzustellen, dass es auf einem solchen Prozess beruht. Oder ob wir zumindest Gründe für die allgemeine Annahme angeben können, dass es überhaupt verlässliche Prozesse gibt und dass unsere Vermögen so beschaffen sind, dass sie normalerweise auf verlässliche Weise funktionieren. Gassendis Reaktion auf das Szenario des Täuschergottes, Descartes’ radikalstes skeptisches Szenario, kann helfen, diese Frage zu beantworten. Zunächst schreibt Descartes: „Woher weiß ich aber, dass [Gott] nicht veranlasst hat, dass es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort gibt – und all dies mir trotzdem genau so wie jetzt zu existieren scheint? Urteile ich doch auch, dass andere Leute sich zuweilen in Bezug auf das irren, was sie vollkommen zu wissen meinen; ebenso kann ich selbst mich doch immer dann täuschen, wenn ich zwei und drei miteinander addiere, oder die Seiten eines Quadrats zähle, oder in irgendetwas anderem noch leichterem, falls man sich so etwas überhaupt konstruieren kann.“ (AT VII 21, Übersetzung Wohler)
In diesem Szenario wird also sowohl die Existenz der materiellen Welt in Frage gestellt, als auch die Wahrheit allgemeiner Prinzipien wie die der Mathematik. Unabhängig davon, ob Descartes tatsächlich die Wahrheit dieser Überzeugungen bezweifeln wollte, stellt dieses Szenario Gassendis Annahme in Frage, dass unsere Sinne und unser Verstand uns jemals verlässlich Urteile bilden lassen. Da Gassendi aus empirischen auf theoretische Urteile schließen und auf diese Weise seine atomistische Theorie plausibel machen möchte, wirft dieses Szenario die Frage auf, für wie wahrscheinlich der Atomismus unter diesen Umständen gehalten werden kann. Die Möglichkeit eines solchen grundlegenden, absoluten Zweifels stellt für Gassendi also insofern ein Problem dar, als sie die Wahrscheinlichkeit seiner theoretischen Annahmen reduziert. Wenn keinerlei internalistische Begründung dafür angegeben werden kann, warum wir uns auf die Sinne und den Verstand grundsätzlich verlassen können, schwächt dies auch die Schlüsse, die wir aus empirischen Urteilen ziehen. Wieso also können wir annehmen, dass Descartes’ Szenario nicht zutrifft? In den Einwänden gegen die Meditationen argumentiert Gassendi gegen diesen radikalen Zweifel folgendermaßen: „Du scheinst sodann nicht nur in Zweifel zu ziehen, ob einige Ideen von den äußeren Dingen herrühren, sondern auch, ob es überhaupt äußere Dinge gibt. Du scheinst somit folgenden Schluss zu ziehen: Obwohl in dir Ideen von sogenannten äußeren Dingen vorhanden seien, würden diese Ideen nicht beweisen, dass es diese Dinge gebe, da sie nicht von ihnen herrühren
50 Detel 2002, 272: „Gassendi [...] takes into account an externalist strategy that points to, and analyzes, reliable causal (physiological and psychological) belief forming processes.“
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müssten, sondern von dir oder auf irgendeine andere Weise zustande kommen könnten [...] Wenn du also nicht glaubst, dass die Erde, der Himmel, die Sterne usw. existieren, dann frage ich: Warum läufst du auf der Erde oder bewegst du deinen Körper, um auf die Sonne zu schauen? Warum näherst du dich dem Feuer an, um die Wärme zu spüren? Warum dem Tisch oder einem Mahl, um den Hunger zu stillen? Warum bewegst du die Zunge zum Sprechen oder die Hand, um mir dies zu schreiben? Man kann freilich so etwas sagen oder sich so etwas auf subtile Weise ausdenken. Das bringt aber die Sache keinen einzigen Schritt voran.“51 (AT VII 282/III.320a/b, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
In dieser Passage lassen sich meiner Meinung nach zwei Aspekte einer Begründung von Gassendis Annahme finden, ein psychologistischer und ein pragmatischer. Einerseits klingt dies nach einem psychologistischen Argument: Es gibt einen psychologischen Zwang, bestimmte Dinge zu glauben – wir können nicht anders, als zu bestimmten Eindrücken eine bestimmte propositionale Einstellung anzunehmen. Weder ist es laut dieses Arguments möglich, bestimmte einzelne Eindrücke für inkorrekt zu halten (z.B. dass Essen gegen Hunger hilft), es ist auch nicht möglich, alle Eindrücke auf einmal als inkorrekt zurückzuweisen. Descartes’ kann sich also zwar „ausdenken“ (ebd.), aber selbst nicht glauben, dass keine materiellen Gegenstände existieren. Wir können diesem Argument zufolge nicht anders, als unsere Art, Urteile zu fällen, für verlässlich zu halten. In diesem Sinn also scheint Gassendi empirische Urteile für begründet zu halten, dass wir gezwungen sind, zu den meisten unserer Eindrücke ein zustimmendes Urteil zu fällen. Auch Epikur scheint Gassendi eine solche psychologistische Sichtweise zuzuschreiben, denn seiner Epikur-Interpretation zufolge gibt es evidente Wahrnehmungen, das heißt solche, bei denen wir nicht anders können, als sie für korrekt zu halten und zuzustimmen. Es scheint also, dass Gassendi sich in der Frage nach Rechtfertigung Epikur anschließt, was im Licht seiner generellen Zustimmung zu epikureischen Positionen auch überzeugt. Gassendis Argument gegen den globalen Außenweltskeptizismus wäre dann, dass wir diese Position als unbegründet zurückweisen können, weil es psychologisch nicht möglich ist, eine solche Einstellung konsequent einzuhalten. Selbst der globale Skeptiker kann nicht anders als zu essen, wenn er hungert.52 Für sich genommen ist diese Behauptung als Strategie zur Rechtfertigung aber problematisch. Denn selbst wenn man einen solchen psychologischen Zwang an51 „Videris postea vertere in dubium, non tantum utrum Idea alique procedant ex rebus externis, sed etiam utrum omnino sint externae res alique: viderisque proinde inferre, quamvis sint in te Ideae rerum, quae dicuntur externae, non tamen Ideas arguere, quod res sint, quoniam non ab ipsis necessario procedant: sed possint vel a te, vel modo alio nescio quo esse. [...] Itaque, si nondum credis Terram, Caelum, Sidera, et caetere esse; cur quaeso supra terram ambulas, promovesve corpus, ut respectes Solem? Cur ducis ad ignem, ut calorem sentias? Cur ad mensam, aut cibum, ut famen exsaties? Cur moves linguam, ut loquaris, aut manum, ut haec ad nos scribas? Certe ista quidem aut dici, aut excogitari subtiliter possunt; at negotium nihil promovent [...]“ (AT VII 282/III.320a/b) 52 Wie die Stoiker (vgl. oben, S.31ff) führt Gassendi damit Eindrücke ein, bei denen wir die Zustimmung nicht verweigern können, stellt dies aber als eine epikureische Position dar. Im Gegensatz zu den stoischen erfassenden Eindrücken kann dieser Zwang allerdings bloß die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit des Urteils begründen, nicht seine Gewissheit.
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
nimmt, scheint die Tatsache, dass er bezüglich bestimmter Überzeugungen besteht, völlig unabhängig von der Frage zu sein, ob diese Überzeugungen auch wahr sind. Dies zeigt sich daran, dass Descartes selbst dieser Behauptung zustimmten könnte, ohne dass er dadurch sein eigenes Argument in irgendeiner Art und Weise untergrübe. Denn die Behauptung, dass alle unsere Überzeugungen falsch sind, wird durch einen psychologischen Zwang, bestimmte propositionale Einstellungen einzunehmen, nicht unwahrscheinlicher. Damit erreicht der psychologische Zwang im eigentlichen Sinn keine Rechtfertigung, denn er macht es nicht wahrscheinlich, dass ein Urteil wahr ist, und liefert damit keinen Grund, es für wahr zu halten. Eine solche Strategie kann also lediglich zeigen, dass ein globaler Skeptizismus nicht durchgehalten werden kann, sie kann aber nicht aufweisen, inwiefern er nicht doch eine systematisch überzeugende Position ist und durchgehalten werden sollte. Damit liefert sie auch keine Grundlage für Gassendis Schlüsse aus unserer empirischen Erfahrung. Doch in der Diskussion der epikureischen Erkenntnistheorie hatten wir gesehen, dass die eben beschriebene „psychologische“ Evidenz von Sinneseindrücken nicht die einzige Grundlage für sinnliche Urteile ist. Die epikureische Strategie zur Rechtfertigung sinnlicher Urteile besteht vielmehr in dem Versuch, bestimmte Urteile durch sinnliche Belege wahrscheinlicher zu machen, d.h. indem auf die Tatsache verwiesen wird, dass bestimmte Sinneseindrücke aufgetreten sind. Und insofern sinnliche Eindrücke solche Belege für empirische Urteile liefern, werden die Sinne bei Epikur als evident und als Kriterien der Wahrheit angesehen.53 In seiner eigenen Darstellung der epikureischen Position in dieser Frage deutet Gassendi allerdings an, dass er nicht nur die Sinne als Kriterien der Wahrheit ansieht, sondern dass es noch weitere Kriterien gibt. Er schreibt, „[...] dass der Sinn das erste der Kriterien ist, auf das man sich von weiteren aus berufen kann; von ihm aus auf ein anderes aber nicht“ (I.53b, Hervorhebung von mir). 54 Die Sinne sind diesem Zitat folgend zwar das grundlegende Kriterium, auf dem alle weiteren beruhen. Sie sind aber nicht das einzige, sondern es gibt noch mindestens ein weiteres Kriterium der Wahrheit. Da die Vernunft (ratio) die Urteile fällt, die auf den Wahrnehmungen beruhen,55 betrachtet Gassendi offenbar auch die Vernunft bzw. den Verstand als Kriterium der Wahrheit bei Epikur. Dies stimmt mit seiner Einstellung bezüglich Kriterien der Wahrheit im Fall von theoretischen Urteilen überein – auch hier wurden, wie gesehen, die Sinne und der Verstand als Kriterien identifiziert. Und obwohl Gassendi diese Kriterien im Fall empirischer Urteile explizit nicht als internalistische Rechtfertigung heranzieht, ist ihr Funktionieren dennoch die Grundlage dafür, dass unsere Urteile ge53 Epikur geht es dabei eindeutig um die hier relevante Frage nach dem Schluss von Eindrücken auf die äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände, da er wie oben dargestellt für theoretische Urteile ein anderes Kriterium angibt – das gleiche wie Gassendi. 54 „[...] quod sensus sit Criteriorum primum, ad quod possit quidem provocari a caeteris; ab ipso autem ad aliud non possit.“ (I.53b) 55 „[...] da die Verrichtung der Vernunft, oder die Schlussfolgerung aus Vorangehendem von den Sinnen abhängt.“, „[...] quia Rationis functio, seu ratiocinatio a praeviis pendeat sensibus.“ (I.53b)
5.2 Rechtfertigung und skeptische Szenarien
157
rechtfertigt sind. Die Tatsache, dass wir zu bestimmten Urteilen in gewisser Hinsicht gezwungen sind, kommt damit wohl nicht nur durch das Auftreten bestimmter Eindrücke zustande, sondern durch das Zusammenspiel zwischen sinnlichen Eindrücken und Verstandesaktivität.56 Wie genau hat man sich dieses Zusammenspiel vorzustellen? Und kann diese Interpretation Gassendis Position gegenüber Descartes stärken? Das Zusammenspiel zwischen Sinnen und Verstand bei der Bildung empirischer Urteile kann man sich folgendermaßen vorstellen: Die Tatsache, dass ein Gegenstand auf bestimmte Weise erscheint, stellt in diesem Szenario die Grundlage für das Fällen eines bestimmten Urteils dar. Doch Wahrnehmung und Urteil können auf verschiedene Art zusammenhängen. Das Urteil kann ein der Erscheinung entsprechendes sein, oder es kann ein der Erscheinung widersprechendes sein. Zum Beispiel kann eine Wahrnehmung eines Hauses und eines Baumes auftreten, sodass der Baum größer erscheint als das Haus. Aufgrund einer solchen Wahrnehmung kann ich das Urteil fällen: „Der Baum ist größer als das Haus.“ Nach einer Rechtfertigung für mein Urteil gefragt, kann ich nach dieser Auffassung antworten: „Der Baum sah größer aus als das Haus.“ In diesem Fall rechtfertigt also die sinnliche Erscheinung direkt das Urteil, und steht mir nur diese eine Wahrnehmung als Rechtfertigung zur Verfügung, scheint dieses Urteil das einzig mögliche. Ziehe ich noch andere, frühere Erscheinungen zur Begründung eines Urteils hinzu, ist es mit dem oben skizzierten epikureischen Modell möglich, dass ich aufgrund einer Wahrnehmung, in der der Baum größer aussieht als das Haus, das Urteil fälle: „Das Haus ist größer als der Baum.“ Dann nämlich, wenn in derartigen Umständen (das heißt, aus ähnlicher Perspektive) schon häufig Wahrnehmungen aufgetreten sind, in denen das Haus größer aussah als der Baum. In diesem Fall kann das Urteil nicht allein durch die eine Wahrnehmung begründet werden, sondern eine Rechtfertigung wird Bezug auf andere mögliche und schon aufgetretene Wahrnehmungen nehmen, zum Beispiel „Von hier aus sieht der Baum größer aus als das Haus, aber von vorne sieht das Haus größer aus.“ In diesem Szenario wird deutlich, wie auch im Fall einer inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Wahrnehmung und Urteil nicht nur die eine Wahrnehmung die Grundlage für ein Urteil bildet, sondern implizit noch andere mögliche oder bereits aufgetretene Wahrnehmungen, und die Einschätzungen dieser Wahrnehmungen durch den Verstand im Vergleich miteinander.57 Sowohl im Fall eines Urteils, das mit der Erscheinung übereinstimmt, als auch in dem Fall eines der Erscheinung widersprechenden Urteils brauchen wir also zunächst sinnliche Eindrücke. Damit ein Urteil möglich wird, muss aber auch zwischen verschiedenen Erscheinungen verglichen und es müssen frühere und mögliche Erscheinungen (auch anderer Sinne) mit in Betracht gezogen werden. Schließ56 Vgl. Detel 1974, 184ff, der ausführlich argumentiert, dass der Verstand die Sinne korrigiert. 57 Siehe auch Fisher 2005, 68ff. Fisher zieht jedoch den Schluss, dass eigentlich die Sinne das einzige Kriterium für die Beurteilung empirischer Wahrheiten sind, sodass sich auch sein Reliabilismus auf das verlässliche Funktionieren der Sinneswahrnehmung beschränkt (vgl. Fisher 74). Diese Auffassung beruht auf Fishers starker Interpretation der Wahrheit im Sinn von Existenz.
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
lich wird aufgrund dieser Vorgänge ein Urteil gefällt. Weder ein solcher Vergleich, noch der Schluss auf den Gegenstand kann nun von den Sinnen geleistet werden, die ja rein passiv sind. Diese Aufgaben muss also der Intellekt übernehmen, der damit auch als Kriterium der Wahrheit angesehen werden muss. Anders als es bei der Diskussion der epikureischen Position schien, reichen also die Sinne allein als Kriterium für sinnliche Urteile nicht aus. Der Intellekt ist dafür zuständig, dass der Vergleich zwischen einzelnen Erscheinungen erfolgt und ein Urteil gefällt wird.58 Die Evidenz eines bestimmten Eindrucks bzw. die Tatsache, dass wir zu einem bestimmten Urteil gezwungen zu sein scheinen, muss damit nicht als einfache psychologische Tatsache aufgefasst werden, sondern kann durch die gesamte empirische Erfahrung des Subjekts erklärt werden. In dieser Theorie werden also einzelne Urteile durch ein System von weiteren Urteilen begründet. Insofern ändert sich durch mehr Sinneserfahrung auch, welche Wahrnehmungen als evident erlebt werden. Einen psychologischen Zwang, bestimmte Urteile in bestimmten Wahrnehmungssituationen zu fällen, gibt es wahrscheinlich immer. Mit genug Sinneserfahrung werden jedoch solche Wahrnehmungen evident, bei denen „alle Hindernisse zum Urteilen (wie Entfernung, Bewegung, [...] und ähnliches) entfernt wurden“59 (I.54a, Übersetzung Seidl), wie Gassendi ausführt. Des Weiteren ist offensichtlich, dass diese Strategie den absoluten Zweifel nicht widerlegen kann. Denn egal, wie viele Erscheinungen ein bestimmtes Urteil begründen, die Möglichkeit, dass ich mich grundsätzlich täusche, besteht immer. Dennoch scheint diese Strategie ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit für die Behauptung zu liefern, dass unsere Sinne und unser Verstand generell verlässlich sind. Denn idealerweise wird jedes Urteil durch das gesamte System an Erscheinungen und Urteilen des Subjektes unterstützt. Dennoch bleibt auch diese Argumentation auf den ersten Blick unbefriedigend, da der Grad an Wahrscheinlichkeit, der für die Wahrheit unserer Urteile durch diese Rechtfertigung erreicht wird, zu gering ist, um das Szenario des bösen Dämons zurückzuweisen. Man kann also zugeben, dass unsere Überzeugungen zu einem gewissen Grad wahrscheinlich wahr sind, dass sie aber zumindest nicht eindeutig wahrscheinlicher wahr sind als die Aussage, dass alle unsere sinnlichen Urteile falsch sind. Allerdings lässt sich diese Strategie meiner Meinung nach durch den zweiten erwähnten argumentatorischen Aspekt aus Gassendis Einwand gegen Descartes unterstützen – das pragmatische. Durch diesen Aspekt wird zwar möglicherweise kein Grund angegeben, den absoluten Zweifel zurückzuweisen, es zeigt aber zumindest, dass es ebenso wenig Grund gibt, ihn für wahr zu halten. Dieses Element zeigt sich dann, wenn man beachtet, dass Gassendis Fragen nicht nur darauf abzielen, dass Descartes sich auf bestimmte Weise verhält und offensichtlich nicht anders kann, sondern auch warum er das tut. Die Fragen können demnach auch auf folgende Art 58 Vgl. Detel 2002, 270. 59 „[...] remotis omnibus ad iudicandum obstaculis (ut esse possunt distantia, motus, [...] ac id genus aliis) [...]“ (I.54a)
5.2 Rechtfertigung und skeptische Szenarien
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und Weise beantwortet werden: Descartes geht zum Feuer, um sich zu wärmen – weil ihm am Feuer warm wird. Wir essen, wenn wir hungrig sind – weil wir satt werden. Und wir sprechen mit anderen Menschen – weil diese auf adäquate Weise reagieren. Wir stellen also fest, dass wir mit unseren sinnlichen Urteilen im Großen und Ganzen Erfolg haben. Diese Urteile funktionieren. Sie werden durch weitere Eindrücke unseres eigenen Körpers oder anderer Personen bestätigt. Dieses pragmatische Element unterstützt die oben ausgeführte Strategie zur Rechtfertigung durch die Sinne und den Verstand auf folgende Weise. Wir hatten festgestellt, dass wir von einzelnen Urteilen zu einem System von Urteilen übergehen, und sich im Zuge dieses Prozesses ändert, welche Wahrnehmungen als evident erlebt werden. Dies können wir nur deshalb, weil wir aufgrund unserer Erfahrung feststellen, dass bestimmte Urteile funktionieren, das heißt den gewünschten Effekt haben, andere aber nicht. Das Kriterium dafür, auf welche Urteile wir uns verlassen können, und auf welche nicht, ist dann gerade die Tatsache, mit welchen Urteilen wir erfolgreich sind und mit welchen nicht. Und im Großen und Ganzen, so Gassendi, sind wir mit unseren empirischen Urteilen erfolgreich. Wir können also davon ausgehen, dass die Prozesse, durch die diese Urteile zustande kommen, verlässlich sind. Man kann also Gassendi nicht nur einen psychologistischen, sondern auch einen pragmatischen Ansatz in der Rechtfertigung der generellen Verlässlichkeit sinnlicher Urteile zuschreiben.60 Er weist einen absoluten Zweifel zurück, da wir erstens nicht in der Lage sind, eine solche Annahme für wahr zu halten; zweitens gibt es keinen Grund anzunehmen, dass alles, was wir glauben, falsch ist, da wir mit dem, was wir glauben, (im Großen und Ganzen) gut zurechtkommen. Nicht nur sind wir also zu einem gewissen Grad gezwungen, die Urteile zu fällen, die wir fällen – wir sind auch in der Lage, aufgrund dieser Urteile zu überleben, mit anderen Wesen zu kommunizieren usw. Das psychologistische Element wird also laut dieser Interpretation durch das pragmatische ergänzt. Dabei sagt der psychologische Zwang allein nichts über die Wahrheit meiner Überzeugung aus; die Tatsache, dass diese Überzeugung funktioniert, hingegen schon. Die Frage, ob eine Überzeugung erfolgreich ist bzw. funktioniert, kann dabei allerdings allein unter Rekurs auf Eindrücke des Erkenntnissubjekts beantwortet werden. Dafür muss nicht vorausgesetzt werden, dass es materielle Gegenstände oder Personen gibt. So bin ich zum Beispiel unter gewissen Umständen gezwungen anzunehmen, dass tatsächlich eine andere Person vor mir steht, wenn mir dies so 60 Vgl. Seidl 2010, 46f. Ich stimme damit nicht mit Detel 1974 überein, der der Auffassung ist, dass aus der Tatsache, dass „für alle Erscheinungen, insbesondere auch für Sinnestäuschungen, physikalische Gründe bestehen und damit theoretische Erklärungen möglich sind“ (Detel 1974, 185) folgt, dass „das Vorliegen von Beobachtungshindernissen [...] nur theoretisch beurteilt werden“ (ebd.) kann. Es gibt für jede Erscheinung eine theoretische, nämlich atomistische Erklärung; wir haben aber in der Tatsache ihres Funktionierens oder Nicht-Funktionierens eine Grundlage, Urteile über die wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände zu überprüfen, ohne auf diese theoretische Erklärung zurückgreifen zu müssen. Und obwohl der Verstand beim Überprüfen dieser Urteile eine Rolle spielt, werden diese Urteile dennoch immer durch andere sinnliche Eindrücke überprüft.
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
erscheint. Erfolgreich ist diese Überzeugung dann, wenn auf Handlungen meinerseits Eindrücke folgen, die meinen Erwartungen (die ich aufgrund meiner Überzeugung gebildet habe) entsprechen. Habe ich also einen Eindruck, nach dem es scheint, dass die Person mit etwas gibt, worum ich sie (meinen Eindrücken nach) gebeten habe, kann die Überzeugung als eine funktionierende angesehen werden. Gerechtfertigt ist diese Überzeugung allerdings dann, wenn sie tatsächlich auf einem verlässlichen Prozess beruht. Diese Strategie kann natürlich ebenfalls keine Gewissheit von Überzeugungen gewährleisten; doch dies fordert Gassendi auch nicht. Denn selbst wenn alle meine Überzeugungen in dem beschriebenen Sinn funktionierten – abgesehen von der Überzeugung, dass ich bestimmte Eindrücke habe – wäre es dennoch möglich, dass keine dieser Überzeugungen wahr ist, das heißt ihrem Gegenstand entspricht. Die Möglichkeit des Zweifels lässt Gassendi also wie angekündigt zu. Er gewinnt aber durch die pragmatisch-psychologistische Sichtweise sowohl eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wir uns über die Beschaffenheit der Welt nicht grundsätzlich irren, als auch ein Argument dafür, dass wir nicht glauben müssen, dass wir uns grundsätzlich irren.61 In diesem Sinn geht Gassendi also davon aus, dass wir Wesen sind, die durch unsere Vermögen so ausgestattet sind, dass wir unter geeigneten Umständen wahre Überzeugungen über die Welt bilden können. Da unsere Überzeugungen funktionieren, können wir denken, „dass wir natürlicherweise zur Wahrheit fähig sind“ (AT VII 333/III.388b). Daher sind wir, solange unsere Vermögen zu Urteilsbildung normal funktionieren, in der Lage, wahre Überzeugungen zu bilden. Selbstverständlich schlägt dieses Zusammenspiel zwischen Eindrücken und beurteilendem Verstand gelegentlich fehl, sodass wir dennoch falsche Urteile fällen. Und selbstverständlich gibt es Menschen, deren Vermögen generell nicht so funktionieren, wie sie sollen, und die deshalb viele falsche Urteile fällen. Auf der Grundlage der Tatsache, dass wir uns wahrscheinlich nicht immer täuschen (bzw. uns wahrscheinlich sehr häufig nicht täuschen), können aber die Sinne und der Verstand bei einem gesunden Menschen diese Aufgabe erfüllen. Die Haltung Gassendis zu skeptischen Argumenten und zur Rechtfertigung von Urteilen aufgrund von sinnlichen Eindrücken von Gegenstände zeigt nun, warum er der Meinung war, dass diese Urteile unproblematischerweise gerechtfertigt sind – nämlich eben deshalb, weil sie doch offensichtlich funktionieren. Es gibt für Gassendi gar keinen Grund, grundsätzlich daran zu zweifeln, dass die Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen, daher übergeht er diese Frage in seiner Diskussion zu Kriterien der Wahrheit. Und es gibt für ihn auch keinen Grund, eine stärkere Begründung als diese zu fordern, wie es zum Beispiel Descartes tut. Damit wählt Gassendi
61 Fisher zufolge können wir allerdings Gewissheit in manchen empirischen Aussagen gewinnen, nämlich in solchen, die wir oben als evident beschrieben haben (Fisher 2005, 81). Es ist allerdings die Frage, inwiefern diese Gewissheit eine Grundlage für Rechtfertigung sein kann.
5.3 Atomismus
161
weniger einen typisch empiristischen Weg aus diesem Problem,62 sondern beruft sich auf eine naturalistische Voraussetzung, nämlich, dass unsere Überzeugungen und unsere geistigen Vermögen im Großen und Ganzen funktionieren und der Welt gut angepasst sind. Diese Argumentation scheint er allerdings als philosophisch nicht interessant betrachtet zu haben, sodass er sie im Zuge seiner Diskussion zur Rechtfertigung von Urteilen nicht vorstellt. Diese Reaktion Gassendis auf skeptische Probleme zeigt auch, dass er selbst kein Skeptiker war. Gassendi wird oft in die skeptische Tradition gestellt, und dies vor allem aus zwei Gründen. Erstens, weil er in den Exercitationes selbst skeptische Argumente anwendet, zweitens, weil er sich auf die Wahrscheinlichkeit unserer Urteile beschränkt und keine Gewissheit fordert. Tatsächlich versucht Gassendi in den Exercitationes Paradoxicae, das aristotelisch-scholastische Modell zu widerlegen, indem er den Standpunkt eines pyrrhonischen Skeptikers einnimmt. Wie Brundell argumentiert,63 ist dieser Standpunkt allerdings nicht darin begründet, dass Gassendi tatsächlich von der skeptischen Position überzeugt war. Vielmehr ist der Skeptizismus für ihn eine philosophische Strategie neben anderen, mit denen der Aristotelismus angegriffen werden soll. Diese Argumentation wird durch die hier dargestellte Reaktion Gassendis auf die Herausforderung, die skeptische Argumente für sein eigenes System darstellen, unterstützt. Wäre er tatsächlich von den pyrrhonischen Argumenten überzeugt, müsste seine Reaktion auf skeptische Szenarien anders ausfallen. Popkin dagegen bezeichnet Gassendi als „mitigated“ oder „constructive“64, d.h. als gemäßigten oder konstruktiven Skeptiker, da er wie erwähnt einen Mittelweg zwischen den Skeptikern und den Dogmatikern sucht. Dieser Mittelweg besteht nun darin, dass Gassendi keine Gewissheit, sondern nur Wahrscheinlichkeit anstrebt. Nach der hier dargestellten Einstellung Gassendis zum Skeptizismus scheint diese Sicht etwas übertrieben. Denn Gassendi sieht den Skeptizismus zwar als mögliche Position an und er ist sich offenbar auch bewusst, dass es keine Argumente gibt, die diese Position widerlegen; er bringt aber selbst keine skeptischen Argumente vor und zweifelt offenbar nicht daran, dass wir Wissen haben können. 5.3 ATOMISMUS So wird nun verständlich, wieso Gassendi der Auffassung ist, eine unproblematische Basis für Schlüsse aus den äußerlich wahrnehmbaren Gegenständen auf ihre uns nicht durch Wahrnehmung zugängliche Struktur zu haben. Mit der Argumentation gegen den Skeptizismus und für die Möglichkeit aus Zeichen auf verborgene Gegenstände zu schließen, verfolgt Gassendi das Ziel, den Atomismus argumentativ begründbar zu machen. Das heißt, er möchte zeigen, dass die Aussage, dass 62 Der zum Beispiel in einem Versuch münden könnte, unser Wissen aus Sinnesdaten aufzubauen. 63 Brundell 1987, 24f 64 Popkin 2003, 112 und120ff
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
materielle Gegenstände aus Atomen als kleinsten, unteilbaren Teilchen bestehen, philosophisch gerechtfertigt werden kann. Müsste er dagegen schon zu Beginn des Syntagma feststellen, dass uns nur die äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände zugänglich und keine Aussagen über verborgene Gegenstände möglich sind, wäre das Projekt, den Atomismus als wahrscheinliche Hypothese zu erweisen, gescheitert. Doch wenn man akzeptiert, dass man nicht gezwungen ist, die Erscheinungen zu bezweifeln, sodass davon ausgegangen werden kann, dass wir uns in empirischen Urteilen nicht grundsätzlich irren, dann scheinen Gassendis Argumente gegen die Anwendung skeptischer Argumente auf Urteile über verborgene Gegenstände nicht verfehlt. Setzt man eine bestimmte Basis als wahrscheinlich voraus, kann von dieser Basis auf bestimmte Erklärungen geschlossen werden. So kann Gassendi aufgrund seines pragmatischen Ansatzes zum Beispiel argumentieren, dass unsere Sinne und unser Verstand offenbar normalerweise zuverlässige Ergebnisse liefern und damit auch als Kriterien für Schlüsse auf verborgene Gegenstände geeignet sind. Auch Gassendis Erklärung, dass physikalische Erklärungen unterschiedliche Erscheinungen verständlich machen können, ist vor dem Hintergrund, dass wir uns nicht grundsätzlich über die Beschaffenheit der Welt täuschen, überzeugend. Wie aber argumentiert Gassendi für den Atomismus als überzeugende Hypothese zur Erklärung der wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände? In Gassendis Argumentation lassen sich verschiedene Schritte unterscheiden. Der erste Schritt besteht in der eben nachvollzogenen Einführung von theoretischen Urteilen als Hypothesen, die an den Erscheinungen überprüft werden, und ihrer Verteidigung gegen skeptische Angriffe. Der zweite Schritt besteht in einer epikureischen Deduktion des Atomismus aus Definitionen bestimmter Begriffe und einem Vergleich des Atomismus mit anderen Theorien. Dieser Teil der Argumentation findet sich in Buch III des ersten Abschnitts der Physik im Syntagma Philosophicum (ab I.229a). In Buch II dieses Abschnitts hatte Gassendi für Raum und Zeit als reale Entitäten argumentiert (I.179a), die dennoch nicht als Substanzen aufgefasst werden dürfen,65 und für die Existenz des leeren Raums (I.192ff).66 Zunächst unterscheidet Gassendi zwischen zwei Arten von Prinzipen, materialen und effizienten, die beide von der Physik zu untersuchen seien (I.229a/b), und definiert, was er jeweils als solche auffasst. Als materiales Prinzip (principium materiale, I.229a) sieht er das an, woraus etwas besteht (ex quo aliquid fit, I.229b), als effizientes/kausales Prinzip das, woher etwas kommt (a quo aliquid fit, I.229b). Eine physikalische Theorie soll also sowohl erklären, woraus die Dinge bestehen, als auch warum Dinge geschehen – Gassendi möchte darstellen, inwiefern der Atomismus dafür eine bessere Erklärung bietet als andere Theorien.
65 LoLordo 2006, 107 bezeichnet sie daher als Entitäten „sui generis“. 66 In der Diskussion für die Annahme des leeren Raums argumentiert Gassendi gegen die aristotelische Konzeption mit der empirischen Erklärungskraft seiner Theorie, vgl. Joy 1987, 184ff. Unter der Annahme eines leeren Raums kann zum Beispiel das Phänomen der Kompression besser erklärt werden als in einem Plenum (I.194a).
5.3 Atomismus
163
Zunächst beschäftigt sich Gassendi mit materialen Prinzipien und stellt verschiedene Erklärungsversuche dar. Er stipuliert, dass erste Prinzipien nicht ineinander umwandelbar sein können (I.229b) und als erste Elemente, das heißt echte Teile der materiellen Gegenstände aufgefasst werden müssen (I.230a). 67 Gassendi stellt verschiedene Erklärungsmodelle dar, in denen entweder ein oder mehrere verschiedene Elemente als grundlegend angenommen werden, bevor er den Atomismus in seiner antiken Form beschreibt. Er stellt fest, dass die anderen Erklärungen dem festgelegten Prinzipienbegriff widersprechen und daher abzulehnen sind, sodass der Atomismus als beste Erklärung übrigbleibt. Wie Detel argumentiert, ist diese Form der Einführung des Atomismus eine analytische Deduktion aus einem Begriff, nämlich dem des Prinzips.68 Gassendi argumentiert zur Einführung des Atomismus also nicht mit der Erklärungskraft der atomistischen Theorie, er versucht ihn nicht als Hypothese empirisch zu begründen, sondern leitet ihn aus bestimmten Begriffen ab. In seiner Beschreibung des Atomismus findet sich aber Gassendis Darstellung der Eigenschaften, die Atome seiner Auffassung nach haben, und die schließlich die Grundlage für eine empirische Begründung des Atomismus sein sollen. Denn die Eigenschaften der Atome müssen in der Lage sein, die beobachtbaren Phänomene zu erklären. Gassendi schließt aus seiner Diskussion verschiedener Darstellungen antiker atomistischer Theorien, dass Atomen überzeugenderweise drei Eigenschaften zugeschrieben werden können (I.267a): Größe (magnitudo), Form (figura) und Schwere bzw. Bewegung (gravitas, seu pondus, impetusve ad motum). Sie sind unteilbare, undurchdringliche Teilchen,69 die in verschiedenen Größen (I.268a) und Formen (I.268b) auftreten. Eine Eigenschaft, die aus der Annahme folgt, dass Atome undurchdringlich sind, ist, dass sie ihre Größe und Form nicht verändern können. Denn sie sind deshalb undurchdringlich, da sie keinerlei Vakuum enthalten, das mit einem Körper vermischt sein muss, damit etwas in einen Körper eindringen kann. Sie sind also in diesem Sinn absolut ausgefüllt, und an ihnen kann sich nichts bewegen (I.259b).70 Nun greift Gassendi, zum Beispiel in der Argumentation für verschiedene Formen der Atome, auf die erwähnte Methode des Analogieschlusses zurück, die einen Schluss aus Zeichen rechtfertigen soll. Obwohl wir Atome nicht wahrnehmen können, ist es doch möglich, die Annahme, dass Atome unterschiedlich groß und geformt sind, dadurch Analogie mit wahrnehmbaren Körpern und ihrer Erscheinung unter dem Mikroskop zu rechtfertigen. Die Betrachtung durch das Mikroskop kann zeigen, dass Gegenstände nicht die Struktur haben, die wir in ihnen wahrzunehmen meinen. So erscheinen uns zum Beispiel kleine Körner mit bloßem Auge alle gleich und ebenförmig. Betrachten wir sie aber unter dem Mikroskop, erkennen wir, dass sie alle unterschiedliche Formen haben (I.270a). Ebenso kann es 67 Vgl. Detel 1978, 95. 68 Vgl. Detel 1978, 96. 69 Z.B. I.256b: „[…] sed quod ita solida, et, ut ita dicam, dura, compactaque sit; ut divisioni, sectionive, et plagae nullum locum faciat; seu quod nulla vis in natura sit, quae dividere illam possit.“ 70 Vgl. LoLordo 2006, 139.
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
sich also mit Atomen verhalten. Und die Tatsache, dass alle wahrnehmbaren Gegenstände in gewisser Hinsicht unterschiedlich sind, macht es wahrscheinlich, dass sich dies im kleinsten Bereich, bei den Atomen, ebenso so verhält (I.270a). Gassendi legt hier großen Wert auf die Feststellung, dass Atome als Teil einer physikalischen Theorie nicht mit mathematischen Punkten gleichzusetzen sind. Atome sind physikalische Gegenstände mit einer bestimmten Größe, während mathematische Punkte definitionsgemäß keine Größe haben (I.267a).71 Daraus folgt auch, dass Ergebnisse der Mathematik nicht ohne weiteres auf die Physik bzw. zumindest auf Atome angewendet werden können (I.265b). Die Mathematiker ziehen aus ihren Axiomen Schlüsse, und diese Schlüsse sind, solange die Beweise richtig geführt werden, auch wahr. Sie sind aber nur wahr für die Mathematik, nicht notwendigerweise auch außerhalb (I.256a/b). Was ihre Schwere72 bzw. ihre Bewegungskraft betrifft, muss diese laut Gassendi von Gott stammen (I.281a). Die Annahme, dass Atome von sich aus Impetus haben, lehnt er aus religiösen Erwägungen ab. Diese Bewegungskraft ist die Erklärungsgrundlage für beobachtbare Bewegung und Veränderung in der Welt (ebd.). Gassendi zufolge ist jedes Atom von Gott mit einer gewissen Bewegungskraft ausgestattet. Diese ist „nichts anderes als die natürliche und innere Fähigkeit oder Kraft, durch die sich ein Atom durch sich selbst in Bewegung setzen und bewegen kann“ (I.273b).73 Gassendi spricht also von einer Fähigkeit, sich zu bewegen, die den Atomen von Gott verliehen wird. Es ist allerdings nicht eindeutig, ob dieser Impetus eine von Gott gegebene Anlage dazu ist, sich auf bestimmte Art und Weise zu bewegen, die als Potential in den Atomen vorhanden ist, sodass dieses Potential realisiert werden kann oder nicht; oder ob jedes Atom, einmal von Gott in Bewegung gesetzt, tatsächlich immer in Bewegung ist. Auf den ersten Blick überzeugender erscheint der erste Vorschlag, da sich dann auch beobachtbare Phänomene wie Bewegung und Stillstand durch die entsprechenden Bewegungen der Atome erklären ließen. Joy ist der Auffassung, dass Gassendis Argumentation darauf schließen lässt, dass er akzeptiert, dass Atome sich manchmal im Stillstand befinden.74 Ich halte dagegen LoLordos Argumentation für überzeugender, dass Gassendi eher auf die zweite Art zu lesen ist, sodass die Bewegungskraft der Atome immer aktualisiert wäre. 75 Denn andernfalls könnte die vis motrix nicht als Erklärung für Bewegung in der Welt dienen,
71 „Atomi preunde non puncta, sed tenuissima corpuscula sunt, praeditaque adeo tantula magnitudine, quae sit principium et quasi radix magnitudinis omnium coporum, quae in Unvierso visuntur, et exstant.“ (I.267a) 72 Wie LoLordo 2006, 142 anmerkt, übernimmt Gassendi hier die epikureische Rede von Schwere, obwohl dies seiner Theorie nicht angemessen ist. Im Atomismus Epikurs bestand atomare Bewegung nur in Bewegung nach unten und wurde daher durch Gewicht erklärt. Gassendi gibt diese Vorstellung auf, sodass sich Atome in alle Richtungen bewegen können. 73 „Restat iam tertia Atomis attributa proprietas Gravitas nimirum, seu Pondus; quod cum nihil sit aliud, quam naturalis, internaque facultas seu vis, qua se per seipsam ciere movereque potest Atomus [...]“ (I.273b) 74 Joy 1987, 177 75 LoLordo 2006, 149ff
5.3 Atomismus
165
sondern es würde vielmehr eine weitere Erklärung dafür benötigt, wann sie aktualisiert ist und wann nicht.76 Gassendi ist offenbar der Meinung, dass die Eigenschaften der Größe und der Form, die Atomen zukommen, Erklärungskraft besitzen, was die Eigenschaften wahrnehmbarer Gegenstände betrifft. So erwähnt er, dass die Fähigkeiten der Seele damit erklärt werden könnten, dass diese aus besonders kleinen Atomen besteht (I.268a/b), und dass Verdampfung mit der besonders glatten und runden Form der Atome erklärt werden kann (I.282a). Und er behauptet, die Tatsache, dass der Atomismus die überzeugendste Theorie sei, könnte nach seiner Darstellung verschiedener Theorien eingesehen werden (I.279b, Kapitel VIII, Videri posse Atomos pro Materiali Rerum Principio, primave Materia admitti). Er gibt aber auch zu, dass die Existenz der Atome noch nicht bewiesen und ihre Erklärungskraft, was beobachtbare Phänomene betrifft, noch nicht erwiesen ist (I.280b). Das Ziel ist, die wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände durch die Größe und Form der Atome zu erklären, und die Bewegung und Veränderung, die wir in der Welt erleben, durch ihren Impetus zur Bewegung. Dabei sieht Gassendi erstens anscheinend die Bewegungskraft als die Grundlage für alle Eigenschaften an, da er Veränderung als ihre Ursache ansieht (I.366a). Darüber hinaus erkennt er aber das Problem, die Eigenschaften, die wir an Gegenständen wahrnehmen – wie Geschmack (sapor), Farbe (color), Geruch (odor) etc. (I.66b) – aufgrund der intrinsischen Eigenschaften der Atome – Größe, Form, Gewicht – zu erklären. Um dies zu erreichen, führt er aufgrund der intrinsischen Eigenschaften sogenannte eventa, das heißt, akzidentelle Eigenschaften der Atome ein (I.366b). Als akzidentelle Eigenschaften identifiziert Gassendi ihre Anordnung (ordo) und ihre Stellung (situs) (I.367a), die durch einen Vergleich mit Buchstaben illustriert werden. Die Stellung der Atome ist dabei vergleichbar mit der Form von Buchstaben, in deren Fall die unterschiedliche Positionierung einer bestimmten Form unterschiedliche Buchstaben ergibt, zum Beispiel im Fall der Buchstaben b und d, N und Z (I.367a). In gleicher Weise wirken die Atome in unterschiedlichen Stellungen unterschiedlich auf die Sinne. Die Anordnung der Atome ist Gassendi zufolge mit der Anordnung von Buchstaben in Wörtern oder Buchstabenfolgen vergleichbar: Unterschiedliche Anordnungen der gleichen Buchstaben haben unterschiedliche Wörter zur Folge – zum Beispiel e und t als „et“ und „te“ (ebd.). Ebenso wirken Atome in unterschiedlicher Anordnung in unterschiedlicher Weise. Und da wir mit den uns zu Verfügung stehenden Buchstaben eine „unabzählbare Mannigfaltigkeit“ (varietate innumerabilem, I.367b) von Wörtern bilden können, ist es auch überzeugend anzunehmen, dass durch diese Variationen in Stellung und Anordnung die Atome die Eigenschaften hervorbringen, die wir wahrnehmen. Diese Argumentation liefert weniger einen Beweis für Gassendis atomistische Theorie, als dass sie aufweist, dass eine Erklärung der Eigenschaften wahrnehmbarer Körper durch die Theorie nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Ähnlich verhält es sich mit seiner Argumentation bezüglich der Erklärung von Bewegung wahrnehmbarer Gegenstände aufgrund von atomarer Bewegung. Gassendi ist der 76 LoLordo 2006, 150
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
Auffassung, dass die eine Bewegung durch die andere begründbar ist, er führt diese Begründung aber nur unzureichend aus.77 Vielmehr greift er ein weiteres Mal auf einen Analogieschluss zurück, um zu zeigen, dass eine Bewegung, die kontinuierlich aussieht, nicht tatsächlich kontinuierlich sein muss.78 Auch Gassendis Argumentation für die Erklärung anderer wahrnehmbarer Eigenschaften durch atomare Struktur sind dieser Art. Sie sollen hier am Beispiel seiner Beschreibung von Flüssigkeit (fluiditas) illustriert werden (I.402a–403b). Den Ausgangspunkt für Gassendis Diskussion der Flüssigkeit stellt die aristotelische Definition dar, nach der ein flüssiger Körper einer ist, der sich Grenzen anpasst, aber selbst im eigentlichen Sinn keine Grenzen hat. Gassendi merkt an, dass unter diese Definition nicht nur Flüssigkeiten, sondern auch Luft, Flammen, Dampf und Rauch fallen (I.402a), sodass seine atomistische Erklärung auch für diese gilt. Gassendis atomistische Erklärung der Eigenschaft, sich Grenzen anzupassen, ist die Feststellung, dass die Flüssigkeit eines Körpers durch nichts anderes zu entstehen scheint, als dass „die Atome oder Partikel, aus denen der flüssige Körper besteht, kleine Räume zwischen sich haben, und so voneinander getrennt sind[...]“ (I.402b, Übersetzung Seidl).79 Dies führt dazu, dass die Atome besonders beweglich sind. Diese Annahme wird durch einen Analogieschluss aus wahrnehmbaren Gegenständen begründet (I.402b). Anhand beobachtbarer Phänomene lässt sich feststellen, dass Gegenstände sich dann besonders gut äußeren Grenzen anpassen, wenn die einzelnen Teile nicht zusammenhängen und so verschiebbar sind, so zum Beispiel an einem Haufen Getreidekörner (in acervo granoru frumenti, I.402b), der sich in einem Gefäß verteilt. So wie sich die Körner verteilen, muss man sich also den Zusammenhang der Atome in einem flüssigen Körper vorstellen. Auf der Grundlage dieser Annahme können nun einige Eigenschaften flüssiger Körper erklärt werden. Aus der Behauptung, dass flüssige Körper aus Atomen bestehen, die nicht eng zusammenliegen, folgt, dass ein Körper in einem flüssigeren Aggregatszustand mehr Volumen haben muss als einer in einem weniger flüssigen. Diese Annahme wird durch das Volumen von Wasserdampf im Vergleich zu Wasser bestätigt (I.403a). Gassendis Argumentation für die atomistische Erklärung der wahrnehmbaren Eigenschaft der Flüssigkeit hat also folgende Komponenten: zunächst wird eine atomistische, theoretische Erklärung für diese Eigenschaft angegeben, die durch einen Analogieschluss von wahrnehmbaren Gegenständen auf die nichtwahrnehmbaren Atome gerechtfertigt wird. Daraufhin kann die Hypothese an beobachtbaren Phänomenen (auch in Zusammenhang mit atomistischen Erklärungen 77 Vgl. LoLordo 2006, 180ff, Detel 1978, 115f. 78 Vgl. Joy, 176f. Aufgrund dieser Argumentation ist Joy der Ansicht, dass Gassendi eine nichtkontinuierliche Bewegung der Atome akzeptiert. Andererseits ließe sich wohl auch argumentieren, dass einer Bewegung, die nicht-kontinuierlich aussieht, tatsächlich eine kontinuierliche zugrunde liegen kann. 79 „Fluiditas, seu liquiditas non aliunde oriri videtur, quam ex eo, quod Atomi, seu particulae, ex quibus corpus fluidum constat, spatiola intercepta habeant, et sic inter se dissociatae sint [...].“ (I.402b)
5.4 Zusammenfassung
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anderer Eigenschaften80) überprüft werden. Gassendi liefert aber in diesem Zusammenhang keine Gesetze und spezifischen Erklärungen dafür, welche atomaren Vorgänge bestimmte wahrnehmbare Eigenschaften zur Folge haben. Vielmehr bleibt die Beschreibung (schon aufgrund der Rechtfertigung durch den Analogieschluss) vage. Gassendis Argumentation für den Atomismus hat also zwei Stufen. In einer ersten Stufe versucht er, durch Analyse von Begriffen herzuleiten, dass der Atomismus die einzig plausible Theorie über die Beschaffenheit der Materie ist. In einem zweiten Schritt versucht er, wie in seiner Argumentation gegen den Skeptizismus angekündigt, durch Analogieschlüsse Aussagen über die Eigenschaften der Atome plausibel zu machen. Diese dienen weniger dazu zu beweisen, dass Atome diese Eigenschaften tatsächlich haben, als aufzuzeigen, dass unsere Erfahrung nicht dagegen spricht, dass sie sie haben. 5.4 ZUSAMMENFASSUNG Im Zusammenhang mit der Analyse von Gassendis Wahrheitsbegriff hatte sich herausgestellt, dass Propositionen nicht in dem Sinn wahr sein können, wie Gassendi behauptet. Denn aufgrund unserer Rekonstruktion von Gassendis nominalistischer Theorie der Begriffsbildung können den Gegenständen nicht tatsächlich allgemeine Eigenschaften zukommen, wie es eine Korrespondenztheorie der Wahrheit fordert. Insofern musste Gassendis Aussage so analysiert werden, dass ein sinnliches Urteil dann wahr ist, wenn es dem Gegenstand eine Eigenschaft zuschreibt, aufgrund derer der Gegenstand unter normalen Umständen den meisten Wahrnehmungssubjekten einer bestimmten Gruppe von Standardgegenständen in bestimmter Hinsicht zu ähneln scheint. Mit dieser Analyse werden empirische Urteile in einem korrespondenztheoretischen Sinn wahr oder falsch – entweder, dem Gegenstand kommt eine solche Eigenschaft zu, oder nicht. Die Rechtfertigung für ein solches Urteil scheint für Gassendi unproblematisch zu sein: Im Großen und Ganzen haben wir mit unseren empirischen Urteilen Erfolg, insofern gibt es keinen Grund zu bezweifeln, dass die Gegenstände tatsächlich diese Eigenschaften haben. Außerdem kann diese pragmatische Strategie zur Rechtfertigung aber auch mit seiner Theorie der Begriffsbildung in Verbindung gebracht werden: Selbst wenn wir die Gegenstände unter Begriffe bringen, die wir aufgrund von bloß scheinbaren Ähnlichkeiten gebildet haben, ermöglicht uns diese willkürliche Klassifikation unser Überleben – insofern sind wir auch in der Art, wie wir empirische Begriffe bilden, gerechtfertigt. Eine Garantie für einen korrekt gebildeten oder angewendeten Begriff liefert diese Strategie der Rechtfertigung allerdings nicht.
80 Vgl. Detel 1978, 111. Durch eine solche Verbindung der einzelnen theoretischen Erklärungen erhöht sich selbstverständlich ihre Plausibilität enorm.
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5 Rechtfertigung, Skeptizismus und Atomismus
Insofern ist schon unser Wissen auf der empirischen Ebene nur wahrscheinlich. Es ist aber die Grundlage für weitere Aussagen, nämlich über Gegenstände oder Eigenschaften von Gegenständen, die wir nicht wahrnehmen können – theoretische oder wissenschaftliche Urteile wie die Aussage, dass Atomen eine bestimmte Größe intrinsisch ist, oder dass „die Sonne einhundertsechzig Mal so groß ist wie die Erde“ (II.440b). Soll deren Wahrheit parallel zu der von empirischen Urteilen aufgefasst werden, so muss auch in diesem Fall davon ausgegangen werden, dass dem Gegenstand die zugeschriebene Eigenschaft tatsächlich zukommt. Was aber ist das für eine Eigenschaft, die da zugeschrieben wird, wenn sie nicht aus einer assoziativ gebildeten Gruppe von Eindrücken abstrahiert wurde? Ein Vorschlag wäre, die Zuschreibung dieser Eigenschaften an der Zuschreibung durch mögliche Subjekte zu messen, denen die in Frage stehende Eigenschaft sinnlich zugänglich ist. Dies bedeutet aber auch, dass wir, da uns ein solcher Zugang nicht möglich ist, nur eine sehr verworrene (womöglich an unsere Sinneserfahrung angelehnte) Vorstellung dieser Eigenschaft haben. Insofern hängt der Status solcher Urteile davon ab, wie nah die zugeschriebene Eigenschaft an uns sinnlich wahrnehmbaren ist, und wie gut dementsprechend unser Zugang ist. Dennoch lässt sich feststellen, dass theoretische Urteile bei Gassendi in der Tat nur „konfus und per Analogie“ (III.321a) Wissen vermitteln.
6 EINE EMPIRISTISCHE PHILOSOPHIE DER MATHEMATIK Im Zuge der Rechtfertigung wissenschaftlicher Urteile konnte einerseits der Status der Anwendung theoretischer Vorstellungen in einem Urteil geklärt, andererseits Gassendis Argumentation für den Atomismus nachvollzogen werden. Da empirische Urteile erst die Grundlage für wissenschaftliche Urteile liefern, wurde auch der Status empirischer Urteile deutlich. Damit bleibt zum einen die Anwendung einer Art von Vorstellung noch ungeklärt, nämlich die abstrakter Vorstellungen: Welchen Status schreibt Gassendi Urteilen zu, die abstrakte Begriffe beinhalten? Zum anderen ist damit bisher nur ein Aspekt von Gassendis Metaphysik gerechtfertigt, nämlich der Atomismus. Eine Rechtfertigung für die Annahme, dass der menschliche Geist immateriell ist, wurde dagegen noch nicht geliefert. Zwischen diesen beiden Teilen von Gassendis Theorie, die noch zu erklären sind, scheint bei oberflächlicher Betrachtung eine einfache Verbindung zu bestehen. Denn Gassendi argumentiert für die Immaterialität des Geistes unter anderem mit der Tatsache, dass wir abstrakte Vorstellungen bilden, die keinen sinnlichen Gehalt haben. Bestimmte mathematische Vorstellungen werden von ihm als solche abstrakten Vorstellungen bezeichnet (I.264a). Insofern lohnt es sich, seine Philosophie der Mathematik näher zu betrachten, um dann beurteilen zu können, ob mathematische Vorstellungen tatsächlich einen Grund liefern, den Geist für immateriell zu halten. Darüber hinaus aber stellt die Mathematik eine besondere Herausforderung für eine empiristische Theorie wie die Gassendis dar. Wie wir sehen werden, besteht diese Herausforderung darin, bestimmte Intuitionen, die wir bezüglich mathematischer Aussagen haben, zu rechtfertigen bzw. zumindest zu erklären. Zunächst werden uns in diesem Zusammenhang einige systematische Erwägungen bezüglich der Philosophie der Mathematik beschäftigen. Diese Überlegungen liegen zu einem gewissen Grad außerhalb dessen, wie in der frühen Neuzeit über Mathematik nachgedacht wurde.1 Doch die ihnen zugrunde liegenden Intuitionen sind so grundlegend, dass diese Überlegungen erstens als Hintergrund für die Diskussion sinnvoll scheinen, dass zweitens eine Theorie, die an diesen Überlegungen scheitert, als grundsätzlich gescheitert angesehen werden muss, und dass sich drittens, auch wenn Gassendi diese Fragen nicht in einen systematischen Zusammenhang gebracht hat, dennoch in seinen Aussagen Antworten auf die im Folgenden aufgeworfenen Probleme finden lassen. Insofern scheint es nicht unredlich, Gassendis Theorie der Mathematik zu einem gewissen Grad an diesen modernen Überlegungen zu messen.
1
Wobei zum Beispiel Mancosu 1996 darstellt, dass gerade die Frage nach der Gewissheit, das heißt nach dem Status mathematischer Aussagen, im 17. Jahrhundert diskutiert wurde, vgl. Mancosu 1996, 8ff.
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6 Eine empiristische Philosophie der Mathematik
6.1 ANFORDERUNGEN AN EINE PHILOSOPHIE DER MATHEMATIK Die Philosophie der Mathematik arbeitet im Spannungsfeld von verschiedenen Anforderungen an eine philosophische Theorie der Mathematik. Diese Anforderungen betreffen ontologisch-metaphysische, epistemologische und praktische Fragen nach Mathematik und ihren Objekten. Abhängig davon, welche Antwort man auf eine Art von Frage gibt, ergeben sich Einschränkungen bezüglich möglicher Antworten auf die anderen Arten von Fragen. Bestimmte Einschränkungen ergeben sich allerdings auch aus unseren vorphilosophischen Intuitionen bezüglich mathematischer Aussagen. Denn diese erscheinen uns in gewissem Sinn anders als empirische Aussagen. Jemand, der verstanden hat, dass zwei plus drei fünf ergibt, wird dieser Aussage einen anderen Status zuschreiben als der Behauptung, dass Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat ist, oder der, dass dieser Tisch grün ist. Selbst wenn wir allen drei Aussagen mit Gassendi eine gewisse Übereinstimmung mit ihrem Gegenstand zuschrieben, selbst wenn wir sie also alle drei als wahr betrachteten: Der Tisch könnte neu gestrichen werden und in wenigen Augenblicken schon eine andere Farbe haben. Die Welt müsste nicht so strukturiert sein, dass die Relativitätstheorie wahr ist (auch wenn nicht vorstellbar ist, dass sie in wenigen Augenblicken ihre Struktur auf diese Weise ändert). Im Fall von empirischen Aussagen ist es also vorstellbar, dass sich die Umstände ändern, sodass sich auch unsere Bewertung der Aussagen ändert. Dies scheint auf mathematische Aussagen nicht zuzutreffen. Wir können uns keine Umstände vorstellen, unter denen die Aussage, dass 2 plus 3 5 ergibt, falsch wäre. Dies schließt die Anwendung dieser Aussage auf materielle Gegenstände mit ein: Es erscheint nicht möglich, dass drei Äpfel und zwei Äpfel zusammen nicht fünf Äpfel ergeben. Grundlegende mathematische Sätze dieser Art scheinen intuitiv also in allen vorstellbaren Welten zu gelten. Vielleicht ist eine Welt möglich, in der andere mathematische Gesetze gelten, doch allein diese Vorstellung erscheint absurd. Wie könnte es sein, dass 2+3 nicht 5, sondern 6 ergibt? Eine solche Welt liegt außerhalb unseres Fassungsvermögens. Mathematische Sätze, die wir als wahr erkannt haben, erscheinen uns also notwendigerweise zu gelten.2 Dies unterscheidet sie auf eine Art und Weise von (anderen) empirischen Aussagen wie „Dieser Tisch ist grün“. Diese Intuition findet sich zum Beispiel bei Descartes: „Ich würde nicht gewagt haben zu sagen, dass Gott keinen Berg ohne Tal erschaffen kann, oder dass eins und zwei nicht drei ergibt; sondern ich sage lediglich, dass er mich mit einem solchen Geist ausgestattet hat, dass es mir nicht möglich ist, mir einen Berg ohne Tal zu denken, oder eine Summe aus einem und zwei, die nicht drei ist, etc., und dass derartiges in meinem Denken einen Widerspruch beinhaltet“ (AT V 224, Übersetzung Seidl).3 Descartes stellt also fest, dass er nicht anders kann, als „Zwei 2 3
Vgl. Shapiro 2000, 21f. „[...] niquidem dicere ausim, Deum facere non posse ut mons sit sine valle, vel ut unum et duo non sint tria; sed tantum dico illum talem mentem mihi indidisse, ut a me concipi non possit
6.1 Anforderungen an eine Philosophie der Mathematik
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plus drei ist fünf“ für wahr zu halten – mathematische Aussagen sind für ihn notwendig wahr. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, bezüglich dessen sich mathematische von empirischen Aussagen zu unterscheiden scheinen. Denn um zu wissen, dass der Tisch grün und Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat ist, ist Erfahrung nötig. Um zu wissen, dass ein bestimmter Tisch grün ist, wird eine spezifische Erfahrung diesen Tisch betreffend benötigt. Um Wissen über die Geltung der Relativitätstheorie zu haben, brauchen wir Erfahrung bezüglich bestimmter physikalischer Vorgänge, Gesetze, und deren Geltung. Empirisches Wissen hat also zur Grundlage, dass wir mit der Welt in Kontakt stehen, und so Erfahrung darüber sammeln, wie die Welt beschaffen ist. Man könnte behaupten, dass empirische Erfahrung insofern auch Voraussetzung mathematischen Wissens ist, also dass wir mathematische Begriffe mit der Erfahrung entwickeln. Aus der Tatsache, dass wir im Zuge empirischer Erfahrung mathematische Erfahrung machen, folgt aber nicht, dass eine spezifische empirische Erfahrung notwendig ist, um einen bestimmten mathematischen Satz zu erkennen. Um zu wissen, dass 2 plus 3 5 ergibt, muss man 2 plus 3 ausrechnen. Da Zahlen aber abstrakt sind, scheint diese Rechnung unabhängig von physikalischen Gegenständen ausführbar zu sein. Diese Intuition mag philosophisch aufgeladen sein, doch intuitiv schließen wir mathematische Sätze nicht aus unserer Erfahrung der Welt.4 Vielmehr scheint es, dass wir, zumindest theoretisch, diese Sätze auch dann wissen könnten, hätten wir keine empirische Erfahrung. Dies unterscheidet sie von empirischen Sätzen. Auch diese Intuition lässt sich bei Descartes in den Mediationen festmachen. Denn nicht nur ergeben sich mathematische Sätze am Schluss der Untersuchung als unabhängig von der Erfahrung, an der Struktur von Descartes’ Zweifel zeigt sich, dass von vornherein zwischen empirischen und mathematischen Sätzen unterschieden wird. Denn zunächst bezweifelt Descartes die Urteile, die er aufgrund von Sinneseindrücken gefällt hat (AT VII 18ff), und in einem radikaleren Schritt auch die Urteile, wie mathematische, die ihm nicht von Sinneseindrücken abzuhängen scheinen (AT VII 20f).5 Intuitiv schreiben wir also mathematischem Wissen einen anderen Status zu als empirischem Wissen – wir halten es für notwendig wahr und a priori erkennbar. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, mit diesen Intuitionen umzugehen. Zum einen kann
4 5
mons sine valle, vel aggregatum ex uno et duobus quod non sint tria, etc., atque talia implicare contradictionem in meo conceptu.“ (AT V 224) Descartes erkennt hier diese Intuition an, schränkt aber gleichzeitig ein, dass Gott die Welt auch hätte anders erschaffen können. Vgl. Wilson 1978, 22ff, Perler 1996, 181, und zu der Frage, inwiefern Descartes Mathematik als notwendig auffasst Osler 1994. Vgl. Shapiro 2000, 22. „Deswegen schließen wir daraus wohl nicht ganz zu Unrecht, dass zwar die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Disziplinen zweifelhaft sind, die von der Betrachtung zusammengesetzter Dinge abhängen, dass jedoch die Arithmetik, die Geometrie und die anderen derartigen Disziplinen, die einige der einfachsten und allgemeinsten Dinge abhandeln, etwas Sicheres und Unzweifelhaftes enthalten, und zwar ganz gleichgültig, ob diese allgemeinsten Dinge in der dinglichen Natur nun vorkommen oder nicht.“ (AT VII 20f, Übersetzung Wohler)
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6 Eine empiristische Philosophie der Mathematik
man sie ernst nehmen und eine Rechtfertigung versuchen. Dabei muss erstens erklärt werden, inwiefern Mathematik als unabhängig von empirischer Erfahrung angesehen werden kann; zweitens muss eine Begründung dafür geliefert werden, dass mathematische Sätze notwendig wahr sind. Soll ein Satz aber notwendig wahr sein, muss es möglich sein, ihm einen Wahrheitswert zuzusprechen. Um die notwendige Wahrheit mathematischer Sätze zu untermauern, muss also erstens erklärt werden, inwiefern mathematische Sätze überhaupt als wahr angesehen werden können. Dann kann eine Begründung für die Notwendigkeit erfolgen. Allerdings ist es keineswegs zwingend, dass unsere Intuitionen richtig und zu rechtfertigen sind. Eine zweite Möglichkeit, mit unseren Intuitionen umzugehen, besteht also in der Argumentation, dass wir zwar diese Intuitionen haben, dass diese aber fehlgeleitet und mathematische Sätze tatsächlich von völlig anderer Art sind, als wir meinen. Damit eine solche Argumentation erfolgreich sein kann, muss erstens eine Theorie dafür angegeben werden, welchen Status mathematische Aussagen tatsächlich haben, und wie sie diesen erlangen. Zweitens muss eine solche Theorie auch erklären können, warum diese fehlgeleiteten Intuitionen auftreten. Obwohl unsere Intuitionen bezüglich Mathematik unter dieser Voraussetzung also nicht gerechtfertigt werden können, müssen sie dennoch erklärt werden. Welche Möglichkeiten man im Umgang mit unseren Intuitionen hat, hängt stark davon ab, welche Position man bezüglich des ontologischen Status mathematischer Objekte vertritt. Vertreter einer realistischen Theorie, die genuin mathematische Objekte als Entitäten annehmen, die vom menschlichen Geist unabhängig sind,6 sind in einer guten Position, um unsere Intuitionen zu rechtfertigen. Denn materielle Gegenstände scheinen als Kandidaten für solche Entitäten auszuscheiden. Zwar sind sie Geist-unabhängig (zumindest unter einer realistischen Lesart materieller Gegenstände), doch sie sind nicht genuin mathematische, sondern materielle Objekte. Damit werden Zahlen, Funktionen, Punkte und Geraden wie platonische Formen abstrakte, ewige und unveränderliche Entitäten. In einer solchen Theorie lässt sich dann rechtfertigen, dass Sätze über diese Entitäten erstens nicht aufgrund von Erfahrung der materiellen Welt getroffen werden und zweitens notwendigerweise und immer gelten. Die angenommene Abstraktheit mathematischer Entitäten liefert dabei die Begründung dafür, dass der Zugang zu diesen Entitäten als unabhängig von empirischer Erfahrung angesehen werden kann. Die Tatsache, dass diese Entitäten ewig und unveränderlich sind, erklärt den notwendigen Charakter mathematischer Aussagen. Auf den ersten Blick rechtfertigt eine solche platonische Theorie mathematischer Objekte also unsere Intuitionen bezüglich Mathematik. Allerdings sieht sie sich Problemen gegenüber, was den Zugang zu mathematischen Objekten und die Anwendbarkeit der Mathematik betrifft.7 Bezüglich der ersten Frage stellt sich die Problematik folgendermaßen dar: Mathematische Objekte werden gemäß der Theorie als andersartig als die Objekte unserer Sinneswahrnehmung aufgefasst. Diese Auffassung ist zentral für die Rechtfertigung der Apriorizität mathematischer Sät6 7
Vgl. Shapiro 2000, 25. Vgl. Colyvan 2012, 10.
6.1 Anforderungen an eine Philosophie der Mathematik
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ze, da Wissen von mathematischen Objekten eben nicht von der Sinneswahrnehmung abhängen darf. Somit kann der Zugang zu mathematischen Objekten nicht über Sinneswahrnehmung, sondern muss auf anderem Wege erklärt werden. Da wir uns aber keiner besonderen Art der Wahrnehmung abstrakter mathematischer Objekte bewusst sind, bleibt unklar, welcher Art unser Zugang zu diesen Objekten sein soll. Ein solcher Zugang muss dann postuliert, kann aber nicht erklärt werden. Die Anwendbarkeit der Mathematik nun ist eine Frage, die für jede philosophische Theorie der Mathematik eine Herausforderung darstellt. Denn einerseits ist die Anwendbarkeit mathematischer Sätze auf die empirische Wirklichkeit nicht zu leugnen. Wir zählen materielle Gegenstände, wir arbeiten mit mathematischen Formeln und ziehen daraus Schlussfolgerungen, die empirische Wirklichkeit betreffend. Ohne Mathematik könnten empirische Wissenschaften wie Physik und Chemie nicht in ihrer bestehenden Form betrieben werden. Mathematik ist also offenbar trotz ihres abstrakten Charakters in der Lage, uns Wissen über die Welt zu vermitteln. Andererseits gibt es, zumindest im Fall der Geometrie, auch eine Lücke zwischen dem, was mathematisch bewiesen wird, und dem Zustand der Welt. Es scheint, als nähere sich die empirische Wirklichkeit Ergebnissen der Geometrie nur an und könne den Grad der Exaktheit der Mathematik nicht erreichen.8 So können wir am mathematischen Dreieck Eigenschaften aller Dreiecke beweisen. Aber kein Dreieck in der materiellen Welt wird jemals so exakt konstruiert werden, dass ihm diese Eigenschaften tatsächlich zukommen. Eine befriedigende philosophische Theorie der Mathematik sollte nun in der Lage sein, diese beiden Aspekte zu berücksichtigen. Für eine platonische Theorie stellt sich diesbezüglich vor allem das Problem, den Zusammenhang zwischen mathematischen Gegenständen und materieller Welt zu erklären. Denn wenn mathematische Gegenstände abstrakte Entitäten sind und mathematische Aussagen damit von etwas handeln, das von der materiellen Welt kategorial verschieden ist – wieso sollten Tatsachen, die für mathematische Gegenstände gelten, etwas über die materielle Welt aussagen können? Realistische Theorien, die den mathematischen Bereich streng vom empirischen trennen, sind also in der Lage, unsere Intuitionen bezüglich Mathematik zu rechtfertigen, haben aufgrund dieser strengen Trennung aber Probleme, die Anwendbarkeit der Mathematik zu erklären.9 Lehnt man, aus welchen Gründen auch immer, eine realistische Theorie mathematischer Objekte ab, bleiben wie im Fall von Universalien zwei Möglichkeiten. Gibt es keine mathematischen Objekte als Geist-unabhängige, abstrakte Entitäten, gibt es entweder überhaupt keine mathematischen Objekte (diese Position entspricht einem strengen Nominalismus bezüglich Universalien), oder es gibt mathematische Objekte nur als Vorstellungen in unserem Geist (diese Position entspricht einem Konzeptualismus bezüglich Universalien). Einer konzeptualistischidealistischen Theorie zufolge gibt es also mathematische Objekte, diese sind aber 8 9
Auf andere Zweige der Mathematik scheint dies nicht zuzutreffen. Zwei Äpfel und drei Äpfel sind tatsächlich, und nicht nur annähernd fünf Äpfel. Siehe zum Beispiel Wiltholt 2004, wo dieses Problem entwickelt und versucht wird, eine Lösung im Rahmen einer realistischen Theorie zu entwickeln.
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nicht als Geist-unabhängig vorzustellen. Allerdings bleiben hier immer noch mehrere Möglichkeiten offen, welcher Art diese Vorstellungen sind, und welchen Status damit mathematisches Wissen hat. Eine transzendental-idealistische Konzeption wie die Kants hat andere Konsequenzen für den Status mathematischen Wissens als eine Theorie, der zufolge es zwar mathematische Begriffe gibt, diese aber aus der Erfahrung abstrahiert sind. Bei Kant entstehen mathematische Begriffe und Anschauungen aus dem Zusammenspiel zwischen den Formen der Anschauung und den Kategorien.10 Die Formen der Anschauung und die Kategorien sind aber Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, und damit notwendigerweise unabhängig von aller Erfahrung vorhanden (Kritik A42f/B59f, A76f/B102f). Damit ist auch ein Zusammenspiel zwischen Formen der Anschauung und Kategorien unabhängig von jeder Erfahrung möglich, und Mathematik im kantischen System apriori. Ihre Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass wir nur ein System von Formen der Anschauung und Kategorien haben und uns die Folgerungen aus diesem System damit notwendig erscheinen. Etwas außerhalb dieses Systems ist für uns nicht denkbar. Auch in einem transzendental-idealistischen System besteht also die Möglichkeit, unsere Intuitionen bezüglich Mathematik zu rechtfertigen. Darüber hinaus beinhaltet eine solche Theorie auch eine Erklärung für die Anwendbarkeit der Mathematik. Denn die Grundlagen der Mathematik sind gleichzeitig die Grundlagen von Gegenstandserfahrung. Die Mathematik ist selbst Teil unserer Art der Gegenstandserfahrung und wird dadurch auf die Gegenstände anwendbar.11 Unter dieser Voraussetzung wird allerdings unverständlich, warum Ergebnisse der reinen Geometrie nicht exakt auf die empirische Welt anwendbar sind. Werden in einer zweiten konzeptualistischen Variante mathematische Objekte als Begriffe aufgefasst, die zwar angeboren, aber nicht transzendental sind, folgt zwar die Apriorizität und notwendige Wahrheit der Mathematik; allerdings ist zu beachten, dass sich diese Wahrheit aufgrund des fehlenden Bezugs auf Geistunabhängige Objekte nur auf diese Begriffe bezieht. Mathematische Aussagen handeln einer solchen Theorie zufolge von Begriffen, die angeboren sind, aber keinen Bezug zu anderen Entitäten aufweisen. Damit sagen mathematische Aussagen nur etwas darüber aus, welcher Art diese Begriffe sind und wie sie zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Über diese Begriffe lassen sich also wahre und falsche Aussagen treffen, die Wahrheit dieser Aussagen ist damit auch auf diese Begriffe beschränkt. Werden mathematische Begriffe auf diese Weise als angebo-
10 Dies zeigt sich zum Beispiel im Schematismus, der die Anwendung der Kategorien auf Anschauungen erklärt. Hier wird die Zahl als ein Schema vorgestellt, das heißt ein Begriff, der eben diese Anwendung möglich macht: „Das reine Schema der Größe aber (quantitatis), als eines Begriffs des Verstandes, ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefasst.“ (Kritik A142/B182) 11 Ein transzendentaler Idealismus scheint also in der Lage, dadurch auf viele Fragen der Philosophie der Mathematik eine unseren Intuitionen entsprechende Antwort zu geben, dass vorher starke Annahmen über unsere Erkenntnisvermögen getroffen werden. Man muss aber nicht bereit sein, derart starke Annahmen zu treffen.
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ren, aber von der empirischen Erfahrung getrennt betrachtet, bleibt unerklärt, warum Mathematik uns Erkenntnis über die empirische Welt ermöglicht. Sieht man dagegen, in einer dritten konzeptualistischen Alternative, mathematische Objekte als Begriffe an, die nicht angeboren, sondern aus der Erfahrung abstrahiert sind, ergibt sich eine Erklärung für die Anwendbarkeit der Mathematik, die Apriorizität und Notwendigkeit der Mathematik muss jedoch zurückgewiesen werden. Dass uns mathematische Sätze etwas über die materielle Welt sagen können, ist innerhalb einer solchen Theorie nur natürlich. Denn als aus der Erfahrung abstrahiert, handeln mathematische Begriffe von materiellen Gegenständen. Allerdings muss erklärt werden, wieso Beweise an mathematischen Begriffen nur annähernd auf materielle Gegenstände zutreffen. Als aus der Sinneserfahrung abstrahiert, wird die Mathematik in einer solchen Theorie definitionsgemäß nicht apriori, sondern aposteriori. Auch ein notwendiger Charakter könnte ihr nur dann zugeschrieben werden, wenn die Sinneserfahrung selbst als notwendig erlebt würde – dies ist aber nicht der Fall. Die Herausforderung besteht daher darin, eine Erklärung dafür anzugeben, warum Mathematik als notwendig und apriori erlebt wird bzw. erscheint, obwohl sie es nicht ist. Welchen Status mathematisches Wissen erhält, ist also bei konzeptualistischen Theorien davon abhängig, wie mathematische Begriffe aufgefasst werden. Es ist aber auch möglich, mathematische Objekte grundsätzlich abzulehnen. Wenn wir Mathematik betreiben, hantieren wir nur mit Symbolen, denen keine Bedeutung zugeschrieben wird. Mit dieser Annahme kann die Mathematik weder apriori noch notwendig sein, denn sie wird nicht mehr als wahr oder falsch angesehen. Die Manipulation von mathematischen Symbolen ist dann ein Spiel, dem keine weitergehende Bedeutung zugeschrieben wird. Unter diesen Voraussetzungen ist allerdings unverständlich, wie ein solches Spiel uns Erkenntnis der materiellen Welt ermöglicht. Die Anforderungen an eine Philosophie der Mathematik betreffen also eine konsistente Theorie mathematischer Objekte, eine Erklärung für die Anwendbarkeit der Mathematik, und eine Rechtfertigung unserer Intuitionen bezüglich des Status’ mathematischen Wissens. Diese Fragen sind inhaltlich voneinander abhängig. Grundsätzlich ergibt sich eine Spannung aus der zumindest scheinbaren Apriorizität und Notwendigkeit der Mathematik einerseits und ihrer Anwendbarkeit andererseits. Je näher mathematische Objekte dabei an materielle Objekte gerückt werden, desto besser erklärt sich die Anwendbarkeit, während unsere Intuitionen sich als immer weniger rechtfertigbar erweisen. Umgekehrt lässt sich mit einer streng realistischen Ontologie die Anwendbarkeit nur schwer erklären, während unsere Intuitionen begründet werden. Eine Positionierung bezüglich einer bestimmten Frage bestimmt damit, welche Probleme gelöst werden müssen und welche Antworten bezüglich anderer Fragen noch offen stehen.
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6 Eine empiristische Philosophie der Mathematik
6.2 GASSENDIS THEORIE DER MATHEMATIK Wo ist nun Gassendi in diesem Feld möglicher Antworten zu verorten? Seinem Empirismus und Konzeptualismus bezüglich Universalien entsprechend muss er behaupten, dass die Mathematik aus der Erfahrung abstrahiert ist. Im Folgenden sollen Gassendis Positionen zu den angesprochenen Fragen nach mathematischen Objekten, nach der Anwendbarkeit der Mathematik und nach dem Status mathematischer Aussagen dargestellt werden. 6.2.1 Mathematische Begriffe Wenn die Mathematik als aus der Erfahrung abstrahiert angesehen wird, kann davon ausgegangen werden, dass Gassendi keinen Realismus bezüglich mathematischer Objekte vertritt. Dementsprechend behauptet Gassendi gegen Descartes: „Denn das geistige Dreieck ist gleichsam eine Regel, mit deren Hilfe du zu ermitteln suchst, ob etwas verdient, ein Dreieck genannt zu werden. Aber man darf nicht deshalb sagen, dass ein solches Dreieck etwas Reales und eine wirkliche Natur unabhängig vom Verstand ist, der allein, nach Maßgabe der gesehenen materiellen Dreiecke, diese Natur geformt und verallgemeinert hat, wie dies über die Natur des Menschen ausgeführt wurde. Daher soll man nicht denken, dass die Eigenschaften, die von den materiellen Dreiecken bewiesen wurden, diesen zukommen, weil sie jene vom idealen Dreieck entleihen: Vielmehr haben sie die Eigenschaften selbst in sich, und das Ideale hat sie nur insofern als der Verstand sie ihm zuschreibt, nachdem er die materiellen Dreiecke betrachtet hat, um sie darauf im Zuge des Beweises zurückzugeben. Auf dieselbe Weise sind die Eigenschaften der menschlichen Natur nicht in Plato und Sokrates wie wenn sie sie von der universellen Natur empfangen hätten; vielmehr hat die universelle Natur die Eigenschaften, weil der Verstand sie ihm zuschreibt, nachdem er sie in Platon, Sokrates und weiteren wahrgenommen hat; er wird sie ihnen zurückgeben, wenn es durch eine Schlussfolgerung zweckmäßig ist. Es ist nämlich bekannt, dass der Verstand aus den Erscheinungen von Plato, Sokrates und anderen, die alle rational sind, diese allgemeine Proposition zusammengestellt hat, dass jeder Mensch rational ist; und dass, wenn er schließlich beweisen will, dass Plato rational ist, er jene als Prämisse in einem Syllogismus anführt.“ 12 (III.375a, Übersetzung Borcherding/Rubini/Seidl)
12 „Nam triangulus quidem mentalis, est veluti regula qua explores an aliquid mereatur dici triangulum; at non est propterea dicendum talem triangulum esse reale quid, veramque naturam praeter intellectum; qui solus, visis triangulis materialibus, illam perinde ac dictum est de natura humana, formavit et communem fecit. Unde neque est existimandum proprietates demonstratas de triangulis materialibus, idcirco ipsis convenire quod illas mutuentur ab ideali triangulo: cum ipsi potius in se habeant, et idealis non habeat, nisi quatenus intellectus ex ipsis inspectis, easdem illi tribuit, redditurus postea inter demonstrandum. Eodem modo, qui proprietates naturae, humanae non sunt in Platone et Socrate quasi ipsi illas a natura universali acceperint; cum potius natura universalis ideo habeat, quod intellectus ipsi eas tribuit, postquam in Platone, Socrate et caeteris animadvertit, redditurus illis deinceps, cum ratiocinatione opus fuerit. Notum est enim intellectum ex visis Platone, Socrate et aliis omnibus rationalibus, collegisse hanc universalem propositionem, omnis homo est rationalis: ac deinde cum vult probare Platonem rationalem esse, illam pro principio in Syllogismum inducere.“ (III.375a)
6.2 Gassendis Theorie der Mathematik
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Wie zu erwarten war, setzt Gassendi mathematische Objekte in diesem Zitat mit Begriffen gleich.13 Es gibt mathematische Begriffe, nämlich Regeln zur Subsumtion, die bestimmen, ob ein Gegenstand zu einer bestimmten Art gehört oder nicht. Ebenso wie im Fall anderer Begriffe gibt es aber keine einem solchen Begriff entsprechenden allgemeinen Entitäten. Es gibt keine vom Verstand unabhängige Natur des Dreiecks, zu der wir Zugang haben. Gassendi lehnt damit mathematische Objekte als abstrakte, geistunabhängige Entitäten ab. Mathematische Begriffe sind auf materielle Gegenstände anwendbar, doch die einzigen genuin mathematischen Objekte sind Begriffe; daraus folgt, dass wir genau genommen mit einer mathematischen Aussage nicht über extra-mentale Gegenstände, sondern über unseren Begriffsapparat sprechen. Ebenso erwartbar, aufgrund von Gassendis grundsätzlich empiristischer Einstellung, ist die Aussage, dass mathematische Objekte als Begriffe aus der Erfahrung abstrahiert werden. Statt durch Zugang zu einem abstrakten Objekt wird mathematische Erkenntnis dadurch möglich, dass der Verstand Gegenstände vergleicht, die ihm in der Sinneserfahrung begegnen, und aus dieser Erfahrung selbst den Begriff des Dreiecks formt. Damit müssen die ersten mathematischen Begriffe solche sein, die sich auf materielle Gegenstände beziehen; und tatsächlich spricht Gassendi hier von der Idee des Dreiecks (zur Entstehung von Ideen vgl. oben, S.119ff). Wie wir gesehen haben, sind Ideen für Gassendi Begriffe, die immer einen sinnlichen Aspekt haben und nie vollkommen abstrakt sind. Gassendis Ausführungen an dieser Stelle betreffen also mathematische Begriffe, die auch als empirisch bezeichnet werden können. Gassendi spricht hier nicht über solche mathematischen Begriffe, die von jeglichem sinnlichen Material abstrahieren. Es gibt also empirisch-mathematische Begriffe, die von materiellen Gegenständen handeln und auf diese angewendet werden. Doch wie wir gesehen haben, scheint Gassendi zuzulassen, dass wir von jeglichem sinnlichen Material abstrahieren und so genuin abstrakte Begriffe bilden, die keinen Bezug mehr zur materiellen Welt aufweisen. Es scheint also, als müssten bei Gassendi zwei Arten von mathematischen Begriffen unterschieden werden: empirisch-mathematische Begriffe und abstrakte mathematische Begriffe. Zunächst soll die Entstehung empirisch-mathematischer Begriffe dargestellt werden, bevor wir uns der Frage widmen, ob es für Gassendi auch abstrakte mathematische Begriffe gibt. In dem oben angeführten Zitat behandelt Gassendi erstens die Entstehung empirisch-mathematischer Begriffe und zweitens ihre Anwendung in Urteilen. Bezüglich der Entstehung empirisch-mathematischer Begriffe äußert sich Gassendi in Übereinstimmung mit unserer bisherigen Analyse: Sie entstehen aus der Verallgemeinerung der ähnlich erscheinenden Eigenschaften von Gegenständen. Doch wie genau hat man sich diesen Vorgang vorzustellen? Für den Fall eines geometrischen Begriffs wie den des Dreiecks bedeutet dies Folgendes. Wir nehmen Formen in der Welt wahr. Diese Formen unterscheiden sich, sie scheinen sich aber auch zu äh13 Siehe oben, Kapitel 3.2 Ideen als Bilder und Definitionen, S.45ff.
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6 Eine empiristische Philosophie der Mathematik
neln. Aufgrund dieser scheinbaren Ähnlichkeiten bildet der Geist mithilfe von Standardeindrücken aus diesen Eindrücken eine Gruppe. Diese Gruppe beinhaltet also Eindrücke, die sich alle zu einem gewissen Grad ähneln. Aus diesen Ähnlichkeiten wird nun ein Prototyp ausgewählt, der für alle anderen Mitglieder der Gruppe steht und so eine Eigenschaft abstrahiert, die allen dargestellten Gegenständen zugeschrieben werden kann, nämlich die Eigenschaft, ein Dreieck zu sein. Für die Zuschreibung dieser Eigenschaft muss ein Gegenstand bestimmte Bedingungen erfüllen, die die Idee als Definition beinhaltet. Insofern ist die Idee des Dreiecks eine Regel zur Subsumtion. Diese Bedingungen nehmen auf Eigenschaften Bezug, die selbst aus Gruppierungen nach Ähnlichkeiten abstrahiert wurden, sodass ein Gegenstand unter den Begriff des Dreiecks fällt, wenn ihm aufgrund von scheinbaren Ähnlichkeiten mit anderen Gegenständen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Da die wahrgenommenen Gegenstände und ihre Eindrücke alle unterschiedlich sind, sind dies alles abstrakte Eigenschaften. Wie bei anderen empirischen Begriffen auch hat diese Erklärung der Entstehung eines Begriffs also zur Folge, dass die Eigenschaft, ein Dreieck zu sein, keinem der Gegenstände tatsächlich zukommt. Nichts ist also in dem Sinn ein Dreieck, in dem auch etwas anderes ein Dreieck sein könnte. Die Aussage „Dies ist ein Dreieck“ bedeutet, dass dieser Gegenstand derart ist, dass er bestimmten anderen Gegenständen zu ähneln scheint. Die Erklärung der Entstehung von Zahlbegriffen wird dadurch erschwert, dass Gassendis Ausführungen sich auf geometrische Ideen beschränken. Doch zumindest macht Gassendi keinen Unterschied zwischen Geometrie und Arithmetik, wenn er über die Frage spricht, wovon sie uns Wissen ermöglichen: „Und sag nicht, dass dies bezüglich der angewandten (mixtis) Mathematik wahr sei, aber nicht bezüglich der Geometrie und der Arithmetik, die von der innersten Natur und den wahren Eigenschaften von Figuren und Zahlen handeln; wenn nämlich die Figuren und Zahlen abstrakt betrachtet werden, wie es sie nirgends gibt, dann sind sie nichts“ (III.209a, Übersetzung Seidl).14 Die Objekte der Geometrie und der Arithmetik werden also von Gassendi in diesem Zitat als von gleicher Art angesehen, und er nimmt an, dass es arithmetische Begriffe ebenso wie geometrische sowohl in abstrakter als auch in konkreter Form gibt. Daher (und aufgrund der Tatsache, dass Gassendi keine weitere Art des Begriffserwerbs zur Verfügung steht) ist davon auszugehen, dass die Entstehung von Zahlbegriffen parallel zu der von geometrischen Begriffe konstruiert werden kann. Die Entstehung von geometrischen Begriffen konnte durch die Anwendung der oben ausgeführten Theorie des Begriffserwerbs erklärt werden. Im Fall eines Zahlbegriffs wird diese Anwendung dadurch komplizierter, dass es sich hier nicht um Eigenschaften einzelner Gegenstände, sondern um Eigenschaften von Gruppen von 14 „Neque dicas hoc esse posse verum de mathematicis mixtis; at non item de Geometria, Arithmeticaque, quod istae tradant intimam naturam, germanasque proprietates et figurarum et numerorum siquidem figurae et numeri si abstracte considerentur, ut nusquam sunt, ita nihil sunt.“ (III.209a)
6.2 Gassendis Theorie der Mathematik
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Gegenständen handeln muss. Denn der Begriff der Zahl 3 muss aus Gruppen von drei Gegenständen abstrahiert werden. Einer solchen Gruppe müsste demnach eine Eigenschaft zukommen, die keinem ihrer Mitglieder allein zukommt. Soll die Entstehung von Zahlbegriffen parallel zu der von anderen empirischen und geometrischen Begriffen konstruiert werden, muss also vorausgesetzt werden, dass nicht nur Gegenstände, sondern auch Gruppen von Gegenständen Eigenschaften haben.15 Nun stellt sich die Frage, welche Eigenschaft von Gruppen die Bildung von Zahlbegriffen ermöglichen kann. Bezüglich empirischer Begriffe, wie zum Beispiel Farbbegriffen, konnte von einem Metastandpunkt aus behauptet werden, dass ein Vergleich bezüglich der relevanten Eigenschaften (zum Beispiel eben Farbeigenschaften) Grundlage für die Gruppierung war (s.o., S.99). Dabei war allerdings davon ausgegangen worden, dass keine zwei Gegenstände je tatsächlich die gleiche Eigenschaft haben, sondern dass wir gleiche Eigenschaften bloß aufgrund von scheinbaren Ähnlichkeiten zuschreiben (s.o., Kapitel 4.3.3 und 4.3.4).16 Man kann also behaupten: „Jeder dieser Gegenstände hat eine Farbe.“ Damit wird aber nicht ausgesagt, dass alle damit bezeichneten Gegenstände eine Eigenschaft gemeinsamen haben. Betrachtet man vielmehr die einzelnen Gegenstände und untersucht, welche Eigenschaft die Grundlage dafür war, dass er zu dieser bestimmten Gruppe hinzugefügt wurde, stellt sich heraus, dass diese Eigenschaften bei keinen zwei Gegenständen genau übereinstimmen.17 Jeder Gegenstand hat damit eine bestimmte Farbeigenschaft. Aber kein Gegenstand hat die allgemeine Eigenschaft, eine Farbe oder eine bestimmte Farbe zu haben. In gleicher Weise muss im Zusammenhang mit mathematischen Begriffen vermieden werden, dass Gruppen gleiche Eigenschaften zugeschrieben werden, denn dies würde Gassendis nominalistischer Voraussetzung widersprechen. Bei der Spezifikation der Eigenschaften, die die Grundlage für den Vergleich und die Sortierung nach Ähnlichkeiten darstellen, darf damit nicht schon Bezug auf die Anzahl der Gegenstände in den Gruppen genommen werden. Jede Gruppe muss eine spezifische Eigenschaft haben, die sie mit keiner anderen Gruppe teilt. Diese Eigenschaften müssen aber die Grundlage zur Bildung von Vorstellungen allgemeiner Eigenschaften, wie zum Beispiel eine Anzahl, oder auch eine bestimmte Anzahl zu haben. Die einzige Eigenschaft, die als Grundlage für die Entstehung von Zahlbegriffen in Frage kommt, scheint die Eigenschaft einer Gruppe zu sein, aus genau den Gegenständen zu bestehen, aus denen sie besteht. Keine zwei unterschiedlichen Gruppen bestehen aus genau den gleichen Mitgliedern – denn sie wären ununterscheidbar, und damit identisch. Jede Gruppe materieller Gegenstände unterscheidet sich damit von allen anderen Gruppen hinsichtlich ihrer Mitglieder. Als Grundlage 15 Dies ist insofern eine Annahme, die Gassendi nicht fern liegt, als er auch Gruppen von Atomen Eigenschaften zuschreibt (s.o., S.165). 16 Wie schon gesagt, führt die Scheinbarkeit der Ähnlichkeitsbeziehungen dazu, dass die Zuschreibung allgemeiner Eigenschaften zu einem gewissen Grad willkürlich ist (s.o., S.96). 17 Obwohl es für uns sogar ununterscheidbare Wahrnehmungssituationen gibt (s.o., S.105); diesen Ähnlichkeiten bzw. Gleichheiten entspricht aber an den Gegenständen bzw. Eindrücken nichts.
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für die Bildung von Zahlbegriffen können nun Eindrücke von Gruppen von Gegenständen dienen, oder auch Gruppierungen von Eindrücken. Diese haben ebenfalls die Eigenschaft, sich dadurch von allen anderen Gruppen von Eindrücken hinsichtlich der Eindrücke zu unterscheiden, aus denen sie bestehen. In jedem Fall muss man wie im Fall nicht-mathematischer Begriffe annehmen, dass alle Gruppen, die von einem Metastandpunkt aus gesehen gleich viele Mitglieder haben, dem Geist ähnlich erscheinen und zu einer Gruppe von Gruppen zusammengefügt werden. Eine solche Gruppe liegt dann der Bildung eines bestimmten Zahlbegriffs zugrunde. Es erscheint dem Geist also, dass sich eine Gruppe von drei Äpfeln und drei Tellern in gewisser Hinsicht ähneln, ebenso wie viele andere Gruppen von Gegenständen und Eindrücken. Aufgrund der scheinbaren Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen bestimmten Standardgruppen wird festgelegt, welche Gruppen diesen Standardobjekten ähnlich genug sind, sodass sie der Gruppe zugefügt werden. Schließlich wird allen diesen Gruppen eine gemeinsame, allgemeine und abstrakte Eigenschaft zugeschrieben, nämlich die, aus drei Mitgliedern zu bestehen. Bei der Bildung und Zuschreibung dieses Begriffs wird davon abstrahiert, aus welchen bestimmten Gegenständen die Gruppen bestehen, also von den Eigenschaften, die die Gruppen voneinander unterscheiden; in den Vordergrund werden stattdessen die Eigenschaften gestellt, bezüglich derer sie einander zu ähneln scheinen. Insofern lässt sich sagen, dass ein so konstruierter Zahlbegriff ebenso wie nicht-mathematische Begriffe keiner Gruppe von Gegenständen tatsächlich zukommt. Denn jede Gruppe, auf die der Begriff „drei“ angewendet wird, hat die Eigenschaft, aus bestimmten Gegenständen zu bestehen. Sie hat aber nicht die Eigenschaft, aus drei Gegenständen, die nicht weiter spezifiziert werden, zu bestehen. So können Zahlbegriffe mit dieser Methode also parallel zu nicht-mathematischen empirischen Begriffen konstruiert werden, wie von Gassendi intendiert. Sie werden aus der Sinneserfahrung und den wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenständen abstrahiert; der Abstraktionsschritt hat aber zur Folge, dass keiner der Gegenstände, die unter den Begriff subsumiert werden, die mit dem Begriff zugeschriebene Eigenschaft tatsächlich hat. Nun könnte man der Auffassung sein, dass zwischen mathematischen und nicht-mathematischen Begriffen eine Disanalogie besteht. Denn bei empirischen Begriffen ist eine gewisse Ambivalenz bezüglich der Frage möglich, ob ein Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat oder nicht. Zum Beispiel ist es denkbar, dass Unklarheit besteht, ob ein Gegenstand als gelb oder als orange zu gelten hat. Dies scheint auf mathematische Begriffe nicht zuzutreffen. Entweder eine Gruppe besteht aus drei Gegenständen oder nicht. Allerdings sind im Fall empirischmathematischer Begriffe durchaus Situationen vorstellbar, in denen nicht eindeutig ist, ob ein bestimmter Zahlbegriff angewendet werden kann oder nicht. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob zwei Äpfel, von deren einem ein Bissen genommen wurde, noch als zwei Äpfel zählen. Unabhängig davon, ob man diese Frage mit ja oder nein beantwortet, wirft diese Situation die Frage auf, wann ein Gegenstand als ein Gegenstand zählt. Fehlt zu viel von einem Apfel, werden aus zwei Äpfeln irgendwann ein Apfel und ein halber. Wann das aber der Fall ist, ist nicht eindeutig. Insofern lässt sich mit einem empiristischen Ansatz argumentieren, dass sich bei
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Zahlbegriffen ebenso wie im Fall anderer empirischer Begriffe Unklarheiten in der Anwendung ergeben. Die Tatsache, dass empirisch-mathematische Begriffe aus der Sinnerfahrung abstrahiert sind (und nicht etwa aus der Anwendung abstrakter Begriffe auf Sinneserfahrung entstehen), hat zu Folge, dass wir in der Bildung solcher Begriffe eingeschränkt sind. Denn die Kapazitäten unserer Wahrnehmung selbst sind nicht unendlich. Wenn sich empirisch-mathematische Begriffe immer auf die Eigenschaften sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände beziehen, dann können wir nur solche empirisch-mathematischen Begriffe bilden, denen wir eine sinnliche Entsprechung geben können. Tatsächlich können wir aber nur eine bestimmte Anzahl Gegenstände und nur eine bestimmte Art von Gegenständen sinnlich erfassen. Daher sind wir auch nur in der Lage, bestimmte empirisch-mathematischer Begriffe zu bilden. Entsprechend schreibt Gassendi in den Einwänden gegen Descartes: „Auch wenn du also ohne Mühe erfasst, dass ein Tausendeck eine Figur mit tausend Ecken ist, kannst du es demgemäß dennoch nicht unterscheiden und gewissermaßen vorliegen haben [...]. Denn du wirst ein Viereck verworrener erfassen, vorstellen oder einsehen als ein Dreieck, aber deutlicher als ein Fünfeck, während du dies wiederum verworrener als ein Viereck, deutlicher als ein Sechseck erfassen wirst, und dementsprechend weiter, bis es nichts mehr gibt, was Du Dir anschaulich vorlegen kannst“ (AT VII 329f/III.385b, Übersetzung Wohler).18 Wenn Gassendi an dieser Stelle auch der Meinung ist, dass der Übergang vom Vorstellen zum reinen Verstehen fließend ist (ebd.), so ist dennoch die sinnliche Vorstellung an irgendeinem Punkt nicht mehr in der Lage, uns Material zur Bildung eines Begriffs zu liefern. Insofern können empirische geometrische und arithmetische Begriffe nicht in unbeschränkter Weise gebildet werden. Einer Zahl wie 100.000 können wir zum Beispiel kein sinnliches Material zuordnen. Es kann also keinen empirisch-mathematischen Begriff, keine Idee, von 100.000 geben. Allerdings scheint es, dass wir durchaus in der Lage sind, einen Begriff der Zahlen 1000, 50.000 und auch 100.000 zu bilden. Und grundsätzlich hat es den Anschein, dass solche empirisch-mathematischen Begriffe nicht die sind, mit denen wir normalerweise arbeiten. Denn wenn wir eine Addition mit Zahlen durchführen oder einen Beweis an einem Kreis, haben wir dabei keine Äpfel oder materielle, gezeichnete Kreise im Sinn. Natürlich wird Mathematik auch auf materielle Gegenstände angewandt. Dennoch wird sie auch und vor allem unabhängig von diesen Gegenständen betrieben. Die Möglichkeit abstrakter mathematischer Begriffe für Gassendi wurde oben schon erwähnt (S.65). Auch in seiner Diskussion mit Descartes gesteht Gassendi zu, dass Mathematik abstrakt betrieben werden kann, wenn er die Behauptung aufstellt, dass es „das Objekt der reinen Mathematik, wie den Punkt, die Linie, die 18 „Cum percipias quidem absque labore Chiliagonum esse figuram mille angulorum: neque tamen applicando et contendendo teipsam discernere possis, et quasi prasenteis habere [...]. Tetragonum enim confusius quam Trigonum percipies, imaginaberisve aut intelliges; sed distinctius, quam Pentagonum. Tum hoc confusius Tetragono, Hexagono distinctius, atque ita consequenter; donec non habeas quid diserte tibi proponas [...].“ (AT VII 329f/III.385b)
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Oberfläche und das, was aus diesen unteilbaren Dingen besteht und sich unteilbar verhält, [...] nicht tatsächlich geben“ kann (AT VII 329/III.385a/b, Übersetzung Seidl).19 Gassendi erkennt hier an, dass es reine Mathematik gibt, wendet aber zugleich ein, dass es nichts gibt, was den Sätzen der reinen Mathematik entspricht. Auch wenn er freilich warnt, dass „man nicht immer das in die Physik übertragen kann, was die Geometer im Abstrakten beweisen”20 (I.265b, Übersetzung Seidl), denn anders als der Mathematiker muss sich „[…] der Physiker […] mit dem Wahrnehmbaren beschäftigen und mit der tatsächlich existierenden Natur der Dinge” und darf „sich nicht der (sogenannten) Abstraktionen von der Materie bedienen” (I.264a, Übersetzung Seidl).21 Wir bilden also mathematische Begriffe, die insofern rein sind, als sie von den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände und von der materiellen Welt unabhängig sind. Diese Begriffe können damit in gewissem Sinn als Konstruktionen unseres Geistes aufgefasst werden. Es stellt sich die Frage, wie diese Begriffe gebildet werden. Hier bieten sich zwei Erklärungsstrategien an. Zum einen könnte man eine abstraktionistische Erklärung vorschlagen, nach der reine mathematische Begriffe aus empirisch-mathematischen Begriffen durch weitere Abstraktionsschritte gebildet werden. Es wird so lange sinnliches Material aus einem empirisch-mathematischen Begriff entfernt, bis kein solches Material mehr enthalten ist und der Begriff sich damit nicht mehr auf materielle Gegenstände bezieht (s.o., S.127). Zum anderen könnte man eine konstruktivistische Erklärung anbieten, nach der reine mathematische Begriffe von uns nicht abstrahiert, sondern selbst konstruiert, sozusagen erst erfunden werden. Empirisch-mathematische Begriffe können dann insofern als Grundlage dieser Begriffe angesehen werden, als sie uns zu bestimmten reinen mathematischen Konstruktionen inspirieren. Die abstraktionistische Erklärung scheint angesichts seines Empirismus die natürliche Lesart von Gassendis Theorie zu sein. Es ist unklar, wieso empirischmathematische Begriffe abstrahiert, reine mathematische Begriffe aber konstruiert sein sollten. Auch seine Wortwahl von „Abstraktionen“ (ebd.), die in der reinen Mathematik behandelt werden, machen diese Lesart wahrscheinlich. Sie hat allerdings den systematischen Nachteil, dass sie die reine Mathematik auf solche Begriffe beschränken müsste, für die auch empirisches Material zur Verfügung steht.22 Die konstruktivistische Lesart wird von David Sepkoski in seinem Aufsatz „Nominalism and Constructivism in Seventeenth-century Mathematical Constructivism“ vertreten.23 Er ist der Auffassung, dass für Gassendi „the use of general classes of objects in geometrical demonstrations is justified only by the definitions 19 „[...] obiectum purae matheseos, ut punctum, linea, superficies, constantiaque ex iis indivisibilia, indivisibiteruqe se habentia, exsistere reipsa non possint.“ (III 385a/b) 20 „[...] ut intelligamus non licere perpetuo transferre in Physicam quicuid geometrae abstracte demonstrant.“ (I.265b) 21 „Physici, inquam, cuius est circa sensibilia, ac in ipsa rerum natura revera exsistentia versari; non vero abstractionibus (quas vocant) a materia uti.“ (I.264a) 22 Vgl. Perler 1996, 167. 23 Vgl. Sepkoski 2005.
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given to those objects, definitions that are constructed in the human mind [...].“24 Diese Lesart hätte den Vorteil, dass sie auch die Bildung mathematischer Begriffe erklären könnte, für die uns kein sinnliches Material zur Verfügung steht. 25 Doch Sepkoskis einzige Grundlage für diese Zuschreibung scheint Gassendis Nominalismus zu sein,26 sodass dementsprechend der Konstruktivismus, den Sepkoski in Gassendi zu finden meint, allein in der Tatsache besteht, dass die Begriffe der reinen Mathematik nicht von materiellen Gegenständen handeln, nicht aber in der Behauptung, dass die Begriffe der reinen Mathematik vollkommen unabhängig von sinnlichem Material von uns erdacht werden. Zunächst muss also davon ausgegangen werden, dass für Gassendi reine mathematische Begriffe durch Abstraktion aus empirisch-mathematischen Begriffen entstehen, ebenso wie diese durch Abstraktion aus Sinneseindrücken entstehen. Das heißt, um die Entstehung solcher, von materiellen Gegenständen zumindest scheinbar unabhängigen Begriffen zu erklären, muss ein weiterer Abstraktionsschritt vollzogen werden. Wird nun ein abstrakter Begriff direkt aus einem empirischen Begriff gebildet, werden die Eigenschaften des abstrakten zwar von denen des empirischen Begriffs bestimmt. Doch dieser Abstraktionsschritt gibt uns dennoch die Möglichkeit, Begriffe zu bilden, die keine Entsprechung in der Welt haben. Dies sind nun die Begriffe, mit denen reine Mathematik betrieben wird. Der theoretische Begriff des Dreiecks beinhaltet damit eine Figur, die aus Linien ohne Dicke besteht, und deren Winkelsumme tatsächlich 180° beträgt. Wie können auch negative Zahlen bilden und einen Begriff der natürlichen Zahlen, durch den diese als unendlich aufgefasst werden. Während empirisch-mathematische Begriffe sich auch immer auf materielle Gegenstände beziehen, da sie auf deren sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften verweisen, ist es logisch nicht möglich, dass ein Gegenstand unserer Erfahrung tatsächlich unter einen genuin abstrakten mathematischen Begriff gebracht werden kann. Dadurch, dass diese Begriffe genuin abstrakt sind, können sie allerdings auch als tatsächlich allgemein angesehen werden. Die Allgemeinheit von Ideen ist durch ihren sinnlichen Bezug eingeschränkt – im Grunde bezieht sich die Idee immer nur auf einen Gegenstand, nämlich ihren Prototyp. Im Fall von abstrakten Begriffen ist dies anders. Der abstrakte Begriff des Dreiecks ist allgemein in dem Sinn, dass er tatsächlich auf jeden Gegenstand zutrifft, der unter ihn subsumiert werden kann. Dies allerdings müssen selbst abstrakt konstruierte Gegenstände sein, da kein materieller Gegenstand je die Bedingungen erfüllen kann, um unter einen abstrakten Begriff subsumiert zu werden. Eben hatten wir festgestellt, dass Gassendi kein Konstruktivismus in dem Sinn zugeschrieben werden kann, dass reine mathematische Begriffe von uns völlig unabhängig davon gebildet werden, was uns an sinnlichem Material zur Verfügung 24 Sepkoski 2005, 42 25 Und wir bilden tatsächlich solche Begriffe (vgl. Wigner 1960, 2f). Wenn eine abstraktionistische Theorie solche Begriffe also nicht erklären kann, ist sie insofern einer konstruktivistischen Theorie unterlegen. 26 Sepkoski 2005, 41
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steht. Doch es scheint, dass Gassendi die Möglichkeit offen stünde, Konstruktionen aufgrund von abstrahiertem Material zuzulassen. Denn da der abstrakte Begriff nicht mehr durch sinnliches Material und tatsächliche Wahrnehmungen gebunden ist, scheint zumindest die Möglichkeit zu bestehen, dass wir den abstrakten Begriff erweitern und verändern und durch Kombinationen abstrakter Begriffe weitere Begriffe bilden können, soweit es unsere kognitiven Fähigkeiten zulassen. Ein rein abstrakter Begriff könnte also auch in der Theorie gebildet werden, sodass seine Definition, das heißt die Bedingungen, unter denen er angewendet werden kann, völlig unabhängig davon angegeben werden, ob irgendein Gegenstand tatsächlich unter den Begriff fällt. Gassendi äußert sich nicht explizit zu der Möglichkeit solcher Konstruktionen. Doch es scheint unwahrscheinlich, dass ihm nicht bewusst war, dass wir mathematische Begriffe bilden können, die nicht abstrahiert sind und auch nicht abstrahiert sein könnten. Und in der Diskussion mit Descartes gibt er zu, dass dieser zwar „erfasst [...], dass der Ausdruck des Tausendecks eine Figur von tausend Ecken bezeichnet, aber das ist nur der Inhalt des Namens [...]“ (AT VII 330/III.385b, Übersetzung Wohler).27 Wir können also Definitionen bilden, zu denen uns kein eindeutiges Bild zur Verfügung steht. Damit scheint auch für Gassendi die Möglichkeit zu bestehen, dass reine Mathematik aufgrund von Konstruktionen betrieben wird. Bei der Bildung solcher reiner mathematischer Begriffe wären wir bezüglich der Definitionen, die gewählt werden, völlig frei. Es gilt also auch für mathematische Begriffe, dass uns im abstrakten Bereich keine Grenzen gesetzt sind. Dagegen hatten wir im Fall von empirisch-mathematischen Begriffen gesehen, dass wir nicht die Begriffe bilden können, die wir wollen, sondern nur solche, für die uns geeignetes sinnliches Material zur Verfügung steht. Auf einer reinen, nicht sinnlichen Ebene aber können wir auch solche mathematischen Begriffe bilden, die nicht direkt aus empirisch-mathematischen gebildet sind. Es müssen damit in Gassendis Theorie zwei Arten mathematischer Begriffe unterschieden werden: empirische und abstrakte. Empirische mathematische Begriffe 27 „Et aliunde percipis quidem voce chiliagoni significari figura mille angulorum, sed haec est tantum vis nominis.“ (AT VII 330/III.385b) Gassendi argumentiert hier tatsächlich gegen die Nützlichkeit eines solchen Begriffs, nicht für die Einführung konstruierter mathematischer Begriffe. In Übereinstimmung mit seiner materialistischen Grundeinstellung in den Einwänden behauptet er, dass wir weder etwas verstehen, noch etwas vorstellen können, was nicht sinnlich bzw. körperlich ist. Daher können wir zwar eine solche Definition bilden, doch nicht nur haben wir davon keine genaue sinnliche Vorstellung (Idee, oder auch einen empirisch-mathematischen Begriff), wir verstehen durch diese Definition auch nichts. Doch wie wir gesehen haben, und wie sich in der Diskussion um seine Argumente für die Immaterialität des Geistes zeigen wird, vertritt Gassendi diese Auffassung in späteren Werken nicht mehr. Wir können durchaus Vorstellungen bilden, die keinen sinnlichen, körperlichen Anteil mehr haben. Sicherlich würde Gassendi aber immer noch behaupten, dass wir die Vorstellung eines Chiliagons bilden, das heißt eine Definition dessen angeben können, was ein Tausendeck ist. Wenn wir eine solche Vorstellung bilden können, ohne dass sie aus sinnlichem Material abstrahiert ist (wie er zu behaupten scheint), ist dies aber eben ein Fall einer reinen mathematischen Konstruktion.
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sind mathematische Ideen, die vermittels eines Prototyps auf die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften materieller Gegenstände Bezug nehmen. Abstrakte mathematische Begriffe dagegen nehmen keinerlei Bezug mehr auf sinnliche Eigenschaften und scheinen damit die Begriffe zu sein, mit denen wir Mathematik zu betreiben meinen. Sie sind aufgrund ihrer Abstraktheit allerdings auch nicht mehr anwendbar auf die Gegenstände, von denen wir Sinneserfahrung haben. 6.2.2 Der Status mathematischer Urteile Was ergibt sich aus dieser Analyse für die Anwendung mathematischer Begriffe in Urteilen und Beweisen und deren Status? Auch hier muss zwischen den beiden Arten mathematischer Begriffe unterschieden werden, empirischen einerseits, abstrakten andererseits. Durch die Subsumtion eines Gegenstands unter einen empirisch-mathematischen Begriff, zum Beispiel des Dreiecks, schreiben wir dem Gegenstand nicht tatsächlich eine Eigenschaft zu; vielmehr sagt das Urteil „Das ist ein Dreieck“, dass der Gegenstand eine Eigenschaft hat, die uns bestimmten Eigenschaften anderer Gegenstände in gewissem Grad zu ähneln scheint. Wie steht es nun mit einer Behauptung wie „Jedes Dreieck hat eine Winkelsumme von 180°“? Auch die Begriffe bestimmter Winkel, des Winkels allgemein und der Winkelsumme sind aus der Erfahrung abgeleitet und basieren auf scheinbaren Ähnlichkeiten. Dabei sind natürlich zwei Winkel, die beide mit einer bestimmten Gradzahl versehen werden, nicht tatsächlich gleich – denn keine zwei Gegenstände sind in irgendeiner Hinsicht gleich.28 Die Aussage bedeutet also, dass jeder Gegenstand, der aufgrund scheinbarer Ähnlichkeiten unter den Begriff des Dreiecks subsumiert werden kann, aufgrund scheinbarer Ähnlichkeiten auch unter den Begriff „Winkelsumme 180°“ subsumiert werden kann. Der Beweis dieser Aussage an einem bestimmten materiellen Dreieck kann unter der Annahme durchgeführt werden, dass zwei Winkel, die einander am Schnittpunkt zweier Geraden gegenüberliegen, gleich sind:
Unter unserer Analyse empirisch-mathematischer Begriffe bedeutet dies, dass wann immer man zwei Linien zeichnet, die sich kreuzen, die beiden gegenüberlie28 Dies liegt nicht unbedingt an der Tatsache, dass es nie gelingen kann, zwei Winkel zu zeichnen, die genau gleich groß sind. Selbst wenn dies zufällig gelänge, wären die Winkel nicht gleich, da jeder der bestimmte materielle Winkel ist, der er ist.
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genden Winkel nicht tatsächlich gleich sind, aber jeweils unter einen Begriff gebracht werden können. Zieht man nun eine Parallele zu einer Seite des Dreiecks und verlängert die anderen beiden Seiten, ergibt sich unter der eben genannten Annahme, dass die drei Winkel zusammen auf eine Linie passen, also 180° ergeben:
a
a’
Gassendi legt besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Eigenschaften, die materiellen Objekten aufgrund eines Beweises zugeschrieben werden (bzw. die Eigenschaften, die dafür verantwortlich sind, dass sie unter den relevanten Begriff subsumiert werden können), den Objekten unabhängig vom Beweis zukommen. Die Idee beinhaltet gewisse Eigenschaften nur deshalb, weil diese aus Wahrnehmungen der Gegenstände abstrahiert wurden. Wird nun anhand einer Idee etwas bewiesen, so wird dadurch keine neue Eigenschaft entdeckt, sondern bloß die Eigenschaften an die Gegenstände „zurückgegeben“ (AT VII 321/III.375a), die sie schon immer hatten. Diese Eigenschaften waren auch schon in den Wahrnehmungen der Gegenstände vorhanden, dies aber nicht bewusst. Bei einem Beweis der Winkelsumme eines Dreiecks, meint Gassendi, sieht das Subjekt nur etwas genauer an, was vorher auch schon in der Wahrnehmung enthalten war. Durch einen mathematischen Beweis wird also einem Begriff nichts hinzugefügt, was nicht schon sowohl in den Gegenständen als auch in den Wahrnehmungen, aus denen der Begriff abstrahiert wurde, vorhanden war.29 Wieso aber gilt der Beweis, der an einem bestimmten materiellen Dreieck ausgeführt wurde, für alle materiellen Dreiecke? Dies hängt Gassendi zufolge damit zusammen, dass man das Dreieck „zusammen mit allen anderen Dreiecken auf-
29 Vgl. Tack 1974, 190. Diese Aussage Gassendis führt Tack zu der Annahme, dass Gassendi mathematische Begriffe als reine Konstruktionen unseres Geistes ablehnt (ebd.). Wie sich herausgestellt hat, ist dies nicht der Fall – es muss allerdings eine Unterscheidung zwischen mathematischen Ideen (deren Eigenschaften von der Wirklichkeit bestimmt werden) und reinen mathematischen Begriffen als Konstruktionen (deren Eigenschaften von uns bestimmt werden) getroffen werden.
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fasst“ (III.209a).30 Diese Aussage könnte überzeugen, wenn allen Dreiecken tatsächlich gleiche Eigenschaften zugeschrieben würden. Die Argumentation könnte dann lauten: Das Ergebnis des Beweises gilt für alle Gegenstände, die die Eigenschaften haben, auf die im Beweis Bezug genommen wird. Für Gassendi hat aber kein anderer Gegenstand die Eigenschaften des materiellen Dreiecks, auf die Bezug genommen wird. Andere Dreiecke scheinen diesem Dreieck zwar in ihren Eigenschaften ähnlich, sie haben aber tatsächlich alle bloß ihre eigenen Eigenschaften. Mit dieser Aussage muss also gemeint sein, dass mehrere Dreiecke durch die Ordnung nach scheinbaren Ähnlichkeiten und die Abstraktion eines Begriffs, unter den alle Dreiecke fallen, gemeinsam aufgefasst werden. Dann aber ist nicht klar, warum diese scheinbaren Ähnlichkeiten zur Folge haben sollten, dass sich das Ergebnis eines Beweises an einem bestimmten Dreieck auf andere Dreiecke übertragen lässt. Es wäre möglich, dass eine winzige Abweichung bezüglich einer Eigenschaft schon nach sich zieht, dass die Dreiecke bezüglich anderer Eigenschaften nicht mehr ähnlich erscheinen. Es ist also durch einen solchen Beweis nicht garantiert, dass die an einem Dreieck bewiesene Eigenschaft allen Dreiecken zugeschrieben werden kann. Allerdings ist bisher noch nie der Fall aufgetreten, dass ein Gegenstand, den wir unter die Idee des Dreiecks subsumieren können, nicht auch unter die Idee der Winkelsumme von 180° subsumierbar war. Wir nehmen also an, dass dieser Beweis für alle Dreiecke gilt, da noch kein Dreieck aufgetreten ist, das dieser Annahme widerspricht. Ein solcher Beweis an einem materiellen Dreieck, aufgrund eines empirisch-mathematischen Begriffs, gilt also nur aufgrund von Induktion31 für alle Dreiecke. Es kann jederzeit der Fall eintreten, dass wir ein Dreieck finden, dass wir nicht mehr unter den Begriff „hat eine Winkelsumme von 180°“ subsumieren können. Der Status von Urteilen und Beweisen mit empirisch-mathematischen Begriffen lässt sich also folgendermaßen umschreiben: Sie handeln von den Eigenschaften materieller Gegenstände und vermitteln uns damit Wissen über die Welt. Sie sind aber durch ihren direkten Bezug zur materiellen Welt auch durch Erfahrung widerlegbar und liefern damit keine Gewissheit, wie wir sie normalerweise auch von empirischen mathematischen Aussagen erwarten. Damit sind sie nicht notwendiger-, sondern nur kontingenterweise wahr. Der Status von abstrakten mathematischen Urteilen ist anders einzuschätzen. Wie wir gesehen haben, sind abstrakte mathematische Begriffe genuin allgemein; dies hat zur Folge, dass in einem Beweis aufgrund eines solchen Begriffs tatsächlich ein Gegenstand zusammen mit allen anderen Gegenständen einer bestimmten Art aufgefasst werden kann, und so auch die allgemeine Gültigkeit des Beweises unprob-
30 „Hinc si demonstret aliquid verbi causa, de Triangulo, non nominat quidem hunc vel illum; attamen hunc quoque et illum non solos quidem, sed coniunctim cum omnisbus aliis intelligit.“ (III.209a) 31 Vgl. Fisher 2005, 29.
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lematisch ist. Allerdings kann es in diesen Beweisen immer nur um abstrakte Gegenstände gehen, nie um Gegenstände, die wir wahrnehmen können. Insofern sind Urteile und Beweise mithilfe dieser Begriffe bloße Gedankenspiele. Natürlich können wir Eigenschaften von abstrakten Dreiecken beweisen. Da aber der Begriff dessen, was ein Dreieck darstellt, auf keinen Gegenstand mehr anwendbar ist, beinhalten diese Beweise keine Information. Mit solchen Begriffsanalysen und Folgerungen aus mehr oder weniger willkürlich festgelegten Begriffen werden bloß hypothetische Aussagen getroffen: Wenn ein Gegenstand unter den Begriff des Dreiecks subsumiert werden kann, dann können ihm auch folgende Eigenschaften zugeschrieben werden. Es steht aber fest, dass es für uns nie einen Gegenstand geben wird, der unter den Begriff des Dreiecks der reinen Mathematik subsumiert werden kann, denn die Gegenstände der reinen Mathematik sind eben nicht solche, die sinnlich wahrgenommen werden können. Insofern sind diese Sätze rein hypothetisch und haben keinen für uns relevanten Gehalt. Da abstrakte mathematische Urteile und Beweise als ohne sinnlichen Gehalt konstruiert werden können, besteht auch nicht die Möglichkeit, dass sie durch Sinneserfahrung widerlegt werden. Dadurch erhält ein Beweis der reinen Mathematik den Anschein notwendiger Wahrheit und Gewissheit.32 Es ist nicht vorstellbar, dass es zu einem korrekten Beweis der reinen Mathematik eine widersprechende Instanz gibt. Ist es aber nicht vorstellbar, dass ein Satz widerlegt werden kann, ist er notwendig wahr. Auf der Ebene der reinen Mathematik ergibt sich also auch der Anschein der notwendigen Wahrheit, wenn diese Ebene als unabhängig von sinnlichen Eindrücken aufgefasst wird. Allerdings lässt sich dieser Anschein nicht begründen oder rechtfertigen, weil auch die abstrakte Ebene von der sinnlichen abhängig ist. Gassendi zufolge ist dies daher nur eine scheinbare Notwendigkeit bzw. Gewissheit. Denn „was es an Gewissheit oder Evidenz in den mathematischen Disziplinen gibt, erstreckt sich nur auf die Erscheinung und in keiner Weise auf die wahren Ursachen oder die innersten Naturen der Dinge. [...] Wahrlich, sobald du nämlich über das hinausgehst, was erscheint und unter die Sinne und die Erfahrung fällt, um nach dem Inneren zu suchen, versinkt sowohl die mathematische Disziplin als auch jede andere im völligen Dunkel“ (III.209a, Übersetzung Seidl).33 Die Mathematik ist also nur wahr, wenn sie Erscheinungen behandelt, das heißt, solange sie sich auf Sinneserfahrung bezieht. Geht sie über das Sinnliche hinaus und hat den Anspruch, etwas Allgemeineres, das nicht den Sinnen zugänglich ist, zu behandeln, geht jegliche Gewissheit verloren.
32 Vgl. Sepkoski 2005, 41. 33 „Concludo ergo, quaecumque est certitudo et evidentia in disciplinis mathematicis eam pertinere ad apparentiam; nullo autem modo ad causas germanas vel naturas etiam rerum intimas. [...] Revera enim statim atque praetergredieris ea, quae apparent, caduntque in sensum et experientiam, ut interiora quaerites, et disciplina mathematica, et alia omnis penitus caligat.“ (III.209a) Carlin 2009 nimmt dieses Zitat zum Anlass für die Behauptung, dass für Gassendi mathematische Objekte nicht von uns konstruiert, sondern bloß wahrgenommen werden (vgl. Carlin 2009, 58). Meiner Meinung nach trifft das auf empirisch-mathematische Begriffe zu – doch Gassendi lässt auch die Konstruktion abstrakter mathematischer Begriffe zu.
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Diese Auffassung wird durch Gassendis Wahrheits-Auffassung bestätigt. Dieser Auffassung zufolge besteht die Wahrheit einer Aussage in der Übereinstimmung zwischen Aussage und Gegenstand. Dann aber kann eine Aussage streng genommen nur dann wahr sein, wenn es den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, tatsächlich gibt. Ebenso wie Gassendi die Aussage, dass jeder Mensch rational ist, nur dann als wahr gelten lässt, wenn es zumindest einen Menschen gibt, muss auch die Aussage, dass Dreiecke eine Winkelsumme von 180° haben, durch mindestens eine Instanziierung wahrgemacht werden. Insofern sind also Aussagen der reinen Mathematik nicht nur nicht notwendigerweise wahr, sondern überhaupt nicht wahr. Dementsprechend sagt Gassendi über die reine Geometrie, dass ihre Sätze „falsch sind, wenn sie sich auf die Natur beziehen“ (I.265a, Übersetzung Seidl),34 da sie die Gegenstände auf eine Art auffassen, die ihnen nicht entspricht. Doch erklärt sich der Anschein der Notwendigkeit dieser Aussagen eben durch ihre Abstraktheit. Denn auf der Ebene der reinen Mathematik scheint es durchaus eine theorieimmanente Notwendigkeit zu geben: Die Folgerungen, die wir aus den Definitionen reiner mathematischer Begriffe ziehen, sind gültig. Denn, so Gassendi, „es ist möglich, aus falschen Grundsätzen, die aber als wahr aufgefasst werden, auf bestimmte Art notwendige und wahre Schlüsse zu ziehen“ (ebd., Übersetzung Seidl).35 Die Schlüsse der reinen Mathematik gelten also auf bestimmte Art notwendigerweise. Sie folgen logisch aus den Grundsätzen der Theorie, die nicht durch Gegenbeispiele widerlegt werden kann. So folgert Gassendi, „dass die Geometrie eine spekulative Wissenschaft ist, die sich nicht um ihren Nutzen kümmert, sondern als Ziel allein die Wahrheit (veritas) ihrer Schlussfolgerungen und die Lust an der Wahrnehmung hat, dass diese, wie erstaunlich sie auch sind, so evident und sicher folgen“ (I.265b, Übersetzung Seidl).36 Die Sätze der reinen Mathematik gewinnen also eine gewisse Notwendigkeit, verlieren aber den Anspruch auf Wahrheit. Damit kann Gassendi also den Anspruch auf notwendige Wahrheit mathematischer Aussagen nicht erfüllen; die erwähnte theorieimmanente Notwendigkeit kann aber erklären, warum wir Mathematik für notwendig wahr halten: weil die Schlüsse der reinen Mathematik aus nicht widerlegbaren Grundsätzen logisch folgen. Damit können nun nicht nur unsere Intuitionen bezüglich der reinen Mathematik, sondern auch von empirischen mathematischen Aussagen zumindest erklärt werden. Oben wurde deutlich, dass auch solche Urteile nur kontingenterweise wahr sind, entgegen unseren Intuitionen. Der Eindruck, dass auch empirische mathematische Urteile notwendig wahr sind, beruht dann darauf, dass die Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Arten mathematischer Begriffe falsch beurteilt werden. Denn wenn abstrakte mathematische 34 „Ad hoc autem potest responderi primo, esse illas quidem suppositiones falsas si ad naturam referantur, sed quia, ut supponitur quantitatem esse abstractam a materia, quae tamen non est; [...].“ (I.265a) 35 „[...] posse ex falsis principiis, sed ut veris tamen suppositis, quidpiam necessario, vereque concludi [...].“ (I.265a) 36 „Responderi deinde potest geometriam ex se scientiam esse speculativam, neque ideo usum curare, sed habere solum pro fine conclusionum suarum veritatem, voluptatemque ex eo perceptam, quod tam evidenter, ac certo, cum sint adeo mirabiles, consequantur [...].“ (I.265b)
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Urteile als notwendig aufgefasst werden und wir darüber hinaus dem Eindruck erliegen, dass nicht (wie Gassendi meint) abstrakte Urteile auf empirischen beruhen, sondern empirische Urteile aus der Anwendung abstrakter Begriffe auf materielle Gegenstände entstehen, erklärt sich, warum auch empirisch-mathematische Urteile als notwendig erlebt werden. 6.2.3 Die Anwendbarkeit der Mathematik Da Gassendi die Mathematik für aus der Sinneserfahrung abstrahiert hält, könnte man meinen, dass die Tatsache, dass Urteile der Mathematik auf die materielle Welt anwendbar sind, unproblematisch erklärt werden kann. Im Fall empirischmathematischer Urteile stellt sich die Frage gar nicht – diese Urteile handeln wesentlich von Gegenständen, die wir sinnlich wahrnehmen. Wäre eine solches Urteil nicht auf materielle Gegenstände anwendbar, wäre es ein Urteil anderer Art. Doch im Fall der reinen Mathematik scheint es, als müsse Gassendi doch eine Erklärung dafür liefern, dass deren Urteile uns helfen können, die materielle Welt zu verstehen. Denn oben wurden Begriffe der reinen Mathematik als Abstraktionen und Konstruktionen unseres Geistes beschrieben, die auf die Gegenstände, die wir wahrnehmen, nicht anwendbar sind. Doch dann scheint es, dass reine Mathematik völlig unabhängig von unserer sinnlichen Erfahrung betrieben wird, und es wird unverständlich, warum uns die Urteile der reinen Mathematik helfen können, die Welt zu erklären und Ereignisse vorauszusagen. Gassendi ist offenbar der Auffassung, dass die Ergebnisse der reinen Mathematik in gewissem Sinn auf die Welt anwendbar sind, da er vor genau dieser Anwendung warnt.37 Und auch wenn die Begriffe der reinen Mathematik für sich genommen nicht auf Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung anwendbar sind, steht ihm aufgrund der Tatsache, dass sie aus der Sinneserfahrung abstrahiert sind, auch eine Erklärung dafür offen, warum eine Anwendung zumindest in manchen Fällen möglich ist. Denn zwar werden dadurch, dass die reine Mathematik in ihren Konstruktionen nicht durch die Sinneserfahrung beschränkt ist, viele ihrer Begriffe und Urteile tatsächlich die Wirklichkeit nicht betreffen. Doch genügend Begriffe der reinen Mathematik sind aus der Sinneserfahrung abstrahiert und nicht ohne sinnliche Grundlage konstruiert. Insofern ist vorstellbar, dass sie auch wieder auf die Sinneserfahrung rückangewendet werden können, auch wenn sie in diesem Fall natürlich ihren abstrakten Charakter verlieren. Empirisch-mathematische Begriffe sind in vielen Fällen die Grundlage zur Bildung reiner mathematischer Begriffe, und es ist insofern nicht überraschend, dass Urteile der reinen Mathematik mit gewissen Einschränkungen auf die empirische Wirklichkeit anwendbar sind. Dies ist jedoch nur dann möglich (und laut Gassendi erlaubt, s.o., S.182), wenn dabei im Blick 37 I.264a. Im Gegensatz dazu ist Tack 1974, 190f der Auffassung, dass Gassendi die Mathematik als für die Physik unbrauchbar angesehen hat. Eben dies scheint mir aus Gassendis Aussagen nicht zu folgen; er warnt vielmehr davor, diese Ergebnisse unreflektiert anzuwenden.
6.3 Zusammenfassung
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behalten wird, dass es sich nicht mehr tatsächlich um Urteile der reinen Mathematik handelt. Die Anwendung reiner mathematischer Urteile kann also nur dann erklärt werden, wenn diese keine reinen mathematischen Urteile mehr sind. Damit kann auch ein empiristischer Ansatz die Spannung zwischen dem Wunsch, einerseits reine Mathematik zu betreiben, diese aber andererseits auf die Wirklichkeit anzuwenden, nicht auflösen. Darüber hinaus hat diese Strategie zur Folge, dass weite Teile der reinen Mathematik, nämlich die, deren Begriffe nicht oder nur sehr entfernt auf Ideen, das heißt auf empirisch-mathematischen Begriffen beruhen, als nicht auf die empirische Wirklichkeit anwendbar angesehen werden müssen. Heutzutage scheint diese Position nur schwer haltbar, da sich zum Beispiel Begriffe und Formeln der Mathematik in der Physik im Nachhinein als anwendbar herausstellen, die zunächst völlig unabhängig von der empirischen Wirklichkeit zu sein schienen.38 Doch für Gassendi scheint diese Konsequenz nur logisch: Begriffe und Urteile, die so weit von unserer Sinneserfahrung entfernt sind, dass sie nicht mehr zurückbezogen werden können, sind reine Gedankenspiele und können keinerlei Wert in empirischen Wissenschaften haben. 6.3 ZUSAMMENFASSUNG Was also kann eine empiristische Theorie der Mathematik leisten? Sie ist, wie gesehen, in einer guten Position, um unseren Zugang zu mathematischen Objekten zu erklären – wir gewinnen sie durch Abstraktion aus Sinneserfahrung. Eine Stärke der gassendischen Theorie liegt dabei darin, dass sie sich nicht auf empirischmathematische Begriffe beschränkt, sondern durchaus beinhaltet, dass wir reine Mathematik betreiben. Auch die Anwendbarkeit der reinen Mathematik auf unsere Erfahrung kann durch den empiristischen Ansatz zumindest teilweise erklärt werden. Die Tatsache, dass sie unsere Intuitionen bezüglich des Status mathematischer Aussagen als notwendig und a priori nicht rechtfertigen kann, muss einerseits als Schwäche angesehen werden. Denn diese Intuitionen sind so stark, dass eine Theorie, die sie als fehlgeleitet zu erklären versucht, immer unbefriedigend bleiben muss. Doch kann auch argumentiert werden, dass es gerade eine Stärke eines solchen Ansatzes ist, diese Intuitionen als fehlgeleitet zu entlarven und aufzuzeigen, dass diese darauf beruhen, dass wir Begriffsanalysen wie die der reinen Mathematik und deren Status nicht auf empirisch-mathematische Aussagen übertragen dürfen. Auch scheint das Ergebnis, dass die Mathematik nicht den Status hat, den wir ihr intuitiv zuschreiben, logisch aus Gassendis Grundüberzeugungen zu folgen und ist damit aus seiner Theorie nicht eliminierbar. Margaret Osler argumentiert,39 dass Gassendis Voluntarismus seiner Einstellung zu Mathematik zugrunde liegt. Dieser 38 Vgl. Colyvan 2012, 98ff. Wigner 1960, 8ff gibt als Beispiele für eine solche Anwendung die Entwicklung der Quantenmechanik und die Anwendung des Gravitationsgesetzes auf die Bewegung der Planeten. 39 Osler 1994, 153ff, und Osler 1995
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6 Eine empiristische Philosophie der Mathematik
Interpretation zufolge begründet also Gassendis Auffassung darüber, welchen Status mathematische Wahrheiten für Gott haben – dass sie ihn nämlich in seiner Handlungsfreiheit nicht einschränken und er sie wie alle anderen Dinge jederzeit ändern könnte40 – seine Einstellung bezüglich der Frage, welchen Status sie für uns haben.41 Selbstverständlich darf die Konsequenz innerhalb einer voluntaristischen Theorie nicht sein, dass mathematische Sätze notwendig gelten. Doch scheint mir der Zusammenhang zwischen der erkenntnistheoretischen und der theologischen Frage nicht zwingend.42 Denn einerseits ist es möglich, aufgrund von theologischen Erwägungen einen Voluntarismus zu vertreten, aufgrund von erkenntnistheoretischen Überlegungen aber dennoch zu behaupten, dass wir nicht anders können, als mathematische Sätze als notwendig anzunehmen.43 Andererseits scheint zu gelten, dass selbst wenn Gassendi kein Voluntarist wäre, wenn also zum Beispiel mathematische Wahrheiten metaphysisch notwendig wären, wir in seinem System dennoch nie gerechtfertigterweise glauben könnten, dass sie es sind. Die Frage, was für uns notwendig ist, scheint also unabhängig davon, was wir für Gott für notwendig halten. Im Fall Gassendis scheint mir die Erklärung für seine Haltung bezüglich Mathematik damit eher auf seine empiristische und probabilistische Grundeinstellung unserem Wissen gegenüber zurückführbar: Da wir in allen Überzeugungen von der Sinneserfahrung abhängig sind, sind für uns alle Überzeugungen bloß wahrscheinlich. Selbst wenn es also notwendige Sätze gäbe, könnten wir nie wissen, dass ein Satz notwendig gilt. Diesen Standpunkt gibt Gassendi auch im Fall der Mathematik nicht auf.
40 Vgl. Osler 1995, 148. 41 Vgl. Osler 1995, 148: „The differences between Gassendi and Descartes on the status of mathematical truths is an expression of their differences about God’s relationship to the creation.“ 42 Detel merkt an, dass es Osler nicht gelingt, die Interpretation, dass der Voluntarismus Gassendis philosophische Grundeinstellungen bedingt, textlich zu belegen: „To be sure, the claim that Gassendi was attracted by voluntarist theology can barely be doubted. But the further claim that he favoured moderate scepticism, nominalism and probabilism because he adopted voluntarism, i.e. as a consequence of voluntarism, cannot be supported by textual evidence. At least I know of no such passages, and certainly Osler is, in her published papers, not able to quote one single passage that could support her reading.“ (Detel 2002, 261) 43 Eine solche Strategie könnte zum Beispiel ein transzendentaler Idealist vertreten.
7 GASSENDIS ARGUMENTATION FÜR DIE IMMATERIALITÄT DES GEISTES Mit der vorangehenden Untersuchung von Gassendis Auffassung zu Mathematik wurde geklärt, welchen Status abstrakte Vorstellungen und Urteile in seinem erkenntnistheoretischen System haben. Damit bleibt noch die Frage nach der Beschaffenheit des menschlichen Geistes ungeklärt. In dieser Frage scheint in Gassendis Denken eine Entwicklung stattgefunden zu haben: Während er in den Einwänden gegen Descartes eine materialistische Einstellung an den Tag legt und Descartes’ Argumentation dafür, dass der menschliche Geist immateriell ist, zurückweist, versucht er im Syntagma philosophicum selbst für die Immaterialität des Geistes zu argumentieren. Diese Argumentation wird oft nicht sehr ernst genommen. Es ist verführerisch, sie als durch Gassendis theologische Überzeugungen erzwungen anzusehen, vor allem, da die Argumente, die Gassendi vorbringt, auf den ersten Blick keine besondere Überzeugungskraft entwickeln. Ich möchte jedoch argumentieren, dass diese Behauptung keineswegs zwingend ist, sondern dass sich durchaus eine Interpretation der Argumente finden lässt, die erstens mit dem hier dargestellten erkenntnistheoretischen System Gassendis übereinstimmt und zweitens Probleme aufwirft, die sich als philosophisch relevant herausstellen. Doch zunächst wird uns Gassendis Argumentation gegen die Immaterialität des menschlichen Geistes in den Einwänden beschäftigen. Diese wird erhellen, welche Anforderung Gassendi an eine Theorie des menschlichen Geistes stellt, und uns damit eine bessere Einschätzung seiner späteren Argumentation ermöglichen. 7.1 DER MENSCHLICHE GEIST IN DEN EINWÄNDEN GEGEN DIE MEDITATIONEN Nachdem Descartes sich durch die erste Meditation in den Zustand des absoluten Zweifels gebracht hat, sodass er alles bezweifelt, was überhaupt bezweifelbar ist, versucht er in der zweiten Meditation etwas zu finden, das nicht bezweifelbar, sondern gewiss ist.1 Eine solche Überzeugung meint er in der Aussage gefunden zu haben, dass er „ein denkendes Ding“ (AT VII 27, Übersetzung Wohler) ist, das heißt „Geist bzw. Gemüt bzw. Verstand bzw. Vernunft“ (ebd., Übersetzung Wohl-
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„Ich will alles beseitigen, das auch nur den geringsten Zweifel zulässt, gerade so, als ob ich sicher erfahren hätte, dass es insgesamt falsch ist. Auch will ich solange weiter vorangehen, bis ich irgendetwas Sicheres erkannt habe, oder wenigstens dies als sicher, dass es nichts Sicheres gibt.“ (AT VII 24, Übersetzung Wohler)
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
er).2 Diese Festlegung soll ihn in die Lage versetzen, die Natur des Geistes zu erkennen, sodass diese, wie es die Überschrift der zweiten Meditation verspricht, bessert erkannt wird als die Natur von Körpern (AT VII 24). Da Descartes sich zwingt, die Existenz von Körpern zu bezweifeln, kann er nicht behaupten, dass der Geist eine besonders kleinteilige Art von Körper ist, wie „irgendeine feine, die Körperteile durchströmende Luft, kein Wind, kein Feuer, kein Dampf, kein Hauch [...]“ (AT VII 27, Übersetzung Wohler). Als denkendes Ding zweifelt er, versteht, stimmt zu, lehnt ab, will Dinge, will Dinge nicht und stellt sich Dinge vor (AT VII 28) – all dies, so Descartes, verhilft ihm zu einem besseren Verständnis seiner Natur. In der sechsten Meditation, nachdem er die Existenz Gottes bewiesen zu haben glaubt, kehrt Descartes zu der Frage zurück, was die Natur des Geistes ist. Und aufgrund seiner Regel, dass alles, was klar und deutlich erkannt wird, wahr ist, schließt er aus der Tatsache, dass er Körper und Geist klar und deutlich als verschieden erkennt, dass er als Geist tatsächlich unausgedehnt und von seinem Körper verschieden ist: „[A]llein daraus also, dass ich weiß, dass ich existiere, und ich bemerke, dass einstweilen schlichtweg nichts anderes zu meiner Natur bzw. zu meinem Wesen gehört, außer dem einen, dass ich ein denkendes Ding bin, schließe ich zurecht, dass mein Wesen allein darin besteht, ein denkendes Ding zu sein. Und obwohl ich möglicherweise [...] einen Körper besitze, der mit mir äußerst eng verbunden ist – denn ich besitze einerseits eine klare und deutliche Idee meiner selbst, insofern ich ein denkendes, kein ausgedehntes Ding bin, und andererseits die deutliche Idee des Körpers, insofern er lediglich ein ausgedehntes, kein denkendes Ding ist –, ist es sicher, dass ich von meinem Körper tatsächlich unterschieden bin, und ohne ihn existieren kann.“ (AT VII 78, Übersetzung Wohler)
Sowohl gegen die Argumentation in der zweiten als auch gegen die der sechsten Meditation bringt Gassendi Kritikpunkte vor. Diese beziehen sich vor allem auf zwei Themen: die Frage, inwiefern Descartes ausgeschlossen hat, dass Denken körperlich sein kann, und die Frage, inwiefern Descartes behaupten kann, seine Natur bzw. Essenz erkannt zu haben. In seinen Einwänden gegen die zweite Meditation warnt Gassendi, dass Descartes hier noch nicht gezeigt hat, dass der Geist nicht körperlich ist (AT VII 262f/III.293b, AT VII 264f/III.298a).3 Um dies zu beweisen, so Gassendi, müsste Descartes ein Vermögen des Menschen aufzeigen, dass nicht körperlich sein kann: „Um zu beweisen, dass du von verschiedener (das heißt, wie Du behauptest: unkörperlicher) Natur bist, müsstest du eine bestimmte Operation auf grundsätzlich andere Weise ausführen als es die Tiere tun, nämlich wenn auch nicht außerhalb 2 3
„Ich lasse jetzt nichts gelten, außer dem, was notwendig wahr ist: demnach bin ich genau genommen nur ein denkendes Ding [...].“ (AT VII 27, Übersetzung Wohler) „Trotzdem musst Du noch beweisen, dass die Kraft zu denken so über der körperlichen Natur steht, dass weder ein Spiritus, noch irgendein anderer bewegend-tätiger, reiner und feiner Körper durch irgendeine Disposition leicht in die Lage versetzt wird, das Denken ausüben zu können.“, „[...] sed probandum superest tibi, vim cogitandi ita esse supra naturam corpoream, ut neque spiritus, neque aliud corpus agile, purum, tenue, ulla dispositione parabile sit, quod cogitationis efficiatur capax.“ (AT VII 262f/III.293b, Übersetzung Wohler)
7.1 Der menschliche Geist in den Einwänden gegen die Meditationen
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des Gehirns, so zumindest unabhängig vom Gehirn“ (AT VII 269/III.303b, Übersetzung Wohler).4 Der Zweifel an körperlichen Dingen allein zeigt uns demnach nur, dass es möglich ist, dass der Geist immateriell ist, nicht aber, dass es unmöglich ist, dass er materiell ist. Dafür müsste gezeigt werden, dass die Funktionen des menschlichen Geistes nicht von etwas Körperlichem ausgeführt werden können. Und dies, so Gassendi, gelingt Descartes nicht: „Du sagst: ‚Tieren fehlt die Vernunft.‘ Natürlich haben sie keine menschliche, aber doch ihre; und daher scheint man sie nicht aloga nennen zu dürfen, außer verglichen mit uns, bzw. verglichen mit unserer Art, da im übrigen der logos, bzw. ratio so allgemein zu sein scheint, dass man sie ihnen ebenso beilegen kann wie das erkennende Vermögen oder der innere Sinn. Du sagst: ‚Sie schlussfolgern nicht.‘ Aber obwohl sie nicht so vollkommen und nicht über so viele Dinge schlussfolgern wie Menschen, so schlussfolgern sie gleichwohl, und ein Kontrast scheint nur im Hinblick auf den Grad zu bestehen.“5 (AT VII 270f/III.304a, Übersetzung Wohler, meine Hervorhebung)
Der Unterschied zwischen der Vernunft des Menschen und der Vernunft von Tieren ist laut Gassendi also kein kategorialer Unterschied, sondern bloß ein gradueller. Menschen und Tiere haben das gleiche Vermögen, das aber zu unterschiedlichen Graden ausgeprägt ist. Dementsprechend verneint Gassendi in den Einwänden, dass es Menschen möglich ist, nicht-körperliche Vorstellungen zu bilden. Die Vernunft könnte von Descartes nur dann als Vermögen angeführt werden, das nicht körperlich instanziiert sein kann, wenn er zeigen könnte, dass es sich kategorial vom tierischen Denken unterscheidet. Daran scheitert er laut Gassendi.6 Der zweite Kritikpunkt betrifft Descartes’ Behauptung, mit der Charakterisierung als denkendes Ding seine Natur bzw. Essenz erkannt zu haben. Tatsächlich, so Gassendi, hat Descartes nur bewiesen, dass er existiert, und die offensichtliche Tatsache ausgesprochen, dass er denkt (AT VII 276/III.311a). Descartes hat damit zwar gezeigt, dass es etwas gibt, das denkt, aber nicht, was für ein Ding dieses Etwas ist.7 Hätten wir damit Erkenntnis über die Essenz des Geistes, müssten wir in der Lage sein, aus dieser Aussage Aufschluss darüber zu gewinnen, wie der Geist 4
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„Sane, ut te esse diversae (hoc est, ut contendis, incorporeae) naturae probares, deberes quandam operationem alia ratione exserere, quam exserant bruta: ac nisi extra cerebrum, saltem independenter a cerebro [...]“ (AT VII 269/III.303b) „Ratione, inquies, carent Bruta. Sed nimirum carent humana, non sua: adeo proinde ut non videantur aloga dicenda, nisi comparata ad nos, seu ad nostram speciem, cum alioquin logos, seu ratio tam videatur esse generalis, posseque illis attribui, quam facultas cognoscens sensusve internus. Dicis ea non ratiocinari. Verum, cum non ratiocinentur tam perfecte, deque tot rebus, ac homines; et ratiocinantur tamen, et nihil videtur discriminis, nisi secumdum magis et minus. Dicis ea non loqui, sed cum no proferant voces humanas (scilicet homines non sunt) proferunt tamen proprias, iisque ut nos nostris perinde utuntur.“ (AT VII 270ff/III.304a) „Vielleicht gibt es ja eine ganz andere Weise, in der dies in Deinem Verständnis geschieht; wenn ja, wäre ich Dir sehr verbunden, wenn Du mir sie erklären würdest.“, „Nisi fortassis alius est modus quo fieri ista concipis, quemque si doceas, valde obstringas?“ (AT VII 270/III.304a, Übersetzung Wohler) „Deshalb wäre es nötig gewesen, zu untersuchen und zu schließen, nicht dass Du ein denkendes Ding bist, sondern was für ein Ding Du bist, der Du ein denkendes Ding bist.“, „Quocirca, ut inquirere, sic concludere oporteret non quod sis res cogitans, sed qualis sis res, quae es cogitans.“ (AT VII 276/III.311a, Übersetzung Wohler). Vgl. LoLordo 2005, 10.
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
seine verschiedenen Funktionen ausübt. Wir müssten Fragen beantworten können wie: „Was [die Grundlage des Denkens] ist, wie sie beschaffen ist, wie sie zusammenhängt, wie sie handelt, ob sie Vermögen hat und andere Funktionen; hat sie Teile oder nicht? Wenn sie welche hat, wie sind diese beschaffen? Wenn sie keine hat und unteilbar ist, wie sie sich auf verschiedene Art verhält? Wie sie so viele Handlungen ausführt? In welcher Weise sie mit dem Körper verbunden ist? In welcher Weise sie über ihn hinausgeht? Wie sie ohne jenen lebt? Wie sie von ihm beeinflusst wird?“8 (III.306b, Übersetzung Seidl)
Tatsächlich aber wirft Descartes’ Konzeption des Geistes als immateriell mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Denn laut Gassendi ist nicht vorstellbar, dass etwas Immaterielles so mit etwas Materiellem verbunden ist, wie es für den menschlichen Geist und Körper der Fall ist, und wie diese Dinge interagieren können (AT VII 339ff/III.400a/b).9 Und auf der Grundlage von Descartes’ Auffassung des Geistes als einfacher, immaterieller Substanz stellt sich die Frage, wie dann materielle Dinge, die Struktur haben, in einem solchen Geist repräsentiert werden können (AT VII 337f/III.399b).10 Aufgrund dieser Kritikpunkte weist Gassendi Descartes’ Schluss aus seiner klaren und deutlichen Erkenntnis zurück. Er lehnt nicht ab, dass Descartes seinen Geist von seinem Körper als getrennt auffassen kann – daraus folgt aber nicht, dass der Geist nicht ein weiterer Körper sein kann, da Descartes ja noch nicht gezeigt hat, dass der menschliche Geist nicht körperlich sein kann (AT VII 336f/III.391a).11 Um dies zu erreichen, hätte Descartes laut Gassendi eine Operation des menschlichen Geistes aufzeigen müssen, die in etwas Immateriellem instanziiert sein muss. Darüber hinaus stellt Gassendi auch die Klarheit und Deutlichkeit von Descartes’ Idee des Geistes in Frage, und dies aus zwei Gründen. Zum einen, so Gassendi, kann Descartes nicht behaupten, eine klare und deutliche Idee seines Geistes zu haben, da diese Idee keine Erkenntnis über die Natur oder Essenz des Geistes beinhaltet (AT VII 338/III.399b).12 Wäre die Idee tatsächlich eine klare und deutliche, 8
„[...] superesse putet laborem de ipso cogitationes principio, ad dignoscendum, si fieri possit, cuiusmodi sit, quomodo se habeat, quomodo cohaereat, quomodo agat, habeat-ne facultates, et functiones alias; habeat-ne parteis, annon? Et si habeat, qualeis-nam habeat? Si non habeat, impartilisque sit, quomodo tam varie sese comparet? Quomodo tot munia exerceat? Qua ratione applicetur corpori? Qua ratione ab illo excedat? Quomodo sine illo degat? Quomodo moveatur?“ (III.306b) 9 Vgl. LoLordo 2006, 229. 10 Siehe LoLordo 2005, 11f für eine genauere Darstellung dieses Problems. 11 „Repeto autem difficultatem non esse, sis-ne separabilis an-non, ab hoc corpore; [...] sed de corpore, quod ipsamet sis: quasi possis ipsa esse tenue corpus, intra crassum istud diffusum, aut in eius parte sedem obtinens. Caeterum nondum fecisti fidem esse te aliquid pure incorporeum. Et cum in secunda meditatione enunciasses te esse non ventum, non ignem, non vaporem, non halitum, admonita profecto es, id sine probabtione fuisse enunciatum.“(AT VII 336f/III.391a) 12 „Deinde, quod spectat ad ideam tui, nihil est addenum ad ea, quae iam dicta sunt, ac in meditationem praefertim secundam. Exine enim evincitur, tantum abesse ut ideam tui claram distinctamque habeas, quin penitus nullam habere videaris. Quippe quia tametsi agnoscas cogitare te,
7.1 Der menschliche Geist in den Einwänden gegen die Meditationen
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müsste sie mehr Erkenntnis über den Geist ermöglichen. Zum anderen ist die Aussage, dass der Geist nicht-ausgedehnt ist, keine positive, sondern eine bloß negative Charakterisierung (AT VII 338f/III.399b/400a).13 Sie ist also keine Aussage darüber, was der Geist ist, sondern nur darüber, was der Geist nicht ist, und kann als solche nicht klar und deutlich sein. Descartes ist also Gassendi zufolge zu seinem Schluss auf die Immaterialität des Geistes nicht berechtigt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Gassendi nicht auch schon zu der Zeit, als er die Einwände verfasste, der Überzeugung war, dass der menschliche Geist immateriell ist. Diese Überzeugung hielt er aus Glaubensüberlegungen heraus, er war aber der Meinung, dass wir sie nicht philosophisch begründet können.14 Er schwächt seine Argumentation also mit folgender Aussage selbst ab: „Doch all dies wende ich überhaupt nur ein, [nicht] weil ich an der von Dir intendierten Schlussfolgerung zweifeln würde, sondern weil ich der Stärke des von Dir aufgestellten Beweises misstraue“ (AT VII 343/III.401a, Übersetzung Wohler, Hinzufügung von mir).15 Welche Vorstellung des Geistes aber können wir dann haben, wenn wir den Geist nicht als immateriell erkennen können? Zur Zeit der Einwände ist Gassendi der Auffassung, dass wir nur eine Idee des Geistes bilden können, das heißt eine körperliche Repräsentation, die durch Analogie aus Wahrgenommenem gebildet wurde: „Was die Ideen der immateriellen Dinge betrifft, an die wir glauben, wie die Idee Gottes, der Engel, der menschlichen Seele bzw. des Geistes, so steht fest, dass, welche Ideen auch immer wir von ihnen haben, sie entweder körperlich oder gewissermaßen körperlich sind; denn sie sind von der menschlichen Form, von anderen äußerst feinen, ganz einfachen und so gut wie nicht wahrnehmbaren Dingen wie Luft oder Äther entlehnt [...]“ (AT VII 332/III.386b, Übersetzung Wohler).16 Dementsprechend verweist er oft darauf, dass wir uns den menschlichen Geist (bzw. die menschliche Seele) als feinteiligen materiellen Körper vorstellen
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nescias tamen qualis res sis, quae cogitas: adeo ut cum sola haec operatio nota sit, lateat te tamen quod est praecipuum, substantia nempe, quae operatur.“ (AT VII 338/III.399b) „Sed, inquies, heic addo, non tantum quod sim res cogitans, sed etiam, quod Res non extensa. Verumtamen, ut taceam sine probatione id dici, cum in quaestione tamen sit, quaeso primum, idcirco-ne ideam tui claram et distinctam habes? Dicis te non extensam; dicis quid non sis, non vero quid sis. An ad habendum claram distinctamque, seu, quod idem est, veram germanamque alicuius rei ideam, non est necesse ipsamet rem positive, et, ut ita dicam, affirmate nosse, sufficitque nosse, quod illa non sit alia quaepiam res?“ (AT VII 228f/III.399b/400a) Vgl. LoLordo 2005, 15. „Quae tamen omnia semper obiicio, non ut de conclusione a te intenta dubitans; sed ut de vi demonstrationis a te expositae diffidens.“ (AT VII 343/III.401a) „Quod spectat ad ideas rerum immaterialium creditarum, ut Dei, Angeli, Animae humanae seu mentis; constat etiam quascumque habemus de ipsis ideas, esse vel coporeas, vel quasi corporeas, ex forma scilicet humana, et ex rebus alias tenuissimis, simplicissimis, insensibilisrsimis, cuiusmodi sunt aer, aetherve, desumptas, et supra quoque attigimus.“ (AT VII 332/III.386a)
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
der in unserem Körper verteilt ist (AT VII 265/III.300b).17 Eine andere Vorstellung des menschlichen Geistes, so Gassendi, können wir nicht bilden. 7.2 DER MENSCHLICHE GEIST IM SYNTAGMA PHILOSOPHICUM – DIE STANDARDINTERPRETATION Die Einwände gegen Descartes machen also deutlich, was nach Gassendis Auffassung benötigt wird, wenn die Immaterialität des Geistes bewiesen werden soll: es muss ein Vermögen des Geistes aufgezeigt werden, das nicht körperlich sein kann. In den Einwänden weist er die Möglichkeit zurück, dass dies gelingen kann, da es seiner Meinung nach keinen kategorialen Unterschied zwischen Vorstellen und Verstehen gibt – alles, was wir verstehen, müssen wir uns auch sinnlich vorstellen. Wenn Vorstellungskraft und Intellekt ein Vermögen sind, verhindert dies auf zweierlei Weise, dass wir Erkenntnis von der Immaterialität des menschlichen Geistes haben. Erstens würde ein solcher Unterschied das einzig mögliche Argument dafür liefern, den Geist als immateriell anzusehen. Solange also Vorstellungskraft und Intellekt als Einheit angesehen werden, kann die Immaterialität des Geistes nicht bewiesen werden. Zweitens würde die Möglichkeit eines von der sinnlichen Vorstellung unabhängigen Verstandes es überhaupt erst ermöglichen, eine Vorstellung des menschlichen Geistes zu bilden, die selbst keine körperlich-sinnliche, das heißt keine Idee ist. Solange dies ausgeschlossen ist, können wir gar nicht verstehen, was es heißen soll, dass der Geist immateriell ist. Wenn Gassendi also im Syntagma philosophicum die Behauptung aufstellt, dass wir wissen können, dass der menschliche Geist aus zwei Teilen besteht, einem materiellen und einem immateriellen, muss er sich an diesen Anforderungen messen lassen.18 Er ist aufgefordert zu zeigen, dass der menschliche Verstand Funktionen ausübt, die nicht körperlich sein können, und die es uns ermöglichen, eine Vorstellung des menschlichen Geistes als immateriell zu bilden. Dementsprechend führt Gassendi drei Argumente an, die sich darauf beziehen, dass die Fähigkeiten 17 Vgl LoLordo 2005, 16ff zu Gassendis Einstellung in den Einwänden. LoLordo scheint die Meinung zu vertreten, dass wir diese Idee des Geistes, das heißt die körperliche Vorstellung, aufgrund eines Schlusses aus Zeichen bilden. Meiner Meinung nach dagegen schließt Gassendi in den Einwänden (zumindest an manchen Stellen) eben einen Schluss aus Zeichen aus, der es ermöglicht, zu verstehen, wie ein Ding beschaffen sein muss, ohne dass wir davon sinnliches Material haben können. Diese Schlüsse sind zwar Analogieschlüsse (das heißt wir vollziehen sie aufgrund dessen, was wir wahrgenommen haben), sie haben aber eine theoretische Vorstellung zur Folge. Diese sind meiner Meinung nach gerade zu unterscheiden von weiteren Ideen, die durch einfache Analogie gebildet werden und keinerlei Aussage darüber enthalten, welcher Art der Gegenstand sein muss. Der Unterschied zwischen der Position in den Einwänden und der im Syntagma besteht nun darin, dass in den Einwänden solche theoretischen Vorstellungen ausgeschlossen, im Syntagma aber zugelassen werden. Daher meint Gassendi im späteren Werk, die Ressourcen zu haben, um für die Immaterialität des Geistes zu argumentieren (s.u., S.199). 18 Und er ist offenbar auch der Auffassung, dass er sie, anders als Descartes, erfüllen kann (vgl. LoLordo 2006, 228).
7.2 Der menschliche Geist im Syntagma philosophicum – die Standardinterpretation
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des menschlichen Verstandes nur dann erklärbar sind, wenn er als immateriell aufgefasst wird. Diese Ausführungen werden besser verständlich, wenn wir uns zunächst Gassendis Auffassung des materiellen Teils des Geistes in Erinnerung rufen. Der materielle Teil des Geistes, das Gehirn, besteht Gassendis Theorie entsprechend aus Atomen und ist zuständig für Wahrnehmung, Erinnerung, Urteile und auch Schlussfolgerungen (II.402b). Damit sind, wie in den Einwänden gegen die Meditationen auch, die im vierten Kapitel beschriebenen Quasi-Urteile, die auch Tiere fällen, gemeint (s.o., S.111f). Denn die Beschreibung eines Urteils, das durch die körperliche Vorstellungskraft (phantasia) gefällt wird, ist eben das oben besprochene Urteil des Hundes über sein Herrchen. Auch für die Schlussfolgerungen, die von der körperlichen Phantasia vollzogen werden, bringt Gassendi als Beispiel einen Hund, der davonläuft, wenn er einen Menschen sieht, der einen Stein nach ihm werfen will. Dieses Verhalten kann laut Gassendi nur dadurch erklärt werden, dass der Hund aus dem Stein in der Hand des Menschen schließt, dass der Mensch ihn verletzen will (II.412b) – der Hund vollzieht also eine Schlussfolgerung. Wie schon erwähnt, setzen Urteile (und damit auch Schlussfolgerungen) allgemeine Vorstellungen voraus, unter die eine einzelne Vorstellung im Urteil subsumiert werden kann. Oben hatten wir gesehen, dass die allgemeinen Vorstellungen von Tieren als Aggregate von Sinneindrücken aufgefasst werden können. Diese Aggregate sind durch automatische Assoziation erklärbar. Wie in der Diskussion um die Entstehung von Ideen aus allgemeinens Vorstellungen gesehen, schränkt Gassendi nun die allgemeinen Vorstellungen, die die Vorstellungskraft bildet, auf solche Aggregate ein: „Keine Spur in der Vorstellungskraft (phantasia) kann allgemein genannt werden [...], sondern sie ist bloß ein Aggregat oder Kompositum aus vielen, die untereinander ähnlich sind. Da nämlich alles, was die Sinne empfangen, einzeln ist, kann kein anderer als ein einzelner Eindruck hervorgebracht werden; es kann nichts in die Vorstellungskraft (phantasia) eingedrückt werden, das nicht einzeln ist.“ (II.410b)
Im materiellen Geist finden sich damit nur einzelne Eindrücke, die durch die Sinne empfangen wurden, und Aggregate von diesen. Es gibt aber keine einzelne Vorstellung, die allgemein in dem Sinn ist, dass sie sich auf mehrere Dinge bezieht. Anders als in den Einwänden gegen die Meditationen behauptet Gassendi im Syntagma, dass dies nicht die einzigen allgemeinen Vorstellungen sind, über die wir verfügen. Und diese über die Aggregation hinausgehenden Fähigkeiten des menschlichen Geistes, argumentiert er, sind nun die, die zeigen, dass der menschliche Verstand von der Vorstellungskraft unterschieden werden muss, und damit den Schluss zulassen, dass der menschliche Geist immateriell ist. Die Fähigkeiten des menschlichen Geistes, die zeigen, dass wir einen von der Vorstellungskraft unterschiedenen, immateriellen Intellekt annehmen müssen (II.440a), sind folgende. Der menschliche Geist kann: 1. Vorstellungen von Dingen bilden, die wir nicht wahrnehmen können (II.440b/441a); 2. auf sich selbst und seine Fähigkeiten reflektieren (II.441a); und 3. genuin abstrakte, allgemeine Begriffe bilden (II.441a/b).
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
Als Vorstellungen von Dingen, von denen wir keine sinnliche Wahrnehmung haben können, kommen zum Beispiel Vorstellungen von Atomen in Betracht, deren Entstehung uns oben beschäftigte. Und in der Diskussion von Gassendis Auffassung zu Mathematik hatte sich gezeigt, dass Gassendi zugesteht, dass wir reine mathematische Vorstellungen haben, die keinen sinnlichen Gehalt mehr aufweisen und in diesem Sinn genuin abstrakt sind. Gassendi kann also tatsächlich behaupten, dass wir solche von Aggregaten unterschiedenen Vorstellungen bilden, und es könnte sogar behauptet werden, dass er in der Pflicht ist, eine Erklärung dafür zu liefern, wie der menschliche Geist diese Vorstellungen bilden kann. Es stellt sich aber die Frage, ob dies nur unter der Voraussetzung eines immateriellen Geistes möglich ist. Die Tatsache, dass wir theoretische Vorstellungen von Gegenständen bilden, die wir nicht sinnlich wahrnehmen können, zeigt Gassendi zufolge auf folgende Weise, dass der Intellekt immateriell ist: Die Vorstellungskraft stellt Dinge vor (imaginari), und zwar mittels körperlicher Eindrücke, der species. Der Verstand dagegen, wenn er theoretische Vorstellungen bildet, zum Beispiel die der Sonne in ihrer tatsächlichen Größe, versteht Dinge (intelligere), die sich die Vorstellungskraft nicht vorstellen kann. Da es zu dieser Vorstellung des Intellekts keinen körperlichen Eindruck geben kann – denn diese entstehen durch sinnliche Wahrnehmung, und sinnliche Wahrnehmung des Objekts der Vorstellung ist nicht möglich – muss der Intellekt dies ohne körperliche species leisten. Und, so Gassendi, wenn etwas einen Gegenstand ohne materielle species versteht, „muss es immateriell sein“ (II.441a).19 Die Tatsache, dass der Intellekt auf sich selbst reflektiert, beweist seine Immaterialität Gassendi zufolge aus dem Grund, dass kein materieller Gegenstand auf sich selbst wirken kann. Wenn es so erscheint, als wirke ein materieller Gegenstand auf sich selbst, so ist es tatsächlich nur ein Teil des Gegenstands, der auf einen anderen Teil wirkt. Der Intellekt aber „versteht sich selbst und seine Funktionen, und vor allem nimmt er sich selbst beim Verstehen wahr („Intellectus seipsum, suasque functiones intelligit, ac speciatim se intelligere animadvertit“, II.441a). Eine solche Handlung übersteigt, so Gassendi, offensichtlich die Möglichkeiten jedes körperlichen Vermögens, da es als körperlich an einen bestimmten Ort gebunden ist (ebd.) – die Vorstellungskraft zum Beispiel kann sich selbst und ihre Vorstellungen nicht wahrnehmen. Das dritte Argument für die Immaterialität des Geistes beruht auf der Tatsache, dass wir „nicht nur Universalien und allgemeine Begriffe bilden; sondern sogar den Grund der Allgemeinheit selbst wahrnehmen“ (II. 441a, Übersetzung Seidl).20 Uni19 „[...] ut rem sine specie materiali intelligens, esse immaterialis debeat;“ (II.441a) Dieses Argument erinnert an Descartes’ Argumentation in der sechsten Meditation, wenn er den Unterschied zwischen Vorstellen und Denken am Beispiel des Tausendecks illustriert, das wir verstehen, uns aber nicht sinnlich vorstellen können (AT VII 72). In den Einwänden weist Gassendi den Schluss noch zurück, dass Vorstellungskraft und Verstand unterschiedliche Vermögen sind; hier scheint er selbst einen ähnlichen Schluss zu vollziehen. Siehe Bloch 1971, 401f. 20 „[...] non modo universalia universaleisve notiones formamus; sed percipimus quoque ipsam rationem universalitatis.“ (II.441a)
7.2 Der menschliche Geist im Syntagma philosophicum – die Standardinterpretation
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versalien sind von allen materiellen Bedingungen wie Größe, Gestalt und Farbe unabhängig, so Gassendi, und daher muss die Fähigkeit, die Universalien bildet, das heißt also der Intellekt, „von der Materie abgetrennt sein“ (absolutum esse a materia, II.441b). Als Beispiele für einen genuin universalen Begriff führt Gassendi in diesem Zusammenhang den Begriff des Menschseins (humanitas) an. Während Tieren zugeschrieben werden kann, dass sie auf ihre Weise eine allgemeine Vorstellung des Menschen bilden, erfassen wir die universale Natur des Menschseins (ebd.). Die Ausformulierung der drei Argumente für die Immaterialität des menschlichen Geistes scheint nach dieser Darstellung etwas dürftig. Im zweiten Argument scheint einfach die Behauptung aufgestellt zu werden, dass sich der menschliche Geist auf eine Weise auf sich selbst bezieht, die materiellen Dingen nicht möglich ist. Das erste und dritte Argument beruhen wesentlich auf der Tatsache, dass wir Vorstellungen bilden, die keinen sinnlichen Gehalt haben. Oben hatten wir zwei Wege unterschieden, wie solche Vorstellungen aus Ideen gebildet werden können: zum einen durch Abstraktion, wie im Fall reiner mathematischer Begriffe; zum anderen durch Schlussfolgerung, wie im Fall physikalischer, theoretischer Begriffe wie dem des Atoms oder der Sonne. Laut der Standardinterpretation dieser Argumente21 können sie auf folgende Art rekonstruiert werden: Die Vorstellungskraft ist ein körperliches Vermögen, bringt körperliche Eindrücke hervor und geht mit diesen um. Diese körperlichen Eindrücke haben immer sinnlichen Gehalt. Wir bilden aber Vorstellungen, die keinen sinnlichen Gehalt mehr haben, nämlich theoretische und abstrakte Vorstellungen. Diese Vorstellungen können kein Produkt der Vorstellungskraft sein. Daher sind diese Vorstellungen nicht-körperlich. Auf diese Art dargestellt, unterstützen die Argumente Gassendis nur dann den gewünschten Schluss, wenn mehrere Annahmen getroffen werden. Eine Voraussetzung für die Folgerung ist eine empiristische: Es muss vorausgesetzt werden, dass der körperliche Teil des Geistes alle seine Eindrücke aus den Sinnen erhält. Wäre diese Voraussetzung nicht erfüllt, könnten Vorstellungen, die keinen sinnlichen Gehalt haben, zum Beispiel im menschlichen Gehirn angeboren sein, oder sie könnten durch eine andere Art von „Wahrnehmung“ gewonnen werden. Diese Möglichkeiten schließt Gassendi offensichtlich aus: Alle Vorstellungen beruhen auf Sinneserfahrung, egal ob körperlich oder unkörperlich. Eine weitere Voraussetzung der Argumentation ist die Annahme, dass die Vorstellungskraft nicht in der Lage ist, sich spontan den von ihr gebildeten Vorstellungen zuzuwenden, sie zu manipulieren und neue, andersartige Vorstellungen aus ihnen zu bilden. Wäre diese Bedingung nicht erfüllt, könnte die Vorstellungskraft selbst als Ursprung von theoretischen und abstrakten Vorstellungen angesehen werden. Dies schließt Gassendi offenbar aus. Angesichts seiner Aussagen in den 21 Z.B. Michael 1988, 585; 1989b, 43; Cho 2004, 12; Bloch 1971, 404; LoLordo 2005, 19 bezieht sich auf die Tatsache, dass wir nicht-sinnliche Vorstellungen bilden; Tack 1974, 204 schreibt: „Insbesondere kann nur dem Intellekt als unkörperlichem Vermögen die Erkenntnis unkörperlicher Objekte zufallen.“
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
oben angeführten Argumenten eins und drei ist davon auszugehen, dass seine Begründung für diese Behauptung darin bestünde, dass bei der Bildung einer solchen Vorstellung etwas Körperliches unkörperlich betrachtet wird; daher muss die Vorstellung von etwas Unkörperlichem gebildet werden. Diese Behauptung scheint eine dritte und die wichtigste Voraussetzung der Argumente zu sein, wenn sie auf diese Weise interpretiert werden: Wenn ein Gegenstand nicht-sinnlich aufgefasst wird, muss dieses Auffassen von einem nichtkörperlichen Vermögen vollzogen werden. Meiner Meinung nach liegt dieser Argumentation aber schon immer die implizite Voraussetzung zugrunde, dass die Vorstellungskraft das einzige körperlich instanziierte Vermögen ist, sodass in gewissem Sinn schon vorausgesetzt wird, was erst zu zeigen ist. Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich von der unkörperlichen Betrachtung auf die Unkörperlichkeit des Vermögens schließen, nämlich dass es ein Vermögen des menschlichen Geistes gibt, das nicht körperlich sein kann. Selbstverständlich kann es nach Gassendis Voraussetzung nicht die Vorstellungskraft sein, die ihre Vorstellungen auf diese Art und Weise manipuliert. Dies bedeutet aber nicht, dass es nicht ein weiteres körperlich instanziiertes Vermögen geben kann, das sich spontan den von der Vorstellungskraft gebildeten sinnlichen Eindrücken zuwendet und Vorstellungen anderer Art bildet, Vorstellungen von Gegenständen, die wir nicht sinnlich wahrnehmen können. Diese Vorstellungen bestünden ebenso wie sinnliche Eindrücke in Gehirnzuständen, sie könnten aber, anders als species, keinerlei sinnlichen Gehalt haben. Da nicht klar ist, wie species expressae ihren Gehalt erlangen und wie dieser mit ihrer körperlichen Gebundenheit zusammenhängt, kann Gassendi nicht die Annahme zurückweisen, dass auch Vorstellungen ohne sinnlichen Gehalt körperlich gebunden sein können. Die Tatsache allein, dass die Vorstellung sich auf einen Gegenstand bezieht, der nicht sinnlich gegeben ist oder werden kann, liefert keine Grundlage für einen Schluss auf die Ontologie des ausführenden Vermögens. Die Tatsache, dass wir nicht-sinnliche aus sinnlichen Vorstellungen bilden, unterstützt also – unter der Voraussetzung, dass die Vorstellungskraft solche Vorstellungen nicht hervorbringen kann – nur den Schluss auf ein von der Vorstellungskraft zu unterscheidendes Vermögen, nicht aber den benötigten Schluss auf die Unkörperlichkeit dieses Vermögens. Es erscheint zumindest nicht unmöglich, dass auch nicht-sinnliche Vorstellungen körperlich manifestiert sein können. Damit scheint diese Standardinterpretation von Gassendis Aussagen seine Argumente eher schwach als stark auszulegen. Denn dieser Interpretation liegt die Annahme zugrunde, dass Gassendi in diesen beiden Argumenten schon voraussetzt, dass die Vorstellungskraft das einzig körperlich instanziierte Vermögen ist, sodass Vorstellungen, die (nach Voraussetzung) nicht von der Vorstellungskraft erzeugt werden, trivialerweise von einem nicht-körperlichen Vermögen gebildet werden müssen. Argumentierte Gassendi tatsächlich auf diese Weise, müsste er sich also einen ähnlichen Vorwurf gefallen lassen wie den, den er an Descartes richtet: Er hätte dann zwar gezeigt, dass wir ein von der Vorstellungskraft verschiedenes Vermögen annehmen müssen, aber nicht, dass dieses Vermögen unkörperlich sein muss. Dieses Ergebnis wäre enttäuschend, da Gassendi mit seiner Argumentation eben den Anforderungen gerecht zu werden glaubt, die er in den Einwänden an Descartes
7.3 Eine alternative Interpretation
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stellt. Es stellt sich also die Frage, ob diese Interpretation Gassendis tatsächlicher Absicht gerecht wird, oder ob sich eine alternative Interpretation finden lässt, unter der diese Folgerung nicht gezogen werden muss. 7.3 EINE ALTERNATIVE INTERPRETATION Meiner Meinung nach lässt sich eine solche Interpretation dann gewinnen, wenn man die Argumente eins und drei im Licht des zweiten Arguments betrachtet. Denn die angesprochenen nicht-sinnlichen Vorstellungen müssen gebildet werden, das heißt sie werden Gassendis Empirismus entsprechend auf bestimmte Art und Weise aus bereits vorhandenem Material gewonnen. Abstrakte Vorstellungen wie die des Dreiecks werden dadurch gebildet, dass aus einer zunächst sinnlichen Vorstellung, nämlich der Idee des Dreiecks, aller sinnliche Gehalt abstrahiert wird. Die Bildung abstrakter Vorstellungen beruht also darauf, dass der Geist sich bereits gebildeten Vorstellungen zuwenden kann und insofern auf sich selbst reflektiert. Theoretische Vorstellungen wie die von Atomen oder der Sonne in ihrer tatsächlichen Größe werden, wie wir gesehen haben, durch Schlussfolgerung gebildet. Wir postulieren Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften, da wir aus unserer Erfahrung schließen, dass es diese Gegenstände geben muss, selbst wenn sie nicht wahrnehmbar sind. Eine gewisse Fähigkeit zur Schlussfolgerung gesteht Gassendi zwar auch der Vorstellungskraft zu (vgl. oben S.112). Genauer hatten wir aber darüber hinaus festgestellt, dass wir bei Schlussfolgerungen auf die Eigenschaften theoretischer Gegenstände auf Analogieschlüsse angewiesen sind. Wir schließen auf die Eigenschaften von Gegenständen, die der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich sind, in Analogie zu den Eigenschaften solcher Gegenstände, die wir wahrgenommen haben. Insofern muss sich der Geist auch bei der Bildung theoretischer Vorstellungen bereits vorhandenen sinnlichen Eindrücken zuwenden und diese analysieren, das heißt reflektieren. Die Tatsache, dass sich der menschliche Geist auf seine eigenen Vorstellungen und Fähigkeiten beziehen kann, kann also als Bedingung für die Bildung von Vorstellungen angesehen werden, die wir hier abstrakte bzw. theoretische Vorstellungen genannt haben. Dieser Zusammenhang kann als Grundlage für eine alternative Interpretation von Gassendis Argumentation dienen. An sich liefert die Tatsache, dass wir solche Vorstellungen haben, kein Argument für die Immaterialität des Geistes, da Gassendi noch nicht gezeigt hat, dass es nur ein immaterielles Vermögen sein kann, das diese Vorstellungen hervorbringt. Doch für die Bildung dieser Vorstellungen müssen wir voraussetzen, dass der menschliche Geist sich in einem noch zu spezifizierenden Sinn auf sich selbst bezieht. Gassendis zweites Argument für die Immaterialität des Geistes besteht aber gerade in der Behauptung, dass ein solcher Selbstbezug für einen materiellen Gegenstand nicht möglich ist. Damit scheint es, dass die Plausibilität der Argumentation für die Immaterialität des Geistes innerhalb von Gassendis System wesentlich von der Überzeugungskraft seines zweiten Arguments für die Immaterialität des Geistes abhängt – dass nämlich ein materieller Gegenstand nicht auf sich selbst wirken kann. Zunächst wollen wir daher Gassendis zweites Argument genauer betrachten, um herauszu-
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
finden, worin genau seine Auffassung besteht. Daraufhin werden wir untersuchen, inwiefern die relevante Art der Selbstreflexion mit der Entstehung von theoretischen Vorstellungen in Zusammenhang gebracht werden kann. 7.3.1 Absolute Reflexion als Argument für die Immaterialität des Geistes Es ist also zu untersuchen, ob die Fähigkeit zur Selbstreflexion tatsächlich, wie Gassendi glaubt, ein Argument dafür liefert, dass der menschliche Geist zum materiellen auch einen immateriellen Teil haben muss. Dies wäre dann der Fall, wenn es materiellen Dingen nicht möglich ist, sich in relevanter Hinsicht auf sich selbst zu beziehen. Gassendi argumentiert, dass das, „was körperlich existiert, auf sich selbst nicht wirken kann“ (II.451b, Übersetzung Seidl).2222 Einen möglichen Einwand gegen diese Aussage nimmt er gleich vorweg und schränkt ein, dass materielle Dinge natürlich auf sich selbst wirken können, aber nicht „absolut“ (absolute, II.441a), sondern nur ein Teil des materiellen Gegenstand auf einen anderen Teil. Damit entgeht Gassendi dem Einwand, dass das Gehirn als materieller menschlicher Geist insofern auf sich selbst wirken könnte, als dass es Metarepräsentationen seiner Eindrücke hervorbringt. Da sich eine sinnliche Vorstellung unserer Analyse zufolge auf das bezieht, was sie hervorgerufen hat, müsste für eine Metavorstellung eine sinnliche Vorstellung kausal bewirken, dass eine weitere Vorstellung gebildet wird. Diese weitere Vorstellung hätte damit die erste Vorstellung zum Objekt und wäre eine Metarepräsentation. Ein solcher Vorgang ist in Gassendis Theorie nicht ausgeschlossen,23 doch steht er auch im Einklang mit seiner Behauptung, dass etwas Materielles nicht auf sich selbst wirken kann. In einem solchen Fall wirkt eben ein Teil des Gehirns auf einen anderen Teil, so wie ein Teil des Fingers einen anderen Teil des Fingers berühren kann. Der Intellekt dagegen soll nach Gassendis Auffassung offenbar auf andere Art und Weise auf sich selbst wirken, nämlich auf absolute bzw. uneingeschränkte Art und Weise, die materiellen Gegenständen nicht möglich ist. Dies wirft die Frage auf, was „absolut“ in diesem Zusammenhang zu bedeuten hat. Für Gassendi scheint der Aspekt, durch den bloße Reflektion zu absoluter Reflexion wird, darin zu bestehen, dass der Geist seine eigenen Handlungen erlebt – der Verstand bemerkt (animadvertit), dass er versteht, wobei die Vorstellungskraft als körperliches Vermögen nicht bemerken kann, dass sie wahrnimmt. Die relevante Art der Selbstreflexion besteht damit für Gassendi in Selbstbewusstsein: Der menschliche Geist ist sich im Akt des Denkens bewusst, dass er denkt. Hier bestehen nun zwei Alternativen, inwiefern dies als absolute Reflexion zu verstehen ist. Gassendi scheint der Auffassung zu sein, dass absolute Reflexion darin besteht, dass sich nicht ein Teil eines Ganzen einem anderen Teil, sondern ein 22 „[...] quod existens corporea, agere in seipsam non possit.“ (II.451b) 23 So lässt er zu, dass sinnliche Eindrücke einen Eindruck des Angenehm- oder Unangenehmseins hervorrufen, vgl. Michael 1989a, 43.
7.3 Eine alternative Interpretation
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Gegenstand sich selbst als vollständigem Gegenstand zuwendet. Zum einen kann damit im Zusammenhang mit Selbstbewusstsein gemeint sein, dass wir uns einer Vorstellung beim Vorstellen bewusst sind, (sodass sich die Vorstellung insofern sich selbst als Vorstellung zuwendet); zum anderen kann gemeint sein, dass der Geist sich selbst als Ganzem zuwendet. Die zweite Alternative kann eher überzeugen, da es sich beim reflektierenden Gegenstand um den menschlichen Geist handeln soll, nicht um die Vorstellung selbst. Und das Bewusstsein des Geistes, dass er denkt, scheint insofern tatsächlich eine Reflexion auf sich selbst als Ganzes zu beinhalten, als es impliziert, dass sich der Geist nicht nur bewusst ist, dass er denkt, sondern auch, dass er es ist, der denkt. Absolute Reflexion hat zur Folge, dass der Geist sich nicht nur einer Vorstellung oder einer Handlung bewusst ist, sondern auch der Tatsache, dass es sich um seine Vorstellung oder Handlung handelt. Sie beinhaltet ein Bewusstsein des Subjekts von sich selbst als Subjekt. Im Gegensatz dazu sind sich Tiere höchstens ihrer einzelnen Vorstellungen bewusst, nicht aber ihrer selbst als Träger dieser Vorstellungen. Gassendi geht es also in diesem Argument um das Bewusstsein von sich selbst, das den menschlichen Geist auszeichnet. Warum kann diese Fähigkeit für Gassendi nicht körperlich instanziiert sein? Fred und Emily Michael argumentieren in zwei Artikeln,24 dass zwar die Behauptung möglich ist, dass die bewusste Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung und des eigenen Denkens auch durch eine höherstufige Handlung des Gehirns erklärt werden kann, sodass ein sinnlicher Eindruck einen weiteren Eindruck hervorbringt, durch den das Subjekt sich des ersten Eindrucks bewusst wird. Sie sind aber der Auffassung, dass Gassendi diese Annahme zurückweisen würde, da dies eine unendliche mögliche Reihe reflexiver Handlungen nach sich zöge.25 Das heißt, wenn ein sinnlicher Eindruck einen reflexiven, bewusstmachenden Eindruck auslöst, so muss dieser reflexive Eindruck einen weiteren reflexiven, bewusstmachenden Eindruck auslösen usw. ad infinitum. Dieses Argument überzeugt jedoch nicht, da es voraussetzt, dass alle Eindrücke unter allen Umständen einen reflexiven Eindruck auslösen müssen – eine Voraussetzung, die man nicht treffen muss. Vielmehr könnte man davon ausgehen, dass bestimmte sinnliche Eindrücke einen reflexiven Eindruck auslösen, die reflexiven Eindrücke selbst aber nicht, oder selbst nur unter bestimmten Umständen einen weiteren Eindruck zur Folge haben. So würde der Regress vermieden. Dennoch muss Gassendi natürlich die Behauptung zurückweisen, dass ein Eindruck im Gehirn den reflexiven Akt darstellen kann. Meiner Meinung nach liegt der Grund dafür in der Art des Bewusstseins, um die es Gassendi hier geht. Relevant ist nicht nur, dass ich mich auf einen bestimmten Eindruck beziehen kann; dies könnte auch durch eine einfache Metarepräsentation geleistet werden. Der springende Punkt ist, dass ich ebenso über den Akt des Wahrnehmens wie des Denkens reflektieren kann und mich damit auf mich selbst als Wahrnehmungssubjekt beziehe. Gassendis Vorstellung nach kann sich ein materielles Objekt aufgrund seiner Ortsgebundenheit nicht als Ganzes auf sich selbst zubewegen bzw. beziehen 24 Michael 1988 und Michael 1989a 25 Vgl. Michael 1988, 587 und Michael 1989a, 43.
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
(II.441a). Er ist aber offenbar der Auffassung, dass sich der menschliche Geist, wenn er sich seiner Handlungen bewusst wird, in ebensolcher Weise auf sich selbst bezieht. Indem er sich seiner Handlung bewusst wird, wird sich der Geist auch seiner selbst bewusst. Damit reflektiert der Geist auf sich selbst als Ganzes, das heißt absolut, wie es einem materiellen Objekt nach Gassendis Auffassung nicht möglich ist. Nun stellt sich die Frage, ob der menschliche Geist tatsächlich auf diese Art und Weise reflektiert. Einerseits könnte Gassendi behaupten, dass diese Annahme nicht weiter begründet werden muss, sondern als empirische Tatsache angesehen werden kann:26 Wir erleben alle, dass wir reflektieren und uns unserer Selbst bewusst sind. Andererseits hatten wir oben gesehen, dass die Bildung theoretischer und abstrakter Vorstellungen eine bestimmte Art von Reflexion des menschlichen Geistes voraussetzt. Ließe sich also zeigen, dass sich der menschliche Intellekt bei der Bildung nicht-sinnlicher Vorstellungen im relevanten Sinn auf sich selbst beziehen, seiner selbst bewusst sein muss, müsste Gassendi absolute Reflexion nicht mehr nur behaupten, sondern könnte belegen, dass sie auftritt. 7.3.2 Der Zusammenhang zwischen Abstraktion und Reflexion Damit Gassendis zweites Argument für die Immaterialität des Geistes überzeugen kann, muss also zugestanden werden, dass der menschliche Geist ein Bewusstsein von sich selbst in einem absoluten Sinn hat. Dies schien bisher jedoch nur behauptet, nicht bewiesen. Doch wir hatten festgestellt, dass auch die Bildung theoretischer und abstrakter Vorstellungen eine gewisse Reflexionsfähigkeit des Geistes voraussetzt. Nun stellt sich die Frage, ob es sich in beiden Fällen um die gleiche Art der Reflexion handelt. Ist also Selbstbewusstsein auch die Art der Selbstreflexion, die für die Bildung theoretischer und abstrakter Vorstellungen angenommen werden muss, wie sie von Gassendi konzipiert werden? Oder handelt es sich dabei um eine niedrigstufigere Reflexion? Denn könnte plausibel gemacht werden, dass es sich bei der für die Bildung theoretischer Vorstellungen notwendigen Art der Selbstreflexion um absolute Reflexion handelt, würde Gassendis Behauptung, dass der Geist sich in einem solchen Sinn auf sich selbst bezieht, gestärkt. Damit könnte in der Diskussion die Beweislast verschoben werden; ein Materialist muss dann, um Gassendis Argumentation zurückzuweisen, zeigen, dass abstrahierte Vorstellungen doch durch einen materiellen Geist gebildet werden können. Oben wurde kurz dargestellt, wie nicht-sinnliche aus sinnlichen Vorstellungen gebildet werden. Dies führte zu der Feststellung, dass sich der Geist dabei sich selbst zuwendet. Doch welcher Prozess genau ist es, der Reflexion erfordert? Wenn wir aus sinnlichen Vorstellungen nicht-sinnliche bilden, muss sich der Geist einer sinnlichen Vorstellung zuwenden, und diese auf bestimmte Art und Weise betrachten bzw. analysieren und mit anderen sinnlichen Vorstellungen vergleichen und in 26 Vgl. Michael 1989a, 43.
7.3 Eine alternative Interpretation
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Verbindung bringen. Bei einem Analogieschluss zum Beispiel, der uns Gassendi zufolge erst einen epistemischen Zugang zu theoretischen Gegenständen wie Atomen ermöglicht, werden bestimmte Eigenschaften, die an einem materiellen Gegenstand sinnlich wahrgenommen wurden, in den Begriff eines Gegenstands integriert, der nicht sinnlich wahrgenommen werden kann. In gewissem Sinn muss die Eigenschaft damit abstrakt, das heißt von ihrer tatsächlichen materiellen Instanziierung abgetrennt betrachtet werden. Auch bei der Bildung der von Gassendi Universalien genannten Begriffe, die unabhängig von materiellen Bestimmungen sind, ist die Tatsache, dass abstrahiert wird, entscheidend. Da wir keine Vorstellungen bilden können, die nicht auf Sinneseindrücken beruhen, müssen Vorstellungen, die keinerlei Bezug mehr zu sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften haben, aus sinnlichen Eindrücken gewonnen werden, indem die spezifischen, sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften des Gegenstands allgemein betrachtet werden. Der Begriff eines Dreiecks in der reinen Mathematik wird damit aus unserem empirischen Begriff des Dreiecks gewonnen, indem von immer mehr sinnlichen Bestimmungen abgesehen wird, sodass wir schließlich den Begriff eines Gegenstands gewinnen, der aus Linien besteht, die keinerlei Dicke haben. Der menschliche Geist, wenn er tatsächlich abstrakte Begriffe bilden soll, muss sich also den eigenen Vorstellungen so zuwenden können, dass diese manipuliert und von jeglichem sinnlichen Bezug befreit werden. Worin liegt nun der Unterschied zwischen Vorstellungen, die durch Abstraktion gewonnen werden, und solchen, die direkt auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen? Tiere und Menschen bilden beide sinnliche Eindrücke aufgrund von äußerer Stimulation. Diese Eindrücke werden auch von beiden zu Aggregaten von ähnlich scheinenden Eindrücken zusammengefügt. Dafür muss es der Vorstellungskraft möglich sein, sich an bereits aufgetretene Eindrücke zu erinnern. Auch können auf diese Art und Weise Vorstellungen von unterschiedlichen Eigenschaften eines Gegenstands gebildet werden. Es kann nun davon ausgegangen werden, dass die Prozesse, die zur Bildung solcher sinnlicher Eindrücke und allgemeiners Vorstellungen führen, im Erkenntnissubjekt automatisch ablaufen (s.o., S.114f): Eindrücke werden automatisch auf bestimmte Art und Weise assoziiert, ohne dass das Subjekt darauf Einfluss oder ein Bewusstsein davon hätte. Im Gegensatz dazu scheint es sich bei Abstraktion um einen wesentlich bewussten Vorgang zu handeln. Damit der Geist in der Lage sein kann, bestimmtes Material anders zu betrachten, als es sinnlich gegeben ist, muss er sich zunächst dessen bewusst sein, wie es tatsächlich gegeben ist. Das Subjekt muss dazu seine eigene Vorstellung gewissermaßen von außen betrachten – als eine Vorstellung, die auf bestimmte Art und Weise zustande gekommen ist und mit anderen Eindrücken auf bestimmte Art und Weise zusammenhängt oder auch nicht. Das Betrachten einer Vorstellung als Vorstellung beinhaltet aber immer auch einen Träger dieser Vorstellung. Etwas als Vorstellung aufzufassen heißt, es als in einem Träger bzw. Erkenntnissubjekt aufzufassen.27 Es ist also nicht möglich, dass der menschli27 Selbst Hume, der eine Bündeltheorie des Geistes vertritt (Treatise I.4.6, 252), in der die Annahme eines solchen Trägers immer fehlgeleitet ist, weist nicht zurück, dass wir diese An-
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
che Intellekt eine Vorstellung als Vorstellung betrachtet, ohne sie dabei auch als seine eigene Vorstellung zu erleben. Insofern impliziert die Fähigkeit zur Abstraktion ein Bewusstsein des Subjekts von sich selbst als Wahrnehmungssubjekt, wie wir es oben mit Gassendis Konzeption von absoluter Reflexion in Verbindung gebracht hatten. Die Prozesse, durch die die Vorstellungen der Vorstellungskraft gebildet werden, sind also dadurch gekennzeichnet, dass sie auf automatischer Assoziation beruhen und somit kein Bewusstsein des Subjekts erfordern. Der Prozess der Abstraktion, der vom Intellekt ausgeführt wird, zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass er ein Bewusstsein des Subjekts von sich selbst voraussetzt. Insofern lässt sich feststellen, dass zwar Gassendis Argument, dass ein körperliches Vermögen nur sinnlich gebundene Vorstellungen bilden kann, nicht überzeugt – dass die Tatsache, dass wir theoretische Vorstellungen bilden, in Gassendis Sinn aber dennoch ein Argument für die Immaterialität des Geistes darstellen kann. Denn sie setzt ein Bewusstsein des Geistes von sich selbst voraus, wie es Gassendis Auffassung zufolge nicht in einem körperlichen Gegenstand instanziiert sein kann. 7.4. GASSENDIS STRATEGIE Die Tatsache, dass wir theoretische Vorstellungen bilden, kann also ein systematisches Argument für die Annahme liefern, dass der menschliche Geist sich absolut auf sich selbst bezieht. Es ist allerdings unklar, ob Gassendi selbst diese Argumentation auch im Sinn hatte, oder ob er in seinen Argumenten eins und drei nur den weniger überzeugenden Schluss vom nicht-sinnlichen Charakter theoretischer Vorstellungen auf ihre Unkörperlichkeit vollziehen wollte. Auf den ersten Blick scheint es, als wäre letzteres der Fall. Allerdings dürfte er sich unter diesen Umständen in seiner Argumentation nur auf genuin abstrakte oder theoretische Vorstellungen beziehen, das heißt solche, die tatsächlich keinerlei Bezug mehr zu sinnlichen Eigenschaften beinhalten. Denn nur diese können als Grundlage für diese Argumentation dienen. Nun scheint dies im Fall von theoretischen Vorstellungen von Vornherein unplausibel, da solche Vorstellungen in den meisten Fällen Bezug auf irgendeine Eigenschaft nehmen wird, die wir sinnlich wahrnehmen können – so wie zum Beispiel die theoretische Idee der Sonne auch beinhaltet, dass die Sonne eine Kugel ist. Wenn also Gassendi sagt, dass der Verstand Dinge versteht, die für uns sinnlich nicht wahrnehmbar sind, und dass er aus diesem Grund immateriell sein muss, heißt dies nicht, dass in der Vorstellung keinerlei Bezug mehr auf sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften genommen wird. Unabhängig davon, ob die Vorstellung auch noch auf sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften Bezug nimmt, wird die Vornahme treffen, wenn wir auf unsere Ideen reflektieren: „For from thence it evidently follows, that identity is nothing really belonging to these different perceptions, and uniting them together; but is merely a quality, which we attribute to them, because of the union of their ideas in the imagination, when we reflect upon them.“ (Treatise 1.4.6., 260)
7.4. Gassendis Strategie
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stellung dadurch theoretisch, dass der Gegenstand auch auf eine Art und Weise aufgefasst wird, die keine sinnliche Repräsentation mehr zulässt. Die Behauptung ist dann, dass der Verstand diesen Akt des Verstehens eines Gegenstands auf nichtsinnliche Weise nicht vollziehen könnte, wenn er nicht immateriell wäre. Dies entspricht dem oben ausgeführten Argument, dass Analogieschlüsse als Akte der Abstraktion nicht von einem körperlichen Vermögen vollzogen werden können. Im Fall von Universalien scheint die Behauptung, dass es Gassendi um genuin abstrakte Vorstellungen geht, plausibler. Doch an seiner Argumentation zeigt sich, dass es ihm nicht um Begriffe geht, die von allen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften abstrahieren, sondern um die Tatsache, dass es sich überhaupt um abstrahierte Vorstellungen handelt, das heißt solche, die als allgemein angesehen werden können. Zunächst ist zu beachten, dass Gassendi von allgemeinen Begriffen spricht, die wir normalerweise als empirische ansehen würden, wie zum Beispiel den Begriff des Menschseins, oder die Begriffe von Farbe und Gestalt. Bei seinen Beispielen handelt es sich also um Ideen. Selbstverständlich können wir von diesen Dingen auch theoretische Vorstellungen bilden. Es geht Gassendi in seinem dritten Argument aber um die Allgemeinheit der Vorstellungen, nicht um ihren theoretischen Charakter. Des Weiteren führt er in seiner Argumentation aus, dass zwar Tiere auf ihre Weise allgemeine Vorstellungen bilden, tatsächlich aber nur Einzelnes erleben, nichts Abstraktes: „keine Farbe, sondern nur Farbiges; keinen Geschmack, sondern nur Schmackhaftes“ (II.441b).28 Menschen dagegen haben allgemeine Vorstellungen, wobei sie zwar auch immer „eine bestimmte Größe, eine bestimmte Gestalt, eine bestimmte Farbe“29 (II.441b) erfahren, aber auch eine „besondere“ (speciali, II.441b) Form dieser Eigenschaften, nämlich die allgemeine. Gassendi beruft sich also mitnichten auf die Tatsache, dass es Vorstellungen gibt, die komplett von sinnlichem Gehalt abstrahieren, sondern vielmehr darauf, dass wir überhaupt abstrahieren und somit Vorstellungen bilden können, die insofern allgemein sind, als dass sie mehreren Gegenständen eine gemeinsame Eigenschaft zuschreiben. Zwar buchstabiert Gassendi nicht aus, warum genau er der Meinung ist, dass theoretische und abstrakte Vorstellungen nur von einem immateriellen Teil des Geistes gebildet werden können. Doch seine Behauptung, dass wir nicht nur Allgemeines, sondern auch den „Grund der Allgemeinheit“ verstehen können, kann als Hinweis auf das Reflexionsargument verstanden werden. In den Gegenständen gibt es keine Allgemeinheit. Der Grund der Allgemeinheit müssen also wir selbst sein, beziehungsweise der menschliche Verstand. Eine Konsequenz dieser Analyse von Gassendis Argumenten für die Immaterialität des Geistes soll an dieser Stelle kurz angesprochen werden. Sie betrifft den Status von Ideen. Der Status von species und tatsächlich theoretischen und abstrakten 28 „[...] bruta non ipsa abstracta apprehendunt, sed concreta solum; ut non colorem, sed coloratum; non saporem, sed sapidum, etc.“ (II.441b) 29 „Et, ne instes in nobis quoque, dum universale concipimus, admisceri semper aliquid singularitatis, ut certae magnitudinis, certae figurae, certi coloris, etc.“ (II.441b)
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
Vorstellungen war immer eindeutig: Species sind körperliche, sinnliche Vorstellungen von Gegenständen, theoretische und abstrakte Vorstellungen sind nach Gassendis Auffassung immateriell. Der Status von Ideen dagegen ist unklar. Nach unserer obigen Analyse sind sie einerseits sinnliche, partikulare Vorstellungen von Gegenständen, und damit körperlich gebunden. Andererseits sind sie als allgemeine Vorstellungen das Ergebnis eines Abstraktionsprozesses und unterschieden von species. In der Literatur werden Ideen oft in die Nähe von species gerückt, wenn nicht gar mit ihnen identifiziert. Und nähme man die Argumentation ernst, die Gassendi in seinem ersten und dritten Argument bei oberflächlicher Betrachtung zu verfolgen scheint, dann wären die Vorstellungen des immateriellen Geistes die, die keinerlei sinnlichen Bezug mehr haben. Denn in diesem Fall beruhte die Argumentation auf der Annahme, dass sinnliche Vorstellungen immer körperlich sind und nicht-sinnliche damit nicht-körperlich. In diesem Fall müssten Ideen also als körperliche Vorstellungen angesehen werden und würden damit näher an species als an genuine Universalien gerückt. Allerdings hat die obige Untersuchung von Gassendis Argumenten gezeigt, dass der Grund, aus dem theoretische und abstrakte Vorstellungen als Produkte eines immateriellen Geistes angesehen werden können, weniger darin liegt, dass sie keinen sinnlichen Gehalt mehr haben, sondern vielmehr in dem Prozess ihrer Entstehung, d.h. im Abstraktionsprozess. Da Ideen, wie oben gezeigt wurde, als Begriffe, mit denen mehreren Gegenständen eine gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben werden kann, notwendigerweise Produkte eines Abstraktionsprozesses sind, werden sie unter dieser Interpretation von Gassendis Argumentation zu Produkten des immateriellen Geistes. Dies mag überraschen, da sie unserer Analyse zufolge keineswegs als genuin allgemeine Vorstellungen gelten können. Doch obwohl Ideen in ihrem Gehalt von sinnlichem Material abhängen, werden sie durch die Abstraktion zu einer gänzlich anderen Art von Vorstellung als species. Und Gassendis Bezug auf Ideen in seinem dritten Argument zeigt, dass er sich dieser Tatsache durchaus bewusst war. Entgegen dem ersten Anschein bezieht sich Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes also nicht auf die Tatsache, dass wir genuin abstrakte Vorstellungen bilden, sondern vielmehr darauf, dass wir überhaupt zu Abstraktion in der Lage sind. Doch Gassendis Behauptung, dass wir genuin abstrakte Begriffe bilden, macht seine Theorie in der Hinsicht stärker, als dass sie dadurch nicht dem Vorwurf ausgesetzt ist, Abstraktion unnötigerweise einzuführen. Gäbe es in Gassendis Theorie keinen Platz für theoretische und abstrakte Begriffe, wäre schwer einzusehen, warum er Ideen als abstrahiert annehmen sollte. Eine Theorie im Stile Berkeleys, bei der Allgemeinheit nur in Ähnlichkeiten und Aggregation besteht, ohne dass wir den Anspruch erheben, allgemeine Eigenschaften zuzuschreiben, schiene dann überzeugender. Die Tatsache, dass Gassendi theoretische und abstrakte Begriffe einführt, macht dagegen deutlich, dass er eine solche Position nicht vertreten will, und ist somit auch die Grundlage für seine Argumentation für die Immaterialität des Geistes.
7.5 Einwände
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Wir wollen kurz rekapitulieren: Wie sich an den Einwänden gegen die Meditationen zeigt, muss Gassendi, um die Immaterialität des Geistes zu beweisen, ein Vermögen des menschlichen Geistes aufweisen, das nicht körperlich sein kann. Als dieses Vermögen identifiziert er im Syntagma den Intellekt. Der menschliche Intellekt kann Gassendi zufolge aus drei Gründen nicht materiell sein: er bildet theoretische und abstrakte Vorstellungen, und er bezieht sich absolut auf sich selbst. Zunächst bot sich die Interpretation an, dass Gassendi von der Nicht-Sinnlichkeit theoretischer und abstrakter Vorstellungen auf die Immaterialität des Vermögens schließen möchte. Dieser Schluss ist aber unbegründet, sodass es geboten schien, wenn möglich eine andere Interpretation vorzuweisen. Nach dieser hier vorgeschlagenen Interpretation müssen wir uns den Intellekt als immateriell denken, da der menschliche Geist eine Art Bewusstsein von sich selbst hat, das einem körperlichen Gegenstand nicht möglich ist. Theoretische und abstrakte Vorstellungen, wie sie von Gassendi konzipiert werden, scheinen nun im Gegensatz zu den von der Vorstellungskraft gebildeten Aggregationen ein ebensolches Selbstbewusstsein vorauszusetzen, und sie zeigen dementsprechend, dass der menschliche Geist immateriell sein muss. 7.5 EINWÄNDE Gassendi Argumentation für die Immaterialität des Geistes beruht also auf der Tatsache, dass theoretische und abstrakte Vorstellungen eine Fähigkeit zur Abstraktion voraussetzen. Abstraktion kann aber nur stattfinden, wenn sich Geist absolut auf sich selbst bezieht und auf seine Eindrücke, seine Funktionen und sich selbst als Wahrnehmungssubjekt reflektiert. Und eine solche absolute Reflexion ist materiellen Gegenständen nicht möglich. Gegen die verschiedenen Schritte des Arguments lassen sich verschiedene Einwände vorbringen. Ein erster Einwand wird von Antonia LoLordo formuliert. Sie ist der Auffassung, dass „neither the claim of self-reflexive ability nor the claim of universality can really be developed in accordance with the theory of cognition Gassendi puts forth elsewhere.“30 Sie lehnt also ab, dass Gassendi das zweite und dritte Argument berechtigterweise vorbringen kann, wobei sie akzeptiert, dass Gassendi eine Erklärung für theoretische Vorstellungen benötigt.31 Ich stimmte mit 30 LoLordo 2006, 239, wobei sie allerdings die Ansicht zu vertreten scheint, dass es Gassendi im dritten Argument um tatsächlich universale, d.h. abstrakte Vorstellungen geht, nicht einfach um abstrahierte (vgl. LoLordo, 235), und auf dieser Grundlage das Argument ablehnt. Wie sich am Beispiel der Mathematik gezeigt hat (s.o., S.181f), verpflichtet sich Gassendi aber erstens durchaus zur Annahme genuin abstrakter und damit universaler Begriffe. Zweitens beruft er sich nach der obigen Analyse nur auf abstrahierte Vorstellungen, nämlich Ideen, und scheint also der Auffassung zu sein, dass diese für sein Argument ausreichen. 31 LoLordo 2006, 236f: „The [first] argument [...] is somewhat more plausible and central. For Gassendi [...] needs some form of analogical cognition to explain the possibility of cognition of atoms, molecules, and underlying corpuscular structures too small to see. So this [...] argument is not ad hoc the way the [other] two are.“
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
dieser Einschätzung nicht überein. Wie ich dargelegt habe, sind die drei Argumente meiner Meinung nach nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Das erste und das dritte Argument beruhen jeweils auf der Abstraktionsfähigkeit unseres Geistes. Damit plausibilisieren sie erst die Behauptung, dass der Geist absolut auf sich selbst reflektiert. Unabhängig davon, ob Gassendis Argumente überzeugen können, scheint es mir also, dass er zumindest berechtigt ist, sie in dieser Weise vorzubringen. Ein zweiter, inhaltlicher Einwand wendet sich gegen die Behauptung, dass es sich beim Selbstbewusstsein des menschlichen Geistes tatsächlich um eine absolute Reflexion handelt, wie Gassendi sie fordern muss, um den Schluss auf die Immaterialität zu rechtfertigen. Zum Beispiel könnte man die Auffassung vertreten, dass der menschliche Geist nicht tatsächlich absolut auf sich reflektiert, da eine solche Reflexion Erkenntnis über die Beschaffenheit und Funktionsweise des Geistes implizieren würde.32 Wenn der menschliche Geist sich auf die von Gassendi behauptete Weise auf sich selbst bezöge, dann sollte er durch diesen Bezug doch in der Lage sein herauszufinden, was für eine Art von Gegenstand er ist, und wie zum Beispiel seine Fähigkeiten in seiner Ontologie begründet sind. Müsste also, anders gesagt, Gassendi nicht doch auch die explanatorischen Anforderungen erfüllen, die er selbst an Descartes stellt? Oben hatten wir gesehen, dass Gassendi Descartes vorwirft, seine Charakterisierung des menschlichen Geistes als unausgedehntes, denkendes Ding erlaube keine Erkenntnis der Natur des Geistes, sondern sei eine rein negative Charakterisierung. Dies trifft auf unsere Vorstellung des Geistes auch zu: Aufgrund unserer Wahrnehmung von materiellen Gegenständen sind wir gezwungen, den Geist als nicht-materiell aufzufassen. Dadurch erhalten wir aber keinerlei Information darüber, wie der Geist tatsächlich beschaffen ist. Wir wissen nur, dass er nicht so beschaffen ist, wie die materiellen Gegenstände, die wir wahrnehmen. Nun könnte man argumentieren, dass Gassendi im Gegensatz zu Descartes nicht die Behauptung aufstellt, dass dieser Schluss Erkenntnis über die Natur des Geistes ermöglicht. Wir werden zu dieser Annahme gezwungen, wenn wir die Handlungen des menschlichen Geistes mit den Eigenschaften materieller Gegenstände vergleichen. Dies bedeutet aber nicht, dass uns dieser theoretische Begriff Möglichkeiten an die Hand gibt, die genaue ontologische Beschaffenheit des Geistes, seine Funktionen aufgrund dieser ontologischen Beschaffenheit und seine Interaktion mit dem Körper zu erklären.33 Aufgrund der Tatsache, dass uns Gassendi als gezwungen ansieht, den menschlichen Geist als immateriell aufzufassen, wobei dieses Auffassen in einer rein negativen Beschreibung besteht, könnte man meinen, entgeht er der explanatorischen Last, die Descartes mit seiner Behauptung trägt. Doch gegen diese Behauptung lässt sich einwenden, dass die Argumentation, die Gassendi zur Bildung dieser Vorstellung des menschlichen Geistes führt, inhaltlich doch ein solches Wissen impliziert. Denn laut Gassendi können wir auf die 32 Auch LoLordo 2005, 20 merkt dies an. 33 LoLordo 2006, 236. Obwohl Gassendi sich dennoch an einer Erklärung der Interaktion von Körper und Geist versucht (II.244a), vgl. LoLordo 237ff.
7.6 Die theoretische Vorstellung des menschlichen Geistes
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Immaterialität unseres Geistes schließen, da wir uns absolut auf uns selbst beziehen. Und man könnte meinen, dass ein solcher absoluter Bezug Erkenntnis über die Beschaffenheit und Funktionsweise des Geistes beinhaltet. Doch diese Art von Erkenntnis ist uns nicht zugänglich, obwohl wir uns in gewissem Sinn unserer selbst bewusst sind. Dann aber lässt sich schließen, dass unsere Art des Selbstbewusstseins nicht in dem von Gassendi verlangten absoluten Sinn besteht, sondern als niedrigere Stufe von Selbstbewusstsein aufgefasst werden muss. Insofern kann also zurückgewiesen werden, dass sich der menschliche Geist tatsächlich auf sich selbst bezieht. Um Gassendis Argumentation zu untergraben, müsste aber erstens gezeigt werden, dass diese Art des Bewusstseins für Abstraktion ausreichend ist. Andernfalls könnte man im Sinn Gassendis vorbringen, dass die Fähigkeit zur Abstraktion zeigt, dass die relevante Art von Reflexion stattfindet. Zweitens wäre noch nicht gezeigt, dass diese niedrigere Stufe von Bewusstsein körperlich instanziiert sein kann. Einem dritten Einwand zufolge kann sogar zugestanden werden, dass der Geist sich absolut auf sich selbst bezieht, doch es wird zurückgewiesen, dass eine solche Reflexion einem körperlichen Vermögen nicht möglich ist. Das menschliche Gehirn ist schließlich ein hochkomplexes Gebilde. Wieso sollte ausgeschlossen sein, dass einem solch komplexen materiellen Gegenstand die Art von Reflexion auf sich selbst möglich ist, die die Fähigkeit zur Abstraktion und Wahrnehmung von sich selbst als Wahrnehmungssubjekt beinhaltet? Diesem Einwand kann man auch aus heutiger Sicht noch erwidern, dass noch nicht erklärt ist, wie Bewusstsein auch aus einem solch komplexen System entstehen kann.34 Und die Last, dies zu zeigen, liegt sicherlich auf demjenigen, der behaupten möchte, dass Bewusstsein eine rein körperliche Grundlage haben kann. Selbst wenn man also Gassendis Argumente für nicht schlüssig hält, verschieben sie also doch zumindest die Beweislast: Um Gassendis Argumentation zurückzuweisen, ist ein Materialist aufgefordert zu zeigen, dass seine Theorie Selbstbewusstsein erklären kann. 7.6 DIE THEORETISCHE VORSTELLUNG DES MENSCHLICHEN GEISTES Was für eine Erkenntnis des menschlichen Geistes ermöglicht uns aber dieser Schluss auf dessen Immaterialität? Wie wir oben gesehen haben, kann Gassendi in den Einwänden gegen die Meditationen nur eine Idee des menschlichen Geistes 34 Dies zeigt sich zum Beispiel an der Diskussion um das sogenannte „hard problem of consciousness“ (Chalmers 1995). Hier wird nicht das Selbstbewusstsein, um das es Gassendi geht, problematisiert, sondern die Frage, wie das qualitative Element der Erfahrung im Materialismus erklärt werden kann (vgl. Chalmers 1995, 1996). Mit scheint es jedoch, dass die allgemeine Frage, wie wir uns unserer selbst oder unserer Vorstellungen bewusst werden, die Gassendi stellt, mit dieser Frage zusammenhängt: unser Bewusstsein unserer selbst besteht eben darin, dass wir die Dinge auf bestimmte Weise erleben. Weder könnten wir sie auf bestimmte Weise erleben, wenn wir kein Bewusstsein hätten, noch könnten wir Bewusstsein haben, ohne die Dinge auf bestimmte Weise zu erleben.
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7 Gassendis Argumentation für die Immaterialität des Geistes
zulassen, das heißt eine sinnliche Vorstellung, in der wir uns den Geist als besonders kleinteiligen Körper wie Luft oder Äther vorstellen. Die Vorstellung allerdings, die wir aufgrund der Argumentation im Syntagma bilden, ist eine Vorstellung anderer Art, nämlich eine theoretische Vorstellung. Sie beruht auf einem Schluss aus Zeichen (s.o., S.140ff), indem wir von den wahrnehmbaren Eigenschaften materieller Gegenstände und den wahrnehmbaren Eigenschaften des Geistes auf seine Beschaffenheit schließen. Dieser Schluss hat folgende Struktur: Materielle Gegenstände beziehen sich nicht absolut auf sich selbst, sondern nur ein Teil eines materiellen Gegenstands bezieht sich auf einen anderen Teil des Gegenstands. Der menschliche Geist bezieht sich absolut auf sich selbst. Der menschliche Geist kann daher nicht materiell sein, sondern muss als immateriell aufgefasst werden. Die theoretische Vorstellung des Geistes unterscheidet sich von der Idee des Geistes insofern, als dass sie beinhaltet, dass wir eine Tatsache über den Geist erfassen oder verstehen, die wir uns nicht sinnlich vorstellen können. Die Idee des Geistes beinhaltet keinerlei solches Verständnis, sondern nur sinnliches Material aus durch Erfahrung gewonnenen Ideen, das wir zu einer neuen Idee zusammengefasst hatten. In der theoretischen Vorstellung dagegen verstehen wir etwas über den Gegenstand, dem wir kein sinnliches Material zuordnen können. Die Idee des menschlichen Geistes wird damit durch den Prozess der Analogie gebildet, wie ihn Gassendi in der Institutio logica beschreibt: wir bilden aus vorhandenen Ideen, das heißt aus vorhandenem sinnlichen Material, eine analoge neue Idee, so wie wir uns zum Beispiel einen Menschen, den wir noch nie getroffen haben, nur aufgrund einer Beschreibung sinnlich vorstellen können, nämlich in Analogie zu den Ideen anderer Menschen. Wir bauen gewissermaßen eine neue Idee aufgrund des vorhandenen sinnlichen Materials. Auf diese Weise stellen wir uns den menschlichen Geist durch eine Idee in Analogie zu besonders feinteiligen Körpern vor, die wir noch wahrnehmen können. Die theoretische Vorstellung des menschlichen Geistes wird durch einen Analogieschluss gebildet. Auch hier müssen wir sinnliches Material zu Hilfe nehmen, damit wir etwas über einen Gegenstand verstehen können; durch dieses Verstehen gehen wir aber explizit über das uns zugängliche sinnliche Material hinaus. Wir schließen auf die Existenz von Atomen als unteilbare materielle Körper, aus denen die Körper, die wir wahrnehmen, aufgebaut sind, und in diesem Schluss stellen wir uns Atome in Analogie zu diesen wahrnehmbaren Körpern vor. Dieser Schluss beinhaltet aber darüber hinaus ein Verständnis von Tatsachen, die wir nicht wahrnehmen können, z.B. dass Atome unteilbar sein müssen. Der theoretische Begriff des menschlichen Geistes wird auch in Analogie zu wahrnehmbaren materiellen Gegenständen gebildet – wir können nicht anders als uns den immateriellen Geist so vorzustellen wie feinteilige Körper. Wir verstehen aber auch, dass der menschliche Geist von anderer Art ist als materielle Gegenstände, eben weil er andernfalls seine Funktionen nicht ausführen könnte.
7.7 Zusammenfassung
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7.7 ZUSAMMENFASSUNG Diese Diskussion von Gassendis Argumenten und möglicher Einwände gegen sie hat Folgendes aufgewiesen. Einerseits muss man der Behauptung, dass Selbstbewusstsein nur in einem immateriellen Geist seinen Ursprung haben kann, nicht zustimmen. Es ist nicht zwingend der Fall, dass etwas Körperliches dies nicht leisten kann. Andererseits aber sind Gassendis Argumente zumindest nicht so unüberzeugend, wie sie generell aufgefasst werden. Mit seinem zweiten Argument wirft Gassendi die berechtigte Frage auf, auf welche Art und Weise der menschliche Geist reflektiert, sich seiner selbst bewusst ist, und welche Art von Ding er aufgrund dieser Fähigkeit sein muss. Darüber hinaus kann Gassendi mit theoretischen und abstrakten Begriffen Beispiele dafür anführen, wie sich die von ihm angenommene absolute Reflexion in Handlungen unseres Geistes niederschlägt. Ein überzeugter Materialist wird sich wohl von dieser Argumentation nicht umstimmen lassen – bewiesen ist damit die Immaterialität des Geistes also sicher nicht. Doch Gassendi war offenbar kein überzeugter Materialist; er hatte sicher religiöse Gründe, für die Immaterialität des menschlichen Geistes zu argumentieren; doch es kann auch nicht behauptet werden, dass diese Annahme und seine Argumentation in seiner Theorie einen Fremdkörper darstellen.
8 SCHLUSS Das Ziel dieser Analyse des philosophischen System von Pierre Gassendi bestand darin, seine Reaktion auf bestimmte Probleme zu untersuchen, die sich aus empiristischen Theorien klassischerweise ergeben. Dabei handelte es sich erstens um das Problem des Begriffserwerbs, das aufgrund von Gassendis Empirismus und Nominalismus akut wurde. Zweitens stellte sich die Frage nach der Rechtfertigung, sowohl von empirischen als auch von theoretischen Urteilen. Drittens schien es, dass in einer empiristischen Theorie eine Erklärung dafür nötig wird, wie eine abstrakte Wissenschaft wie die Mathematik betrieben werden kann. Und viertens war Gassendi in der Pflicht, sowohl in Reaktion auf rationalistische Theorien des Geistes als auch in Anbetracht seines Atomismus, eine Einstellung zur Ontologie des menschlichen Geistes zu entwickeln. Wie sind nun die Antworten einzuschätzen, die sich bei Gassendi auf diese Fragen finden lassen? Zunächst zeigte sich bei der Untersuchung seiner Theorie von Propositionen, dass Gassendi sich zur Annahme von Begriffen verpflichtet. Diese wurden in dem Sinn als allgemein aufgefasst, als dass sie an Prädikatstelle in einem Urteil stehen können. Die Analyse des Ideenbegriffs zeigte, dass Ideen diese Funktion erfüllen, indem sie Definitionen und damit allgemeine Beschreibungen ihres Gegenstands beinhalten. Insofern können sie nicht nur in einem technischen, sondern auch in einem systematischen Sinn als Begriffe verstanden werden. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, wie diese Begriffe aus Wahrnehmungen entstehen. Die Grundlage ihrer Erklärung kann dabei weder in angeborenen Ideen noch in allgemeinen Eigenschaften liegen. Gassendis klassisch nominalistische Antwort auf diese Frage besteht in dem Verweis auf Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen: Die Dinge haben zwar keine Eigenschaften gemeinsam, sie sind sich aber ähnlich. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten kommen wir laut Gassendi dazu, Gegenstände unter einen Begriff zu bringen. Eine genauere Untersuchung seiner Aussagen ergab allerdings, dass Gassendi Ähnlichkeiten nicht als ontologisch real ansieht. Begriffsbildung muss damit für ihn auf scheinbaren Ähnlichkeiten beruhen. Die Tatsache, dass uns unsere Eindrücke zu ähneln scheinen, macht es möglich, diese Eindrücke gemäß dieser Ähnlichkeiten zu sortieren. Aufgrund dieser Aggregation können wir dann einen Eindruck auswählen und ihn durch Abstraktion als Prototyp für eine bestimmte Art von Gegenstand ansehen. Vor allem drei Punkte sind bezüglich dieser Antwort anzumerken. Erstens lässt sich zwar argumentieren, dass phänomenologisch kein Unterschied zwischen dem Erleben von tatsächlichen und dem von bloß scheinbaren Ähnlichkeiten besteht; dennoch ist die Tatsache, dass Gassendi keine tatsächlich bestehenden Ähnlichkeiten annimmt, unbefriedigend. Denn dadurch, dass unsere Begriffe nur auf scheinbaren Ähnlichkeiten beruhen, wird auch ihre Anwendung in Urteilen zu einem gewissen Grad willkürlich. Es ist unklar, inwiefern davon gesprochen werden kann,
8 Schluss
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dass wir durch Urteile etwas über die Welt erfahren, wenn wir doch allgemeine Eigenschaften nur aufgrund einer Sortierung zuschreiben, die über die tatsächlichen, einzelnen Eigenschaften der Gegenstände hinaus keine Grundlage in der Welt hat. Dieses Problem ist sicher kein generelles Problem empiristischer, sondern ein spezielles der gassendischen Theorie. Denn üblicherweise werden Ähnlichkeiten von Nominalisten durchaus als ontologisch real angesehen. Ein zweiter Punkt allerdings betrifft empiristische Theorien im Allgemeinen; dies ist die Frage nach dem Gegenstandsbezug. Denn wie sich gezeigt hat muss Gassendi davon ausgehen, dass Gegenstandsbezug auf einer vor-begrifflichen Stufe möglich ist. Er muss also behaupten, dass etwas für ein Subjekt ein Gegenstand sein kann, ohne dass das Subjekt den Gegenstand als Gegenstand wahrnimmt. Diese Auffassung muss man nicht teilen; doch ist fraglich, ob die Frage nach der Möglichkeit eines solchen nicht-begrifflichen Gegenstandsbezugs argumentativ beantwortet werden kann. Die Annahme, dass ein solcher Bezug möglich ist, scheint weniger eine Folge als eine Grundlage einer empiristischen Grundeinstellung zu sein. Hält man es für überzeugend, dass ein solcher Bezug möglich ist, werden angeborene Begriffe überflüssig, und man wird einen Empirismus für überzeugend halten; hält man einen solchen Bezug dagegen für in jedem Fall begrifflich, wird man einen Innatismus vertreten. Welche Position man in dieser Frage vertritt, scheint damit eher aufgrund von vortheoretischen Intuitionen festgelegt zu werden, als dass es sich aus der Theorie ergäbe. Die Behauptung, dass nichtbegrifflicher Gegenstandsbezug möglich ist, kann damit selbstverständlich bezweifelt werden; ein Empirist wird sie aber nicht für problematisch halten. Eine dritte Voraussetzung, die getroffen werden muss, damit aus Sinneseindrücken Begriffe werden können, ist unsere Fähigkeit zur Abstraktion. Man könnte nun einwenden, dass diese Fähigkeit angenommen werden muss, wenn man wie Gassendi als Empirist nicht auf abstrakte und damit abstrahierte Begriffe verzichten will, dass aber nicht weiter erklärbar ist, worin sie besteht und wie sie ausgeführt wird. Allerdings hat die Diskussion zur Frage der Immaterialität des Geistes aufgezeigt, dass Gassendi auf diese Fragen zumindest teilweise eine Erwiderung zur Verfügung steht: Abstraktion kommt durch eine Reflexion des menschlichen Geistes auf sich selbst und seine Vorstellungen zustande. Der menschliche Geist bleibt also im Gegensatz zu Tieren nicht bei reinen Aggregationen stehen, sondern abstrahiert, weil er in der Lage ist, seine Vorstellungen als seine zu erkennen und bewusst zueinander in Beziehung zu setzen. Zumindest also muss Gassendi diese Fähigkeit nicht vollkommen als gegeben annehmen. Gassendi zufolge hat der menschliche Geist also folgende drei Fähigkeiten: die, scheinbare Ähnlichkeiten wahrzunehmen, die zum nicht-begrifflichen Gegenstandsbezug, und die zur Abstraktion. Unter diesen Voraussetzungen können wir davon ausgehen, dass wir aus Sinneseindrücken allgemeine Vorstellungen bilden. Haben wir diese Vorstellungen gebildet, können wir Urteile fällen. Doch kann Gassendis Strategie zur Rechtfertigung von Urteilen überzeugen? Gassendis Reaktion auf skeptische Argumente führte zu dem Schluss, dass er als urbaner Skeptiker verstanden werden muss, der nur bestimmte Wissensbereiche
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von diesen Argumenten betroffen sieht. Es wurde offenbar, dass sich Gassendi in gewissem Sinn von diesen Argumenten nicht angegriffen fühlt. Anders als man im Anschluss an Epikur erwarten könnte, zieht er sich also angesichts des Angriffs des Skeptikers nicht auf Sinnesdaten zurück, sondern er bleibt auf seiner Position bestehen, dass empirische Urteile auf bestimmte Weise unbezweifelbar sind und nicht bezweifelt werden müssen, wenn sie auch nicht gewiss sind. Bezüglich der Frage nach der Rechtfertigung unserer Urteile muss damit zwischen empirischen und theoretischen Urteilen unterschieden werden. Empirische Urteile sind für Gassendi einerseits externalistisch gerechtfertigt; denn wir sind zu einem solchen Urteil berechtigt, wenn unsere Sinnes- und Verstandesaktivitäten verlässlich funktionieren. Andererseits kann die Frage, ob unsere Sinnes- und Verstandesaktivitäten verlässlich sind, von uns selbst daran überprüft werden, ob wir mit den gefällten Urteilen erfolgreich sind. Insofern steht uns also auch eine internalistische Rechtfertigung empirischer Urteile zur Verfügung. Theoretische Urteile werden laut Gassendi durch einen Schluss aus Zeichen gerechtfertigt. Dabei sind die empirischen Urteile die Zeichen, von denen wir auf nicht-beobachtbare Gegenstände oder Eigenschaften von Gegenständen schließen. Dieser Schluss beruht dabei wesentlich auf Analogieschlüssen sowie auf allgemeinen Grundsätzen, die aufgrund von Induktion aus der Erfahrung gewonnen wurden, und stellt einen Schluss auf die beste (verfügbare) Erklärung dar. Damit erreicht Gassendi sowohl für empirische als auch für theoretische Aussagen eine gewisse Wahrscheinlichkeit, aber keine Gewissheit. Doch ist diese Strategie vermutlich einer solchen vorzuziehen, die versucht, empirische Urteile allein durch Rückgriff auf Sinnesdaten zu rechtfertigen. Denn im Gegensatz zu einer sensualistischen Theorie steht Gassendi ein Argument gegen die Annahme eines Solipsimus zur Verfügung. Für Gassendi können wir davon ausgehen, uns nicht grundsätzlich über die Beschaffenheit der Welt und unserer selbst zu irren, solange wir mit unseren Überzeugungen Erfolg haben. Auch wenn er die skeptischen Argumente bezüglich empirischer Urteile nicht ernst nimmt, ist er damit dennoch in einer stärkeren Position als ein Empirist, der versucht, jedes einzelne dieser Urteile durch einen bestimmten Sinneseindruck zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung mathematischer Urteile bleibt in einer empiristischen Theorie dagegen problematisch. Im Fall empirischer und theoretischer Urteile könnten wir bereit sein, einen Gewissheitsanspruch aufzugeben. Doch scheinen empirische mathematische Urteile einen Sonderfall darzustellen. Aus Gassendis empiristischer Philosophie der Mathematik folgt, dass empirische mathematische Urteile nur aufgrund von Induktion als wahr angesehen werden – wir gehen nur davon aus, dass zwei Äpfel und zwei Äpfel vier Äpfel sind, da wir bisher noch keinen abweichenden Fall erlebt haben. Dies widerspricht unseren Intuitionen. Es ist für uns nicht vorstellbar, dass dieses Urteil in irgendeinem Fall falsch sein könnte. Diese Intuition kann Gassendi nicht auffangen. Ein weiterer problematischer Aspekt einer empiristischen Theorie der Mathematik liegt darin, dass sie sich bezüglich der reinen Mathematik zwischen einem Konstruktivismus und einem Abstraktionismus entscheiden muss. Entweder bilden wir also reine mathematische Begriffe selbst, wobei wir von der empirischen Wirk-
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lichkeit lediglich inspiriert werden. Oder wir sind bei der Bildung reiner mathematischer Begriff an vorhandene empirische Begriffe gebunden. Ein Konstruktivismus hat zur Folge, dass nur noch schwer erklärbar ist, wieso die frei gebildeten mathematischen Begriffe und Theorien auf die empirische Wirklichkeit anwendbar sind. Ein Abstraktionismus dagegen kann die Bildung vieler mathematischer Begriffe gar nicht erklären. In jedem Fall, scheint es, kann die Theorie der Art, wie Mathematik betrieben wird, nicht gerecht werden. Aus Gassendis Argumentationsstrategie in all diesen Fragen kann man den Eindruck gewinnen, dass seine Antworten streng epikureisch ausfallen. So misst er wie Epikur der Mathematik keinen großen Wert bei, da er sich zum Beispiel einer Anwendung der reinen Mathematik auf die physikalische Wirklichkeit widersetzt. In Reaktion auf das Problem der Rechtfertigung theoretischer Urteile bedient er sich der (unter anderem) epikureischen Strategie des Schlusses aus Zeichen: Wir sind dann berechtigt, ein Urteil über Eigenschaften von Gegenständen zu fällen, die wir nicht wahrnehmen können, wenn wir auf diese Eigenschaften aus den wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände schließen können. Auch Gassendis Beschreibung von Ideen macht eine enge Verbindung mit Epikurs Erkenntnistheorie deutlich. Denn wie sich gezeigt hat, werden Ideen nach dem Vorbild der epikureischen Prolepsen konzipiert. Doch zeigt eine genaue Betrachtung, dass Gassendi in wesentlichen Punkten über Epikur hinausgeht. Damit sind nicht so sehr Fragen gemeint, in denen Gassendi die epikureischen Thesen dem christlichen Dogma anzupassen versucht, sondern vor allem erkenntnistheoretische. Wie Detel darlegt, unterscheidet sich Gassendis Methode in der Einführung des Atomismus wesentlich von der Epikurs.1 Auch seine Strategie zur Rechtfertigung empirischer Urteile weicht von der Epikurs ab: Gassendi bedient sich nicht nur der Sinne, sondern auch des Verstands als Kriterium, obwohl dieser von Epikur nicht als Kriterium der Wahrheit eingeführt wird. Gassendis Epikur-Interpretation kann also zumindest als von seinen eigenen Überzeugungen gefärbt angesehen werden. Dies zeigt sich auch an Gassendis Ideentheorie. Zwar konzipiert er singuläre Ideen im Anschluss an Epikur, d.h. als Prolepsen. Doch diese werden von Gassendi eindeutig als Begriffe aufgefasst – eine Interpretation, die der stoischen Theorie näherkommt als der epikureischen.2 Der größte Unterschied im Vergleich zur epikureischen Erkenntnistheorie besteht allerdings in der Einführung allgemeiner, das heißt abstrahierter Ideen. Vorstellungen dieser Art finden sich im Epikureismus nicht. Denn in diesen Vorstellungen gehen wir über das hinaus, was uns natürlicherweise durch die Sinneserfahrung gegeben ist. Und die Einführung solcher Vorstellungen ermöglicht es Gassendi, im Syntagma für die Immaterialität des Geistes zu argumentieren – eine weitere erhebliche Abweichung von der epikureischen Position. Es lässt sich damit feststellen, dass Gassendi zwar für seine philosophischen Positionen historisch argumentiert. Aufgrund der vorliegenden Untersuchung ist 1 2
Vgl. Detel 1978. Siehe Glidden 1988.
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allerdings festzustellen, dass allein diese historische Argumentation die von ihm vertretene Ausformung einer empiristischen Theorie nicht begründen kann. Es sind seine eigenen philosophischen Intuitionen, die Gassendis Position wesentlich bestimmen.
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studia leibnitiana
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Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0765
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Pierre Gassendi (1592–1655) ist Philosophen meist für seine Einwände gegen Descartes’ Meditationen bekannt und wird für seine Argumentation in dieser Schrift häufig eher belächelt. Dem außergewöhnlichen Denker Gassendi – der auch Professor für Mathematik war und mit Galileo korrespondierte – wird das in keiner Weise gerecht. Dennoch sind seine weiteren Schriften, einschließlich des Hauptwerks Syntagma philosophicum, bis auf einige ausgewählte Stellen bisher unübersetzt und werden sowohl im englisch-
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7835 1 5 1 234 19
wie auch im deutschsprachigen Raum gerade erst erschlossen. Maria Seidl stellt nicht nur Gassendis philosophische Grundüberzeugungen dar, sondern untersucht diese auch im Hinblick auf ihre Argumentationskraft. Erstmals legt Seidl damit eine deutschsprachige Studie über das System vor, das Gassendi im Syntagma philosophicum entwickelt – und zeigt, dass seine Argumentation weit vielschichtiger ist, als ihm üblicherweise zugeschrieben wird.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag