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German Pages 312 Year 1998
»Kluxens Buch entspricht in der Differenziertheit und Genauigkeit der Analyse seinem Gegenstand; die hier vorliegende Interpretation ist wegweisend geworden und hat die Arbeit zu einem Standardwerk der Thomasliteratur gemacht: Es ist das entscheidende Buch über die philosophische Ethik bei Thomas von Aquin.« Philosophisches Jahrbuch
ISBN 978-3-7873-1379-2
www.meiner.de
Wolfgang Kluxen Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin Kluxen Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin
Der tradierten These, Thomas von Aquin habe die Postulate seiner Ethik im Rückgriff auf metaphysische Voraussetzungen entwickelt, widerspricht Wolfgang Kluxen. Der Anspruch der thomistischen Ethik liegt nicht in der metaphysischen Begründung moralischer Gebote, sondern darin, aus der Reflexion auf ihre autonome und mittelbare Geltung zu einer Neubestimmung des menschlichen Daseins zu gelangen. Deshalb, so Kluxen, bleibt das ‚Paradigma‘ der thomistischen Moralphilosophie der Maßstab für jeden Neuansatz auf dem Felde der philosophischen Ethik.
Meiner · BoD
PHILOSOPHISCHE ETHIK BEI THOMAS VON AQUIN
WOLFGANG KLUXEN
PHILOSOPHISCHE ETHIK BEI THOMAS VON AQUIN
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Meinem Lehrer Josef Koch
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der 3. durchges. Auflage von 1998 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-1379-2 ISBN eBook: 978-3-7873-2350-0
© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1998. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorf rei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE
Nicht anders als bei der zweiten Auflage, muß ich auch bei dieser dritten mit einem Wort des Dankes an den Verleger beginnen. Er gilt Manfred Meiner, der nun in der dritten Generation den Verlag leitet und das mit Energie und Kompetenz tut. Nachdem die zweite Auflage seit einigen Jahren vergriffen ist, hielt er es für nötig, dies Buch wieder verfügbar zu machen. Offensichtlich spielt es ja in der Diskussion um ethische Grundlegungsfragen bei jenen, die sich mit Thomas von Aquin auseinandersetzen wollen, nach wie vor eine Rolle. Da es nicht auf die Einzelergebnisse, sondern auf die Strukturanalyse ankommt, die in einem geschlossenen Untersuchungsgang dargestellt ist, läßt sich das Buch nicht gleichsam fortschreiben. Es ist aus demselben Grunde auch nicht (oder jedenfalls nicht leicht) durch den Fortschritt der Forschung überholbar. So ist es in der vorliegenden Gestalt zu einem Standardtext geworden, der deshalb unverändert dargeboten wird. Gerade das scheint mir sachgerecht, obwohl ich selbst bestimmte Ergänzungen für wünschenswert halte (vgl. Vorwort zur 2. Auflage, S. XV). Eine Literaturübersicht will ich nun nicht geben, doch möchte ich auf zwei neuere Titel hinweisen, welche mir interessant waren: E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde (Mainz 1996), welcher das bei mir eher marginal behandelte Thema des Naturrechts nun breiter und mit aktuellem Bezug behandelt; ferner die umfangreiche Arbeit von Denis Bradley, Aquinas on the Twofold Human Good: Reason and Human Happiness in Aquinas' Moral Science (Washington 1997), der vor allem die Texte zur praktischen Wissenschaft aus dem Sentenzenkommentar und den Quaestioneu höchst vollständig bearbeitet hat, während ich mich ausdrücklich auf die theologische Summe und den Ethik-Kommentar beschränkt habe. Natürlich hätte ich besonders zu Bradley noch einige kritische Fußnoten zu machen, und natürlich ließen sich hier weitere wichtige Titel nennen, oder auch solche, die wichtig genommen werden, aber eher Kritik verdienen. Zu den letzteren rechne ich solche von Theologen, welche die Unterscheidung des sittlich Guten und sittlich Richtigen (good und right) gegen Thomas kritisch wenden, da ihnen nicht klar ist, daß eine ethische Untersuchung mit wissenschaftlichem Anspruch immer nur objektiv verfahren kann, daß folgerichtig die subjektive Moralität, für welche sie den Begriff des sittlich Guten reservieren, ihrem Begriffe nach nicht "objektiv" zu behandeln ist. Das sind unerlaubte
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Vorwort zur dritten Auflage
Fehlleistungen von Ethikern, welche über dem Studium zeitgenössischer Ethikmoden das scholastische ABC vergessen haben, wenn sie nicht gar überhaupt versäumt haben, es zu lernen. Zeitgenössisch stehen nicht Grundsatzdebatten im Vordergrund, sondern die Fülle konkreter Probleme, denen eine, oftmals mit Doppelnamen als Bioethik, Wirtschaftsethik, Technikethik usw. auftretende "Angewandte Ethik" begegnen soll. Im Vorwort von 1980 habe ich darauf verwiesen, daß hier "Theorien mittlerer Reichweite" hilfreich sind, auch wenn Grundsatzfragen nicht bis zur Entscheidung weitergetrieben werden. Es stellen sich neue Fragen, neue Lösungen müssen erarbeitet und gesichert werden. Wer hier erfolgreich arbeiten will, tut aber gut daran, sich an klassischer Tradition zu bilden. Nach meiner Meinung kann ein Studium des Thomas hilfreich sein, obwohl man keineswegs zu "thomistischen" Lösungen im Traditionssinne kommen muß. Wie ich mir einen traditionsbestimmten Umgang mit Fragen Angewandter Ethik denke, habe ich in einer Anzahl Arbeiten gezeigt, deren einige nun in einem Sammelband, der mir von meinen Freunden Wilhelm Korff und Paul Mikat zum 75. Geburtstag überreicht wurde, unter dem Titel Moral, Vernunft, Natur. Beiträge zur Ethik (Paderborn 1997) neu herausgegeben wurden. Erfolge in konkreten Anwendungsfragen machen die Grundlegungsuntersuchungen nicht überflüssig. Im Gegenteil, man wird auf sie zurückgeführt und merkt dann, daß die "Anwendung" auch eine Art Prüfstein für die Prinzipien ist. Bei Thomas kann man allerdings auch lernen, daß die konkrete "Anwendung" zwar stets aus dem Prinzip begründet sein muß, daß jedoch aus dem Prinzip nicht notwendig nur diese eine bestimmte Konkretion folgt. Es gibt da Freiheitsräume, des Denkens, des Handelns, der Lebensgestaltung. Diese Untersuchung sollte dazu beitragen, sie offen zu halten. Bonn, im März 1998
Wolfgang Kluxen
INHALTSVERZEICHNIS
Zitationsweise und zitierte Ausgaben Vorwort zur ersten Auflage Vorwort zur zweiten Auflage Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Forschungsstand und zur Fragestellung 2. Zur Methode . . . . . . . 3. Zum Gang der Untersuchung 4. Zur aktuellen Bedeutung . . 5. Zur (technischen) Durchführung
XI XIII XV XXV XXVI XXXV .XXXVII XL
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Erster Abschnitt
ETHIK ALS PHILOSOPHISCHE DISZIPLIN 1. Kapitel: Philosophia ancilla theologiae § 1: Der Vorrang der theologischen Synthese § 2: Die umfassende Einheit der theologischen Synthese und deren Prinzip, das »revelabile« .
§ 3: Der Fortbestand des natürlichen Wissens in der Synthese
§ 4: Der Eigenstand der Philosophie u. ihre Einordnung in die Synthese
2. Kapitel: Der Eigenbereich philosophischen Denkens . § 1: Der philosophische Systementwurf als Aufgabe für den Theologen
§ 2: Einsichtigkeit natürlichen Wissens und Gewißheit des Geglaubten § 3: Die Begrenztheit des >>revelabile« und der Sinn der philosophischen Dienstleistung § 4: Philosophischer Thomismus als Resultat der Interpretation
3. Kapitel: Ethik als praktische Wissenschafi
§ 1: Die Mehrheit natürlicher Wissenschaften und die Bedeutung des Objekts . . § 2: Die Wissenschaftseinteilung von In Eth. I, lect. 1 und der Unterschied von spekulativ und praktisch § 3: Die »philosophia rationalis« zwischen >>KunstwissenSein und Ethos« (vgl. Bericht im Philos. Jahrb. 1962) öffentlich zur Diskussion gestellt und erhielt eine wertvolle Bestätigung meiner Auffassungen. Wichtiger als dies war mir, daß die fertige Niederschrift von einem hervorragenden Sachkenner einer eingehenden Prüfung unterzogen wurde, die sich auch auf die Einzelheiten erstreckte. Diese große Mühe hat Herr Prälat Professor D. Dr. Josef Koch (Köln) auf sich genommen. Ihm bin ich schon deshalb zu großem Dank verpflichtet. Darüber hinaus möchte ich ihm, meinem Lehrer, an dieser Stelle sehr herzlich danken für die jahrelange Förderung, das beständige Wohlwollen und auch die menschliche Anteilnahme, die er mir geschenkt hat; all das ging weit über das gewöhnliche akademische Verhältnis hinaus. Ihm ist deshalb dieses Buch zum Zeichen der Dankbarkeit gewidmet. Dankbar gedenke ich auch der ständigen Hilfe, die mir während der Ausarbeitung meine Frau geboten hat. Schließlich sei gedankt dem Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen, das die Drucklegung durch eine Beihilfe ermöglicht hat. September 1963
Wolfgang Kluxen
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Das vorliegende Buch war ein Jahrzehnt lang vergriffen. Die Neuauflage, fünfzehn Jahre nach der ersten, verdanke ich dem Interesse des Verlegers Richard Meiner, der sie in sein Haus übernommen hat. Ich möchte ihm, dessen stets dienstbereite, ofl: mühevolle Sorge um die philosophische Literatur so hoch verdienstlich ist, meinen persönlichen Dank hier öffentlich sagen. Die erste Auflage hat bei den Kritikern durchweg freundliche Aufnahme gefunden, zuweilen mit Vorbehalten, jedenfalls mit unterschiedlichen Graden der Zustimmung. Nur ein einziges Mal habe ich, in mehr als zwei Dutzend Rezensionen, die mir bekannt geworden sind, einen Einwand gefunden, der mit Bezug auf den historischen Thomas eine meiner Positionen als "unhaltbar" behauptet: so qualifiziert J. de Vries (Scholastik 1965, S. 114-116) meine Entgegensetzung von "Gegenstandsethik" und "Tugendethik", da nach Thomas eben der "Gegenstand" den "habitus" bestimme und nicht umgekehrt, wie bei mir (S. 224) zu lesen sei. Nun, an der zitierten Stelle meiner Darstellung gehe ich gerade auf dies Prinzip des Thomas ein und erläutere insbesondere, was "Gegenstand" meint; der Kritiker, der mich über Elementares zu belehren vorgibt, läßt sich auf die differenzierte Analyse gar nicht ein, und so kann ich mich nicht getroffen fühlen. Ich sehe keinen Grund, meine Auffassung zu ändern. Kritische Einwände betrafen eher Punkte, die außerhalb des historisch Nachweisbaren liegen. So meint der genannte de Vries (a.a.O., S. 116), meine Ausführungen zur "unvollkommenen Glückseligkeit" bestätigten den Vorwurf Hans Reiners, die thomistische Ethik sei im Grunde ein "Eudämonismus" (im Sinne H. Reiners), und man habe vielleicht die Aufgabe, "um der größeren Treue gegen Thomas willenschon im ersten Ansatz der Sittenlehre ... über den Ansatz des Thomas selbst hinauszugehen?" - Hier liegt offenbar ein philosophisches Vorurteil vor, das ich nicht teile. Ich halte für gänzlich unnötig, den Eudämonismus-Vorwurf zu entkräften, und habe meinerseits eher den Verdacht, eine gänzlich von "Eudämonismus" (im Sinne H. Reiners) gereinigte Ethik sei nicht mehr fähig, das menschliche Gut angemessen zu bestimmen; ich frage mich auch, ob dieser 1965 erhobene Vorwurf heute, bei ganz veränderter Lage der philosophischen Ethik, noch ernsthaft in die Debatte geworfen würde. - .i\hnlich steht es mit einer - sehr viel ernster z~
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Vorwort zur zweiten Auflage
nehmenden - Bemerkung von Andre Wylleman (Revue philosophique de Louvain 1964, 671-676 ), der die von mir herausgestellte Unterscheidung von theoretischem und praktischem Wissen zwar für "richtig" im Sinne des methodologischen Konzepts des Thomas hält, aber die Frage anschließt: ob jene Metaphysik, welcher das Problem dessen, was der Mensch tun kann und soll, "fremd" ist (und aus der sich daher keine ethischen Grundlagen ergeben) -ob dies wirklich "die Metaphysik" sei, auch im Sinne des Thomas? - Ich bin der Ansicht, daß die von Thomas gemeinte Metaphysik jene rein theoretische, abstrakt-begrifflich vorgehende Disziplin ist, die so gar nichts von unmittelbar "existentieller" Bedeutung hat; es sei denn, man halte reine Theorie, in der schließlich sogar eine wie immer beschränkte Gotteserkenntnis möglich ist, an ihr selbst für eine hohe Möglichkeit von "Existenz". Natürlich kann man "Metaphysik" auch ein Bemühen nennen, das vorzüglich dem Verständnis menschlichen Daseins und seiner Sinnmöglichkeiten gilt, das sich vielleicht gar in Tagebuchnotizen besser darstellen läßt als in Abhandlungen. Aber das scheint mir keine Möglichkeit oder Aufgabe, die sich auf Thomas berufen kann. Gerade bei Kritikern, die selbst profilierte Positionen einnehmen, finden sich diese in ihren Stellungnahmen wieder. Umgekehrt habe ich finden müssen, daß meine zuerst und wesentlich historisch gemeinte Interpretation des Thomas zugleich und in abgestuftem Maße selbst als Position gewertet und mir zugelastet wird. Ich bin als Autor dieses Thomas-Buches gelegentlich in öffentlichen Diskussionen als "Thomist" in Anspruch genommen worden, wenn ich ganz andere, Thomas durchaus fremde Fragen und Antworten vorgelegt habe. Ich habe inzwischen in mehreren Arbeiten, so vor allem in meiner Ethik des Ethos (Freiburg 197 4), eigene Positionen vorgelegt, die durchaus in einen anderen Horizont gehören als was ich aus Thomas erarbeitet habe. Hier dürfte kein Mißverständnis mehr möglich sein. Aber auch hier ist wieder selbstverständlich: Thomas studiere ich mit der Absicht, von ihm philosophisch zu lernen, und dann ist es methodisch unerläßlich, in seine Absichten und Sichtweisen einzutreten, ihn damit in seiner Sache zu verstehen und sich darin mit ihm zu einigen. Auch Aristoteles und Kant wird man nicht anders näherkommen. Eine solche hermeneutische Identifikation ist die Erfolgsbedingung einer philosophischen Philosophiegeschichte. Die Alternative wäre eine Geschichte faktisch vertretener Doktrinen, in der das Historische jenes ist, was sachlich ohne Interesse ist. Für eine Interpretation, die bei historischer Korrektheit die philosophische Sachbedeutung anzielt und deren Verdeutlichung sich zum Ziel setzt, hat sich die Bezeichnung "Rekonstruktion" eingebürgert. Wenngleich dieses so junge Wort schon wieder modisch zerschlissen und kaum
Vorwort zur zweiten Auflage
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noch mit Anstand zu gebrauchen ist, scheint es mir doch seinem Sinngehalt nach für meine Darstellung treffend. Dies gilt auch in dem besonderen Sinne, daß ich um die "Konstruktion" eines geschlossenen Gedankengangs bemüht war, der in sich mannigfach verknüpft und dessen Konsequenz bei jedem Schritt ausgewiesen ist. Die angewendete Mühe sehe ich insofern belohnt, als ich nun keine Veranlassung sehen muß, auch nur einen Satz meines Textes zu ändern. Die einzige Hinzufügung der neuen Auflage ist ein Register, das von den Kräften des Philosophischen Seminars B der Universität Bonn gefertigt wurde; ihnen, besonders Herrn Dipl-Phil. Andreas Zacharioudakis, bin ich zu Dank verpflichtet. Ich habe darauf verzichtet, neuere Literatur zu verarbeiten; mir sind einzelne Arbeiten bekannt, die durchaus bedeutsame Beiträge zu von mir behandelten Themen bringen, aber nichts, was mich zu Revisionen oder gar Retraktationen zwingen würde, auch nicht in Einzelheiten. Eine Erweiterung hätte sich vielleicht im Kapitel über das Gesetz, insbesondere bei der recht knappen Darlegung zur "Iex naturalis" empfohlen, zumal die entsprechenden Abschnitte bei der Diskussion um den Begriff der "sittlichen Autonomie" in der Moraltheologie der letzten Jahre öfters beachtet worden sind. Dazu möchte ich lieber in einer eigenen Veröffentlichung, die Ende des Jahres in der geisteswissenschaftlichen Reihe der "Vorträge" der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften erscheinen soll, das Erforderliche sagen; dort soll auch auf die wichtigere Literatur der Zwischenzeit eingegangen werden. Auch die "Einführung" lasse ich unverändert; sie scheint mir für das Verständnis der Darstellung auch dort von Interesse, wo sie auf die damalige Situation der Ethik Bezug nimmt. Diese Situation hat sich inzwischen gewaltig verändert, und dazu mögen einige Bemerkungen am Platze sein: fragt sich doch, wie eine aus ganz anderen Voraussetzungen entstandene Untersuchung nunmehr einen Ort im Diskussionsfeld finden kann. Die Veränderung des philosophischen Diskussionsfeldes kann man mit dem Buchtitel "Rehabi!itierung der praktischen Philosophie" nennen. Sie ist äquivalent der Wiederentdeckung der Eigenständigkeit praktischer Vernunft in einem Sinne, der sich auf Aristoteles berufen kann und beruft. Der Ansatz von j. Ritter, auf den ich in meiner Einführung Seite XL IV hingewiesen hatte, hat sich als ungemein folgenreich erwiesen. Zunächst ist ihm eine Erweiterung des Problembewußtseins zu danken: die "Ethik", als auf die Frage nach der vom individuellen Subjekt zu leistenden Moralität eingeschränkte Disziplin, erweist sich als Teil eint:s philosophischen Bemühens, dessen Bereich die "Prax.is" im
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Vorwort zur zweiten Auflage
umfassenden Sinne ist, politische, "gesellsmaftliche", tedlnisme und aum wissensmaftliche Praxis. Die Philosophie gewinnt jene Breite zurück, die sie bis Regel beansprumt hatte. Regel wird aum, nach Aristoteles, der zweite Philosoph, dem sim ein historisch orientiertes Philosophieren erneut zuwendet. Historische Besinnung ist geeignet, ein verengtes "Ursprungsdenken" wieder in die konkrete Breite zu führen, die als geschichtlimes Resultat nimt bloß faktisch, sondern berechtigt ist. Umgekehrt erweist sie als kraft Herkunft zusammengehörig, was in der gesmichtlimen Entfaltung bis zur Fremdheit auseinandergetreten ist, und ermöglicht neue Rückbindungen. Der Rückgriff auf Aristoteles und Regel hat in beiden Richtungen gewirkt. Der Alleinanspruch eines Ursprungsdenkens (etwa daseinsanalytischer Art) ist obsolet geworden, die Dissoziation von "Philosophie" im Sinne eines akademismen Fames und jenen grundsätzlimen Denkbemühungen, die in andere Famwissensmaften abgewandert oder dort usurpiert schienen, ist aufgehoben oder wenigstens gemindert. Die "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" veranlaßt Grenzübersmreitungen vor allem zu den Sozialwissensmaften, zur politismen Wissensmaft, zur Rechtswissenmaft; Probleme der Technik, des Fortschritts, der Wirtschaft, der Ökologie sind Gegenstände auch für professionelle Philosophen geworden, und umgekehrt gibt es eine Teilnahme von Famspezialisten an philosophischen Problemen, die nicht nur dilettantisch ist. Es gibt Chancen der Philosophie als "praktismer", öffentlich wirksam zu werden, wie sie bislang nur die theologische Ethik und Soziallehre hatte. Die historische Arbeit gehört nun zwar zu jenen Faktoren, welme innerhalb der Fachphilosophie die Hinwendung zum "Praktischen" legitimieren. Aber die Ausbreitung eines praktisch-philosophischen Interesses über die Fachgrenzen hinaus bis hin zu allgemeiner öffentlicher Bedeutung, die ihrerseits auf die fachphilosophische Arbeit zurückwirkt, kann nicht als Auswirkung rein fachimmanenter Prozesse erklärt werden. Sie ist ein Element jenes Vorgangs intellektueller Umorientierung, der in der zweiten Hälfte der sechziger und den siebziger Jahren politisch wirksam wurde und den man als "Kulturrevolution" bezeichnet hat. Das erstaunlimste Phänomen ist dabei die Wiederbelebung mannigfacher Formen eines totgeglaubten Marxismus, der seine Kraft weniger der Doktrin als der Thematik verdankt. Der Wille zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse findet hier eine Philosophie, welche die Veränderung als "Praxis" zum Thema hat und den Sinn von "Theorie" von da aus bestimmt. Das Thema "Theorie und Praxis" wird zu einem Hauptgegenstand der Diskussion, und das nicht nur in akademismen Zirkeln.
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Das hier hervortretende Interesse ist wiederum nicht Folge des Marxismus, sondern darin wirkt sich die Ausbreitung der Einsicht aus, daß theoretisches Wissen, nämlich wissenschaftliche Welterkenntnis, für uns von lebenserhaltender Bedeutung und somit praktisch-politisch zu diskutieren ist. Das gibt der Wissenschaftstheorie neue Impulse, und diese wird sich ihrerseits bewußt, daß eine wissenschaftlich bestimmte "Praxis" mehr als der bloße Anwendungsfall eines Wissens ist, das aus ihm selbst als indifferent "theoretisches" aufzufassen und vorzüglich nach formalen Kriterien und Methoden zu behandeln sei. Wenn Wissenschaft praktische Bedeutung hat, so liegt es nahe, ihren Sinn überhaupt in der von ihr bestimmten Praxis zu sehen. Dies gilt insbesondere, wenn sie selbst als ein zu leistender Vollzug- also selbst als Praxis - angesehen werden kann, der sich dann in der "Praxis" erfüllt. Nicht nur ist dann die Praxis einer Theorie bedürftig, sondern die Theorie ist immer schon die einer Praxis. In Konsequenz dieser Sicht wird Wissenschaft, werden theoretische Prozesse überhaupt als "Handlungen" gedeutet. Das gilt womöglich sogar für rein logische oder mathematische Operationen. Der Operationalismus, der Konstruktivismus, die analytische Philosophie - denn Sprache ist selbstredend primär "Handlung" - kommen in solchem Ansatz mit Doktrinen gegensätzlicher Herkunft überein, die anthropologisch, sozialphilosophisch oder pragmatistisch fundiert sind. Die zu Grunde liegende, in der Analyse des "Praktischen" zunehmend heraustretende Überzeugung ist die, daß menschliche Vernunft nicht nur primär, sondern wesentlich, letztlich und durchgehend "praktisch" sei. Dies ist keine grundsätzlich neue Überzeugung. Sie kann sich sogar auf Kant berufen, bei dem der Primat der praktischen Vernunft für die theoretische keine unabhängige letztgültige Bedeutung freiläßt. Wir sind jedoch weit von jenem Kant entfernt, für den die praktische Vernunft in die Dimension der Metaphysik weist, indem sie theoretischen "Ideen" schlechthin Bedeutung gibt. Diese Dimension fällt für eine Vernunft aus, welche sich in Weltveränderung erfüllt. Die "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" hat Schwierigkeiten mit der "Letztbegründung" in der Ethik: sie kann selbst den kategorischen Imperativ nicht unbedingt setzen, wenn die Vernunft nicht an ihr selbst, vor aller Praxis, als unbedingt gedacht werden kann. Grundpositionen wie die von "Person" und "Freiheit", wenn sie nicht metaphysisch bezogen werden können, lösen sich in dialogische oder kommunikative Prozesse auf, durch die sie dann wieder vermittelt werden müssen. Es fehlt die Orientierungsleistung, die durch eine Metaphysik des Han-• delns erbracht wird, die ihrerseits wieder nur im Zusammenhang mit einer allgemeinen Metaphysik oder mindestens deren "Idee" zu leisten
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ist. Die Ethik hängt davon zwar nicht ab, denn metaphysische Erkenntnis begründet nicht, sondern interpretiert die Praxis. Aber die Ethik interpretiert sich nicht selbst; der in ihr entstehende Gedanke des Unbedingten weist über sie hinaus. In der zeitgenössischen Diskussion der Ethik sehen wir Stärken und Leistungen gerade dort, wo die Begründungsproblematik des Unbedingten ausgeklammert bleiben kann. Das ist einmal dort der Fall, wo es um "theoretische" Behandlung der Ethik, um Analyse von Argumentationsstrukturen oder normativer Zusammenhänge geht: in der neu entwickelten deontischen Logik und in der sogenannten "Metaethik", die allerdings weder eine Metaphysik des Handeins ist noch sie ersetzt. Zum anderen ist es der Fall in jenem Bereich, für den - wie man zuweilen sagt - "Theorien mittlerer Reichweite" aufgestellt werden können. Viele konkrete Probleme insbesondere der gesellschaftlich gültigen Moral sind ohne Rekurs auf letzte Grundsätze, im Bezug auf akzeptierte Positionen und also nach der Methode der Topik zu behandeln. Die sozial anerkannte Praxis enthält hinreichende Evidenzen, die ein "pragmatisches" Verfahren ermöglichen und seine Resultate vertretbar machen. Dies bedeutet, daß weitgehend auf den Systemgedanken verzichtet wird, sofern er nämlich im Sinne eines deduktiven Zusammenhangs von theoretischer Stringenz gedacht wird. Es ist dann aber möglich, so verschiedenartige Ansätze wie etwa den Kants und des Utilitarismus in ihrem je besonderen Sinne gelten zu lassen, als je belangvolle Versuche zur begrifflichen Fassung wahrer Aspekte des Moralischen. Die neue Offenheit der ethischen Diskussion sollte gleichwohl nicht übersehen lassen, daß sie bestimmte Probleme bevorzugt. Es sind jene der Norm und des Sollens. Das hängt gewiß einmal mit dem Kamischen Erbe zusammen, sofern Kant das Sittliche eben durch das unbedingte allgemeingültige Sollen bestimmt sein läßt, zum anderen mit dem Ursprung des neuen Verständnisses praktischer Philosophie aus Problemen gesellschaftlicher Neuordnung; denn "Norm" ist schließlich ein soziologischer Schlüsselbegriff, durch den man gar das "Soziale" allgemein definieren kann. Ich sehe in dieser Konzentration auf Norm- und SolJensprobleme eher eine Einschränkung. Fragen des persönlichen Lebensentwurfs, der freien Gestaltung des positiven Guten - auch in der Gesellschaft -, bei denen von Pflicht und Allgemeinheit nicht die Rede sein kann, stehen in Gefahr, aus der Ethik abgedrängt oder gar nicht mehr als "moralisch" anerkannt zu werden. Gewiß stehen im erweiterten Konzept der "praktischen Philosophie" oder der "Philosophie der Praxis" andere Disziplinen bereit, um solche Fragen aufzufangen. Aber die Ethik wird ihrer Aufgabe nicht gerecht, Philosophie des "guten" menschlichen Lebens zu sein, wenn sie sie abgibt.
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Die Ausweitung des Begriffs der "Praxis", in deren Zeichen die "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" geschehen ist, hat für die Ethik als die zentrale praktische Disziplin nicht nur günstige Folgen. Gewiß verdankt sie ihr den großen neuen Impuls, und die daraus erwachsenen Leistungen sollen nicht verkleinert werden. Auch verkenne ich nicht, daß es wichtige Beiträge gibt, die sich der gegebenen Charakteristik und der darin implizierten Kritik entziehen, wie ich auch einräume, daß die skizzierten Züge aus bestimmter, begrenzter Perspektive gezeichnet sind. Doch sind diese Züge unbestreitbar vorhanden und für das Gesamtbild bestimmend. Es fragt sich dann, welche Bedeutung ein historischer Beitrag wie der hier vorgelegte in solcher Situation haben kann. Wie mir scheint, ist der thomistische Entwurf nicht unmittelbar, sondern eher als Gegenbild von Bedeutung, von dem her strukturelle Selbstverständlichkeiten und Fragwürdigkeiten heutiger Ethik kritisch zu beleuchten sind. Gegenbild ist die Gewichtung von Theoretischem und Praktischem, die aus der Einheit der Vernunft zu je eigenständigen Wissensweisen hervortreten, welche in fruchtbarer Zuordnung zueinander stehen. Gegenbild ist das Verständnis des "guten Lebens", das sich erst in zweifachem Glück erfüllt, wobei die Zweiheit praktizistischen wie dialektischen Identifikationen widersteht. Gegenbild ist auch die Maßgeblichkeit des Guten gegenüber der Herrschaft von Norm und Sollen. Am Modell der thomistischen Ethik mag sichtbar werden, daß die Ethik ihre Eigenständigkeit als praktische Wissenschaft nicht ohne den Bezug auf eine Theorie hat, die schlechthinnige Bedeutung aus sich selbst und unabhängig besitzt, und daß erst im Kontext dieses Bezuges die Lehre vom menschlichen Gutsein und vom guten Leben vollständig sein kann. Abschließend möchte ich ein Wort zur Situation der Moraltheologie sagen. Ich hatte in der Einleitung darauf verzichtet, in der unausgesprochenen Erwartung bedeutender Wandlungen in dieser Disziplin. Inzwischen hat sich diese Erwartung erfüllt: die Moraltheologie hat den Impuls der philosophischen Wendung zum Praktischen voll aufgenommen, und diese Rezeption hat ihren Argumentations- und Darstellungsstil grundlegend verändert. Das 1978 erschienene "Handbuch der christlichen Ethik" zeigt exemplarisch den neuen Stil. Dabei spielen die Wendung zum Konkreten und der Eintritt in die breite Auseinandersetzung mit einer extensiv verstandenen Praxis noch die geringste Rolle; denn die Moraltheologie hat stets die aktuellen praktischen Fragen beantworten müssen und sich nie, wie gewisse Philosophien, auf allgemeine und leere Positionen zurückziehen können. Sie hat die praktisch-theoretische Auseinandersetzung auch immer
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mit weit größerem Erfolg und jedenfalls mit größerer Wirkung für tatsächliche Praxis geführt als je eine Philosophie. Neu ist nun aber, daß sie sich auf den Boden einer "Rationalität" stellt, die strukturell durch die moderne Wissenschaft bestimmt (oder mitbestimmt) ist. Dementsprechend wird der "Metaethik" breiter Raum gewährt, analytische Verfahren werden übernommen. Ebenso schließt sich die Moraltheologie der heutigen Diskussion darin an, daß ethische Probleme primär als normative verstanden werden, wobei der Normbegriff durchaus verschieden von dem traditionellen des Gesetzes und Gebotes ist; seine soziologische Komponente schlägt durch. Zentraler Diskussionspunkt ist die Frage nach der "Autonomie" der praktischen Vernunft. Unter diesem Titel, wegen der Kantischen Reminiszenzen vielleicht nicht glücklich gewählt, wird die Eigenständigkeit der praktischen Vernunft wieder entdeckt. Mir scheint nun klar, daß deren Anerkennung die Bedingung dafür ist, daß die Moraltheologie als wissenschaftliches Unternehmen auch im profanen Bereich Anspruch auf Beachtung und Gültigkeit ihrer Erkenntnisse machen, daß sie andererseits in Auseinandersetzung und Konkurrenz mit profanen Positionen auf deren Ebene treten kann. Ebenso klar ist jedoch, daß "Autonomie" theologisch zugleich als von Gott begründet, also metaphysisch abhängig, und als offen für die positive Bestimmung der Heilsordnung durch göttliche Satzung gedacht werden muß. In dieser Frage hat die vorliegende Untersuchung insofern eine Rolle gespielt, als in ihr der Nachweis erbracht worden ist, daß die thomistische Position diese Forderungen genau erfüllt und nicht, wie meist geschehen, als "Ableitung" aus der Metaphysik verstanden werden darf. Für eine theologische Doktrin ist solche Bestätigung aus der Tradition wissenschaftlich wichtig, da sie sich in geschichtlicher Kontinuität verstehen muß. Gerade Thomas ist für die Moraltheologie immer noch Autorität, zumal sie ihm ihre Gründung als wissenschaftliche Disziplin verdankt. Kontinuität schließt Wandel nicht aus. Thomas von Aquin ist selbst ein Beispiel dafür: Die durch ihn begründete Moraltheologie nimmt die Fülle tradierter Einsicht auf, ordnet sie aber in einen Strukturentwurf, der - wie man heute wissenschaftsgeschichtlich sagt - ein neues "Paradigma" darstellt. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn man be· hauptet, daß bei allen Wandlungen der Moraltheologie seit Thomas die prinzipielle Maßgeblichkeit dieses Paradigmas erhalten blieb - sogar bei Mißverständnissen und Deformationen. Das Herzstück blieb dabei die Bezogenheit auf eine Metaphysik, innerhalb der "Synthese", in welcher auch und gerade für die spekulative Theologie dieser Bezug wesentlich blieb. Gerade hier zeigt die heutige Moraltheologie, die sich jetzt lieber "theologische Ethik" nennen läßt, ein grundsätzliches Defi-
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zit. Zwar kann eine theologische Ethik die metaphysische Dimension des Unbedingten selbstverständlich nicht verlieren. Aber es macht einen strukturellen Unterschied aus, ob sie sich unmittelbar auf die Glaubensaussage bezieht oder die Vermittlung durch eine begrifflich gefaßte Metaphysik in Anspruch nimmt. Auch die spekulative Theologie ist heute in einer Lage, in welcher ihr solche Vermittlung nicht mehr selbstverständlich ist; sogar die praktizistische Versuchung ist an sie herangetreten, ganz im Sinne der Entwicklung, die in der Philosophie beobachtbar ist. Es muß daher, ebenso wie für die philosophische Ethik, an die Bedeutung des Verhältnisses praktischen Wissens zur "Theorie" als selbständiger Größe erinnert werden, wobei es freilich nicht minder auf die spekulative Theologie ankommt. Es scheint mir ganz ausgeschlossen, daß die Theologie auf die Dimension des "Theoretischen" verzichtet. Aber es ist nicht ausgeschlossen, daß sie es in ganz neuer Weise angeht; daß sie sich in einem Sinne wandelt, der epochal ist, und daß insbesondere die "theologische Ethik" in einem Prozeß steht, der ein neues "Paradigma" heraufführt; niemand kann das mit Sicherheit wissen. Gerade aber wenn das der Fall sein sollte, stellt sich die Kontinuitätsforderung dringlich, und zwar als Aufgabe reflektierender Aufarbeitung der Ursprünge, aus denen das bislang geltende Paradigma stammt. Thomas von Aquin wird daher gerade dann wichtig, wenn man neue Wege gehen muß. Theologisch werden sie Fortsetzungen seines Weges sein müssen, so wie dieser zugleich neu und Fortsetzung war. Als diese Untersuchung vor 20 Jahren konzipiert wurde, war sie vornehmlich gegen ein Interpretationsmodell gerichtet, das die Ethik bei Thomas als Ableitung aus der Metaphysik begriff. Auch heute ist diese Absicht noch nicht unaktuell, aber die vordringlichen Fragen in philosophischer wie theologischer Ethik sind andere, und die Frage nach dem Verhältnis zur Metaphysik stellt sich neu und anders. Dennoch glaube ich, daß die Probleme dieser Untersuchung genau jene sind, um derentwillen es auch gegenwärtig lohnend ist, Thomas von Aquin zu studieren. Bonn, im Januar 1980
Wolfgang Kluxen
ZUR EINFüHRUNG
An Arbeiten zur Moralphilosophie des Thomas von Aquin herrscht kein Mangel. Wer sich die fortlaufende Bibliographie des Bulletin thomiste anschaut, findet sich einer wahren Titelflut gegenüber, und es scheint kaum möglich, diesen überfluß zu bewältigen. Dabei ist die Mehrzahl der - meist ungedruckten - >>Thesen>ZU tun aufgegeben« ist, das der Mensdt in
Zum Forschungsstand und zur Fragestellung
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konkretem, tatsämlimem Tun verwirklimen soll. Die Perspektiven sind also nimt entgegengesetzt, wie im Verhältnis von Metaphysik und Theologie, sondern gleimlaufend; sie untersmeiden sim nur durm die versmiedene Erkenntnisquelle. Nun ist es offensimtlim, daß nur die Theologie um die bedeutsamsten tatsämlimen Bedingungen mensmlichen Handeins weiß, die bei allem konkreten Tun letztbestimmend sind, nämlich die geoffenbarten Wahrheiten vom heilsgesmimtlimen Zustand und von der übernatürlimen Bestimmung des Menschen. Daher ist eine >>adäquate>christlimen Moralphilosophie«: wenn die Sinnebene dieser >>Philosophie« wesentlim durch Offenbarungswahrheiten bestimmt ist, so erfüllt sie damit eindeutig den thomistischen Begriff von Theologie, die ja auch natürlime Erkenntnisse ohne weiteres zu den ihren mamen kann. Gerade dann aber erhebt sim die Frage nach dem Sinn einer philosophischen Ethik im Thomismus mit aller Schärfe. Der Gläubige findet dann den wissensmaftlimen Abschluß seines praktischen Erkennens nur in der Theologie. Selbst wenn er annimmt, daß eine philosophisme Ethik - wie die aristotelische - als Wissenschaft >>möglich« sei, so gilt doch, daß sie in ihrem eigenen Sinn von der Theologie überholt wird, die in die gleiche Richtung - auf das zu-Tuende hin -, aber weiter und tiefer blickt. Wird sim dann nicht die Theologie den Inhalt dieser Ethik derart zuordnen, daß deren Perspektive in der theologismen aufgeht? Kann es dann noch sinnvoll sein, der philosophismen Ethik Eigenstand auch gegenüber der Theologie zuzusprechen? Muß man nimt fragen, wie sie im Verhältnis der Synthese überhaupt nom >>möglim« sein kann? - Solme Fragen stehen - ausgelöst durch Maritain- immer noch an und haben bislang (wie ich glaube) keine zureimende Antwort gefunden. Zur Klärung der Fragestellung ist es nützlich, hier an die geschimtli~en Tatbestände zu erinnern, wie sie die historische Forschung sieht- zumal Maritain ebenso wie die Mehrzahl seiner Kritiker eher Schulthomisten
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Zur Einführung
als Historiker sind. Da ist zunächst wichtig, daß Thomas die philosophische Ethik als eine gegebene Wissenschaft vorfand, und zwar in der Ethik des Aristoteles. Bekanntlich war die Nikomachische Ethik schon damals Vorlesungstext in der Pariser Artistenfakultät, und man hat sie dort nicht als ein bloß >>historisches>reflektierende>Wiederholenäußersten Seinkönnens>Unvollkommenen Glückseligkeitgegenwärtigen Lebensam RandeVernunft>Menschennatur>Sinnlosigkeit>Ende der Metaphysik>reflektierte>transzendentalen Frage>Reflexivität>transzendentalen Frage>Prinzipiendenker>Transzendentalphilosophen>Reflexivität>Ableitung>Extension>ApplikationSeinsethikmetaphysische Naturrechtslehre>Entscheidung«; der Gegner kann sie als ideologisch interpretieren, er kann den philosophischen Sinn der dann folgenden praktischen Wissenschaften bestreiten. Es bleibt dann noch die Möglichkeit des Rückzugs auf die »christliche Moralphilosophie« oder das >>christliche Naturrechtmetaphysischen>thomistisches>reinen>Rücknahme>UrsprungEigentlichkeit>Praktischen>axiomatisch>Rücknahme in den Ursprung>mitnähme«? Daß auch historische Arbeiten hier vorbereitend und weiterführend wirken können, glaube ich an den Studien von J. Ritter zu Aristoteles sehen zu können. Es wäre reizvoll, auf die Situation auch der Moraltheologie einzugehen, weil diese Untersuchung ja eine theologische Dimension hat, die sich überall geltend macht. Da sie diese aber nur in Abhängigkeit von ihrer philosophischen Zielsetzung enthält, möge die Beurteilung den Theologen überlassen bleiben. 5. Zur (technischen) Durchführung Zum Schluß sei noch weniges zu mehr >>technischen>thomasisch« oder >>thomanisch« konnte ich mich nicht entschließen. Die Quellen dieser Untersuchung sind die sämtlichen Werke des Thomas von Aquin. Ich betone das, weil ich nur einen kleinen Teil davon (allerdings die bedeutendsten) zitiere. Ich beziehe mich nur auf die Texte, die ich unmittelbar als Belege brauche. Deren Hauptmasse stammt aus den beiden Summen und dem Ethikkommentar, nur gelegentlich werden Sen-
Zur (technischen) Durchführung
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tenzenkommentar (>>Scriptum«) und Quaestioneu herangezogen. Diese Besduänkung ist sadtlidt begründet; der Vorzug der Summa theologiae (sdton in dieser Einführung erwähnt) wird eigens begründet. Idt folge also nidtt dem Braudt mandter neuerer Arbeiten, die es für Akribie halten, wenn audt das bekannteste Adagium dutzendfadt belegt wird. Es wäre übrigens ein leidttes, mit Hilfe soldter Belegsammlungen die Dokumentation dieser Untersudtung gewaltig aufzublähen; sadtlidt und methodisdt wäre es nidtt nur überflüssig, sondern falsdt. Allerdings muß von allen Thomas-Arbeiten heute gefordert werden, daß die Besdtränkung, die sie sidt auferlegen, aus der vollständigen Kenntnis kommt. Es versteht sidt, daß immer nodt Fehler, Versehen und übersehen möglidt bleiben. Eine vollständige Erfassung der Literatur halte idt für unmöglidt. Trotzdem glaube idt, daß mir die Literatur, die für meine Fragestellung bedeutsam ist, in sehr großem Umfange bekannt geworden ist - jedenfalls mehr, als zum gleidtsam »anerkannten« Status quaestionis gehört. Von dem, was idt eingesehen habe, ist jedodt nur ein sehr geringer Prozentsatz ausdrücklidt zitiert; nur das, was wirklidte Hilfe bot, ist genannt, zuweilen audt Weiterführendes. Daher gebe idt kein Verzeidtnis der zitierten Literatur; für die Orientierung des Lesers wäre es nidtt von Nutzen. Idt darf ihn auf die bestehenden ausgezeidtneten Bibliographien verweisen, besonders das Bulletin thomiste, in dem die Thomas-Forsdtung ein unvergleidtlidtes Hilfsmittel besitzt. Idt habe mir die Freiheit genommen, selbst dann mandte Werke nidtt zu nennen, wenn sie mein Anliegen unmittelbar betrafen-zumal wenn idt sie für unzulänglidt hielt. So möge sidt der informierte Leser nidtt wundern, daß idt etwa die umfangreidtste systematisdte Kritik der thomistisdten Ethik, die im letzten Jahrzehnt ersdtienen ist (vielleicht die umfangreidtste überhaupt) gar nidtt nenne. Selbstverständlidt habe idt mir audt bei den Kommentatoren Rat geholt, auf die man bei kritisdten Fragen kaum verzidtten kann, jedenfalls nidtt sollte: Caietan (zu S. Th.), Sylvester von Perrara (zu SCG), Joannes a Sancto Thoma (Cursus philosophicus); dazu muß idt den sdtlidtt-sdtulmeisterlidten Kompilator Cosmas Alamannus erwähnen, der mir mandte Umwege erspart hat. Am Ende mödtte idt nodtmals betonen, daß die Darstellung als ein strenger Zusammenhang konzipiert ist und als soldter gelesen sein will; als Sammlung von Einzelheiten, als Fundort von Dokumentationen, als Aufarbeitung des Forsdtungsstandes ist sie nidtt gemeint und nidtt braudtbar.
Erster Abschnitt
ETHIK ALS PHILOSOPHISCHE DISZIPLIN
1.
KAPITEL: PHILOSOPHIA ANCILLA THEOLOGIAE
§ 1: Der Vorrang der theologischen Synthese Unsere Untersuchung beschäftigt sich mit der thomistischen Ethik, sofern diese eine philosophische Disziplin ist und sein will. Es ist also zunächst zu klären, was dieser Terminus im Rahmen des thomistischen Denkens bedeuten kann. Hier steht unsere, wie jede Untersuchung zur Philosophie des Thomas von Aquin, vor der methodischen Schwierigkeit, daß sie einen Autor behandelt, der zunächst gar nicht als Philosoph auftreten will, sondern als Theologe. Diese Tatsache ist grundsätzlich ebenso unbestreitbar wie unbestritten. Gewiß besitzen wir eine Reihe rein philosophischer Schriften von Thomas, vor allem, neben einer geringen Anzahl hierher gehöriger Opuscula, die Aristoteles-Kommentare. Ihre Absicht ist, wie aus ihrer gesamten Anlage und Methodik, aber auch ausdrücklich aus dem Widmungsschreiben zu In Perihermeneias hervorgeht, für die Fortgeschrittenen eine Vertiefung, für die Anfänger eine Hilfe zu bieten1 • Darin findet sich nichts über eine weitergehende Zielsetzung dieser Schriften, die sie etwa in einen nicht-philosophischen Zusammenhang brächte und so ihre innere Selbständigkeit aufhöbe. Jedoch, bei der Betrachtung des thomistischen Gesamtwerkes fällt auch dem oberflächlichen Beobachter unmittelbar zweierlei ins Auge: Nicht in den Aristoteles-Kommentaren, nicht in den rein philosophischen Schriften findet sich die eigentlich »thomistischeauf dem Wege der Vernunft zu verfolgen, was die menschliche Vernunft von Gott erforschen kannAufstieg durch die Geschöpfe zur Erkenntnis Gottes>Glaubenserkenntnis>umgekehrt von Gott zu uns durch die göttliche Offenbarung herabsteigt>wozu anders philosophiert der Mensch außer um selig zu sein?« 22 -dies Wort Augustins nimmt Thomas auf; auch für ihn hat die Philosophie mit dem Glü~ des Menschen zu tun 23 und damit unmittelbar mit seinem Heil. Der Gesichtspunkt der »revelabilitas« erweist sich als sehr weitreichend; in seiner Anwendung zeigt sich die Wirkung des »göttlichen Lichtes«, das in dem Glauben an die Offenbarung eingegossen wird, und dies vermag weitere Bezirke zu umfassen als selbst die höchste und umfassendste rein natürliche Wissenschaft, die philosophische Weisheitdie Metaphysik24 : diese betrachtet zwar »alles«, aber doch nur »insofern es ein Seiendes ist«, in einer Allgemeinheit, die der Natur des »natürlichen Lichtesnatürlichheiligen Lehrejegliches Denken zum Gehorsam Christi gefangenzunehmenpraeambula fidei« deutlich ist, beträchtliche Folgen. Vom philosophischen Standpunkt aus haben diese Fragen, die um die natürliche Gotteserkenntnis kreisen, ihren Ort am Ende eines langen Lernprozesses, der sich durch fast alle philosophischen Disziplinen durchbewegt. Denn >>fast die gesamte Philosophie ist auf die Gotteserkenntnis hingeordnet«, d. h. ist für sie erforderlich42 • Hinzukommen muß eine innere Vorbereitung des Lernenden, die von Thomas verschiedentlich - im Anschluß an Aristoteles geschildert wird43 • Diese letzteren moralischen Bedingungen des Philosophierens verlieren für den Theologen an Bedeutung, insofern er schon durch den Glauben auf den höchsten Gegenstand gerichtet ist44 • Die rein wissenschaftlichen Voraussetzungen jedoch muß er sich durch ein eingehendes Studium aneignen, welches sich kritisch, verstehend und ergänDies ist in Thomas' Stellungnahme anläßtich des Problems der •aeternitas mundi« besonders deutlich; auch I, 46, 2 wird Sorgfalt empfohlen, ,. ... ne forte aliquis ... rationes non necessarias inducat quae praebeant materiam irridendi infidelibus«. 42 So SCG I, 4 oder EBT 3, 1. 43 Nach ARISTOTELES, Nik. Eth. I, 2- vgl. In Eth. I, 3 n. 38-40; ib. VI, 7 n. 1209 bis 1211; In De caus. 1: In Phys. VII, 6 n. 7; EBT 5, 1 ad 3. 44 Dazu vgl. E. GrLSON, 1homas Aquinas and Our Colleagues (Princeton, The Aquinas Foundation 1953), abgedruckt in: A Gilson Reader, ed. A. C. Pegis, New York 1957, S. 278-297. 41
Der Eigenbereim philosophismen Denkens
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zend mit dem befaßt, was die profanen Philosophen an Positivem erarbeitet und zu vermitteln haben. Im thomistischen Gesamtwerk finden wir den literarischen Niederschlag solchen Studiums in den AristotelesKommentaren und den philosophischen Opuscula; letztere sind dabei in Zusammenhang mit den ersteren zu sehen45 • Es wird jetzt klar, daß auch diese rein philosophischen Schriften ihren Ort und ihre Sinnerfüllung in einer theologischen Gesamtkonzeption finden, und ebenso leuchtet ein, daß dieser Umstand sie nicht hindern kann, sich in rein philosophischer Absicht zu geben. Prinzipielle Eigenständigkeit der philosophischen Bemühung einerseits, Hinordnung auf und Einordnung in das theologische Ganze andererseits sind miteinander erforderlich, damit die Philosophie ihren »Magddienst>außerhalb,, und nur Wahrscheinlichkeit hergebend. Der eigentlich theologische Beweis stützt sich auf höhere Autorität10 • Aber sogleich zeigt sich die Eingeschränktheit dieser höchstgewissen Erkenntnis: sie ist vorzüglich Erkenntnis des »an sitgesichertquomodo sit>quomodo sit>an sitrevelabilitas>Neigungetwas im Streben hatTu barebloßen Vernunfttheoretischen>praktischen>Modus>in praktischer Weise praktisch« ist dann nur die Klugheit, und sie allein gibt die >>nächste« Regel des Tuns; das Wissen der Moralphilosophie ist dagegen >>in spekulativer Weise praktisch« und gibt in seiner notwendigen Allgemeinheit nur die >>entfernte Regel« des Handelns 71 • Was die hier eingeführte >>spekulative Weise« des Erkennens von Wirkbarem angeht, so wird von Thomas das Definieren, Einteilen und Betrachten der allgemeinen Prädikate des Gegenstandes als charakteristisch dafür angeführt, also das analytische Verfahren. Er erläutert es am Beispiel eines Architekten, der ein Haus begrifflich analysiert statt es zu bauen 72 • Es ist aber wohl kaum zu bezweifeln, daß die Architektur nicht dadurch eine spekulative Wissenschaft wird, daß jemand sie in spekulativer Weise betreibt - die Frage haben wir bereits grundsätzlich behanEBT 5, 1 ad 4; den Texts. bei Anrn. 75. Vgl. I, 14, 16. 71 Die Begriffe sind geprägt von J. MARITAIN, Les Degres du Savoir, Paris 2 1934, S. 618-627 und 879-896. Für ihn gibt es jedoch zwischen der "science speculativernent pratique« - der wissenschaftlichen Ethik - und der Klugheit noch die von beiden spezifisch verschiedene •science pratiquernent pratique«, der die konkreten Morallehren von •Moralisten« -von Montaigne bis Dostojewski - zugerechnet werden. Unterscheidend ist einmal die ,. Weise« des Erkennens, andererseits (und im Zusammenhang damit) die größere oder geringere •Nähe« zum Ziel, zum Wirken (vgl. Maritains Schema a. a. 0., S. 885). - Wie im Folgenden dargelegt wird, sehe ich innerhalb des praktischen Wissens - zwischen den obersten praktischen Prinzipien und der arn meisten dem Einzelnen angenäherten reinen Erkenntnis - nicht die Möglichkeit einer •spezifischen« Differenz. 72 I, 14, 16: Von einem spekulativen Wissen kann man reden •quanturn ad rnodurn sciendi, utputa si aedificator consideret dornurn definiendo et dividendo et considerando universalia praedicata ipsius. Hoc siquidern est operabilia rnodo speculativo considerare ... «; man verfährt •per resolutionern cornpositi in principia universalia forrnalia.« 69
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Ethik als praktische Wissenschaft
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delt -, und andererseits läßt sidl wohl behaupten, daß jedes praktisdle Wissen dieser spekulativen Weise fähig ist; denn sofern es im Verstande ist, unterliegt es den Gesetzmäßigkeiten des Verstehens, die diesem sdlledlthin und »absolut« zukommen und die in der Logik dargestellt werden. Wenn man will, mag man diesen Gesidltspunkt in den Vordergrund rücken und sowohl Kunst als audl Moral bestimmen als >>habitus formaliter speculativi« 73 • Damit sagt man aber nidlt mehr aus, als daß sie eben >>im Verstande sindhabitus formaliter practicusFormalen>theoretismvom Ziele her>Für die und die Geschwüre sind die und die Heilmittel anzuwendenin entfernter Weise>Es gibt drei Kräftees gibt so und soviel Arten von Fiebertheoretische>praktischen>formaliter spekulativ>Spekulativer Weise>Zunächst>allgemeintheoretischen>es gibt drei KräfteentferntVOm Ziele her>Intentionpraktisch>theoretisch>rechten Begriff, von dem, was zu tun istMenschlicheTeilen>diesem Leben>Schau>allgemeinenTeil einer Menge>Zeugung, Nahrung und Zucht>Familie>bedarfsdeckendZur vollen Genüge des Lebenslebt>schlechthinnige« Einheit, wie sie sich aus einer festen physischen Verbindung der Teile (Thomas nennt als deren Arten compositio, colligatio, continuitas, wobei sicher an Naturkörper zu denken ist) ergibt, sondern eine bloße Einheit der Zuordnung, wie sie bei einer Gruppe Schiffstreidler oder bei einem Heere zu finden ist. Bei beiden Gruppen gibt es eine Tätigkeit des Ganzen, die nicht einem Teil für sich zugeschrieben werden kann; sofern er an dieser Tätigkeit des Ganzen mitwirkt, ist er tatsächlich nur ein Teil. Darüberhinaus behält aber der einzelne Treidler, der einzelne Soldat einen eigenen Bezirk des Tuns, der nicht im Tun des Ganzen aufgeht38 • In ähnlicher Weise sind die Bereiche, in denen der Mensch als Bürger, als »Familienmitglied«, als Einzelner handelt, nicht zur völligen Dekkung zu bringen. Ein >>privates« Tun und Lassen, das die GemeinschaR nicht berührt, und ein gemeinschaftliches Tun, zu dessen Erwirken der Einzelne als solcher gar nicht fähig wäre, sind als Handlungen grundsätzlich verschieden. Sie können deshalb auch nicht in ein und derselben Wissenschaft gewußt werden. Dementsprechend gliedert sich die praktische Wissenschaft in drei Disziplinen: die >>Monastik«, welche die Tätigkeit des Menschen als eines Einzelnen betrachtet; die Ökonomik, die sich In Eth. I, 1 n. 4:,. ... homini auxiliatur multitudo civilis, cuius ipse est pars, non solum quantum ad corporalia, prout scilicet in civitate sunt multa artificia, ad quae una domus suffleere non potest ... >civilisArten>GUt>bonum privatumbonum commune>von Natur>besserenletzte Ziel>göttlichergöttlicher>göttliche>praktischen>Gut« des Seienden im Ganzen, des Universums, vollzieht, und das ist nur im reinen Betrachten des spekulativen Verhaltens möglich 43 • Zwar bleibt auch der Mensch, der in der Schau das Höchste vollbringen will, angewiesen auf die Gesellschaft, die ihm im konkreten menschlichen Zusammenleben den Platz freimacht und zuweist, von dem aus er seine Fähigkeit des Schauens der Wahrheit >>gebrauchen« kann 44 • In seinem Schauen ist er aber nicht mehr von der Hilfe anderer abhängig, sondern er genügt sich selbst 45 ; er vollbringt es als Einzelner, und so erweist sich dem Gemeingut wieder ein >>Einzelgut>Singularis assecutio eius (= boni intellectus speculativi) excedit communem assecutionem boni intellectus practici>heilsbedeutsame« Handlung ein anderes Aussehen haben könnte als die natürliche. Es fragt sich jedoch, ob nicht auch im >>gegenwärtigen Leben« unter der Voraussetzung des jenseitigen Zieles eine besondere, konkret das »Aussehen« eines Handeins verändernde Regelung stattfindet, in der die Bedeutung des Handeins für das Heil eigens gesetzt wird. Tatsächlich greift die Offenbarung in den Bereich des diesseitig umgebenden Seienden gestaltend und regelgebend ein. Sie belehrt den Menschen über konkret zu Tuendes, das geeignet ist, die Hinordnung auf das übernatürliche Ziel im Diesseitigen zu wirken. Sie schreibt besondere Akte vor, die sich aus dem Wesen und der Struktur des natürlichen Seinkönnens nicht ergeben, aber auch nicht aus dem offenbaren Grundriß übernatürlicher Verfassung ableiten lassen: das »positive göttliche Gesetz« gestaltet die geschichtliche Umwelt konkret, schränkt den offenen Bereich des zu Tuenden ein, liefert bestimmte Regeln für die Bestimmung menschlichen Seinkönnens23. Als geschichtlich beschränkte und beschränkende Satzung ist es wandelbar, und es entfaltet sich in den Stufen des »Alten« und des »Neuen Gesetzes«. In seiner Stufung hat es erzieherischen Sinn und führt zu einer wachsenden Vollkommenheit, die »positiv« zum Höchsten führt24, Es bleibt bestehen, daß dem Menschen schon >>von Natur aus>nachgebildet« werden, es sei denn in einer Vielzahl von Akten, und der Träger dieser Akte bleibt auch dann noch immer auf die Praxis als auf einen anderen Bereich hingewiesen, in dem es eine andersartige Erfüllung gibt2 6• Nun ist aber auch die Praxis demselben Ziel eindeutig zugeordnet, I-II, 5, 7. Vgl. I-II, 3, 2 ad 4; I-II, 3, 5 und 6 (dazu Kap. 8 § 2 und Kap. 9 § 2); vgl. oben S. 70 und Anrn. 50.
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sei es nur als Mittel, seine Zuteilung zu >>Verdienen«; das Streben selbst, in der Mannigfaltigkeit des umgebenden endlichen Seienden nicht zur Ruhe kommend, findet seine volle Erfüllung durch das substantielle höchste Gut. In der Anschauung Gottes begegnet, sofern in ihm die Fülle allen Seins begegnet, zugleich alles, was überhaupt begegnen kann, und nicht mehr als ein in endlichen und mannigfaltigen Akten zu behandelndes, sondern nur noch als zu schauendes 27 • Aber auch das diesseitige, >>Verdienende« Handeln ist nicht mehr nach den geschiedenen Bereichen des >>Privaten« und des »Gemeinschaftlichen« aufgespalten. Gott, als höchstes Ziel aller Schöpfung - wenn auch in je verschiedener Weise - ist das Gemeinsamste, das universelle Gut schlechthin28 , und da von ihm als dem Schöpfer der Handelnde in seinem Sein selbst als seinem Tiefsten ergriffen ist, ist das Handeln in seinem Tiefsten nicht mehr nach einem ,,für sich« und >>für andere« zu unterscheiden, sondern in einem »für das Ganze« oder >>für Gott« zu einen, das zugleich das am meisten eigene, private Gut ist. Alle Vielfalt menschlichen Verstehens von Seinkönnen ist zur Einheit zusammengeführt in dem absolut einenden göttlichen Verstehen dieses Seinkönnens. Im Erfassen des Allgemeinsten und Umfassendsten ist das Eigenste des Jeweiligen erfaßt, sofern dessen Eigensein gerade von diesem her gegründet ist2 9. Die umfassende Allgemeinheit des Gesichtsfeldes der theologischen Moral bringt keine größere Allgemeinheit im Sinne geringerer inhaltlicher Bestimmtheit mit sich. Dies geschieht schon nicht aus dem Grunde, weil dem Gläubigen, dem das übernatürliche Ziel in seiner umfassenden Weite gezeigt ist, zugleich ja ein bestimmter geschichtlicher Rahmen durch das positive göttliche Gesetz gesteckt wird, in den sein Tun sich einzupassen hat 30 . Die Erkenntnis der Theologie nähert sich also weit mehr dem Konkreten der Handlung als die der praktischen Philosophie, der sich die besondere geschichtliche Gestalt konkreten menschlichen Daseins nur als jeweils »erfahrene« zeigt; der Theologie ist die geschichtliche Gestaltdes Alten und Neuen Bundes- Gegenstand sicherer Erkenntnis. Natürlich, sie ist >>Wissenschaft« und handelt deshalb nicht thematisch vom je Einzelnen, es sei denn als >>Beispiel« -als solches hat es auch in der Philosophie seinen legitimen Platz3 1 • Wo also die Offenbarung nicht ausdrücklich das Einzelne festlegt, befindet sich die theologische Vernunft in einer analogen Lage wie die philosophische, rein natürliche. So bedarf es auch im Leben des Gläubigen wieder der »klugen« Anwen27 28 29
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I-II, 2,8 und ib. 3,8. I-II, 2, 8 ad 2; I-II, 21, 4. Vgl. I, 60, 5; I-II, 109,3. I-II, 90,4; vgl. Anm. 23, S. 76. I, 1, 4 ad 2; Sent. Pro!. 3 so!. 2.
Theologie als praktische Wissenschaft
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dungder Regel auf das hier und jetzt begegnende zu Tuende; wobei die Regel das erkannte göttliche Gesetz ist, die Klugheit in der vollkommenen Gestalt der >>eingegossenen>Erfahrung>faktischePartikularen>revelabilia«, der Gesamtbereich des Praktischen gehört unter die Zuständigkeit der Theologie. Vgl. Kap. 2 § 3 und Anm. 22, S. 19. Das göttliche Gesetz ist deshalb allumfassend, I-II, 91, 4, jedoch (vgl. Anm. 33, S. 79) nicht in der Weise, daß es von sich aus alles determinierte. 42 Vgl. unten Kap. 14 § 2. 43 I-li, 91, 4. 40 41
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Ethik als philosophische Disziplin
Dagegen läßt sich nicht anführen, daß in der konkret gegebenen Offenbarung - in der >>Heiligen Schrift« etwa - nicht schon ein geschlossenes Regelsystem vorliegt, das nun die konkrete Ordnung des Lebens genau vorschreibt44. Theologie ist ja nicht bloße Auslegung des Offenbarungsinhalts, sondern argumentierende Wissenschaft, die vom ausdrücklich Geoffenbarten her auch andere Fragen aufwirft und beantwortet, die vom Geoffenbarten als Prinzip diskurrierend zu Folgerungen fortschreitet. Theologie bedient sich desselben Verfahrens wie andere, profane Wissenschaften. Dabei hört sie keineswegs auf, übernatürlich zu sein; denn ihr Diskurs geschieht im übernatürlichen >>LichtLicht« jenes Gut und Böse zeigt, das dem natürlichen menschlichen Verstehen sich schon erschlossen hat, so zeigt es sich allererst in seiner letzten Gründung und seiner eigentlichen Bedeutung. Der einordnende Diskurs der Theologie erkennt es >>eigentlicher« als das naturhafte Verstehen. 2. Es kommt hinzu, daß die Blickrichtung, in der die Theologie sich dem Bereich des Praktischen zuwendet, nicht, wie das im spekulativen Bereich der Fall ist, der natürlichen entgegengesetzt, sondern ihr gewissermaßen gleichgerichtet ist. Natürliches praktisches Wissen geht vom Menschen als dem Handelnden aus, der sein Tun durch Vernunft regelt. Theologie ist aber gerade dann praktisch, wenn sie gleichfalls den Menschen als durch Vernunft handelnden, als »Herrn seiner Akte« begreift 45 • Daß sie es von Gott her tut, bedeutet nicht eine Änderung der Blickrichtung, sondern eine Erweiterung des Blickfeldes. Die natürliche Hinsicht des praktischen Wissens ist in der Sicht von Gott her enthalten; ihr Blickfeld bedeutet nur einen Ausschnitt aus dem, was_von Gott her in voller Ausdehnung sichtbar ist. Natürliches praktisches Wissen wird in seiner letzten Gründung und auch in seinem natürlichen >>Recht« durchschaut; zugleich zeigt es sich aber als beschränkt und in sich selbst nicht genügend, sondern der Vollendung sowohl bedürftig als auch fähig. So wird die natürliche Perspektive von der übernatürlichen voll umschlossen; nichts gibt es im Bereich menschlichen Handelns, was nicht dem Blick von Gott her ebenso offenläge wie dem vom Menschen her, was nicht als zu Regelndes dem theologischen Wissen um das Gesetz Gottes ebenso unterläge wie dem »moralischen« (um die Vernunftregel) 48. Das gesamte natürliche 44 Das mag aber das Motiv der vorthomistischen Theologen gewesen sein, die •moralis« lediglich als untergeordnete philosophische Disziplin zu behandeln und keine Moraltheologie in diesem Sinne aufzubauen, wie sie Thomas entwidtelt; vgl. dazu R. GurNDON, Beatitude et Theologie morale chez saint 1homas d'Aquin, Ottawa 1956, I. Teil, bes. S. 144-145. 45 Vgl. S. 72 und Anm. 4. 48 Im Gegenteil: ,. ... ubi deficit ratio humana, oportet ad rationem aeternam recurrere,« I-II, 19, 4.
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Verständnis des menschlichen Handeins wird vom übernatürlichen überhöht und vollendet - die gesamte Moralphilosophie wird von der Theologie aufgenommen, eingeordnet und überformt47 • 3. Schließlich ist hier ein drittes Moment anzuführen, welches den gleichen Sachverhalt in anderer Weise nochmals deutlich macht. Wo im spekulativen Bereich natürliche Erkenntnis und Erkenntnis aus dem Glauben am gleichen Gegenstand zusammentreffen, in der Weise, daß in der einen das »Warum>Daß« gesichert wird, hat die natürliche Erkenntnis einen (relativen) Vorzug, auf dem das Eigenrecht der Philosophie gegenüber der Theologie gründet 48 • Im Bereich des Praktischen ist aber das >>Warum« eines Tuns, von dem her sich die Regel ergibt, immer das Ziel. Nun gibt es im Umkreis natürlicher praktischer Einsicht sicher verstehbare Ziele, die das >>Warum« einer Regel zu geben vermögen 49 • Aber das letzte und umfassende ,. Warum« allen menschlichen Handeins gibt gerade die Offenbarung und die sie erläuternde Theologie. Jener Vorzug des natürlichen Erkennens, der im Spekulativen eine gewichtige Rolle spielt, scheint also im Praktischen völlig verschwunden. Die praktische Theologie stellt gerade in der Linie des Wissens um das >>Warum« die Vollendung des natürlichen praktischen Wissens dar. Wo dieses ein Ziel und ein >>Warum« antriffi, das ihr einsichtig ist, zeigt die Theologie, daß dieses Ziel ein vorläufiges, die Einsicht in das >>Warum« eine sehr begrenzte ist. Sie allein erkennt das letzte >>Warum« des Handelns, und so vermittelt sie allein die vollendete Erkenntnis des Handeins in praktischer Absicht. So ist sie beherrschend und formgebend auch für das Verstehen des natürlich einsehbaren >>Warum« eines Tuns. Es ist aus all dem deutlich, daß das Verhältnis von philosophischer und theologischer Moral ein ganz anderes ist als das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Bereich spekulativen Erkennens. Weder gibt es im Praktischen den Eigenbereich der natürlichen Vernunft, der nicht zum Offenbarungssinn hingeordnet und somit der Theologie verschlossen ist; noch kann von einer Selbständigkeit des natürlichen Standpunktes die Rede sein, die diesen dem theologischen entgegengesetzte und eine eigene Einsichtigkeit in anderer Blickrichtung zustande brächte. Vielmehr ist der natürliche Standpunkt vollständig dem theologischen ein- und zugeordnet. Man möchte hier - und man wird es dürfen - von »Aufhebung« sprechen, in dem bekannten Doppelsinn, den diese Vokabel im philosophischen Sprachgebrauch hat. Denn der natürliche Standpunkt wird Damit bleibt sie natürlich nicht Philosophie (oder »christliche« Philosophie), sondern wird Theologie. 48 Vgl. Kap. 2, § 3. 49 Vgl. Kap. 9 bes. S. 156-157.
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selbstverständlim nimt vernimtet und zum völligen Versmwinden gebramt. Das würde nimt nur den - früher dargelegten50 - allgemeinen thomistismen Prinzipien stracks zuwiderlaufen, sondern aum dem, was zum praktismen Verstehen der Moraltheologie selbst angemerkt wurde; denn wir sahen smon: wo es um Regeln des hier und jetzt zu Tuenden geht, bedient sim die Moraltheologie weitgehend der natürlimen Vernunft, wenn nämlim eine solme Regel sim im konkret Begegnenden mit natürlimer Einsimtigkeit zeigt, sie zugleim aber von den übernatürlimen Prinzipien her nur als entfernte Smlußfolgerung und mit einem geringen Grade von Simerheit aufgewiesen werden kannSt. Vor allem jedom zeigt die Theologie, daß die Gottebenbildlimkeit der »Herrsmaft über die Akte« eine Eigentümlimkeit des Mensmen ist, die nimt erst durm die Begnadung vermittelt, sondern in seiner Natur gegründet ist; daß die gnadenhafte Vollendung die naturhafte Vollendbarkeit voraussetzt. So verlangt die Theologie und setzt voraus die Möglimkeit eines unmittelbaren Verstehens von Gut und Böse, einer unmittelbaren Regelung mensmlimen Verhaltens durm die natürlime Vernunft, die Möglimkeit einer natürlimen Sittlimkeit52. Damit fordert sie zugleim die Möglimkeit einer Moralphilosophie als einer praktismen Wissensmaft. Sofort aber »hebt« sie deren Selbständigkeit wieder »auf«; denn als rein natürlim wäre sie gerade unvollkommen und unzulänglim, und ihr Vgl. Kap. 1, § 3. Vgl. S. 80-81.- Die Bedeutung der natürlidten Vernunft für die sittlidte Erkenntnis wird gerade im Gesetzestraktat der Summa theologiae betont. Das positive göttlidte Gesetz ordnet dem übernatürlidten Ziel zu und ist im Hinblick auf dieses notwendig; sogleich heißt es aber 1-11, 108, 2 ad 1 ,.sed ad opera virtutum dirigimur per rationem naturalem, quae esi: regula quaedam operationis humanae ... Et ideo in bis non oportuit aliqua praecepta dari ultra moralia legis praecepta, quae sunt de dictamine rationis.« Ebenso wird 1-11, 100, 1 festgehalten, daß die ,.praecepta moraliac des (Alten) Gesetzes ,.pertineant ad Iegern naturaec, ,.cum moralia praecepta sint de bis quae pertinent ad bonos mores; haec autem sunt quae rationi congruunt; omne autem rationis humanae iudicium aliqualiter a naturali ratione derivatur.« Lediglidt im Bereidt der unmittelbaren Gottesbeziehung bedarf es einer positiven •instructio divina« (ib.); sonst aber kommt es der natürlidten Vernunft zu, das konkrete sittlidte Tun (,.opera virtutumc) zu bestimmen, das konkret zu Tuende zu »beurteilen« (iudicare, diiudicare). In dem weiten Bereidt, der nidtt positiv durdt das göttlidte Gesetz determiniert ist, wird die Theologie demnadt eindeutig auf die natürlidte Vernunft verwiesen, sobald sie auf das Partikulare hin argumentiert. 52 Hier ist zu bedenken, daß audt konkret-theologisdt eine Zeit der ,.Jex naturae« der Zeit der ,.Jex vetusc und der ,.Jex nova« vorausgeht; für diese Zeit war die ,.Jex vetusc nodt nidtt notwendig, aus dem (als zweitem genannten) Grunde: ,. ... quia adhuc dietarnen legis naturae nondum erat obtenebratum per consuetudinem peccandic, 1-11, 98, 6 ad 1. - Die ,.Jex naturae« dieser Zeit wird von Thomas nicht etwa auf eine (übernatürlidte) Uroffenbarung gegründet! &o 51
Philosophische Ethik in der Synthese
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eigentliches Recht hat sie erst unter dem Licht der Offenbarung gewonnen: sofern sie nämlich im theologischen Dienst unmittelbar ihrer eigenen Vollendung offensteht. Was in der theologisch bestimmten Synthese als »philosophische Ethik>offene« System
Der Grundansatz der Philosophie als >>ancilla theologiae« in der thomistischen Synthese bedeutet - wie wir erläutert haben1 - nicht nur die Unterordnung philosophischen Wissens unter die Herrschaft der theologischen Wissenschaft, sondern auch die Bestätigung seines Eigenrechts und die Freigabe zu eigenständiger Systematik. Gerade an der Frage nach der Systematik zeigt sich nun am deutlichsten die Besonderheit der Verhältnisse, die im Bereich praktischen Wissens obwalten. »Systematik« des Wissens besagt in diesem Zusammenhang nichts anderes als die wesentliche Bezogenheit jeder Einzelerkenntnis von >>Wissenschaftlicher« Bedeutung auf eine Gesamtkonzeption, in der ein bestimmtes Verstehen sich das Ganze seines Gegenstandsfeldes - sei es auch in der Weise eines hypothetischen Vorgriffs- vor Augen führt; in der Erfüllung dieses Gesamtentwurfs käme das Wissen zu seiner Vollendung 2• Auch die praktische Wissenschaft bezieht ihre Aussagen auf ein vorweg ergriffenes Ganzes und entwickelt ihre Systematik von diesem her: sie versteht und mißt die Handlung am äußersten Seinkönnen des Menschen, dem sie das konkret zu Tuende je zuordnet. Aber was die natürliche Vernunft im praktischen Hinblick als dieses äußerste Seinkönnen des Menschen ergreifen kann, ist in Wahrheit nicht das Äußerste, ist nicht das >>wahre Ganze«. Dies zeigt sich vielmehr erst im übernatürlichen Lichte der Theologie, von der Offenbarung her. Die Moralphilosophie ist in ihrem eigenen Hinblick nicht vollendbar, sondern ihr Bereich ist nur ein Ausschnitt Vgl. besonders Kap. 2 § 2. Dies ist der aristotelische Wissenschall:sbegriff, den er besonders in In Post. Anal. I entfaltet: wie die einzelne Wissenschall: sich gegen andere durch ihr »Objekt« - ihren Gesichtspunkt - abgrenzt, so ist sie durch ihre »eigentümlichen« Prinzipien in sich selbst bestimmt; eine Erkenntnis ist »wissenschall:lich«, wenn sie als Konklusion aus den Prinzipien gefaßt ist, die das »Ganze« bereits enthalten. - In der praktischen Wissenschall: ist das Ziel Prinzip der Ganzheit. 1
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Ethik als philosophisdte Disziplin
aus einem größeren Zusammenhang, den allein die Theologie aufschließen kann. Die wahre Struktur des Ausschnitts läßt sich nicht aus diesem selbst, sondern erst aus dem wahren Ganzen, in das er eingeordnet ist, vollständig bestimmen. Hier schon zeigt sich, wie sehr die Lage der praktischen WissenschaA: im Verhältnis der Synthese von der einer spekulativen Disziplin verschieden ist. Von einer solchen - auch von der Metaphysik - läßt sich keinesfalls sagen, daß sie >>in ihrem eigenen Hinblick>Ausschnitt« die Rede sein, wenn der beschränkten natürlichen Sicht die umfassende theologische gegenübergestellt werden soll; denn es müßte wiederum der Hinblick als solcher theologisch umfaßt und vollendet werden können. Vor allem aber hat der auf allgemeine, abstrakte Erkenntnis abzielende Charakter des spekulativen Wissens zur Folge, daß es nicht auf die Geschichtlichkeit des Erkannten bezogen ist und so auch gar nicht von Geschichtlichkeit - sei es auch die ausgezeichnete der Offenbarung und der Heilsgeschichte - abhängen kann. Andererseits weist es nun die Geschichtlichkeit- und gerade die der Offenbarung- auch nicht ab, sondern ist trotz der >>Geschlossenheit« der Systematik immer noch zu ihr hin >>Offen«. Ein hervorragendes Beispiel für dies Verhalten gibt die thomistische Behandlung des Problems der >>Ewigkeit« der Welt3 • Die Moral ist aber gerade auf das Tatsächliche bezogen und auf dessen konkrete Geschichtlichkeit; und wenn diese wesentlich bestimmt ist durch die übernatürliche Hinordnung des Menschen zu Gott, durch die gnadenhafl:e Oberformung und Neuverfassung men~chlichen Lebens, durch die geschichtliche und geschichtsgestaltende Gesetzgebung Gottes - wenn also menschliche Geschidtte tatsächlich Heilsgeschichte ist: so kann das nicht ohne Bedeutung auch für die natürliche Moralwissenschafl: sein. Wollte sie sich in jenem Umkreis einschließen, welcher der Natur rein als solcher zugänglich ist, so würde sie die Geschichtlichkeit der Offenbarung abweisen müssen; sie müßte eine >>naturhafl:e« Geschichtlichkeit als die tatsächliche ansetzen, die in Wahrheit von der übernatürlichen aufgehoben ist 4• Unter der Voraussetzung der Offenbarung, unter den BedinDie Argumentation von I, 46, 2 bringt beide Gesidttspunkte "klassisch« zur Darstellung: »Demonstrationis enim principium est quod quid est. Unumquodque autem secundum rationem suae speciei abstrahit ab hic et nunc. Unde demonstrari non potest quod homo aut caelum aut lapis non semper fuit.« - Der die Zeitlidtkeit bestimmende und somit »gesdtidttlidte« Wille Gottes kann nur durdt Offenbarung bekannt werden: »Potest autem voluntas divina homini manifestari per revelationem, cui fides innititur. Unde mundum incepisse est credibile, non autem demonstrabile vel scibile.« 4 Hierin ist die eigentlidte »Heterodoxie« der »reinen« Aristoteliker (der so-
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Philosophische Ethik in der Synthese
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gungen der Synthese, kann eine natürliche Moralphilosophie nicht als in sich geschlossenes Strukturganzes, als >>System«, einer theologischen Moral gegenübergestellt werden. Die maßgebliche Systematik allen moralischen Wissens, auch des natürlich möglichen, liegt also bei der Theologie. Für den Gläubigen ist es nicht möglich, eine »systematisch geschlossene« Moralphilosophie als die seine aufzustellen und zu vertreten. Aus dieser Sachlage hat die Thomaslnterpretation eine bedeutsame Folgerung zu ziehen: Was bei der spekulativen Philosophie möglich ist, braucht es durchaus noch nicht in der praktischen zu sein. Obwohl nämlich Thomas seine metaphysischen Lehren vorzüglich im theologischen Zusammenhang entwickelt, ist der Interpret doch auf Grund der Prinzipien der Synthese berechtigt, sie daraus zu lösen und in ihrer eigenen Ordnung zur Darstellung zu bringen; es gibt eine »thomistische Metaphysik«, und zwar als eigenständiges »System«. Aber es gibt keine »thomistische (philosophische) Ethik«, die als eigenständiges System einer natürlichen praktischen Wissenschaft aus der Synthese gelöst werden könnte. Die thomistische Moral ist als System nur in der thomistischen Theologie zu finden. Alle moralische Erkenntnis, auch die schon »natürlichgegenwärtigen Lebens« ist menschlicher Gestaltung freigegeben; diese hat jetzt unter das Urteil der Theologie zu treten, aber in der Einsicht in ihre Beschränktheit und in der Offenheit für das theologische Urteil hat sie ihre eigene teilhafte und beschränkte Gültigkeit30 • Man darf zusammenfassen: Die Wahrheit der natürlichen praktischen Vernunft lebt nicht aus der Geschlossenheit eines vollendeten Ganzen, sondern aus der Vollendbarkeit dessen, was sich - im gegenwärtigen Leben - geteilt und beschränkt zeigt. Praktische Philosophie trägt diese Beschränktheit und zugleich Offenheit zur Vollendung an sich; gerade darin und dadurch ist sie wahr. Erst in der Theologie kann der praktische Hinblidt. zur Vollendung gelangen, die Ganzheit sich schließen, die Geteiltheit praktischen Wissens überwunden werden; erst in ihr kommt es zur abschließenden Systematik moralischen Wissens.
menheit verhalten, 1-II, 107, 1 und ad 2. Weder die Heilsgemeinschafl: selbst noch deren ,.zustände« werden vom Menschen her bestimmt, wohl aber kann auch im gleichbleibenden Zustand das Verhältnis des Menschen zum Gesetz je verschieden sein, wieder nach Unterschieden in der Vollkommenheit, 1-II, 106, 4. 28 1-II, 21, 4. 29 Wenigstens im Neuen Gesetz, 1-II, 108, 2. 30 Vgl. 1-II, 108, 2 und ad 4: Die Freigabe menschlicher Gesetzgebung hinsichtlich konkreter Bestimmung des zu-Tuenden ist im Neuen Gesetz ausdrücklich gegeben. Sie gilt auch innerhalb der Heilsgemeinschafl: selbst, hinsichtlich ihres konkreten geschichtlichen Lebens - als ,.Kirche« -, denn auch dort stehen noch weite Bereiche zur Determination offen. Es ergäbe sich also hier die Frage nach einem »menschlichen Gesetz« im geistlichen Bereich, also nach dem kirchlichen Recht, seinem Verhältnis zum ,.politischen« Gesetz, überhaupt nach dem Gesellschafl:s- und Geschichtscharakter der Kirche. Jedoch wird diese Frage von Thomas kaum berührt, geschweige denn systematisch behandelt; die heutige Bezeichnung der Kirche als einer geistlichen ,.societas perfecta« findet sich überhaupt nicht. Das Problem ist deshalb hier nicht weiter zu verfolgen.
Philosophische Ethik in der Synthese
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§ 3: Die Vorgabe des Bereims philosophismer Ethikdurmeine »Metaphysik des Handelns«; beider Einheit in der theologismen Perspektive und die Frage der >>Einholbarkeit« dieser Einheit im natürlimen Wissen; Folgen für die philosophische Interpretation Dies alles smließt nun nimt aus, daß sim aum für die natürlime Vernunfl: das mensmlime Handeln als >>Ganzes« in eine umfassende Ganzheit eingeordnet finden kann, die sim dem spekulativen Hinblick zeigt. Es war bereits die Rede davons 1, daß die Metaphysik aum das Handeln, sofern es eben >>seiend« ist, jener Gesamtordnung des >>Seienden im Ganzen>Ewigen GesetZ>NaturgesetZUnvollständig>vollendbar>praktisch bedeutsam>bonum separatum« als allgemeine und für-sich-seiende Idee behauptet werde; das >>bonum separatum«, welches Gott ist, von dem alle Güter abhängen, sei nicht betroffen, zumal Aristoteles selbst in der Metaphysik dieses Gut nachweise5 7 • Auch die schon erwähnte Stelle, an der Thomas die Glückseligkeit als Gottesgeschenk bezeichnet findet, gehört hierher58 . Die Beispiele ließen sich unschwer vermehren. In der Weise dieses Textverständnisses verrät sich der >>philosophierende Theologe«, und die Einordnung des Kommentars in ein theologisches Lebenswerk kommt darin tiefer zum Ausdruck als in den ausdrücklichen Hinweisen auf die >>Wahrheit des katholischen Glaubens« und in der gelegentlichen Beurteilung aristotelischer Positionen von theologischer Warte aus59, zu schweigen von Einzelheiten wie dem Heranziehen des Beispiels vom Martyrium des heiligen Laurentius&o: das sind, im Verhältnis zum immanenten Aristotelismus des Kommentars, äußere Zutaten, deren rein theologische Herkunft: sich offen darbietet. Der eigentliche theologische Sinn des Kommentars liegt darin, daß er philosophisch deutlich macht, wie praktische Wissenschaft: aus natürlicher Vernunft: geeignet ist, in die Synthese einzugehen. Der moderne, historisch eingestellte Betrachter wird überzeugt sein, daß diese Eignung für die theologische Synthese nicht so in der aristotelischen Ethik vorzufinden ist, wie diese im geschichtlichen Kontext gemeint ist. Der thomistische Aristotelismus dürfl:e ein anderer sein als der des Aristoteles, und es ist der Vorwurf erhoben worden, nur deshalb gelange der Kommentator zu dem theologisch erwünschten Ergebnis, weil sein Aristo57 In Eth. I, 6 n. 79: »Aristoteles non intendit improbare opinionem Platonis quantum ad hoc quod ponebat unum bonum separatum, a quo dependerent omnia bona. Nam ipse Aristoteles in duodecimo metaphysicae ponit quoddam bonum separatum a toto universo, ad quod totum universum ordinatur ... Improbat autem opinionem Platonis quantum ad hoc quod ponebat bonum separatumesse quandam ideam communem omnium bonorum ... « - V gl. Kap. 10, § 1. 58 In Eth. I, 14 n. 167; ib. 173: eine ,.causa divina« wird nun zur ,.felicitas« nötig, welche »principaliter et primo« die Vernunft bewegt. Für den »aristotelischen« Charakter dieser Doktrin kann sich Thomas auf die Eudemische Ethik (VII, 14; 1248 a 24-29) berufen, was er auch sonst gelegentlich tut, z.B. I, 82,4 ad3. 59 Wie z. B. In Eth. X, 10 n. 2080 und 2086; bedeutender ist wohl der Zusatz zu der Aussage, Gottes Tätigkeit sei »spekulativ«, In Eth. X, 12 n. 2123: »Et speculatione sapientiae suae omnia facit« (nach Prov. 3, 19), sofern der aristotelische Gedanke dadurch unmittelbar theologisch »determiniert« wird. 60 In Eth. 111, 2 n. 395.
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Ethik als philosophische Disziplin
telismus bereits von theologisch bestimmten Prinzipien her umgestaltet sei, die fälschlich dem Aristoteles unterstellt werden 81 • Dieser Vorwurf kann nur dann voll treffen, wenn man den »historischen« Aristoteles zum Maß nimmt und sich weigert, auf die thomistische Sicht einzugehen; er verkennt zudem, daß die theologisch bestimmten Prinzipien nach thomistischer Voraussetzung solche der natürlichen Vernunft sein müssen, der gewandelte Aristotelismus also auch dann kein »theologischer« ist, wenn er aus theologischen Motiven umgewandelt wurde82 • Es kann nur wiederholt werden, daß Thomas den Aristoteles nicht historisch, sondern in der wahrheitgebenden Offenheit des Verstehenshorizontes orten will, in dem erst die eigentliche Wahrheit seiner Aussagen hervortritt; er fühlt sich berechtigt, den Text nicht in seinem bloß historischen, sondern im »wahren« Kontext zu interpretieren und den Wortsinn auf diesen hin zu bestimmen. Man spricht bei diesem Verfahren - das alle mittelalterlichen Kommentatoren, und nicht nur bei Aristoteles, anwenden- von einem »determinate intelligere« 83, und so möchte man fast von einem »determinierten« Aristotelismus reden. Wichtig ist, daß es in der determinierten Aussage selbst die Determinierbarkeit gibt - das bezweifeln, hieße die historische Sicht gegen die philosophische setzens•. 61 H. V. ]AFFA, a. a. 0. (Anm. 51, S. 101), S. 186-187: »... a!though Thomas never appeals to any non-Aristotelian principles to interpret Aristotele's words, he nonetheless imputes non-Aristotelian principles to Aristotle, a!though treating them as if they were Aristotelian.« Jaffa nennt dann sechs »Prinzipien«, die alle tatsächlich Prinzipien der Offenbarungstheologie seien. 12 H. V. ]AFFA, a. a. 0., S. 225 Anm. 44 räumt hinsichtlich dieser Prinzipien ein: »lt is true that Thomas might consider some, if not all, of these as knowable by natural reason. But the fact that they were not kno~n by Aristotle ... would certainly suggest that their value as principles of unassisted human reason, from Thomas' own point of view, would be negligible.« - Jaffa hätte sich fragen können, ob seine »theologischen« Prinzipien nicht doch in der nichtchristliehen Philosophie tatsächlich vorkommen, wenn auch nicht bei Aristoteles: dies ist teilweise der Fall, so daß hier eine Instanz (vielleicht) gegen den aristotelischen, nicht jedoch den philosophischen Charakter des Kommentars wäre. Mir scheint jedoch nicht einmal der Nachweis gelungen, daß Thomas alle diese Prinzipien dem Aristoteles selbst unterstellt. Vor allem hat aber Jaffa die Technik des mittelalterlichen Kommentierens nicht berücksichtigt, ja nicht einmal den Versuch des Verstehens gemacht; zur Frage vgl. die Anm. 53, S. 102 zitierte Darlegung von Chenu, sowie ebda. Kap. 4, S. 138-174. 63 Vgl. M. D. CHENU, ;oAuthentica" et ;oMagistralia". Deux lieux tbeologiques aux XII-XII siecles, in: Divus 7homas (Piac.) 28 (1925) S. 257-285. 14 Es würde heißen, jedes geschichtlich vorliegende Denken auf den Ort und Ursprung seines Entstehens zu fixieren und jedes aneignende Verstehen auszuschließen. Die •Meinung« (•quid homines senserint«) stünde gegen das •Gemeinte«, die »intentio auctoris«. - Vgl. dazu die (allerdings etwas übertreibende) Bemerkung von E. GILSON, L'Esprit de Ia Philosophie medievale, Paris 2 1948, s. 401-402.
Philosophisdte Ethik in der Synthese
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Freilich findet sich nach diesen Voraussetzungen im Ethikkommentar weder der >>historische« Aristoteles noch auch die Moralphilosophie des Thomas selbst, und so braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn das Werk manchen Lesern »enttäuschend« vorkommt65. Die Moralphilosophie des Thomas findet sich genau dort, wo er sich als Moraltheologe auf sie bezieht, und so ist sie vorzüglich ausgebildet im ausgebildetsten Traktat der Moraltheologie, im II. Teil der Summa theologiae. Dort findet sie sich wiederum nur in wiederholten Ansätzen, die je für sich nur die Geschlossenheit eines Teiles haben, der insgesamt auf ein umfassenderes Ganzes verweist - und dieses Ganze ist wiederum ein theologisches. Innerhalb dieses Ganzen ist die praktische Sichtweise häufig verbunden oder wechselnd mit einer spekulativen, welche die »Metaphysik des Handelns« der eigentlichen Ethik beisteHt. In diesem Zusammensein mit der Metaphysik des Handelns und im Verwiesensein auf die theologische Ganzheit hält sich die Ethik in einem vollkommeneren Zustand als sie ihn haben könnte, wenn sie als natürliche praktische Wissenschaft rein für sich entwickelt würde. Als solche >>rein« philosophische Ethik ist sie nach thomistischen Grundsätzen möglich, und es wird auch ihr Grundriß, ihr Verfahren, ihre Einteilung und Einordnung angegeben. Aber sie findet sich in der angegebenen Gestalt nicht vor, und wollte man sie für sich so darstellen, so würde man - vielleicht! - >>ad mentem Thomae>moralis materia« unter den Begriff des Menschen als »ad imaginem dei factus«, als - wie immer unvollkommenes - Abbild Gottes stellt8 • Wie Thomas im Prolog des zweiten Teils diesen Begriff erläutert, soll er die Selbstherrschaft und die Selbstursächlichkeit des Menschen hervorheben, durch die er Herr seiner Akte und in prägnantem Sinne »handelndes« Wesen ist9 • NatürZum Folgenden vgl. R. GmNDON, a. a. 0., S. 232-233 und S. 270-277. ' SCG 111, 1 betont ganz einseitig die Herrsmaft und Regierung Gottes als leitenden Gesimtspunkt für die Abhandlung über die Tätigkeit der Gesmöpfe. 5 Vgl. z. B. SCG 111, 19 und 24, wo der Begriff der •assimilatio«, der in der Linie der Exemplarursämlimkeit liegt, als der entsmeidende ersmeint (so aum ib. 51). 1 V gl. SCG 111, 111; ib. 114 wird das •göttlime« Gesetz eingeführt und dann erst von diesem her auf das ,.natürlime« verwiesen; kurz smon 122: •Non enim deus a nobis offenditur nisi ex eo quod contra nostrum bonum agimus«, dann ausführlimer 129, wo eine ,.natürlime« Ordnung der praktismen Vernunft als bestehend aufgezeigt, aber nimt ausgeführt wird. 7 R. GmNDON, a. a. 0., S. 271, sagt zu Remt: ,. ... c'est encore d'un traite speculatif de ces themes qu'il s'agit puisqu'il en traite dans un contexte du gouvernement divin des creatures raisonnables. On ne voit pas que le propos de cette oeuvre soit proprement un propos moral bien qu'il s'agisse du fondement, en Dieu, de toute vie morale.« 8 1-11 prol.: ,. ... postquam praedictum est de exemplari, scilicet de deo ... restat ut consideremus de eius imagine, idest de homine, secundum quod ipse est suorum operum principium, quasi liberum arbitrium habens et suorum operum potestatem.« 8 Nam I, 29, 1 ist das •dominium sui actus«, durm das die •rationalis naturae individua substantia« als •per se agens« ausgezeimnet ist, maßgeblim für ihre Bezeimnung als •persona«; dennom wird dieser Terminus von Thomas in der Moral nur selten, nie an entsmeidender Stelle gebraumt (von ;,Personalismus« sollte man also smon aus diesem Grunde nimt reden).
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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens
lieh ist der Begriff der Abbildlic:hkeit nur vom Urbild her zu gewinnen, setzt dessen Betrachtung voraus und folgt auf sie. Die spekulative Aufgabe der Einordnung in das vom Urbild her ergriffene Ganze der Schöpfung und ihrer Tätigkeit bleibt also vorher und zugleich zu leisten. In der Weise aber, wie der Begriff der Abbildlic:hkeit an die Spitze der moralischen Erörterungen gesetzt ist, verlangt er vorzüglich die Erfassung des menschlichen Handeins in seiner Verursac:hung und Regelung durch den Menschen selbst. Die Theologie läßt sich damit auf die eigentlich »praktische« Hinsicht ein, oder besser: sie nimmt erst damit die eigentlich praktische Hinsicht als systemgestaltendes Moment in die Einheit ihrer Perspektive auf. Der II. Teil der Summa theologiae ist damit in strengem Sinne eine »Moral«, der es als praktischer Wissenschaft um das menschliche Handeln als solches geht, und bleibt zugleich in strengem Sinne Theologie, deren alleiniger Gegenstand nicht nur als Urbild - wie im I. Teil der Summa theologiae und in der gesamten Summa contra gentiles -, sondern auch in der Abbildlic:hkeit des selbsttätigen Geschöpfes Gott ist10. Erst dieses Sich-Einlassen auf die praktische Hinsicht gibt der theologischen Moral die Besonderheit, in der sie sich als eigener »Teil«, mit eigenen Strukturprinzipien, im Ganzen der Theologie heraushebt und alle »moralis materia« zusammenfaßt, die zuvor in verschiedenen Traktaten verteilt ist11 • Zugleich muß aber nun zum Vorschein kommen, wie die natürliche praktische Wissenschaft von der theologischen Moral in ihrem eigenen Hinblick vollendet wird 12 ; das bedeutet, daß sie selbst, in der Weise ihres eigenen Hinblicks, als das Vollendbare gleichsam im Untergrunde der theologischen Struktur erscheinen kann. Die Summa theologiae gibt deshalb der philosophischen Moral grundsätzlich mehr Raum als die Summa contra gentiles; sie kann in ihrem praktischen Teil auch Strukturen des moralphilosophisc:hen Denkens durchscheinen lassen. Von 10 R. GurNDON, a. a. 0., betont mit Recht, daß hierin der entscheidende Fortschritt gegenüber der SCG hervortritt, welcher die Secunda pars zur eigentlichen •Moral« - zur •praktischen« Wissenschaft - macht. Zum Problem der Moraltheologie vgl. auch die hervorragenden Einführungen von M. D. CHENU, L'Originalite de la Morale de saint 7homas - Morale et Evangile -, und J. ToNNEAu, Au seuil de la :oSecunda pars«: Morale et Theologie, beides in: Initiation theologique, Tome III: Theologie morale, Paris 2 1955, S. 7-12 und 13-36 (R. GurNDON, a. a. 0., S. 277 Anm. 83 kritisiert mit Recht J. ToNNEAU, a. a. 0., S. 24, nach dem in der Secunda pars Gott als •exemplar« betrachtet wird; wie aus dem Prolog von 1-II hervorgeht, war das gerade die Sichtweise von I, die jetzt verlassen wird, vgl. Text oben, Anm. 8). 11 Das ist nicht nur im Scripturn-dem Text des Lombarden folgend- der Fall, sondern auch noch in der SCG; über die Vorgänger von Thomas vgl. die übersieht bei Th. DEMAN, a. a. 0. (Anm. 2). 12 Vgl. Kap. 5, § 3.
Das letzte Ziel und die Einheit menschlicher Praxis
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einem solchen Durchscheinenlassen kann man gleich beim Anfang, bei der vorangestellten Lehre vom letzten Ziel, reden. Es war bereits die Rede davon, daß die praktische Wissenschaft den Menschen betrachtet, sofern er sein Seinkönnen in vernunftgeleitetem Handeln verwirklicht und sich so zu einem Mehr (oder Minder) an Vollkommenheit bestimmt13. Das Maß der Vollkommenheit des je einzelnen und begrenzten Aktes muß dabei von dem Äußersten genommen werden, was dem Menschen zu erreichen möglich ist14• Deshalb ist die erste und grundlegende Frage der Ethik die Frage nach der höchsten Vollkommenheit, nach der Erfüllung des äußersten Seinkönnens des Menschen. In diesem Sinne leitet die Abhandlung vom letzten Ziel des menschlichen Lebens die praktische Wissenschaft ein, und so findet sie sich im Eingang des Prototyps wissenschaftlich geformter natürlicher Moral, der Nikomachischen Ethik, vorn. Die Theologie, welche die praktische Hinsicht aufnimmt, findet sich nun in einer gleichen Fragerichtung. Sie wendet sich dem menschlichen Wirken zu, sofern der Mensch sich selbst - wenn auch immer mit göttlicher Hilfe- darin bestimmt; die Frage nach dem letzten Ziel ist also auch für sie die erste, die sie sich stellt. Es zeigt sich in dieser Gleichsinnigkeit des Ansatzes offenbar eine strukturelle Notwendigkeit der praktischen Sicht überhaupt, nicht etwa eine äußerliche Beeinflussung der Summa theologiae durch die Nikomachische Ethik- eine solche vorgeblich >>historische>allgemeinen>praktischen Einstellung« her, aus der sich überhaupt die Frage nach dem letzten Ziel stellt, legt diese spekulative Untersuchung den formalen Rahmen einer Wesensgesetzlichkeit des Handeins fest - den Grundriß einer Metaphysik des Handeins -, dessen Bedeutung darin besteht, die Einheit allen menschlichen Handeins nachzuweisen, das einen in sich geschlossenen Zusammenhang von dem einen Prinzip, dem letzten Ziel her gewinnt. Die formale Einheit gewährleistet schon die eine »ratio finis ultimi«, die im Streben selbst anwesend ist; Sofern diese bloße Proportionalität besagt, vgl. I-II, 3, 5 ad 1. Die »Glückseligkeit« wird ausdrücklim als »Name« eingeführt, art. 8 ad arg.: ,. ... nam beatitudo nominat adeptionem ultimi finisc, und ist so zunämst ein formaler Titel für die kommenden Untersumungen. Der moderne Leser muß sim hüten, sein Verständnis von (smeinba.r durm Kant legitimierten) Vorurteilen gegen den »Eudämonismus« beeinträmtigen zu lassen. u Im Sinne von I, H, 4 ad 3: ,. ... omnia appetunt deum ut finem appetendo quodcumque bonum, sive appetitu intelligibili sive sensibili sive naturali ... " 41
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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens
hinzu kommt dann, daß die Metaphysik der Geschöpflichkeit Gott als die eine letzte Zielursache auch menschlichem Handeln vorstellt, wenn auch noch nicht ausgemacht ist, in welcher Weise das der Fall ist. Der Bereich des Handeins ist metaphysisch zur Einheit zusammengefaßt; damit gewinnt er seinen Ort im Ganzen des Seienden. Natürlich kann man jetzt nach der Bedeutung der festgestellten wesensgesetzlichen Einheit des praktischen Bereiches für das praktische Verstehen selbst fragen. Sie ergibt sich daraus, daß hier die Wesensgesetzlichkeit jener Natur erarbeitet worden ist, deren Grundriß durch das Handeln zu vollenden ist, auf den es sich, als das ihn vollendende, ständig bezieht: so ist er ständig und notwendig anwesend. Diese Natur ist der ermöglichende Grund des Handeins und der Bestimmtheit der Regel des Handelns; freilich ist sie im praktischen Wissen gerade als Möglichkeitsgrund nicht thematisch, denn sie ist so weder aufgegeben noch selbst Regel. Wie die Einheit des Handeins aus dem Gesamtzusammenhang spekulativen Verstehens heraus sichtbar wird, spielt sie im praktischen Verstehen nur die Rolle einer ontischen Voraussetzung, von der her gedacht wird. Als solche ist sie dann freilich anwesend, und so kann sogar von ihr her - wie im dritten Beweisgang von Artikel 5 geschehen - auf die Einheit des Prinzips hin argumentiert werden 44 : praktischem Verstehen ist sie anfänglich gegeben, insofern sie zu seinem Ansatz schon da sein muß. Die umgekehrte Argumentation, die von der spekulativ erfaßten Einheit der Natur ausgeht, zeigt nun den Grund jener Einheit, die sich als anwesend schon im praktischen Verstehen befindet. Die Untersuchung dieses Grundes in einer spekulativ behandelten Frage nach dem letzten Ziel zu Anfang einer praktisch gerichtetenAbhandlungüber das menschliche Handeln ist dann geboten, wenn die praktische Einstellung aus der umfassenden Sicht auf die Schöpfung im Ganzen folgt, wie es notwendig in der theologischen Ordnung, und nur in ihr, der Fall ist. Im theologischen Aufbau kann man jetzt die ausgegrenzte Frage nach der konkret-inhaltlichen Bestimmung des letzten Zieles als die Aufgabe betrachten, vom Ansatz praktischen Verstehens her den spekulativ vorgezeichneten Rahmen zu füllen; Artikel 8 deutet diese Aufgabe an. In der theologischen Perspektive ist Gott bereits vorher anwesend; als sich offenbarender ist er sogleich im Horizont menschlichen Verhaltens erschienen45. Auch hier ist die vorgegebene metaphysisch-spekulative Einsicht, sofern sie eben dieses ist, nicht schon normativ; sie ist es vielmehr, weil die der Offenbarung entnommene Erkenntnis den Bezug auf das menschliche Heil stets in sich trägt. Vgl. ~ 2 und Anm. 34. •• Vgl. § 1 und Anm. 17.
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Das letzte Ziel und die Einheit menschlicher Praxis
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Im Aufbau einer theologischen Moral ist die Stellung der Quaestio 1 also bestimmt und gesichert; sie hat darin ihre bestimmte Funktion für das praktische Verstehen, auch wenn sie ihrem Charakter nach spekulativ ist. Immerhin darf man doch behaupten, daß sie in ihren Beweisgängen durchaus keine spezifisch theologischen Argumente benutzt; wenn sie sich ferner auf Doktrinen bezieht und stützt, die im Rahmen einer theologischen Schöpfungslehre erhoben und nur in der Folge der theologischen Ordnung als Bezugspunkte vorgegeben sind, so sind das doch durchgehend solche, die ihrer Natur nach auch in einer aus natürlichen Prinzipien abgeleiteten Metaphysik erkannt werden können 46 • So läßt sich auch für ein natürliches praktisches Verstehen die Aufgabe absehen, das zu erwirkende menschliche Tun im Verhältnis zu dem wesensgesetzlich vorgegebenen metaphysischen Bezugspunkt - d. h. also zu Gott - zu bestimmen. Die theologisch immer schon vorentschiedene Frage nach der Anwesenheit Gottes im Bereich menschlichen Seinkönnens entsteht in einer natürlichen praktischen Wissenschaft, die von der Erfahrung des Alltäglichen ausgeht, nicht sogleich und vielleicht gar nicht. Wenn aber eine Metaphysik des Handeins der Grundfrage der Ethik nach dem letzten Ziel beigestellt wird, so erhebt sie sich gleich zu Anfang: sei es nur in der Weise, daß die spekulative Gotteserkenntnis als Akt, als menschliches Seinkönnen, als »Praxis«, in den Kreis der Überlegung gezogen werden muß, sei es, daß die Möglichkeit direkter Bezogenheit der Praxis auf Gott sich zeigt47 • Man darf also von einem Fall sprechen, wo in der theologischen Perspektive sich ein Zusammenhang zwischen praktisch zu Erkennendem und spekulativ Erkanntem zeigt, der von der philosophischen Vernunft aufgenommen werden kann, und zwar als ein maßgeblicher, strukturbestimmender- auch wenn er als ein solcher von ihrem eigenen Ansatz her nicht oder mindestens nicht sogleich sichtbar ist. Die philosophische Moral in der theologischen Synthese, die thomistische Ethik, hat damit von vornherein eine Bezogenheit auf die Metaphysik, die ihre Struktur schon auf philosophischer Ebene beeinflußt; die MetaUnabhängig davon, ob sie sich tatsächlich bei einem nicht-christlichen Philosophen finden. 47 Hier wäre an die Gottesverehrung zu denken (religio), die zwar nicht Gott als »Objekte hat, aber als unmittelbares ,.ziel«, II-II, 81, 5: sie ist nicht theologische, sondern moralische Tugend, und zwar »pars potentialisc (»virtus annexa)c der Gerechtigkeit, II-II, 80, 1. Diese Tugend wird von Cicero und Macrobius genannt, II-II, 80, 1 arg. 1 und 2. Daß sie von metaphysischen Voraussetzungen her verworfen werden kann, zeigt sich bei der Frage nach dem Sinn des Gebetes, II-II, 83, 2. - Aber Thomas behandelt die »religio« durchweg theologisch, und gerade anläßlich des »moralischen« Problems der Gottesverehrung spricht er von »ratio fide informata«, vgl. Anm. 67, S. 106. Die Gründe für dies Verhalten werden. 1-II, 100, 1 angegeben, vgl. Anm. 51, S. 84. 48
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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens
physik des Handeins hat daher in ausgezeidmetem Sinne »praktische Bedeutsamkeit«. Zwar bleibt festzuhalten, daß dieses Verhältnis tatsächlichgeschichtlich gerade mit dem Vorherrschen der theologischen Perspektive hervorkommt; aber das hindert nicht seine philosophische Bedeutung. Auch bleibt selbstverständlich die Unterschiedenheit theologischer und philosophischer, spekulativer und praktischer Weisen des Erkennens unangetastet. Entscheidend ist aber, daß die allgemeine Vorordnung der Metaphysik (die sie allem Wissen grundsätzlich voranstellt), die ihr stets die Möglichkeit gibt, praktisch bedeutsam zu werden, durch die Ausarbeitung der Metaphysik des Handeins und deren Aufnahme zu Beginn des ethischen Geschäftes eine bestimmte, strukturierende Zuordnung zum Grundlegenden des praktischen Erkennens gewinnt. Insofern läßt sich sagen, daß die metaphysische Sicherung der Einheit des menschlichen Handeins in der Frage nach dem letzten Ziel »im Allgemeinen« ein Verfahren übt, das für die Methode der thomistischen Ethik, auch sofern sie als rein philosophische abgelöst von der Synthese vorgestellt wird, exemplarischen Charakter hat. 8.
KAPITEL: GLÜCKSELIGKEIT UND NATURVERLANGEN
§ 1: Die Ordnung des Traktats über die Glückseligkeit, Summa theo-
logiae 1-11, q. 2-5; die Frage nach dem erfüllenden Gut und der spekulative Charakter seiner Bestimmung (q. 2)
Die Einheit des Handeins ist mit spekulativen Mitteln als wesensgesetzlich erwiesen, und die praktische Frage nach dem Erfüllenden des äußersten Seinkönnens bewegt sich im Rahmen dieser Wesensgesetzlichkeit: sie fragt nach dem erfüllenden Einen. Sogleich legt sich diese Frage, entsprechend der Unterscheidung von finis cuius und finis quo, auseinander in die nach dem Seienden - der »res« -, zu dem sich der Mensch in der Glückseligkeit verhält (q. 2), und die nach dem Wesen oder Was der Glückseligkeit, nach der Weise des Verhaltens also, wodurch der Mensch jenes Seiende sich aneignet (q. 3). Das Eine, das in praktischer Fragestellung, als zu Erstrebendes also, erfragt wird, muß ein Konkretes sein, ein konkret-eines, existierendes Seiendes, dem eine konkret-bestimmte Verhaltensweise des Menschen antwortet1• Im Blick auf die Mannigfaltigkeit der Bezüge, in denen sich Die konkrete Bestimmtheit ergibt sich nicht nur aus der praktischen Fragestellung, sondern ist auch aus dem (spekulativ erfaßten) Wesen des •Gutenc ableitbar, sofern es das tatsächliche Ziel, den •letzten Akte bedeutet, I, 5, 1.
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Glückseligkeit und Naturverlangen
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die menschliche Natur (die selbst in ihrer Einheit eine gegliederte Mannigfaltigkeit umfaßt) zum Umgebenden verhält, entsteht weiter die Frage, wie sich diese zu dem Einen Erfüllenden verhalten, wie sie zu ihm hinleiten oder von ihm her umgestaltet werden. So schließt sich weiter eine Untersuchung darüber an, was zur Glückseligkeit »erfordert« wird (q. 4); darin wird deren Bedeutung für die konkrete Mannigfaltigkeit menschlicher Verhaltensweisen erörtert. Die Untersuchung dieser drei Fragen wird nun durch die Behandlung einer vierten vervollständigt (q. 5), in der von der »adeptio«, dem Erlangen oder Erreichen der Glückseligkeit die Rede ist. Schon auf philosophischer Ebene ist einzusehen, daß die vollkommene Erfüllung des Seinkönnens vom Menschen nicht notwendig und unfehlbar erreicht zu werden braucht, daß nicht jeder Mensch zu ihr hingelangt, ja daß »Vollkommenheit« überhaupt kaum erreichbar ist2 • Die Frage nach dem »Erreichen« ist also legitim zu trennen von der nach der Erfüllung selbst, ihren Folgen und Erfordernissen. Theologisch ist diese Scheidung jedoch weit dringlicher, wenn nicht geboten: Wenn dem Menschen von Gott eine übernatürliche Bestimmung gesetzt ist, zu deren Wesen es gehört, aus den eigenen Kräften der menschlichen Natur nicht erreicht werden zu können, und wenn in ihr allein die Glückseligkeit besessen wird, so ergibt sich notwendig die hier geübte Gliederung. Sie hat dann zugleich einen radikaleren Sinn: Sie ist veranlaßt durch die wesensmäßige Begrenztheit der menschlichen Natur gegenüber dem ihr Aufgegebenen, nicht nur - wie es philosophisch allein der Fall wäre - durch ihre jeweilige Defizienz im Einzelmenschen. Im Zusammenhang der Summa theologiae ist selbstverständlich der theologische Grund Anlaß der Gliederung, und so hat sie tatsächlich hier den spezifisch theologischen Sinn; dieser kommt ihr jedoch nicht schlechthin zua. In den Quaestioneo 2- 4 geht es also um die Glückseligkeit des Menschen als die inhaltliche Bestimmung dessen, was dem menschlichen Seinkönnen als Äußerstes aufgegeben, als letztes Erfüllendes vorgestellt ist. Im Sinne des sachgemäßen Verfahrens einer praktischen Wissenschaft wird diese Bestimmung zunächst so angegangen, daß der Bereich der praktischen Erfahrung abgeschritten wird: Was sich im Umkreis konkreten menschlichen Verhaltens zum umgebenden Seienden als möglicher Gegenstand des Wollens zeigt und von menschlicher Meinung als Erfüllendes angesehen wird, unterliegt der Prüfung, ob in ihm das Seinkönnen wahrhaft seine Erfüllung finden könne, oder wie es sich zu dem wahrhaft ErfüllenSchon die aristotelische Ethik zeigt das, vgl. Kap. 4, § 3 und Kap. 6, § 4. Die theologische Bedeutung dieser Gliederung betont TH. DEMAN, Bespr. v. H. de Lubac Surn.tturel, in: Bulletin Thomiste 7 (1943-1946) S. 424. 2
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Die Bestimmung des äußersten Seinkönnens
den verhalte. In allen drei Quaestioneo wird dieser Gang wiederholt, je unter Voraussetzung der vorangegangenen Ergebnisse und in einer der Fragestellung jeweils angemessenen Abwandlung. Zuerst geht es also um die Feststellung des Seienden, das Gegenstand der Glückseligkeit ist. Es muß dem Begriff des Erfüllenden genügen: der Mensch muß in ihm sein vollkommenes, für sich allein genügendes Gut finden; kein übel kann mit ihm verbunden sein oder von ihm verursacht werden4 • Was die menschliche Meinung als Erfüllendes im Bereich äußerer Güter anbietet- Reichtum, Ehren, Ruhm, Macht- erfüllt diese Bedingungen nicht5 • Es kommt hinzu, daß äußere Ursachen, insbesondere Zufall und Glück, denen zumeist solche Güter zu verdanken sind, keinesfalls diese Glückseligkeit bewirken können, denn das Verlangen nach Glückseligkeit wohnt dem Menschen von Natur aus inne, auf Grund innerer Prinzipien also, und muß durch diese erfüllt werden 6 • Der Verweis auf die Wesensgesetzlichkeit des Letzten, auf die Natur und auf die Gründung des Strebens in den naturhaften Prinzipien erinnert wieder den spekulativen Rahmen der Untersuchung: die Aussagen scheinen spekulativ stilisiert. Dabei sind sie durchaus in der Richtung der praktischen Einstellung gelegen, und sie sind auch »praktisch« zu formulieren: so müßte man die äußeren Glücksgüter deshalb von der Glückseligkeit ausschließen, weil sie eben nicht von beherrschbaren Akten des Menschen allein bewirkt werden können. Wie eine natürliche praktische Wissenschaft in ihrer eigenen Methodik zu den gleichen Resultaten gelangt, zeigt das Beispiel der Nikomachischen Ethik - allerdings liebt es der Kommentator Thomas wiederum, die Begründ1.mg der Aussagen auf ·die »Natur« in seiner Erläuterung dem Texte beizustellen7 • Sollte man nicht auch darin jene Unbekümmertheit wirksam sehen, womit der Theologe dem Auseinander spekulativer und praktischer Perspektive gegenüberstehen kann, die er miteinander abwechseln lassen darf?, und ein Indiz wiederum dafür, daß auch die philosophischen Kommentare Werke einer von der Theologie veranlaßten und innerlich geprägten Bemühung sind? - Der Unterschied wird in der folgenden Auseinandersetzung der Summa theologiae vollends deutlich: sie verläßt überhaupt die praktische Perspektive. Ein aus inneren Prinzipien der wirkenden Natur erreichtes Gut wäre das körperliche: aber es ist nichts Erfüllendes, da der Körper selbst auf ein 4 Diese Bedingungen werden q. 2 a. 4 aufgeführt, als die drei ersten »rationes generalese gegen den Ansatz des Gegenstandes der Glückseligkeit in äußeren Gütern. 6 Art. 1-4 der q. 2. 8 Dies ist die vierte ,.ratio generalis« von art. 4, vgl. Anm. 4. 7 Vgl. z. B.ln Eth. I, 2 n. 21; ib. 9 n. 106.
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anderes, die Seele, hin ist (Art. 5). Die Lust- wiewohl sie ein Ruhen des Verlangens im besessenen Gut bezeichnet- ist nicht selbst der im Verlangen erstrebte Gegenstand, sondern »beiläufige Eigentümlichkeit« (proprium accidens), folgend dem Besitze, so daß nach dem lustvoll Besessenen immer noch zu fragen bleibt (Art. 6). Ein Gut der Seele scheint also übrigzubleiben (Art. 7): hier hält es Thomas für notwendig, nochmals die Unterscheidung von finis cuius und finis quo zu betonen. Im Sinne des hnis quo, des Besitzes oder der Aneignung, gehört die Glückseligkeit der Seele an - die Ausführung dieser Lehre wird die folgende Quaestio bieten -, nicht aber, wenn nach dem finis cuius, dem Gegenstand selbst gefragt wird. Man darf hier daran erinnern, daß die Nikomachische Ethik grundsätzlich nach einem »Tun« fragt, welches das letzte und eigentlich Erfüllende des Menschen ist. Die praktische Wissenschaft kann als solche überhaupt nur nach einem zu Erwirkenden fragen, und das erfüllende Wirkbare kann wiederum nur ein »Tun« sein: das 1. Buch der Nikomachischen Ethik liefert den Nachweis dafür8 • Dazu erläutert der thomistische Kommentar, daß ein anderes als Tun- nämlich dessen Gegenstand, der selbst nicht erwirkbar ist - insofern »Glückseligkeit« genannt werden darf, als der Mensch dadurch zu dem erfüllenden Tun in Stand gesetzt werden kann, oder er durch sein Tun jenes anrührt, das selbst außerhalb der Seele ist; in diesem Sinne kann man Gott die Glückseligkeit des Menschen nennen9• Nun ist jedoch ersichtlich Gott, der nicht »wirkbar« ist, nicht unmittelbar Gegenstand praktischen Wissens; nur der Akt, in dem der Mensch Gott anrührt, fällt in den praktischen ~ereich, sofern er, als Akt, eben wirkbar ist. Das 10. Buch der Nikomachischen Ethik setzt in diesen Akt, nämlich des spekulativen Verhaltens zum Göttlichen und »Wesentlich« Guten, die höchste Glückseligkeit10 • Jedoch fehlt nicht der Hinweis, daß dies höchste Leben ein anderes sei als das moralische und gar ein über-menschliches: das Glück der Kontemplation ist »abgeschieden und göttlich« 11 • Eine andere Wissenschaft auch hat von ihm zu handeln als die Ethik, die im eigentlich »Menschlichen«, im Bereich des konkret Wirkbaren verbleibt12 • s Vgl. In Eth. I, 10 n. 119. 9 In Eth. I, 10 n. 120: ,.Si autern dicitur in aliquo alio felicitas consistere, aut hoc erit aliquid quo horno redditur idoneus ad huiusmodi operationem, aut erit aliquid ad quod per suam operationem attingit, sicut deus dicitur esse beatitudo horninis.« - Der Aristoteles-Text gibt zu dieser Erläuterung keinen Anlaß. 10 Vgl. In Eth. X, 10 n. 2083: ,.solus enim intellectus habet intelligentiam de rebus essentialiter bonis, quae sunt res divinae.« (Das »essentialiterc ist von Thomas zugesetzt). 11 In Eth. X, 12 n. 2115. 12 Vgl. In Eth. X, 12 n. 2116.
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Sie bleibt also, in der Terminologie der Zielbestimmtheit gesprochen, beim ,.finis quo« stehen, weil sie praktische Wissenschaft ist; der höchste wirkbare Akt verweist aber auf seinen Gegenstand als auf ein anderes, das nicht mehr wirkbar und praktisch wißbar ist. Die Theologie, in der umfassenden Einheit ihrer Perspektive grundsätzlich über alle Einschränkungen hinaus, die sich aus der Blickrichtung ergeben, hat in der Metaphysik des Handeins die Basis entwickelt, von der aus die Frage nach dem »finis cuius« - sei er wirkbar oder nicht wirkbar- zu beantworten ist. Die spekulative Einsicht in das Wesen menschlichen Seinkönnens hat schon vorher gezeigt, daß die menschliche Seele in ihrem vernünftigen, geistigen Erkennen und Wollen geöffnet ist auf Seiendes überhaupt, auf das Wahre und das Gute »allgemein« 13. Was immer sich dem Wollen als zu Tuendes anbietet, auch die Vollkommenheit des menschlichen Daseins selbst, überhaupt alles, was irgendeine Beschränktheit an sich trägt - und das ist alles Geschöpfliche, also auch das Universum der Geschöpfe -, erfüllt nicht die Offenheit des geistigen Willens auf das Gute in seiner Allgemeinheit; dies könnte nur ein solches Gut, welches - als konkret-eines - zugleich uneingeschränkt alle Gutheit in sich besitzt, ein umfassendes und umfassend Gutes: nur Gott selbst also, das ungeschaffene, das subsistierende allgemeine Gut (Art. 7 und 8) 14 • Dieser Beweisgang stützt sich auf die Einsicht in die universal geöffnete Intentionalität der Geistseele: das ist keine »praktische« Einsicht, aber es erscheint in ihr eine Wesensgesetzlichkeit, die der menschlichen Praxis zu Grunde liegt. Zielbestimmtheit eines Aktes, Unterscheidung von finis cuius und finis quo: diese praktisch bedeutsamen Verhalte sind ermöglicht durch die lntentionalität15. Die universale Offenheit der Intentionalität des Willens ermöglicht überhaupt die Besonderheit menschlicher Praxis, weil nur wegen der Offenheit des Seinkönnens das konkret Begegnende, als ein Eingeschränkt-Partikuläres, das Wollen nicht unmittelbar und notwendig bestimmen kann, sondern einer Determination durch die regelnde, handlungsleitende praktische Vernunft bedarf16 • So öffnet sich ein Raum der Wahlfreiheit, ohne welche jegliche Moral aufgehoben Vgl. z. B. I, 54, 2; I, 82, 2, u. ö. Als ,.bonum universale« ist Gott auch das Ziel der Gesamtschöpfung (deren Ursache er als ,.causa universalis« ist), und dieser ist der Mensch eingeordnet; jedoch kann er, art. 8 ad 2, im ,.bonum universi« nicht sein letztes Ziel haben, da das Universum selbst wieder zielgerichtet ist. So ist die Einordnung in die Gesamtschöpfung für die Unmittelbarkeit zu Gott kein Hindernis, sondern diese wird aus ihr deutlich. 15 Vgl. zu diesem Begriff die Studie von A. HAYEN, L'lntentionnel selon saint 7homas d' Aquin, Paris 2 1954. II Vgl. I, 82, 2; I, 83, 1. 13
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würde17 • Als notwendige Voraussetzung, als ständig anwesender Grund18 ist diese Struktur in der praktischen Wissenschaft, die von ihr ausgehen muß, nicht thematisch. Aber die spekulative Argumentation, die auf die Intentionalität und ihr Wesen zurückfragt, geht damit auf den Grund eben der menschlichen Praxis zurück und legt ihn frei. So wird die praktische Frage wieder im Umgreifenden der metaphysischen Gesamtstruktur geortet, aus dem ihr Befragtes ermöglicht wird. Das Verfahren, das sich in der 1. Quaestio charakteristisch abzeichnete, wiederholt sich also hier. Die metaphysische Rückfrage auf den Grund, das Wesen des Willens und seiner Intentionalität zeigt als dessen erfüllenden Gegenstand Gott. Man darf aber nicht etwa annehmen, hier werde von der Intentionalität her, etwa von einem »Realismus des Finalitätsprinzips« aus, nun das Erfüllende und gar seine Existenz erschlossen oder auch nur postuliert19 • Gott ist in der voraufliegenden spekulativen Betrachtung schon aufgewiesen; hier kann er deshalb eingeführt werden, weil er bereits erkannt ist20 • Natürlich liegt diese Erkenntnis nur im >>ordo disciplinae« der theologischen Wissenschaft früher als die Frage nach der Glückseligkeit. Aber sie ist in sich philosophisch möglich, und so muß es auch einem bloßen Philosophieren möglich sein, die metaphysische Bestimmung des Inhaltes der Glückseligkeit in gleicher Weise zu treffen, wie es hier die Theologie tut. Diese Bestimmung folgt aus der Einsicht in das naturhafte Wesen, und so ist sie wesentlich als natürliche Einsicht zu betrachten - sei sie nun von den Philosophen faktisch erbracht worden oder nicht21 • Allein, dieses Ergebnis natürlicher Vernunft ist eine spekulative Wesenserkenntnis, und es ist noch gar nicht ausgemacht, in welcher Weise sie nun »praktisch bedeutsam« werden soll. Da wir uns im theologischen 17 I, 83, 1 : ,. ... horno est liberi arbitrii: alioquin frustra essent consilia, exhortationes, praecepta, prohibitiones, praernia et poenae« - d. h. der gesamte Bereich des erfahrenen Moralischen würde sinnlos. ts Nämlich schon im Begriff des •actus hurnanus«, I-11, 1, 1; unter praktischem Gesichtspunkt wird nicht von •Freiheit«, sondern vorn ,. Willentlichen« (voluntariurn) gesprochen (I-11, 6), nämlich von der Freiheit des Wollens unter konkreten Bedingungen. 18 Die Finalität der Geschöpfe gibt nur insofern den Ansatzpunkt eines Gottesbeweises, als von ihr - und zwar gerade sofern die Geschöpfe nicht selbst ihr Ziel erkennend bestimmen - auf einen zielsetzenden Ursprung geschlossen werden kann (quinta via, I, 2, 3); dieser liegt aber dem Streben voraus und nicht an dessen Ziel selbst. 20 So konnte der Gottesbegriff schon I-11, 1, 8 ohne weitere Begründung eingeführt werden. 21 In Eth. X, 10 n. 2083 ist von den »res divinae« als Gegenstand des spekulativen Glücks die Rede, sonst allgerneiner von •veritasc, ib. n. 2088, 2092; jedoch nie von Gott, obwohl Aristoteles den Gottesbegriff hat, vgl. ib. I, 6 n. 79.
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Zusammenhang befinden, steht natürlim im Hintergrund der Überlegungen die unmittelbare Anwesenheit Gottes im praktismen Bereim durm die Offenbarung und die Gnade, etwa als Gesetzgeber, aber aum als persönlimer Partner. Darauf wird aber nidtt Bezug genommen; die Frage nam der »Gottesfreundsmafl:« (amor amicitiae) wird einer späteren Erörterung - im Rahmen der Lehre von der Caritas - ausdrüc:klim vorbehalten2'2, Dennom ist nidtt zu übersehen, daß in jedem Falle die Frage nam der Anwesenheit Gottes hier die entsmeidende ist. Aum in der Nikomamischen Ethik gibt es eine Anwesenheit Gottes: als Gegenstand spekulativen Wissens, und im praktismen Bereim liegt dann nichts als der Akt selbst, durm den Gott angerührt wird. Bisher hat aum die theologische Diskussion nidtt mehr enthalten als diese Anwesenheit im spekulativen Erkennen, die ja das Argument trägt; aber sie hat im Bezug auf die Intentionalität die maßgeblime Bedeutung der - wie immer beschaffenen - Verbindung des Mensdten mit Gott weit grundlegender herausgestellt: die Zuordnung zu Gott ist dann nimt mehr als »göttlime und abgeschiedene« Glückseligkeit, sondern als »natürlime«, menschlime zu verstehen, als ein für alle Menschen und für alles Handeln aufgegebenes Letztes2 3• Von der Erkenntnis her, in der die metaphysisme Hinordnung der Intentionalität mensdtlimen Seinkönnens auf Gott aufgeht, wird zwar nimts anderes »ZU tun« aufgegeben als zunächst dies Erkennen selbst, aber in diesem ist dann die Vollendung des Seinkönnens überhaupt zu sehen, die notwendig eine Glückseligkeit24 • § 2: Die Frage nam dem Wesen der Glückseligkeit und die Zweiheit von vollkommener und unvollkommener Glückseligkeit; das Auseinandertreten spekulativer und praktischer Simt (q. 3, art. 1 und 2)
Das soeben Gesagte greift der Folge der Untersumung vor, die in der Quaestio 3 das Wesen und Was der Glückseligkeit, nämlim das Verhalten, in dem der beseligende Gegenstand angeeignet wird, abhandelt. Der Vorgriff ist unvermeidlim, wenn praktische Folgen der Gegenstandsbestimmung erörtert werden sollen: wie überhaupt Gegenstandsein ein Vermögen oder eine Tätigkeit voraussetzt, von dem oder der her ein Seiendes Gegenstand werden kann, so kann die Frage nach dem »finis cuius« nicht ohne Hinblick nam dem »finis quo« beantwortet werden, I-li, 2, 7 ad 2. Dieser kann immer noch eine Mehrheit von Akten und Verhaltensweisen entsprechen, und die Zweiheit der ,.felicitas« bleibt bestehen; aber sie ist grundsätzlich (vom •Gegenstande her) überwindbar. 24 Aus der vollkommenen Gotteserkenntnis ,.folgt« die Vervollkommnung allen menschlichen Seinkönnens, vgl. § 4. 22
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es sei denn aus einer anderen Perspektive als der, in der sie sidl unmittelbar zugeordnet sind; das eben war in der Quaestio 2 der Fall, sofern sie spekulativen Charakter annahm. Eben damit ließ sie die »praktisme« Frage nodl offen, die auf die Wirkbarkeit der Glückseligkeit, auf die Aneignung also, die durdl die Seele selbst geleistet werden muß, abzielt. Als Aneignung durdl den Mensdlen ist die Glückseligkeit selbstverständlidl gesdlaffenes Gut (Art. 1), und da sie die Vollendung des mensdllidlen Seinkönnens besagt, muß sie Akt sein, Tätigkeit, auf die hin das Seinkönnen angelegt ist (Art. 2). Das sind wieder wesensgesetztime Feststellungen aus spekulativer Einsidlt, die den Rahmen der Frage abstekken: ein Verstehen von Wirklidlkeit bewegt sidl notwendig immer in diesem Rahmen. Praktisdl vollziehbar ist aber die Einsidlt, daß nur eine immanente Tätigkeit, die den Tätigen selbst vervollkommnet, die Glückseligkeit sein kann, praktisdl dann audl der Einwand - nämlidl aus der Erfahrung genommen -, daß mensmlidle Tätigkeit vorübergehend, vielfadl und immer wieder unterbrodlen ist, während die Glückseligkeit dauerhaft, ständig und eine sein muß: die Vollkommenheit verlangt das, und sdlon die Nikomadlisdle Ethik weist die Bedingungen auf (ad 3; arg. 4, 5, 6) 25 • Die Antwort auf diese Argumente (ad 4) charakterisiert nun den Geist der gesamten Untersudlung, und ihr sadlliches Ergebnis wird immer wieder eine bedeutende Rolle spielen 28. Glückseligkeit besagt einen Zustand der Vollendung, wie er dem jeweiligen Seinkönnen des Trägers erreidlbar ist: sie besagt etwas anderes bei Gott und den Engeln und beim Mensdlen. Wir wissen- aus der spekulativen Gesamtsmau -, daß Vgl. In Eth. X, 10 n. 2088-2089. Wegen seiner zentralen Bedeutung sei der Text von I-II, 3, 2 ad 4 wörtlich mitgeteilt: •Cum beatitudo dicat quandam ultimam perfectionem, secundum quod diversae res beatitudinis capaces ad diversos gradus perfectionis pertingere possunt, secundum hoc necesse est quod diversimode beatitudo dicatur. Nam in deo est beatitudo per essentiam: quia ipsum esse eius est operatio eius, qua non fruitur alio, sed seipso. In angelis autem beatis est ultima perfectio secundum aliquam operationem, qua coniunguntur bono increato: et haec operatio in eis est unica et sempiterna. In hominibus autem, secundum statum praesentis vitae, est ultima perfectio secundum Operationern qua homo coniungitur deo: sed haec operatio nec continua potest esse, et per consequens nec unica est, quia operatio intercisione multiplicatur. Et propter hoc in statu praesentis vitae perfecta beatitudo ab homine haberi non potest. Unde Philosophus, in I Ethic., ponens beatitudinem hominis in hac vita, dicit eam imperfectam, post multa concludens: Beatos autem dicimus ut homines. - Sed promittitur nobis a deo beatitudo perfecta, quando erimus sicut angeli in caelo, sicut dicitur Matth. 22. Quantum ergo ad illam beatitudinem perfectam, cessat obiectio: quia una et continua et sempiterna operatione in illo beatitudinis statu mens hominis deo coniungetur. Sed in praesenti vita, quantum deficimus ab unitate et continuitate talis operationis, taoturn deficimus a beatitudinis perfectione. Est tarnen 25 20
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Gott glückselig ist durch sein Wesen, die Engel durch ihre Verbindung mit ihm, die durch eine einzige und immerwährende (sempiterna) Tätigkeit hergestellt wird27, So ist auch des Menschen Glückseligkeit in der Verbindung mit Gott zu suchen, die durch eine Tätigkeit bewirkt wird; das darf als Ergebnis der vorhergehenden Quaestio hier aufgenommen werden. Dom im Zustande des gegenwärtigen Lebens, wie es erfahren wird und wie es der Einwand nimmt, ist die eingewandte Behauptung richtig. Die Tätigkeit, durch die der Gegenstand der Glückseligkeit hier besessen werden kann, weist nicht die Merkmale der Vollkommenheit auf. Die Glückseligkeit kann im erfahrenen Leben nicht vollkommen erreidJ.t werden, und so redet der Philosoph von einer unvollkommenen: "· .. post multa concludens: Beatos autem dicimus ut homines« 28 • Aber »von Gott ist uns vollkommene G1ückseligkei t versprodJ.en « ; dieses Faktum aus der Offenbarung steht gegen den Einwand, der sidJ. auf die diesseitige Erfahrung von Tätigkeit stützt. In dieser vollkommenen Glückseligkeit gibt es eine Verbindung des MensdJ.en mit Gott in einer einigen, ununterbrodJ.enen und immerwährenden Tätigkeit, und diese ist das RidJ.tmaß für das, was im gegenwärtigen Leben erreidJ.bar i~t: bleibt es einerseits hinter dem Vollkommenen zurück, soweit das in ihm möglidJ.e Tun der Einheit und Dauer ermangelt, so gibt es in ihm dodJ. andererseits eine gewisse »Teilhabe« an der Glückseligkeit, soweit es Einheit und Dauer des Tuns erreichen kann; vorzüglich ist das im kontemplativen Leben der Fall, das in der BetradJ.tung der Wahrheit geeint ist und von den UnterbredJ.ungen dieser BetradJ.tung stets schnell zu ihr zurückkehren kann, so daß man dieses Leben ansehen kann, »als ob>per accidensZustand« (status). Was innerhalb dieses Zustandes als relativ vollkommen, schlechthin aber nicht dem Vollkommenen gleichkommend, zu erreichen ist, kann dann interpretiert werden als >>Teilhabefelicitas«, trotz der auf der Hand liegenden Unvollkommenheit, den Namen einer »beatitudo« beanspruchen3 1, Fortan stehen »beatitudo perfecta« und »beatitudo imperfecta« nebeneinander, so daß von einer »duplex beatitudo« die Rede sein kann 32 • Die 30 Vgl. Anm. 1, S. 108- mit wenigen Ausnahmen, wie In Eth. I, 13 n. 163; anders ib. 10 n. 120, wo sich Thomas auf die theologische Redeweise bezieht, was auch ib. 16 n. 202 (vgl. Anm. 28) der Fall sein dürfte. 31 Es sei hier eigens betont, daß dabei nicht etwa philosophische und theologische Begrifflichkeit durcheinandergehen. Der theologische Begriff der •beatitudo imperfecta« wird im Text (vgl. Anm. 26, S. 131) entwi>StatUS« mit »Stand« ZU übersetzen ist5 ; ferner theologisch, wo die verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte, die sich nach dem Verhältnis der Menschen zum Gesetz Gottes unterscheiden, Zustände heißen 8 , oder auch vor und· nach der Ursünde die Menschennatur sich in einem je anderen »Zustande« befindet7 ; gelegentlich heißt ein Lebensalter >>Zustand« 8 • »Zustand« bedeutet eine Besonderung der Natur, der eine gewisse Festigkeit, »immobilitas« zukommt: das scheint das durchgängig gleiche Element in diesem so variablen, analogen Begriff zu sein 9 • In unserem Zusammenhang entspricht dem Zustand des Menschen »in diesem Leben« natürlich ein solcher »nacli 2 Vgl. Kap. 8, § 2. a 1-II, 3, 6 ad 2 und 5, 3 ad 3. 4 Vgl. die Anm. 28, S. 132 zitierte Stelle. s II-II, 183, 1. 8 1-II, 106, 4. 7 1-II, 109, 2. 8 II-II, 1, 7 ad 4. 8 11-11, 183, 1: ,.Status, proprie loquendo, significat quandam positionis differentiam, secundum quam aliquis disponitur secundum modum suae naturae cum quadam immobilitate.«
Das Glück dieses Lebens und die natürliche Moral
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diesem Leben« - wobei angemerkt sei, daß dieser zweite theologisch wieder in einen solchen »vor« und »nach der Auferstehung>naturhaften Seinsnatura speciei« 18 , und das heißt doch wohl: der Mensch erfüllt im gegenwärtigen Leben mehr und in vollerem Maße das, was er sein kann, als im getrennten. Beachtet man ferner, daß die ge1-II, 67, 1 ad 3. I, 94, 2: ,.Status animae hominis distingui potest dupliciter. Uno modo secundum diversum modum naturalis esse: et hoc modo distinguitur status animae separatae a statu animae coniunctae corpori.« 12 Es ist also nicht ein theologischer »Status naturae lapsae« gemeint - und ebensowenig ein theologischer ,.status naturae purae« -, sondern jener ontologisd-t zu beschreibende Zustand, in dem sich auch der Christ befindet; vgl. auch I, 12, 11 und I, 88, 1. 13 Vgl. I, 75, 6 u. ö. 14 I, 89, 1 und ad 3. 15 I, 89, 1. 18 Q. de an. 17 ad 3: »Ultima perfectio cognitionis naturalis animae humanae haec est, ut intelligat substantias separatas«; I, 89, 2 ad 3 schr~nkt diese Aussage stark ein. 17 Vgl. I, 89, 1 und Q. de an. 17 ad 1. 18 1-II, 4, 5 ad 2. 10 11
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trennte Seele unter den getrennten Substanzen die niedrigststehende ist, ni>GUt« ist 60. Dasselbe Verhältnis wie bei den Engeln und Dämonen findet sich beim Menschen, mit den gleichen Folgen, wieder, wenn man ihn in Hinsicht auf die Heilsordnung betrachtet; hinzukommt aber, daß der Mensch im konkreten Zustand des gegenwärtigen Lebens sowohl eine Minderung, die sich bis in naturhafte Bereiche erstreckt, in der Erbsünde erfahren hat, als auch eine Erhöhung durch die Erlösung; daß er zudem nicht in der Lichtheit des Selbstbesitzes existiert, ~ondern in einem sich entwickelnden Verstehen und Wollen, das sich in der Zeit und in Einzelakten ausbreitet, in einer Folge von Zuständen, deren einer immer den anderen überholen kann, die einander entgegengesetzt, Ihre Vollendung fände die reine Intelligenz dann in der natürlichen Gotteserkenntnis,· die sie aurch ihre Selbsterkenntnis gewinnt (vgl. I, 56, 3), und in der natürlichen Gottesliebe, mit der sie nicht umhin kann, Gott zu lieben (vgl. I, 60, 5); diese •naturalis beatitudoc erwirbt sie sogleich mit ihrem Erschaffenwerden, ohne •Bewegung« (vgl. I, 62, 1); eine freie Entscheidung kann nicht umhin, in dieser Ordnung unfehlbar das Richtige zu treffen, da ein Irrtum ausgeschlossen und ein über die Natur Hinausreichendes nicht gegeben ist. Der göttliche Wille würde ja gerade diese Naturordnung wollen, und eine Diskrepanz zwischen dem »bonum proprium« und dem »bonum superius« (nach der Terminologie von SCG III, 110) bestünde nie, so daß kein Verfehlen der Zuordnung möglich wäre. Aus dem »Naturverlangen nach der Gottesschaue kann (nach dem Kap. 7, § 3 Ausgeführten) nicht hiergegen argumentiert werden; wohl aber bedeutet, von diesem her gesehen, die tatsächliche Engelsünde ein Verfehlen des »finis naturae«, als welcher die übernatürliche Vollendung von da aus erscheint (vgl. I, 62, 1). 59 In der Perversion des Vernunftgeschöpfes findet sich demnach eine •specialis ratio« des Übels, I, 48, 5, das »malum culpaec, dessen Schwere I, 48, 6 erläutert wird: •Malum vero culpae opponitur proprie ipsi bono increato; contrariatur enim impletioni divinae voluntatis et divino amori quo bonum divinum in seipso amatur, et non solum secundum quod participatur a creatura.« Das Böse wird hier also sofort in seinem theologischen Sinn gedeutet, der jedoch nicht unmittelbar aus der allgemeinen Bestimmung von I, 48, 5 hervorgeht: »Malum autem quod consistit in subtractione debitae operationis in rebus voluntariis, habet rationem culpae. Hoc enim imputatur alicui in culpam, cum deficit a perfecta actione, cuius dominus est secundum voluntatem. - Zur Kontrarietät dieses Bösen zum •Gut« vgl. unten Kap. 12, § 3. 10 Vgl. I, 49, 2: Insofern kann Gott die Ursache dieses Obels sein; die Strafe besteht in einer »subtractio formae vel integritatis reic, die deren Wollen konträr ist, I, 48, 5 (auch dies eine allgemeine Bestimmung, die nicht ausschließlich theologisch verstanden werden muß).
Die Seinsfülle der Handlung
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einander aufhebend oder einander stützend, einander vollendend sein können: er lebt nicht nur in einer Heilsordnung, sondern in der Folge einer Heilsgeschichte; die Heilsordnung hat die Struktur, die dem menschlichen Dasein gemäß und entsprechend ist. Hat die Perversion des Dämons den Charakter einer endgültigen Entgegensetzung gegen das Heil, so die menschliche den der Widerrufbarkeit - es sei denn, der Mensch sei, in der Trennung der Seele vom Leibe, in die seinsmäßigen Bedingungen einer reinen Intelligenz eingetreten61 • Hat aber der reine Geist von Natur aus sein Zukommendes immer schon bei sich, so ist der Mensch schon auf dieser Ebene in mannigfacher Weise fehlbar, so wie alle materiellen Wesen, und auch tatsächlich immer wieder fehlend. Nicht erst in der Heilsordnung, sondern schon auf der Ebene der bloßen Natur gibt es, wie die Fehlbarkeit des physischen Wesens, so die des irrenden Verstandes und des unrechten Willens. Die theologische Betrachtung, die diese naturhafte Fehlbarkeit feststellt und in ihr eigenes Verstehen aufnimmt, verweist auf die natürliche Sicht, in der dieses Verhältnis schon vor aller übernatürlicher Einordnung obwaltet, und zwar so, daß sich die Heilsordnung gerade darauf aufbaut62. Als materielles Wesen hat der Mensch teil an den Übeln, die allem Materiellen anhaften; er hat in seinem Wesen die Kontrarietät der Prinzipien bei sich, welche die Korruptibilität zur Folge hat 63 • Es ist klar, daß diese Wesensbedingung des gegenwärtigen Lebens es ist, welche das Erreichen einer vollkommenen Glückseligkeit hindert 64 • Aber sie hindert nicht, daß sich der Mensch in all seinem Tun nach ihr ausstreckt und in dieser Richtung auf das vollkommene Gutsein in jedem Akt ein je diesem angemessenes Gutsein erwirke. Wächst eine Vollkommenheit aus diesen Akten und ihrer Folge erst zusammen, die jeweils aufgegeben, jeweils zu tun sind, so muß die Frage nach dem schlechthinnigen Gutsein des gesamten menschlichen Lebens zurückgenommen werden auf die Frage nach dem jeweiligen Gutsein des jeweiligen Aktes; es ist zu fragen, wie dieser, als jeweiliger, seine Seinsfülle habe, wie sie zustande komme, wovon sie abhänge und wie ein Fehl in ihm möglich sei: wir sind damit, nach der Abschweifung in die metaphysische Gesamtschau, wieder zum besonderen Gegenstande der zu interpretierenden Quaestio zurückgekehrt. I, 64, 2: Die •ohstinatio« des Dämons stammt •non ex gravitate culpae, sed ex condicione naturae status«. 12 Im Sinne des allgemeinen Grundsatzes •gratia supponit naturam« spricht Thomas von einem •Nachahmen« 11-11, 31, 3:,. ... gratia et virtus imitantur naturae ordinem, qui est ex divina sapientia institutus.« 83 I-11, 85, 6. 84 I-11, 5, 3. 81
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Gut und Böse
§ 3: Ontologische Analyse der Moralität selbst (art. 2-4) Stellt der erste Artikel von Quaestio 18 die Betrachtung in den allgemeinen Rahmen der metaphysischen Sicht auf das Gutsein des Seienden, die je nach seiner Besonderung zu messen ist, so schließt er daraus, daß das Gutsein des Aktes zunächst und grundlegend in seinem Aktsein selbst besteht - sei dieses wie immer weiter bestimmt und eingeordnet. Damit ist nicht jeder Akt schon schlechthin gut, hat er nicht schon alles »Geschuldete>Aktsein überhaupt>der Gattung nacherste>genus moris>actus primus« - bloß vorausliegt, tritt sein Auszeichnend-Unterscheidendes nicht hervor, nämlich eben jene Fähigkeit, die Vernunft aus sich entspringen zu lassen 11 • Die Rede, die in der Vernunft das wesensbestimmende Moment des Menschen aussagt, trifft also notwendig zuerst auf das entsprungene Vermögen und erst vermittelt durch dieses auf den Ursprung selbst, so wie nun umgekehrt das zugrundeliegende Wesen als >>Selbstand« (suppositum) es ist, welches vernünftig tätig wird, zu diesem Tätigwerden, Aktwerden aber der Vermittlung des Vermögens notwendig bedarf12 • Im Verhältnis des Vermögens zum Wesen wiederholt sich das Verhältnis, in dem das Erkennen als Akt zum Vermögen als Aktprinzip steht: auch hier findet sidt die Figur der Reflexion wieder. Verhält es sich aber so, dann kann das in seiner Bestimmtheit durdt Vernunft erkannte Wesen nur deshalb als >>früher« und als »vorgegeben«- nämlich im Vergleich zum Wesen als Grund praktisdter Bestimmbarkeit - betradttet werden, weil die Reflexion auf Vernunft überhaupt >>früher« ist als die Reflexion auf praktisdte Vernunft, weil also theoretische Vernunft früher im Akt ist als praktische Vernunft. Das bedeutet aber, daß die Erkenntnis der Bestimmtheit des Wesens, sofern sie nichts anderes enthält als was aus dem Gegründetsein des theoretischen Verhaltens sidt ergeben kann, gerade die Gründung des Praktischen nicht miteinsdtließen kann. Daß auch diese im Wesen enthalten ist, erhellt notwendig erst aus einem eigenen Verfahren, das von einem besonderen Erfahren des praktisdten Aktes her reflektiert. Erst wenn diese Reflexion in einer Metaphysik der Handlung vollzogen ist, kommt die >>Ableitung« des Moralischen aus dem Menschenwesen zustande. Ersichtlich beruht dann aber die praktische Maßstäblidtkeit des Moralprinzips nidtt auf der Ableitung, sondern sie wird gerade I, 77, 6 und ad 3. I, 77, 1: •Non enim (anima), inquantum est forma, est actus ordinatus ad ulteriorem actum, sed est ultimus terminus generationis. Unde quod sit in potentia adhuc ad alium actum, hoc non competit ei secundum suam essentiam, inquantum est forma; sed secundum suam potentiam.« 12 Vgl. I, 77, 1, bes. ad 3 und ad 4; das Adagium ,.actus sunt suppositorum« z. B. I, 39, 5 ad 1; I, 40, 1 ad 3. to
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Gut und Böse
vorausgesetzt, als in der praktischen Einstellung vor der Reflexion auf das Wesen schon erkannt. Die Ableitung hat also auch nicht praktische Bedeutung. Sie beantwortet vielmehr die aus spekulativer, metaphysischer Einstellung gestellte Frage, wie denn die- schon erkannte- moralische Ordnung und ihre Besonderheit, in der Gut und Böse speziesbildend sind, auf einem Wesen aufruhen könne; wie sich ihr Prinzip zu diesem Wesen verhalte; was sie für das Wesen bedeute. Der Akzent liegt deshalb auf der Gründung dieser Ordnung im Wesen, die durch die Vernunft vermittelt ist. Zugleich gibt aber das Verhältnis der Vermittlung, wodurch dieser Wesensbezug zustande kommt, dem Vernunftvermögen als Aktprinzip die beherrschende Stellung: die Natur und das Wesen sind nicht unmittelbar maßstäblich, sondern sie geben der Vernunft, indem sie sie gründen, den Raum frei, in dem sie nun selbst messend und regelnd ist. Die Struktur dieses freigegebenen Raumes der Vernunftordnung ist aus der Naturordnung nicht ohne weiteres ableitbar - diese Folgerung aus der dargestellten Lehre läßt sich sogleich an einigen Beispielen deutlich machen. Daß der Gebrauch des Eigentums angemessen, die Wegnahme fremden Gutes unangemessen ist, ergibt sich erst innerhalb einer von der Vernunft geregelten Rechtsordnung (so das Beispiel von Art. 2); eheliche und ehebrecherische Zeugung sind naturhaft spezifisch gleiche Akte - im Verhältnis zum Zeugungsvermögen nämlich -, im Verhältnis zu einer vernunftgeregelten Rechtsordnung jedoch spezifisch verschieden, der eine gut, der andere böse (Art. 5 ad 3). Sollte ein Gegenstand des Tuns etwa gar nicht ein Verhältnis zur Vernunft und ihrer Ordnung haben, so wäre der Akt, der auf ihn zielt, überhaupt weder gut noch ·böse, sondern seiner-Speziesnach indifferent (Art. 8), wenngleich, in individuo betrachtet, kein konkreter Akt zu denken ist, den die Vernunft ordnete, ohne ihn sich irgendwie zuzumessen, mag sie das auch nur den beiläufigen Umständen nach tun (Art. 9). Was insbesondere die Umstände angeht, so ist das, was in der Sicht auf das naturhaft vorgegebene Wesen sich als akzidentell zeigt, nicht notwendig auch in der Vernunftordnung bloß ein Beiläufiges; denn die Vernunft ist in ihrem Fortschreiten nicht, wie die Natur, auf ein Eines hin determiniert, sondern sie vermag - kraft der Unbegrenzbarkeit ihres Vermögens zur Reflexion- ins Unendliche fortzuschreiten, über jedes Gegebene und jedes neu sich Zeigende immer wieder hinaus; so kann in einer Bedingung des Gegenstandes, die in seinem naturhaften Sein bloß akzidentell steht, sehr wohl das moralisch Wesentliche, Speziesgebende gesehen werden müssen (Art. 10). Das Beispiel vom Raub am »heiligen Ort« (z. B. Kirchenraub) zeigt, daß der Umstand des besonderen Ortes die an ihm verübte Handlung »Raub« spezifisch ändern kann, nämlich zum Sakrileg, während etwa der Umstand,
Die Ordnung der Vernunft
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daß jemand wenig oder viel stiehlt (bei sonst gleichen Bedingungen) zwar das Maß von Gutheit und Bosheit vermehrt oder vermindert, aber nicht die Spezies ändert (Art. 11). Nicht die Naturform, die dem Ding in sich selbst eine Wesensbestimmtheit gibt, ist moralisch maßgeblich, sondern die vom Verstand aufgefaßte Form: sie gibt dem menschlichen Akt seine Wesensbestimmtheit (Art. 10 c). Vielleicht darf man an dieser Stelle anmerken, daß auch die Bestimmtheit, die der handelnde Mensch selbst hat und auf die sich alle seine Akte als vervollkommnend oder abträglich auswirken müssen, folgerichtig nur so maßgeblich sein kann, wie sie aufgefaßt ist, wie sie vom Verstande vorgestellt wird; jedoch ist diese Frage später wieder aufzugreifen (s. u. § 3).
§ 2: Der Vorrang der Zielbestimmtheit (q. 18, art. 6-7) In der Vernunftordnung und der durch sie bestimmten Gegenständlichkeit entsteht die Spezifikation des Aktes, und es entsteht die Unterschiedenheit nach Gut und Böse als spezifische, gegenständliche; in ihr ist zu bemessen, was bloß beiläufiger Umstand ist. Auch das dritte Moment des Gut- oder Böseseins einer Handlung, die Zielbestimmtheit, ist von hier aus zu sehen. Ein Eingehen auf diese Frage ist um so dringlicher, als der Gesichtspunkt der Zielbestimmtheit des Handeins im Anfang der Darlegungen des zweiten Teils der Summa theologiae, als es um die Begriffsbestimmung der menschlichen Handlung ging, ganz im Vordergrund gestanden hat: sie wurde als >>willentlichGegenstand«, den die Vernunft auffaßt, abgeleitet wurde13 • Artikel 6 unserer Quaestio 18 bringt nun diese Sicht wieder zur Geltung. Wenn Artikel 5 sagte, einige Akte hießen >>menschlichewillentliche>Gegenstand« des Willens, und so gilt alles von der Gegenstandsbestimmtheit von Akten überhaupt Gesagte hier in gleicher Weise. Zielbestimmtheit ist nichts anderes als die dem Willen eigentümliche Weise der Gegenstandsbestimmtheit, und so kann es denn auch hier heißen, daß der Willensakt seine spezifische Bestimmtheit vom Ziel her habe, als von seinem Gegenstand. Freilich ist der willentliche Akt nicht immer nur ein Akt des Willens, und sofern von dem letzteren, als dem »inneren«, der >>äußere« Akt unterschieden werden muß, sind womöglich andere Vermögen und Kräfl:e beteiligt, deren Gegenstand nicht >>Ziel« ist15. Hat äußeres Tun einen vorliegenden Stoff, mit dem es befaßt ist in der besonderen Weise, welche seine Prinzipien ermöglichen, so hat es auch eine eigene Bestimmtheit, eine eigene Weise des Gut- oder Schlechtseins, die von diesem Stoff hergeleitet ist, sofern er sein Gegenstand ist. Natürlich bleibt dabei bestehen- und schon aus der Wesensbestimmung des menschlichen Aktes als >>willentlich>objektiven« Güte -, und von diesem her bekommt das Aktganze gleichsam durch »Überfließen>überfließt« 25 • Die praktische Vernunft erkennt in der Zuordnung von »objektiv« gutem Tun zu bösem Zweck oder von objektiv »bösem« Tun zu gutem Zweck eine Disproportion von Gesinnung und sachlichem Verhalten, ein Auseinanderfallen des zu einem Aktganzen Verbundenen, eine bloß beiläufige Ordnung (per accidens), die >>Mittel« und >>Zweck« auseinanderreißt; das »Mittel« - in einer wesentlichen Ordnung vom Zweck her festgelegt und ihm untergeordnet - wird zur selbständigen moralischen Größe, keineswegs durch den Zweck zu heiligen, wohl aber- sofern dieser für das Aktganze maßgeblich ist- von ihm zu entwerten. So ist nicht nur Gesinnung und gute Absicht des Handelnden - der »gute Wille« praktisch maßgeblich, sondern zugleich ist die praktische Vernunft verwiesen an die >>gute Sache«, an Durchführbarkeit, voraussehbare Folgen, 24 25
1-II, 20, 3.- Das Beispiel ib. art. 1. Das Beispiel nadl 1-II, 18, 7.
Die Ordnung der Vernunft
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Verantwortlichkeit für den >>Ausgang« auf allen Stufen eines Handelns, das sich in jedem Moment seines Verlaufs an der Vernunft mißt. Es ist sichtlich eine Frage von ziemlicher ethischer Tragweite, die im Hintergrund der Darlegungen steht: wir sind gewöhnt, sie als das Problem von Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu bezeichnen2 6. Allein, im theoretischen Kontext der Reflexion auf die metaphysische Bedeutung des Praktischen, in dem wir uns befinden, ist die Frage nicht erst zu entscheiden, sondern sie wird als entschieden vorausgesetzt. Die moralische Eigenbedeutung des Sachlichen, des äußeren Tuns, zeigt sich in der praktischen Einstellung selbst - sie liegt in den Beispielen vor und ist jetzt zu interpretieren. Aber in der Interpretation muß schließlich das Interpretierte anwesend sein, und da sich inzwischen die theoretische Überlegung immer mehr an das praktische Phänomen, das es zu »retten>natürlich« Erstrebte zu nennen wäre12 ), nicht aber hinsichtlich der Ausübung: diese bleibt stets ungenötigt, mindestens in dem Sinne, daß der Wille sich hier und jetzt nicht zur Aufmerksamkeit auf den in der Linie der Artbestimmung nötigenden Gegenstand hin zu bewegen braucht; ein Nicht-Aufmerken bleibt ihm immer möglichts. Fragt man in der Linie der Ausübung, der tatsächlich bewegenden Wirkursächlichkeit, zurück auf das Prinzip des Tätigwerdens, so kann man nicht auf ein anderes verweisen als den Willen selbst. Er ist unter den Seelenvermögen überhaupt das Erstbewegende, durch den alles andere bewegt wird, wiederum deshalb, weil sein eigentümlicher Gegenstand Ziel und Gut überhaupt sind 14 • Der Wille kann deshalb sein eigenes Wollen wollen, als ein Besonderes, das im Allgemeinen seines naturhaften Gegenstandes eingeschlossen ist15. Freilich, sofern er nicht sein Akt ist, sondern von der Potenz in den Akt übergeht, bedarf er zu seiner ersten Bewegung eines Bewegers, der ihm selbst schlechthin vorausliegt, und dies Bewegende ist sein Schöpfer, Gott16 • Von dieser Gründung her wohnt ihm die Bestimmtheit und Notwendigkeit inne, ohne die er überhaupt nicht sein könnte, das grundlegende Bewegt- und Bewegendsein, ohne das kein einzelnes Wollen zustande käme. Gibt es aber im einzelnen Wollen selbst keinerlei Notwendigkeit der Ausübung, so bleibt nichts übrig als eine Tatsächlichkeit des Tuns oder Nicht-Tuns, die sich dem Zugriff des Verstehens letztlich entzieht. Die Untersuchung der Wirkursächlichkeit der Freiheit führt also auf einen Ort, wo eine bloße Faktizität ungelichtet waltet. Dabei ist natürlich klar, daß jedes wirkliche Tun dank seiner gegenständlichen Bestimmtheit sofort wieder im Lichte der Verstehbarkeit erscheint. Warum dieses und nicht jenes getan wird, dafür sind stets Gründe oder Motive angehbar; die konkrete Analyse des praktischen Verhaltens vermag sie zu nennen: so kann ein objektiver Vorzug des einen vor dem anderen, den die Vernunft hervorhebt, die Wahl bestimmen; oder auch zufällige Gedankenverbindungen, Gelegenheit und Situation mögen den einen Umstand so hervortreten lassen, daß er gegenüber dem anderen maßgeblich 1-II, 10, 1; vgl. I, 82, 2. 1-11, 10, 2: Das »universaliter bonum« nötigt den Willen nur, »si aliquid velit«; »posset enim aliquis de quocumque obiecto non cogitare, et per consequens neque actu velle illud.« 14 1-II, 9, 1. 12
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15 18
1-II, 9, 3. 1-II, 9, 4; vgl. ib. 10, 4.
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Gut und Böse
wird; oder die Disposition, sei sie naturhafte Veranlagung, smicksalhafte Lage oder marakterlime Prägung, smaffi Neigung zu diesem vor jenem17 • Smließlim mag man - so weit geht Thomas allerdings nimt ausdrücklim - die Kontradiktion von Tun oder Nimt-Tun selbst als eine Weise von Spezifikation auffassen, so daß die Freiheit der Ausübung gänzlim in die Terminologie der Freiheit der Artbestimmung überführt würde und der Ansmein einer durmgehenden lntelligibilität entstünde. Aber daß dieser Ansmein bloßer Smein ist, erhellt sogleim aus der Überlegung, daß aum in der Blickrimtung auf die Artbestimmung nur im naturhaft Nötigenden Wesensnotwendigkeit und klare Einsimtigkeit herrsmt. Aum die Motivation der Entsmeidung zu diesem oder jenem smaffi nimt die Eindeutigkeit der Bestimmung, die sim als zwingend dem Verstehen aufdrängen würde; vielmehr bleibt aum hier ein unlösbarer Rest von bloßer Tatsämlimkeit, hinter dem wieder nimts anderes stehen kann als die Faktizität des bewegenden Wollens. Für das Verstehen bleibt hier eine Unbestimmbarkeit, die auf eine Unbestimmtheit der Freiheit selbst zurückweist. Für die Theologie ist dieser Punkt von hömster Bedeutung; denn genau hier ist der Ort, wo sie jene Wirksamkeit Gottes ansetzen kann, die - in einer dem Willen gemäßen, die Freiheit nimt aufhebenden Weise- auf übernatürlime Ziele hinbewegt, nämlim die Wirksamkeit der Gnade, die sim dann hinsimtlim der Ausübung als >>praemotio«, hinsimtlim der Artbestimmung als >>praedeterminatio« bezeimnen läßt18. Die Philosphie muß sim mit der Feststellung der Faktizität begnügen, die nimt mehr positiv, sondern nur negativ zu bestimmen ist. Nimt, daß die Freiheit nur als Negativität zu bestimmen wäre. Wohl aber kann hier die Negativität geortet werden, die der Kontrarietät von Gut und Base zugrunde liegt.
§ 3: Die Freiheit der Kontrarietät als solme des endlimen und vollendbaren Vernunftwesens; die Wurzel möglimer Bosheit in der Faktizität des Wollens An und für sim sagt der Begriff der Freiheit, wie er bis jetzt entwickelt ist, nom nimts über die Möglimkeit zu Gut und Böse im moralismen Sinne aus. Die Freiheit der Artbestimmung wählt wesentlim zwismen Diese drei Weisen der Beeinflussung des Wollens nach De malo 6. Diese Begriffe der •thomistischen« Schule finden sich bei Thomas nicht; sie entwi>Vollkommenheit« schlechthin bezeichnet werden 19 . Auch die menschliche Freiheit ist grundgelegt und ermöglicht gerade durch die grundsätzliche Hinordnung des Willens zum Guten, und in keinem Wollen kann deshalb durch ein anderes eine Bestimmung eingeführt werden als durch ein Gutes. Ist das übel aber bestimmt als eine »Abwesenheit« des Guten, und näherhin als Privation eines geschuldeten Gut an einem Zugrundeliegenden 20, so kann es unmöglich Ziel und Gegenstand des Wollens, geschweige denn spezifizierend sein. Wenn aber gerade dies in der metaphysischen Interpretation der menschlichen Handlung, und zwar vom Phänomen des Praktischen selbst her, als Grundposition behauptet worden ist, so läßt sich jetzt schon abstrakt absehen, daß die Lösung des Widerspruchs sich erst ergeben wird, wenn es gelingt, die Verursachung und die Ursächlichkeit des Bösen mit der Negativität in Verbindung zu bringen, die in der Faktizität der Freiheit ermöglicht ist. Zunächst ist freilich auf der Ebene der Wesensbestimmtheit festzustellen, daß für menschliches Handeln Gut und Böse nicht bloß im privativen Gegensatz zueinander stehen und daß diese Weise des Entgegengesetztseins, die als Kontrarietät zu fassen ist, im Rahmen der allgemeinen Doktrin möglich ist. Das kann in einer Betrachtung der Seinsfülle der Handlung geschehen, wo sich zeigt, daß menschliches Handeln, als das einer beschränkten und nur im Verhältnis zu dieser Beschränktheit vervollkommenbaren Natur, das sich in einem Umkreis ebenfalls beschränkter und besonderter Seiender bewegt, von diesen her teils Vervollkommnung, teils Beeinträchtigung erfahren kann, wenn es sie sich zueignet21. Dieses umgebende Seiende mag durchweg als »Gut« bestimmt sein: in seiner konkreten Beschränktheit muß es zusätzlich noch den Charakter der Angemessenheit für den bestimmten Handelnden haben, um ein geeigneter Gegenstand des Handelns, geeignetes Ziel zu sein. Die Bestimmung der Angemessenheit geschieht in der Vernunftordnung, die insofern >>Regel>Ungeeignetes Ziel« (finis indebitus) ist und im Vergleich zum »geeigneten« natürlich als Privation zu fassen bleibt, sofern es ja die Nicht-Anwesenheit des geeigneten mit sich bringt. Das eigentlich »Fehlende>Setzen«, als »Verursachen« interpretiert wird23 • Die Positivität der Setzung ist es, welche den moralischen Gegensatz von Gut und Böse zum Konträren macht; sie bringt ferner mit sich, daß das Böse konstitutive Differenz sein kann - als bloße Privation könnte es das nicht, sondern vermag es nur in der Kraft: des Guten, des Positiven, an dem es statthat2 4• Als positive Seiendheit kann das Böse denn auch vom Willen tatsächlich erstrebt werden, denn so hat es ja ein Gutsein unter sich liegen, während der Wille sich auf ein Böses als solches, als Privation, nicht richten könnte, wo er wesentlich auf Gut überhaupt gerichtet ist. Auch vermag er vom Bösen zum Guten überzugehen - zur Kontrarietät gehört die Möglichkeit des Übergangs von einem Extrem zum anderen, die bei der Privation nidtt gegeben ist25 • Freilich kann das Böse willensbestimmende Kraft: wiederum nur ausüben, wenn es von der Vernunft: nicht als Böses, sondern unter dem Anschein des Guten dem Willen vorgestellt wird; es scheint also nicht anders eine Hinwendung zum Bösen möglich als unter Voraussetzung eines Irrtums, einer falschen ,.Artbestimmung«, und in der Tat ist das eine Möglichkeit, die gerade im menschlichen Leben eine bedeutende Rolle spielt: der Ehebrecher, der glaubt, das sinnliche LustVgl. Kap. 11, § 3. Vgl. I-II, 6, 3; I-II, 71, 5.- Das Nicht-Handeln oder die Unterlassung ist natürlich kein •Akt«, aber es ist willentlich und »verursachte den Fehl, so daß es wie ein Akt einzuordnen ist: es gehört formell zur gleichen Spezies wie die positiv-setzende Handluqg, I-II, 72, 6. 24 I, 48, 1 ad 2; I-II, 18, 5 ad 2. 26 I, 48, 1 ad 3. 22
23
Freiheit und Kontrarietät
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erlebnis, das er anstrebt, sei hier und jetzt das anzueignende Gut, täuscht sich2 &. Mit dieser Täuschung bezüglich des Hier und Jetzt ist es vereinbar, daß er im Allgemeinen sehr wohl weiß, daß Ehebruch >>böse«, der VernunA:ordnung widersprechend ist. Aber er wendet sein Wissen in diesem besonderen Falle nicht an, die Artbestimmung ist falsch. Allein, so sehr der Irrtum hinsichtlich des hier und jetzt zu Tuenden ein unangemessenes Verhalten verschulden muß, würde er doch, sofern er nur als ein Versagen der leitenden Vernunft: selbst gefaßt wäre, eher das Versagen des Wollens >>entschuldigen«, das sich nach ihm richtet, als daß er Schuld bewirkte2 7. Das Versagen der Vernunft: schränkt die Willentlichkeit des Tuns ein oder hebt sie gar ganz auf, so daß hier nicht die letzte Wurzel der moralischen Bosheit gesucht werden kann. Sie muß überhaupt, wenn sie in der Blickrichtung der Artbestimmung nicht letztlich bestimmt werden kann, in der Freiheit der Ausübung zu orten sein, und auf diese läßt sich denn auch der Irrtum, der Bosheit verschuldet, zurückführen: die falsche Artbestimmung, die im Hier und Jetzt stattfindet, zugleich aber mit einem rechten Wissen des Allgemeinen der VernunA:ordnung zusammengeht, wurzelt in einem Nicht-Aufmerken auf dieses Allgemeine; der Schein des Guten entsteht an einem in der Vernunfl:ordnung Unangemessenen, weil der Blick nicht auf die Vernunfl:ordnung, sondern nur auf das zugrundeliegende Positive gerichtet wird. Ein solches Nichtbeachten der VernunA:regel ist zunächst reine Negation, und es bedarf zu ihrer Erklärung keiner anderen Ursache als des Willens selbst und der Faktizität seines Bewegens oder Nicht-Bewegens; auch ist es weder gut noch böse, da eine Position oder Privation hier noch gar nicht vorliegt, die bloße Negativität aber nicht unter diese Unterscheidung fallen kann. Wird aber nun hinsichtlich des Gegenstandes, dessen Vernunfl:bezug nicht beachtet ist, zum Handeln fortgeschritten - und diese Möglichkeit ist ebenfalls im Wesen des Willens ohne weiteres gegeben-, so bedeutet die genannte Negation einen Fehl, die Abwesenheit einer geschuldeten Vollkommenheit, eine Deformität des Aktes hinsichtlich der Vernunfl:ordnung, und die folgende Position ist der geschuldeten konträr. Irrtum und Unwissenheit, die in dieser falschen Entscheidung eine Rolle spielen mögen, sind hier nicht notwendig in einem Versagen der Vernunft: begründet, das der Wahl des Willens vorausläge, sondern das Versagen der Vernunft: kann ebensowohl Folge eines Wollens oder Nicht-Wollens sein, so daß die Willentlichkeit auch für den Akt der Vernunft: gegeben, der Grund einer »Entschuldigung« also ausgeschlossen wäre28 • 28 27
28
I, 63, 1 ad 4. Vgl. Kap. 11, § 3; 1-11,6, 8; 1-11,76, 3. Vgl. I, 49, 1 ad 4; I, 63, 1 ad 4; 1-11, 75, 1 und ad 3.- Die Lehre von der
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Gut und Böse
Wie man sieht, kann aus der Freiheit des Willens zur Ausübung oder Nicht-Ausübung, aus seiner Fähigkeit zur Kontradiktion, und aus der Freiheit der Artbestimmung hinsichtlich des besonderen je zu Tuenden eine Freiheit der Kontrarietät »folgen«. Ersichtlich liegt in diesem dritten Aspekt kein Mehr an Vollkommenheit und kein Mehr an Freiheit: das erste nicht, weil die Möglichkeit zur Minderung im Widerspruch steht zum Begriff der Vollkommenheit selbst 29 ; das zweite nicht, weil die Freiheit der Kontrarietät nichts anderes ist als die Freiheit zu Ausübung und Artbestimmung selbst, unter den Bedingungen eines wandelbaren und fehlbaren Daseins, in dem der Wille nicht von Hause aus »bei der Vernunft« ist, die Vernunft nicht von Hause aus die Wahrheit stets bei sich hat. Vollkommener ist die Freiheit der Kontrarietät nur im Vergleich zu einer Selbstbewegung, die überhaupt nicht frei ist, und umgekehrt wäre jene Freiheit die vollkommenste, die überhaupt nicht die Möglichkeit zur deformierenden Setzung des Unvollkommenen, zur beeinträchtigenden »Nichtigkeit« des Bösen hätte. Freiheit der Kontrarietät ist auch nicht notwendig Folge der Endlichkeit eines freien Wesens, wiewohl die Endlichkeit ihre Bedingung ist. Die reine Intelligenz, deren innere Lichtheit ein Verfehlen der Artbestimmung überhaupt nicht zuläßt und deren wesentliche Selbstgegenwärtigkeit eine Distanz ihres Wollens von der naturhaft erkannten Vernunftregel unmöglich macht, kann nur deshalb fehlen, weil ihr ein übernatürlicher Aufschwung möglich ist, dessen Regel dann freilich nicht mehr distanzlos in ihrem natürlichen Erkennen anwesend ist, sondern einer Beachtung oder Nicht-Beachtung freisteht. Die Endlichkeit bedeutet da nicht mehr als die Möglichkeit, daß etwas über die Natur hinaus aufgegeben wird, und nur in diesem Sinne die Möglichkeit zur Kontrarietät30. Freiheit der Kontrarietät gibt es demnach nur, wenn das freie Wesen noch nicht zu seinem Ende gekommen ist, sondern sich durch Tun oder Nicht-Tun, durch »dieses« oder »jenes« Tun- in je besonderen, beschränkten Akten und mit der Möglichkeit des Verfehlens - zu seiner Vollendung hinbewegt. Dies ist der charakteristische Zustand der Menschennatur, wie er sich vor allem in der Perspektive der praktischen Wissenschaft zeigt. Die Kontrarietät von Gut und Böse stellt dann in der Einstellung der praktischen Vernunft auf das zu Tuende die entscheidende konstitutive, spezifizierende Differenz dar, die sich in der Ordnung der Vernunft unmittelbar Negativität des Ursprungs der bösen Handlung ist in der Summa theologiae allerdings nidtt so eindruBestehenden« aus. Wenn die theoretische Analyse die Faktizität der Freiheit als letzten Ursprung des Moralischen setzt, so gibt sie also damit schließlich den letzten Grund für die Eigenständigkeit des praktischen Wissens an, das, als Wissen aus dieser Faktizität, auf ihren Raum bezogen und beschränkt, in keiner Weise mehr durch ein anderes, wesenserläuterndes, Strukturen hervorhebendes, kann aufgehoben werden, ohne daß das Eigentliche verlorenginge. Nur die Theologie vermag die Einheit praktischen und spekulativen Wissens in strenger Weise- als Einheit des Habitus- herzustellen, da sie sich auf den Standpunkt Gottes stellen kann, in dem es kein Auseinander von Faktizität und Wesen gibtss. Aber, selbst hier darf man fragen, ob denn nicht gerade die Gründung der Faktizität des Geschöpfes, sein göttliches Gewolltsein als eines Defektibeln, dem Erkennen dieses Geschöpfes selbst - auch im übernatürlich gegründeten Wissen der Theologie - die Dunkelheit aufgibt, welche die Faktizität als solche mit sich bringt, so daß auch in der Theologie das »mysterium inquitatis« der letzten Einsicht entzogen, seine Bewältigung eine wesentlich praktische Aufgabe würde? Jedenfalls scheint es, daß die Moraltheologie ebenso wie die Ethik bei der Bestimmung des konkreten Gut und Böse auf die praktische Erfahrung verwiesen ist, wenn sie auch die unmittelbare Leitung durch das göttliche Gesetz, die unmittelbare Regelgebung durch die göttliche Vernunfl hatse. Denn selbst dieses Gesetz hat den Charakter der des materiellen Seienden erscheint, deutet sich das in den Grundsätzen an: •actus sunt singulariumc und ,.actus sunt circa singularia« (vgl. z. B. I, 86 arg. 1 und 2). 36 Es gibt vielmehr keine Faktizität in Gott, I, 3, 4 (es sei denn hinsichtlich der Schöpfung, I, 46, 1). 31 Vgl. Kap. 14, § 3.
Freiheit und Kontrarietät
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>>Positivität«, der faktisdien Gesetztheit, und ist somit im Sinne der praktisdten Wissensdtaft ein Erfahrenes. Audt die theologisdte Analyse stößt nidtt zum ungebrodtenen Zusammenhang von Faktizität und Wesen vor. Sie behauptet ihn und sudtt ihn mittelbar herzustellen, weil sie gerade in der Einheit beider die Einheit des Wissens Gottes im mensdtlidten Verstehen nadtbildet; aber auch sie vermag ihn nur in der abstrakten Gestalt des >>Systems«, nidtt in der Unmittelbarkeit der konkreten Ableitung zu leisten3 7 • Ist das ridttig und gibt es keine Ethik aus reiner Wesenssicht, keine Moraltheologie ohne Positivität des göttlichen Wollens, so gibt es dodt die Anwesenheit des Wesens, das da handelnd ist, und auch im Besonderen ist es selbst das Wirkende: praktische Einsidtt kann in der Struktur des Gewußten die Struktur des am bestehenden Wesen Eingesehenen wiederholen; Wissen von menschlicher Praxis kann die Struktur einer Anthropologie, die spekulativ konstruiert ist, wiederholen. Die Folge der Summa theologiae kann daher als Darstellung praktischer Wissenschaft eine Lehre von der Struktur konkreten mensdtlidten Verhaltens geben, weldte die Figur einer spekulativen Anthropologie aufweist; in dieser Weise ist die Passionenlehre an die Lehre von der Struktur des menschlichen Aktes angeschlossenss. Diese Analysen haben aber nur den Sinn, zu den Gestalten hinzuführen, in denen sich das Handeln konkret zu Gut und Böse verhält; denn dieses Verhalten findet nicht so statt, daß es in der Isolierung des jeweiligen, je einzelnen Aktes sich dem Verständnis eher entzöge als öffnete, sondern verfestigt sidt, entspredtend den Möglichkeiten mensdtlichen Daseinsvollzuges, in Verfassungen, die den einzelnen Vermögen zuwachsen und ihnen eine Neigung zum Guten als Tugenden - oder zum Bösen - als Laster - mitgeben. Die Lehre von Gut und Böse gewinnt ihre praktisch-wissenschaftliche Gestalt zunächst in der Lehre von der Tugenda9.
Das heißt, daß sie gerade insofern ,. Wissenschaft« ist und nicht vom »Einzelnen« handelt, I, 1, 2 ad 2. 38 1-11, 22-48. 39 1-11, 49-89 und 11-11: Dabei ist die Betrachtung der Prima Secundae zunächst wieder nach der Weise eingeleitet, die in einer spekulativen Abhandlung anzuwenden wäre, nämlich von der ontologischen Analyse des Habitus her (1-11, 49), und die folgenden Untersuchungen über Tugend und Laster setzen gleichfalls so ein (1-11, 55 und 71).- Ahnliches ließe sich bei Einzelfragen aufweisen. Erst in der Secunda Secundae herrscht die eigentlich praktische Sichtweise unbedingt vor und ist systembestimmend. 37
Viener Abschnitt
DIE KONKRETEN PRINZIPIEN DES SITTLICHEN HANDELNS: DIE TUGEND UND DAS GESETZ 13.
KAPITEL: ETHIK ALS TUGENDLEHRE
§ 1: Die mögliche Vollständigkeit der Ethik als Tugendlehre Die Lehre von Tugend und Laster bildet in der Summa theologiae den umfangreichsten Teil der moralischen Betrachtung; zwar nicht in der Prima Secundae, wo sie gleichwohl nicht nur äußerlich in der Mitte steht, sondern vor allem in der Secunda Secundae, in der »Speziellen« Moral. Dort gibt das Schema der grundlegenden Tugenden den Rahmen für die eigentlich konkreten, in möglichster Nähe zum Einzelfall sich haltenden Überlegungen, in denen am meisten der Sinn einer praktischen, handlungsleitenden Wissenschaft hervortritt1 • Die Vorzugsstellung der Tugendlehre hat vor allem zwei Gründe, die sich aus Überlegungen ganz allgemeiner Art ergeben. Der erste ist, daß in ihr die größte Nähe zum Einzelfall bei gleichzeitiger Wahrung des wissenschaftlichen Charakters der Ethik möglich ist. Denn der Einzelfall selbst entzieht sich als solcher der Wissenschaft, die stets auf ein Allgemeines hingewiesen bleibt, und wenn die moralische Betrachtung ihre eigentliche Vollendung in der Erkenntnis des Einzelfalles hat (in welchem ja allein Handeln »wirklich« sein kann), so bleibt sie doch, wenn sie Wissenschaft sein will, notwendig vorher si:ehen; der Einzelfall ist für sie nur faßbar, sofern er sich in einer Struktur findet, die den Charakter des »AllgemeinenGebote>nichts vom Moralischen übergangen werde« 6 • Hat die Durchführung der theologischen Moral bei Thomas die Gestalt einer Tugendlehre, so müßte das noch weit eher von der Durchführung einer rein natürlichen Ethik erwartet werden. Immerhin setzt die Theologie das übernatürliche letzte Ziel, dem der Mensch durch die eingegossenen übernatürlichen Tugenden zugeordnet wird, in einem Jenseits des Lebens an, das in diesen Tugenden verfaßt ist, und zwar ergibt sich sogar, daß diese Tugenden nicht einmal notwendig fortbestehen, wenn das letzte Ziel erreicht ist; sie haben - wenn auch nicht alle, so doch einige - den Charakter von bloßen Mitteln zum Zweck, der bloßen Ausrichtung und Vorbereitung, sie haben höchstens die Bedeutung eines »AnfangensWertes«, dem womöglim noch ein ungegründetes und ungründbares »ideales An-sim-Sein« thetisch zugespromen wird, bezeimnet keinen der wirksamen Faktoren des Handelns, wie sie sim in der Analyse zeigen 9 • Das Unternehmen, die dem Handelnden innewohnenden Verfassungen auf Werte zu gründen, die ihnen vorausliegen, und so die Tugendethik in eine Wertethik umzudeuten, muß als der abwegige Versuch gebrandmarkt werden, das Abgeleitete, in der Reflexion Hypostasierte, als Grund dem Früheren, ursprünglicher Ersmeinenden, VOrzuordnenlO. Charakteristisch ist, daß der sittliche Wert schließlich »auf dem Rüdten der Handlung« erscheint (Scheler): die Analyse ergibt, daß er Resultat und nicht Faktor sein muß, vgl. D. VON HrLDEBRAND, Die Idee der sittlichen Handlung, Halle 2 1930. 10 Hier ist an die (von M. Scheler inaugurierte) »phänomenologische« Wert-
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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz
Ebensowenig kann hier ernsthaft die Möglichkeit einer Situationsethik in Erwägung gezogen werden, sofern diese als Gestalt einer praktischen Wissenschaft auftreten wollte. Den Einzelfall selbst, der sich dem Zugriff der wissenschaftlichen Erkenntnis wesentlich entzieht, so sehr zum Angelpunkt der moralischen Betrachtungen zu machen, daß seine in der Allgemeinheit wissenschaftlichen Verstehens unfaßbare Einmaligkeit zur Negation der Bedeutung des Allgemeinverstehens überhaupt ausgemünzt wird - das heißt nicht mehr, einen besonderen Stil der Ethik entwickeln, sondern Ethik überhaupt verneinen. Eine solche Position liegt »außer halb>Klugheitsethik« bezeichnen, womit sachlich nichts anderes gesagt werden soll, als was in der Bezeichnung »Tugendethik« schon eingeschlossen ist. Jedoch ist zu beachten, daß die Klugheit nicht Prinzip des Aufbaus der Ethik, sondern des konkreten Handeins selbst ist; sie bestimmt nicht den Stil, sondern gehört zum Inhalt der Ethik. Aber sie ist vielleicht das charakteristischste Element in diesem Inhalt, da sich in ihrer Konzeption die Selbstbeschränkung der wissenschaftlichen Ethik wissenschaftlich ausspricht14, Mit der Konzeption der Klugheit, sofern sie inhaltliches Element der Ethik ist, wäre eine Stilisierung der praktischen Wissenschaft vereinbar, die andere Faktoren als die inneren Prinzipien des Handelns, die Verfassungen, als gestaltgebend herausstellen würde. Hier könnte zum Beispiel daran gedacht werden, daß die Analyse des Aktes und seiner UnVgl. bes. I, 85, 2 und ad 2. Vgl. Kap. 3, §5-6. 14 Diese Auffasssung dürfte heute Allgemeingut der Thomisten sein; vgl. z. B. TH. DEMAN, Art. Probabilisme, in: Dict. de Theol. cath., Bd. XIII, coll. 418-619, bes. coll. 433-436 und 617-618.
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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz
terscheidung nach gut und böse immer wieder die Gegenstandsbestimmtheit oder die Zielbestimmtheit betont hat. Es scheint demnach außerhalb des Handelnden ein Maßgebliches zu geben, das dem Akt vorausliegt, das früher ist und auch in seinem Vorgegebensein früher erfaßt werden kann. So scheint es denkbar, ein System der Zwecke und Ziele, der bestimmenden Gegenständlichkeit auszuarbeiten und die Bestimmtheit des Handelns von diesem seinem Bestimmenden her zu begreifen. Eine »Zweckethik«, eine »Seinsethik« oder >>GegenstandsethikGesetzesethik« stilisierbar. Es ist unbestreitbar, daß dieser Stil der Ethik ein völlig legitimer ist: die Anwesenheit der Vernunftregel in allem menschlichen Handeln ist Grundbedingung der Sittlichkeit überhaupt; nichts ist berechtigter in einer Wissenschaft vom Handeln, als diese maßgebliche Regel auf den Zusammenhang zu befragen, den sie innerhalb der Vernunft selbst hat, 17
Vgl. I-li, 21, 1.
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Vgl. Kap. 3, § 6.
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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz
auf ihre Gründung hin zu denken, sofern diese in der VernunA: selbst stattfindet. Der Zusammenhang des Bereiches der Sittlichkeit tritt aufs stärkste ins Licht; in der Rückführung auf die grundlegenden Inhalte der Synderesis, ja schließlich auf die eine oberste Handlungsregel, die in ihrer hohen Allgemeinheit die Form aller möglichen Handeinsregeln enthält, zeigt sich dieser Zusammenhang als eine Einheit aller mannigfachen Inhalte. Schließlich ist auch der Prozeß der Klugheit, auch er ein Verfahren der VernunA:, prinzipiell dieser formalen Einheit einordenbar, wenn auch andererseits gerade die abstrakte Formalität des Einen, seine umfassende Allgemeinheit, die besondere Bestimmung im Hinblick auf besonderes Erscheinendes freigibt. Eine Gesetzesethik kann »WissenschaA:«, umfassend, konkret - ohne Beeinträchtigung der Einzelheit des Einzelfalles- und somit dem Gegenstande durchaus adäquat sein. Darüber hinaus tritt in ihr eine Seite des moralischen Phänomens hervor, die in einer Tugendethik weniger sichtbar ist, nämlich das Moment des Sollens und der Pflicht. Das Sittengesetz ist nicht das Erkennen der VernunA:, sondern das Erkannte 19 ; die Regel wird von der VernunA: nicht verfügt, sondern gefunden. Natürlich heißt das nicht, daß sich nun die VernunA: zu einem »idealen Bereich geltender Gesetzlichkeitkategorischen ImperativGesolltseins>Sollen« sprechen, sofern eine Vollkommenheit zur Verwirklichung aufgegeben ist; im Vordergrund steht aber der Gedanke, daß ein Seinkönnen zu einer Erfüllung offensteht und nicht, daß es ein >>GebotObligation«, der von manchen Interpreten an seiner Stelle genannt wird, ist selbst kein tragender und auch nicht von solcher Strenge wie der Pflichtbegriff. In keiner Weise ist die thomistische Ethik eine ,.pflichtethik«24, 21 Vgl. Kap. 3, § S-6.
1-II, 94, 6. Vgl. I-11, 108, 4 (zum Problem der evangelisdten Räte). •« Vgl. den Anm. 10, S. 110 zitierten Aufsatz von J. Tonneau, für den eine 22
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Die konkreten Prinzipien: Tugend und Gesetz
Dom ist ein »Sollen>Gesmuldeten«, des bonum debitum oder der perfectio debita mitausgespromen ist25. >>Praktism« wird dieses Sollen sogleim, wenn das Gesmuldete ein Wirkbares, Tubares ist. Aber es ist nimt notwendig und streng an den Begriff des Gesetzes gebunden, wenn es auch in der Verbindung mit ihm am deutlimsten zum Ausdruck kommt. Von Sollen kann smon dann die Rede sein, wenn sim ein Seinkönnen zu seiner angemessenen Erfüllung hin ausstreckt, oder - vielleimt nom simtbarer- im negativen Sinne, wenn das Seinkönnen im Verfehlen des Angemessenen sim selbst mindern, seinem eigenen Sinn widerspremen würde. In diesem Sinne ist das Moment des Sollens gerade aum in der bestimmten Weise des mensmlimen Seinkönnens, in Tugend und Laster, anwesend. Seine konkrete Bestimmung ist sogar eher von einer Tugendlehre aus zu geben als von einer Gesetzeslehre aus. Dies ergibt sim aus den oben angestellten Überlegungen, welme ein strenges Sollen nur den wegen ihrer Allgemeinheit unbedingten obersten Geboten des Sittengesetzes zuspramen, in Hinsimt auf konkrete Bedingtheit jedom ein Abnehmen der Strenge des Gesolltseins fanden. Der Gesimtspunkt des Seinkönnens und der Bestimmtheit seiner Weisen - und das ist der Gesimtspunkt der Tugendlehre - bekommt dann die größere Relevanz, zumal die Simerheit der Gesetzeserkenntnis im Maße des Herabsteigens von den festen Prinzipien ebenfalls abnimmt 26 • Es smeint, als sollte man vielmehr umgekehrt versumen, vom Gesimtspunkt des Seinkönnens her aum die Grundverfassung der praktismen Vernunft in den Griff zu bekommen: nimts anderes kann sim smließlich in den von ihr besessenen Prinzipien ausspremen als der grundlegende Umriß des mensmlimen Seinkönnens überhaupt, und so wäre der Gesimtspunkt des Seinkönnens der allgemeinste und umfassendste; Gesetz und ihm entspremendes strenges Sollen sind nimts anderes als die Weisen, in denen sim das dringlime Aufgegebensein der zu wirkenden Vollkommenheit überhaupt oder ihrer grundlegenden Weisen im praktismen Erkennen der Vernunft ausdrückt. Vom Seinkönnen her wird smon gedamt, wenn es um die Bestimmung des letzten Zieles, der hömsten Vollendung des Mensmseins geht; vom Seinkönnen her, das in Vermögen sim öffnet, die wiederum in Verfassungen bestimmt sind, wird die Tugendlehre entworfen, in der die konkrete Pflimt- und Gesetzesethik überhaupt die fehlerhafte Übertragung eines soziologismen Modells auf den Bereim des moralismen Aktes bedeutet; ausgewogener ist die Position von T. Deman (im Anm. 14, S. 223 zitierten Artikel). 25 Vgl. I, 48, 1. 21 1-11, 94, 4.
Ethik als Tugendlehre
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Bestimmung von Gut und Böse geschieht. Nun zeigt sich, daß auch die Grundlage einer Gesetzesethik von demselben Prinzip her zu verstehen ist. Der Gedanke des Gesetzes ergibt sich aus dem grundlegenden Ansatz des praktischen Verstehens überhaupt, und er zeigt sich zudem als ein unentbehrlicher, sofern sich in ihm die Grundverfassung des praktischen Verstehens darbietet. Die Tugendethik kann nicht umhin, ihn von ihrer eigenen Grundlage her - als mittragenden anzuerkennen. Zugleich wird jedoch seine Tragweite eingeschränkt, da das Gesetz im konkreten Fall unter den Bedingungen dieses konkreten Falles angewendet werden muß, die ursprünglicher in der Tugendlehre gefaßt sind. Nur sofern es sich um grundlegende Weisen des Seinkönnens handelt, die vor einer Verfassung liegen und einer solchen nicht bedürfen, um >>naturhafte Neigungen>Tugend>GesetZ>äußeres« Prinzip zu kennzeichnen ist. Das ergibt sich erst eigentlich aus der theologischen Einstellung, in der die Gründung des Sittlichen in Gott und die über die Gründung hinausgehende, fortdauernde Leitung alles Tuns durch Gott bedacht wird, die sich vor allem in der geschichtlich bestimmten, konkreten Heilsordnung zeigt. In der theologischen Gesamtschau, die Natur- und Heilsordnung zugleich umfaßt, ist, wie die Einleitung des Gesetzestraktates der Prima Secundae ausführt, »das äußere Prinzip, das zum Bösen geneigt macht, der Satan, über dessen Versuchertätigkeit im ersten Teil geredet worden ist. Das äußere Prinzip, das zum Guten hinbewegt, ist aber Gott, der uns unterrichtet durch das Gesetz und uns hilft durch die Gnade« 1 • Als von Gott gegeben besteht das Gesetz >>außerhalb« des Menschen, ist Vgl. Anrn. 39, S. 217. I-li, 90 pro!.: •Consequenter considerandurn est de principiis exterioribus actuurn. Principiurn autern exterius ad rnalurn inclinans est diabolus, de cuius tentatione in Prirno dieturn est. Principiurn autern exterius rnovens ad bonurn est deus, qui et nos instruit per Iegern et iuvat per gratiarn.« - Von der Funktion des Satans war jedoch, außer I, 114, auch I-li, 80 die Rede, bei der Frage nach den Ursachen der Sünde. 29
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Gesetz und Geschidttlichkeit
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ihm eigentlich vorgegeben und gegenüber; als gottgegeben kann auch das »Sittengesetz«, das in der Grundverfassung der praktischen Vernunft eigentlich innerlich gehabt ist, unter dem Charakter eines »Gegenüber>Prinzip>Communitas perfecta>Naturgesetz«. Eingeführt wird dieser Begriff von dem Gedanken her, daß in dem, dessen Tun durch das Gesetz geregelt ist, dies selbst als Hinneigung zu dem entsprechenden Tun anwesend ist 16 • Alles Seiende nimmt in diesem Sinne am Ewigen Gesetze teil, da es von ihm her eine Hinneigung zu dem gemäßen Tun empfängt, jedes nach der Weise, die mit seinem von demselben Gott, von dem es seinen Ursprung hat, gegründeten Wesen, seiner »Natur«, zusammenstimmt17 • In einer ausgezeichneten Weise nimmt der Mensch am Ewigen Gesetz teil, sofern er der göttlichen Vorsehung nicht bloß unterliegt, sondern auch an ihr in der Weise teilhat, daß er für sich und andere(s) Vorsehung üben kann, in seiner Vernunft die ewige Vernunft abbildet. Die besondere Weise der Teilhabe der vernünftigen Kreatur am Ewigen Gesetz heißt »Naturgesetz«. I-II, 91, 2. Das •Naturgesetz« ist also zunächst der Sonderfall eines allgemeinen, spekulativ zu erkennenden Verhältnisses: schon hier ist der spekulative Sinn der Lehre deutlich, der im Folgenden hervorgehoben wird.
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Gesetz und Geschichtlichkeit
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Dies Naturgesetz ist wieder im Umkreis des menschlichen Vorsorgens und Vorschreibens das Erste und Grundlegende, und so muß alle menschliche Handlungsregelung und Gesetzgebung auf das Naturgesetz als »Erstursache« zurückgeführt und von ihm hergeleitet werden. Es steht als oberste Regel am Ursprung allen menschlichen Handlungswissens und ist in aller ausgestaltenden Entfaltung dieses Wissens anwesend. Es zeigt sich in den grundlegenden »Hinneigungen« der Menschennatur zum Guten und Angemessenen, deren erfahrene Mannigfaltigkeit in der Ein-heit des Naturgesetzes das einende Prinzip hat18, Es wird vom Menschen stets besessen in der Grundverfassung der praktischen Vernunft, die ihr von Hause aus, »naturhaft«, innewohnt, und diese Grundverfassung ist als naturhafte in ihrem Wesentlichen nicht zerstörbar19• Hat die vernünftige Natur durch das Naturgesetz am Ewigen Gesetz teil, so bedeutet das, daß sie es erkennt; zwar nicht, wie es in sich selbst, also im Geiste Gottes ist - das vermöchte sie nur in der übernatürlichen Gottesschau -, sondern in der ihr möglichen, ihrer Natur entsprechenden Weise, die bestimmt ist durch die Diskursivität der menschlichen Vernunft, in der feste Prinzipien zu Schlußfolgerungen von abnehmender Festigkeit führen 2o. Das leitende Licht des Ewigen Gesetzes strahlt dem menschlichen praktischen Verstehen in der Weise ein, die dessen Struktur entspricht: nur die allgemeinen Prinzipien werden eigentlich in der Festigkeit und Strenge besessen, die wir mit dem Begriff des Gesetzes verbunden denken21 • Die Vernunft, die von diesen unveränderlichen und unverlierbaren Prinzipien aus schlußfolgernd weiterdenkt, tut das zwar in deren Licht und in deren Kraft, aber das Gefolgerte hat in sich selbst nicht mehr die Bedeutung des unmittelbaren Teilhabens am Ewigen Gesetz: das Naturgesetz ist vom Wesen der Vernunft her, in der es besessen wird, eingeschränkt auf das »Allgemeine« und die unmittelbaren Schlußfolgerungen daraus; hinsichtlich der besonderen jeweiligen Festsetzungen besteht die Notwendigkeit, das Naturgesetz zu »ergänzen«, durch »Hinzufügung« zu bestimmen; die Vernunft wird »erfinderisch« tätig22. Während das Ewige Gesetz als universal und zugleich partikulär, den Umriß gebend und zugleich bis ins Einzelne erfüllend, gedacht werden 1-II, 94, 2 und ad 1-3. 1-II, 94, 6. 2o 1-II, 91, 3 und ad 1; ib. 93, 2; ib. 94, 4. 21 Der Gedanke durchzieht die Artikel 1-II, 94, 4-6. 22 Dies geschieht in der »lex humanac: ihre Bestimmungen sind »adinventae«, 1-II, 91, 3, oder »superadditae« zum N_aturgesetz, 1-II, 94, 5; d~nn?ch sind sie von ihm abgeleitet (derivatae), wenn mcht »per modum conclusiOms«, so doch •per modum determinationis« (in dem ein Erfinden nötig ist, im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit menschlichen Lebens), 1-II, 95, 2.
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muß, gibt die Position des Naturgesetzes den Raum konkret-praktischen Verhaltens der freien und schöpferischen Bestimmung durch die Vernunft frei, wobei die allgemeinen grundlegenden Prinzipien auch in der (hinsichtlich der Bestimmung im Einzelnen) freien Gestaltung des Handelns als maßgeblich und rahmengebend anwesend bleiben. Diese Anwesenheit ist demnach selbst eine praktische, und sie macht sich deshalb auch in einem praktischen Verstehen geltend; sie führt in der praktischen Wissenschaft selbst zum Ansatz einer Grundverfassung der Prinzipien der praktischen Vernunft. Es ist jedoch nicht zu erwarten, daß dieser Ansatz die Vor- und überordnung, das >>Gegenüber« eines Gesetzes mit voller Deutlichkeit hervortreten läßt, betont er doch vielmehr gerade das ursprüngliche Innewohnen der Prinzipien in der Vernunft. Sind diese ferner im Bereich praktischen Denkens Prinzipien und also gründend, so kann das praktische Denken, sofern es von ihnen abhängt, nicht wieder hinter sie zurückgehen: sie sind nicht wieder selbst »praktisch« gegründet. Sind sie endlich als letzte Gründe praktischen Verstehens in diesem immer schon als maßgeblich anwesend, so besteht im Rahmen desselben praktischen Verstehens auch kein Anlaß, nach einem gründenden Gesetzgeber zu fragen -es sei denn, es wird auf die Gründung der Natur überhaupt hin gefragt, in der sie anwesend sind. Der Charakter eines Gesetzes im Sinne der strengen Begriffsbestimmung kommt den Prinzipien der menschlichen praktischen Vernunft in voller Deutlichkeit erst dann zu, wenn auf ihre metaphysische Gründung durch den Schöpfer und Lenker der Natur selbst reflektiert wird. Es ergibt sich dann als Begriff des Naturgesetzes notwendig jener der »Teilhabe der vernünftigen Kreatur am Ewigen Gesetz«, und die Position des Naturgesetzes ist in der gleichen Weise aufzufassen wie die des Ewigen Gesetzes: sie ist Ergebnis einer Reflexion auf die Gründung dessen, was in der praktischen Erfahrung sich zeigt; sie ist nachfolgende spekulative Interpretation des praktisch Erfahrenen; ihr Ort im Rahmen der Darstellung der Summa theologiae ist eigentlich theologisch, sie ist überhaupt zu ihrer eigentlichen Bedeutung gebracht in der Kontin.uität spekulativen und praktischen Denkens, dessen nur die Theologie fähig ist. Mit dieser Überlegung ist nun die praktisch-philosophische Bedeutung des Gesetzesbegriffs wiederum stark eingeschränkt. Insbesondere der Begriff des »Naturgesetzes« kann im Rahmen der praktischen Einstellung nur seinem wesentlichen Inhalt nach, sofern er die Prinzipien der praktischen Ordnung enthält, nicht aber seiner formellen Bestimmtheit nach benutzt werden: Gott als Gesetzgeber kann nicht etwa Gegenstand eines besonderen >>praktischen Gottesbeweises« werden, er erscheint unter diesem Gesichtspunkt ebensowenig im Bereich der natürlichen praktischen Vernunft wie unter dem Gesichtspunkt der letzten Ziel-
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bestimmtheit des menschlichen Handelns23 • Unmittelbar im Praktischen erscheint Gott nur unter Voraussetzung der übernatürlichen Ordnung, in der Offenbarung, in der er das »göttliche Gesetz« positiv verordnet. § 3: Das positive Gesetz; Erscheinen der Geschichtlichkeit menschlichen Daseins unter praktischem Gesichtspunkt; die Grenze der thomistischen Ethik Das positive Gesetz ist es nun, welches eigentlich und immer im praktischen Bereich erscheint, sei es als menschliches, sei es als göttliches. Legt das »Naturgesetz« die Umrißstruktur des menschlichen Handeins fest, so ergibt sich die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit einer von der menschlichen Vernunft selbst zu treffenden Regelung des Verhaltens hinsichtlich des Besonderen - wobei noch nicht an das ganz vereinzelte Jeweilige zu denken ist. Geschieht diese Regelung im Hinblick auf das Gemeinwohl einer zur vollkommenen Gesellschaft zusammengeschlossenen Menge, und zwar durch den, dem in der Gesellschaft die Sorge für das Ganze insbesondere aufgegeben ist, in einer »öffentlichen« Satzung, die den Begriff der Promulgation erfüllt, so handelt es sich um ein Gesetz, das den Einzelnen gegenüber den Charakter der Vor- und Überordnung hat wie die Gemeinschaft selbst 24 • Offensichtlich ist hier erst recht eigentlich der Begriff des Gesetzes, wie er zuvor entwickelt wurde, gegeben: und zwar erscheint er in dieser Eigentlichkeit nur hier, sofern er im Umkreis natürlich-praktischen Verstehens aufgesucht werden soll. Am menschlichen Gesetz geht dem natürlich-praktischen Verstehen zuerst der Gesetzesbegriff auf, hier wird es konkret erfahren. Dabei ist das menschliche Gesetz in der Folge, in der es im Rahmen der theologischen Behandlung abgeleitet wird, zugleich das unvollkommenste und schwächste, und zwar infolge der Unvollkommenheit und Schwäche der menschlichen Vernunft, die in ihm gesetzgebend wirkt. Im Hinblick auf die Hinordnung des menschlichen Handeins zu einem übernatürlichen letzten Ziel, das überhaupt über die Fassungskraft der Natur hinausgeht, im Hinblick auf die Unsicherheit des menschlichen Urteilens, seine Unzulänglichkeit besonders hinsichtlich der inneren Akte, im Hinblick schließlich auf die Unmöglichkeit, durch menschliche Satzung jegliches Böse zu hindern und dieses Hindern in wirksamen Verboten durchzusetzen, bedarf es zusätzlich eines unmittelbaren göttlichen Eingriffs auf der Ebene Vgl. Kap. 8, § 1 und Anm. 19, S. 129. Ohne weiteres ist hier der •allgemeine« Gesetzesbegriff von 1-11, 90 angewandt; dieselben Charaktere werden vorgebracht zur Bestimmung des •gerechten« Gesetzes, das •in foro conscientiae« bindet, 1-11, 96, 4. 23
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der besonderen Handelnsregel, unterhalb der Ebene des Naturgesetzes'5• So vermittelt die Offenbarung das positive göttliche Gesetz als eine unmittelbar praktische und in praktischem Verstehen zugängliche Anordnung. Auch hier ist ersichtlich der volle praktische Sinn des Gesetzesbegriffes erfüllt; zudem ist dieses Gesetz höchst vollkommen, eine höhere Teilhabe am Ewigen Gesetz als das Naturgesetz selbst, wiewohl es wiederum, sofern es das dem Menschen gemäße moralische Gut regelt, als »Ableitung« aus dem Naturgesetz zu verstehen ist26 • Man könnte hier fragen, ob nicht eine Moraltheologie zu entwickeln wäre, die von der Grundlage des göttlichen Gesetzes her als »Gesetzesethik« stilisiert wäre, sogar in einem strengeren Sinne »Gesetzesethik« als er oben zu Grunde gelegt wurde27. Daß Thomas dies nicht tut, muß selbstverständlich zuerst auf theologische Gründe zurückgeführt werden. Hier wäre darauf hinzuweisen, daß das Gesetz Christi das »Gesetz der Freiheit« ist und in sich selbst wiederum der Bestimmung durch menschliches Folgern offensteht: seine Setzung ist nur hinsichtlich des absolut Heilsnotwendigen positiv gebietend; zudem wirkt es durch die innere Gnade derart, daß auch dieses Heilsnotwendige auf Grund inneren Antriebs, durch eingegossene Verfassungen gewirkt wird: der Stil der Tugendethik wird so vom göttlichen Gesetz selbst der Theologie nahegelegt2s. Was in der speziellen Lehre vom göttlichen Gesetz hervortritt, ist weit weniger sein Inhalt - der ja Gegenstand der gesamten Moraltheologie ist, und nicht notwendig unter dem Gesichtspunkt der »Gesetzlichkeit« als die Tatsache, daß nur unter dem Gesichtspunkt des positiven Eingriffs Gottes die Heilsordnung als eine geschichtliche zu fassen ist. Die Heilsordnung läuft in der Zeit ab, sie stellt sich unter die Bedingung der Zeitlichkeit des Menschen - des Menschengeschlechtes ..:., sie ordnet zeitlich wie räumlich die Erlösungstat Christi ein und gliedert so den geschichtlichen Ablauf nach verschiedenen »Zuständen« des Menschen im Verhältnis zur übernatürlichen Ordnung auf - Zustände, die weder allgemein noch dem Einzelnen als solchen zugemessen sind, sondern Strukturen besonderer, zeitlich und auch räumlich abgegrenzter Gemeinschaften, eigentlich geschichtliche Strukturen also: sie werden im Begriff des »Alten« und des »Neuen Gesetzes« gefaßt28 • Da sich in beiden Gesetzen dasselbe 1-11, 91, 4 (»unterhalb« im formalen Sinne, nicht hinsichtlich der Dignität!). Nämlich als »determinationesc, 1-11, 99, 3 ad 2; ib. 108, 2 u.ö. 27 Kap. 13, § 3. 18 1-11, 108, 1 (vgl. Anm. 33, S. 79). 18 1-11, 91, 5. - Im Hinblick auf diese Strukturen hat dann auch die der geschichtlichen Gesetzgebung Gottes voraufliegende »lex naturaec konkret geschichtlichen Sinn, vgl. 1-11, 98, 6 und Anm. 52, S. 84. u
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Gesetz und Geschichtlichkeit
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universale Gut findet, von demselben Gesetzgeber in verschiedener Weise vorgesetzt, ist ihr Unterschied nur wie der verschiedener Stufen der Vollkommenheit eines Seibigen zu verstehen, das Alte Gesetz als das Unvollkommene, das Neue Gesetz als das aus ihm erwachsene Vollkommene, dem jenes zugeordnet istao. Die Heilsgeschichte hat so den einfachen Umriß einer geradlinigen Aufwärtsentwicklung; dabei kann sehr wohl ein unterschiedliches Verhältnis des jeweiligen Menschen zu dem festen gesetzlichen Ablauf gegeben sein, ohne daß jedoch dieses nun heilsgeschichtlich jemals maßgeblich sein könnte3 1 • Maßgeblich ist wesentlich das Gesetz, der Eingriff Gottes zur konkreten Bestimmung der Struktur, und geschichtlich ist die Heilsordnung weder von ihrem Wesen her - denn auch die Engel haben eine Heilsordnung, aber keine Heilsgeschichte - noch auch vom Wesen des Menschen her - denn die Heilsordnung ist zwar dem Menschen angemessen, aber dieser ist nicht für sie maßgeblich -, sondern ausschließlich durch die Tatsächlichkeit des positiven göttlichen Gesetzes und seiner Zweiheit von »Altem« und »Neuem GesetZWesentliche