De origine mali : Die biblisch-philosophische Herkunft des Bösen insbesondere bei Thomas von Aquin und Rabbi Moshe ben Maimon 9783506788856, 9783657788859

Die Autorin untersucht die Herkunft des Bösen, vor allem bei Thomas von Aquin und Maimonides, und analysiert das Zusamme

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German Pages [577] Year 2018

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De origine mali : Die biblisch-philosophische Herkunft des Bösen insbesondere bei Thomas von Aquin und Rabbi Moshe ben Maimon
 9783506788856, 9783657788859

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De origine mali

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Studien zu Judentum und Christentum Herausgegeben von Josef Wohlmuth

Band 33

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Viktoria M.A.Vonarburg

De origine mali Die biblisch-philosophische Herkunft des Bösen insbesondere bei Thomas von Aquin und Rabbi Moshe ben Maimon

Ferdinand Schöningh

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Umschlagabbildung: Michelangelo Buonarroti 1475-1564. „Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies“, um 1509/10. Ausschnitt: Sündenfall. Fresko, Rom, Vatikan, Cappella Sistina-Sixtinische Kapelle, 6.Mittelfeld.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill nv, Leiden, Niederlande; Brill usa Inc., Boston ma, usa; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn isbn 978-3-506-78885-6

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Inhaltsverzeichnis Vorwort ix

TEIL 1 Hinführung I

Einleitung 3

II

Das Böse? – eine definitorische Annäherung 11

III

Aufbau und Vorgehen 17

TEIL 2 Philosophischer Zugang I

Einführung 21

II

Theodizee 23 2.1 Begriffsklärung 23 2.2 Biblische Angelpunkte 25 2.3 Die Theodizee-Debatte 27 2.3.1 Leibniz 29 2.3.2 Spinoza: Die Negationstheorie 42 2.3.3 Schopenhauer: Die Positivität des Bösen und die schlechteste aller möglichen Welten 44 2.3.4 Das Dilemma des Theismus: Eine Konfrontation auf mehreren Ebenen 46 2.4 Die Theodizee angesichts Auschwitz 51 2.4.1 Erklärungen auf traditioneller Basis 57 2.4.2 Auschwitz als Herausforderung an Gott oder an das Gottesbild? 70 2.4.3 Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen 75 2.4.4 Hans Jonas: Der ohnmächtige Gott 90 2.5 Modernere Ansätze in der Philosophie 100 2.5.1 Die Free-Will-Defense 101 2.5.2 Die Soulmaking-Theodicy 108

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Inhaltsverzeichnis

TEIL 3 Biblischer Zugang I

Einführung 121

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Die zweite Schöpfungserzählung: Gen 2,4b-3,24 123 2.1 Die Übertretung des göttlichen Verbots 123 2.2 Die Herkunft des Bösen gemäß Gen 2,4b-3,24 136 2.3 Die Lehre von der Erbsünde 144 2.3.1 Biblische Grundlagen 145 2.3.2 Historischer Abriss von der Antike bis zum Mittelalter 149 2.3.3 Moderne Problemkonstellation sowie neuere Ansätze 167

III

Die Erste Schöpfungserzählung: Gen 1,1–2,4a 185 3.1 Der Zustand vor der Schöpfung 186 3.2 Schöpferhandeln als Trennung und Bändigung der Chaosmächte 189 3.3 Die Herkunft des Bösen gemäß Gen 1,1–2,4a 192 3.4 Die Lehre von der creatio ex nihilo 196

IV

Das Buch Hiob und die Theodizee 217 4.1 Entstehungsgeschichte und Intention 220 4.2 Der Prolog 224 4.3 Die erste Rede Hiobs 234 4.4 Der Wunsch Hiobs nach einem Rechtsstreit mit Gott 237 4.5 Die Herausforderungsreden in Hi 29–31 239 4.6 Die Gottesreden 241 4.6.1 Erste Gottesrede und Hiobs Antwort 241 4.6.2 Zweite Gottesrede und Hiobs Antwort 242 4.7 Der Epilog 244 4.8 Hiob und die Theodizee 247 4.9 Die Herkunft des Bösen gemäß Hiob 251

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TEIL 4 Systematischer Zugang I

Einführung 261

II

Methodik 263

III

Maimonides 265 3.1 Biographie 266 3.2 Der Moreh haNewuchim 272 3.2.1 Die Bedeutung des Titels der Schrift 275 3.2.2 Die Methodik des mn 280 3.2.3 Aufbau und Sprache des mn 290 3.3 Die Ausführungen zum Bösen im mn 297 3.3.1 Das Problem der Theodizee im mn 298 3.3.2 Die Behandlung des Bösen im mn 321 3.4 Die Lehre von den beiden Trieben zum Guten und zum Bösen 341 3.5 Beurteilung: Chancen und Mängel des Geschilderten 346

IV

Thomas von Aquin 361 4.1 Biographie 361 4.2 Thomas und das Judentum 367 4.2.1 Thomas von Aquin und die Juden 368 4.2.2 Thomas von Aquin und Rabbi Moyses 375 4.3 Die Behandlung des Bösen bei Thomas von Aquin 381 4.3.1 Die thomasischen Schriften zur Thematik des Bösen 382 4.3.2 Die Konzeption des Bösen bei Thomas von Aquin 391 4.3.3 Die Herkunft des Bösen nach Thomas von Aquin 412 4.3.4 Die göttliche Vorsehung 437 4.4 Beurteilung: Chancen und Mängel des Geschilderten 490

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Inhaltsverzeichnis

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Die Herkunft des Bösen bei Maimonides und Thomas 501 5.1 Die parasitäre Wirklichkeit des Bösen 501 5.2 Die Herkunft des Bösen 506 5.3 Die Integration der biblischen Vorgaben in die Theorien 508 5.4 Die providentia dei 512 5.5 Der Ertrag der Ergebnisse 513 5.6 Auschwitz als Herausforderung für die beiden Theorien 517

VI

Schlusswort 523

TEIL 5 Verzeichnisse Abkürzungsverzeichnis 527 Bibliographie 531 Primärquellen 531 Sekundärquellen 535 Internetquellen 567

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Vorwort Das vorliegende Buch stellt eine gekürzte Fassung der Dissertationsschrift der Verfasserin dar. Die unter dem Titel „De origine mali. Biblisch-philosophisch grundgelegte Betrachtungen zur Herkunft des Bösen unter besonderer Berücksichtigung von Thomas von Aquin und Rabbi Moshe ben Maimon“ eingereichte Arbeit wurde im Mai 2017 von der Theologischen Fakultät der Universität Luzern als Dissertation angenommen. Im November 2017 wurde sie mit dem Dissertationspreis des Universitätsvereins der Universität Luzern ausgezeichnet. Für das Zustandekommen der Arbeit möchte ich mich bei meiner Familie, meinen Eltern und Geschwistern, Freunden und Bekannten bedanken, welche mich auf diesem Weg begleitet und unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wolfgang W. Müller, der die Arbeit betreut hat. Ihm und Anna Maria Rohner danke ich herzlich für die gute Zusammenarbeit an der Professur für Dogmatik und dem Ökumenischen Institut. Herrn Prof. Müller sowie Frau Prof. Dr. Verena Lenzen danke ich weiter für das Erstellen der Gutachten. Meinen herzlichen Dank spreche ich auch Herrn Prof. Dr. Frederek Musall aus, welcher mir wertvolle Anregungen und Literaturhinweise gegeben hat. Ebenso danke ich Herrn Rabbiner Dr. David Bollag sowie Herrn Prof. Dr. Moshe Halbertal für die Hilfe beim Auffinden einiger Textstellen in weiterführenden Quellentexten. Meinen besonderen Dank möchte ich auch an die Hebräische Universität Jerusalem richten, insbesondere an die Abteilung für Jüdische Philosophie, wobei hier Prof. Dr. Avinoam Rosenak sowie Prof. Dr. Caterina Rigo als Dekane speziell zu erwähnen sind, sowie an die Rothberg International School, welche es mir ermöglichten, mich im Rahmen von Forschungsaufenthalten als Gastforscherin intensiver mit der Thematik auseinanderzusetzen. Für die finanzielle Unterstützung, welche ich hinsichtlich dieser drei Forschungsaufenthalte in den Jahren 2013, 2015 und 2016 erhalten habe, danke ich der Otto-Herz-Studienstiftung, der Augustinus-Stiftung sowie dem Außenministerium des Staates Israel herzlich. Für die Unterstützung hinsichtlich der Publikation danke ich dem F. Schöning-Verlag, besonders dem Lektor, Herrn Dr. Jacobs, als Ansprechpartner sowie Frau Marie-Luise Kumbartzky, welche das Manuskript mit Blick auf die Verwendung von Doppel-S von der schweizerischen der deutschen Rechtschreibung angepasst hat. Mein besonderer Dank geht an Herrn Prof. Dr. Wohlmuth, der bereit war, meine Arbeit in seine Reihe „Studien zu Judentum und Christentum“ aufzunehmen. Für die finanzielle Unterstützung zur Deckung der Druckkosten bedanke ich mich herzlich bei der Irène

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Vorwort

Bollag-Herzheimer-Stiftung, dem Rektorat sowie der Publikationskommission der Universität Luzern. Mein größter Dank geht an Gott. Möge die Leserschaft in der vorliegenden Arbeit hilfreiche Punkte vorfinden, welche ihr hinsichtlich des persönlichen Umgangs mit der Frage nach dem Bösen helfen können. Luzern, November 2017

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teil 1 Hinführung



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‫וירא אלוהים את כל אשר עשה והינה טוב מאוד‬ „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ (Gen 1,31a eü)



‫יוצר אור ובורא חושך עושה שלום ובורא רע אני יהוה עושה כל אלה‬ „Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.“ ( Jes 45,7 eü)



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kapitel i

Einleitung Die Frage nach der Herkunft des Bösen stellt wohl eine jener zentralen Fragen dar, welche die Menschheit seit ihrer Existenz beschäftigt.1 Man mag sich zu 1 Dabei haben sich Wahrnehmung und Haltung zum Bösen im Verlaufe der Zeit durchaus verändert: „Es scheint, als seien wir sensibler geworden für das Leiden im Vergleich zu vergangenen Epochen. Die Gründe dafür sind mannigfach, und nur einige wichtige sollen kurz angeführt werden. Es ist erstens nicht zu bestreiten, dass heute vor allem durch die moderne Technik Leiden und Grausamkeiten in ganz anderen Größenordnungen geschehen können. Etwa das Böse als individuelle Strafe zu deuten, als notwendig zur Erziehung des Menschen – solche Antworten der Tradition müssen angesichts der Dimension des Grauens wohl verstummen. Zweitens steht, wenigstens in unserem Kulturkreis, das Böse in schärferem Kontrast zu einer allgemeinen Zivilisiertheit und Wohlgeordnetheit des Lebens. In einer Kultur mit Faustrecht wird ein Mord selbstverständlicher als normales Ereignis erachtet als in einer Gesellschaft mit strengem Gewaltmonopol. Drittens erscheint gerade dem homo faber wegen seines großen Vermögens, die Welt lenkend zu gestalten, all das als besonders gewichtig und befremdend, was sich, wie etwa das Leiden an einer unheilbaren Krankheit, seiner Kontrolle entzieht. […] Viertens folgt aus der Betonung des Subjektes eine Aufwertung all dessen, was dieses betrifft. Da Leiden immer etwas Individuelles ist, wird es erst dann bewusst ernstgenommen, wenn zuvor das Individuum in den Blick rückt, wie es dem Abendland seit der Renaissance in zunehmendem Maße eigen ist. Wenn zudem die Person der letzte Wert ist, der allgemein anerkannt wird, ist natürlich jeder Anschlag auf sie eine entscheidende Angelegenheit. […] Fünftens wäre zu bemerken, dass der Mensch durch die zunehmende Autonomisierung bzw. Partikularisierung immer weniger bereit ist, Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen für möglich zu halten. So tritt für das moderne Bewusstsein auch das Böse als isoliertes Phänomen in besonderer Deutlichkeit hervor, da es nicht mehr durch irgendwelche Bezüge zu anderen Dingen abgemildert wird.“ (Illies (2000), S. 411f.) Sölle nimmt die (letztlich feministisch-männerfeindlich formulierte) Position ein, das Leiden werde verleugnet, wo es nur um eine Theodizee, um eine Rechtfertigung Gottes gehe: „Ich stelle diese Fragen, weil ich den Verdacht habe, dass die Fixierung auf das Problem der Theodizee ein Ausweichen, eine Verleugnung des Leidens ist. Wenn wir das Problem auflösen in eine Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens der Unschuldigen, dann verleugnen wir es in der klassisch männlichen Theologenmanier.“ (Sölle (1988), S. 274.) Worum es dabei bei den zu analysierenden Theodizee-Entwürfen tatsächlich geht, was von ihnen bewerkstelligt werden kann und will und was nicht, wird noch gesehen werden. Dabei wird deutlich werden, dass Sölles Kritik nur bedingt stimmt, da es weder um eine Rechtfertigung Gottes, noch um das Bagatellisieren des konkreten Leidens der Menschen geht, da dieses konkrete Leid nicht in den Blick kommt und nicht gerechtfertigt werden will, sondern eine allgemeine Lösung entwickelt werden will, welche eine grundsätzliche (theoretische, allgemeine) Vereinbarkeit der erlebten, oftmals schrecklichen Welt mit dem Glauben an einen

© VERLAG FERDINAND SCHöNINGH, 2018 | doi 10.30965/ 9783506788856_0023: .8

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HINFÜHRUNG

Recht fragen, ob nicht schon genug über das Böse geschrieben und über seine Herkunft spekuliert wurde. Kann die Frage nach seiner Herkunft überhaupt befriedigend beantwortet werden?2 Eine weitere wissenschaftliche Publikation zu diesem Thema kann gewiss neue Punkte herausarbeiten – zumindest ist dies eines der Ziele der Beschäftigung mit diesem Thema –, doch wird zu weiten Teilen auch bereits Bekanntes zusammengestellt. Ist es angesichts der wahren „Flut von Aufsätzen, Monographien und Sammelbänden“3, welche die Leserschaft in den letzten Jahren überschwemmte,4 sinnvoll, noch weitere Seiten mit diesem Thema zu füllen oder stellt dieses Unterfangen nicht vielmehr eine Ressourcenverschwendung dar? Nach Meinung der Verfasserin ist es dennoch berechtigt, weiterhin zu diesem Thema zu forschen, denn solange die Frage noch nicht hinreichend ausgeschöpft und eine Antwort weiterhin ausstehend ist, kann jeder neue Gedanke zur Beantwortung dieser existentiellen Frage beitragen. Kann überhaupt jemals eine hinreichende Antwort gefunden werden oder handelt es sich bei dieser Frage nicht vielmehr um eines der zentralen Geheimnisse menschlichen Lebens? Ein Geheimnis, welches wir vielleicht erst lösen können, wenn wir in der ewigen Glückseligkeit Gott und seine ewigen Wahrheiten schauen und die Zusammenhänge der Ereignisse auf dieser Welt erkennen und dadurch erst richtig verstehen können. Wie dem auch sei: Bevor eine Beantwortung der Frage unde malum5 möglich ist, stellt sich eine grundlegendere Frage, welche dem einen oder anderen so selbstverständlich und klar in ihrer Beantwortung scheinen mag, dass er sich

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guten und allmächtigen Gott aufzeigen will. Selbstverständlich gibt es daneben aber auch praktische Entwürfe, welche bewusst das konkrete Leid in den Blick nehmen, welche allerdings eher im ethischen Bereich anzusiedeln sind und hier daher auch (weitestgehend) vernachlässigt werden. Gegen eine (theologische) Beantwortung dieser so existentiellen Frage sprechen sich etwa Dietrich/Link aus: „Die Entstehung des Bösen aber, auch die Existenz des Übels in der Welt, müssen wir als ein dunkles Rätsel stehen lassen. Theologisch ist hier nichts zu erklären.“ (Dietrich/Link (2000), S. 306.) So betont etwa auch Jüngel, dass „Entstehen des Bösen und die Faktizität der Übel […] ein dunkles Rätsel“ (Jüngel (1990), S. 161, Hervorhebung im Original.) bleiben. Hermanni/Koslowski (1998), S. 9. Nach: Ebd. Philips spricht davon, dass das Philosophieren über das Problem des Bösen geradezu zu einem „commonplace“ verkommen ist. (Nach: Philips (2005), S. xi.) Soweit die Verfasserin ergründen konnte, findet sich – in Auseinandersetzung mit Häretikern und Philosophen – die Frage unde malum zuerst bei Tertullian (160–220 n.Chr.). Es wird dabei nicht nur nach dem Woher des Bösen, sondern auch nach dem Warum gefragt, wenn er schreibt: „unde malum et quare“ (Tertullian, De praescriptione haereticorum, vii [5].).

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Einleitung

darüber noch gar keine Gedanken gemacht hat: Bevor nämlich eine Beschäftigung mit der Frage nach der Herkunft des Bösen Sinn macht, muss das Subjekt dieser Frage geklärt werden: Was ist überhaupt das Böse?6 Gibt es das Böse oder nicht vielmehr vieles Böses? Worin besteht dieses und wie äußert es sich? Wer entscheidet darüber, ob etwas als böse zu qualifizieren ist oder nicht? Wie nur unschwer ersichtlich, zieht diese eine Frage nach dem Wesen des Bösen eine ganze Reihe weiterer, damit verbundener Fragen nach sich. Die Verbindung der Frage nach dem Woher des Bösen mit der vorrangigen nach dessen Wesen kann dabei als geradezu klassisch bezeichnet werden: So wurde bereits in der Antike diese Reihenfolge der Beschäftigung mit dem Bösen herausgearbeitet. Augustinus stellte in seiner Auseinandersetzung mit dem Manichäismus heraus, dass vor einer Klärung der Frage unde malum jene grundlegendere nach seinem Wesen zu beantworten sei: quid sit malum.7 „Mit dieser Vorordnung der Wesensfrage, die seit Sokrates und Platon die Grundfrage der Philosophie ist, vor der Ursprungsfrage, folgt Augustin der Frageexposition“8 Plotins.9 Eine Antwort auf diese zunächst so einfach erscheinende Frage erweist sich als ziemlich schwierig. Worin äußert sich Böses? Wir alle haben in unserem Leben so manches Böse erfahren, sei es direkt, indem es uns widerfuhr, oder indirekt, indem wir es im Leben unserer Bekannten oder aber auch mittels der Massenmedien im Leben uns Unbekannter wahrnehmen mussten. Wir waren alle schon Opfer, aber auch Täter – teils bewusst, teils auch unbewusst – im Hinblick auf die Ausführung böser Taten. So kann eine unserer Handlungen – ohne dass wir dies intendiert hatten – für andere Menschen böse Folgen gehabt haben.10 Auch wird ein und dieselbe Situation nicht von allen gleich bewertet: 6

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Die Vorrangstellung der Frage nach dem Wesen des Bösen vor der Erörterung nach dessen Woher kennt eine lange Tradition und wurde so bereits von Plotin thematisiert. Derselben Darstellung folgten beispielsweise auch Augustinus, Thomas von Aquin und Maimonides. Nach: Hermanni (2002), S. 35f., wo auch der Verweis auf die Originalstelle bei Augustinus zu entnehmen ist. Vgl.: Plotin, Enneaden i,8, 1. Hermanni (2002), S. 36. Nach: Ebd. Dalferth hält den Gedanken der Unabhängigkeit der Folgen von den Absichten eindrücklich fest: So handeln z.B. Überzeugungstäter – Menschen also, welche aus Überzeugung glauben, sie verfolgten lautere Motive und vollbrächten gute Taten, wodurch sie das Böse, das sie tun, gar nicht wahrnehmen, da sie nicht dieses verfolgen und anstreben (nach: Dalferth (2006), S. 5.) – in der Meinung, „gute Absichten müssten in guten Handlungen resultieren und böse Handlungen könnten nur aus bösen Absichten entspringen. Doch das ist falsch. Gut gemeint, ist niemals gut getan, und Böses geschieht nicht nur dort, wo Böses gewollt oder Gutes nicht gewollt wird.“ (Ebd., S. 6.)

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HINFÜHRUNG

Worin jemand ein Übel erkennen mag, mag für den Betroffenen selbst womöglich nicht als solches erkannt werden.11 Entscheidend für die Beurteilung einer Tat ist für Dalferth daher nicht die Motivation der Handelnden: „Nicht unsere Absichten, sondern die Folgen unseres Tuns für andere entscheiden darüber, ob dieses böse ist oder nicht.“12 Diese lebenspraktischen und erfahrungsorientierten Überlegungen bilden denn auch den Ausgangspunkt der Bestimmung des Bösen bei Dalferth, wobei er diesbezüglich von „malum-Erfahrungen“13 spricht. Dabei weist er auch voller Nachdruck auf eine Gefahr hin, welche bei einer rein theoretischen und vom Leben der Einzelnen, in deren Leben sich das Böse ja je konkret ereignet, losgelösten Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Bösen aufzutreten droht: Existentielle Probleme sind stets individuelle Probleme, also Lebensprobleme bestimmter Menschen. Das bei der Auseinandersetzung mit solchen Problemen auszublenden, heißt, sie unangemessen zu behandeln. Zu Recht wird daher kritisiert, wenn Ungeheuerlichkeiten im Umgang von Menschen miteinander zu intellektuellen Problemen ‚verharmlost‘ werden oder zu werden scheinen oder wenn eine Schandtat wie Auschwitz zum abrufbaren Topos in der ethischen Debatte um Schuld und Verantwortung banalisiert wird.14 Allerdings sprengt es verständlicherweise auch den Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Herkunft des Bösen, wollte man dieses immer wieder in all seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen entfalten. So erweist es sich beinahe als unumgänglich, anstelle einer 11 12

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Nach: Ders. (2010), S. 24. Ders. (2006), S. 6. Dass es zur Wahrnehmung des Bösen kommt, ist dabei ein vielschichtiger Prozess: „Deshalb gibt es dort auch nichts Böses, wo nicht jemand durch etwas Böses erleidet oder veranlasst wird, Böses zu tun, und wo es Böses gibt, gibt es immer auch jemanden, für den es Böses ist. Es gibt Böses nur dort, wo etwas ist, das jemanden böse macht: Böses ist stets Böses für jemanden; es ist für jemanden Böses stets anhand von etwas; und es ist genau dadurch Böses, dass der, für den es böse ist, durch das, anhand dessen es ihm begegnet, Böses erleidet oder zum Tun von Bösem verleitet wird. Der Ort der Erscheinung von Bösem ist daher stets dort, wo jemand durch etwas veranlasst wird, Böses zu leiden oder zu tun; und das Medium der Erscheinung des Bösen ist stets das, wodurch jemand dazu veranlasst wird. Nur wo beides der Fall ist, wird Böses als Phänomen erlebt und die Wirklichkeit von Bösem erfahrbar.“ (Ebd., S. 47, Hervorhebung im Original.) Ders. (2010), S. 15, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 8, Hervorhebung im Original.

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Einleitung

Entfaltung der Frage an einer ganzen Reihe spezifischer Übel für die Erläuterungen von einem abstrakten Bösen zu reden und auszugehen. Dabei dürfen aber all die differenzierten konkreten Alltagsübel, auf welche Dalferth zu Recht hinweist, nicht aus den Augen verloren werden, sondern müssen als Hintergrund der Überlegungen immer dazu- und mitgedacht werden, auch wenn sie nicht permanent eigens Erwähnung finden. Betrachten wir allgemein die Übel in der Welt und konkret in unserem Leben, so fühlen wir eines mit bestimmter Gewissheit: All diese bösen Dinge sind real, so real wie nur möglich. Interessanterweise wird dem Bösen allerdings in der Tradition eine reale Existenz abgesprochen.15 Dies widerspricht unserer Erfahrung und unserem Empfinden auf das Gröbste: Soll denn das alles gar nicht wirklich existieren, was wir als so wirklich, bedrohend, zerstörend und vernichtend wahrnehmen? Dabei muss man sich eines vor Augen führen: Bei dieser Erklärung des Bösen, welche im Übrigen zwei Ausformungen kennt – jene der Privation und jene der Negation –16 geht es gar nicht so sehr darum, die Realität des Bösen zu leugnen, als vielmehr darum, den Glauben an einen vollkommen guten Schöpfer einer guten Welt angesichts der Existenz des Bösen zu wahren.17 Denn die Faktizität des Bösen in dieser Welt wird aufgrund der Erfahrung jedes Einzelnen wohl kaum geleugnet werden können. Als Vertreter der sog. Privationslehre werden im Verlaufe dieser Arbeit insbes. Maimonides und Thomas von Aquin mit ihren Erklärungsversuchen zur Herkunft des Bösen vorgestellt und ausgearbeitet werden. Dabei wird das Böse in diesem Ansatz als absentia boni bzw. als privatio boni verstanden, also als Mangel oder Abwesenheit von Gutem. Das bestimmende Element der Wirklichkeit ist und bleibt somit das Gute. Wird ein Übel wahrgenommen, so handelt es sich dabei faktisch gesehen um ein Gut, das fehlt. Es wird folglich nicht in erster Linie das Übel, sondern das fehlende Gut wahrgenommen, sodass das Böse in letzter Konsequenz etwas über das Gute aussagt. Diese Bestimmung des Bösen wurde in der neuzeitlichen Philosophie fallengelassen: Angesichts der großen Zahl an Übeln, Leid und Leiden, mit denen wir uns tagtäglich konfrontiert sehen, wird unweigerlich die provokative Frage 15

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Wie dieses „Absprechen“ zu verstehen ist, wird noch zu sehen sein. Bereits hier sei jedoch erwähnt, dass dies nicht so zu verstehen ist, als würde behauptet, die uns widerfahrenden und von uns verübten Übel geschähen nicht tatsächlich und seien nicht real. Die Aussage gestaltet sich viel komplexer, wie im Verlaufe dieser Arbeit ersichtlich werden wird. Die Unterscheidung in Privation und Negation wird im philosophischen Teil anhand der Positionen Leibnizens und Spinozas herausgearbeitet werden. Hieran wird bereits die Intention der Theodizee-Entwürfe ersichtlich: Der Glaube an einen gütigen und allmächtigen Gott soll auch angesichts der herausfordernden Realität des Bösen in der Welt plausibel gemacht werden.

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HINFÜHRUNG

aufgeworfen, ob anstelle der Bestimmung des Bösen als privatio/absentia boni nicht passender von der Bestimmung des Guten als absentia/privatio mali auszugehen sei. Diese Position wurde etwa von Arthur Schopenhauer eingenommen. Das Böse wird damit neuzeitlich als etwas Positives (nicht im Sinne einer Qualifizierung von positiv im Unterschied zu negativ, sondern im Sinne von existierend) und nicht mehr nur als ein in Abhängigkeit des Guten Stehendes und als dessen Mangel qualifiziert.18 Schopenhauer geht dabei nicht nur von der Bestimmung des Guten auf dem Umweg über das Böse aus, sondern versteht die existierende Welt darüber hinaus gar als die schlechteste aller möglichen Welten.19 Im Unterschied dazu ging etwa noch Leibniz von der besten aller möglichen Welten aus.20 Wie Schopenhauer ausführt, ist es denn auch nicht das Gute als solches, welches wir wahrnehmen, sondern erst vermittelt durch das Böse, welches weggefallen ist.21 So fasst Hermanni zusammen: „Was dem Willen gemäß verläuft, merken wir nicht direkt, sondern nur das, was ihn durchkreuzt, d. h. alles Unangenehme und Schmerzliche.“22 Allerdings stellt er heraus, dass auch diese Theorie der Erfahrung des Bösen nicht gerecht zu werden vermag.23 Hinter der Beurteilung des Bösen als Privation des Guten bzw. des Guten als Privation des Bösen steht die Frage nach der zu rekurrierenden Wirklichkeit. Dabei sind drei Möglichkeiten auszumachen: (1.) Ist es das Gute, welches die entscheidende Wirklichkeit darstellt? (2.) Oder ist es das Böse, welches die Existenz des Guten bestimmt? (3.) Oder sind vielleicht vielmehr beide Wirklichkeiten als gleichberechtigte Prinzipien zu qualifizieren, welche beide unabhängig voneinander existieren? Die ersten beiden Möglichkeiten wurden bereits kurz erwähnt: die Privationslehre als Antwort auf These 1, die „Theorie der Positivität oder Realität des Malum“24 dagegen als Antwort auf die zweite These. Von zwei gleichberechtigten Prinzipien – einem Prinzip des Guten sowie einem Prinzip des Bösen – geht beispielsweise der Manichäismus25 aus, gegen welchen Augustinus ankämpfte. Dieser strenge Dualismus aber führt soweit, dass die beiden Prinzipien auch von zwei gleichwertigen Ursprüngen herrühren. Die Konsequenz dieser Theorie erweist sich als äußert folgenreich 18 19 20 21 22 23 24 25

Nach: Hermanni (2002), S. 146. Nach: Ebd., S. 154. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 157. Ebd. Nach: Ebd. Ebd., S. 146. Zum Manichäismus s. z.B.: Böhlig (2007).

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Einleitung

für die Theologie: Zwar kann die absolute Gutheit des Schöpfergottes gewahrt werden, allerdings ist dies nur unter Aufgabe der Einheit Gottes möglich. Neben diesen guten Gott tritt eine gleichmächtige Macht der Finsternis. Die Theorie erlaubt zwar, das Böse in seiner ganzen Tiefe ernst zu nehmen, allerdings wird dadurch der Monotheismus aufgehoben. Nach diesen einleitenden Gedanken zum Bösen soll endlich der Frage nachgegangen werden, wie das Böse definiert werden kann bzw. welches Verständnis des Bösen der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt.

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kapitel ii

Das Böse? – eine definitorische Annäherung Was wird unter dem Bösen verstanden, von welchem auf diesen ersten Seiten so selbstverständlich gesprochen wurde?1 Es gilt Mehreres zu bedenken. So gibt es nicht nur ein Böses, sondern viele unterschiedliche Manifestationen des Bösen, viele unterschiedliche Übel.2 Weiter muss immer auch mitbedacht werden, dass es sich bei gut und böse wesentlich um moralische Qualifikationen und damit um Werturteile handelt. Analog zu Bewertungen wie schön oder hässlich beinhaltet so auch die Qualifikation als gut oder böse immer auch ein gewisses Maß an Subjektivität und stellt ein subjektives Urteil dar: Etwas, das für jemanden negative Konsequenzen hat und von diesem folglich als böse wahrgenommen wird, wird vom Verursacher selbst vielleicht ganz anders und eben gut wahrgenommen.3 Doch natürlich gibt es auch Erfahrungen des Bösen, welche wir alle teilen und die mit dem gesunden Menschenverstand zweifelsohne als böse herausgestellt werden, ein Urteil, dem also unter gewissen Umständen auch Objektivität zukommt. So ist zweifellos jedem Menschen mit gesundem Menschenverstand klar, dass die Gräuel der Shoah als böse zu qualifizieren sind. Doch gerade an diesem Beispiel wird die Subjektivität der Qualifizierung auf erschreckende und zugleich eindrückliche Art und Weise ersichtlich: So fühlten (oder wollten nicht fühlen) die nazistisch 1 Das Böse ist nicht nur ein tremendum fascinosum (zur Rede vom mysterium tremendum et fascinosum vgl.: Otto (1987)), also faszinierend und erschreckend zugleich, sondern es besitzt durch diese (abschreckende) Faszination durchaus auch Anziehungskraft. So kann etwa Alt von der Ästhetik des Bösen reden und hält fest, dass sich eine solche ab dem Ende des 18. Jahrhunderts entfaltet. (Nach: Alt (2000), S. 12.) In diesem Zusammenhang sei insbesondere auch auf den Marquis de Sade, von welchem sich der Begriff Sadismus herleitet, verwiesen. Wie Alt betont, ist diese ästhetische Attraktivität des Bösen seit Auschwitz ein Skandalon. (Nach: Ebd., S. 25.) 2 In der vorliegenden Arbeit werden unterschiedliche Termini für die Rede vom Bösen gleichberechtigt nebeneinander verwendet, wobei diese durchaus unterschiedliche Nuancen besitzen. So finden etwa Begriffe wie Böses, Übel, Leid oder Leiden Verwendung. Der lateinische Begriff malum deckt diese ganze Vielfalt ab (vgl. hierzu auch: Schäfer, C. (2013), S. 9f. sowie insbes. ders. (2002), S. 16–28, wo den unterschiedlichen Bedeutungen des griechischen κακόν (kakon) sowie dessen lateinischem Pendant malum nachgegangen und auf die unzureichenden deutschen Übersetzungen hingewiesen wird), weswegen es prinzipiell dieser Begriff mit seiner ganzen Bedeutungsvielfalt ist, welcher hinter den vorliegenden Ausführungen zum Bösen steht. 3 Vgl.: Dalferth (2006), S. 5f.; ders. (2010), S. 10. © VERLAG FERDINAND SCHÖNINGH, 2018 | doi 10.30965/9783506788856_003 .8

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HINFÜHRUNG

indoktrinierten Täter das Böse und Schreckliche dieses Schreckens nicht, sondern glaubten im Gegenteil, dass sie damit etwas Gutes für die Menschheit täten. So sehr kann der gesunde Menschenverstand und das gesunde Rechtsempfinden des Menschen entstellt werden. Das Böse stellt eine metaphysisch-philosophische Kategorie dar. Es gibt viele Übel, viele Konkretionen oder Manifestationen des Bösen, aber es gibt nur ein abstraktes Böses: das Phänomen des Bösen bzw. der Existenz des Bösen überhaupt.4 Von Interesse für diese Arbeit sind weniger die konkreten Übel, als vielmehr das abstrakte, philosophisch-metaphysische Problem des Bösen an sich, nicht aber verstanden als rein beurteilend-wertende Kategorie des Denkens. Die vorliegende Arbeit befasst sich in anderen Worten mit dem logischen und nicht dem praktisch-existentiellen Problem des Bösen.5 Es wird der Frage nachgegangen, weshalb überhaupt etwas Böses in dieser Welt existiert oder anders gedreht, woher das Böse als existierendes Phänomen überhaupt kommt. Hierzu werden insbesondere einzelne mittelalterliche Ansätze reflektiert und aus heutiger Sicht kritisiert, um die Stärken und Schwächen dieser Lösungsversuche herauszuarbeiten und so zu sehen, inwiefern diese Theorien auch heute noch fruchtbar sind oder gemacht werden können.6 Eine Definition des Bösen bzw. der Übel will, soll und kann dabei nicht gegeben werden.7 Um aber dennoch etwas über das „Sein“ (oder gerade Nicht-Sein) des Bösen sagen zu 4 So sind also zwei unterschiedliche Fragen nach dem Ursprung des Bösen zu unterscheiden: „Dabei ist zu unterscheiden zwischen der (anthropologisch-hamartiologischen) Frage nach den Ursachen einer konkreten bösen Tat oder einer spezifischen, als böse erfassten Erfahrung und der universalen schöpfungs- bzw. geschichtstheologischen Frage danach, woher das Böse ursprünglich kommt bzw. wie es überhaupt in die Welt kam.“ (Frey/OberhänsliWidmer (2012), S. xii.) 5 Zu dieser Unterscheidung s. beispielsweise Philips’ Definition: „Most Anglo-American analytic philosophers of religion distinguish between what is called the logical problem of evil, and what is variously called the existential, practical, emotive, pastoral or evangelistic problem of evil. The logical problem comes from the charge that it is inconsistent to believe in the existence of an all-powerful, perfectly good God, while acknowledging the existence of evil at the same time. The existential problem is how to cope with actual evils in our own lives, and in the lives of others; something said to require more than the ability to solve abstract, logical problems.“ (Philips (2005), S. xi, Hervorhebung im Original.) 6 Der Arbeit geht es also nicht darum, eine eigene Erklärung zur Herkunft des Bösen zu liefern, sondern bestehende Ansätze zu beurteilen und aufzuzeigen, welche Aspekte davon auch heute noch hilfreich für die persönliche intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Problem der Existenz des Bösen in dieser Welt angesichts des Glaubens an einen guten Gott sein können. 7 So konstatiert denn auch Schäfer für die aktuelle Zeit eine gewisse Zurückhaltung, das Böse zu definieren, „[s]ei es, dass ihre [= die wissenschaftlichen Beiträge zur Thematik des Bösen, v.v.] Verfasser […] sozusagen von einer ‚unfasslichen Evidenz des Bösen‘ und beim Leser von

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können, soll die Frage aufgeworfen werden, ob eine allfällige Definition nicht am Treffendsten mittels einer negativen Theologie, wie wir sie beispielsweise aus der in Chalcedon formulierten Christologie der Zwei-Naturen-Lehre8 kennen, gewonnen werden kann: dass das Böse nicht geschaffen und zugleich nicht ewig9 ist, dass es nicht Gott, aber auch nicht Geschöpf ist, dass es kein Sein hat, also nicht (primär) existiert und doch zugleich vorkommt und realisiert wird. Eine Definition also, die im völligen Nichts-Aussagen Etwas und zugleich Alles aussagt, indem sie die Eckpunkte angibt und so nach außen abgrenzt, um den Raum zu schaffen, in dem das Böse gedacht werden kann, ohne dabei zu sagen, wie seine „Existenzweise“ tatsächlich konkret zu denken ist. Eine solche definitorische Nicht-Definition scheint dem Bösen sowie seiner Herkunft und seinem seienden Nicht-Sein oder seinem nichtseienden Sein am Nächsten zu kommen und es am Treffendsten wiederzugeben. Bereits die verwendete Begrifflichkeit zeigt, wie schwierig es ist, die „Existenz“ des Bösen tatsächlich zu fassen – denkerisch wie auch sprachlich. Doch auch die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft vollzieht sich in demselben Problemkreis. Auf biblischer Grundlage wird daran festgehalten, dass die Schöpfung sehr gut geschaffen wurde, woraus resultieren kann, dass Gott nur Gutes geschaffen hat. Daher auch wurde im obigen Definitionsversuch betont, dass das Böse nicht geschaffen ist. Hieraus erst ergibt sich die dieser Arbeit zugrundeliegende Problematik, woher dann das Böse kommt, wenn es nicht von Gott in der Schöpfung erschaffen wurde.10 Zugleich muss aber klar sein, dass das

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einem intuitiven Vorverständnis dessen, was mit ‚böse‘ oder ‚schlecht‘ gemeint ist, ausgehen; sei es, dass sie diese intuitive Erfassung oder eine ausreichende Begriffsannäherung erst im Verlauf ihres Argumentationsgangs organisch erarbeiten oder doch zumindest anzudeuten versuchen.“ (Schäfer, C. (2002), S. 14.) Auch Berner hält den weitgehenden Verzicht auf eine Definition des Bösen in den zahlreichen Publikationen der letzten Jahre fest und betont, dass diese Frage im Gegensatz zur Frage nach der Herkunft des Bösen durchaus vom menschlichen Verstand zielführend erörtert werden kann. (Nach: Berner (2010), S. v.) Vgl.: dh 302. In diesem Zusammenhang das Adjektiv zeitlich zu verwenden, wäre verlockend, allerdings muss dies mit Vorsicht getan werden, da die Zeit selbst ja auch ein geschaffenes Element darstellt und so doch wieder die Frage auftauchen könnte, ob das Böse denn in demselben Sinne als geschaffen zu verstehen ist, wie etwa die positiven Elemente der Schöpfung wie die Zeit. So kann die Schöpfung selbst nicht in der Zeit sein, da die Zeit selbst Teil der Schöpfung ist. (Vgl. z.B. Davidson, H. (2005), S. 366f.) Die Verwendung von nicht ewig betont die Unterschiedenheit von Gott, der allein ewig ist, was aufgrund der Betonung des Nicht-Geschaffen-Seins notwendig wird. Die Frage nach der eigentlichen Bewältigung und Überwindung des Bösen wird in der vorliegenden Arbeit dagegen nicht thematisiert.

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Böse auch nicht ewig sein kann, da nur Gott Ewigkeit zukommt. Diese beiden widersprüchlichen Elemente kommen in dieser Definition zusammen, wenngleich auch nicht erläutert wird, wie dieser Widerspruch zusammengedacht werden kann.11 Eine eigene Definition zur Herkunft des Bösen muss jedoch nicht geliefert werden: Da die Ansätze von Thomas von Aquin und Maimonides analysiert und angesichts der heutigen Herausforderungen bewertet werden, ist ihr Verständnis des Bösen grundlegend für die Erörterung der Frage nach der Herkunft des Bösen in den beiden Theorien. Deutlich muss aber hervorgehoben werden, dass das Böse im Rahmen dieser Arbeit als ein metaphysisches und theologisches Problem verstanden wird, wodurch natürlich ein bestimmter Verstehenshorizont vorgegeben ist.12 Als theologische Auseinandersetzung mit dem Problem des Bösen wird das Böse als theologische Kategorie gefasst, insofern ein Bezug zu Gott und seinen Geboten gezogen wird: Böse ist das, was Gottes Schöpfungsordnung und Gottes Willen zuwiderläuft – und an diesem Zuwiderlaufenden entsteht Leid für den Menschen, sei es, dass er Opfer Zuwiderhandelnder wird und so leidet, sei es, dass er aufgrund des eigenen Zuwiderhandelns in seiner gestörten Beziehung zu Gott leidet (wenngleich ihm dies auch nicht bewusst sein mag). Ob die reine Möglichkeit des Bösen gemäß den darzustellenden Positionen bereits ein Zuwiderlaufen an der Schöpfungsordnung Gottes darstellt oder gerade nicht, wird weiter unten zu sehen sein. Eine konzise Definition des ungerechtfertigten Leids, welches ebenfalls von großer Bedeutung für den Umgang mit dem Bösen ist, da gerade dieses zu einer gravierenden Problemkonstellation führt, wie etwa exemplarisch in der biblischen Erzählung von Hiob, liefert Streminger: Es gibt ungerechtfertigtes Leid. Es ist dies jenes Leid, das nicht zur Verwirklichung eines größeren Gutes dient, und es gibt Umstände (wie Erdbeben, Seuchen, Missbrauch menschlicher Freiheit), die zu solchem Leid führen. Übel werden also Dinge genannt, die wir als nicht sein sollend 11

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Dies ist auch ein Charakteristikum der hypostatischen Union: In Christus kommen die beiden Naturen (göttliche und menschliche) zusammen, wie dies aber geschieht, wird – ebenfalls mit sich eigentlich gegenseitig ausschließenden Widersprüchen (unvermischt, unverändert, ungeteilt, ungetrennt), die in der Definition der Zwei-Naturen-Lehre dennoch zusammenfinden – offen gelassen. (Vgl.: dh 302.) Im Rahmen dieser Arbeit wird der Fokus auf Positionen aus Juden- und Christentum gelegt. Der Islam als die dritte monotheistische Religion wird dabei nicht direkt angesprochen. Muslime werden allerdings gerade auch bei den philosophischen Grundlagen des Rambam, aber auch des Aquinaten immer wieder erwähnt. Mit Blick auf den Umgang mit dem Problem des Bösen im Islam sei an dieser Stelle nur beispielhaft auf eine überblickende Darstellung verwiesen: Aslan (2001).

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erleben: alle Formen ungerechtfertigten Leids sowie alle Zustände, die zu ungerechtfertigtem Leid führen.13 Mit Dalferth lässt sich bei den vielfältigen Formen des Bösen doch eine Gemeinsamkeit herausarbeiten: „[S]tets stört und zerstört es Leben auf sinnlose und sinnwidrige Weise. Es unterbricht die gewohnten Kontinuitäten, Vertrautheiten, Ordnungen und Sinnstrukturen des Lebens, ohne Neuanfänge anzubahnen oder Anschlüsse zu ermöglichen.“14 Nach diesen Ausführungen zum Verständnis des Bösen soll in einem nächsten Schritt der Aufbau der vorliegenden Arbeit vorgestellt werden.

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Streminger (1992), S. 49, Hervorhebung im Original. Dalferth (2011), S. 10, Hervorhebung im Original.

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kapitel iii

Aufbau und Vorgehen Die Grobgliederung der Arbeit erweist sich als dreiteilig: In einem ersten, philosophischen Teil wird die Thematik der Theodizee aufgegriffen, darauf folgt ein biblischer Teil, welcher einige mögliche Antworten zur Herkunft des Bösen auf biblischer Basis thematisiert, worauf zum Schluss der eigentliche Hauptteil der Arbeit folgt, welcher als systematisch qualifiziert werden kann. Im philosophischen Teil wird die Theodizee-Debatte der Aufklärung anhand einiger beispielhafter Positionen geschildert: Leibniz, Spinoza und Schopenhauer. Zur Auswahl gerade dieser drei Positionen und Weglassung anderer, wie etwa jene Voltaires oder Kants, wird später mehr gesagt werden. Die drei gewählten Positionen, dies sei bereits an dieser Stelle erwähnt, sind als Privations-, Negations- bis hin zu Eliminationstheorien zu qualifizieren. Anschließend wird die aktuelle Debatte anhand einiger maßgeblicher neuerer Entwürfe in den Blick genommen, wobei insbesondere die Herausforderung, welche die Shoah an die Theologie stellt, im Fokus liegt. Mit Blick auf eine Auseinandersetzung mit der Shoah im engeren Sinne werden insbesondere Hannah Arendts Theorie von der Banalität des Bösen sowie Hans Jonas’ Postulat vom ohnmächtigen Gott geschildert. Weiter werden zwei große Konzepte aus dem englischen Sprachraum debattiert, die Free-Will-Defense sowie die Soulmaking-Theodicy. Der biblische Teil nimmt drei Erzählungen in den Fokus: Die beiden Schöpfungserzählungen sowie das Buch Hiob. Auch hier wird die Auswahl gerade dieser Texte im weiteren Verlauf ersichtlich werden. Im systematischen Teil werden sodann zwei mittelalterliche Positionen, eine jüdische (Maimonides) sowie eine christliche (Thomas von Aquin), betrachtet und anschließend direkt miteinander verglichen. Gerade auch ihr Umgang mit den biblischen Vorgaben, welche im zweiten Teil dieser Arbeit erarbeitet werden, wird interessant sein. Um die Tauglichkeit der beiden Theorien für die heutigen Herausforderungen zu prüfen, müssen sie auf ihre Konsequenzen hinsichtlich des großen Einschnitts im 20. Jh., der Shoah, untersucht werden. So bilden letztlich alle drei Teile ein dicht gewobenes Netz, indem letztlich kein Teil ohne den anderen auskommt. Dabei wird vorwiegend hermeneutisch1 vorgegangen, indem Texte in ihrer Zeit, aber auch aus heutiger Perspektive kritisch interpretiert werden. Insbesondere für den biblischen Teil ist zu betonen, dass dieser methodisch gesehen nicht den exegetischen Standards nachkommt. Dies stellt jedoch kein Defizit dar, geht es 1 Die Methode der Hermeneutik wird im systematischen Teil ausführlicher dargestellt werden.

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an dieser Stelle doch nicht um eine exegetische Auseinandersetzung, sondern darum, die Aussage der biblischen Texte hinsichtlich des Bösen herauszukristallisieren, um so im systematischen Teil beurteilen zu können, ob und wie diese Inhalte in die Theorien des Maimonides und des Thomas Eingang fanden. Zu Beginn jedes Teils wird der Feinüberblick thematisiert werden, sodass der Leser und die Leserin zu jeder Zeit wissen, wo innerhalb der Arbeit sie sich befinden und was sie an der jeweiligen Stelle erwartet. Damit soll nun der erste (philosophische) Teil detaillierter vorgestellt werden.

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Einführung Im philosophischen Teil soll als erstes die Theodizee-Debatte thematisiert werden. Diese wird dabei nicht vollumfänglich dargestellt, sondern lediglich anhand dreier Positionen angerissen: Leibniz, Spinoza und Schopenhauer. Die gewählten Theorien stehen dabei in Verbindung mit den im systematischen Teil gewählten Ansätzen, woraus auch die Auswahl der hier zu betrachtenden Theorien hervorgeht. Es wird sich zeigen, dass gerade die Position Leibnizens in großem Stile von Thomas von Aquin – dies ist weitgehend bekannt –, aber auch von Maimonides – und dies ist im Bereich der „christlich-westlichen“ Philosophie nahezu unbeachtet – beeinflusst ist. Die Autorin erhofft sich, mit der vorliegenden Arbeit gerade in diesem Bereich eine Lücke zu schließen und so auch auf christlicher Seite das Bewusstsein um Leibniz’ Abhängigkeit, gerade auch mit Blick auf seine angeblich größte Innovation der Dreiteilung des Bösen,1 zu schärfen. Weiter soll auch die neuere Entwicklung an einigen Theorien aufgezeigt werden. Hierbei wird zum einen die Frage nach einer Theodizee angesichts Auschwitz aufgegriffen, zum anderen werden auch die beiden in der englischen Diskussion maßgeblichen Ansätze vorgestellt. Gerade die Thematik der Theodizee nach Auschwitz kann dabei nur gestreift werden, da es sich hierbei um ein riesiges Themenfeld handelt. Es werden zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen gemacht, wobei insbesondere Entwürfe gestreift werden, welche dem traditionellen Grund verhaftet bleiben. Weiter werden aber auch zwei vieldiskutierte und auch kontroverse Ansätze ausführlich dargestellt. Es wird der Frage nachgegangen, was unter der Banalität des Bösen (Hannah Arendt) zu verstehen ist, wobei auch Parallelen zu Erkenntnissen in der Psychologie aufgezeigt werden. Weiter wird in Betracht gezogen, welche Konsequenzen aus der Aufgabe des traditionellen Gottesbegriffs folgen, wenn nämlich wie bei Hans Jonas das Attribut der Allmacht fallen gelassen und Gott – aber auch die Welt – damit völlig neu bestimmt wird. Im angloamerikanischen Raum ist es insbesondere die Betonung des freien Willens, welche herangezogen wird, um das Problem der Vereinbarkeit Gottes mit der Existenz des Bösen 1 Auf jüdischer Seite dagegen ist diese Abhängigkeit Leibnizens von Maimonides hinsichtlich seiner Dreiteilung des Bösen hinlänglich bekannt und erforscht. Beispielhaft sei hier verwiesen auf Rudavsky (2010), S. 141; zu Leibniz‘ Aufnahme des Moreh Newuchim allgemein s. z.B.: Goodman (1980).

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zu lösen. Daneben gehört aber auch die Vorstellung des Bösen zum Zweck der charakterlichen Vervollkommnung des Menschen zu den vieldiskutierten neueren Ansätzen. All diese unterschiedlichen Herangehensweisen der Moderne an die Theodizee werden auf den folgenden Seiten unter dem Stichwort Theodizee abgehandelt.

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Theodizee Setzt man sich mit der Herkunft des Bösen auseinander, sieht man sich unausweichlich auch mit dem Problem der Theodizee konfrontiert. Zunächst soll eine kurze Erläuterung dessen geboten werden, welcher Problemkomplex mit diesem Begriff bezeichnet wird, wobei auch der Terminus selbst zu untersuchen ist. Erst im Anschluss daran wird die darum entfachte Debatte anhand einiger Beispiele geschildert. Wenden wir uns also der Begriffsklärung zu, um eine Annäherung an den damit bezeichneten Inhalt zu erreichen. 2.1

Begriffsklärung

Wie Dalferth darlegt, wurde der Begriff Theodizee erstmals von Leibniz eingeführt und zwar in Anlehnung an Röm 3,5.1 Paulus schreibt dort: „Wenn aber unsere Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes (θεοῦ δικαιοσύνη, v.v.) bestätigt, was sagen wir dann? Ist Gott – ich frage sehr menschlich – nicht ungerecht, wenn er seinen Zorn walten lässt?“ (Röm 3,5 eü) Dieses griechische Wortpaar θεοῦ δικαιοσύνη (theu dikaiosünè) fügte Leibniz zu dem einen Begriff der Theodizee zusammen.2 Anhand der ursprünglichen Begrifflichkeit wird auch ersichtlich, womit sich die mit diesem Terminus umschriebene Thematik beschäftigt: mit der Gerechtigkeit Gottes, genauer gesagt mit der Rechtfertigung Gottes bzw. des Gottesglaubens3 angesichts des Bösen in der Welt.4 Mit 1 Nach: Dalferth (2010), S. 160. 2 Allerdings behauptet etwa Dearey, dass der Begriff viel weiter zurückreicht, nämlich bis zu den alten Griechen. (Nach: Deary (2014), S. 5.) 3 „Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass es der Theodizee zumindest in der Gegenwart ausschließlich um die Rechtfertigung des Glaubens an Gott geht, nicht aber um die Rechtfertigung Gottes selbst. Gott hat unsere Rechtfertigung nicht nötig, wohl aber der Glaube an ihn.“ (Stosch (2013), S. 7, Hervorhebung im Original.) 4 Wie Kreiner hervorhebt, hat sich diese Sichtweise gerade durch die Kritik der Gottesbeweise verändert, indem es nun nicht mehr um die Rechtfertigung eines in seiner Existenz bewiesenen Gottes gehen kann, sondern der Fokus auf einer Verteidigung des Glaubens und damit auch gewisser unbewiesener Gottesprädikate liegt. (Nach: Kreiner (2005), S. 24.) Neuhaus betont, dass die Frage nach der Theodizee nicht nur für Gläubige angesichts der erfahrenen Wirklichkeit drängend ist, um mit dieser umgehen zu können, sondern auch vom

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Kants klassischer Definition lässt sich das Programm der Theodizee wie folgt wiedergeben: Unter einer Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem […] Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt. – Man nennt dieses, die Sache Gottes verfechten; ob es gleich im Grunde nichts mehr als die Sache unserer anmaßenden, hiebei [sic!, v.v.] aber ihre Schranken verkennenden, Vernunft sein möchte5. Dabei handelt es sich bei dieser Frage nicht um eine neuzeitliche Erscheinung, wie man glauben könnte, wenn man sieht, dass der heute geläufige Fachbegriff erst im ausgehenden 17. bzw. frühen 18. Jh.6 gebildet worden ist.7 Vielmehr stellt die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen eine Grundfrage menschlicher Existenz, welche sich unter der Gegenwart Gottes stehend weiß und versteht, überhaupt dar und ist somit im menschlichen Denken des Bösen sowie in der menschlichen Auseinandersetzung damit omnipräsent und Protestatheismus aufgenommen werde, indem gerade die Ansicht, es könne überhaupt kein irgendwie gerechtfertigtes oder zu rechtfertigendes Leid geben, zur Ablehnung der Existenz Gottes im Protest angesichts des Leids führt. (Nach: Neuhaus (1996), S. 17f.) Davies nimmt eine Nuancierung vor, wenn er Theodizee nicht als Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen definiert, sondern das Kunstwort dahingehend interpretiert, dass damit der Versuch unternommen werde, aufzuzeigen, dass Gott gerecht sei trotz der Gegenwart des Bösen in der Welt. (Davies, B. (2010), S. xi.) Der Begriff Rechtfertigung ist insoweit offener, als er lediglich zu besagen versucht, dass das Zulassen von Bösem in dieser Welt – sei es als hypothetische Möglichkeit oder als tatsächliche Realität – gerechtfertigt werden kann und so die Existenz des Bösen mit dem Glauben an einen guten, allmächtigen und allwissenden Gott zu vereinbaren ist. Die Rede, dass Gott gerecht ist, nimmt dagegen von vornherein juridischere Züge an, indem Gott – der richtende, strafende –, welcher das Böse verhängt, aber eben gerecht verhängt, in den Blick gerät. 5 Kant (1975), S. 105. Hierbei wird zweierlei für unsere Fragestellung Interessantes ersichtlich: 1. Das Böse wird mit dem Zweckwidrigen identifiziert; 2. wird die Möglichkeit einer gelingenden Theodizee bereits im Titel der Schrift (Über das Misslingen aller Philosophischen Versuche in der Theodizee) verneint. 6 Der gleichnamige Essay Leibnizens erschien 1710, den Begriff prägte er jedoch bereits 1697. (Nach: Böhnke (2007), S. 73.) 7 So streicht beispielsweise auch Sentis heraus, dass der Begriff – wenngleich er auch erst in der im 18. Jh. entfachten Debatte entwickelt wurde – für jegliche Theorien angewendet werden kann, welche sich mittels der Vernunft mit dem Bösen auseinandersetzen. (Nach: Sentis (1992), S. 25.) So können also auch bereits ältere Theorien, welche sich mit dem Bösen auf intellektueller Ebene befasst haben, begründeter Weise als Theodizee-Versuche bezeichnet werden, auch wenn eine entsprechende Bezeichnung für diese Theorien eigentlich anachronistisch ist.

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in höchstem Maße drängend.8 Durch alle Zeiten der Menschheitsgeschichte hindurch konfrontiert sie den Menschen mit einer unausweichlichen intellektuellen, aber auch emotionalen Herausforderung. Diese immer wieder neu an den Menschen herangetragene Herausforderung bringt entscheidende Konsequenzen für das Verständnis seiner Umwelt, seiner selbst sowie seiner Relation zu Gott mit sich: In entscheidendem Maße hängt die Frage, ob angesichts der schrecklichen irdischen Realität weiterhin von einem guten Gott ausgegangen werden kann oder nicht, von der Antwort auf die Frage nach der Theodizee ab. 2.2

Biblische Angelpunkte

Bereits im Buch Hiob sehen wir uns mit einem eindrücklichen Beispiel dieser intellektuellen Debatte, welche an der existentiellen menschlichen Lebenserfahrung und -wirklichkeit festgemacht wird, konfrontiert. Hiob – der Inbegriff des Gerechten und Gottesfürchtigen – wird auf Herz und Nieren mit Leid geprüft. Dieser Archetyp des gerechten und unschuldig Leidenden wird dazu entwickelt, um die alte, klassische Begründung des menschlichen Leidens, welche einen kausalen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen proklamiert, als falsch und unzureichend aufzuweisen und damit zurückzustoßen.9 Das Buch Hiob setzt damit einen folgenreichen Paradigmenwechsel in Gang: War in biblischer Perspektive bis anhin das Leid vornehmlich als gerechte Strafe, die von Gott über die Sünder verhängt wird, erachtet worden,10 wird dieser 8

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So lässt sich mit Thyssen konstatieren: „Wer an Gott festhält, wird ihn kaum freihalten können von der Verantwortung auch für die schrecklichen Seiten der Wirklichkeit“ (Thyssen (2012), S. 6.). Eine ausführliche Hiobdeutung erfolgt im biblischen Teil dieser Arbeit. In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf die Darstellung in den beiden Königsbüchern hingewiesen, in welchen die gesamte Geschichte der beiden Königreiche Israel und Juda unter dem Aspekt der Treue bzw. des Abfalls von Gottes Bund betrachtet und der Untergang der Reiche als Strafe Gottes für die Frevel des Volkes, welches anderen Göttern und an anderen Orten als im Heiligtum in Jerusalem Opfer darbrachte, und für die zahlreichen abtrünnigen Könige, welche das Volk in ihrem Irrtum mitrissen, gedeutet wird. Der gesamte Geschichtsverlauf wird in der Perspektive des Strafgerichts Gottes vorgestellt und Gott als der gerecht Strafende gezeigt: Er lässt Unheil über die Frevler und Brecher des Bundes kommen, kehren die Abtrünnigen aber wieder um und wandeln auf dem ihnen von Gott aufgezeigten Weg, dann lässt er das Unheil an ihnen vorüberziehen. So blieb etwa das Südreich Juda dank der Kultreform durch König Joschija von der drohenden assyrischen Eroberung verschont. (Vgl. z.B.: Lux (2012), S. 90; weiter auch Kraemer, D. (1995), S. 21.) Kraemer hält fest, dass sich der wohl wichtigste Ausdruck des individuellen Zusammenhangs von Sünde und Strafe beim Propheten Ezechiel findet, näherhin in seiner Behandlung der göttlichen Gerechtigkeit in Ez 18. (Nach: Ebd.)

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PHILOSOPHISCHER ZUGANG

Begründungshorizont nun unwiderruflich aufgesprengt.11 Das Bewusstsein setzt sich durch, dass nicht jeder, der leidet, selbst dafür verantwortlich ist, und dass auch nicht jeder, über den kein Unheil kommt, unschuldig ist. Dieselbe Erkenntnis finden wir auch in zahlreichen Psalmen. Als Beispiel sei Ps 73 genannt: Die Frevler leiden ja keine Qualen, ihr Leib ist gesund und wohlgenährt. Sie kennen nicht die Mühsal der Sterblichen, sind nicht geplagt wie andere Menschen. […] Wahrhaftig, so sind die Frevler: Immer im Glück, häufen sie Reichtum auf Reichtum. Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld. Und doch war ich alle Tage geplagt und wurde jeden Morgen gezüchtigt. (Ps 73, 4–5.12–14 eü)12 Die menschliche Erfahrung, dass es den Ungerechten scheinbar so gut geht und an nichts fehlt, die Gerechten dagegen von Leid gebeutelt sind, stürzt Gott bzw. besser gesagt den Menschen mitsamt seinem Gottesbild und Gottesverständnis in eine existentielle Krise. Es muss eine theologisch befriedigende und an der Wirklichkeit nachvollziehbare Erklärung für diese Ungerechtigkeit gefunden werden. Vermag die Theologie es nicht, dieser Anforderung gerecht zu werden, so hebt sie entweder Gott auf oder verfällt in ein negatives Gottesbild, in welchem uns Gott als ein willkürlich Handelnder und Strafender gegenübertritt. So oder so steht die Vorstellung eines liebenden, gerechten, allwissenden und allmächtigen Gottes auf der Kippe.13 Es muss sich theologisch stringent aufzeigen lassen, wie der aktuelle Zustand der Welt – ein Zustand voller Ungerechtigkeit, Unrecht und Leid – mit der Existenz ebendieses Gottes vereinbar ist. Es bleiben nur drei Möglichkeiten: 1. Entweder Gott existiert zwar, allerdings entspricht unsere Vorstellung Gottes nicht der Realität: von den drei klassischen Gottesattributen der Allmacht, Allwissenheit und Güte können nicht alle drei nebeneinander bestehen (weshalb genau, wird weiter unten aufgezeigt werden). 2. Die Existenz Gottes ist angesichts der Realität zu verneinen. Oder aber 3. die Existenz Gottes sowie seine Identität sind in der Form der drei Attribute als gegeben anzunehmen und die Lebenswirklichkeit des Menschen irgendwie damit im Nachhinein in Einklang zu bringen. An der 11 12 13

Wobei sich gerade im Judentum die Linie des Tun-Ergehen-Zusammenhangs auch in der nachfolgenden Zeit weiter durchgezogen hat. (Vgl. z.B.: Kraemer, D. (1995), S. 21.) Doch finden sich im Psalter auch zahlreiche Beispiele für den Tun-Ergehen-Zusammenhang von Sünde und Strafe. (Vgl. z.B.: Ps 38,2–4.) Gerade die Vereinbarkeit der beiden Attribute Allmacht und Allgüte bzw. Liebe lösen dabei den Konflikt mit der Thematik des Bösen aus. (Vgl. z.B.: Weber, S. (2013), S. 18; Kenny (1988), S. 550.)

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Existenz sowie an der Gottesvorstellung könnte damit nicht gerüttelt werden, vielmehr müsste eine Versöhnung der beiden Pole Gott und Wirklichkeit angestrebt werden. Im Gegensatz zu den ersten beiden Möglichkeiten bildet hier nicht der Erfahrungshorizont den Ausgangspunkt, von dem aus auf Gott geschlossen bzw. dieser eben gerade negiert wird, sondern es wird die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und Gott zum gegebenen Ausgangspunkt erhoben, von dem aus man sich der Wirklichkeit nähert. Negativ und etwas zugespitzt ausgedrückt wird die allgemein-menschliche Erfahrung auf das vorhandene Gottesbild zurechtgebogen und damit so gut wie möglich vereinbar gemacht. Die unbestreitbare Existenz des Bösen stellt eine ernstzunehmende Infragestellung der Existenz Gottes dar.14 Im Hinblick auf nichts anderes ist die Richtigkeit der Existenz Gottes wichtiger, aber zugleich auch an nichts schwieriger zu erweisen. Das Problem des Bösen und das Gottesbild sind untrennbar miteinander verknüpft. So hält Dalferth fest, dass sich das Verständnis von Gott und das Verständnis des Bösen gegenseitig beeinflussen.15 Damit ist der Punkt erreicht, an welchem aufzuzeigen ist, wie diesem Problemkreis in der Theodizee-Debatte begegnet wurde. 2.3

Die Theodizee-Debatte

Die klassische Theodizee-Debatte – eine Debatte, welche mehr in der Philosophie als in der Theologie anzusiedeln ist – stellt ein Phänomen der Neuzeit dar. Wie bereits betont, handelt es sich bei diesem Problem aber um eine Fragestellung, die sich dem Menschen schon viel länger stellt. So wird das Problem, welches durch die Existenz des Bösen an das Gottesbild herangetragen wird, bereits von Epikur in klassischer Weise beschrieben: Gott will entweder die Übel nicht beseitigen und kann es nicht; oder er kann es, will aber nicht; oder er will es weder noch kann er es; oder er will es und kann es. Wenn er es will, aber nicht kann, ist er schwach, was bei Gott nicht der Fall ist. Wenn er es kann und nicht will, so ist er neidisch, was Gott ebenso fremd ist. Wenn er es weder will noch kann, so ist er sowohl neidisch als auch schwach und daher auch kein Gott. Wenn er es aber will und kann, was allein Gott zukommt, woher stammen dann die Übel oder warum beseitigt er sie nicht?16 14 15 16

Nach: Dalferth (2010), S. 115. Nach: Ebd., fn 29 S. 92. Epikur, zitiert nach: Ebd., S. 41, wo sich auch der Verweis auf die Originalstelle findet.

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Die Aufnahme dieses Durchspielens unterschiedlicher Möglichkeiten Gottes angesichts des Bösen im Kontext der christlichen Gottesvorstellung im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Theodizee ist streng genommen nicht legitim, da es Epikur erstens um etwas anderes ging und er zweitens auch von einem anderen Gottesbild ausging.17 Epikur ging es darum, den religiösen Rekurs auf die Götter angesichts der bedrängenden Wirklichkeit des Bösen als unbrauchbar zu problematisieren, nicht aber darum, die Existenz von Gott bzw. Göttern in Frage zu stellen: Mit dem Bösen müssen die Menschen selbst fertig werden, der Rekurs auf Gott bzw. Götter kann ihnen dabei nichts helfen. Epikurs Argument ist kein Theodizeeargument, sondern ein Protest gegen den Kosmosgedanken der griechischen Tradition18. Es geht also um den Ausweis, dass die Götter keinen Einfluss auf das menschliche Leben haben.19 Mit seiner Kritik will er folglich das Gottesbild der Menschen korrigieren, nicht aber Kritik an den Göttern üben.20 Die eigentliche hier zu behandelnde Debatte rund um die Theodizee ist im 18. Jh. anzusiedeln.21 In der folgenden Darstellung werden wichtige Positionen wie etwa jene Kants weggelassen. Es sollen insbesondere Positionen zur Sprache kommen, welche wie die Positionen der beiden im systematischen Teil zu analysierenden Ansätze auf jüdischer wie christlicher Seite von der Vorstellung der Privation bestimmt sind – sei es, indem sie diese aufgreifen und weiterentwickeln oder indem sie diese in ihr Gegenteil verkehren. Leibniz’ optimistisches Modell sollte durch die Erfahrung des großen Erdbebens in Lissabon im Jahre 1755 in seinen Grundfesten erschüttert werden. Hatte diese positive Sichtweise die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmt, so veränderte sich die Lage nach Lissabon grundsätzlich.22 Als neue Herausforderung nach 17 18 19 20

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Nach: Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Nach: Ebd. Doch die Existenz des Bösen kann auch zu einer anderen Schlussfolgerung führen: Anstelle einer Kritik an der Gottesvorstellung kann die Existenz des Bösen die Leugnung der Existenz Gottes zur Folge haben, so geschehen bei Sextus Empiricus. (Nach: Ebd., S. 43.) Nach: Ebd., S. 159. Eine gute Überblickseinführung zu den unterschiedlichen Positionen in der Theodizee-Debatte findet sich bei Hermanni, genauer gesagt in seiner Habilitationsschrift, auf welche in der Folge viel zurückgegriffen werden wird: Hermanni (2002). Vgl.: Ammicht-Quinn (2007), S. 112; dies. (1992), S. 72. Als Reaktion auf das Erdbeben von Lissabon veröffentlichte Voltaire (1696–1778) im Jahre 1756 eine gegen das optimistische Weltbild gerichtete Schrift: Poème sur le désastre de Lisbonne. Ebenso folgte 1759 eine

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Lissabon stellte sich im 20 Jh. die Erfahrung der Shoah heraus. Auch durch dieses Ereignis wurden die Theodizee-Entwürfe in ihren Grundfesten erschüttert, sodass neue Wege beschritten werden mussten, um das Geschehene mit dem Glauben an Gott in Einklang bringen zu können – soweit dies überhaupt möglich ist. Der Beginn der modernen Theodizee-Debatte kann mit Leibniz angesetzt werden, dessen Überlegungen zur Herkunftsbestimmung des Bösen in der Folge dargestellt werden. 2.3.1 Leibniz Den Ausgangspunkt von Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716)23 Ausführungen bilden die Bestimmungen des christlichen Gottesbildes,24 von dem er kein Jota abzuweichen bereit ist, sondern die er als gegebene Voraussetzung seiner Überlegungen annimmt. Aus dieser Tatsache folgt das unausweichliche Problem der Existenz des Bösen.25 Wie es zu dieser Problemverschärfung bei Leibniz kommen kann, wird von selbst ersichtlich, wenn man die Gottesbestimmung bei Leibniz betrachtet: „Gott weiß alles, was möglich ist, weil er vollkommene Weisheit ist; er will das Beste, weil er vollkommene Güte ist; und er schafft das Bestmögliche, weil er vollkommene Macht ist.“26 Hieraus ergibt sich die Frage nach dem Bösen in der Welt. In der Folge werden zwei zentrale Elemente in Leibniz’ System herausgearbeitet: die Theorie von der besten aller möglichen Welten sowie die Erklärung des Bösen im Sinne einer Privation.

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satirische Novelle mit dem Namen Candide ou l’optimisme, in welcher sich Voltaire gegen Leibniz’ Theorie der besten aller möglichen Welten richtet. Auf diese Schriften wird in der folgenden Darstellung nicht eingegangen. Die Darstellung der Position Leibnizens richtet sich insbes. nach: Hermanni (2002), S. 163–219, wo auch die Originalstellen in Leibniz’ Schrift vermerkt sind. Erst bei Hegel begegnet uns gemäß Neiman die erste nichttheologische Auseinandersetzung eines Philosophen mit dem Problem des Bösen. (Nach: Neiman (2004), S. 142.) Wobei Sentis herausstreicht, dass die Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen – also die Theodizee – keineswegs den wahren Kern der Essais de Théodicée bildet: „Sous une apparente proximité de vocabulaire avec la théologie spéculative, la théodicée de Leibniz apparaît surtout comme l’effort d’un métaphysicien pour expliquer la totalité de l’étant. Le cœur des Essais de Théodicée n’est pas sans doute pas la justification de Dieu, mais l’usage à cet effet du célèbre principe de raison suffisante. Dieu est en effet lui-même perçu grâce à ce très puissant principe. La création, l’activité libre de la créature, le mal, n’y échapperont pas non plus. Le principe de raison apparaît véritablement comme le principe suprême.“ (Sentis (1992), S. 260, Hervorhebung im Original.) Leibniz’ Entwurf über die Theodizee entstand in Auseinandersetzung mit Bayle, welchen er auch mehrfach in seinem Werk erwähnt. (S. hierzu z.B.: Leibniz, Theodicee ii, §§ 215–219.) Dalferth (2010), S. 183.

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2.3.1.1 Die Theorie der bestmöglichen Welt Auf der Grundlage der leibnizschen Gottesbestimmung drängt sich unweigerlich die brennende Frage auf, wie doch angesichts eines so zu bestimmenden Gottes, der das Gute wählt und das Bestmögliche verwirklicht, Böses in einer von ihm so geschaffenen Welt überhaupt vorkommen kann.27 Leibniz löst dieses Problem in seinem 171028 erschienen Essay de Théodicée,29 indem er antwortet, dass die Welt, wie sie ist – mit all ihren Übeln –, die bestmögliche30 ist.31 Es ist undenkbar, dass eine andere Welt – ganz ohne Übel – besser als die bestehende wäre, denn wäre dies der Fall, so hätte Gott jene und nicht

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Nach: Ebd., S. 184. Bei Dearey etwa findet sich als Erscheinungsjahr 1709. (Nach: Dearey (2014), S. 5.) Interessanterweise adaptierte Moses Mendelssohn Leibnizens Theodicée – ein Umstand, der nahezu unbekannt sei – und setzte sich dabei durchaus kritisch damit auseinander, indem er an mehreren Stellen von Leibniz abweicht, so insbesondere bei der Frage nach der Vorsehung, welche bei Leibniz christlich geprägt war, daneben ersetzte er aber auch die scholastischen Zitate durch Stellen aus dem Alten Testament sowie aus dem Talmud. (Nach: Bourel (1988), S. 139–141, wo sich auch einschlägige Literaturhinweise finden.) Leibniz ist hierbei stark von Maimonides und Thomas von Aquin beeinflusst. Pröpper etwa hält fest, dass Leibniz hinsichtlich der bestmöglichen Welt wohl reichlich auf Augustinus zurückgreift. (Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1003.) Wie Kermani betont, findet sich dieser Gedanke aber auch auf islamischer Seite, wobei keine Abhängigkeit anzunehmen sei: So gilt für die Theodizee-Entwürfe Leibnizens und al-Ghazalis (1058–1111), dass „beide voneinander unabhängig, aber bis in die Wortwahl identisch die These von der besten aller möglichen Welten vertreten.“ (Kermani (2011), S. 95.) Dieser Umstand könnte wohl eher von der Abhängigkeit von Maimonides herrühren, der seinerseits wiederum stark von muslimischen Denkern beeinflusst war. Um den Gedanken zu fassen, wie ein guter Gott eine Welt mit Übeln schaffen konnte, nimmt Leibniz eine Unterscheidung im Willen Gottes vor: Es gibt zum einen den vorgehenden Willen, welcher einzig das Gute will; zum anderen gibt es aber auch den nachfolgenden Willen, welcher abwägt, was möglich ist, mit anderen Worten: Dieser nachfolgende Wille – und von diesem geht die Ausführung aus – will nicht das Gute sondern das Beste bzw. Bestmögliche. (Nach: Leibniz, Theodicee ii, §§ 22f.) Weiter fasst er den Gedanken der bestmöglichen Welt diesbezüglich wie folgt zusammen: „Man muss deshalb annehmen, dass Gott vorgängig alles Gute an sich will, dass er nachfolgend das Beste als einen Abschluss will; dass er das Gleichgültige und das physische Uebel manchmal als ein Mittel will, aber dass er das moralische Uebel nur auf Grund des sine qua non (eines unvermeidlichen Mittels) oder einer hypothetischen Nothwendigkeit [sic!, v.v.] gestatten will, welche es mit dem Bessern [sic!, v.v.] verknüpft. Deshalb ist der nachfolgende Wille Gottes, welcher die Sünde zum Gegenstande hat, nur ein gestattender.“ (Leibniz, Theodicee ii, § 25, Hervorhebung im Original.)

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diese verwirklicht.32 Sich theoretische Gedanken zu einer theoretisch möglichen anderen Welt zu machen, bringt in Bezug auf die Frage der Theodizee nichts, denn „Gottes Gott- und Schöpfersein entscheidet sich an dieser Welt, nicht an einer anderen, und die Vernünftigkeit der Vernunft muss sich daran bewähren, diese Wirklichkeit zu verstehen, nicht eine andere.“33 Die Möglichkeit einer anderen (evtl. besseren) Welt würde der Frage nach der Herkunft des Bösen und der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in seiner guten Schöpfung denn auch nichts von ihrer Brisanz nehmen. Es stellte sich die Frage, weswegen Gott – wo er doch eine Welt ohne Böses schaffen könnte – ausgerechnet eine solche, welche die Möglichkeit des Bösen in sich schließt, aktualisiert. Das Problem bliebe somit bestehen. Eine Antwort auf das Theodizee-Problem muss somit so oder so anhand und in dieser, unserer Welt gesucht werden. Folgt man dem Argumentationsstrang Leibnizens, so wird Gott insofern entlastet, als zumindest aufgezeigt wird, dass diese Welt – trotz all der in ihr vorkommenden Übel – die bestmögliche ist: Der gute Gott entscheidet sich zur Aktualisierung der bestmöglichen Welt.34 Doch drängt sich die Frage auf, weswegen denn eine Welt, welche nicht nur die Möglichkeit zu Bösem, sondern tatsächliche Übel einschließt, besser ist als eine solche, in der

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Nach: Dalferth (2010), S. 185. Mit Blick auf dieses „Auswahlverfahren“ zwischen unterschiedlichen möglichen Welten besteht ein gewichtiger Unterschied zu Ibn Sīnā (Avicenna), einem aristotelisch geprägten muslimischen Philosophen aus dem Mittelalter, auf welchen im Kapitel zu Maimonides nochmals verwiesen werden wird. Denn für diesen ist die Welt und alles in ihr – was zwar für sich genommen durchaus kontingent ist – mit Blick auf die Beziehung zu Gott absolut determiniert und somit zwingend notwendig, nicht nur (zufällig) möglich: „Avicenna leaves no loophole for such an interpretation, if it implies that God might have chosen not to create a universe at all, or not this universe but a different one. In fact, in his philosophic system the contingent character of the world merely veils and disguises the essential necessity of the latter. For every contingent being is only contingent if it is taken by itself, but is ineluctably necessary if it is considered in relation to the concatenation of causes and effects starting with the First Cause, God, to which it owes its existence. In fact, Avicenna’s system is strictly deterministic. And this determinism extends to God and His activity. There is no room in this philosophy for Leibniz’ conception of a God choosing among the various possible worlds the one that is the best of all and bringing it into existence. The universe could not have been other than it is, there being no element of choice about God’s causative function.“ (Pines (1974), S. xciv f.) Dalferth (2010), S. 185. Schüle weist die Theorie Leibnizens der besten aller möglichen Welten als einen (aufklärerischen) Mythos auf. (Nach: Schüle (2012), S. 4.)

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es nur Gutes gibt. Dass dies so ist, ergibt sich gemäß Leibniz aus der Tatsache, dass Gott eben gerade diese Welt und nicht eine andere verwirklicht hat. Ob dies wirklich eine stichhaltige und befriedigende Antwort auf diese Frage darstellt, sei dahingestellt. An diesem Begründungsgang wird ersichtlich, dass Gott den Ausgangspunkt von Leibniz’ Überlegungen bildet: Der gute und alles wissende Gott erkennt, welche der möglichen Welten im Gesamt all ihrer Güter und Übel gesehen die beste ist, und aktualisiert daher auch diese. „Zwar sind andere Welten vorstellbar und möglich, aber dass sie nicht besser wären als die vorfindliche, erhellt ab effectu eben daraus, dass Gott die vorfindliche und keine andere Welt erschaffen hat.“35 Leibniz zeigt weiter auf, dass nicht alle Güter nebeneinander bestehen können, nur ein gewisser Teil verträgt sich miteinander. Somit ist es ausgeschlossen, dass alle theoretisch möglichen Güter in einer Welt auch tatsächlich zusammen vorkommen können. Und so ist die schon so oft erwähnte bestmögliche Welt zu definieren als jene aller möglichen Welten, welche die meisten gemeinsam möglichen Güter und zugleich die geringste Zahl an Übeln besitzt, die also den größtmöglichen positiven Gesamtwert in der Abrechnung von Gütern und Übeln aufweist.36 „Das Urteil über die geschaffene Welt lautet bei Leibniz also nicht mehr, wie in der Genesisgeschichte, ‚sehr gut‘, sondern ‚die beste aller möglichen angesichts der Unvermeidlichkeit von Übeln‘.“37 Die Existenz des Bösen selbst wird damit bonisiert,38 indem ihr Vorhandensein in der Welt dazu beiträgt, das Optimum 35 36

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Dalferth (2010), S. 188, Hervorhebung im Original. Nach: Ebd., S. 191. Bei Leibniz’ Entwurf geht es also um eine Güter/Nutzen-SchadenOptimierung. Poser deutet Leibniz’ Postulat der besten aller möglichen Welt wie folgt: „Die beste unter den möglichen Welten ist nun nach Leibniz diejenige, die ein Maximum an Realität (d. h. an Wirkungsvermögen und Vielfalt) und an Ordnung besitzt, was zusammen ein Maximum an Harmonie und Vollkommenheit bedeutet. In ihr gelten also beispielsweise die einfachsten und universellsten Naturgesetze, bei denen der größte Effekt mit der kleinsten Ursache erzielt wird; und sie ist diejenige mögliche Welt, in der die größte unter Bedingungen der Naturgesetzlichkeit mögliche Vielfalt von Arten herrscht. Eine solche Welt ist wegen der in ihr waltenden Ordnung zugleich die vernünftigste Welt.“ (Poser (1998), S. 123, Hervorhebung im Original.) Die Vorstellungen von dem auf das Gesamt gesehen größtmöglich vollkommenen Ganzen sowie von der größtmöglichen Verwirklichung unterschiedlicher Vielfalt im Sein finden sich bereits im System des Aquinaten, wie noch zu sehen sein wird. Dalferth (2010), S. 191. Allerdings gilt es beim Stichwort Bonisierung Folgendes zu bedenken: „Ob ich eine Funktion als bonifizierend oder malifizierend ansehe, ist eine Frage meiner Weltordnung. Nur wenn ich dem Mitleid einen sehr hohen Stellenwert gebe, kann ich bereit sein, das zu akzeptieren, was dem Mitleid erst seinen Wert gibt: die Möglichkeit des Leidens. Und umgekehrt,

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der Gesamtheit zu erreichen. Wie Hermanni aufzeigt, entspringt das Böse gemäß Leibniz in der ursprünglichen Beschränktheit der Geschöpfe: Im Gegensatz zu Gott, bei welchem es sich um ein absolut vollkommenes Wesen handelt, zeichnet sich das Geschöpf durch seine Unvollkommenheit aus.39 Und genau diese Begrenztheit ist der Grund für das Böse: „Im Geschöpfsein liegt der Grund allen Übels: Die Privation des Übels ist die Limitation des Geschöpfs.“40 Damit wird aber das Böse in gewissem Sinne naturalisiert, da es als notwendigerweise zum Wesensbestand des Geschaffenen gehörig angesehen wird. Leibniz liefert dabei verschiedene Übeltheorien: So erwähnt er als Gründe den menschlichen Freiheitsmissbrauch, die privatio boni als der aktuelle Mangel an Vollkommenheit, die kosmologische Teleologisierung, bei welcher das Übel als notwendige Bedingung für die Wertoptimierung der faktischen Welt erscheint,41 sowie auch die Kompensationslehre, gemäß welcher die Güter die Übel überwiegen.42 Insbesondere der Verweis auf die Freiheit als Grund für das Böse kennt eine lange Tradition: So taucht diese Erklärung bereits im zweiten Jahrhundert bei den griechischen Apologeten auf43 und „wurde altkirchlich in radikalster Form von Origenes und in wirkungsgeschichtlich entscheidender Weise von Augustin ausgearbeitet.“44 Mithilfe dieser Rückführung des Bösen auf die menschliche Freiheit soll Gott von der Verantwortung für das Böse in der Welt entlastet werden: Der Mensch trägt die Schuld am Bösen und die physischen Übel werden dementsprechend auch als gerechte Strafe

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nur wenn ich der Schadenfreude einen sehr niedrigen Wert gebe, kann ich die Tatsache, dass es Schadenfreude gibt, für schlimmer ansehen als die zwei involvierten Sachverhalte für sich genommen: dass einer sich freut und dass einem Schaden zugefügt wurde.“ (Hügli (1998), S. 164.) Allerdings wird bei Leibniz gerade nicht das Einzelphänomen bonisiert, vielmehr wird die Faktizität des Bösen an sich zu einem Gut erklärt, indem dadurch in der Gesamtheit die größte Menge an Gütern – bei kleinstmöglicher Zahl an Übeln – resultiert. Nach: Hermanni (2002), S. 171–173. Auch hierin besteht ein Bezug zu Maimonides und Thomas von Aquin. Dalferth (2010), S. 200, Hervorhebung im Original. Diese Bonisierungstheorie – dass also das Böse zum größeren Guten des Ganzen dient – findet sich bei Leibniz etwa an folgender Stelle: „[V]on dem physischen Uebel kann man sagen, dass Gott oft es als eine der Schuld zukommende Strafe will und oft auch als ein Mittel für einen Zweck, d. h. um grössere Uebel zu hindern oder um größere Güter zu erlangen. Die Strafe dient auch zur Besserung und Abschreckung und das Uebel lässt oft das Gute mehr empfinden und trägt auch manchmal zu einer größern [sic!, v.v.] Vervollkommnung des Leidenden bei“ (Leibniz, Theodicee ii, § 23.). Nach: Hermanni (2002), S. 183f. Nach: Ebd., S. 185. Ebd.

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am Menschen für die Sünde qualifiziert und so gewissermaßen legitimiert.45 Gott ist zwar verantwortlich dafür, dass die Geschöpfe überhaupt die Fähigkeit besitzen, mit ihrer Freiheit Taten zu begehen, da Gott dies will, allerdings ist dies nicht gleichbedeutend mit der Gutheißung der konkreten Taten von Seiten Gottes.46 „Hier öffnet sich eine entscheidende Kluft zwischen der göttlichen und der geschöpflichen Freiheit.“47 Die Verhältnisbestimmung zwischen Gottes Freiheit und der geschöpflichen Freiheit ist somit von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach dem Bösen und der damit verbundenen Entlastung Gottes von der Verantwortung für dieses: Es gibt von uns Bewirktes, das Gott nicht will, obgleich er will, dass wir frei wollen, was wir wollen, und dass wir frei das für uns Gute wollen. Nur bewirken, dass wir das für uns Gute frei wollen und tun, kann auch der allmächtige Gott nicht: Das freie Wollen von Bestimmtem lässt sich nicht erzwingen, und wer Freiheit will, muss die Freiheit zur Selbstbestimmung einräumen, weil alles andere sie aufheben würde.48 Leibniz unterscheidet drei die Freiheit gemeinsam ausmachende Elemente: Kontingenz, Spontaneität sowie Intelligenz bzw. Vernunft.49 Das für die Freiheit entscheidende Element ist gemäß Leibniz die Intelligenz, die beiden erstgenannten Momente dagegen bilden lediglich „notwendige Freiheitsbedingungen“50.51 Und genau dieses dritte Freiheitsmoment ist es, welches beim Menschen „fehlerhaft“ ausgebildet ist und daher dem Bösen Einlass in die freie Handlungsbestimmung gewährt. Einzig Gott kommt auch dieses letzte Moment in vollkommener Weise zu, wodurch nur seine Freiheit allein als vollkommen zu bestimmen ist, da „nur sein Wille […] stets durch die adäquate Erkenntnis des objektiv Besten bestimmt [ist].“52 In Bezug auf den Menschen verhält es sich jedoch anders: Dieser verfügt gerade nicht über eine immer und überall adäquate Erkenntnis, vielmehr rührt die Unvollkommenheit seiner Freiheit daher, dass „in seiner Erkenntnis deutliche und verworrene Vorstellungen vermischt sind, so dass er oft nur das scheinbar Beste will.“53 Das Abstellen 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Nach: Ebd. Nach: Dalferth (2010), S. 178. Ebd. Ebd., S. 179, Hervorhebung im Original. Nach: Hermanni (2002), S. 187. Ebd., S. 189. Nach: Ebd. Ebd. Ebd., S. 190.

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auf die menschliche Freiheit nötigt Leibniz dazu, sich einem weiteren Problem zu stellen und dieses argumentativ zurückzuweisen: Sind menschliche Handlungen in einem gewissen Sinne als vorherbestimmt und Gott als allwissend gar als verantwortlich für diese zu erachten? Leibniz verneint diese Frage. Wenn nämlich im Voraus feststünde, wie sich ein Mensch in allen Situationen seines Lebens verhalten wird, dann könnte eine Mitschuld bei Gott gesucht werden. Zudem stellt sich auch die Frage, ob dieses Handeln, wenn es denn vorherbestimmt ist und bereits feststeht, bevor es ausgeführt wird, auch tatsächlich als frei im vollen Sinne zu qualifizieren ist. Leibniz geht mit diesem Problem wie folgt um: Zwar sind die menschlichen Handlungen tatsächlich „vorherbestimmt, allerdings nicht durch das göttliche Vorherwissen, sondern durch das Wesen dieses Menschen. Die Prädetermination ist die Bedingung, nicht die Folge göttlichen Vorherwissens, und deshalb ist der Mensch für sein Handeln allein verantwortlich.“54 Die Prädetermination der Handlungen eines Menschen ist folglich nicht so zu verstehen, dass sie von dem allwissenden Gott ausgeht, vielmehr ist es gerade umgekehrt.55 Eine Mitschuld Gottes ist somit auszuschließen. Auch betont Leibniz weiter, dass trotz dieser Prädetermination die menschliche Freiheit unbedingt zu gelten hat: „Die Bestimmung eines Menschen zur Sünde durch sein eigenes Wesen, seine Selbstprädestination oder Spontaneität, widerstreitet aber nicht seiner Freiheit und Verantwortlichkeit, sondern ermöglicht sie allererst.“56 Doch damit bleibt immer noch ein Problem bestehen: Gott ist es, der die Wirklichkeit schafft und dies nicht nur in einem einzigen, vor langer Zeit geschehenen Schöpfungsakt, sondern immer wieder von Neuem.57 Leibniz geht also von einer creatio continua aus. Alle Wirklichkeit des Existierenden ist von Gott verliehen, sodass sich mit Hermanni die Frage stellt, ob Gott mit seinem ständig schöpfungsmäßigen Wirken nicht doch das Böse hervorbringt.58 Damit erreicht die Darstellung des Theodizee-Problems in dieser Arbeit eine weitere Ebene: Es werden verschiedene Möglichkeiten zum Umgang mit der Frage nach dem Ursprung des Bösen aufgezeigt: die Privationslehre, auf welche Leibniz zur Aufhebung des gerade aufgezeigten Problems zurückgreift, weiter die von Spinoza durchgeführte Negationstheorie und zu guter Letzt die Theorie der Positivität des Bösen, welche die neuzeitliche Philosophie charakterisiert und beispielsweise bei Schopenhauer begegnet. Zunächst verbleiben wir aber noch etwas bei 54 55 56 57 58

Ebd. Nach: Ebd., S. 191. Ebd. Nach: Ebd., S. 192. Nach: Ebd.

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Leibniz, um seine Privationslehre unter die Lupe zu nehmen, wobei ersichtlich werden wird, dass es sich hier gerade nicht um eine Privationslehre im klassischen Sinne handelt. 2.3.1.2 Die Privationslehre Wie weiter unten aufgezeigt werden wird, kennt die Privationslehre eine lange Tradition in Philosophie und Theologie, um mit dem Phänomen des Bösen umgehen und es angesichts der vorgegebenen Glaubenstatsache eines allgütigen Gottes und Schöpfers einer guten Schöpfung erklären zu können. So vertraten bereits Plotin und Augustinus diese Position, wobei ihr für die christliche Tradition insbesondere Letzterer eine entscheidende Bedeutung für die weitere theologische Entwicklung in der Auseinandersetzung mit dem Bösen sowie seines Verständnisses in der christlichen Theologie verlieh. So konnte später kaum einer an der von Augustinus aufgezeigten Richtung vorbeigehen. Daher erstaunt es nicht weiter, dass sowohl Anselm von Canterbury als auch Thomas von Aquin, welcher gemäß Hermanni die Privationstheorie in zweifacher Hinsicht vollendet hat,59 dem von Augustinus aufgewiesenen Weg folgten.60 Doch auch im Judentum ist der Gedanke der Privatio in nachfolgenden Zeiten bekannt, wie in der Auseinandersetzung mit der Behandlung der Thematik des Bösen bei Maimonides noch gesehen wird. Doch was wird überhaupt unter der Privationslehre verstanden? Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass dem Bösen keine eigentliche eigene Wirklichkeit zukommt. Vielmehr haftet es sozusagen parasitär an etwas Gutem. Dieses Gute ist denn auch das Wirkliche, das Existierende. Die parasitäre „Inbesitznahme“ dieses Guten bewirkt nun, dass diesem Existierenden etwas fehlt: Ein Mangel an dem ihm eigentlich zukommenden Guten tritt ein.61 Leibniz behauptet nun, dass dem Bösen, da es sich dabei um eine Privation („ein aktueller Vollkommenheitsmangel des handlungsbestimmenden Erkennens und Wollens“62) handelt, keine causa efficiens, also eine bewirkende Ursache, sondern lediglich eine causa deficiens, eine versagende, unzureichende Ursache zukommt.63 Damit zeigt Leibniz zugleich auf, dass Gott nicht als Ursache 59 60 61

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Nach: Ebd., S. 17. Die Position des Aquinaten wird im systematischen Teil bearbeitet, wobei auch immer wieder auf die denkerischen Vorläufer Anselm und Augustinus verwiesen werden wird. Dass es sich nicht um das Fehlen irgendeines Gutes, sondern eines eigentlich zukommenden bzw. geschuldeten handelt, wurde begrifflich erstmals von Anselm von Canterbury explizit festgehalten. (Vgl.: Anselm von Canterbury, De conc. virg. v.) Hermanni (2002), S. 139. Nach: Ebd. Wie noch zu sehen sein wird, folgt Leibniz damit Thomas von Aquin, welcher mit Blick auf das Böse ebenfalls nur eine causa deficiens, nicht aber einer causa efficiens postulierte. (Vgl.: scg iii,10.)

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für das Böse angesehen werden kann, da Gott und das Böse nicht dieselbe Ursachenqualität besitzen: Denn im Unterschied zur causa deficiens beim Bösen, handelt es sich bei Gottes Schöpfertätigkeit um eine causa efficiens.64 Mit dieser Theorie versucht Leibniz das oben aufgezeigte Problem einer eventuellen Mitschuld Gottes für die Wirklichkeit des Bösen, welches „sich aus der freiheitstheoretischen Verteidigung Gottes ergibt, in ihrem Rahmen aber unlösbar ist,“65 zu lösen und den aufgeworfenen Vorwurf auszuräumen.66 Hermanni weist allerdings kritisch darauf hin, dass es sich bei Leibniz im Vergleich zu den scholastischen Ausführungen eigentlich nicht um eine Privationslehre handelt, vielmehr sei Leibniz’ Entwurf als Negationstheorie zu qualifizieren.67 Doch soll diese Kritik hier vorläufig so stehen bleiben und zuerst aufgezeigt werden, wie Leibniz im Rahmen seiner Privationslehre vorgeht, um Gott von seiner Mitschuld freizusprechen. Dazu tätigt Leibniz zwei Schritte: Zum einen definiert er das Wesen des Bösen, zum anderen widmet er sich in einem weiteren Schritt der Herkunft des Bösen.68 Leibniz bestimmt das malum morale, also das moralische Böse, analog zu Descartes Bestimmung des gnoseologischen Übels.69 So geht er davon aus, dass jedem Willensmangel ein Verstandesdefizit zugrunde liegt:70 „Subjektiv betrachtet ist der Wille immer gut, böse kann er nur im objektiven Sinne werden, dann nämlich, wenn das vermeintlich bessere und deshalb erstrebte Objekt in Wahrheit das schlechtere ist.“71 Auch hierin zeigt sich wieder die bereits weiter oben im Rahmen der leibnizschen Theorie der bestmöglichen Welt erwähnte kreatürliche Begrenztheit des Menschen: einzig Gottes Wille und Verstand sind vollkommen, alles von Gott Geschaffene dagegen ist beschränkt und unvollkommen. Genau diese Unvollkommenheit des Verstandes und des Willens des Geschöpfs stellt die causa deficiens des Bösen bzw. des malum morale dar.72 Dennoch stellt sich die Frage, weshalb Gott dieses Übel zulässt. Zur Beantwortung dieser Frage greift Leibniz auf seine Theorie der existierenden Welt als beste aller möglichen Welten zurück und argumentiert, dass Gott die mit dem missbrauchsfähigen menschlichen Freiheits- und Vernunftvermögen „verknüpften Sünden, von denen der antizipierende Wille [Gottes] noch absieht, lediglich deshalb in Kauf 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Nach: Hermanni (2002), S. 139. Ebd., S. 191f. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 140; ders. (1998), S. 54. Nach: Ders. (2002), S. 193. Nach: Ebd., S. 194. Nach: Ebd. Ebd. Nach: Ebd., S. 196.

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[genommen  hat], weil die Welt ohne die Sünden nicht die beste aller möglichen wäre.“73 Hierzu nimmt Leibniz die erwähnte Unterscheidung des Willens in Gott vor:74 zum einen nennt er den eben erwähnten „antizipierenden oder vorläufigen“75 Willen Gottes, zum anderen den „nachfolgenden oder beschlusskräftigen“76, eine Unterscheidung, welche Leibniz bereits bei Thomas von Aquin sowie Duns Scotus vorfand.77 Weil Gott einsieht, dass es eine Welt ganz ohne Übel und mit allen Gütern ausgestattet nicht geben kann, wählt er mit der letztgenannten der beiden göttlichen Willensarten jene aller möglichen Welten zur Aktualisierung aus, welche über das beste Gesamtgefüge verfügt, also ein Minimum an Übeln bei einem gleichzeitigen Maximum (allerdings keine Absolutheit) an Gütern.78 Damit ergibt sich in Hermannis Worten folgende leibnizsche Schlussfolgerung zur Begründung der Sünde bei gleichzeitigem Ausschluss einer Mitschuld Gottes: „Gott hat die Sünde demnach lediglich als Conditio sine qua non für die Optimalität der Welt zugelassen, und deshalb trifft ihn keine Mitschuld.“79 Nebst dem erwähnten moralischen Übel führt Leibniz noch zwei weitere Formen des Bösen an: Man kann das Uebel metaphysisch, physisch und moralisch auffassen. Das metaphysische Uebel besteht in der einfachen Unvollkommenheit; das physische Uebel in den Schmerzen und das moralische Uebel in der Sünde. Obgleich das physische und moralische Uebel nicht nothwendig [sic!, v.v.] sind, so genügt deren Möglichkeit in Folge der ewigen Wahrheiten, und da diese ungeheure Region von Wahrheiten alle Möglichkeiten befasst, so muss es der möglichen Welten unendlich viele geben, und das Uebel muss in mehreren derselben mit eingehen und selbst die beste muss dessen enthalten. Dies ist es, was Gott bestimmt hat, das Uebel zuzulassen.80 Diese Dreiteilung der Übel in das malum metaphysicum, das malum physicum sowie das malum morale stellt keine Innovation von Leibniz dar, vielmehr 73 74 75 76 77 78 79 80

Ebd., S. 200. Nach: Leibniz, Theodicee ii, §§ 22–25, 119. Hermanni (2002), S. 199. Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd. Leibniz, Theodicee, ii, §21, Hervorhebung im Original. Das metaphysische Übel erweist sich damit gemäß Leibniz als notwendig, da es im notwendigen Beschränkt-Sein des Geschaffenen in Abgrenzung zu Gott besteht.

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übernimmt er diese – auch wenn dies in der christlich-westlichen Philosophie weitestgehend verkannt wird und unerwähnt bleibt81 – von Maimonides.82 Sentis hält fest, dass diese Dreiteilung letztlich eine Einheit offenbare: Gott wolle das metaphysische Übel, so wie es ist, das physische Übel lasse er mit Blick auf ein gutes Ende oder Ziel zu und das moralische Übel schließlich lasse er quasi als conditio sine qua non für das Beste zu.83 Ob sich das Böse tatsächlich befriedigend mit dem Hinweis darauf erklären lässt, dass es sich dabei um einen Irrtum in der tatsächlichen Wertehierarchie handelt, also aufgrund eines Verstandesdefizits eigentlich vermeintlich Gutes gewählt wird, ist kritisch zu hinterfragen. Hermanni jedenfalls qualifiziert diese Sicht der Dinge als unhaltbar: „Im Bösen ist nicht eine geschwächte 81

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So bleibt etwa auch in der maßgeblichen Habilitationsschrift Hermannis dieser Rezeptionsstrang unerwähnt. Als ein Beispiel unter vielen sei an dieser Stelle Kessler angeführt, welcher es ganz gezielt so darstellt, als bringe Leibniz hierbei eine Innovation hervor: „Die mittelalterliche Scholastik unterschied (1) das malum physicum: das natürliche Übel (wie Fressen und Gefressenwerden, Naturkatastrophen, viele Krankheiten, Missbildungen usw.), das Übel also, das, dem Menschen schon vorgegeben, in der Natur allenthalben gegenwärtig ist; und (2) das malum morale: das moralische Übel, d. h. das vom Menschen schuldhaft gesetzte sittlich Schlechte oder das Böse (Unrecht, Kränkung, Gewalt, Grausamkeit, Krieg usw.). – Da sich aber das Übel nicht einfach auf das physische und das moralische Übel reduzieren lässt, sondern tiefere, ontologische (d. h. in der Struktur des endlichen Seins selbst gründende) Wurzeln hat, unterschied Leibniz später von beiden noch (3) das malum metaphysicum: das metaphysische Übel, d. h. die mit der Kreatürlichkeit selbst gegebene Endlichkeit und Beschränktheit, Irrtumsfähigkeit und Fehlbarkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit.“ (Kessler, H. (2000,1), S. 9f.) Die Befreiungstheologie, so Kessler, fügte dann noch eine vierte Form des malum ein, nämlich das strukturelle Übel. (Nach: Ebd, S. 10.) Auch Häring verliert bei seinem Verweis auf die Ausweitung der damals üblichen zwei Kategorien auf eine dritte kein Wort um die Herkunft dieser dritten Kategorie, sondern lässt es so aussehen, als sei diese erst und eigens von Leibniz eingeführt. (Nach: Häring (1999), S. 131.) Kreiner wirft Leibniz gar die Vermischung unterschiedlicher Kriterienebenen vor und stellt die dreifache Unterscheidung der Übel ebenfalls als genuine Innovation Leibnizens vor. (Nach: Kreiner (2005), S. 28.) Stump plädiert dafür, dass die Unterscheidung in unterschiedliche Arten von Übeln eigentlich sinnlos sei, da nur die Kategorie des Leidens bestimmend sei für das, was als Übel wahrgenommen werde. (Nach: Stump (2010), S. 4.) Die bestimmende Kategorie wäre dann sozusagen das malum patiens. Im Unterschied etwa zu Thomas von Aquin lag Leibniz nicht die lateinische Übersetzung des Moreh Newuchim, welche auf der späteren und ungenaueren hebräischen Übersetzung von al-Charizi basiert, sondern jene, welche eine lateinische Übertragung der noch zu Maimonides‘ Lebzeiten von Ibn Tibbon erstellte hebräische Übersetzung darstellte, vor. (Nach: Hasselhoff/Fraisse (2004), S. 22; vgl. auch: Biller (2004), S. 312.) Nach: Sentis (1992), S. 257.

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oder mangelhafte Willens- und Verstandeskraft, sondern eine dem Guten real entgegengesetzte Kraft am Werk.“84 Alles in allem verwirft Hermanni Leibniz’ System, indem er feststellt, dass dieses aufgrund eines zirkulären Begründungsaufbaus unzulässig und daher als gescheitert anzusehen ist.85 Es bleibt noch zu klären, weshalb Leibniz’ System nicht im eigentlichen Sinne eine Privationstheorie im klassischen Sinne darstellt: Da die Geschöpfe von Gott verschieden und daher notwendig begrenzt sind, sind auch Willensund Verstandeskraft begrenzt. Das Geschöpf ist also begrenzt und daher kann es auch sündigen,86 folglich ist der Grund des Bösen die Natur der Geschöpfe selbst – und diese ideale Natur der Geschöpfe ist im Bereich der ewigen Wahrheiten zu verorten.87 In dieser Bestimmung liegt ein grundlegender Unterschied zur klassischen Privationslehre: Die Scholastik nämlich differenziert zwischen einfacher Negation – das Fehlen von etwas, was nicht zur Vollkommenheit eines Dinges gehört (beim Menschen z.B. das Fehlen von Flügeln oder die Unfähigkeit zu fliegen) – und Privation, womit das Fehlen von etwas 84 85 86

87

Hermanni (2002), S. 211. Nach: Ebd., S. 218f. „[A]ber die Unvollkommenheiten und Mängel der Handlungen kommen von den ursprünglichen Schranken, welche das Geschöpf mit dem ersten Beginne seines Seins, aus den idealen Gründen, welche es beschränken, erhalten musste. Gott konnte ihm nicht alles gewähren, ohne es zu einem Gott zu machen; es mussten deshalb verschiedene Abstufungen in der Vollkommenheit der Dinge bestehen und ebenso alle Arten von Beschränkungen.“ (Leibniz, Theodicee ii, §31.) Oder weiter: „[A]llein der Ursprung der Sünde liegt weiter zurück und in der ursprünglichen Unvollkommenheit der Geschöpfe, wodurch sie fähig sind, zu sündigen und in Folge des Laufes der Dinge treten Umstände ein, welche machen, dass diese Fähigkeit sich in wirkliches Handeln umsetzt.“ (Leibniz, Theodicee ii, § 156.) „Die Antwort lautet, dass sie [= die Quelle des Übels, v.v.] in der idealen Natur des Geschöpfes zu suchen sei, so weit diese Natur in den ewigen Wahrheiten eingeschlossen ist, welche in dem Verstande Gottes unabhängig von seinem Willen, bestehen. Denn man muss bedenken, dass es in dem Geschöpfe eine ursprüngliche Unvollkommenheit giebt [sic!, v.v.], und zwar vor der Sünde, weil das Geschöpf wesentlich beschränkt ist; daher kommt es, dass es nicht alles wissen, dass es sich irren und andere Fehler begehen kann. […] Man kann in diesen Satz einen guten Sinn legen; Gott wäre der Verstand und die Nothwendigkeit [sic!, v.v.], d. h. die wesentliche Natur der Dinge wäre der Gegenstand für den Verstand, insoweit dieser Gegenstand aus den ewigen Wahrheiten besteht. Indess [sic!, v.v.] ist dieser Gegenstand ein innerlicher, innerhalb des göttlichen Verstandes und dort befindet sich nicht blos [sic!, v.v.] die ursprüngliche Form des Guten, sondern auch der Ursprung des Uebels. Diese Region der ewigen Wahrheiten hat man an die Stelle des Stoffes zu setzen, wenn es sich um Auffindung der Quellen der Dinge handelt. Diese Region ist die ideale Ursache des Uebels (so zu sagen), ebenso wie des Guten“ (Leibniz, Theodicee ii, § 20, Hervorhebung im Original; vgl.: Ebd. §§ 335 und 380.).

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bezeichnet wird, das notwendigerweise zur Vollkommenheit dieses Seins bzw. zu seiner Natur gehört (also beim Menschen – im Unterschied etwa zu einem Stein – die Fähigkeit zu sehen, beim Stein dagegen handelte es sich um eine bloße Negation). Bei Leibniz dagegen ist der Fall einer Privation in diesem klassischen Verständnis unmöglich.88 Da diese Mängel im Verstand bzw. im Willen aufgrund seines Geschaffen-Seins und daher seiner Begrenztheit notwendigerweise zur idealen Natur des Menschen gehören, handelt es sich dabei nicht um eine Privation, denn der Mensch bleibt ja gerade nicht hinter seiner Natur zurück, sondern entspricht vielmehr ihrer Begrenztheit, wenn er sündigt.89 Hermanni stellt die Theorie Leibnizens folglich als eine Negationstheorie heraus. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern hier überhaupt noch von Negation gesprochen werden kann: Fehlt doch dem Menschen eigentlich gar nichts, was ein Geschöpf haben könnte: Den unfehlbaren, unbegrenzten Willen kann ja nur Gott haben. Die klassischen Negationen dagegen beziehen sich auf Eigenschaften, welche anderen Naturen durchaus natürlicherweise zukommen (z.B. die Fähigkeit zu fliegen, zu sehen, etc.), welche also bei ihrem Fehlen für das eine Ding eine bloße Negation darstellen, für das andere dagegen eine Privation. Da aber mit Leibniz kein Geschöpf diese Eigenschaften besitzen kann, welche dem Menschen fehlen, ohne zugleich Geschöpf zu bleiben, stellt der hier veranschlagte natürliche Mangel auf der Ebene des Geschöpflichen eigentlich weder eine Privation noch eine Negation, sondern schlichtweg das Fehlen von etwas Unmöglichem dar. Das Böse wird damit im eigentlichen Sinne des Wortes negiert. Eine gewichtige Konsequenz ergibt sich allerdings in jedem Falle – egal wie nun Leibniz’ Ansatz begrifflich korrekt zu fassen ist: Das malum morale wird eigentlich – wenngleich auch Leibniz diese Konsequenz im Unterschied zu Spinoza noch nicht zieht – aufgehoben und negiert, „[d]enn um eine Handlung sinnvollerweise böse nennen zu können, muss man sie als Nichtseinsollendes verstehen, d.h. als eine Wirklichkeit, in der der Handelnde von seinem Wesen oder seiner Bestimmung abweicht.“90 Die Frage stellt sich, inwieweit nicht das Böse überhaupt – also nicht nur das moralische, sondern auch das metaphysische sowie das natürliche Übel – negiert wird, wenn darauf rekurriert wird, dass alles als Geschaffenes notwendigerweise begrenzt ist und alles seiner idealen Natur entspricht. Nachdem nun Leibniz’ Privationslehre vorgestellt worden ist, soll im folgenden Abschnitt auf Spinozas Negationstheorie eingegangen werden, ein

88 89 90

Nach: Hermanni (1998), S. 54f. Nach: Ebd., S. 54. Ebd., S. 55.

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Entwurf, welcher seinerseits ebenfalls noch vor der Katastrophe von Lissabon entstand. 2.3.2 Spinoza: Die Negationstheorie Hatte Leibniz – wie aufgezeigt wurde – das Böse noch als „Privation, ein aktueller Vollkommenheitsmangel des handlungsbestimmenden Erkennens und Wollens“91 definiert, schlägt Baruch de Spinoza (1632–1677)92 dagegen einen anderen, etwas präziseren Weg ein, indem er eine Unterscheidung in zwei verschiedene Gegebenheiten vornimmt. Im Unterschied zu Leibniz spricht Spinoza nicht nur von einer Privation, sondern kennt auch das Phänomen einer bloßen Negation.93 Spinoza geht nun aber so weit, dass er behauptet, dass auch „das, was wir üblicherweise als Privation und damit als Malum beurteilen, in Wirklichkeit eine bloße Negation“94 sei. Gemäß Spinozas Definition handelt es sich dabei – entgegen dem klassischen Verständnis – bei der Blindheit eines Menschen lediglich um eine Negation und nicht, wie anzunehmen wäre, um eine Privation. Würde es nämlich zur Natur dieses bestimmten Menschen gehören, sehen zu können, so besäße er von Gott auch die Fähigkeit dazu. Da ihm diese Fähigkeit allerdings fehlt, ist sie auch nicht als zu seiner Natur gehörig anzusehen.95 Damit wendet sich Spinoza „ausdrücklich gegen die klassische Privationslehre“96, ja vielmehr noch geht er gemäß Hermanni überdies in Richtung Elimination des Bösen.97 „Dass es in der Wirklichkeit Übles und Böses gibt, ist nur eine menschliche Fiktion.“98 Spinoza wendet sich damit auch gegen die von Leibniz noch vertretene cartesianische Theorie des gnoseologischen Übels.99 Er verneint, dass das Böse auf einen aufgrund eines Erkenntnismangels zurückzuführenden Irrtum zurückgeht. Vielmehr betont Spinoza, dass dem Menschen gar kein größeres Erkenntnisvermögen zukommen kann, 91 92 93

94 95 96 97 98 99

Ders. (2002), S. 139. Die Ausführungen basieren auf: Ebd., S. 141–144, wo sich auch die einschlägigen Originalstellen finden. Nach: Ebd., S. 142. Nochmals zur Vergewisserung: „Eine bloße Negation liegt vor, wenn einem Ding eine Eigenschaft fehlt, die nicht zu seiner Natur gehört, eine Privation dagegen, wenn die fehlende Eigenschaft zu seiner Natur gehört.“ (Ebd.) Ebd. Nach: Ebd., S. 143. Ebd. Nach: Ebd., S. 141. Ebd., S. 144. Wie Hermanni aufzeigt, machte sich Schelling diese Ansicht in seinem späteren Werk zu Eigen. (Nach: Ebd.) Nach: Ebd., S. 143.

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als jenes, das ihm von Gott gegeben wurde.100 Von einem Verstandesdefizit kann daher nicht die Rede sein. Dies alles hat auch entscheidende Konsequenzen für die Beurteilung menschlicher Handlungen: Man kann einem Menschen keinen Vorwurf für sein Handeln machen, da er sich unter den ihm von Gott gegebenen Umständen und Bedingungen nicht hätte anders verhalten können.101 Hier sei allerdings die Frage nach der menschlichen Freiheit aufgeworfen: Kann der Mensch sich tatsächlich nicht anders verhalten? Hat er unter gleichen Bedingungen, Voraussetzungen und Umständen nicht auch immer einen freien Gestaltungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielraum? Ist der Mensch nicht dazu aufgerufen, angehalten und verpflichtet, in jeder Situation das nach seinen Möglichkeiten Bestmögliche zu verwirklichen? Spinoza spricht dem Bösen durch seine radikale Leugnung desselben dessen Radikalität ab. Er leugnet das existentielle Problem und nimmt so die Menschen in ihrem Leiden – in einem Ausmaß, wie es mit der klassischen Privationslehre nicht möglich war – nicht ernst. „Die Klage eines Kranken oder eines vor der eigenen Bosheit erschrockenen Menschen, warum Gott ihm nicht einen gesunden Körper oder einen vollkommenen Willen gegeben habe, ist nach Spinoza ebenso unsinnig, als würde sich ein Kreis beklagen, dass Gott ihm nicht die Eigenschaften einer Kugel gab.“102 Auch die Schrecken der Shoah wären mit Spinoza den Verantwortlichen nicht zuzuschreiben, da sie ja aufgrund der ihnen von Gott verliehenen Natur überhaupt nicht anders handeln konnten, als sie es faktisch taten.103 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die Privationslehre als auch die Negationstheorie von ein und derselben Frage abhängen, einzig ihre Beantwortung unterscheidet sich und führt dadurch zu den beiden unterschiedlichen Ansätzen als Lösungswege: „Eine Entscheidung zwischen der Privations- und der Negationstheorie des Malum hängt von der Beantwortung der Frage ab, ob Einzeldinge derselben Gattung Abbilder eines gemeinsamen Urbilds sind, das für die einzelnen die Norm und das Ziel darstellt. Bejaht man diese Frage, so gelangt man zur Privations-, andernfalls zur Negationstheorie und damit zur Leugnung des Malum.“104 Wurde in den beiden bereits vorgestellten Ansätzen dem Bösen eine eigene Existenz abgesprochen, sieht dies in der neuzeitlichen Philosophie anders aus: 100 101 102 103 104

Nach: Ebd., S. 144. Nach: Ebd. Ders. (1998), S. 58. Vgl.: Ebd., S. 57. Ders. (2002), S. 145f.

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Hier wird von der Positivität des Bösen ausgegangen.105 Als Beispiel für diese Linie soll in der Folge Schopenhauers Ansatz dargestellt werden. Schopenhauer: Die Positivität des Bösen und die schlechteste aller möglichen Welten Die neuzeitliche Theoriegeschichte durchlief gemäß Hermanni mehrere Stufen: Zu Beginn wurde die Realität des Bösen bestritten, diese wurde ihm später allerdings zuerkannt und es als mit dem Guten konkurrierende Wirklichkeit angesehen, in einem dritten und letzten Schritt blieb das Böse schließlich als einzige Realität übrig.106 Auf dieser letzten Entwicklungsstufe ist Schopenhauers Ansatz anzusiedeln.107 Die Quintessenz der Überlegungen besteht nun nicht mehr darin, das Böse als einen Mangel an Gutem zu charakterisieren, sondern vielmehr den umgekehrten Weg einzuschlagen und das Gute als eine Abwesenheit des Bösen zu definieren.108 Das malum ist nicht mehr eine absentia boni, wie es christlicherseits seit Augustinus allgemein anerkannt war, sondern das bonum tritt nun als absentia mali in Erscheinung. Am Ende der neuzeitlichen Theoriegeschichte steht damit ein grundlegender Paradigmenwechsel. Diese 180°-Wende im Verständnis der Abhängigkeit von Gut und Böse und damit auch in deren Definition führt im Falle von Schopenhauer zu einer weiteren vollständigen Verschiebung des Blickwinkels: In absolutem Gegensatz zu Leibniz versteht Schopenhauer diese Welt als die schlechteste aller 2.3.3

105

106 107 108

Nach: Ebd., S. 146. Zu verweisen ist hier beispielsweise auch auf Hegel, Schelling sowie Kant. (Vgl.: Ders. (1998), S. 59.) So geht etwa Kant davon aus, dass das Böse eine dem Guten real entgegengesetzte Wirklichkeit besitzt und mit diesem nicht nur logisch, sondern auch real in Widerstreit liegt. (Nach: Ebd., S. 61.) Die durch das Böse bestimmte Selbstbestimmung kehrt „die sittliche Ordnung der Triebfedern“ (ebd., S. 62.) um. (Nach: Ebd.) „Diese Bestimmung des Bösen als einer dem Guten entgegengesetzte Realität des Willens ist in der Tat zwingend, wenn man mit Kant voraussetzt, dass ohne moralische Einsicht und Triebfeder, der entgegengehandelt wird, nur moralisch indifferente, nicht aber böse Handlungen zustandekommen können. Bestünde das Böse lediglich in einem durch mangelnde Einsicht bestimmten Wollen, wie die philosophische Tradition von Platon bis Leibniz annahm, dann könnte beim Menschen vom moralisch Bösen so wenig die Rede sein wie beim Tier.“ (Ebd.) Nach: Ders. (2002), S. 138. Nach: Ebd. Nach: Ebd. „Ich kenne demnach keine größere Absurdität, als die der meisten metaphysischen Systeme, welche das Uebel für etwas Negatives erklären; während es gerade das Positive, das sich selbst fühlbar machende ist; hingegen das Gute, d. h. alles Glück und alle Befriedigung, ist das Negative, nämlich das bloße Aufheben des Wunsches und Endigen einer Pein.“ (Schopenhauer, pp ii,12 § 149.)

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möglichen Welten.109 Wäre die Welt nur ein kleines Bisschen schlechter, als sie aktuell ist, so wäre sie nicht mehr existenzfähig, eine schlechtere Welt als unsere kann es somit gar nicht geben.110 Auch für die körperlichen Übel bzw. Güter postuliert Schopenhauer eine Abhängigkeit, die vom physischen Übel ausgeht, von welchem aus erst das physische Gut definiert wird: Das bonum physicum besteht in der Abwesenheit des malum physicum.111 Dies begründet er mit dem Umstand, dass wir nicht das bonum physicum, wohl aber das malum physicum (Schmerz, Krankheit, Trauer, Angst, etc.) wahrnehmen.112 Hatte Leibniz noch eine ganz optimistische Weltsicht vertreten, sieht sich Schopenhauer mit der pessimistischen Vision einer Welt, wie sie schlechter nicht sein könnte, konfrontiert. Dies mag in gewisser Weise ansprechen, stellen wir uns doch tagtäglich die Frage, wie so viel Schlechtes in dieser Welt geschehen kann. Es vergeht kein Tag, an dem wir in den Nachrichten nicht von hunderten Toten (Opfern von Naturkatastrophen, Kriegsopfern, Opfern struktureller Ungerechtigkeiten, etc.) hören. Ob die Welt aber tatsächlich nicht schlechter sein könnte, um noch existenzfähig zu sein, sei dahingestellt. Weiter ist zu fragen, ob wirklich nur das malum physicum empfunden werden kann. Gewiss nehmen wir es nicht wahr, wenn mit unserem Körper und unserer Gesundheit alles in Ordnung ist, es ist einfach der Normalzustand, von dem wir ausgehen. Wir lernen unsere Gesundheit erst zu schätzen, wenn wir einmal krank waren. Sind wir wieder gesund, nehmen wir zumeist wohl tatsächlich nicht diesen wiedergewonnenen Zustand, sondern die Abwesenheit des zuvor als unangenehm und störend wahrgenommenen Ausnahmezustands wahr. Ob wir aber wirklich in keinem Fall das bonum physicum als solches empfinden können, diese Frage sei hier aufgeworfen. Denn starke positive Gefühle wie beispielsweise Freude können wir sehr wohl empfinden – auch ohne Abgrenzung gegen ein zuvor empfundenes gegensätzliches Gefühl wie Trauer. Hermanni weist zudem darauf hin, dass noch nicht jede Abwesenheit von einem negativen Gefühl ein positives Gefühl bedeutet,113 sondern dass es durchaus auch indifferente 109 110

111 112 113

Nach: Hermanni (2002), S. 154. Nach: Schopenhauer, wwv ii, iv,46: „Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie seyn [sic!, v.v.] musste, um mit genauer Noth [sic!, v.v.] bestehn [sic!, v.v.] zu können: wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehn [sic!, v.v.]. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehn [sic!, v.v.] könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste.“ Nach: Hermanni (2002), S. 156. Nach: Schopenhauer, wwv ii, iv,46; vgl.: Hermanni (2002), S. 157. In diese Ansicht Schopenhauers fügt sich auch die populärwissenschaftliche Theorie Degens vom passiven Altruismus. (Vgl.: Degen (2007), S. 27.) Degen betont dabei, dass nicht nur eine gute Tat selbst etwas Gutes sei, sondern dass bereits das Unterlassen eines

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Zustände gibt, was somit dagegen spricht, dass das Fehlen eines malum physicum bereits ein bonum physicum darstellt.114 Wie Hermanni herausstreicht, ist auch Schopenhauers Theorie kritisch zu bewerten: „Seine Umkehrung der Privationslehre wird der Erfahrung insgesamt allerdings ebenso wenig gerecht wie diese Theorie selbst.“115 Und so bleibt die Frage nach dem Bösen weiterhin unbeantwortet. Dieser neuerliche Hinweis auf die bis dato gemäß den vorgestellten Theorien ungelöste Problematik der Existenz des Bösen führt zu einem weiteren Themenfeld: dem Dilemma, mit welchem sich der Theismus aufgrund des Bösen konfrontiert sieht. Dieses Dilemma soll in der Folge genauer betrachtet werden. Das Dilemma des Theismus: Eine Konfrontation auf mehreren Ebenen Von der unleugbaren Tatsache der Existenz des Bösen ist Gott direkt betroffen, resp. besser gesagt unser Gottesverständnis. Die Theodizee-Frage setzt sich nämlich nicht nur mit dem Phänomen des Bösen an sich auseinander, sondern mit dessen Konsequenzen für unseren Gottesglauben. So postuliert denn auch beispielsweise Safranski, dass sich die besagte Frage von Hiob bis zu Leibniz

2.3.4

114 115

möglichen Übels ein Gut darstellte. (Nach: Ebd., S. 24.) Diese Betrachtungsweise macht deutlich, dass es die Realität des Bösen ist, welche als omnipräsent und bestimmend wahrgenommen wird. Das Gute dagegen erweist sich hier als die „unnatürliche“, nicht zu erwartende Ausnahme, die es zu erklären gilt. Schon die geringste Spur eines nicht eintreffenden Bösen wird als gut qualifiziert und damit zugleich auch die Qualität des Guten abwertend gemindert. Mit Blick auf die Shoah zieht er ein schockierendes Fazit: „Der Holocaust und diverse Schreckensherrschaften mögen uns den Gedanken an das Gute im Menschen rauben, aber diese Gräuel verblassen im Vergleich zu den entgegengesetzten Impulsen, die uns davon abhalten, brutal übereinander herzufallen und unsere Wut an verhassten Menschen auszulassen, und die uns dazu beflügeln, uns mit unseren Feinden zu versöhnen.“ (Ebd., S. 29.) Wie gewagt und verletzend solche Aussagen sind, muss hier nicht eignes erläutert werden. Ob solche von Menschen an anderen Menschen verübten Gräuel überhaupt verblassen können, wagt die Verfasserin mehr als nur zu bezweifeln. Nichts, mag es auch noch so unglaublich gut sein, kann ein Verbrechen an Menschen und an der Menschlichkeit, wie es bei der Shoah der Fall war, irgendwie „positiv“ aufwiegen und nichts darf bewirken, dass solche Dinge je in Vergessenheit geraten. Und dass ausgerechnet ein Phänomen wie der passive Altruismus, der – wenn es sich denn dabei wirklich schon um eine als ein Gut zu qualifizierende Erscheinung handelt –, wenn überhaupt, höchstens auf der niedrigsten Stufe des Guten anzusiedeln ist, so ungeheuerliche Verbrechen zum Verblassen bringen soll, ist ein Hohn. Nach: Hermanni (1998), S. 71. Ders. (2002), S. 157.

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nicht verändert hat.116 Diese wesentlich von Gott handelnde Frage formuliert er wie folgt: „Wie lässt sich angesichts der Übel in der Welt die Existenz Gottes überhaupt denken?“117 Insbesondere ein theistisch verstandener Gott erscheint als unhaltbar angesichts des Bösen. „Keine andere Erfahrung hat die Überzeugung, dass ein allmächtiger und sittlich vollkommener Schöpfergott existiert, in ähnlich radikaler Weise in Frage gestellt wie die Erfahrung des Schlechten in der Welt.“118 Die Auseinandersetzung mit dem so verstandenen Gottesbild geschah auf verschiedenen Stufen. Immer wieder brachten die GegnerInnen Angriffspunkte vor, wodurch sich die VertreterInnen des Theismus zu dessen Verteidigung auch angesichts des Bösen genötigt sahen, eine Stufe weiter in der Argumentation vorzudringen, um die vorgebrachten gegnerischen Einwände überwinden zu können. Den Ausgangspunkt des theistischen Dilemmas bildet die Annahme dreier Tatsachen, welche gemäß TheismusBefürworterInnen zugleich wahr seien, die sich aber gemäß den -gegnerInnen nicht miteinander vereinbaren lassen, sondern mindestens eine der drei Annahmen auszuschließen sei.119 Die drei gesetzten Grundannahmen lauten wie folgt: Zunächst wird 1) die Existenz der Übel in der Welt anerkannt, weiter wird Gott, an dessen Existenz der Theismus nicht zweifelt, als 2) sittlich vollkommen120 sowie 3) allmächtig und allwissend definiert.121 Die Punkte 2) und 3) werden von den Theismus-GegnerInnen aufgegriffen und näher bestimmt, indem die Behauptung aufgestellt wird, dass alle Übel von einem allmächtigen und zugleich allgütigen Wesen verhindert werden.122 Die Allgüte hat nämlich zur Folge, dass 4) ein mit dieser Qualität ausgestattetes Wesen alle Übel verhindert, soweit es dazu in der Lage ist, die Allmacht ihrerseits führt dazu, dass 5) ein über diese Qualität verfügendes Wesen alle Übel, die es verhindern will,

116 117 118 119 120

121 122

Nach: Safranski (2011), S. 234. Ebd. Hermanni (2002), S. 239. Nach: Ebd. Die Vorstellung vom allgütigen Gott wird heute indes durchaus auch kritisch beurteilt und es wird betont, dass diese einseitige Vorstellung der Menschheit nur Übles gebracht hätte, vielmehr sei an die dunkle Seite Gottes zu erinnern. (Nach: Thyssen (2012), S. 6–9.) Ja mehr noch wird der diabolische Ausspruch geäußert: „Wir werden dem standhalten müssen, dass die Mächte des Bösen Realität sind, Urmächte des Lebens, Gottes dunkle und schreckliche Seite. In der alten Glaubenssprache gesagt: Der Teufel, das ist auch Gott; der gütige Vater und der Teufel sind zwei und doch einer; der Teufel ist die dunkle Seite Gottes.“ (Ebd., S. 8, Hervorhebung im Original.) Nach: Hermanni (2002), S. 239. Nach: Ebd.

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auch tatsächlich verhindern kann.123 Ein Wesen nun, das dadurch bestimmt wird, dass ihm beide der genannten Qualitäten zugleich zukommen, würde dementsprechend alle Übel in der Welt verhindern, da es aufgrund seiner Allgüte alle verhindern möchte und all jene verhindert, zu denen es in der Lage ist, was aufgrund seiner Allmacht auf alle existierenden Übel zutrifft. Kein einziges Übel ist derart, dass Gott es mit seiner Allgüte zwar verhindern möchte, aber nicht dazu in der Lage wäre, da besagtes Übel nicht seiner Allmacht unterläge. Für die Theismus-GegnerInnen folgt daraus die Unvereinbarkeit der drei von den Theisten und Theistinnen angeführten Grundannahmen: „[D]ie Existenz der Übel und die Existenz des theistischen Gottes [schließen sich] gegenseitig aus“124. Konsequenzen kann diese Folgerung nur für die Annahmen zum göttlichen Wesen haben, nicht aber für das Böse, denn dessen Existenz kann angesichts der Realität nicht geleugnet werden. Folgt also, dass Gott nicht zugleich allgütig und allmächtig sein kann; mindestens eine der beiden Qualitäten ist damit auszuschließen. Im Extremfall führt das von den Theismus-GegnerInnen aufgezeigte Dilemma gar bis hin zur Leugnung Gottes selbst. Gemäß Hermanni wurde diese „atheistische Konsequenz“125 insbesondere „in den beiden vergangenen Jahrhunderten“126 oft gezogen.127 Wird nicht dieser radikale Weg eingeschlagen, sondern lediglich eine der beiden Wesenseigenschaften des theistischen Gottes preisgegeben, so fällt man in beiden Fällen in einen Dualismus. Wie Hermanni aufzeigt, ergibt sich bei einer Einschränkung der göttlichen Liebe, also der Allgüte, ein interner Dualismus in Gott selbst, bei einer solchen der göttlichen Allmacht dagegen ein externer.128 Hierauf soll allerdings nicht weiter eingegangen werden. Dagegen soll ein weiteres Feld von möglichen Einwänden aufgezeigt werden, welches Hermanni in seiner Habilitationsschrift theoretisch entwickelt. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen, wie denn ein Theist bzw. eine Theistin auf die Vorwürfe von Seiten der Theismus-GegnerInnen reagieren und kontern könnte, bildet eine Kritik an den von den GegnerInnen gemachten Annahmen, dass sich die drei Grundannahmen nicht vereinbaren lassen und Gott daher entweder gar nicht existiert oder zumindest seine Allmacht oder Allgüte aufzugeben sei.129 „Dieser Schluss des Theismusgegners ist offensichtlich nicht zwingend, 123 124 125 126 127 128 129

Nach: Ebd. Ebd. Ebd., S. 240. Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 240f. Nach: Ebd., S. 261.

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denn mindestens eine seiner Prämissen ist unzureichend.“130 Hermanni führt an, dass die Existenz von Übeln durchaus nicht notwendigerweise gegen die Existenz eines allmächtigen und zugleich allgütigen Gott sprechen muss, da evtl. hinreichende moralische Gründe für ein Nichteingreifen resp. Nichtverhindern Gottes ausgemacht werden können. Dementsprechend fügt er zu den fünf bereits aufgeführten Annahmen eine sechste These hinzu: „(6) Die Übel in der Welt werden vom allmächtigen und allgütigen Gott nicht verhindert, weil sie mit größeren Gütern und/oder mit der Abwesenheit größerer Übel verknüpft sind.“131 Auch dieser Punkt könne von Theismus-GegnerInnen angegriffen werden, wie Hermanni sogleich aufzeigt. Dabei kämen zwei Möglichkeiten des Widerlegens in Betracht. Zunächst könnte auf die göttliche Allwissenheit sowie Allmacht abgestellt werden, wobei Gottes Wissen entweder beschränkt zu sein hätte, weswegen Gründe infrage kämen, die ein allgütiges Wesen an der Verhinderung von Übeln hindern könnten, oder aber seine Macht nur eine eingeschränkte Macht wäre, weswegen er auch an äußere, „die Übel mit größeren Gütern oder mit der Abwesenheit größerer Übel“132 verknüpfende Gesetzmäßigkeiten gebunden wäre und dadurch am Eingreifen gehindert würde.133 Damit erweist sich die Existenz moralisch hinreichender Gründe dafür, Übel zuzulassen, im Hinblick auf ein zugleich allwissendes und allmächtiges Wesen als eine logische Unmöglichkeit.134 Auch dieser von Hermanni den Theismus-GegnerInnen in den Mund gelegte Angriff, dass ein allwissender und zugleich allmächtiger Gott 7) „an keinerlei Regeln gebunden [ist], aufgrund derer Übel, sei es als Gründe oder als Folgen, mit größeren Gütern oder mit der Abwesenheit größerer Übel faktisch verknüpft sind“135, führt als Konsequenz wiederum zur Leugnung der Existenz des theistischen Gottes.136 Als ob dem nicht schon genug wäre, unterstreicht Hermanni selbst die Hinfälligkeit von 6), indem er einen weiteren – wenn auch etwas schwächeren – Einwand, der auf Seiten der Theismus-GegnerInnen dagegen vorgebracht werden könnte, entwickelt und so die Angreifbarkeit der These 6) untermauert. Dazu verweist er auf die Sinnlosigkeit gewisser Übel, für die zweifellos kein hinreichender Grund sprechen kann.137 Also würde, selbst wenn 6) zutreffen würde, doch 130 131 132 133 134 135 136 137

Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Ebd., S. 262. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 263.

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gegen einen theistischen Gott sprechen, dass diese sinnlosen Übel, die ein so verstandener Gott ja durchaus verhindern könnte und daher auch müsste, weil keine moralisch hinreichenden Gründe für ihre Existenz sprechen, nicht verhindert werden, sondern tatsächlich existieren. So zieht Hermanni den Schluss, der Theismus-Gegner bzw. die -Gegnerin ziehe aufgrund von 7) den Schluss, „dass die Annahmen (1) bis (3) logisch unvereinbar sind. Im zweiten Fall hält er es zwar für logisch möglich, dass diese drei Annahmen zugleich wahr sind, aber für unwahrscheinlich.“138 Doch bleibt Hermanni nicht auf dieser Stufe stehen, sondern geht nochmals einen Schritt weiter, indem er eine Stufe erreicht, auf welche ihm zufolge jede „gute“ Theodizee, die „nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein soll“139, gelangen muss. Diese anzustrebende Ebene zeichnet sich dadurch aus, dass ihr eine logische – und damit zwingende – Verknüpfung von Gütern und Übeln zugrunde gelegt wird, welche ihrerseits als Konsequenz die Unmöglichkeit der Verwirklichung gewisser Güter bei Ausschluss gewisser Übel zur Folge hat.140 „Nur in diesem Fall hätte auch ein allmächtiges Wesen, da es nichts logisch Unmögliches tun kann, einen moralisch hinreichenden Grund, Übel nicht zu verhindern.“141 Damit Gott nicht am Bösen scheitert, muss aufgezeigt werden, „dass es logisch möglich und empirisch nicht unplausibel ist“142, dass ein solcher zwingender logischer Zusammenhang zwischen Übeln und Gütern besteht, dass ein zugleich allgütiges und allmächtiges Wesen 9) Übel nur „deshalb nicht verhindert, weil ihre Zulassung mit größeren Gütern und/oder mit der Abwesenheit größerer Übel in logisch notwendiger Weise verknüpft ist.“143 Dabei ergibt sich allerdings das Problem, dass ein Gut gefunden werden müsste, aufgrund dessen sich die Übel rechtfertigen ließen.144 Hermanni schildert, dass die europäische Wissenschaft den Nachweis eines solchen Gutes bis anhin erst gar nicht erbringen konnte, im anglo-amerikanischen Raum dagegen gibt es zwar solche Versuche – zum einen die Free-Will-Defense, zum anderen die Soulmaking-Theodicy –, doch insgesamt sind auch diese vorgebrachten Versuche für Hermanni mehr eine Enttäuschung als eine Erleuchtung und vermögen ihn nicht zu befriedigen.145 Daher unternimmt Hermanni noch einen weiteren Schritt und spezifiziert 9) 138 139 140 141 142 143 144 145

Ebd. Ebd., S. 264. Nach: Ebd., S. 263f. Ebd., S. 264. Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Die beiden erwähnten Ansätze werden weiter unten ausführlich dargestellt.

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in eine leibnizsche Richtung,146 indem auch Hermanni letztlich eine bestmögliche Welt postuliert, zu der die existierenden Übel zwingend gehören, da sie ohne diese insgesamt schlechter und damit nicht die bestmögliche wäre. Die letzte Argumentationsstufe zur Verteidigung des theistischen Gottes lautet damit in den Worten Hermannis: „(10) Die Übel werden vom allmächtigen und allgütigen Gott deshalb nicht verhindert, weil sie logisch notwendige Elemente der von ihm geschaffenen unübertrefflich guten Welt sind und weil die Existenz dieser Welt ihrer Nichtexistenz vorzuziehen ist.“147 Auf dieser Argumentationsstufe sieht Hermanni die theistische Gottesrede auch angesichts der Realität des Bösen als gerettet an. Bevor nun die erwähnten freiheitstheoretischen Ansätze im englischsprachigen Raum vorgestellt werden, soll der Paradigmenwechsel, welcher im 20. Jahrhundert Lissabon ablöste, betrachtet werden. Wenden wir uns daher der Theodizee angesichts Auschwitz zu. 2.4

Die Theodizee angesichts Auschwitz

Gerade die Erfahrung der Shoah148 stürzte (und musste stürzen) die Theologie, insbesondere aber die klassischen, bis anhin einigermaßen befriedigenden 146 147 148

Nach: Ebd. Ebd., S. 265, Hervorhebung im Original. In der Regel wird von der Verfasserin bewusst nicht auf den Begriff Holocaust zurückgegriffen. Dieser leitet sich vom griechischen Holocauston (ὁλόκαυστον), welches in der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel für das Ganzopfer verwendet wird, ab. Doch kommt dem im Zweiten Weltkrieg Geschehenen nicht der Charakter eines Opfers an Gott zu. Damit wird man den Opfern nicht gerecht, die einfach sinnlos dahingerafft wurden. Viel passender dagegen ist der hebräische Begriff Shoah, Katastrophe, denn genau das ist es, worum es sich handelt: eine Katastrophe, eine menschliche Katastrophe, das Versagen von Mitmenschlichkeit und Menschlichkeit. Hutner hält fest, dass der Begriff Shoah insbesondere von der Gedenkstätte Yad vaShem geprägt worden ist. (Nach: Hutner (1982), S. 28.) Dabei wurde auf diesen Begriff zurückgegriffen, da „die Tragödie des europäischen Judentums in ihren Proportionen und Ausmaßen so einzigartig sei, dass kein vorhandener Begriff beinhalten könne, was sie bedeute.“ (Ebd.) Hutner selbst bezieht aber Stellung gegen diesen Begriff. Für ihn ist es weder zulässig von Shoah, noch von Holocaust zu sprechen, da beide das Ereignis von der Gesamtheit der jüdischen Geschichte isolieren und als Einzelereignis – losgelöst von allen anderen Ereignissen – darstellen. (Nach: Ebd.) Vielmehr sei auch dieses Ereignis im Gesamt der Geschichte zu betrachten, denn alles andere sei „weit entfernt von toragemäßer Sicht auf jüdische Geschichte.“ (Ebd., S. 40.) Hutner (u.a., so z.B. Maybaum) spricht stattdessen von Churban (‫)חורבן‬, Zerstörung, derselbe Begriff, der auch für die Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels in Jerusalem

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Antworten auf die Theodizee, in eine gewaltige Krise: Angesichts des unermesslichen und unvorstellbaren Leids, welches über das jüdische Volk, aber auch über andere Menschengruppen wie Behinderte, Sinti und Roma sowie Homosexuelle, gekommen war, mussten die dagewesenen Antworten versagen.149 Moltmann weist darauf hin, dass es gerade bei Auschwitz nicht eigentlich um eine Theodizee, um eine Rechtfertigung Gottes gehen soll, da dies auf der theoretischen, apathischen Ebene verbleibt, dagegen sei nach dem Wo Gottes in der Shoah zu fragen, wodurch eine persönliche Beziehung ins Spiel gebracht wird.150 Diese Frage nämlich ist es, welche „nach einem Gott, der unsere Leiden teilt und unseren Kummer trägt“151, sucht. Weiter müsse auch die Frage nach den Tätern und deren Schicksal bzw. der Möglichkeit deren Erlösung aufgeworfen werden.152 Moltmann stellt damit nicht die Frage nach dem Warum ins Zentrum, sondern betont die Zentralität der Frage nach dem Wo Gottes – und zwar eines personalen Gottes, meines, unseres Gottes – sowie nach dem Wo des Menschen.153 Eine Arbeit, welche sich der Erörterung der Herkunft des Bösen verpflichtet sieht und sich in diesem Zusammenhang auch mit der Theodizee-Debatte auseinandersetzt, kommt nicht umhin, sich auch der Theodizee nach Auschwitz zu widmen. Dabei

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Verwendung findet. Die Shoah wird so als Dritter Churban (vgl. Maybaum (1982)) dargestellt. Diese Sichtweise entspreche vielmehr dem traditionellen jüdischen Modell des jüdischen Geschichtsverständnisses: „Durch die Jahrhunderte hindurch heißt das Muster jüdischer Geschichte churban – galut – ge’ula, Zerstörung – Exil – Erlösung, und kein Ereignis macht neue Denkkategorien oder Begriffsbestimmungen erforderlich.“ (Hutner (1982), S. 41, Hervorhebung im Original.) Vgl. z.B.: Küng (2007), S. 704. Plantinga (*1932) etwa – ein Philosoph, der nach Auschwitz geschrieben hat – stellt heraus, dass das Problem des Bösen philosophisch gesehen für viele den Ursprungsort des natürlichen Atheismus bildet. (Nach: Plantinga (1974), S. 7.) Nach: Moltmann (1997), S. 46f. Moltmann weist dabei darauf hin, dass etwa Johann Baptist Metz die Möglichkeit einer Theodizee angesichts Auschwitz mit dem Vorwurf der Blasphemie entschieden verneint: „Für Metz hat ‚Auschwitz‘ jede Theologie der Geschichte zerbrochen, weil es keine christliche ‚Theodizee‘, keine Rechtfertigung Gottes und auch keinen ‚Sinn der Geschichte‘ im Angesicht der Ermordeten von Auschwitz geben kann. Gott vor ‚der Grube‘ rechtfertigen zu wollen und einen Sinn in dem entsetzlichen Geschehen zu suchen, wäre Gotteslästerung.“ (Ebd., S. 53.) Ebd., S. 47. Ebd. Nach: Ebd., S. 46f. Moltmann verweist bei der Frage nach dem Wo des Menschen auf die biblischen Erzählungen von Adam und Eva sowie von Kain und Abel, also die Gebotsübertretung (Gott fragt Adam, wo er ist) sowie die erste Sünde (Gott fragt Kain nach dem Brudermord an Abel, wo Abel ist). (Nach: Ebd., S. 47.)

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wird keinesfalls Vollständigkeit beansprucht, ist doch das Thema selbst so umfassend, dass es genügend Stoff für eine eigene Arbeit liefern würde.154 154

In diesem Zusammenhang seien einige Literaturhinweise gemacht: Baum (2004); Ginzel (1980); Brocke/Jochum (1982); Neusner (1982); Ben-Chorin/Lenzen (1988); Lenzen (2002), insbes. S. 112–202; Braiterman (1998); Petersen/Reck (2004); Henrix (2006); Friedlander (1995); Schüssler/Görgen (2011), insbes. S. 91–118; Jonas (1994), insbes. S. 27–55; Levinger (1980); Menke (2009; Oberdorfer (2009) setzt sich kritisch damit auseinander); Tück (2004); ders. (1999); Höfele (2010); Deselaers/Łysień/Nowak (2010); Rubenstein (1966); Giuliani (2002); Frede-Wenger (2005); Görg/Langer (1997) sowie Reck (1998). Harrelson/ Falk (1990) bieten je eine christliche (Harrelson, S. 135–142.) sowie eine jüdische Sichtweise (Falk, S. 127–134.) auf Antisemitismus und Shoah. Natürlich gibt es auch zahlreiche literarische Auseinandersetzungen mit der Thematik, so z.B. Camus Pest, die Publikationen von Elie Wiesel wie etwa das autobiographische „Die Nacht“, Paul Celan, Nelly Sachs und unzählige mehr. Auch auf Adornos Negative Dialektik sei hier verwiesen. Adorno etwa betont das Recht des Zur-Sprache-Bringens des Leidens. Er zieht auch die Rede vom Nichts heran und schreibt: „Für einen Menschen im Konzentrationslager wäre, wenn ein rechtzeitig Entkommener irgend darüber urteilen darf, besser, er wäre nicht geboren.“ (Adorno, nd, S. 373.) Doch bleibt dieser Verweis auf das Nichts nicht an dieser Stelle stehen, vielmehr wird das Recht auf Klage betont, eine Klage, welche in eine Hoffnung mündet, eine Hoffnung auf einen besseren Weltzustand, es ist daher wichtig, dem Leiden Ausdruck zu verleihen, um das „Recht“ auf (echtes, erfüllendes) Leben hervorzuheben: „Im Erbe von Handlung darin, dem scheinbar stoischen Weitermachen, wird aber lautlos geschrien, dass es anders sein soll. Solcher Nihilismus impliziert das Gegenteil der Identifikation mit dem Nichts. Gnostisch ist ihm die geschaffene Welt die radikal böse und ihre Verneinung die Möglichkeit einer anderen, noch nicht seienden.“ (Ebd., S. 373f.) Weiter soll hier auch Margarete Susman Erwähnung finden, welche den Versuch unternahm, die Shoah anhand der biblischen Erzählung von Hiob zu deuten und der entsprechenden Schrift konsequenterweise den vielsagenden Titel „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ verlieh. Doch ist Susman bei Weitem nicht die einzige Vertreterin jüdischerseits, welche die Shoah mittels Hiob zu deuten versuchte: „Besonders die deutsch-jüdischen Dichter griffen auf Hiob zurück, um anhand seines Schicksals die unsagbaren Geschehnisse des Holocaust, der ‚Shoah‘, in sprachliche Form zu bringen. Einige Zentralgedichte von Margarete Susman, Rudolf Leonhard, Nelly Sachs, Yvan Goll und Karl Wolfskehl werden hier zu nennen und ausführlich zu interpretieren sein.“ (Langenhorst (1994), S. 18.) Eine Vielzahl diesbezüglicher Texte, wie etwa von Nelly Sachs aber auch von Margarete Susman und Elie Wiesel, sind abgedruckt in: Ders. (1995). Zur Hiobsrezeption angesichts der Shoah durch jüdische Dichter s. z.B.: Ders. (1994), S. 120–223, wobei dort auch auf eine Ablehnung der Tauglichkeit Hiobs zur Deutung des jüdischen Schicksals hingewiesen wird. Auch Oberhänsli-Widmer hält fest, dass sich insbes. die Figur des Hiob zur theologischen Bewältigung der Shoah anbietet. (Nach: OberhänsliWidmer (2007), S. 327.) Es sei auch ein Gedicht Pelegs erwähnt, welches sich mit der Ermorderung jüdischer Kinder in der Shoah auseinandersetzt und dabei biblische Motive aus dem Abrahamszyklus (Bindung Isaaks und Verheißung der Nachkommenschaft, die so zahlreich wie die Sterne sein wird) sowie aus der Hiobserzählung anklagend anführt.

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Dass eine Auseinandersetzung,155 wenn auch in gebotener Kürze, erfolgt, ist durchaus von zentraler Bedeutung, stellt doch die mit dem Terminus Auschwitz als Sinnbild des Schreckens für all die Vernichtungslager, insbes. im Osten, umschriebene Erfahrung mit Metz’ Worten einen „epochalen Einschnitt“156 gerade auch für die Theologie dar: „Christliche Theologie, die mehr u.[nd] anderes ist als situations- u.[nd] gedächtnislose Heilslehre, ist fortan ‚Theologie nach Auschwitz‘.“157

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Das Gedicht „The Yad Vashem Childrens’ Memorial-Poem“ ist abgedruckt in: Peleg (2012), S. 44f. Eine Durchsicht über die Hiobsinterpretation auf jüdischer Seite in der Moderne – vor der Shoah mit Blick auf die Erfahrung der Pogrome im ausgehenden 19. Jh., als direkte Auseinandersetzung mit der Shoah, sowie auch im Land Israel als Post-Shoah-Literatur – sei verwiesen auf: Oberhänsli-Widmer (2003), S. 181–332. Dabei lässt sich der Wandel der Hiobsfigur, welcher sich von der Antike bis zur Moderne vollzog, eindrücklich schildern: „[D]enn während er im biblischen Text auf differenzierte Art mit Gott um eine Antwort nach Grund und Sinn des Leidens ringt und dabei in sich die gegensätzlichen Rollen von Dulder und Rebell vereinen kann, macht das hellenistische Frühjudentum aus ihm einen Verfechter für Armenunterstützung und Auferstehungslehre, demgegenüber erklären die Lehrer von Talmud und Midrasch Hiob mehr oder weniger einmütig zum Kolporteur von gotteslästerlichem Gedankengut, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Hiob ein frommer orthodoxer Jude und selbst während und kurz nach der Schoa spart er nicht mit Liebeserklärungen an Gott, doch in der israelischen Literatur wendet er sich immer mehr von Gott ab und endet an der Schwelle zum 21. Jahrhundert als Atheist.“ (Ebd., S. 334f.) Es wird versucht, den Diskurs auf einer möglichst objektiven, wissenschaftlichen Ebene zu halten, was sich gerade mit Blick auf Auschwitz als nahezu unmöglich erweist. Angesichts Auschwitz ist wohl Ammicht-Quinn beizustimmen, dass eine befriedigende Theodizee heute nur eine praktische sein kann. (Vgl.: Ammicht-Quinn (1992), S. 21; vgl. z.B. auch: Küng (2007), S. 728f.) Metz, J. (1993), Sp. 1261. Schüssler/Görgen äußern die These, ob die Entwicklung von Lissabon nach Auschwitz heute vielleicht nicht sogar weitergehe und die Anschläge auf die Zwillingstürme in New York 2001 das neue Problem, um welches die Debatte kreist, darstellten. (Nach: Schüssler/Görgen (2011), S. 5.) Metz, J. (1993), Sp. 1260f. Vgl. hierzu auch: Ammicht-Quinn (1992), S. 195f., wobei sie von einem „Kontinuitätsbruch“ bzw. „Zivilisationsbruch“ spricht. Der Wendepunkt (turning point), als der die Shoah proklamiert wird, findet sich etwa bei: Vanhoutte (1988), S. 192. Doch kann eine solche Interpretation der Shoah als Kontinuitätsbruch und damit eine Einreihung in die Theodizee-Diskurse auch äußerst kritisch und ablehnend beurteilt werden: „Der Weg zu einem rein symbolischen Gebrauch von Auschwitz ist von hier aus nicht weit. So muss die Shoah innerhalb von Theodizeereflexionen als ‚Beispiel‘ für ‚das Böse‘ herhalten, sie wird zum Signalwort, das einen Paradigmenwechsel anzeigen soll oder zu einer bloßen ‚Station‘ in der Geschichte der Gewalt, auf dem ‚Weg von Robespierres Guillotine über Lenins Massenerschießungen bis zu Hitlers Gasöfen‘. Auf diese Weise werden nicht nur die konkreten Opfer ihrer Geschichte beraubt und gesichtslos in die lange Reihe

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der ‚Opfer schlechthin‘ eingepasst; auch die Shoah insgesamt wird ihrer unverwechselbar verstörenden Konturen ledig und zu einem immer schon begriffenen Teil einer Schreckensgeschichte, die nichts von unserem heutigen Leben in Frage stellt, sondern eher den Lauf der Zeit – mit ontologisierendem Einschlag – bestätigt: ‚Es war schon immer so‘. Daraus mag bestenfalls eine melancholische Lebenseinstellung erwachsen, und ein jenseitsorientierter Glaube wird darin die Bestätigung seiner Weltabgewandtheit sehen – erkauft ist dies alles mit einem Gewaltstreich gegenüber den wirklichen Opfern: sie werden unsichtbar gemacht, ein weiteres Mal ausgelöscht.“ (Reck (1997), S. 130.) Auch Wiesel betont mit eindrücklichen Worten die grundsätzlich veränderten Bedingungen nach Auschwitz, den Menschen wie aber auch Gott gegenüber, eine Veränderung, von welcher auch die Sprache selbst betroffen ist: „Jenes gewaltige Geschehen lastet auf unserem Gewissen und in unserem Bewusstsein. Was immer wir tun oder lassen, wir sind bewegt von dem, was damals geschah in jenem Reich der Finsternis. Was immer wir zu erreichen oder aufzugeben hoffen, was immer wir unterdrücken oder offenbaren möchten, wir werden stets auf jenes unsichtbare Mysterium starren, wo sich Gott und Mensch voller Entsetzen in die Augen schauten. Vor diesem Hintergrund muss alles, was bisher Geltung hatte, in Frage gestellt werden. Nach Auschwitz haben die Worte ihre Unschuld verloren, nach Treblinka ist Stille gefüllt mit neuer Bedeutung, nach Majdanek hat der Wahnsinn seine mystische Anziehungskraft wieder erlangt. Des Menschen Verhältnis zu seinem Schöpfer, aber auch zur Gesellschaft, zur Politik, zur Kunst, zu den Mitmenschen und zu sich selbst muss neu in Frage gestellt werden. Jenes Geschehen beraubte den Menschen all seiner Masken.“ (Wiesel (1979), S. 23f.) Gerade auch die Aussage, Gott und Mensch hätten sich direkt in die Augen geschaut in Auschwitz, ist interessant. Wiesel schildert eine chassidische Erzählung, der gemäß Gott und Mensch die Rollen tauschten, der Mensch aber nicht bereit war, die Rollen wieder zurückzutauschen. (Nach: Ders. (1987), S. 176.) Dies bedeutet also, dass bei der Rede vom Verhältnis der Menschen untereinander immer auch das Verhältnis von Gott und Mensch angesprochen ist. Und so ist im Morden der Nazis an den Juden, einem zwischen-„menschlichen“ Geschehen, eigentlich auch das Verhältnis von Gott und Mensch angesprochen, sodass Gott und Mensch sich gerade auch in Auschwitz in die Augen blickten. Doch auf welcher Seite steht für Wiesel dieser Gott, dem in der Shoah in die Augen geschaut wird: auf der Seite der Opfer oder der Täter? „Wir werden die faszinierende Entdeckung machen, dass alle Rollen, die E. Wiesel seinen Personen in ihrem Verhalten gegenüber dem furchtbaren Verbrechen zuschreibt, jenen Rollen gleichen, welche wir oft Gott zuteilen möchten.“ (McAfee Brown (1979), S. 107.) Eindrücklich findet sich dies auch in Wiesels Schilderung der ss-Männer: „Die Angst vor Schlägen ist grösser als die Furcht vor himmlischer Strafe. Hier siegte der Feind: Die ss und nicht Gott regiert unsere Welt; ihr Schatten ist auf uns gefallen. Der ss-Mann will von seinem Opfer nicht als überlegener Mensch, sondern als Gott anerkannt werden. Er führt sich wie ein unantastbarer, allmächtiger Gott auf. Es gibt ihn und es gibt uns: Er hat alle Rechte, wir kein einziges. Er sieht alles, wir sehen nichts. Mit einer einfachen Handbewegung schickt er uns in den Tod oder gibt uns zu essen. Wir haben nicht das Recht, ihn anzusehen. Jeder, der Gott ins Auge sieht, stirbt. Und was ist mit dem Glauben, der mich mit dem Gott Israels und meinen Vorfahren verbindet? Er hat hiermit nichts zu tun, noch nicht. Der Glaube bleibt verborgen und nahezu ungetrübt.“ (Wiesel (1995), S. 116f.) Die ss spielt sich

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PHILOSOPHISCHER ZUGANG als Gott auf, nimmt alle seine Eigenschaften für sich in Anspruch. Doch vermochte dies alles seinen Gottesglauben, den Glauben an den überlieferten Gott Israels nicht zu trüben – noch nicht. Wie er schreibt, hatte er in den Konzentrationslagern nur seinen Vater, daher brauchte er Gott, erst später plagten ihn Zweifel an dem überlieferten Gottesbild. (Nach: Ebd., S. 116.) Bedeutsam erscheint der Verfasserin aber insbesondere, dass Wiesel in seiner Autobiographie gerade für die Beschreibung seines Vaters eine Weise der Rede findet, welche er auch auf Gott anwendet. „Mein Vater ahnt etwas, doch er schweigt. Mein Vater ahnt alles, weiß alles, aber er kann nichts tun.“ (Ebd., S. 126.) Hier begegnet einerseits die göttliche Allwissenheit als klassisches Attribut, zugleich aber auch Wiesels Rede vom Schweigen Gottes, seinem Nichteingreifen, seinem Untätig-Bleiben. Und über das Verlassen des Lagers Buchenwald schreibt er: „Von meinem Vater getrennt leben. Meinen Vater zurücklassen. Auf dem unsichtbaren Friedhof von Buchenwald. Ich betrachte den Himmel. Dort ist sein Grab. Jedesmal wenn ich die Augen zum Himmel erhebe, sehe ich sein Grab. Verlass mich nicht Vater, auch wenn ich dich verlasse. Von jetzt an werden wir nur noch im Traum zusammen und vereint sein. Ich schließe häufig die Augen, nur um dich zu sehen. Du gehst den einen Weg, ich den anderen. Und trotzdem wird der Abstand zwischen uns nicht geringer. Ich gehe weg aus dem Lager, wir gehen weg aus dem Lager, wir gehen einem neuen Leben entgegen. Und du dort oben, du bist nur noch eine Handvoll Asche. Nicht einmal das.“ (Ebd., S. 139.) Der Übergang der Rede vom irdischen Vater zum himmlischen Vater scheint fließend, verschwommen zu sein, man ist sich nicht sicher, wo noch vom biologischen Vater die Rede ist und wo unterschwellig schon von Gott die Rede ist. So ist es vielleicht nicht zu weit interpretiert, nimmt man an, dass Wiesel den tradierten Gottesglauben, einen Glauben, der so sehr mit seinem Vater verbunden war, gerade auch durch den Tod seines Vaters zusammen mit diesem in der Vergangenheit der Welt des Lagers hinter sich gelassen hat. Gott ist nur noch eine Handvoll Asche. Nicht einmal mehr das. Wiesel hatte zu ihm gefleht, seinem Vater zu helfen, doch der Angeflehte hatte kein Mitleid. (Nach: Ebd., S. 131.) Doch blieb auch nach der Zeit im Lager der Glaube scheinbar ungebrochen vorhanden – betete er doch nun insbesondere für seinen Vater – doch fingen die entscheidenden Fragen nach Güte und Gerechtigkeit Gottes bereits an, ihn zu bedrängen. (Nach: Ebd., S. 158.) Dennoch ist das Gottesbild aber schon viel früher zerbrochen, nicht erst nach dem Krieg und auch nicht erst mit dem Tod seines Vaters. Von prägender Bedeutung war für diesen Prozess seine erste Nacht im Lager, als er mitansehen musste, wie jüdische Kinder verbrannt wurden: „Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.“ (Ders. (1980), S. 50.) Obwohl dies alles Wiesel also den überlieferten Gottesglauben genommen hat, spricht er dennoch weiterhin von und zu Gott. Dieser Schritt ist somit weit vielschichtiger als einfacher Atheismus. Sein Gott (richtiger: sein Gottesbild) wurde gemordet, Gott aber lebt ewig. Zur Aufgabe nur des Gottesbildes bei Wiesel, nicht aber des -glaubens s. z.B. auch: Kuschel (1998), S. 275.

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Zunächst sollen einige grundsätzliche Erklärungsversuche vorgestellt werden, welche den traditionellen Erklärungen von Schuld/Sünde und Strafe, aber auch stellvertretendem Leiden zur Reinigung verpflichtet bleiben. Danach sollen zwei aus dieser Warte betrachtet unkonventionelle Ansätze detailliertere Betrachtung finden. 2.4.1 Erklärungen auf traditioneller Basis Die Meinung wird vertreten, was dort an Juden verübt worden war, sei als Martyrium zu werten. Eine solche Bewertung der schrecklichen Geschehnisse wird keinem gerecht und verleiht einer unendlichen Grausamkeit und Unmenschlichkeit eine unverschämt hohe angebliche Würde. Allerdings ist es überraschend und erschreckend zugleich, dass diese Vorstellung in der ersten Zeit von vielen vertreten worden war. Es wurde wohl versucht, dem Sinnlosen158 einen Sinn abzuringen und den jeglicher Würde beraubten Opfern ein Stück Würde zurückzugeben. Dies ist ein durchaus mehr als nachvollziehbares Bestreben. Welche Konsequenzen dies aber auf andere Aspekte hatte, muss kritisch mitbedacht werden. So wurde denn Hitler zu einem (wenngleich auch verächtlichen und unwürdigen)159 Werkzeug Gottes erklärt,160 der letztlich nur den Willen Gottes ausführte. In seinem abscheulichen und hirnrissigen Unterfangen, ein ganzes Volk auszulöschen, äußerte sich nicht die menschenverachtende Macht des Teufels, sondern Gott selbst stand dahinter, um durch dieses maßlose Blutvergießen stellvertretend für die Menschheit – gleichsam dem Gottesknecht aus Jesaja – Sühne für ihre Sünden zu leisten und so davon zu reinigen und die Welt dadurch zu erlösen.161 Hitler als Werkzeug Gottes, Tausende von übergeschnappten Menschen, die nur den Plan Gottes erfüllten, indem sie Menschen erschossen, vergasten und auf allerlei abscheuliche Weise ihrer Menschlichkeit und Würde beraubten, und letztlich: Gott selbst, der dieses Menschen entwürdigende Leid über Unschuldige brachte, um die Welt von ihren Sünden zu reinigen (sehen wir uns doch die Welt, so wie sie 158 159 160

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Zur Sinnlosigkeit des Leidens s. z.B.: Levinas (1995). Nach: Maybaum (1982), S. 15. Nach: Ebd. Siehe hierzu auch die bei Ammicht-Quinn geschilderte Geschichtsdeutung Carossas. (Vgl.: Ammicht-Quinn (1992), S. 114–119.) Stosch etwa spricht sich gegen diese Ansicht aus, äußert aber eine nicht weniger stoßende Sichtweise: So plädiert er dafür, dass Gott den Tätern (!) Liebesangebote machte, z.B. in einem Mädchen, welches die Vergasung überlebt hatte, dass diese Angebote aber nicht angenommen und die Täter auf ihrem dämonischen Weg blieben und weiter mordeten. (Nach: Stosch (2006), S. 330–337.) Damit spricht Stosch zwar von einem Eingreifen Gottes, aber nicht direkt für die Opfer, sondern für die Täter! Nach: Maybaum (1982), S. 15.

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heute ist, ganz unverblümt, einmal genau an: kann man hier von einer gereinigten Welt sprechen?!) – welch wahnwitzige Idee, welch ein Hohn an den in den Lagern Ermordeten und an Gott selbst! Dass eine solche Erklärung nur mit noch mehr Unverständnis und neuerlichem Leid verbunden ist, versteht sich von selbst. Dem absolut Sinnlosen kann kein Sinn abgerungen werden. Dies führte in nur noch größere Glaubenskrisen. Erst wenn die Sinnlosigkeit dieses Verbrechens an einem ganzen Volk und an der Menschlichkeit akzeptiert wird, können Wege aus der Verzweiflung gefunden werden. Nochmals gilt es zu betonen, dass es sich hierbei nicht um ein Martyrium handelte, nur schon aufgrund der Tatsache, dass keine Wahlfreiheit gegeben war. Man konnte sich nicht taufen lassen und so sein Leben erretten. Genauso wenig konnte man sich aber für sein Jüdisch-Sein entscheiden und den selbstgewählten Tod auf sich nehmen als Martyrium und Bekenntnis zum jüdischen Glauben und dem einen Gott Israels. Im Lager wurde selbst der Tod seiner letzten Würde als Martyrium beraubt.162 Darüber hinaus waren im Tod alle gleich. Es kann nicht von einem bewussten Martyrium gesprochen werden: Die Gerechten163 wurden gleichermaßen ermordet wie die Frevler, die ungläubigen, völlig säkularen Juden genauso wie die chassidischen Frommen, die Alten wie die Kinder. Weder moralische noch religiöse Qualität spielten hier eine Rolle.164 Doch dass gerade die religiöse sowie moralische Qualität nicht aller sechs Millionen 162 163

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Vgl.: Fackenheim (1982), S. 83. An einigen Stellen verzichtet die Verfasserin auf die Hinzufügung der femininen Form, da das gegenpolige Wort als Allgemeinbegriff männliche und weibliche VertreterInnen beinhaltet und nicht geschlechtlich aufgeteilt werden kann, so etwa Gerechte, Fromme oder Opfer, weswegen i.d.R. nicht von Frevlerinnen und Frevlern bzw. Täterinnen und Tätern, etc., sondern nur von Frevlern und Tätern die Rede ist, wobei diese Begriffe in diesem Zusammenhang ebenfalls als Allgemeinbegriffe angesehen werden, die wie die gegenpoligen Begriffe Frauen und Männer gleichermaßen einschließen. Auch Lenzen verweist auf dieses Phänomen bei einer Deutung aller jüdischen Shoah-Opfer als Märtyrer: „Nach traditionellem Verständnis hängt die kollektive Heiligkeit der Schoa-Opfer nicht von der Art und Weise ab, wie sie ihr Leben führten, sondern wie sie es verloren. Demnach starb jeder Jude, der, willentlich oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, von nationalsozialistischen Tätern getötet wurde, zur Heiligung des Namens.“ (Lenzen (2016), S. 19.) Und weiter: „Nicht ihr persönlicher Charakter oder Lebenslauf, sondern das Faktum ihres Gewalttodes durch Feindeshand erhebt alle jüdischen Toten der Schoa in den Rang heiliger Märtyrer und Märtyrerinnen. Wenn auch nicht alle – wie zur Zeit der Kreuzzüge – für das Judentum starben, so starben sie doch alle, auch die Assimilierten oder Konvertierten, wegen ihres Judeseins.“ (Ebd., S. 19f.) Auch Giuliani verweist auf diesen Zusammenhang, wenn er die Unterscheidung in aktive Heiligung des göttlichen Namens (Selbstopferung, traditionaller Gebrauch des Wortes) und passive

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dahingerafften Juden als makellos anzusehen ist – wobei dies nichts an der Grauenhaftigkeit dieser Ereignisse ändert, niemand hat ein solches Los verdient –, vernachlässigt Maybaum völlig und wirft alle Menschen – auf beiden Seiten, Täter wie Opfer – in einen Topf, ganz so, als ob alle Angehörigen der Täterstaaten Monster und Sünder gewesen wären, auf Seiten der Opfer aber ausnahmslos alles Heilige. Dass diese undifferenzierte Sichtweise falsch und im Hinblick auf die mit der Shoah sich aufdrängende Problematik alles andere als hilfreich ist, um eine Antwort zu finden, ist offensichtlich. Darüber hinaus scheint er auch zu vergessen, dass das Naziregime auch andere unschuldige Opfer kennt: so z.B. Homosexuelle, Behinderte, Sinti und Roma. Wenngleich die Juden zweifellos die größte Gruppe ausmachten, waren sie dennoch nicht die einzigen Opfer des Naziwahns. Allen Ernstes schreibt aber Maybaum: Wenn Hitlers Reich ein Sodom war oder gar die ganze Welt innerhalb wie außerhalb Deutschlands im Zeitalter Hitlers ein Sodom war, das in gemeinsamer Schuld Hitler hervorbrachte, dann waren die sechs Millionen Juden, die umkamen, sicherlich unschuldig und hatten keine Schuld an dem allgemeinen Verfall, der unsere Kultur heimgesucht hatte. Warum mussten sechs Millionen Juden beim Untergang des Sodom unserer Tage sterben, da Gott doch bereit war, das biblische Sodom zu schonen, wenn es nur Zehn gerechte stellvertretend aufzuweisen hatte?165 Doch so einfach ist es eben gerade nicht: Die Shoah kann nicht mit der Geschichte Sodoms verglichen werden.166 Es gibt keine Erklärung für das

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Heiligung des Namens, welche darin besteht, dass ein Jude durch die Hand eines NichtJuden getötet wird und zwar einzig und allein aufgrund seines Jude-Seins, schildert. (Nach: Giuliani (2002), S. 127.) Dieses neue Verständnis, die passive Heiligung des göttlichen Namens, trifft für die Shoah zu – und zwar auf alle jüdischen Opfer. (Nach: Ebd.) „To die, to be massacred for the mere fact of being a Jew is already a motive for Kiddush haShem because each Jew is more than himself; he is himself and a carrier of a Divine essence.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) Maybaum (1982), S. 16f. Ein Vergleich mit Sodom ist nur schon deshalb unzulässig, weil nur schuldige Menschen vernichtet wurden – die Unschuldigen (Loth, seine Frau sowie seine beiden Töchter) wurden vor dem Gericht Gottes aus Sodom herausgeführt. (Vgl.: Gen 19,12–17.) Noch viel eindrücklicher ist Abrahams „Handel“ mit Gott, indem er Gott darauf hinweist, dass es nicht recht ist, den Gerechten unterschiedslos zusammen mit dem Ruchlosen zu vernichten und so erweicht sich Gott, dass wenn er 50, 40, 30, 20 oder sogar nur zehn Gerechte in Sodom findet, er die ganze Stadt um ihrer Willen verschont. (Vgl.: Gen 18,23–32.) Hätte

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Unerklärbare.167 Das eigentliche Problem, das sich hier gezeigt hat, ist kein theologisches, sondern ein anthropologisches: Wie ist es möglich, dass Menschen so sehr verfallen können, dass sie ein solches Unrecht nicht mehr als Unrecht wahrnehmen? Wie können Menschen so unmenschlich werden, dass sie andere Menschen so unsagbar schändlich behandeln und auf abscheulichste Weise ihrer Menschlichkeit berauben, sie zu Ratten, Schädlingen erklären, die es zu vertilgen gilt und sie einfach dahinraffen und auslöschen? Wie konnte der Mensch jegliches Mitgefühl verlieren? Wie kann es sein, dass der Mensch diese Art des Mordens durch Vergasung als den saubersten Weg und als kultiviert

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Abraham weitergefragt und Gott auf eine noch kleinere Zahl „heruntergehandelt“, so hätte Gott vielleicht selbst um einer Handvoll gerechter Menschen oder sogar nur um eines einzigen Gerechten Willen die gesamte Stadt verschont. Um wieviel mehr kann daher angenommen werden, dass eine kollektive Vernichtung im Stile Sodoms, bei welcher Millionen Unschuldiger dahingerafft werden, aus Gottes Perspektive unmöglich angenommen werden kann? Gerade das Anerkennen seiner Unerklärbarkeit garantiert beispielsweise für Nordhofen die Einzigartigkeit des Geschehenen, er nennt dies „einen Akt feierlicher Unheiligsprechung.“ (Nordhofen (1998), S. 80.) Ofir spricht interessanterweise von Kiddush haShem (Heiligung des göttlichen Namens), doch bezieht er diesen nicht, wie es traditionellerweise geschieht auf den Namen Gottes (zum Kiddush haShem in der jüdischen Tradition s.: Lenzen (2002).), sondern weitet diesen Terminus auf Namen von Orten des Schreckens, wobei der Inbegriff dieser Schreckensorte natürlich auch für ihn Auschwitz ist. (‫ אופיר‬:‫לפי‬ .346–355 '‫ עמ‬, (2010)) Und weiter zieht Ofir das Fazit, dass das Böse, welches von den Nationalsozialisten verübt wurde, bis zum heutigen Tag existiert – gerade aufgrund der Tatsache, dass es sich in unser Gedächtnis eingebrannt hat. (.364 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬In einer Tradition, in welcher der nationalsozialistische Albtraum weiterlebt und -existiert, indem er in den Köpfen der Leute – jener, welche überlebt haben, aber auch jener, welche in diesem Schatten aufwuchsen – weitergetragen wird und die Opfer geheiligt werden, wird nach Ofir Auschwitz an den leeren Platz Gottes gestellt. (.395 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Mit anderen Worten: Auschwitz hat den Platz Gottes eingenommen, den Gott leer hinterließ, nachdem der Glaube an ihn aufgrund des Albtraums aufgegeben wurde; und so hat Auschwitz nicht nur den Platz Gottes übernommen, sondern der Name hat auch die Heiligung, welche mit dem Namen Gottes verbunden war, auf sich gezogen: statt auf Gott bezogener Kiddush haShem nun Kiddush haShem, der heilige Name Auschwitz. Dies stellt allerdings eine Perversion dar: Diese Orte des Schreckens selbst werden zu etwas Heiligem erhoben. Da doch eher die von Nordhofen plädierte Unheiligsprechung – denn damit wird zwar die Verbindung zum Phänomen des Heiligen, angesichts dessen man in Schweigen gerät, ausgedrückt, zugleich wird aber auch der negative, dem Heiligen diametral entgegengesetzte Charakter betont.

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titulieren konnte?168 Als ob Morden kultiviert sein könnte! Doch damit nicht genug. Maybaums Märtyrerpathos kulminiert in folgender Aussage: Der Tag des Herrn kam: er war Finsternis und nicht Licht; er war ein Tag des Gerichts, der den Stolz des Menschen zunichte machte und ihn seine völlige Abhängigkeit von Gott lehrte. Die sechs Millionen, die starben, starben, weil kein Mensch eine Insel ist, weil jeder für jeden verantwortlich ist. Die Gerechten sind verantwortlich für die Sünder. Die Unschuldigen, die in Auschwitz nicht wegen ihrer eigenen Sünden, sondern wegen der Sünden anderer starben, sind Sühne für das Böse und das Opfer, das zum Altar gebracht und von Gott gnädig angenommen wird. Die sechs Millionen, die Toten von Auschwitz und anderen Orten des Schreckens, sind Juden, die unsere moderne Zivilisation unter die heiligen Märtyrer aufnehmen muss; sie starben als Opferlämmer wegen der Sünden der westlichen Zivilisation. Ihr Tod reinigte die westliche Zivilisation, so dass sie wieder zu einem Ort werden kann, an dem der Mensch leben, Gerechtigkeit üben, Barmherzigkeit lieben und in Demut mit Gott wandeln kann.169 Eigentlich gibt es hierzu nichts Neues mehr hinzuzufügen, es lassen sich dieselben Kritikpunkte anführen, die bereits genannt wurden. Einzig gilt es an dieser Stelle zu betonen, dass es sich hierbei eben gerade nicht um ein Gott wohlgefälliges Opfer handelte. Maybaums Ausführungen helfen den Opfern nichts, doch auch den Zurückgebliebenen gibt er mit dem Versuch, die Opfer als Märtyrer in Ehren zu halten, letztlich nichts. Im Gegenteil sind seine Formulierungen ein Faustschlag ins Gesicht eines jeden Überlebenden: Sie haben sich Gottes Plan entzogen, sie waren nicht bereit, den jesajanischen Sühnopfertod auf sich zu nehmen und so das stellvertretende Sühnopfer für die Sünden der Welt zu erbringen, sondern haben sich mit aller Kraft an das Leben und das Überleben geklammert; sie haben Gott das ihm wohlgefällige 168

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Küng sieht hierfür gerade die Fokussierung auf den Menschen alleine bei gleichzeitiger Gottvergessenheit verantwortlich: Wird auf den Menschen alleine gebaut und Gott als höchster Wert gestrichen, so verlieren auch alle übrigen Werte ihre Basis und ihren Grund und stehen so in der Gefahr, ebenfalls fallengelassen zu werden. (Nach: Küng (2007), S. 709.) Denn „Humanität ohne Divinität kann zur Bestialität werden.“ (Ebd., S. 711, im Original hervorgehoben.) Maybaum (1982), S. 19.

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Opfer vorenthalten. Die Überlebenden litten in erschreckendem Maße an der Schuld des Überlebt-Habens. Weshalb gerade sie? Waren denn nicht andere, die gestorben waren, viel bessere und frömmere Juden als sie? Bessere und reinere Menschen? Doch gerade eine sich aus dieser Schuld heraus ergebende Theologie des undifferenzierten Martyriums ist weder ein Ausweg noch eine Hilfe noch ist sie theologisch angemessen. Genauso wenig wie die Ermordeten eine Schuld an ihrem Tod trifft, so trifft auch die Überlebenden keine Schuld an ihrem Überleben. Die Shoah war kein religiöser Akt. Es wurde Gott kein ihm wohlgefälliges Opfer dargebracht. Doch gibt es noch weitere gefährliche Lösungsversuche. So wird auch die These vertreten, die Shoah sei nicht als stellvertretendes Sühnopfer über das jüdische Volk hereingebrochen, sondern – ganz im Denken des Tun-ErgehenZusammenhangs – als Strafe für die eigene Sündhaftigkeit.170 Dass dies eine grausame und ebenso falsche wie die zuerst genannte These ist, ist ebenso einleuchtend. Hartom aber ist beispielsweise der Meinung, dass gerade der Kausalzusammenhang von Tun und Ergehen uns helfen kann, die Shoah im 170

Eine solche Geschichtsdeutung – wenn auch in diesem Kontext nicht auf die Erfahrung der Shoah gemünzt – findet sich auch bei Neusner. (Nach: Neusner (2011), S. 148f.) Biblische Texte, welche sich dezidiert gegen einen Tun-Ergehen-Zusammenhang aussprechen, wie etwa das Buch Hiob, werden aufgrund einer einseitigen Betrachtung der Geschichte im Schema von Tun und Ergehen deutenden Schriften ignoriert. Zwar wird hier – wie gesagt – die Erfahrung der Shoah nicht erwähnt, da diese Aussagen aber von einem Rabbiner, welcher um die Ereignisse im 20. Jh. weiß, verfasst wurden, muss dieses Ereignis doch auch mitbedacht werden. Da bereits die Heilige Schrift in weiten Teilen ein Schema von Tun-Ergehen proklamierte, verwundert es nicht, dass dieses Schema auch in der Folgezeit immer wieder aufgegriffen wurde. (Nach: Kraemer, D. (1995), S. 22.) Interessanterweise äußert sich die Mishnah, so Kraemer, kaum zum Problem des Leidens, da die utopische Vision der Mishnah das Alltagsleben, für welches gerade auch die Erfahrung des Leidens steht, ignorieren wollte. (Nach: Ebd., S. 54f.) Wenn die Thematik des Leidens und der göttlichen Gerechtigkeit einmal doch gestreift wurde, dann nur, um abzustreiten, dass es hierbei ein Problem gibt. (Nach: Ebd., S. 55.) Der jerusalemer Talmud (Jerushalmi) erklärt das Leiden sodann wieder auf dem erwähnten biblischen Fundament, indem es als dem Ausmaß der Sünde eines Menschen exakt angemessen angesehen wurde und Gott als gerechter Richter dargestellt wird. (Nach: Ebd., S. 105.) Der babylonische Talmud (Bavli) dagegen befasst sich im Vergleich mit den übrigen Zeugnissen äußerst zahlreich mit der Thematik des Leids. (Nach: Ebd., S. 154.) Dabei streitet der bT das Thema nicht einfach ab wie noch die Mishnah, sondern diskutiert darüber. „The Bavli’s willingness to include such discussions shows that, in its opinion, suffering is a topic that reasonably commands attention, demanding rabbinic response.“ (Ebd.) Doch auch im bT wird zu weiten Teilen die Meinung verteten, dass Leiden Strafe für Sünde ist. (Vgl.: bT Shabbot 31b–33b.)

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rechten Lichte zu sehen und hilfreiche Lehren daraus zu ziehen.171 Als Übel des Tuns, welches die Shoah als entsprechendes, sich verdient zugezogenes Ergehen nach sich zieht, nennt etwa Hartom die Assimilation der Juden Europas an die westliche Welt.172 Und so wird auch von Hartom festgehalten, dass letzten Endes Gott hinter den Ereignissen der Shoah steht: Er hat sein Volk für dessen eigene Sünden bestraft.173 Doch selbst im Schrecken der Shoah noch habe Gott seine Barmherzigkeit walten lassen, indem er einen Teil seines strafwürdigen Volkes (unverdientermaßen) verschont hatte.174 Weswegen aber einige selbst tadellos und unschuldig waren, aber dennoch umgebracht wurden, andere dagegen überlebten, begründet er wie folgt: Entscheidend war eben nicht das Tun des Einzelnen, da das jüdische Volk ein Kollektiv ist, in welchem alle gemeinsam und füreinander haften; so konnte es sein, dass ein Angehöriger des jüdischen Volkes, der selbst an der kritisierten Assimilation gänzlich unbeteiligt war, für die Assimilationsvergehen seiner Mitbrüder mithaftete.175 Dies ist ein äußerst schwerwiegender Vorwurf: Das jüdische Volk war selbst schuld an seiner Verfolgung und beinahe Ausrottung. Noch krasser sind die Schlussfolgerungen. Denn Hartom hält fest, dass die Juden in der Diaspora nichts aus den Geschehnissen gelernt hätten und weiterhin der Assimilation frönten und so auf den Pfaden des Verderbens wandeln würden.176 Aus diesem Grunde besäße das jüdische Volk kein Existenzrecht und es müsse eine weitere Shoah über die Juden kommen, eine – wenn dies denn überhaupt möglich sei – noch größere, als jene im 20. Jahrhundert!177 Positiv zu würdigen ist der Versuch, an der in der Tradition verankerten Lehre festzuhalten. So weiß auch die Bibel davon zu berichten, dass die beiden Reiche Israel und Juda von Gott in die Hände der Feinde gegeben wurden: Er hat diese Herrscher als seine geschichtlichen Werkzeuge benutzt, um sein Volk für dessen Vergehen zu strafen. Hinter allen Ereignissen der Geschichte steht so alleine der Gott Israels, der einzige Gott. Nicht die Gottheiten der siegreichen Gegnervölker hatten den Sieg errungen, sondern Gott hat sein Volk gezüchtigt und selbst den Händen der Feinde übergeben. Dahinter steht also ein gänzlich anderes Anliegen: Herausgestrichen werden musste die geschichtsträchtige und einzig wirksame Macht des einen Gottes, des Gottes Israels, der nicht nur Israel, 171 172 173 174 175 176 177

Nach: Hartom (1982). Nach: Ebd., S. 22f. Nach: Ebd., S. 23. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 24. Nach: Ebd., S. 26.

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sondern die Geschicke aller Völker lenkt. Nur so konnte trotz Niederlage am Gott Israels festgehalten werden, ohne sich den scheinbar diesem überlegenen und siegreichen Göttern der Gegner zuwenden zu müssen. Doch ist diese Notwendigkeit heute nicht mehr da, da sich die Einsicht in die Einzigkeit Gottes durchgesetzt hat. Der Monotheismus steht und fällt heute nicht mehr mit Sieg und Niederlage. Hitler muss nicht zum Werkzeug Gottes erklärt werden, um an Gott festhalten zu können. Doch ist dieses Festhalten an der traditionellen Lehre auch zugleich einer der Kritikpunkte: Es wird auf Biegen und Brechen um jeden Preis daran festgehalten. Um Gott so wahren zu können, wie er in der Tradition gelehrt wurde, wird alle Schuld auf den Menschen übertragen. Vielmehr aber wäre die Verantwortung beim Menschen zu suchen. Schuldzuweisungen nützen keinem etwas. Weder ist es hilfreich zu sagen, das jüdische Volk hätte stellvertretend gelitten, noch (oder noch viel weniger) es hätte für seine eigenen Sünden dieses Leid erlitten. Doch die Verantwortung für das Geschehene, diese liegt zweifellos durchaus beim Menschen: Nicht Gott hat die Nazis als Werkzeug zur Erfüllung seines Planes „missbraucht“ und benutzt, um die Welt durch stellvertretende Sühne zu reinigen oder um sein Volk für die Abkehr von Thorah und Geboten zu bestrafen. Die Shoah wurde von Menschen über Menschen gebracht.178 Auch Berkovits spricht sich explizit gegen die Vorstellung der Shoah als Sündenstrafe aus, indem er das Geschehen als absolute Ungerechtigkeit qualifiziert.179 Allerdings widerspricht er der Verfasserin bei der Deutung dieser Ungerechtigkeit: Es war Ungerechtigkeit, die Gott zuließ. Aber wenn wir an unserem Glauben an einen persönlichen Gott festhalten, dann kann eine solch absolute Ungerechtigkeit nicht einfach eine Panne in der göttlichen Planung sein. Irgendwie muss sie dies zulassen und die letztliche Verantwortung für dieses äußerste Böse muss bei Gott liegen. Ein entsetzlicher Gedanke, und doch schreckte einer der großen Propheten Israels nicht davor zurück, sich zur letztlichen Verantwortung Gottes für das Böse in der Welt zu bekennen.180

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So stellt also die Shoah nicht nur eine Herausforderung mit Blick auf Gott, sondern auch auf den Menschen dar. Die Lösung dieses Problems ist damit für beide Seiten problematisch; nicht nur das Gottesbild, sondern auch das bisherige Menschenbild gerät in eine Krise. (Vgl.: McAfee Brown (1979), S. 91.) Nach: Berkovits (1982), S. 46. Ebd. Berkovits spielt hier auf Jes 45,6f. an.

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Dass eine Abkehr vom Tun-Ergehen-Zusammenhang durchaus legitim wäre, zeigt sich nur schon daran, dass ja eben gerade darin auch auf eine biblische Tradition verwiesen werden kann, denn die Bibel kennt durchaus auch noch weitere Modelle als jenes von Tun und Ergehen. Auch Berkovits spricht sich gegen diese überkommene Vorstellung aus und ruft in Erinnerung: „Gleichzeitig ist aber, betrachtet man den Gesamtablauf der jüdischen Geschichte, die Vorstellung, dass all das unserer Sünden wegen über uns gekommen ist, eine gänzlich ungerechtfertigte Übertreibung. Es gibt sündenbedingtes Leiden, aber dass alles Leiden auf Sünde zurückgeführt werden kann, ist einfach nicht wahr.“181 Berkovits betont so – auch auf biblischem Zeugnis fußend – das Vorhandensein des ungerechtfertigten Leides.182 Zugleich sieht er die Shoah aber im Horizont der gesamten Geschichte Israels und betont, dass sie unter diesem Gesichtspunkt nichts Außergewöhnliches war.183 Weiter sei auch Hester Panim als Erklärungsversuch erwähnt, ein Modell, das z.B. auch von Berkovits184 zur Erklärung hinzugezogen wird: Gott verbirgt sein Angesicht, er zieht sich zeitweise von der Welt zurück und gibt diese preis.185 Für Berkovits ist es gerade der Hester Panim, der es ermöglicht, das 181 182 183

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Ebd., S. 52. Nach: Ebd., S. 50–52. Nach: Ebd., S. 47. Berkovits stellt die Shoah damit in eine Reihe mit den anderen Katastrophen Israels wie etwa die Katastrophe der Zerstörung der beiden Tempel. Mit Blick auf die Frage nach Gott hält er fest: „Hatten etwa die Juden, die im 11. und 12. Jahrhundert im Rheinland hingemordet wurden, weniger Grund zu fragen, wo Gott sei, als diese Schrecken über sie kamen, als die Juden in Auschwitz und Treblinka? War das Problem des Glaubens an einen persönlichen Gott in der Zeit des Schwarzen Todes weniger schwerwiegend als heute, weil damals nur die Hälfte der halben Million Juden in Europa umkam und nicht sechs Millionen, wie in unseren Tagen? […] Das Problem der providentiellen Gegenwart Gottes ergibt sich immer im Zusammenhang mit der subjektiven Erfahrung dieser seiner Gegenwart durch den Menschen. Das objektive, quantitative Ausmaß der Tragödie hat wenig damit zu tun. Während deshalb der Holocaust hinsichtlich des objektiven Ausmaßes an Unmenschlichkeit beispiellos ist, ist er das keineswegs als ein Glaubensproblem, das sich aus der historischen Erfahrung der Juden ergibt. Tatsächlich könnte man sagen, dass das Problem so alt wie das Judentum selbst ist.“ (Ebd., S. 48.) So unterscheidet Berkovits mit der Bibel zwei Formen des Hester Panim: Göttliches Urteil und göttliche Strafe stehe sodann in keiner Beziehung mit der zweiten Bedeutung, welche das Verbergen des göttlichen Antlitzes aus menschlichen Freveln erklärt. (Nach: Ebd., S. 52f.) Zum Hester Panim siehe z.B.: Birnbaum (1989), S. 130 u.ö. Dort nennt er u.a. Soloveitchik als Vertreter dieser Linie. Birnbaum ist sich der Schwierigkeiten sowie der Fragen, welche sich aufgrund des Modells des Hester Panim ergeben, durchaus bewusst und wirft selbst

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unverdiente Leiden der Schuldlosen zu erklären: Es wird nicht als Strafe Gottes angesehen, vielmehr gibt Gott die Welt preis, sodass die Frevler frei walten und Unheil über ihre Mitmenschen bringen können.186 Für die Shoah bedeutet dies, dass Gott in dieser Zeit sein Angesicht vor dem jüdischen Volk und der Welt verborgen gehalten, sich zurückgezogen und die Welt ihrem Schicksal überlassen hat. Aufgrund dieses Verbergens seines Antlitzes hat Gott denn auch nicht in die Geschehnisse eingegriffen, sondern das Unheil konnte ungehindert seinen Lauf nehmen. Doch ein Gott, welcher sich wie ein bockiger Teenager aus Zorn zurückzieht und alles um sich herum ignoriert, kein Flehen erhört, kein Friedensangebot annimmt, ist mehr als verstörend, auf einen solchen Gott ist kein Verlass, wo bleibt da der unaufhebbare Bund mit dem Volk Israel wie auch mit der gesamten Welt? Wo bleibt da Gottes Treue? Ein solcher Gott ist viel zu menschlich gezeichnet. Zwar kann der Hester Panim das Nichteingreifen Gottes erklären. Doch stellen sich dadurch weitere Fragen: Ist ein solches Verbergen von Gottes Angesicht mit seiner Treue und Barmherzigkeit vereinbar? Es erklärt auch nicht, weswegen er sein Gesicht gerade in dieser und nicht in anderen Situationen verborgen hat. Auch drängt sich die Frage auf, ob er sein Gesicht nicht zu lange verborgen hat. Und kann ein gnädiger und gütiger Gott sein Gesicht tatsächlich ob all dem Klagen, Weinen, Rufen, Schreien und Flehen weiterhin verborgen halten, ohne sich seines Zorns zu entledigen, sich der Welt wieder zuzuwenden und einzugreifen? Ein solches Gottesbild des Hester Panim kann letztlich keinen wahren Trost spenden und liefert keine wirkliche, befriedigende Theodizee. Mit Küng ist die Frage aufzuwerfen, ob „eine theologische Nivellierung des Holocausts auf das

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zahlreiche dieser Fragen in den Raum. (Nach: Ebd., S. 130f.) Giuliani stellt Zweige des Hester Panim vor, welche dieses Konzept durchaus positiv zu nutzen versuchen (nach: Giuliani (2002), S. 189–195.) – und zwar nicht ein Verbergen Gottes angesichts der Sünden Israels, sondern ein Betonen des Rettergottes, zu welchem dieses Sich-Zurückziehen genauso als Attribut dazugehört wie sein Retter-Sein. (Nach: Ebd., S. 192f.) Es sei darauf hingewiesen, dass die Vorstellung des Hester Panim durchaus keine Innovation der Theologie angesichts Auschwitz darstellt: „Dieses ‚Verbergen des (göttlichen) Angesichts‘ stellt eine alttestamentliche Erklärung für das Hereinbrechen von Unheil dar, die rabbinisch weitergeführt und insbesondere in den Holocaust-Theologien wieder begegnen wird.“ (Oberhänsli-Widmer (2003), S. 243.) Nach: Berkovits (1982), S. 56. Im Hester Panim wird Gott aber nicht einfach als abwesend geglaubt: „Vielmehr sprachen die Rabbinen vom Schweigen Gottes als historischem Faktum, nicht von seiner Abwesenheit. Man kann nur deshalb von jemandem sagen, er schweige, weil er anwesend ist. Irgendwie bringen sie es fertig, an beiden Möglichkeiten des Dilemmas festzuhalten. Für sie ist das keine Sache des Entweder-Oder.“ (Ebd.)

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Niveau üblicher Katastrophen jüdischer Geschichte diesem Ereignis wirklich gerecht“187 zu werden vermag. Doch Berkovits hält fest, dass der Hester Panim gerade nicht Gottes Gleichgültigkeit ausdrücken soll, sondern nimmt zugleich den Rettergott in den Blick: „Auf geheimnisvolle Weise ist der Gott, der sich verbirgt, der Gott, der errettet.“188 An der Auseinandersetzung mit dem Problem der Erfahrung der Shoah und den damit verbundenen Anforderungen und Herausforderungen an die Theologie führt kein Weg vorbei. Wer heute etwa Aussagen zum Handeln Gottes in dieser Welt ganz unter Absehung des Phänomens des Bösen macht – sei es in Form der Shoah als Tiefpunkt oder an zahlreichen anderen Beispielen, welche auch heute Tag für Tag geschehen –, wird unseren Bedürfnissen nicht gerecht. Wenn etwa Sandler sagt, dass alles, was geschieht, sozusagen von Gott ratifiziert ist, da es von seinem Heilswillen getragen sei,189 und er also folglich alle als seine Werkzeuge benutzt, Werkzeuge, die also nur den Willen Gottes, ja nicht nur seinen Willen, sondern seinen Heilswillen ausführen, dann ist dies mehr als nur stoßend für heutige Ohren. Auschwitz – als Symbol des Grauens, der Inbegriff der Todesmaschinerie, der Begriff, mit dem zugleich die gesamte Shoah inbegriffen gemeint ist und der sozusagen nicht nur als sich selbst, sondern als Oberbegriff der ganzen Shoah verwendet wird – hat die Welt auch hinsichtlich der Anforderungen befriedigender theologischer Ansätze und Erklärungsversuche nachhaltig geprägt und verändert. Ein Ansatz, welcher diese Wirklichkeit leugnet bzw. der Einfachheit halber einen blinden Fleck 187 188

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Küng (2007), S. 706. Berkovits (1982), S. 59f. Berkovits selbst betont dabei auch den Wert der menschlichen Freiheit, um derentwillen Gott nicht permanent eingreift. (Nach: Ebd., S. 61–64.) Und genau hierin eröffnet sich auch das Dilemma, in welchem sich der Hester Panim als Geduld mit den Frevlern erweist: „Während Gott darauf wartet, dass der Sünder sich ihm zuwendet, herrscht unter den Menschen Unterdrückung, Gewalttat und Verfolgung. Eine andere Möglichkeit scheint ausgeschlossen. Wenn es den Menschen geben soll, muss Gott mit ihm Geduld haben; muss er den Menschen preisgeben. Während er mit den Frevlern Nachsicht übt, muss er sich den Gepeinigten, die in ihrer Qual zu ihm rufen, verschließen. Das ist die tiefste Tragik der menschlichen Existenz: gerade weil Gott barmherzig und nachsichtig ist, gerade weil er den Menschen liebt, bedingt das die Preisgabe von Menschen an ein Schicksal, das sie durchaus als Gleichgültigkeit Gottes gegenüber Gerechtigkeit und menschlichem Leiden erfahren können.“ (Ebd., S. 65.) Gemäß Berkovits wendet Gott also sein Antlitz um einer möglichen Umkehr der Frevler willen von den Unschuldigen ab, welche gerade durch dieses Verbergen unsägliches, von den Frevlern verübtes Leid erdulden müssen. Nach: Sandler (2014), S. 159.

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diesbezüglich in Kauf nimmt, um schönere, einfachere und in sich schlüssigere Aussagen machen zu können, ist abzulehnen. Die Spannung muss dagegen gerade herausgestrichen werden, es muss gelernt werden, damit zu leben, dass es heute keine einfachen Erklärungen mehr geben kann, sondern dass die gesamte Wirklichkeit von den schönsten Höhepunkten bis hin zu den absoluten Tiefpunkten menschlicher Existenz berücksichtigt werden muss, um unseren Erfahrungshorizont abzudecken, aber auch um unsere daraus resultierenden Fragen und unsere Perplexität angesichts des Unbegreiflichen aufzugreifen und zu beantworten versuchen. Eine Aussage wie jene, dass „alles innerweltliche Geschehen – in der Weise einer causa prima – von Gott bewirkt und überdies von seinem Heilswillen getragen ist, sodass wir in der Weise einer Grenzüberlegung annehmen können, dass – rückblickend vom Ende der Geschichte her – in jedem innerweltlichen Ereignis Gottes Heilshandeln aufleuchten wird“190, darf heute von keinem Theologen mehr geäußert werden. Im Hinblick auf das genannte Zitat kann es wohlwollend so gedeutet werden, dass am Ende der Zeiten beispielsweise augenscheinlich wird, wie sehr Gott den Opfern beigestanden ist, sie getragen und ihnen Kraft gegeben und noch Schlimmeres verhindert hat, so ist eine solche Theologie – so sehr sie einem auch Kraft geben kann, wenn man in Not ist – dennoch unzulänglich und unbefriedigend, weil die Frage offen bleibt, weswegen Gott denn nicht aktiv eingegriffen und die Täter gehindert hat. Das Problem der Theodizee wird mittels einer solch wohlwollenden Deutung der Aussage also keineswegs gelöst, sondern im Gegenteil erst recht verschärft. Auch eine solche Interpretation kann die Kritik an solchen Aussagen nicht im Geringsten mindern. Ich mag bezüglich meines eigenen Lebens davon überzeugt sein, dass Gott alles zu meinem Besten wendet und dass er Schlimmeres verhindert, aber im Hinblick auf Ereignisse wie die Shoah davon zu sprechen, Gott hätte Schlimmeres verhindert, da es ansonsten den Opfern noch schlimmer ergangen wäre, fragt sich, was denn noch Schlimmeres hätte geschehen können als jeglicher Identität beraubt zu werden, wie Tiere zu verhungern, zu Versuchszwecken missbraucht zu werden, das Menschsein abgesprochen zu erhalten und nicht einmal als Tier, sondern als Schädling, als Parasit, den es auszurotten gilt, angesehen zu werden und schließlich dahingeschlachtet und vergast zu werden. Was soll da noch Schlimmeres möglich sein?! Es ist notwendig, die Unzumutbarkeit und Unmöglichkeit solcher Aussagen zu betonen. Egal, wie man es dreht und wendet, nicht alles, was auf Erden geschieht, dient für sich genommen dem größeren Heil bzw. entspricht dem Heilsplan Gottes. 190

Ebd.

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Natürlich sind dies nur einige Modelle und es gäbe unzählige weitere Umgangsversuche und Vertreter,191 die zu nennen wären, doch stellt dies nur einen Punkt am Rande dar, den zu streifen man genötigt ist, will man sich mit dem Phänomen des Bösen auseinandersetzen. Unweigerlich kommt man nämlich in Berührung mit dieser schrecklichen Erfahrung, die ihrerseits wiederum zutiefst im menschlichen Rechtsempfinden mit der Theodizee-Problematik verbunden ist. Das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg macht eine Auseinandersetzung mit den Schrecken der Naziherrschaft und den Herausforderungen, welche diese Ereignisse für die Theologie haben, unausweichlich. Doch ist das Ziel dieser Arbeit nicht, das Böse in seinen jeweiligen Konkretionen zu betrachten, sondern die abstrakte philosophische Frage nach dessen Herkunft überhaupt – vor, jenseits und unabhängig jeglicher (formhafter) Aktualisierung dieses Bösen in der Wirklichkeit. Daher kann nur schon aufgrund der zugrundeliegenden Fragestellung die angerissene Thematik nur einen (wenn auch wichtigen und unausweichlichen) Nebenschauplatz bilden, der in gebotener Kürze zu behandeln ist. Was allerdings im Rahmen dieses kurzen Streifens ersichtlich geworden ist, ist die Tatsache, dass die Erfahrung der Schoah und deren Auswirkungen auf die Theodizee-Frage nicht eigentlich ein theologisches Problem im engeren Sinne des Wortes darstellen, indem es nämlich den Glauben an die Existenz Gottes überhaupt infrage stellen und als überkommen und aufzugeben aufweisen würde. Natürlich sind die Erlebnisse für diejenigen, die sie erlebt haben, so furchtbar, grausam, unvorstellbar und unbeschreibbar unmenschlich, dass der Glaube an den durch die Tradition des Glaubens gelernten Gott aufgrund des Erlebten oftmals gezwungenermaßen aufgegeben werden musste, da die Erfahrung diesem erlernten Gott nicht entsprach, sondern ihm diametral entgegenstand. Es ist mehr als verständlich, dass diese Erlebnisse ein Leben lang prägen, gerade auch in Bezug auf den Glauben – die direkt Betroffenen, aber auch ihre Familien, ihre Nachkommen über viele Generationen hinweg. Die Abkehr von Gott muss dabei keineswegs in einem „gewöhnlichen“ Atheismus resultieren. Vielmehr kann es auch einfach das tradierte Gottesbild sein, mit dem gebrochen wird, wie mit Bezug auf Wiesel festgehalten wurde. Das weitere Ringen mit Gott, die Suche nach einem 191

An dieser Stelle sei deshalb auf ein Werk Grözingers (Grözinger (2015).) verwiesen, welches einige zentrale Positionen darstellt, welche auch hier referiert wurden, daneben aber auch noch weitere Persönlichkeiten, die hier unerwähnt blieben, vorstellt und auch den Begriff Holocaust problematisiert. (Ebd., S. 35–40.) Unter den im Werk dargestellten Positionen seien insbesondere Rubenstein (Gott ist tot-Theologie), Fackelheim sowie Berkovits hervorgehoben. Mit Blick auf die theologische Auseinandersetzung mit der Shoah sei insbes. auf folgende Seiten verwiesen: Ebd., S. 35–62 sowie S. 467–645.

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neuen, tragfähigen Gottesbild kann dabei als Sehnsucht nach Gott interpretiert werden. Genau diese Sehnsucht aber ist es, welche deutlich macht, dass Gottes Existenz für diese Menschen weiterhin gegeben ist, denn mit Thomas von Aquin kann festgehalten werden, dass man sich nicht nach etwas sehnen kann, das nicht existiert.192 Aufgegeben wurde damit eigentlich nur das menschlich gemachte Bild Gottes, nicht aber Gott selbst. Und damit sind wir genau am Kernpunkt dieser Ausführungen angelangt: Es war eben nur ein tradiertes Bild, das in die Krise geraten ist, nicht aber Gott selbst. 2.4.2 Auschwitz als Herausforderung an Gott oder an das Gottesbild? Gott ist nicht gleichzusetzen mit den von Menschen gemachten Bildern. Diese können hilfreich sein, damit sich der Mensch unter Gott etwas vorstellen kann. Aber der Mensch ist fehlbar und so können auch seine von Gott gemachten Bilder scheitern und sich aufgrund einer neuen Erfahrung als falsch erweisen. Es sind und bleiben menschengemachte Bilder Gottes. Natürlich gibt es einige Grundkonstanten, die sich nie ändern werden, da sie die Wahrheit der Wirklichkeit Gottes wiedergeben. Doch gibt es auch Aspekte, die der Mensch nur begrenzt wahrnimmt. Einige Dinge sind von der Lebenserfahrung der Gläubigen geprägt, andere wiederum nach dem Wunsch, wie man möchte, dass ein Gott zu sein hat. Doch Gottes Wirklichkeit lässt sich nicht auf den menschlichen Geist beschränken. Er ist immer größer, anders, bleibt nicht einzufangen in menschliche Sprachsysteme und bleibt so der eigentlich ganz Fremde (und doch so Nahe und Vertraute) und Andere. Und genau diese Spannung – nah und zugleich fern, Freund und dennoch fremd – macht die Unvorstellbarkeit und Geheimnishaftigkeit Gottes aus. Er übersteigt uns immer. Scheitert ein Bild und erweist sich als falsch, so muss dieses verändert und neu überdacht werden, am Wesen Gottes aber ändert dies nichts. Gott ist „statisch“, die Rede von Gott aber ist es nicht und dies müssen wir uns immer wieder neu vor Augen führen und in Erinnerung rufen. Denn nur allzu oft halten wir die menschliche Rede von Gott als in Stein gemeißelt. Doch genau dies birgt eine Gefahr: Anstelle des Überdenkens und Anpassens dieser veränderbaren Rede wird an dem eigentlich unverrückbaren Gegenpol eine Änderung vorgenommen. So wird Gott aufgegeben, um an der sich als falsch erwiesenen Aussage festhalten zu können, anstatt dass die theologische Aussage, die ihre Richtigkeit behalten hat und immer behalten wird, in ihrer sprachlichen Form verändert würde, um dasselbe unveränderte Wesen auszudrücken, aber mit menschlich-sprachlichen Mitteln, die der neu gemachten Erfahrung mehr und besser entsprechen und damit auch der Rede von Gott gerechter zu werden 192

Vgl.: STh i, q. 75, a. 6 resp; scg ii,55.

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vermögen. So stellt die Erfahrung der Shoah weniger ein theologisches Problem dar, als vielmehr ein Problem des tradierten Gottesbildes – aber eben nicht Gottes selbst.193 Die sich aus der Shoah ergebende Theodizee-Problematik stellt somit kein theologisches, sondern ein anthropologisches oder besser ein anthropo-theologisches Problem dar. So ist es also nicht Gottes Existenz, welche von diesem Ereignis infrage gestellt würde, sondern die menschlich gewonnene Rede von Gott. Dieses historische Ereignis führt nebst dem wohl nur narrativen, ahistorischen Zeugnis des Hiob die Dringlichkeit, endlich mit dem längst überkommenen, aber dennoch weiterhin weitverbreiteten und anscheinend tief im menschlichen Bewusstsein verankerten Modell eines kausal verstandenen Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen – das einfache Modell 193

Dies kann man etwa auch an der Person Elie Wiesel festmachen: „Dennoch bricht weder der Erzähler von Nacht, noch Elie Wiesel als Person mit Gott oder dem Gottesglauben, sondern nur mit dem traditionellen Gottesbild und der traditionellen Glaubenswelt. Ein neues Gottesbild aber formuliert Wiesel nicht. Vielmehr wird Gott zur offenen Frage. Das Festhalten an Gott mündet bei Wiesel ein ums andere Mal ins Schweigen.“ (Frede-Wenger (2005), S. 21.) Moltmann identifiziert Wiesels Erzählung vom Kind am Galgen entgegen dessen Intention (vgl.: Kuschel (1998), S. 277.) mit der Rede vom leidenden Gott. (Nach: Moltmann (1997), S. 52; die Erzählung vom Kind am Galgen findet sich bei Wiesel in: Wiesel (1980), S. 86–88.) Der Atheismus ist für Wiesel nicht das eigentliche Skandalon angesichts der Erfahrung: Gott aufzugeben ist leicht, viel schwieriger dagegen ist es, so Wiesel, dennoch heute an Gott und am Glauben festzuhalten. (Nach: Wiesel (1975), S. 274.) Wiesel stellt sich so gegen die „Gott ist tot“-Theologie, wie sie etwa von Rubenstein betrieben wurde. (Vgl.: Rubenstein (1966), S. 223.) So schreibt Wiesel in seiner Autobiographie: „Mag Nietzsche dem alten Heiligen in seinem Walde zugerufen haben: ‚Gott ist tot‘, der Jude in mir kann es nicht. Ich habe meinen Glauben an Gott nie verleugnet. Ich habe mich gegen Sein Gesetz gestemmt, habe gegen Sein Schweigen, bisweilen auch gegen Seine Abwesenheit aufbegehrt, doch meine Wut tobte innerhalb meines Glaubens, niemals außerhalb. Ich gebe zu, diese Haltung ist nicht sehr originell, sie steht in der jüdischen Tradition. Doch ich habe nie versucht, auf diesem Gebiet ‚originell‘ zu sein. Ich habe mich im Gegenteil immer bemüht, den Spuren meiner Väter und Vorväter zu folgen. Im übrigen [sic!, v.v.] erzählen die Schriften von vielen Begebenheiten, wo Propheten oder Weise in Zeiten der Verfolgung gegen die Nichteinmischung Gottes in die menschlichen Angelegenheiten aufbegehrt haben. Abraham und Mose, Jeremia und Rabbi Levi Isaak von Berditschew lehren uns, dass es dem Menschen durchaus erlaubt ist, mit Gott ins Gericht zu gehen, sofern dies im Namen des Glaubens an Gott geschieht. Ein schmerzlicher Prozess? Macht nichts. Manchmal muss man den Schmerz annehmen, den der Glaube verursacht, um den Glauben nicht zu verlieren. Sollte die Tragödie des Gläubigen niederschmetternder sein als die des Ungläubigen? Macht auch nichts. Hinter dem Stacheldraht von Auschwitz seinen Glauben zu bekennen, bedeutet im Grenzfall eine doppelte Tragödie, nämlich die des Gläubigen und die seines Schöpfers. Ist der eine verwundet, muss der andere ihn verwundet haben.“ (Wiesel (1995), S. 117f.)

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von Strafe und Belohnung – zu brechen, vor Augen.194 Bilder mögen versagen, doch Gott bleibt – er ist und bleibt mit sich identisch. Und so zeigt sich auch die biblische Forderung in den zehn Geboten nochmals aus einem anderen Licht: Du sollst dir kein Bild von mir machen.195 Dies ist also so zu verstehen, dass wir uns davor hüten sollen, in Stein gemeißelte Bilder von Gott zu machen und diese fälschlicherweise für Gott zu halten und unser Herz sowie unseren Glauben an diese zu hängen und damit letztlich auch von diesen abhängig zu machen. Keine in Stein gemeißelten Bilder von Gott zu vergötzen, kann somit auch metaphorisch verstanden werden: Unsere Gottesbilder, um welche wir in der Theologie natürlich niemals herumkommen werden, dürfen nicht versteinert und der statischen Unveränderlichkeit anheimgestellt werden. Sie müssen lebendig bleiben und zusammen mit unseren Erfahrungen wachsen, sich verändern, für neue Platz schaffen. Das eine kommt, das andere vergeht, doch was bleibt, ist Gott. Nur so kann der Glaube lebendig bleiben und sich an neue Erfahrungen und Gegebenheiten anpassen, sich im Leben bewähren und Halt geben, ohne dem Menschen mit einem Faustschlag ins Gesicht etwas abzuverlangen, das er aufgrund seiner Erlebnisse nicht mehr glauben kann.196 194

195 196

Diese Vorstellung, welche Böses nur im Rahmen eines gerechten Lohn- und Strafsystems bedenkt, kann weder der Erfahrung des Bösen, noch den Bedürfnissen des Menschen, noch Gott gerecht werden. Die Vorstellung, nach der alles Böse nur von Gott strafend über den Menschen geworfen wird, kann unverständlich über den Menschen hereinbrechendes Böses nicht erklären – und so schweigt sich auch Gott über dieses Böse Hiob gegenüber aus. Die Einsicht wird gewonnen, „dass kein Gottesbild als tragfähig gelten kann, das nicht auch auf die Frage des Negativen, des Leidens und damit letztlich des Bösen bezogen ist. Alles andere bleibt ein Wunsch- oder Illusionsgott, der sich im Leben rasch als wenig tragfähig herausstellt.“ (Schweitzer (2007), S. 106.) Vgl.: Ex 20,4. Hier lässt sich an die Mystik anknüpfen, an welcher sich die Theologie diesbezüglich ein Beispiel nehmen kann. Rahmati streicht den Unterschied zwischen Mystik und Theologie mit der Unterscheidung in cognitio dei experimentalis, welche die Mystik kennzeichnet und die eigene Gotteserfahrung bezeichnet, sowie cognitio dei doctrinalis, mit welcher die theologische Gotteserkenntnis bezeichnet wird und in der „Gott lediglich durch Bilder oder Theorien wahrgenommen wird“ (Rahmati (2012), S. 102.), also nicht durch eigene Erkenntnis, sondern durch etwas von außen an uns Herangetragenes, hervor. (Nach: Ebd.) Die Mystik kann dazu beitragen, in Erinnerung zu rufen, dass die Gottesrede niemals stehen bleiben und niemals den Anspruch auf Vollständigkeit erheben darf. Gerade dies kann sie mit der in ihr erfahrenen widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Gottesferne und -nähe machen. Genau mit dieser Erfahrung will Gott aber den Menschen vor willkürlicher Vereinnahmung Gottes und seines Wortes schützen. Denn „Gottesnähe, die ungebrochen ist und keine Ferne kennt, schlägt um in Fundamentalismus. Man ist sich zweifellos sicher, dass Gott auf der eigenen Seite und gegen die andere Seite steht“

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Mit Elie Wiesel gilt es festzuhalten, dass die Shoah ein bleibendes Problem für die Gottesfrage bleibt: „Vielleicht wird man eines Tages erklären, wie Auschwitz auf menschlicher Ebene möglich war, auf der Ebene Gottes wird diese Frage auf immer ein beunruhigendes Geheimnis bleiben.“197 Würde Gott jedoch angesichts Auschwitz verstanden, hätte dies noch gravierendere Konsequenzen für das Wesen Gottes als das unverständlich bleibende Geheimnis: Auschwitz verstehen können wäre schlimmer, als es nicht verstehen zu können. Diese Reaktion ist wichtig. Wenn wir eine Vorstellung von Gott haben, in die Auschwitz irgendwie hineinpasst, wenn uns eine Schöpfung in Übereinstimmung mit Auschwitz als denkbar erscheint, dann muss dieser Gott ein Ungeheuer sein, dann muss diese Schöpfung ein Alptraum [sic!, v.v.] sein jenseits aller Vorstellungskraft. Nichtsdestoweniger wird für uns oder auch für E. Wiesel dieses Dilemma aus dem Wege geräumt werden müssen. Wir müssen ringen mit Gott,[198] in dessen

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(Keul (2012), S. 117.). Das eigene Wort wird zum Ersatz für Gottes Wort, da man glaubt, Gott sei dort, wo man selber sei. (Nach: Ebd., S. 116.) „Wer mit Gott besonders vertraut ist, hat die Gottesferne besonders nötig.“ (Ebd., S. 117.) Und genau darum ist die ebenso erfahrene Gottesferne angesichts der Gottesnähe so wichtig und kann als lehrreich und heilsam erfahren werden. Wo also der Mensch in Versuchung gerät, von Gottes Wort Besitz zu ergreifen (nach: Ebd.), dort „entfernt sich sein Wort bis zur Unhörbarkeit.“ (Ebd.) Doch diese Gefahr besteht nicht nur für die Mystik, sondern auch für die Theologie, sodass dieses kritische Potential der Bewusstmachung des In- und Miteinanders von Gottesnähe und -ferne in der Mystik verdienstvoll für die Theologie sein kann. Wiesel (1989), S. 12. Siehe hierzu auch: „Auschwitz ist unbegreiflich, ob mit oder ohne Gott, habe ich an anderer Stelle geschrieben. Vielleicht werde ich eines Tages die Rolle des Menschen in dem Dunkel verstehen, das Auschwitz darstellt – die von Gott werde ich niemals erfassen.“ (Wiesel (1995), S. 118.) Und so setzt sich auch Wiesel nach Art des Hiob in Form des Protests mit Gott auseinander. Vgl. auch: Gross/Kuschel (1992), S. 142. Gross/Kuschel zeichnen eine sehr interessante Interpretation der Auseinandersetzung Wiesels mit Gott in seinem literarischen Werk. (Vgl.: Ebd., S. 135–153.) Interessant ist auch Wiesels Umgang mit der Theodizee, was Gross/ Kuschel an Wiesels „Der Prozess von Schamgorod“ aufzeigen. Als Fazit lässt sich mit Gross/Kuschel festhalten: „Gegen diese klassischen Argumente wagt Elie Wiesel in seinem Stück einen Gedanken radikal durchzudenken, der bisher theologisch auch in jüdischen Kreisen tabuisiert war: den Gedanken einer Schuld Gottes angesichts des ungerechten Massenleidens seiner ‚Kinder‘. Dabei werden die klassischen Theodizee-Argumente nicht bloß rational konterkariert. Der auch dramaturgisch geschickt eingesetzte Überraschungseffekt des Stückes besteht gerade in der Erkenntnis, dass die hier vorgetragenen Argumente für die Theodizee sich am Ende als Argumente des Teufels erweisen, d.h. keinen anderen Zweck verfolgen, als die Menschen über Gottes wirkliches Wesen hinwegzutäuschen. Nur so kann ja auch das Gelächter des ‚Teufels‘ oder sein kryptischer

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Vorsehung Auschwitz mit seinen entsetzlichen Verbrechen eingeschlossen gewesen zu sein scheint. Und da stellt sich die Frage: wie kann ich einen Gott bejahen, in dessen ‚göttlichem Plan‘ diese Barbareien enthalten sind? Der wahre Zeitgenosse ist nicht der moderne Skeptiker, sondern der alttestamentliche Hiob, derjenige, der Gott Fragen zu stellen wagt.199 So sagt auch Wiesel selbst: Letztlich werde ich niemals aufhören, mich gegen diejenigen zu empören, die Auschwitz geschaffen oder zugelassen haben. Gott eingeschlossen? Auch gegen Ihn werde ich mich immer empören.[200] Die Fragen, die ich mir früher zum Schweigen Gottes gestellt habe, sind offen geblieben. Wenn es eine Antwort gibt, so weiß ich sie nicht. Und ich will sie auch nicht wissen. Für mich steht fest, dass der Tod von sechs Millionen Menschen eine Frage aufwirft, die niemals eine Antwort finden kann.201 Auch Hannah Arendt hat sich im Rahmen des Eichmannprozesses mit dem geschehenen Leid auseinandergesetzt. Auf die äußerst kontrovers behandelten Aussagen Arendts zum Eichmannprozess soll in der Folge kurz eingegangen werden.

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Hinweis ‚wenn ihr nur wüsstet‘ verstanden werden. Elie Wiesel führt mit diesem Stück also die klassische Theodizee in eine Krise von beispielloser Radikalität: Wer angesichts des Massenleidens Unschuldiger Gott mit solchen Argumenten zu rechtfertigen versucht, betreibt das Werk des Teufels, des Widersachers Gottes also. Ja, der Analogieschluss drängt sich auf, dass für Elie Wiesel in diesem Stück ein so gerechtfertigter Gott dem Teufel zum Verwechseln ähnlich sähe.“ (Ebd., S. 148f., Hervorhebung im Original.) McAfee Brown (1979), S. 105f. Und so ähnelt gerade auch Wiesel in seinem ständigen Ringen mit Gott dem biblischen Hiob. (Nach: Langenhorst (1994), S. 207.) Wiesel (1995), S. 118f. Diesen Protest gibt Wiesel nie auf, vielmehr betont er, dass er noch im Angesichte Gottes diesen – wie einst schon Hiob – fragen und anklagen wird, weiterbohrt und auf einer Antwort beharrt – einer Antwort, welche für Hiob letztlich selbst in der direkten Begegnung mit Gott offen blieb: „Wenngleich ich als Erzähler Geschichten aus der Vergangenheit oder der Gegenwart erfinde, in denen Personen mit den unterschiedlichsten Schicksalen vorkommen, lebe ich doch im Schatten der Flammen, die mich einst erleuchteten und blendeten. Der Erzähler hat sie vor Augen und wird sie immer vor Augen haben. Er hat sich geschworen, sie niemals ausgehen zu lassen. Sogar in der Welt dort oben, wo nur die Wahrheit zählt, wird er vor den himmlischen Thron treten und sagen: ‚Sie nur, sieh Dir die Flammen an, die immerfort brennen. Hörst Du nicht die stummen Schreie Deiner Kinder, die zu Asche und Staub werden?‘“ (Ebd., S. 125.)

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2.4.3 Hannah Arendt: Die Banalität des Bösen Hannah Arendt202 verfolgte den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, welcher im Jahre 1961 stattfand und in der Verurteilung Eichmanns zum Tod endete – die übrigens bis zum heutigen Tage einzige vollstreckte Todesstrafe im Staat Israel –, im Auftrag der renommierten Zeitschrift The New Yorker.203 Dabei verfasste Arendt als Resultat ihrer Prozessbeobachtungen fünf Essays für die genannte Zeitschrift, welche sie anschließend zusammen in einem Buch 1963 herausgab.204 Sie fühlte sich ungerecht behandelt, da gegen ihr Buch über Eichmann „noch vor seinem Erscheinen eine organisierte Kampagne in die Wege geleitet worden“205 sei. Die Kontroverse um ihr Buch ist eigentlich bis heute nicht abgeebbt, sondern flammte beispielsweise im deutschsprachigen Raum nochmals erneut auf, als vor wenigen Jahren (2012) ein Film über Hannah Arendt in die Kinos kam. Hannah Arendt war darum bemüht, aufzuzeigen, dass solch schreckliche Dinge nicht etwa von Monstern verübt werden, sondern von ganz normalen Menschen – und insofern ist das Böse auch banal.206 Es geht also keineswegs 202

203 204 205 206

Zum Bösen bei Hannah Arendt s. beispielsweise auch: Mathewes (2001), S. 149–197, der herausarbeitet, dass Arendt der augustinischen Traditionslinie der Bestimmung des Bösen als Mangel folgt. Nach: Mommsen (2013), S. 9f. Nach: Arendt (2013,1), S. 49. Ebd., S. 52. Mit ihrem Terminus der Banalität des Bösen drückt Hannah Arendt damit nichts anderes aus als Kant mit seinem Begriff vom radikal Bösen. Mit dem radikalen Bösen ist bei Kant ein wurzelhaftes Böses, also etwas Böses, das in allen Menschen wurzelt, gemeint (lat. radix = Wurzel). (Vgl.: Dearey (2014), S. 65f.) Siehe hierzu bei Kant z.B.: Kant, Religionsschrift, B27 [32] sowie B31 [35]. Allerdings muss hierbei erwähnt werden, dass Kant nebst der Radikalität als Verwurzelung auch die Radikalität im engeren Sinne kennt, zwar nicht so, dass das Böse radikal böse ist, sondern dass es so sehr im Menschen verwurzelt ist (also auch hier spielt das Verständnis der Radikalität als Verwurzelung mit hinein), dass alle seine Taten radikal von diesem wurzelhaften Bösen durchdrungen und so all seine Taten als böse zu bestimmen sind, selbst die guten, da auch diese auf schlechte Maximen zurückzuführen sind. (Nach: Kant, Religionsschrift, B35 [37].) Wie Kant will auch Arendt mit der Rede von der Banalität des Bösen darauf hinweisen, dass das Böse gerade nicht nur in Monstern steckt, sondern in uns allen. (Vgl.: Schall (2013), S. 50.) So soll auch die Banalität des Bösen nichts anderes aussagen als die Radikalität im Sinne eines in jedem Verwurzelt-Seins des Bösen. Mathewes dagegen streicht hervor, dass Arendt zwar in einigen Aspekten mit Kants Theorie vom radikalen Bösen übereinstimmt, in anderen Teilen dagegen von diesem abweicht. (Nach: Mathewes (2001), S. 165f.) Formosa erwähnt, dass gemäß Kant alles Böse um der Selbstliebe willen getan wird. (Nach: Formosa (2009), S. 190.) Auch diese These passt zu Arendts Zeichnung von Eichmanns Charakter: Dieser war, so Arendt, allein um das Vorankommen seiner eigenen Karriere bedacht und

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darum, das geschehene Böse zu bagatellisieren. Vielmehr steht mit dem Urteil der Banalität der Täter und nicht die Tat im Blick: Arendt will „nicht die geschehenen Verbrechen bagatellisieren, sondern vielmehr einer populären Auffassung vom Tätersubjekt widersprechen, die dieses zum dämonischen Außenseiter stilisiert, dem gegenüber die Distanzierung leicht fällt.“207 So ist von

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ordnete so alles dem Autoritätsgehorsam unter. Auch diese Fixierung auf die eigene Karriere stellt im Prinzip einen Aspekt der „Selbstliebe“ bzw. besser gesagt des Egoismus, also einer falschen, übertriebenen Selbstliebe, dar. „Ob nun Arendt bei ihren Überlegungen zu Eichmanns Konstitution durch das fortdauernde – wie immer kritisch kommentierte – Erbe Kants beeinflusst war oder nicht: Fest steht, dass ihre Analyse zugleich in zwei Richtungen wirkte, die einander entgegengesetzt zu sein scheinen, sich in Wahrheit jedoch wechselseitig bedingen. Einerseits gemeindet Arendts Buch das Radikalböse, das ‚Teuflische‘, ins Normalgeschichtliche ein; andererseits entrückt sie gerade dadurch das ‚Menschliche‘ dem psychologischen Normalbetrieb. Etwas Dunkles, den aufgeklärten Begriffen Unzugängliches am Menschen lässt ihn an einer Verworfenheit teilhaben, die seine Grundkonstitution, seine – möchte man sagen – irdische Urbeschaffenheit an den Topos von der Gefallenheit der postparadiesischen Natur anbindet, ohne freilich noch einmal den Schöpfungsmythos ausdrücklich bemühen zu wollen.“ (Strasser (2016), S. 11, Hervorhebung im Original.) Einer Verkennung des Monströsen, wie sie Arendt mit ihrem Aufweis der Banalität des Bösen lieferte, verweigert sich Strasser selbst vehement. (Nach: Ebd., S. 18.) Gerade mit Blick auf Hitler schließt er: „Ich weiß nur, dass man ihn nicht als eine Figur darstellen sollte, auf die sich, in welch verdeckter, verdrehter Form auch immer, Gefühle der Größe und Tragik projizieren lassen.“ (Ebd., S. 15f.) Denn gerade dieses vermeintliche Verstehen vormals mehr oder weniger gewöhnlicher und normaler Menschen, welche unter gewissen Umständen in gewissen Situationen Unvorstellbares getan haben, birgt eine Gefahr in sich. Berner (2010), S. 56; vgl. auch: Schmidt-Salomon (2013), S. 100. Mathewes dagegen spricht sich bewusst gegen diese Ansicht aus: „[F]or Arendt, it is banal because it banalizes the most horrific realities conceivable, and disconnects evildoers from their evil deeds. Arendt’s point in calling Eichmann banal was not to affirm his existence as an ordinary man, as if ‚anyone would have done‘ what he did in his situation; rather she simply claimed that Eichmann’s evil did not require superhuman capacities on the one hand or a certain kind of cultural background on the other“ (Mathewes (2001), S. 167f.). Neiman dagegen definiert den Terminus banal bei Arendt wie folgt: „Arendt was convinced that evil could be overcome only if we acknowledge that it overwhelms us in ways that are minute. Great temptations are easier to recognize and thus to resist […]. Contemporary dangers begin with trivial and insidious steps. Once these are taken, they lead to consequences so vast they could hardly have been foreseen. The claim that evil is banal is a claim not about magnitude but about proportion: if crimes that great can result from causes so small, there may be hope for overcoming them.“ (Neiman (2002), S. 301f.) und weiter: „To call evil banal is to call it boring. And if it is boring, its appeal will be limited.“ (Ebd., S. 302.) Schließlich zieht Neiman die Rede von der Banalität des Bösen dazu heran, eine Theodizee zu erreichen, „[f]or it implies that the sources of evil are not mysterious

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vielen ranghohen Nazis bekannt, dass sie zwar auf der einen Seite die abscheulichsten und menschenverachtendsten Taten verübt haben, auf der anderen Seite aber Briefe voller Liebe an ihre Familien verfasst haben, ja wirklich liebevolle Ehemänner und Väter waren.208 Offensichtlich ist dies ein weitverbreitetes Paradoxon, es scheint, als hätten manche Menschen zwei Persönlichkeiten: die eine in der Öffentlichkeit, im Beruf, die oftmals keine Moral mehr kennt, die andere im privaten Bereich, zu Hause unter Freunden und Verwandten. So streichen Cohen und Geert heraus, dass diese Koexistenz von Gut und Böse innerhalb ein und derselben Person ein großes Problem darstellt, welches nur schwer zu verstehen ist.209 Sicherlich ist es positiv anzuerkennen, dass sich Hannah Arendt den psychologischen Mechanismen, welche zu diesem grauenhaften Schrecken geführt haben, angenommen und diese ins Bewusstsein gerufen hat. Sie hat für eine Betrachtungsweise sensibilisiert, welche vor ihr völlig außer Acht gelassen worden war und nach ihr auch auf großen Widerstand gestoßen ist. Welche Auswirkungen totalitäre Systeme auf das Verhalten und die Zivilcourage von Zivilisten haben, wurde auch anhand anderer Beispiele ersichtlich. Auch die Psychologie hat sich seither in zahlreichen Experimenten mit diesem Phänomen auseinandergesetzt.210 Wie Arendt aufgezeigt hat, erscheint das Böse „banal“, weil es nicht von Monstern verübt wird, denen man gleich ansieht, dass sie Übeltäter sind, sondern von Menschen, die aussehen wie du und ich, die sich äußerlich in nichts unterscheiden, und die – abgesehen von diesen Gräueln – unter Umständen in einem gewissen Maße auch als ganz gewöhnliche Menschen zu bezeichnen sind.211 Doch gibt es noch eine weitere Form der Banalität des Bösen: So

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or profound but fully within our grasp. If so, they do not infect the world at a depth that could make us despair of the world itself. […] Their roots, however, are shallow enough to pull up.“ (Ebd., S. 303.) Oksenberg hebt hervor, dass es bei der Banalität des Bösen darum geht, dass die Schritte, welche zum Bösen führen, banal sind, dass akzeptable Standards verwendet werden und nicht offensichtlich krank sein müssen. (Nach: Oksenberg Rorty (2001), S. 239f.) Ein großer Teil an der Kritik an Arendts These kann so mit einem Missverständnis der Bedeutung der Banalität des Bösen erklärt werden. Siehe hierzu auch: Cohen/Geert (1984), S. 1. Solche auf den ersten Blick für den Verstand paradox anmutende Geschichten wurden uns denn auch im Rahmen eines Besuchs in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (Jad waShem) in Jerusalem erzählt. Nach: Cohen/Geert (1984), S. 1. Zwei Experimente werden weiter unten erwähnt. „Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“ (Arendt (2013,1), S. 400.) Elie Wiesel verstörte die Etikettierung

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schwindet die Sensibilität für Gewalt merklich, je öfter man mit dieser konfrontiert wird.212 Eine Auswirkung des Krieges ist es, dass die Menschen gegenüber Gewalt abstumpfen, sie wird zum Alltag und zur Normalität, man kann sie mit der Zeit mitansehen, als wäre es nichts, es tut nicht weh, man verspürt vielleicht noch nicht einmal mehr Mitleid. Auch so haftet dem Bösen die Banalität an, insofern es eben tatsächlich banal wird, wenn man über längere Zeit konstant auf hohem Niveau damit konfrontiert wird.213 Arendts Darstellung kennt zweifelsohne auch Mängel. So geht sie nicht unvoreingenommen an die ganze Sache heran, sondern beurteilt die Durchführung des Strafverfahrens als nicht korrekt.214 Ebenso qualifiziert sie das Ereignis als Schauprozess,215 ein Prozess, bei dem ein Exempel für unterschiedliche Gruppen – Nichtjuden und Juden der Diaspora – an der Person Eichmann statuiert werden sollte.216 Insbesondere die Nachkriegsgeneration sowie die orientalischen Juden, welche die Gräuel nicht selbst erlebt hatten, sollten mit dem gegen Eichmann geführten Prozess darüber unterrichtet werden, „was es bedeutet, unter Nichtjuden zu leben, er sollte sie davon überzeugen, dass ein Jude nur in Israel sicher sein und in Ehren leben kann.“217 Dabei greift Arendt in ihrer Schrift immer wieder Ben Gurion an.218 Der Angriff auf

212 213 214 215 216 217 218

Eichmanns als normal und führte ihn zur Schlussfolgerung, für ihn selbst bliebe nur der Wahnsinn als Alternative, da er nicht mit Eichmann zusammen in denselben Topf geworfen werden könne. (Nach: McAfee Brown (1979), S. 99.) Barry dagegen behauptet, Arendt qualifizierte Eichmann als böse und stellt dies als die eigentliche Kontroverse rund um Arendts These hin: „One problem with supposing that Eichmann is evil is that while he is surely a morally bad person, he surely could have been much, much worse“ (Barry (2010), S. 26.). An ihrer These von der Banalität des Bösen eröffnet er eine Diskussion, ob eine Person eine böse Persönlichkeit haben oder nur moralisch schlecht sein könnte. Dabei verkennt er aber, dass es Arendt mit dem Terminus der Banalität des Bösen gerade nicht darum geht, die einzelnen Täter als böse zu titulieren, auch ist das Böse selbst nicht banal, sondern es geht ihr darum aufzuzeigen, dass das Böse nicht nur von unmenschlichen Monstern begangen wird, sondern von ganz gewöhnlichen Menschen, dass also prinzipiell jeder Mensch zu diesen monströsen Taten fähig wäre. Eichmann wird nicht als böse, als Monstrum geschildert, sondern als Pedant, als karrierehungriger, unterwürfiger Bürokrat. Dies gilt nicht nur mit Blick auf reale Gewalt, sondern auch auf animierte, wie in Computerspielen. Vgl.: Arendt (2013,1), S. 100. Mommsen (2013), S. 10. Arendt (2013,1), S. 76. Nach: Ebd., S. 77f. Ebd., S. 75. So beispielsweise: Ebd., S. 77 u.ö.

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die Jurisdiktion im Fall Eichmann bildet einen der Hauptkritikpunkte Arendts, welcher ihr Werk durchzieht: Der Prozess gegen Eichmann wurde juristisch nicht korrekt durchgeführt.219 Doch genau dies war eine ihrer Hauptforderungen, dass in einem Rechtsstaat jedermann ein faires Verfahren und eine richtige Verteidigung verdient hat. So wirft sie denn beispielsweise – wieder in ihrer anti-Ben-Gurion’schen Einstellung – dem Oberstaatsanwalt Befangenheit vor: Dieser hätte wie eine Marionette alles so getan, wie Ben Gurion es von ihm wollte und ihn im Hintergrund dazu anleitete, er tat alles, „um seinem Herrn zu gehorchen“220. Im Rahmen des Verfahrens sei es der Anklage gar nicht in erster Linie um die Person Eichmann und ihre Taten im ss-Apparat gegangen, wie es bei einem Gerichtsverfahren gegen Eichmann eigentlich hätte der Fall sein müssen, vielmehr sei es um das allgemeine Leiden, welches von den Nazis an den Juden verübt worden war, gegangen, und es wurde versucht, dieses an der Person Eichmann festzumachen.221 So seien denn von der Anklage auch zahlreiche Zeugen aufgerufen worden, welche von Taten zu berichten wussten, welche „mit den Taten des Angeklagten so gut wie nichts zu tun hatten“222.223 Der Prozess sollte Eichmann als den Hauptverantwortlichen für das Geschehene aufweisen und so die Möglichkeit geben, den eigentlich Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen und Vergeltung zu üben. Es musste insbesondere aufgezeigt werden, „dass die verbrecherische Natur seiner Handlungen ihm wie allen ‚normal Empfindenden‘ klar gewesen sei“224. Doch eben mit diesem Unterfangen sei „das schwerste moralische Problem des Falles“225 nicht erkannt worden: „Tatsache war ja, dass er ‚normal‘ und keine Ausnahme war und dass unter den Umständen des Dritten Reiches nur ‚Ausnahmen‘ sich noch so etwas wie ein ‚normales Empfinden‘ bewahren konnten.“226 Doch wird nicht nur an der Anklage sowie an der Oberstaatsanwaltschaft häufig kein gutes Haar gelassen, sondern auch eine gehörige Kritik an der Verteidigung wird nicht versäumt; vielmehr tauchen immer wieder Vorwürfe gegen die Führung der 219

220 221 222 223 224 225 226

Die juristischen Sonderheiten im Prozess gegen Eichmann fangen nur schon damit an, dass der Prozess eine Art Zwitterwesen ist: Im Unterschied zu normalen Prozessen, in denen solange von der Unschuld des Angeklagten ausgegangen wird, bis der Erweis seiner Schuld erbracht ist, stand die Schuld Eichmanns bereits zu (oder besser gesagt schon vor) Prozessbeginn fest. (Nach: Ebd., S. 319.) Nach: Ebd., S. 71. Nach: Ebd., S. 73. Ebd., S. 90. Nach: Ebd. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd.

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Verteidigung, welche ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen sei, auf und durchziehen die Schrift.227 So erhob sie kaum Einspruch, wenn die Prozessführung aufgrund entsprechender Zeugenaussagen vom Fall Eichmann weg hin zu von anderen zu verantwortenden Gräueln überging.228 Weiter hätte die Verteidigung auch nicht genügend Nachforschungen unternommen, um entlastendes Material zusammenzutragen.229 So lässt Arendt denn weder an der Staatsanwaltschaft, noch an der Anklage, noch an der Verteidigung ein gutes Haar, alle werden sie gleichsam der Unfähigkeit (Verteidigung) bzw. der falschen Prozessführung (Anklage und Staatsanwaltschaft) beschuldigt.230 Doch auch von der Urteilsformulierung hält Arendt nicht viel. Ihre Kritik entzündet sich an „Interpretationen und Schlussfolgerungen, die aus jedem normalen Gerichtsprotokoll gestrichen worden wären – in Jerusalem allerdings fanden sie sich selbst noch im Wortlaut des Urteils wieder.“231 Darüber lässt sie auch den Vorwurf durchschimmern, dass das Urteil unzulässige Schlüsse zog.232 Doch die Voreingenommenheit Arendts in Bezug auf die Rolle, welche Ben Gurion spielte, wie auch ihre einseitig negative Sicht der Rolle der Judenräte sind nicht die einzigen Mängel, die es zu beanstanden gilt. Ebenso zu bemängeln gilt es an Arendts Ausführungen, dass historische Ungenauigkeiten vorkommen, was teilweise wohl auch damit zusammenhängt, dass damals noch nicht all das über die Zusammenhänge der Ereignisse und Vorgänge des Geschehens bekannt war, was in der Zwischenzeit ans Tageslicht gefördert worden ist. Zugleich kannte sie aber auch die damals zugänglichen Erkenntnisse nur in beschränktem Maße.233 Wobei sie sich diesbezüglich durchaus ihrer eigenen Grenzen bewusst war: „Eine abgesicherte historische Darlegung lag jedoch weder in der Absicht noch in der Fachkompetenz“234 Hannah Arendts. Aber trotz aller angebrachten Kritik zeigt ihr Werk auch ein Verdienst, welches, wie bereits angedeutet, in der psychologischen Betrachtung und den daraus resultierenden Erkenntnissen besteht. So ist es ihr gelungen, „die psychologische Wirkung der von totalitären Systemen betriebenen terroristischen Manipulation, der moralischen Abstumpfung und der Rolle von Pseudorechtfertigungen des Verbrechens“235 aufzuzeigen. 227 228 229 230 231 232 233 234 235

So beispielsweise: Ebd., S. 76 u.ö. Nach: Ebd., S. 76f. Nach: Ebd., S. 141. So beispielsweise: Ebd., S. 212f. Ebd., S. 226. Nach: Ebd., S. 323. Nach: Mommsen (2013), S. 10f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15.

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Die Kontroverse, welche sich um ihr Buch herum ergab, entzündete sich an der Frage nach der Beurteilung einer etwaigen Mitverantwortung der Judenräte. Können die Judenräte richtiger- und gerechterweise tatsächlich der Kollaboration und damit der Mitverantwortung bezichtigt werden? Inwiefern bestand denn eine Wahlfreiheit? Hätten sie mit dem Wissen, das sie hatten, anders handeln, andere Wege wählen können? Ist es denn ein derart schweres Verbrechen, alles zu versuchen, um die größtmögliche Zahl an Gemeindemitgliedern zu retten und vor dem Tod zu bewahren? Kann diese ungleiche Situation ungleich verteilter Kräfteverhältnisse überhaupt Kollaboration genannt werden? Hannah Arendt bejaht dies, indem sie durchaus eine Mitschuld bzw. eine Mitverantwortung der Judenräte an dem Geschehenen als gegeben ansah.236 Immer wieder wirft sie ihrem eigenen Volk Kooperation mit den Nazis vor, ohne die das ganze Unterfangen nicht so einfach, schnell, gründlich und vollständig hätte gelingen können.237 Denn aus einem Kreuzverhör sei unzweideutig hervorgegangen, „dass die Nazis jene Zusammenarbeit als  die 236

237

Nach: Ebd., S. 18. Noch weiter als die Bezeichnung dieser Juden als Kollaborateure gehen die Entwürfe einiger (auch aktueller) Historiker der Juden als Täter. So schildert etwa Heer die Geschichtsdeutung des Polen Bogdan Musial (vgl.: Heer (2004), S. 249–274.), welcher behauptet, die Juden gerade etwa in der Westukraine (Galizien) seien selbst schuld gewesen an ihrer Ermordung beim Einmarsch der Deutschen Wehrmacht. (Nach: Ebd., S. 249.) Nicht nur hätten sie finanziell an der ukrainischen Annexion des polnischen Ostgaliziens profitiert und so Neid auf sich gezogen, sondern auch im kommunistischen Staatsapparat seien sie stark vertreten gewesen, insbesondere in den Sicherheitsorganen. (Nach: Ebd.) Und gerade in dieser Position hätten sie sich selbst auch als Täter beteiligt. Als direkt Betroffene und Involvierte erscheinen bei Musial „die empörte ukrainische Bevölkerung, das verhasste bolschewistische System und die als dessen Helfershelfer überführten Juden.“ (Ebd., S. 261.) Musials These wird von Heer folgendermassen zusammengefasst: „Der Hass der nichtjüdischen Bevölkerung, das ist Musials Behauptung, entstand daraus, dass die Juden von der Annexion des vormals polnischen Ostgaliziens durch die Sowjetukraine profitiert hätten und zudem durch ihre Verwendung im Staatsapparat – vor allem bei den Sicherheitsorganen des nkwd – aktiv an der Repression gegen Polen und nationalgesinnte Ukrainer beteiligt gewesen wären.“ (Ebd.) Weiter seien die Übergriffe dieses jüdisch durchzogenen, unterwanderten und dominierten Terrorapparats der Bolschewisten nebst den Verbrechen der roten Armee der eigentliche Anlass dafür gewesen, den Krieg zu brutalisieren und die Vernichtung der Juden in Angriff zu nehmen. (Nach: Ebd., S. 263f.) So sei es also die eigene Schuld der Juden gewesen, dass sich die Nationalsozialisten mit der Zeit zu deren Vernichtung entschlossen hätten. Dass es heutzutage noch möglich ist, solche Aussagen – und erst noch als angeblicher Historiker – zu machen und darüber hinaus noch, wie Heer aufweist, von der Presse, gerade auch von Organen wie der Frankfurter Rundschau sowie von der Welt bejubelt zu werden und eine Plattform zu erhalten (nach: Ebd., S. 269–272.), ist mehr als verstörend. So beispielsweise: Arendt (2013,1), S. 208.

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eigentliche Grundlage ihrer Judenpolitik betrachtet hatten.“238 Überhaupt hätten die Judenräte von den Nazis eine enorme Macht erhalten239 – und Macht zieht bekanntlich, wenn in die falschen Hände gelegt, auch immer deren Missbrauch nach sich –, die Macht nämlich, „über Leben und Tod“240 zu entscheiden. So bemängelt Arendt denn auch, dass dennoch „kein Zeuge über die Zusammenarbeit zwischen nationalsozialistischen und jüdischen Behörden vernommen wurde, dass also kein Anlass bestand, die schwerwiegende Frage zu stellen: Warum habt ihr die Mitarbeit an der Zerstörung eures eigenen Volkes und letztlich an eurem eigenen Untergang nicht verweigert?“241 Doch auch ihre Haltung gegenüber Ben Gurion und dem Zionismus rief Kritik hervor. So griff sie Ben Gurion des Öfteren in ihrem Buch über Eichmann direkt an. Sie wurde als antizionistisch abgetan. Arendts Misstrauen und Distanz ging so weit, dass sie dem Staat Israel, besser gesagt dessen politischem System – insbesondere in der Frage der Siedlungspolitik – faschistische Tendenzen unterstellte.242 Ebenso wagte sie es, das Ehe- und Familienrecht des Staates Israel mit den Nürnberger Gesetzen zu vergleichen.243 Gerade aber auch die von ihr vorgenommene Darstellung der Rolle Eichmanns im ns-Apparat provozierte „einen Sturm der Empörung in der jüdischen Öffentlichkeit“244. Dies ist durchaus nachvollziehbar: Lässt sie doch an einigen Stellen gar Verständnis für Eichmann durchschimmern. Sie schildert ihn als unfähigen Trottel, von Eitelkeit, Größenwahn und Karrieregeilheit getrieben, einen Menschen mit einer Sprachstörung, aus dessen Mund „das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch“245 klingt, einer, der sich nicht in den Standpunkt des anderen versetzen kann, sondern alles nur aus seinem Blickwinkel heraus betrachtet und beurteilt, einer, der unfähig ist zu denken.246 Ihr Fazit lautet denn: Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, dass dieser Mann kein ‚Ungeheuer‘ war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, dass man es mit einem Hanswurst zu tun hatte. Und da dieser Verdacht das ganze Unternehmen ad absurdum geführt 238 239 240 241 242 243 244 245 246

Ebd., S. 218. Nach: Ebd., S. 209. Ebd. Ebd., S. 217. Nach: Mommsen (2013), S. 23. Nach: Arendt (2013,1), S. 75. Mommsen (2013), S. 25. Arendt (2013,1), S. 124. Siehe z.B.: Ebd., S. 119–126.

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hätte und auch schwer auszuhalten war angesichts der Leiden, die Eichmann und seinesgleichen Millionen von Menschen zugeführt hatten, sind selbst seine tollsten Clownerien kaum zur Kenntnis genommen und fast niemals berichtet worden.247 In gewisser Weise deutet Arendt also an, dass Eichmann eigentlich als unzurechnungsfähig – und damit verbunden schuldunfähig – hätte deklariert werden müssen, wäre beim Prozess juristisch alles mit rechten Dingen zu- und hergegangen. Doch kommt in Arendts Schilderungen ein Charakterzug Eichmanns unzweifelhaft hervor: Eichmann war von Karrieregeilheit248 getrieben, versteckte sich hinter euphemistischen Floskeln und war nur auf sich selbst bedacht. So erinnerte sich Eichmann an all jene Phasen, welche mit seiner Karriere in Verbindung standen, an andere Fakten konnte (oder wollte) er sich nicht erinnern.249 Auch besaß er einen Hang zur Angeberei.250 Arendt nimmt Eichmann für seinen Sprachgebrauch, in den er bei entsprechenden Stichworten immer wieder zurückfiel, in Schutz, indem sie die These vertritt, dieser sei durch seine beschränkte sprachliche wie geistige Fähigkeit für die klischeehaften und verschönernden Sprachregelungen geradezu ein gefundenes Fressen gewesen.251 Seine Selbstsucht zeigt wohl im folgenden Zitat aufs Erschreckendste auf, dass es Eichmann nicht um die Grausamkeit und 247 248

249 250 251

Ebd., S. 132. So fasst etwa auch Schmidt-Salomon Arendts Eichmannprofil – und das der meisten Nationalsozialisten – wie folgt zusammen: „Denn auch in der Zeit der Nazidiktatur wählten die Menschen nicht ‚das ominöse Böse‘, sondern machten das, was sie unter dem Diktat des Eigennutzprinzips zu allen Zeiten taten und wohl auch bis zum Aussterben unserer Spezies tun werden: Sie versuchten, unter den gegebenen Rahmenbedingungen das Beste für sich selbst herauszuschlagen. […] Wie Arendt am Beispiel Eichmanns zeigte, waren selbst die Handlungen der Nazielite eher bürgerlichem Karrierismus geschuldet als einem genuinen Interesse am Massenmord.“ (Schmidt-Salomon (2013), S. 101, Hervorhebung im Original.) Gegen diese Sichtweise Arendts spricht sich etwa Wojaks aufs Vehementeste aus, wenn sie den Antisemitismus der Nazitäter hervorhebt und so aufweist, dass diese keineswegs nur auf ihre eigene Karriere bedacht waren, sondern bewusst aus antisemitischen Motiven heraus handelten. (Vgl.: Wojak (2004).) Schmidt-Salomon dagegen nimmt den Standpunkt ein, dass Eichmann in der Tat „Opfer“ war, Opfer eines Gehorsams gegenüber absoluten Autoritäten, sodass er ohne dieses System in eigener Freiheit gar nicht existieren und sinnvoll leben konnte. (Nach: Schmidt-Salomon (2013), S. 152.) Eichmanns „virtuelles Selbst war so programmiert, dass es sich losgelöst von den Vorgaben ‚höherer Autoritäten‘ gar nicht verorten konnte.“ (Ebd.) Vgl. z.B.: Arendt (2013,1), S. 131 sowie 141. Vgl. z.B.: Ebd., S. 103, 120 sowie 122. Nach: Ebd., S. 171.

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Unmenschlichkeit der Taten, nicht um das Schicksal der malträtierten und entwürdigten Menschen ging, sondern einzig und allein darum, dass er diese Dinge nicht sehen, nichts damit zu tun haben wollte, sondern dass es ein anderer tun sollte. Was da geschah, stellte ihn nicht vor ein moralisches Problem, sondern dass man ihm das zumutete und es nicht einem anderen delegierte, war sein eigentliches und einziges Problem an dem ganzen Schrecken. So hält Arendt zwar fest, dass Eichmann selbst „niemals bei einer Massenerschießung unmittelbar dabeigewesen [sei], er hat niemals von nahem den Vergasungsvorgang beobachtet, noch hat er je die Selektion der Arbeitsfähigen […] auf der Rampe mit angesehen, die in Auschwitz den Vergasungen vorausgingen.“252 Doch spielt dies eine so große Rolle? Spricht ihn dies von der Verantwortung frei? Wohl kaum, hat er doch nichts dagegen unternommen, obwohl er genug gesehen hatte, „um genau Bescheid zu wissen, wie die Vernichtungsmaschinerie funktionierte“253. Und damit nun endlich zum erwähnten schockierenden und von Selbstsucht strotzenden Zitat Eichmanns: „Schicken Sie doch jemand anderen hin. Jemand robusteren… Ich war nie Soldat. Es gibt doch genügend andere, die können das sehen. Die kippen nicht aus den Latschen. Ich kann’s nicht sehen, sagte ich. In der Nacht kann ich nicht schlafen. Ich träume – ich kann’s nicht, Gruppenführer.“254 Offenbar wandte Eichmann hier einen Selbsttäuschungstrick Himmlers an: Das Mitleid wurde in Selbstmitleid umgekehrt.255 „So dass die Mörder, wenn immer sie die Schrecklichkeit ihrer Taten überfiel, sich nicht mehr sagten: Was tue ich bloß!, sondern: Wie muss ich nur leiden bei der Erfüllung meiner schrecklichen Pflichten, wie schwer lastet diese Aufgabe auf meinen Schultern!“256 Doch zeigt dieses Zitat noch etwas anderes als den schier unüberbietbaren Egoismus, von dem er getrieben war. Denn es kommt abgesehen von seinem eigenen Antriebsmotiv für seine Bitte um Delegation auf jemand anderes deutlich hervor, dass er schockiert war von dem, was er gesehen hatte, von dem, was da an Menschen verübt worden war. Denn nur deshalb war ihm nicht wohl dabei, weil er ganz genau wusste und spürte, dass das, was dort geschieht, nicht rechtens ist. Dennoch hat er nichts dagegen unternommen, sondern hat weiterhin mitgewirkt an der so vielschichtigen Mordmaschinerie. Es konnte und durfte seiner Ansicht nach 252 253 254 255

256

Ebd., S. 176. Ebd. Eichmann, zitiert nach: Ebd, S. 175. Nach: Ebd., S. 195. Wie Ammicht-Quinn betont, ist es genau eine solche von Gehorsam und Pflicht geprägte Umgebung, welche diese Umwälzung des Mitleids in Selbstmitleid möglich macht und so jegliches Mitleid mit anderen verdrängt. (Nach: Ammicht-Quinn (1992), S. 205.) Arendt (2013,1), S. 195.

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weitergeschehen, Hauptsache er musste es nicht weiter mitansehen – wenn auch Arendt behauptet, der Anblick dieses Grauens und der daraus resultierende Schock hätten „ihn fast um den Verstand gebracht.“257 Unzweifelhaft ist damit aber unwiderlegbar bewiesen, dass er durchaus „in der Lage gewesen war, die Ungeheuerlichkeit seiner Handlungen zu beurteilen“258, dass er also „rechtlich verantwortlich war“259. Denn Eichmanns Taten geschahen im vollen Bewusstsein um deren Konsequenzen, er wusste haargenau was er tat, wie er selbst zugegeben hatte: Er wusste, dass er Menschen in den Tod schickte bzw. transportierte.260 Die große Frage, die sich aufdrängt, ist, weswegen sich Eichmanns Gewissen nicht stärker regte, wenn ihn das Ganze doch angeblich beinahe um den Verstand brachte. Die Antwort darauf ist scheinbar ganz einfach: Da sich auch sonst niemand regte, war niemand da, der ihn hätte aufrütteln und sein Gewissen beunruhigen können.261 Er rechtfertigte sich damit, „[d]ass von außen keine Stimme zu ihm gedrungen sei, um sein Gewissen aufzurütteln“262. Doch handelt es sich doch gerade beim Gewissen selbst um jene Stimme, die uns aufrütteln soll. Es braucht keine Stimme, die von außen an uns herankommt, um unser Gewissen zu rühren. Im Hinblick auf das Böse hält Arendt fest, dass dieses unter dem Naziregime sein Erkennungszeichen als Versuchung verloren hatte.263 In diesem Zusammenhang macht sie auf ein interessantes Phänomen aufmerksam: Die Formulierung des Tötungsverbots innerhalb der biblischen Zehn Gebote lässt darauf schließen, dass von der Grundannahme ausgegangen wird, dass jeder Mensch ein potentieller Mörder ist; diese Veranlagung gilt es zu unterdrücken, in den Griff zu kriegen und zu kultivieren.264 Im Nazireich aber bildete genau die gegenteilige Annahme den Ausgangspunkt: Es wurde verlangt zu töten, weil befürchtet wurde, dass der Mensch von sich aus nicht zwingendermaßen diesen Drang verspürt; bekämpft werden musste also gerade seine natürliche Kultiviertheit.265 Ob dies nun im Einzelnen auf dieses Bespiel tatsächlich zutrifft oder nicht, dem wird nicht weiter nachgegangen. Was sich aber daraus zweifelsfrei ergibt, ist die Tatsache, dass normative Gesetzestexte aufgrund ihrer Formulierungen und der getroffenen Wortwahl auch immer 257 258 259 260 261 262 263 264 265

Ebd., S. 178. Ebd. Ebd. Nach: Ebd., S. 322. Nach: Ebd., S. 208. Ebd., S. 220. Nach: Ebd., S. 249. Nach: Ebd., S. 248. Nach: Ebd., S. 248f.

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die anthropologischen und soziologischen Vorstellungen der diese Gesetze aufstellenden Gruppe widerspiegeln. Doch bergen Gesetze immer auch eine Gefahr: So stehen Rechts- und Gerechtigkeits-/Moralvorstellung in einem komplizierten Gefüge wechselseitiger Beeinflussung. Das Moralempfinden einer Gruppe führt zur Etablierung bestimmter Gesetze,266 welche diesem Moralsystem entsprechen. Gleichermaßen können aber auch Gesetze installiert werden, die dann Auswirkungen auf das Moralempfinden einer Gruppe Einfluss haben und dazu führen, dass sich das Moralempfinden der Gruppe mit der Zeit dem von der Gruppenführung eingesetzten Rechtssystem immer mehr angleicht. Auch mit Blick auf Eichmann hält Arendt fest, dass dieser aufgrund seiner beschränkten geistigen Fähigkeiten sowie seines Strebens nach Konformität um des gesellschaftlichen Aufstiegs und Erfolgs willen schlichtweg unfähig war, aus dem geltenden Rechtssystem auszubrechen, sondern bei jeder Gesetzesänderung ohne nachzudenken der neuen Verordnung selbstverständlich Folge leistete. Er „dachte stets in den engen Grenzen der jeweils gerade gültigen Gesetze und Verordnungen“267 – ein blinder Rechtsgläubiger. Doch trotz der Mängel und Kritikpunkte, welche Arendt zulasten gelegt werden können, darf dennoch das Verdienst, das Bewusstsein für die Banalität des Bösen und für psychologische Faktoren, welche das Böse banal werden lassen, geschärft zu haben, nicht verkannt werden. So gelang es ihr denn auch, „[d]ie Atmosphäre totaler moralischer Indifferenz, in der sich die ‚Endlösungs‘-Politik vollzog, […] mit ungewöhnlicher Klarheit“268 zu beschreiben. Den erwähnten psychologischen Faktoren soll nun auf den Zahn gefühlt werden, indem zwei bekannte Experimente geschildert werden, welche mit der Thematik in Verbindung stehen. 2.4.3.1 Psychologische Parallelen Die Auseinandersetzung mit dem Problem des Bösen findet selbstverständlich nicht nur auf philosophischer und theologischer Ebene statt, sondern es werden auch soziologische und psychologische Theorien und Konzepte entwickelt.269 Wenngleich auf diesen interessanten und wichtigen Wirkungskreis der Thematik im Rahmen dieser Arbeit weitgehend verzichtet wird, so sollen 266

267 268 269

Es ist hier also vom sog. positiven Recht die Rede und nicht von göttlichem Recht oder Naturrecht. Das positive Recht zeichnet sich dadurch aus, dass es von Menschen gesetzt und so kontextabhängig und veränderbar ist. Ebd., S. 258. Mommsen (2013), S. 22. Nach: Dearey (2014), S. 4. Für weiterführende Literatur insbes. zum kollektiven Bösen und Genozid aus psychologischer Sicht s. beispielsweise: Geddes (2001); Vetleson (2005); Staub (2006).

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an dieser Stelle doch einige Anmerkungen gemacht werden, welche gerade auch mit Arendts Erkenntnis von der Banalität des Bösen zusammenhängen und diese Einsicht auch experimentell untermauern. Wie schon Kant und später Arendt, so zeigen auch diese Experimente auf, dass böse Taten gerade nicht nur von Monstern ausgeübt werden. Sowohl das Milgram-Experiment270 als auch beispielweise das Stanford Prison-Experiment271 wiesen in der Nachkriegszeit darauf hin, dass es vielmehr die Situationen sind, welche einen Menschen zu bösen Taten verleiten, als etwa seine individuellen Dispositionen. So hat wohl jeder schon einmal von dem Versuch gehört, in welchem ProbandInnen anderen vermeintlichen ProbandInnen, die aber eigentlich den VersuchsleiterInnen angehörten, Stromschläge verabreichen mussten, wenn sie eine falsche Antwort auf eine Frage gaben. Dabei wurde die Stromstärke von Mal zu Mal erhöht. Die vermeintlichen Empfänger – die aber nur so taten, als verspürten sie einen Stromschlag – schrien vor Schmerzen ab einer gewissen Stärke und die ProbandInnen wollten eigentlich den Stromschlag nicht verabreichen, doch auf Zureden der Versuchsleitung hin, die erklärte, dass dies nun einmal die Regeln seien, fuhren sie weiter – bis hin zu Stromschlägen in einer Stärke, welche einen Menschen umbringen. Und dies alles, weil sie sich auf einen Befehl berufen konnten, sie trugen ja nicht die Verantwortung. Diese hatten sie vielmehr, um ihr Gewissen zu beruhigen, der Versuchsleitung innerlich übertragen. Beim ersten Mal erschraken die VersuchsleiterInnen selbst über das unerwartete, schockierende und unglaubliche Ergebnis des Milgram-Experiments: Nahezu alle Probanden und Probandinnen verhielten sich gleich, nur wenige widersetzten und weigerten sich, den anderen Schmerzen zuzufügen. Der Versuch wurde seither viele Male wiederholt – immer 270

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Zu diesem so gennanten Milgram-Experiment, benannt nach seinem Erfinder Stanley Milgram, s. z.B.: Milgram (1967); ders. (2013), sowie zusammenfassend: Dearey (2014), S. 178–181. Das Gefängnis-Experiment von Philip Zimbardo dürfte wohl nicht weniger bekannt sein als das Elektroschock-Bestrafungs-Experiment von Stanley Milgram: Zimbardo teilte eine Gruppe von Freiwilligen in zwei Gruppen ein. Die einen spielten Wächter eines Gefängnisses, die anderen sahen sich in die Rolle der Häftlinge versetzt. Das Experiment lief bekanntermaßen völlig aus dem Ruder, indem die Wächter die Häftlinge misshandelten und ihre Position schamlos ausnutzten. Auch die Reaktion der Häftlinge war nicht minder erschreckend, indem sie einfach resignierten und die Schikanen über sich ergehen ließen. Das Experiment musste nach wenigen Tagen aufgrund der Eskalation der Situation vorzeitig abgebrochen werden. Der deutsche Film „Das Experiment“ aus dem Jahr 2001 setzt sich frei mit diesem Thema auseinander, indem mit Blick auf die Eskalation von der Realität abgewichen wird und es zu mehreren Toten kommt. Zum Experiment selber s. z.B.: Zimbardo (2012), sowie zusammenfassend: Dearey (2014), S. 181–183.

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mit demselben Ergebnis. Selbst als der Versuch schon längst bekannt war, änderten sich die Resultate bei Wiederholung der Versuchsreihe mit neuen Versuchspersonen nicht. So gelang es Milgram aufzuzeigen, dass die Shoah ohne Mithilfe normaler Menschen, welche nicht einmal die Nazi-Ideologie teilen mussten, nicht hätte funktionieren können.272 Auf die Frage, wie das möglich war und weshalb Menschen Autoritäten gehorchen, fand Milgram die Antwort, dass es eben gerade nicht Monster oder sadistische Persönlichkeiten sind, sondern dass es vielmehr der banale Glaube an Autoritäten und deren Projekte sowie die gewöhnliche Pflicht, diesen zu gehorchen, seien, welche letztlich hierfür verantwortlich seien.273 So lässt sich mit Dearey mit Blick auf das Milgram-Experiment folgender Schluss ziehen: „[E]vil is not about mad or bad people, but bad situations.“274 Einer der gewichtigsten Faktoren, so konnte Milgram aus seinen Forschungsergebnissen herauskristallisieren, ist dabei die Tatsache, dass das Individuum sich aufgrund des an es ergangenen Befehls von Seiten einer (ranghöheren) Autorität von jeglicher Verantwortung freisprechen kann:275 Das Individuum hat die Tat ja nicht freiwillig begangen und sich nicht selbst ausgedacht, sondern ist dazu gezwungen worden bzw. hat Befehl dazu erhalten, dem es sich nicht widersetzen darf. Auch Zimbardos Experiment führte zu demselben Ergebnis, dass es nämlich nicht unmenschliche, monströse Menschen sind, welche Schlechtes tun; darüber hinaus stellt sein Experiment allerdings auch eine große Herausforderung für das einfache zweipolige schwarz-weiß Bild von Gut und Böse dar, indem sein Experiment aufzeigt, dass wir alle sowohl zum Guten als auch zum Bösen fähig sind276 – weit abhängiger von Situationen und Umständen als von unserer Persönlichkeit: Instead, like Milgram, Zimbardo emphasizes the situational nature of social context and the systematic nature of sociopolitical organization over the dispositional factors of individual psychology in the manifestation of evil. […] In fact, when you take a closer look (as Zimbardo did in his role as expert witness for one of the defendants in the trials following the Abu Graib abuses), some of the people who are implicated in carrying out these evil acts are in actuality decent, even very good people. What is ‚bad‘ is the situations in which they find themselves in and are forced to act, where they are left to their own devices for the most part, where 272 273 274 275 276

Nach: Dearey (2014), S. 178. Nach: Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 182.

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there is little or no oversight and rules are not enforced by those who are in charge, and the ‚enemy‘ – the people who are on the receiving end of the evil – are systematically dehumanized and de-individualized, having their suffering denied or implying that they somehow ‚deserve‘ what they get.277 Dies ist ein erschreckendes Bild, welches die moderne Psychologie mittels empirisch nachvollziehbaren Experimenten aufzeigt: Es sind in vielen Fällen nicht die Menschen, welche üble Taten vollbringen, welche schlecht sind, sondern die Situation, in der sie sich wiederfinden, ist schlecht und führt so zu schlechten Taten. Dies bedeutet, dass sich so etwas wie die Shoah immer wieder ereignen kann, wenn sich die Leute in ähnlichen Strukturen und Situationen wiederfinden. Genau dies muss uns aber Angst machen oder in den Worten Deareys: Die These von der Banalität des Bösen „is even scarier than the monster thesis.“278 Gerade die erwähnten Experimente drängen diesen Schluss aber auf, indem sie beweisen, dass, selbst wenn man von diesen Experimenten und deren Ausgang Kenntnis hat, sich in denselben Versuchskonstellationen seither unzählige Male dieselben Erfahrungen bestätigt haben. Mit Blick auf das Böse ist dies eine erschreckende Erkenntnis von Seiten der Psychologie. Denn es sind gerade auch solche Ergebnisse, welche das Individuum von seiner Verantwortung bis zu einem gewissen Grade freisprechen, indem sie belegen, dass in analogen Situationen beinahe alle Menschen – und zwar Normalos, keine Monster, sondern durchaus humane und im gewöhnlichen Leben friedfertige Persönlichkeiten – ähnlich reagieren und handeln. Man tut ja demnach nur, was alle tun, was genauso gut als Ausflucht genommen werden kann wie der Verweis auf Autoritäten und Befehle. Allerdings wird hier der freie Wille dennoch zu wenig stark bedacht. Immerhin ist es nicht nur die Situation, welche eine Reaktion aufzwingt, sondern es ist der freie Wille, mit dem eine Person in eine Handlung einwilligt oder eben nicht. Gerade jene Persönlichkeiten, welche sich nämlich dem Druck der Autoritäten und den Versuchsanweisungen widersetzten – zwar durchaus gemessen an der Probandenzahl eine Minderheit, welche allerdings dennoch nicht zu unterschätzen ist –, müssten stärker betont, analysiert und bewertet werden. Denn diese Menschen und ihre Beweggründe, welche sie zum Widerstand bewegten, gälte es zu erforschen, um so einen Ausweg aus dieser negativen Spirale von sich wiederholenden inhumanen Konstellationen zu finden. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse könnten durchaus dazu beitragen, dass die Zivilcourage zunimmt und mehr 277 278

Ebd., S. 182f., Hervorhebung im Original. Ebd., S. 190.

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Menschen, auch wenn sie sich in entsprechenden ‚bösen‘ Situationen wiederfinden, dennoch nicht selbst böse handeln.279 Nachdem nun der Ansatz der Banalität des Bösen vorgestellt worden ist, widmet sich das folgende Kapitel einem weiteren vieldiskutierten Ansatz nach Auschwitz. Dieser löst sich bewusst von der traditionellen Gottesrede, indem auf die Zuschreibung der Omnipotenz verzichtet wird. 2.4.4 Hans Jonas: Der ohnmächtige Gott Im Rahmen einer Beschäftigung mit Theodizee-Versuchen, welche sich angesichts der Erfahrungen, die im Wort Auschwitz zusammengefasst werden, entwickelt wurden, darf natürlich auch der Entwurf des jüdischen Philosophen Hans Jonas nicht unbeachtet bleiben. Bevor allerdings dieser Ansatz vorgestellt wird, soll zunächst kurz die jüdische Mystik mit ihrem Modell des Zimzum vorgestellt werden, auf welcher Jonas’ Entwurf fußt. 2.4.4.1 Die Kabbala: Die Theorie vom Zimzum Die Theorie des ‫( צמצום‬Zimzúm; Kontraktion, Konzentration, Einschränkung, Beschränkung)280 stammt aus der lurianischen Kabbala, also jenem Zweig der Kabbala, welcher auf Isaak Luria281 zurückgeht.282 Die jüdische Mystik bzw. Kabbala283 liefert ohnehin sehr interessante Überlegungen zur Herkunft des 279 280 281 282

283

Beispielshaft sei aus psychologischer Warte auf folgenden Titel verwiesen, welcher sich mit dem Phänomen des Widerstands befasst: Staub (2015). Scholem plädiert dafür, dass Zimzum am besten mit Zurückziehen bzw. Rückzug übersetzt wird. (Nach: Scholem (1980), S. 285.) Mit Blick auf Luria und die lurianische Kabbala sei verwiesen auf: Ebd., S. 267–314; Dan (2012), S. 105–123 sowie Necker (2008). Zur (lurianischen) Kabbala und der Vorstellung vom Zimzum s. insbes. Scholem (1973), S. 147–158; ders. (1980), S. 285–290; ders. (1970), S. 84–89; Necker (2008), insbes. S. 80–107; Schulte C. (2014), davon zu Luria insbes. S. 39–50 bzw. zum Zimzum bei Luria S. 46–50. Scholem führt aus, dass es sich bei der Lehre vom Zimzum um „eine der erstaunlichsten und weitest reichenden mystischen Ideen, die in der Kabbala je gedacht worden sind“ (Scholem (1980), S. 285.), handelt. Dabei handelt es sich bei der lurianischen Kabbala um eine gnostische Mythenbildung innerhalb des rabbinischen Judentums. (Nach: Ders. (1973), S. 147.) Unter dem Begriff Kabbala wird keineswegs ein einheitliches Phänomen zusammengefasst: „Die Kabbala – wörtlich verstanden: Tradition, nämlich esoterische Tradition – ist die Bewegung, in der vornehmlich zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert die mystischen Tendenzen im Judentum in vielfacher Verzweigung und oft überaus lebhafter Entwicklung ihren religiösen Niederschlag gefunden haben. Es ist nicht etwa, wie immer noch manchmal gemeint wird, ein einheitliches System mystischen und speziell theosophischen Denkens, das hier vorliegt. So etwas wie ‚die Lehre der Kabbalisten‘ gibt es nicht.

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Bösen. Hier sollen nur beispielhaft einige erwähnt werden. So wird auf zurvanistisch-zoroastrische Überlieferungen zurückgegriffen, indem die beiden Motive des bösen Gedankens und der Kraft des Bösen, welche vor der Kraft des Guten erschaffen wurden, in der zweiten Hälfte des 13. Jh. in kabbalistischen Texten auftreten.284 Bereits im 9. Jh. tritt anscheinend in Frankreich der Gedanke auf, dass das Böse vor dem Guten geschaffen ist, wobei – so ergründete Idel im Studium der Handschriften – der Ausdruck des bösen Gedankens, ‫( מחשבה רעה‬Machshawáh ra‘áh), für diese frühe Zeit noch nicht nachweisbar ist.285 Interessant ist auch Idels Schilderung einer in der Kabbala vertretenen Ansicht, dergemäß die Vorhaut des Mannes nicht Teil des Schöpfungswerkes sei und daher die Beschneidung am achten Tag zu erfolgen habe, um aufzuzeigen, dass sie nicht zum Zyklus der sieben Tage, also der sechs Schöpfungstage und dem siebten Tag als Ruhetag, auf den die Schöpfung hinzielt, gehört.286 Die

284 285 286

Statt dessen [sic!, v.v.] haben wir es hier mit einem in der Vielfalt und Widerspruchsfülle seiner Motive oft erstaunlichen Prozess zu tun, der sich in überaus verschiedenen Systemen oder Halbsystemen niedergeschlagen hat. In Südfrankreich, aus unterirdischen, höchstwahrscheinlich aus dem Orient kommenden Quellen gespeist, trat sie zuerst ans Licht, in denselben Gegenden und zu derselben Zeit, die in der nichtjüdischen Umwelt den Höhepunkt der katharischen oder neumanichäischen Bewegung sah. Im Spanien des 13. Jahrhunderts gedieh sie in rapider, erstaunlich intensiver Entwicklung zu ihren vollausgebildeten Gestaltungen, mit ihrem Höhepunkt in dem pseudepigraphischen Buch Sohar des Rabbi Moses de Leon, das eine Art Bibel der Kabbalisten wurde und für Jahrhunderte im Judentum fast unangefochten die Stelle eines heiligen und autoritativen Textes zu behaupten vermocht hat. Im Palästina des 16. Jahrhunderts errang sie, in zweiter Blüte, die Stellung einer zentralen historischen und geistigen Macht im Judentum; denn sie vermochte den von der Katastrophe der Vertreibung der spanischen Juden von 1492 tief aufgewühlten Gemütern eine Antwort auf die immer wieder dringlich auftauchende Frage nach dem Sinn des Exils zu geben. Von messianischer Energie erfüllt, explodiert sie im 17. Jahrhundert in der großen messianischen Bewegung um Sabbatai Zwi, die noch im Zusammenbruch eine Welt der jüdischen mystischen Häresie hervorrief, eine häretische Kabbala, die in ihren Antrieben und Entwicklungen paradoxerweise für die Entstehung des modernen Judentums von lange übersehener, uns jetzt erst allmählich klar werdender Bedeutung gewesen ist.“ (Ebd., S. 120f., Hervorhebung im Original.) Einen ausführlicheren Einblick in die Entstehung der Kabbala liefert: Ders. (1962). .357–356 '‫ עמ‬,(‫ אידל )תש"ם‬:‫לפי‬ .358 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫לפי‬ .360 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ לפי‬Maimonides dagegen richtet sich gegen eine solche negative Sichtweise der männlichen Vorhaut als etwas Überflüssiges, das es zuerst zu entfernen und so zu vervollkommnen gelte. Dagegen sieht er für die Beschneidung sittliche Gründe: „Dieses Gebot ist aber keineswegs dazu gegeben, um einen Defekt der Erschaffung, sondern um eine Mangelhaftigkeit der Sitten zu verbessern.“ (mn iii,49.) Weiter kommt für ihn selbstverständlich die Funktion als Bundeszeichen hinzu. (Nach: mn iii,49.)

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Vorhaut muss also entfernt werden, da sie nicht zur guten Schöpfung gehört, sondern etwas Schlechtes darstellt. Es stellt sich allerdings die Frage, woher die männliche Vorhaut dann kommt, wenn sie nicht im Rahmen des Schöpfungswerkes erschaffen wurde. Sie ist also vielmehr im Sinne eines Geschwürs zu deuten, dass also etwas Zusätzliches da ist, das nicht da sein sollte. Wie Idel herausstreicht, taucht die Vorstellung vom Bösen am Beginn der Schöpfung zusammen mit dem Motiv des göttlichen Gedankens auch im Sohar auf.287 In einem Zusatz findet sich die Auffassung, dass sowohl die Engel wie auch die Dämonen aus einem Gedanken geschaffen sind, die Engel aber aus dem reinen Gedanken, die Dämonen dagegen aus dem Gedanken der linken Seite, wobei eine Verbindung von linker Seite und dem Bösen postuliert wird.288 Idel schließt, dass so eine frühere, außerjüdische Quelle Eingang in die jüdische Kabbala fand und zu einer der zentralen Ideen avancierte.289 Damit zurück zum Zimzum. Wie Scholem aufzeigt, geht Luria mit dieser Theorie zwar auf eine ältere Lehre zurück, verkehrt diese aber gerade in ihr eigentliches Gegenteil, indem er nicht von einer Konzentration an einem bestimmten Ort spricht, sondern gerade vom Rückzug von diesem: Im Midrasch ist an einigen Stellen davon die Rede, dass Gott seine Schechina, seine heilige Gegenwart, im Allerheiligsten, am Ort der Cherubim, konzentriert habe, dass er also gleichsam seine ganze Macht auf einen Punkt beschränkt und zusammengezogen habe. Hiervon stammt das Wort Zimzum, während die Sache das genaue Gegenteil dieser Idee ist, da der kabbalistische Zimzum nunmehr Gott sich nicht an einen Ort konzentrieren lässt, sondern weg von einem Ort.290 Dieser Rückzug Gottes, die Selbstkontraktion des En-Sof  291 war es, welche überhaupt erst Schöpfung möglich machte, indem sie einen Raum „außer“ oder „neben“ Gott entstehen ließ:292 Schöpfung und Selbstmitteilung Gottes 287 288 289 290

291 292

.360 '‫ עמ‬,(‫ אידל )תש"ם‬:‫לפי‬, wo auch nachzulesen ist, auf welche Stelle im Sohar sich Idel bezieht. .362 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫לפי‬ .364 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫לפי‬ Scholem (1980), S. 286, Hervorhebung im Original. Necker weist darauf hin, dass der Gedanke, dass Zimzum anstelle „der Konzentration der göttlichen Gegenwart an einem bestimmten Ort nun den Rückzug Gottes als Vorbedingung der Schöpfung oder besser der Emanation bezeichnet, durchaus verbreitet“ (Necker (2008), S. 87.) war zur Zeit Lurias. Zur Herkunft des Terminus En-Sof s.: Scholem (1962), S. 233–239. Nach: Ders. (1980), S. 286. Wie Scholem herausstreicht, widerspricht diese Sichtweise der traditionellen, von Aristoteles herkommenden Sichtweise Gottes als unbewegtem

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stellen damit den zweiten Schritt im Schöpfungshandeln Gottes dar, welchem ein erster Schritt der Selbstbegrenzung und Selbstverhüllung vorausgeht, um überhaupt Raum für den zweiten Schritt zu schaffen.293 Jede Stufe des Schöpfungsprozesses enthält in sich eine Spannung zwischen dem in Gott selbst zurückflutenden Licht und dem aus ihm hervorbrechenden. Und ohne diese beständige Spannung, diesen immer wiederholten Ruck, mit dem Gott sein Wesen anhält, würde kein Ding der Welt bestehen. Diese Lehre ist von bestechendem Tiefsinn. Dieses Paradoxon des Zimzum ist, wie Jakob Emden sagte, der einzig ernsthafte Versuch, der je gemacht wurde, den Gedanken einer Schöpfung aus Nichts wirklich zu denken.294 Denn gerade die Selbstbeschränkung Gottes, des En-Sof, des Unendlichen, ist es, welche das Nichts, einen Raum außerhalb Gottes setzt. In der Selbstkonzentration Gottes wird das Nichts hervorgerufen (in gewissem Sinne geschaffen), in das und aus dem dann die von Gott verschiedene Schöpfung geschaffen werden kann.295 Lurias Konzeption des Zimzum besitzt eine interessante Komponente mit Blick auf die Thematik des Bösen: Denn in diesem Prozess werden die richtenden Kräfte Gottes, welche vormals in Harmonie mit den übrigen göttlichen Kräften standen, in diesem durch den Rückzug geschaffenen Urraum geschaffen, indem sie sich dort konzentrieren und so aus Gott heraustreten.296 Der Schöpfungsprozess stellt damit einen dramatischen Prozess in Gott selbst dar, welcher auf Reinigung hinzielt. Das Böse ist in Gott selbst zu verorten und wird im Prozess von Zimzum und Schöpfung aus Gott selbst ausgestoßen und so in den erschaffenen Raum der Schöpfung

293 294

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Beweger. (Nach: Ders. (1970), S. 86.) Küng etwa betont sodann, dass diese Vorstellung Gott seiner Vollkommenheit und Ewigkeit beraubt. (Nach: Küng (2007), S. 716.) Der Schritt der Selbstkontraktion war gemäß Luria notwendig, da Gott schlechterdings überall war, sodass kein Raum vorhanden war, in den er die Schöpfung hätte setzen können. (Nach: Scholem (1970), S. 85.) Damit steht bei Luria keine (neuplatonische) Emanation Gottes am Beginn der Schöpfung, sondern eine Art göttliches Exil. (Nach: Ders. (1973), S. 148.) Nach: Ders. (1980), S. 287. Ebd., Hervorhebung im Original. Diese doppelte Struktur des Sich-Zurückziehens und Sich-Verströmens wirkt selbst in die Schöpfung hinein, indem sich diese beiden Prinzipien (Ebbe – Flut, Einatmen – Ausatmen) auch in der Schöpfung finden. (Nach: Ebd., S. 289.) Auch die Dialektik von Sein und Nichts findet sich so in allem Geschaffenen wieder. (Nach: Ders. (1970), S. 87.) Nach: Ebd., S. 86. Nach: Ders. (1973), S. 148f.

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entlassen, Gott dagegen wird in einem dramatischen (Schöpfungs-)Prozess vom Bösen gereinigt.297 Dieser Sicht wurde aber in der Folge keine Nachfolge geleistet, indem die Schüler Lurias diesen Gedanken abschwächten oder ganz wegließen,298 „so dass der Zimzum nicht als eine notwendige Urkrise in Gott selbst, sondern als freie Liebestat erscheint, die aber, freilich paradox genug, die Gewalten des Gerichts zuerst entfesselt.“299 Nachdem nun der Gedanke des Zimzum als bekannt vorausgesetzt werden kann, widmen wir uns Jonas’ Adaption desselben. 2.4.4.2 Hans Jonas und der Zimzum Hans Jonas weist auf eine pervertierte Umkehrung des Erwählungsgedankens mit Blick auf die Shoah hin und wirft die Frage aller Fragen auf, wie nämlich Gott einfach hatte zuschauen können.300 Wie er betont, muss der überlieferte Gottesbegriff von Gott als dem Herrn der Geschichte neu überprüft und angesichts Auschwitz sogar fallen gelassen werden, sodass sich die Frage aufdrängt, wer und wie dieser Gott nach Auschwitz ist.301 Hierzu führt Jonas einen Mythos ein: Gott selbst entäußerte sich seiner Gottheit und unterwarf sich dem Zufall, sodass die Vorstellung einer göttlichen Vorsehung in diesem Gottesbegriff fallen gelassen wird, und folglich nur noch Möglichkeiten „gewusst“ werden können; der letztliche Ablauf der Geschichte aber ist nunmehr das Ergebnis eines nicht im Voraus bekannten, sondern gänzlich ungewussten Zufalls.302 Das Leben ist nicht möglich ohne Vergänglichkeit, doch, so Jonas weiter, ist es gerade diese Endlichkeit – und damit auch Verletzlichkeit – des Lebens, welche die Dringlichkeit des Fühlens und auch des Leidens der Individuen ausmacht, durch welches die Gottheit zur Erfahrung ihrer selbst kommt.303 Selbst das Leiden der Geschöpfe „vertieft noch die Tonfülle der Symphonie.“304 Seit der Schöpfung leidet Gott mit dieser zusammen.305 Nebst dem leidenden 297 298 299 300

301 302 303 304 305

Nach: Ebd., S. 149. Nach: Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Dieser Akt der ursprünglichen Selbstbeschränkung Gottes stellt eine eindrückliche Manifestation seiner Freiheit dar. (Nach: Ders. (1970), S. 86.) Nach: Jonas (1984), S. 66. Für Biser stellt Jonas’ „Gottesbegriff nach Auschwitz“ eine Reflexion dar, welche „zu den großen religiösen Zeugnissen der Gegenwart zu zählen ist.“ (Biser (1997), S. 119.) Gemäß Illies’ Urteil handelt es sich bei Jonas’ Ansatz um einen unechten Theodizee-Versuch. (Nach: Illies (2000), S. 417.) Nach: Jonas (1984), S. 66f. Nach: Ders. (1963), S. 55f. Nach: Ders. (1984), S. 69f. Ebd., S. 71. Nach: Ebd., S. 72f. Die Vorstellung des leidenden bzw. mitleidenden Gottes, welche auch Eingang in christliche Ansätze (es sei hierbei beispielhaft auf Jürgen Moltmann

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postuliert Jonas auch einen werdenden Gott.306 Für dieses Werden Gottes hält Jonas einen Minimalbestand fest, welcher sich aus dem Verständnis ergibt, dass Gott von den Ereignissen in der Welt nicht unberührt bleibt, sondern dadurch „affiziert wird, und ‚affiziert‘ heißt alteriert, im Zustand verändert.“307 Die Postulierung einer Beziehung zwischen Gott, dem Schöpfer, und seinem Geschöpf bedeutet für Jonas eine Verzeitlichung Gottes, durch welche er sich auch fortlaufend mit fortschreitender Geschichte verändert.308 Im Schaffen der Welt unterwirft sich Gott Werden, Sich-Verändern und Leiden, woraus in Bezug auf Gottes Wesen ein weiteres Attribut resultiert: Gott sorgt sich um die von ihm geschaffene Schöpfung,309 mit welcher er verbunden ist und deren Entwicklung nicht spurlos an ihm vorbeigeht und ihn nicht unberührt lässt. Diesen Gedanken des sich um seine Schöpfung sorgenden Gottes verknüpft Jonas mit einem weiteren, für den traditionellen Gott skandalösen Wesenszug: Dieser jonas’sche Gott ist ein gefährdeter Gott, da er sich zwar um das Wohlergehen seiner Schöpfung sorgt, dieses aber gänzlich seinem Geschöpf überlässt und sich so letztlich (gerade auch mit Blick auf die Vollendung des von Gott angestrebten) von diesem abhängig macht.310 „Irgendwie hat er, durch einen Akt unerforschlicher Weisheit oder der Liebe oder was immer das göttliche Motiv gewesen sein mag, darauf verzichtet, die Befriedigung seiner selbst durch seine eigene Macht zu garantieren, nachdem er schon durch die Schöpfung selbst darauf verzichtet hatte, alles in allem

306 307 308 309 310

(z.B.: Moltmann (1973).) sowie Dorothee Sölle (z.B.: Sölle (1988).) verwiesen) fand, weist beispielsweise Reck zusammen mit der Rede von einem ohnmächtigen Gott vehement zurück: „Immer klingen sie zynisch im Angesicht der Opfer: ‚Gott hat mit Ihnen gelitten, er war ohnmächtig, er ging mit Ihren Eltern ins Gas …‘ Es kann nicht der richtige Weg sein, die Rede von Gott so zu verändern, bis Auschwitz keine Irritation für den Glauben mehr bedeutet. Die Wirklichkeit hätte verändert werden müssen – bevor es zu spät war.“ (Reck (1998), S. 236.) Dagegen plädiert Reck für den Weg der Klage bzw. Anklage: „Demgegenüber klingen die antwortlosen jüdischen Fragen – wo war Gott? warum [sic!, v.v.] hat Gott die Gefangenen nicht gerettet? – menschlicher und anständiger: Sie versuchen nicht, den Opfern zu erklären, warum sie so sehr leiden mussten. Sie bleiben bei der Rückfrage an Gott, bei der Klage.“ (Ebd.) Mit einem Seitenblick auf den Islam kann erwähnt werden, dass dieser die Vorstellung vom leidenden Gott ebenfalls entschieden zurückweist. (Nach: Koslowski (2001), S. 3.) Auf die Zurückweisung der Anklage Gottes, wie sie etwa Reck vorschlägt, für den islamischen Bereich wird im Kapitel zu Hiob hingewiesen. Der Islam kennt Hiob nur als Dulder, nicht aber als Rebellen und Ankläger. Keine der beiden Positionen stellt damit eine Alternative für den Islam dar. Nach: Jonas (1984), S. 73–75. Nach: Ebd., S. 74. Nach: Ebd., S. 75. Nach: Ebd., S. 76. Nach: Ebd., S. 76f.

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zu sein.“311 Es klingt eine weitere Konsequenz für die Bestimmung dieses Gottes an: Der von Jonas entworfene Gott ist nicht allmächtig312 – bzw. er schränkt seine Allmacht selbst und freiwillig in der Schöpfung ein. Diesbezüglich äußert Jonas einen äußerst interessanten Gedanken über den Begriff der Omnipotenz, welcher in der Folge in Jonas’ Worten wiedergegeben wird. Es folgt aus dem blossen Begriff der Macht, dass Allmacht ein sich selbst widersprechender, selbst-aufhebender, ja sinnloser Begriff ist. Es steht damit, wie im menschlichen Bereich mit der Freiheit. Weit entfernt, dass diese beginnt, wo die Notwendigkeit endet, besteht und lebt sie im Sichmessen mit der Notwendigkeit. […] Absolute Freiheit wäre leere Freiheit, die sich selber aufhebt. So auch leere Macht, und das wäre die absolute 311 312

Ebd., S. 77. Nach: Ebd. Als weiterer neuzeitlicher Ansatz, welcher auf das Attribut der Omnipotenz verzichtet, sei verwiesen auf: Schiwy (1995). Dieser zieht folgendes Fazit: „Wenn man trotz Auschwitz an einem Gottesbild festhalten will, bleibt einem nur die Wahl zwischen der Güte Gottes und seiner Allmacht. Wir haben gezeigt: Es gibt gute Gründe auch für Christen, einer jüdischen Tradition, an die vor allem Hans Jonas erinnert hat, und einer verschütteten christlichen Tradition zu folgen und der Allmacht Gottes den Abschied zu geben. Das Gottesbild nach Auschwitz zeigt einen Gott, der zunächst, um die Existenz der Schöpfung zu ermöglichen, seinen eigenen Machtbereich einschränkt; der dann, um die Evolution der Schöpfung zu immer mehr Selbstbestimmung und Freiheit möglich zu machen, auf Eingriffe durch physische Macht in den Weltenlauf und die Menschheitsgeschichte verzichtet, was Auschwitz möglich gemacht hat; der jedoch, um das Schicksal der Schöpfung zu teilen, in ihr so intensiv wie möglich gegenwärtig ist und durch die ‚Macht‘ der Wahrheit und des Guten, des Schönen und der Liebe ihre Gegenliebe zu gewinnen sucht, damit das Experiment der gottmeschlichen Einigung gelinge.“ (Ebd., S. 105.) Die Rede von einem Experiment ist aber hinsichtlich der Rede von Gott gefährlich, ja geradezu obszön: beinhaltet doch diese Vorstellung auch die Möglichkeit des Scheiterns, denn der Wissenschaftler, welcher ein Experiment durchführt, unterliegt Versuch und Irrtum. Im Experiment zeigt sich, ob seine Annahmen stimmen oder nicht. Ein solcher Experimentiergott aber ist als Gott genauso wenig tragfähig wie ein willkürlicher Allmachtsgott ohne Güte: Denn im einen Fall wäre das Böse seiner Boshaftig- oder Gleichgültigkeit zuzuschreiben, im anderen dagegen seiner Unfähigkeit. Schiwy äußert seine These der Verabschiedung von einem allmächtigen Gott denn auch nicht ohne kirchenpolitischen Hintergedanken: „Für die römisch-katholische Kirche bedeutet der Abschied vom allmächtigen Gott den endgültigen Abschied von ihrer hierarchischen Struktur.“ (Ebd., S. 108.) Doch gerade dies stellt wiederum eine unzulässige Vereinnahmung Gottes für machtpolitisch-menschliche Interessen dar. Es gilt anzumerken, dass das Attribut der Allmacht heute immer mehr der Klärung bedarf. (Nach: Weber, S. (2013), S. 18.) Es geht „um die Frage nach der Mächtigkeit Gottes überhaupt“ (ebd.), eine Frage, welche sich gerade auch am Problem des Bösen entzündet.

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Alleinmacht. Absolute, totale Macht bedeutet Macht, die durch nichts begrenzt ist, nicht einmal durch die Existenz von etwas anderm [sic!, v.v.] überhaupt, etwas außer ihr selbst und von ihr Verschiedenem. Denn die bloße Existenz eines solchen anderen würde schon eine Begrenzung darstellen, und die eine Macht müsste dies andere vernichten, um ihre Absolutheit zu bewahren. Absolute Macht hat dann in ihrer Einsamkeit keinen Gegenstand, auf den sie wirken könnte. Als gegenstandslose Macht aber ist sie machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. […] Damit sie wirken kann, muss etwas anderes da sein, und sobald es da ist, ist das eine nicht mehr all-mächtig, obwohl seine Macht bei jedem Vergleich beliebig hoch überlegen sein kann. […] ‚Macht‘ ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges Verhältnis. Selbst dann ist Macht, die keinem Widerstand in ihrem Bezugspartner begegnet, dasselbe wie überhaupt keine Macht. Macht kommt zur Ausübung nur in Beziehung zu etwas, was selber Macht hat. Macht, wenn sie nicht müßig sein soll, besteht in der Fähigkeit, etwas zu überwinden; und Koexistenz eines anderen ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen. Denn Dasein heißt Widerstand und somit gegenwirkende Kraft. […] Dasjenige also, worauf die Macht wirkt, muss eine Macht von sich her haben, selbst wenn diese von jener ersten abstammt und dem Inhaber, in eins mit seinem Dasein, ursprünglich gewährt wurde durch einen Selbstverzicht der grenzenlosen Macht – eben im Akt der Schöpfung. […] Macht muss geteilt sein, damit es überhaupt Macht gibt.313 Jonas betont, dass die drei klassischen Gottesattribute der Allmacht, der Allgüte und der Allwissenheit nicht alle drei zugleich widerspruchsfrei in Gott angenommen werden können, vielmehr, sei um der „Rettung“ zweier der drei Attribute willen das dritte aufzugeben.314 Allgüte und Verstehbarkeit – Jonas verändert so das Attribut der Allwissenheit durch die Ersetzung mit dem Begriff der Verstehbarkeit weg von Gott und hin zum Menschen – gehörten aber beide unaufgebbar zu Gott, sodass gerade auch angesichts Auschwitz nur die Omnipotenz als zu Streichendes übrigbleibe.315 Jonas entledigt so Gott jeglicher übernatürlicher Macht. Er betont, dass keinerlei Wunder von Seiten Gottes in Auschwitz geschahen, vielmehr seien es einzig und allein Wunder von 313 314 315

Jonas (1984), S. 77–79. Nach: Ebd., S. 79f. Nach: Ebd., S. 80f. Blumenthal dagegen spricht sich dafür aus, weder die Attribute der Allmacht noch der Allwissenheit aufzugeben, sondern entscheidet sich gegen die Allgüte. (Vgl.: Blumenthal (1993); ders. (1998).)

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Menschen, den Gerechten unter den Völkern, gewesen, welche sich dann und wann ereignet hätten.316 Aufgrund von Jonas’ Gottesbestimmung konnten gar keine göttlichen Wunder geschehen, da Gott gar nicht dazu im Stande war, einzugreifen. Mittels des Aberkennens der göttlichen Omnipotenz will Jonas Gott angesichts Auschwitz und angesichts seines Nichteingreifens und Nichtverhinderns dieser Katastrophe verteidigen: „Aber Gott schwieg. Und da sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.“317 Historisch bedingt ist Jonas’ Theorie durch die Erfahrung von Auschwitz, geistesgeschichtlich geht sie aber zurück auf die Lehre vom Zimzum,318 der Selbstbeschränkung Gottes,319 die hier nicht nur räumlich, sondern auch mit 316 317

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Nach: Jonas (1984), S. 81f. Ebd., S. 82, wo er auch auf die Zeitbezogenheit seiner Theorie hinweist und betont, dass es diese zeitgeschichtlichen Erfordernisse und Herausforderungen sind, welche den Grund für seinen Entwurf des ohnmächtigen, leidenden Gottes bilden. Auf diesen Vorläufer seiner Theorie in der lurianischen Kabbala verweist Jonas denn auch selbst und hebt hervor, dass sein Mythos diese Idee des Zimzum im Grunde nur radikalisiert. (Nach: Ebd., S. 84.) Zur Idee des Zimzum bei Jonas s. z.B. auch: Necker (2008), S. 405–408. Auf christlicher Seite kann etwa Jüngel genannt werden, welcher ebenfalls die Selbstbeschränkung Gottes bei der Schöpfung betont. (Nach: Jüngel (1990), S. 151.) Diese Selbstbegrenzung, so Jüngel weiter, ist aber freiwillig und auch gewollt. (Nach: Ebd., S. 153.) Dabei verbindet er den Gedanken des Zimzum mit der Vorstellung der Schaffung aus dem Nichts, der creatio ex nihilo. (Nach: Ebd., S. 154.) Jüngels Konzept ist allerdings eindeutig christlich gefärbt, indem er diesen Gedanken mit der Trinität verbindet. Das liebende Verhältnis der drei Personen in Gott wird von Gott in der Schöpfung auch auf diese ausgeweitet, indem Gott, der die Liebe ist, in Liebe seiner Schöpfung Freiraum gibt, um sich entfalten zu können. (Nach: Ebd.) Jüngels trinitarischer Gott ist damit im Unterschied zu Jonas’ Mythos keineswegs ohnmächtig, sondern begrenzt sich freiwillig selbst, um liebende Freiheit zu gewähren, wobei er dadurch aber nicht seine Gottheit und Allmacht verliert, sondern liebend dem geschaffenen Leben einen Raum gibt. Auch die Vorstellung vom leidenden Gott, welche bei Jonas postuliert wird, greift Jüngel auf und gibt ihr einen trinitarischen Interpretationsraum, wobei er durch das Kreuzesgeschehen die Ohnmacht Gottes, wie sie noch bei Jonas begegnete, aufzufangen versucht, indem auch dieser Aspekt in das Moment der Liebe hineingenommen wird. (Nach: Ebd., S. 160.) Jüngel greift so die kritischen Elemente bei Jonas auf und versucht, sie gewissermaßen trinitarisch zu korrigieren. Auch der Aspekt der Vorsehung Gottes wird von Jüngel aufgegriffen, sodass nochmals der angeblichen Ohnmacht Gottes Kontra geliefert wird. Denn der Gott, wie ihn Jüngel schildert, ist nicht ein ohnmächtiges Wesen, welches alles den Menschen überlässt, ja überlassen muss. Vielmehr nimmt sich Gott in Jüngels Konzept nur räumlich zurück, um so der Schöpfung Raum zu geben, er bleibt aber als allmächtiger und guter Gott da und lenkt in seiner Allwissenheit diese Schöpfung weiterhin liebend. (Nach: Ebd.,

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Blick auf die Macht Gottes selbst verstanden wird: „Die Schöpfung war der Akt der absoluten Souveränität, mit dem sie um des Daseins selbstbestimmender Endlichkeit willen einwilligte, nicht länger absolut zu sein – ein Akt also der göttlichen Selbstentäußerung.“320 So war Gott vor der Schöpfung durchaus omnipotent, diese seine Omnipotenz hat er aber in der Schöpfung selbst eingeschränkt, indem er sich selbst in diese Schöpfung hinein- und sich so ihr gewissermaßen übergeben und unterworfen hat. Jonas fasst seine Radikalisierung des Zimzum-Gedankens prägnant und provokativ zusammen: „Die Zusammenziehung ist total, als Ganzes hat das Unendliche, seiner Macht nach, sich ins Endliche entäußert und ihm damit überantwortet. Lässt das noch etwas übrig für ein Gottesverhältnis?“321 Jonas antwortet hierauf, dass Gott nichts mehr zu geben hat und es nun einzig und allein an den Menschen liegt, das Böse mit Gutem zu überwiegen, indem die Heiligkeit gerechter Menschen, von denen es zu jeder Zeit einige gibt, die Schuld der übrigen Menschen aufzuwiegen vermag,322 wodurch diese Gerechten dazu beitragen, „den Frieden des unsichtbaren Reiches zu retten.“323 Jonas versucht so, die Problematik dahingehend zu lösen, dass er durch die Aufgabe des Allmachtsattributs nicht nur das Gottesbild angesichts Auschwitz verändert, sondern durch die zahlreichen neuen Attribute auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bzw. Welt grundlegend neu bestimmt.324 Doch gerade diese Neubestimmung birgt schwerwiegende Gefahren in sich: „Aber indem Jonas in seiner Konzeption das Kräfteverhältnis zwischen Gott und Mensch umkehrt und Gott zum Objekt der menschlichen Verantwortung macht, ist es eigentlich nicht mehr möglich, Gott weiterhin als Instanz anzusehen, vor der sich der Mensch verantworten

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S. 161.) So nimmt Jüngel einige Elemente von Jonas bzw. vom Zimzum auf, liefert aber dennoch einen selbstständigen, innovativen Entwurf, indem er das Ganze in einen trinitarischen Rahmen einbettet und so insbesondere im Kreuzesgeschehen das scheinbare Paradox von Allmacht und Allgüte aufzufangen versucht. Doch gilt es anzumerken: „Die sechs Millionen Ermordeten und die wenigen Überlebenden bleiben als Fragezeichen hinter jenem universalen Erlösergott, auch hinter dem christlichen. […] ‚Gott ist Liebe‘ ist ein Gottesbild, das angesichts von Auschwitz wie eine Karikatur wirkt.“ (Angerstorfer (1997), S. 107.) Auch Kuschel streicht die Untauglichkeit des Verweises auf die Liebe heraus. (Nach: Kuschel (1996), S. 243.) Als weiterer christlicher Ansatz, welcher die Idee des Zimzum aufgreift, sei die vom Judentum zum Christentum konvertierte Simone Weil erwähnt. (Nach: Völkl (2016), S. 301–303.) Jonas (1984), S. 83f. Ebd., S. 84. Nach: Ebd., S. 85. Ebd. Nach: Gross/Kuschel (1992), S. 174; Schüssler/Görgen (2011), S. 99.

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muss.“325 So birgt gerade diese Neubestimmung das Gefahrenpotential Auschwitz in sich. Es gilt auch darauf hinzuweisen, dass Jonas Entwurf sich nur mit dem moralischen Bösen befasst, eine Erklärung für das natürliche Übel dagegen liefert er nicht.326 Darüber hinaus vermag die Rede von der Selbstbeschränkung Gottes das Problem nicht zu lösen, ganz im Gegenteil: Stosch verweist zu Recht darauf, dass die Rede des Machtverzichts Gottes zu einem bestimmten Zeitpunkt die Problematik sogar verschärft: Da dieser Zeitpunkt frei gewählt ist und Gott sich selbst eingeschränkt hat, kann ihm die Verantwortung für diese Selbstbeschränkung und die damit einhergehende Unfähigkeit zum Eingreifen und seine Machtlosigkeit nicht abgesprochen werden.327 Es wurden in diesem Kapitel sehr unterschiedliche Auseinandersetzungen mit Auschwitz aufgezeigt. Der Weg verlief von traditionellen Modellen über eine Theorie kantschen Ursprungs bis hin zu einer Aufgabe des klassischen Gottesbildes. Nach diesen Ausführungen zu eigentlichen Auseinandersetzungen mit Auschwitz werden im folgenden Kapitel neuere Ansätze im englischen Sprachraum in den Blick genommen und vorgestellt, welche grob als freiheitstheoretisch klassifiziert werden können. 2.5

Modernere Ansätze in der Philosophie

In diesem Abschnitt sollen insbesondere zwei neuere, vieldiskutierte philosophische Theodizee-Ansätze vorgestellt werden:328 Die Free-Will-Defense 325 326 327 328

Ebd., S. 106. Nach: Ebd., S. 112. Nach: Stosch (2006), S. 220. Kritische Darstellungen der neueren Ansätze finden sich beispielsweise in: Philips (2005), wo auch zahlreiche Ansätze und Autoren thematisiert werden, welche hier außenvor gelassen werden, sowie Sǿvik (2011), insbes. S. 23–77, wo nebst der Theorie Swinburnes (S. 23–33) auch die Theodizee-Entwürfe Wards, Griffins und Hygens vorgestellt werden. Es sei hier bereits erwähnt, dass beide der im folgenden angeführten Ansätze dem Übel einen positiven Wert zusprechen wollen, indem einerseits auf die Größe des Gutes des freien Willens, andererseits auf die Positivität des Bösen selbst, welches dazu verhilft, in seinem Charakter zu wachsen, verwiesen wird. Das Böse bringe so auch Güter zweiter Stufe wie Mitgefühl, etc. hervor, welche es sonst nicht geben würde. Doch muss mit Stosch gegen solche Versuche vermeintlicher Sinngebung und Positivierung bzw. Bonisierung des Bösen kritisch angemerkt werden: „Doch selbst wenn man bezogen auf das eigene Leben zu der Erkenntnis kommt, dass jedes Leiden, dem man begegnen musste, einen tieferen Sinn hatte oder zumindest in den Gesamtsinn des eigenen Lebens integriert werden kann, so ist aus moralischen Gründen eine solche Aussage doch niemals in Bezug auf

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sowie die Soulmaking-Theodicy, welche letztlich beide dahingehend argumentieren, dass Gott das Böse um eines größeren Gutes willen zulässt. Mit Blick auf die Free-Will-Defense besteht dieses Gut, wie der Name der Theorie schon besagt, im freien Willen, die Soulmaking-Theodicy dagegen veranschlagt die Charakterbildung und charakterliche Vervollkommnung des Menschen als dieses Gut. Nach diesen einleitenden Vorbemerkungen sollen in der Folge die beiden Theorien vorgestellt werden, wobei mit der Free-Will-Defense begonnen wird. 2.5.1 Die Free-Will-Defense Das zentrale Argument der insbes. mit den Namen von Alvin Plantinga und Richard Swinburne verbundenen Free-Will-Defense329 ist der Verweis auf die Willensfreiheit des Menschen: Eine Welt, in der es Subjekte mit freiem Willen gibt, ist trotz der darin gegebenen Möglichkeit und dem tatsächlichen Auftreten von moralischen Übeln besser als eine Welt ohne solche Wesen.330 Der freie

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das Leiden Anderer [sic!, v.v.] zulässig. Nur die leidende Person selbst darf ihrem Leiden einen Sinn geben. Sobald die Theologie anfängt, fremdes Leiden funktional zu verarbeiten, verletzt sie in unerträglicher Weise die Dignität der Leidenden. Das entscheidende Gegenargument gegen eine Bonisierung des Leidens durch eine der genannten Formen der Funktionalisierung besteht also darin, dass das Leiden oft gerade für die leidenden Personen selbst keinen Sinn hat und für diese selbst keinerlei Funktion erfüllt. Es widerspricht aber der sittlich gebotenen Achtung vor dem Menschen als Zweck an sich selbst, sein Leben und Leiden ohne Einwilligung des Betroffenen als Zweck für andere Güter anzusehen.“ (Stosch (2006), S. 189.) Zum Verständnis einer Verteidigung in Abgrenzung zu einer Theodizee sei mit Stump definiert: „[A] defense describes a possible world that contains God and suffering and that is similar to the actual world, at least in the sense that it contains human beings, natural laws, and evils much like those in our world; and then the defense proposes a morally sufficient reason for God’s allowing evil in such a possible world. What distinguishes a defense from a theodicy is that a defense does not claim that the possible world it describes is the actual world. It does not claim either that the morally sufficient reasons for God’s allowing suffering which the defense proposes should be taken to be those (if there are any) which in the actual world do in fact justify God’s actions in permitting suffering (if in the actual world there is a God). A defense, then, makes no claims about the way the actual world is or about any actual intentions and reasons for allowing evil on the part of God. […] In effect, then, the point of a defense is to undermine confidence in the crucial third premiss of the argument from evil. If, for all we know, the story told by a defense might be true, then, for all we know, there might also be a morally sufficient reason in the actual world for an omniscient, omnipotent, perfectly good God for allowing suffering.“ (Stump (2010), S. 19.) Nach: Weisberger (1999), S. 163. Görres dagegen weist darauf hin, dass es ohne freien Willen kein Böses, das er rein moralisch definiert (vgl.: Görres (1982), S. 23.), geben könnte,

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Wille wird dabei als ein so hohes Gut angesehen, dass es das Vorhandensein von moralischen Übeln, welche durch diesen freien Willen hervorgebracht werden, nicht nur aufwiegt, sondern sogar überbietet und so als Rechtfertigung für die Existenz des Bösen angeführt werden kann.331 Swinburne betont dabei, dass die Tatsache des großen Werts und des Guts, welches durch das Zulassen der Übel auftreten kann, für sich alleine noch nicht genügt, um das Zulassen des Bösen zu rechtfertigen, vielmehr sei dies nur dann angesichts eines guten Gottes legitim, wenn dieser auch die Berechtigung hierzu habe, wenn er also mit anderen Worten das Recht besitzt, Leid zu verursachen bzw. Böses zuzulassen, um so ein Gut zu erreichen, welches es ohne das theoretische Zulassen dieser Übel nicht geben könnte und das auch nicht auf anderem Wege realisiert werden könnte.332 Damit behauptet Swinburne mit Blick auf den freien Willen, dass dieser nicht nur ein Gut darstellt, welches so groß ist, dass das In-Kauf-Nehmen des Bösen dadurch legitim ist, um dieses Gut zu verwirklichen, sondern auch, dass dieses Gut ohne das Zulassen des Bösen gar nicht erreicht werden könnte. Weiter will er aufweisen, dass der gute Gott durchaus das Recht hat, das Böse zu diesem Zweck zuzulassen. Gott ist es also, welcher es zulässt, dass Böses prinzipiell geschehen kann – alles um des größeren Guts der menschlichen Willensfreiheit willen. Doch besagt die Free-Will-Defense noch etwas anderes: Denn durch die Betonung des freien Willens wird auch ausgesagt, dass das zugelassene Auftreten des Bösen nur dadurch tatsächlich real wird, als es von diesem unschätzbaren Gut der menschlichen Willensfreiheit selbst herrührt, mit anderen Worten: Gott lässt das Böse zu, der Mensch aber führt es aus. In dieser Theorie wird folglich Gott insofern von der tatsächlichen (und nicht nur theoretisch möglichen) Existenz des Bösen entlastet, als die Verantwortung für dieselbe, also die Realisierung des Bösen, einseitig auf dem Menschen lastet: Der freie Wille ist ein so unschätzbar hohes Gut, dass Gott es selbst dann einer Welt von willenlosen Automaten vorzuziehen hat, wenn diese mit Willen ausgestattete Welt Böses in sich einschließt. Der Wert dieses Gutes begründet das Zulassen des Bösen von Seiten Gottes.333 Alles

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sondern nur Übel. (Nach: Ebd., S. 28.) „Die Verleugnung unserer spärlichen Willensfreiheit wäre die radikalste Bewältigung des Bösen, weil es mit ihr einfach aus der Welt geschaffen wäre. Wir hätten eine heile, freilich auch sinnlose Welt.“ (Ebd.) Nach: Weisberger (1999), S. 163; vgl.: McCloskey (1974), S. 115. Nach: Swinburne (1988), S. 586. Die Gründe, welche dafür sprechen, dass Gott in der Tat das Recht besitzt, Leid zuzulassen bzw. zuzulassen, dass ein Mensch Leid über sich oder andere bringt, finden sich dabei auf den Seiten 590f. Wie aber beispielsweise Wiertz hervorhebt, greift der Verweis auf die Willensfreiheit zu kurz. Diese nämlich stellt die conditio sine qua non für ein anderes, höheres – und eigentlich hinter Gottes Entscheidung stehendes – Gut dar: die Liebe. Die Menschen sollen die

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Böse in der Welt wird sodann auf den Menschen als Urheber zurückgeführt: im Falle des moralischen Bösen eine direkte Urheberschaft, für physische und natürliche Übel, welche als gerechte Strafe für die getätigten Übel verstanden werden, eine indirekte.334 Das natürliche Übel fällt in der Free-Will-Defense allerdings oft aus dem Blick, indem aufgrund der Fokussierung auf den freien Willen natürlich insbesondere das moralische Übel angesprochen und bedacht wird.335 Plantinga etwa schreibt das physische Böse dem Wirken des Teufels und anderer körperloser Dämonen zu,336 sodass letztlich auch diese

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Liebe gegenüber Gott aber auch den Menschen gegenüber erwidern und Liebe geschieht wesentlich auf freiwilliger Basis. Als Gegenentscheidung ist aber auch die Möglichkeit der Ablehnung möglich. So stellt die Free-Will-Defense die Basisstufe der eigentlichen Theodizee dar, welche nach Wiertz sodann als God’s-Love-Defense zu bezeichnen wäre. (Nach: Wiertz (1996), S. 244–248.) Dies wirft aber zu Recht eine von Kessler geäußerte Frage auf: „Wie kann Gott einen solchen Preis akzeptieren für die Freiheit, andere und ihn selbst lieben zu können, für einen Wert also, in dessen Genuss viele der – ungefragt in ein leidvolles Dasein geworfenen – Opfer niemals gelangen? Entsteht bei solcher Überlegung (‚higher order good defence‘) nicht unweigerlich der Eindruck von einem Gott, der Kosten und Nutzen kalkuliert und sich dann dafür entscheidet, das Risiko der Schöpfung einzugehen, obwohl er weiß, dass sein Entschluss auch erhebliches Leid zur Folge hat? Widerspricht ein derartiges Gottesverständnis nicht gerade der zentralen christlichen Überzeugung, dass Gott die Liebe ist (und sich noch als solche erweisen wird)?“ (Kessler, H. (2000,1), S. 94f.) Die Unterscheidung in eigentliche Urheberschaft und bloßes Zulassen, welche in der Free-Will-Defense angedeutet ist, findet sich bereits bei Thomas von Aquin, wie im systematischen Teil noch zu sehen sein wird. Wie aber etwa Roth betont, reicht es nicht aus, die ganze Verantwortung einseitig dem Menschen zu übertragen. Vielmehr veranschlagt er auch für Gott dessen Teil der Verantwortung, ist er doch verantwortlich für die Grenzen der Welt, in welcher wir uns wiederfinden. (Nach: Roth (2001), S. 8.) Doch Roth zieht daraus die Konsequenz, dass Gott nicht allgütig ist, sondern wie auch wir Menschen besser sein könnte, als er es aktuell ist. (Nach: Ebd., S. 31.) Nach: McCloskey (1974), S. 115. Auch dies begegnet bereits bei Thomas von Aquin, wie noch zu sehen sein wird. Nach: Weisberger (1999), S. 164f., 168; vgl. auch: Sǿvik (2011), S. 29. Nach: Plantinga (1974), insbes. S. 58; ders. (2008), insbes. S. 149f. sowie ders. (2010), insbes. S. 195. An Plantingas Theorie kam bereits früh Kritik auf, so beispielsweise bei Tooley (1980). Die Einwände lassen sich mit Tooley zusammenfassend wie folgt wiedergeben: „First, neither the proposition that free-will is in itself a good thing, nor the much stronger proposition that any world containing free-will is better than any world that does not, regardless of the relative balance of good over evil in the two worlds, entails the proposition that it is never desirable to prevent individuals from successfully performing those actions that they have freely chosen to do. Secondly, the total evidence available to us makes the following belief epistemically very reasonable: there are a number of actions

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Kategorie von Übeln als moralisches Übel auf der Ebene mit freiem Willen ausgestatteter, körperloser Wesen anzusiedeln ist.337 Wie Weisberger richtig kritisiert, wirft ein solches Verständnis einen Schatten auf Gottes Gutheit, da die Existenz eines solchen mit freiem Willen begabten Wesens, welches immer nur das Böse wählt, nicht im Sinne Gottes sein kann, nur um das wertvolle Gut des freien Willens verwirklichen zu können.338 Wenn es nicht möglich sei, immer nur das Gute zu tun, so sei zu fragen, ob es nicht in gleicher Weise unmöglich sei, immer nur das Böse zu tun, was für Satan die Konsequenz hätte, dass anzunehmen sei, dass er zwar überwiegend Böses tue, dass er aber auch Gutes tun könnte, zumindest ein einziges Mal während der gesamten Geschichte.339 Allerdings wird dabei verkannt, dass der Wille der Engel und Dämonen nicht gleich wie jener der Menschen zu verstehen ist, sondern nach der Prüfung bei ihrem Entscheid für oder gegen Gott auf ewig gefestigt wurde, sodass ihr Wille nun statisch ist – der gute Wille bleibt also gut, der böse dagegen böse.340 Wie Plantinga festhält, kann Gott zwar eine Welt schaffen, in welcher die moralischen Übel durch moralische Güter überwogen werden, allerdings stünde es trotz Gottes Allmacht nicht in seiner Macht, eine Welt zu schaffen, in welcher nur moralische Güter, jedoch keine moralischen Übel vorhanden seien.341

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that people have performed such that if they had been prevented from performing those actions, the world would have contained both less evil, and a better balance of good over evil, than it now contains. Thirdly, since a person with unlimited knowledge and power could have prevented the actions in question, it follows that it is reasonable to believe that there is a possible world that such a being could have actualised, and that would have contained both less evil, and a better balance of good over evil, then the actual world.“ (Ebd., S. 375.) Auch Swinburne spricht sich gegen Plantingas Erklärung aus und hält fest, dass die natürlichen Übel nicht auf Dämonen, sondern auf die natürlichen Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sind. (Nach: Swinburne (1988), S. 593–595.) Vielmehr verhält es sich gemäß Swinburne so, „that it [= natürliches Übel, v.v.] is necessary in order that certain free agents, viz. humans, may have the freedom to bring about goods or evils.“ (Ebd., S. 594.) Nach: Weisberger (1999), S. 169. Nach: Ebd., fn 20 S. 204. Nach: Ebd., S. 183. Vgl: STh i, q. 64, a. 2 resp. Swinburne etwa scheint dies auch auf den Menschen zu übertragen, wenn er davon ausgeht, dass die Menschen ihren Charakter im Laufe ihres Lebens nicht nur bilden, sondern auch verfestigen. (Nach: Swinburne (1998), S. 121.) Nach: Plantinga (1974), S. 53; vgl. hierzu auch: Swinburne (1998), S. 126f. Damit geht Plantinga einen wesentlichen Schritt über die augustinische Linie hinaus: Es geht nicht mehr darum, dass eine Welt mit Übeln im Gesamt gesehen schöner und besser ist als eine Welt ohne Übel (vgl. z.B.: Augustinus, De civ. Dei xi,23; xii,4.), sondern nach Plantinga ist es überhaupt nicht möglich, eine Welt ohne Übel zu schaffen, es kann also nur das

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Doch verweist etwa McCloskey darauf, dass der Verweis auf die Willensfreiheit des Menschen als Ursache für das Böse einen neuen Problembereich eröffnet und verschärft: Die Frage nach dem Leiden der Tiere, welche selbst keinen freien Willen besitzen und dennoch unter den Folgen des Missbrauchs des menschlichen freien Willens zu leiden haben.342

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Maximum aus einer Welt mit Übeln herausgeholt werden, indem die Güter – sei es quantitativ und/oder qualitativ – die Übel überwiegen. (Nach: Plantinga (1974), S. 45.) Zwar heben sowohl Augustinus als auch Plantinga letztlich auf den freien Willen als entscheidendes Kriterium zur Begründung der Existenz des Bösen ab, allerdings auf unterschiedliche Weise. (Nach: Ebd., S. 28.) Der Unterschied zwischen den beiden Positionen liegt demgemäß wesentlich darin, dass die eine Position beweisen will (Theologie), die andere dagegen zeigt lediglich eine logisch mögliche und konsistente Plausibilität auf, für welche keine zwingende Wahrheit beansprucht wird (Philosophie). Doch auch die Free-WillDefense versucht aufzuzeigen, dass spezifische Güter nur bei gleichzeitigem Zulassen von Bösem realisiert werden können – und konstatiert somit ebenfalls eine gewisse Begrenzung Gottes’ Omnipotenz. (Nach: Ebd., S. 29.) Zentral für Plantinga ist dabei folgende Eigenschaft als Kernidee der Free-Will-Defense: „being free with respect to an action.“ (Ebd., Hevorhebung im Original.) Dass nun moralisch Böses aufgrund des freien Willens realisiert wird, stellt für Plantinga keinesfalls ein Problem für Gottes Attribute dar. (Nach: Ebd., S. 30.) Die Realisierung des freien Willens und damit des moralisch Guten, wobei damit zugleich auch die Möglichkeit zum moralisch Bösen gegeben ist, ist damit als Gut höher zu werten als der Verzicht auf dieses Gut in Gottes Schöpfung. Aus der Annahme, Gott schuf eine Welt, welche moralische Übel beinhaltet, schließt Plantinga, dass Übel in dieser Welt existieren. (Nach: Ebd., S. 54.) Wie nun aber der Schluss von der logischen Beinhaltung moralischer Übel zur Realisierung des Gutes des moralischen Guten hin zur generellen Beinhaltung von Übeln, also auch natürlichen Übeln, welche in keinem (direkten – zumindest auf den ersten Blick) Zusammenhang mit den moralischen Übeln stehen, zustande kommt, bleibt mehr als schleierhaft und äußerst fragwürdig. Natürliche Übel behandelt Plantinga denn ebenfalls eigens und zwar unter der erwähnten Bezugnahme auf den Teufel. (Nach: Ebd., S. 57–59.) So wären also auch die „natürlichen“ Übel letztlich nichts anderes als moralische Übel nichtmenschlicher, mit freiem Willen ausgestatteter Agitatoren. (Nach: Ebd., S. 58.) Nach: McCloskey (1974), S. 116. Mit dem Leiden der Tiere beschäftigt sich beispielsweise Kessler intensiv. Vgl. hierzu z.B.: Kessler, H. (2000,2). Auch Oeing-Hanhoff betont, dass weder die menschliche Freiheit noch das Nichteingreifen Gottes angesichts Auschwitz das schwerwiegendste Problem darstellen, sondern dass sich das eigentliche Problem an der Frage nach dem tierischen Leiden entzündet. (Nach: Oeing-Hanhoff (1988), S. 222.) Damit nimmt auch Oeing-Hanhoff die Position ein, dass die menschliche Freiheit das sittliche Böse durchaus rechtfertigt, dass in anderen Worten die Wahrung und Gewährung menschlicher Freiheit von größerem bzw. so großem Wert ist, dass diese auch angesichts noch so schlimmer Übel nicht beschnitten und eingeschränkt wird. Solange sich diese üblen Folgen des Missbrauchs menschlicher Freiheit auf andere mit ebensolcher Freiheit ausgestattete Wesen beschränken, scheint ein Nichteingreifen Gottes für

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Die Problematik wird also nur verlagert, indem die Frage aufzuwerfen ist, ob eine Welt mit Wesen, welche über einen freien Willen verfügen, und die so unermessliches Unheil hervorbringt, in der Tat einer Welt ohne freien Willen und damit ohne dieses ganze Leid vorzuziehen ist. Weiter kann natürlich auch die Frage aufgeworfen werden, ob es denn nicht auch eine Welt geben könnte, welche zwar Geschöpfe mit freiem Willen kennt, die aber weniger Unheil in sich schließt, da diese Wesen weniger Unheil realisieren – wo doch Gott vorhersieht und um all das zukünftig sich ereignende Böse weiß, da er außerhalb der Zeit steht und in ihm alles gleichzeitig ist und er so das Resultat kennt, noch bevor es in die konkrete Tat umgesetzt wird. Damit wären wir wieder bei der leibnizschen Behauptung von der besten aller möglichen Welten angelangt, sodass die moderne Free-Will-Defense nach Ansicht der Verfasserin als eine Verlagerung derselben Thematik angesehen werden kann und sich dieselben Probleme ergeben. Wie Mackie festhält, verdunkelt die Free-Will-Defense auch die göttliche Omnipotenz, denn es müsste Gott nicht nur möglich sein, eine Welt mit mit freiem Willem ausgestatteten Wesen zu schaffen, welche weniger, sondern die mitunter überhaupt kein Böses in sich schlösse, da diese Wesen zwar einen freien Willen besäßen, jedoch niemals fehl gingen in ihren Entscheidungen.343 Wenn es also für Gott tatsächlich möglich gewesen wäre,

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Oening-Hanhoff durchaus gerechtfertigt. Problematisch wird es für ihn erst dort, wo sich dieser Freiheitsmissbrauch gegen nicht mit Freiheit ausgestattete Wesen erstreckt. Doch bleibt hierbei kritisch anzufragen, ob nicht auch ein Mensch unfrei sein kann in dem Sinne, dass er seine theoretische Freiheit gar nie ausüben kann. Hierbei sei etwa das Stichwort der Sklaverei, des Menschenhandels, aber auch die Realität Ghetto/kz angeführt. Weshalb soll Gottes Eingreifen nur im Falle von Tierquälerei proklamiert werden, nicht aber bei der regelrechten Abschlachtung von Menschen? Das schwerwiegendere Problem dagegen stellt sich nach Ansicht der Verfasserin folgendermaßen dar: Wer entscheidet darüber, wann eine so schlimme Situation erreicht ist, dass Gottes Eingreifen nicht ausbleiben darf? Wie soll es möglich sein, dass er in der einen Situation aktiv eingreift, in der anderen aber, welche von den entsprechenden Opfern als ebenso schlimm und erdrückend wahrgenommen wird, untätig bleibt? Ist hier nicht die problematische Möglichkeit einer völligen Aufhebung menschlicher Freiheit angedeutet, dass nämlich Freiheit nur dort zugelassen wird, wo sie sich Gottes Willen gemäß verhält, aber überall dort unmittelbar unterbunden wird, wo sie sich gegen diesen entscheiden würde? Wäre eine solche Welt überhaupt noch frei? Dennoch ist die Geschichte in theologischer Perspektive voll von Ereignissen, welche vom aktiven Eingreifen Gottes in dieselbe zeugen und in denen Gott das Los Einzelner oder ganzer Gemeinschaften wendete. Genau diese Erfahrung gläubiger Menschen, welche ihnen Kraft und Hoffnung gibt, verschärft das Problem dort, wo ein solches Eingreifen nicht wahrgenommen wird. Nach: Mackie (1964), S. 56. Davis streicht heraus, dass die Vorstellung völliger Freiheit und gleichzeitiger Bestimmung durch Gott nie zu sündigen widersprüchlich klingt. (Nach:

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Geschöpfe mit freiem Willen zu schaffen, die immer nur das Gute wählen würden und dieses dennoch immer freiwillig wählen würden, er diese Möglichkeit aber nicht realisiert hat, so stellt sich die Frage, ob ein solcher Gott allgütig ist. Weshalb nämlich eine Welt mit freien Geschöpfen und Bösem wertvoller als eine Welt mit freien Geschöpfen ohne Böses sein soll und einer solchen daher vorzuziehen wäre, ist aus menschlicher Perspektive weder einleuchtend noch nachvollziehbar. Doch lässt sich kritisch anfragen, ob es tatsächlich Wesen geben kann, welche niemals fehlgehen können, denn selbst die Engel, deren Wille nun ewig gefestigt ist, hatten zu Beginn die Möglichkeit zum Abfall. Eine Davis (2001), S. 77.) Plantinga dagegen beschreibt die menschliche Natur so, dass die menschliche Freiheit mindestens einmal missbraucht wird. „Plantinga calls it ‚transworld depravity.‘“ (O’Connor (2008), S. 66; vgl.: Plantinga (2010), S. 184–189.) Falls dem tatsächlich so ist, drängt sich allerdings die Frage auf, weswegen Gott ein mit einer solchen Natur beschaffenes Wesen mit freiem Willen ausstattet und nicht stattdessen ein vernunftbegabtes Wesen realisiert, dessen Natur nicht durch diese „transworld depravity“ gekennzeichnet ist, sondern in dessen Natur es nicht schon unmittelbar vorgegeben ist, dass es mindestens einmal sündigen wird. Und wenn die Natur bereits so beschaffen ist, fragt sich weiter, ob dann in diesem Falle überhaupt noch von einem moralischen Übel gesprochen werden kann, wenn ja die Naturbeschaffenheit von Anfang an für diese eine Verfehlung verantwortlich ist, der Entscheid also infolge dessen gar nicht wirklich frei genannt werden kann: Er ist höchstens frei mit Blick auf das tatsächliche Ereignis, in welchem das moralische Übel erstmals realisiert wird. Plantinga versucht dieses Determinismusproblem dahingehend zu umgehen, dass er nicht von einer Notwendigkeit spricht, sondern davon, dass es möglich ist, dass jedes Individuum tatsächlich mindestens einmal einen Fehlentscheid fällt. (Nach: O’Connor (2008), S. 66.) Wenn es aber nur möglich ist, dann kann nicht von einer Naturbeschaffenheit gesprochen werden. Und wenn es nur möglich, nicht aber zwingend notwendig logisch aus den Annahmen folgend ist, so kann es auch genauso gut nicht so sein. Und selbst wenn Plantingas Position möglich ist, so ist damit noch nicht geklärt, ob eine solche Welt mit moralischen Übeln tatsächlich besser ist als eine Welt ohne solche, ob also der freie Wille tatsächlich ein so großes Gut in den Augen Gottes darstellt, dass es alle Übel, selbst die Shoah, rechtfertigt und überwiegt. Dies alles spielt sich im hypothetischen Bereich ab. Auch Swinburne äußert sich zurückhaltend, indem er festhält, dass mit dem freien Willen zumindest die logische Möglichkeit (bzw. an anderer Stelle Wahrscheinlichkeit (nach: Swinburne (1998), S. 127.)) – und damit die Unmöglichkeit Gottes, dies bei Gewähr echter Freiheit auszuschließen – zum Missbrauch desselben gegeben ist, in diesem Zusammenhang aber von einer Notwendigkeit zu sprechen, sieht er sich vor. (Nach: Ebd.) Hierin zeigt sich also das Charakteristikum einer defense: Es geht nur um Möglichkeiten und Plausibiltäten, wobei aber nicht veranschlagt wird, dass es sich in Realität tatsächlich so verhält. Wenn aber Gott und das Böse in einem System als plausibel vereinbar erwiesen werden, welches nicht der Realität entspricht, so ist nichts gewonnen durch die defense, da sich das Problem in Wahrheit anders verhält und so gewissermaßen noch verschärft wird. Eine bloße defense ist daher in gewissem Sinne als sinnlos zu bezeichnen.

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Garantie, dass sich jemand immer richtig entscheidet, gibt es nicht, zumal es im Laufe eines Lebens schlichtweg zu viele Gelegenheiten und Möglichkeiten gibt, in denen man fehlgehen kann. Mit einer einfachen Wahrscheinlichkeitsrechnung ist so einsichtig, dass es zwar theoretisch möglich wäre, dass bei 10‘000 Entscheidungen immer die korrekte Wahl erfolgt, dass aber diese Wahrscheinlichkeit ungleich kleiner ist, als dass wenigstens in einem einzigen Fall eine falsche Wahl getroffen wird – zumal auch unsere Vernunft nicht so perfekt ist, als dass wir immer alle Zusammenhänge vollständig und richtig erkennen würden. Damit wenden wir uns dem zweiten Ansatz zu, der Soulmaking-Theodicy. 2.5.2 Die Soulmaking-Theodicy Die Soulmaking-Theodicy geht auf John Hick344 zurück, welcher die These vertritt, dass das Böse die Funktion der Charakterbildung besitzt und den Menschen zu einer größeren Vollkommenheit führt.345 Es geht darum, dass der Mensch sich im Laufe seines Lebens – gerade auch aufgrund des Verständnisses von Sünde, Schuld, Übel, etc., als Lehrplätze – weiterentwickelt und als Mensch vollkommener wird.346 Hick qualifiziert seinen Entwurf dabei als irenäisch – in Abgrenzung zu augustinisch.347 Damit will Hick die Soulmaking-Theodicy 344

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Hick (1977), insbes. S. 253–364. Eine kurze Zusammenstellung der Soulmaking-Theodicy mit Verweis auf jüdische Parallelen findet sich bei: Birnbaum (1989), S. 34–36. Die Soulmaking-Theodicy kennt insbesondere im englischen Sprachraum weite Verbreitung. (Vgl.: Badham (2005), S. 204.) Zu Hicks Soulmaking-Theodicy sei an dieser Stelle auf einen Artikel verwiesen, in welchem die Position Hicks kritisch mit jener des Aquinaten verglichen wird: Silverman (2009). Nach: Hick (1977), S. 253–256. Dies erinnert an die Hegel’sche Geschichtsdeutung, dergemäß sich die Menschheit in einer Aufwärtsspirale befindet und jede Zeit auf einer höheren Stufe als die vorangegangene liegt. Auch bei Hegel sind es gerade die Konflikte, aufgrund derer die Geschichte sich weiterentwickelt, wenngleich damit bei Hegel nicht die konkreten Übel, welche zu dieser Weiterentwicklung führten, gerechtfertigt werden, da diese nicht notwendig waren, sondern auch andere Konflikte diesen Zweck hätten erfüllen können. (Nach: Dews (2008), S. 109; zu Hegel s.: Ebd., S. 81–117.) Nach: Hick (1977), S. 253. Die Position Irenäus’ schildert Hick auf den Seiten 211–215. Den Unterschied zwischen den Positionen von Irenäus und Augustinus mit Blick auf den Menschen formuliert Hick wie folgt: „There is thus to be found in Irenaeus the outline of an approach to the problem of evil, which stands in important respects in contrast to the Augustinian type of theodicy. Instead of the doctrine that man was created finitely perfect and then incomprehensibly destroyed his own perfection and plunged into sin and misery, Irenaeus suggests that man was created as an imperfect, immature creature who was to undergo moral development and growth and finally be brought to the perfection

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auf eine auf Irenäus von Lyon (ca. 130–202 n.Chr.)348 zurückgehende Traditionslinie zurückführen. Im Unterschied zur augustinischen Linie, welche Gott von jeglicher direkten Verantwortung für das Böse freizusprechen versucht, veranschlagt die irenäische Tradition nach Hick gerade Gottes volle Verantwortung für die Existenz des Bösen und versucht aufzuweisen, weswegen Gott eine Welt schuf, in welcher das Böse notwendigerweise vorkommen würde.349 Hick betont, dass ein Mensch, welcher das Böse und die Versuchung tatsächlich kennengelernt und schließlich überwunden hat, zweifellos besser, reicher und wertvoller sei als ein Mensch, welcher gleich zu Beginn in diesen Zustand unschuldiger Tugend versetzt worden wäre.350 Er sieht es als ethisch vernünftiges Urteil an, dass die menschliche Gutheit durch diesen soulmaking-Prozess

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intended for him by his Maker. Instead of the fall of Adam being presented, as in the Augustinian tradition, as an utterly malignant and catastrophic event, completely disrupting God’s plan, Irenaeus pictures it as something that occurred in the childhood of the race, an understandable lapse due to weakness and immaturity rather than an adult crime full of malice and pregnant with perpetual guilt. And instead of the Augustinian view of life’s trials as a divine punishment for Adam’s sin, Irenaeus sees our world of mingled good and evil as a divinely appointed environment for man’s development towards the perfection that represents the fulfilment of God’s good purpose for him.“ (Ebd., S. 214f.) Eine zusammenfassende Darstellung der Unterschiede sowie auch der Gemeinsamkeiten, welche Hick zwischen der augustinischen und der irenäischen Linie auszumachen versucht, findet sich: Ebd., S. 236–240. Mit der irenäischen Linie nimmt Hick die ostkirchliche Patristik mit ihrem paideia-Gedanken (vgl. Kapitel zur Erbsünde) auf: Es geht darum, dass der Mensch seine Gottebenbildlichkeit verwirklicht und Christus hilft ihm als Lehrer bei diesem Prozess. (Vgl.: Ebd., S. 254.) So stellt denn gerade auch Christi Leiden für Hick das wichtigste (biblische) Argument für die Richtigkeit seiner Soulmaking-Theodicy dar. (Nach: Ebd., S. 356.) Der Verweis auf Hebr 2,10 ist es, welcher nach Hick die Analogie der Perfektion Christi durch das Leiden mit der Rechtfertigung des Bösen und Leidens zu unserer Vervollkommnung schlüssig macht. Wie Hick betont, vermag die irenäische Linie auch heute noch zu überzeugen. (Nach: Ders. (2001), S. 40.) Dabei sei der Mensch in einem ersten schöpferischen Schritt im Verlaufe eines evolutiven Prozesses entstanden. (Nach: Ebd.) Der Mensch ist also laufend im Prozess des Aufstiegs, des Wachstums, der Entwicklung sowie der Vervollkommnung, wobei dies die zweite Stufe des Schöpfungswerks darstellt. (Nach: Ebd., S. 41.) Nach: Ders. (1977), S. 211. Nach: Ebd., S. 236. Nach: Ebd., S. 255f. Swinburne beispielsweise, welcher uns als Vertreter der Free-WillDefense begegnet ist, behauptet nicht nur, dass der Mensch, welcher Versuchung kennengelernt und überwunden hat, wertvoller ist, als einer, welchem dies einfach in den Schoß gelegt wurde, sondern er sagt, dass die Charakterbildung mit dem Schicksal der anderen zusammenhängt, dass ich also aufgrund des Leidens anderer, denen ich aufgrund ihres

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langsam aufgebaut wird und dass dieser Wert, welcher daraus resultiert, in den Augen Gottes so groß sei, dass die Länge dieses Prozesses – und damit die so immense Zahl an Übeln, welche unermesslich viele Menschen über Jahrhunderte und Jahrtausende erdulden und erleiden mussten und müssen – dadurch gerechtfertigt werde.351 Oder in anderen Worten: Das Nutzen-Kosten-Verhältnis fällt positiv in Richtung des Nutzens, welcher daraus resultiert, aus. Damit findet eine Bonisierung des Bösen statt. Doch stellt sich nichtsdestotrotz die

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Leides Mitgefühl gezeigt habe, wertvoller werde. (Nach: Swinburne (1998), S. 168.) Menschen, welche leiden, sind so uns zum Nutzen für unsere Charakterbildung: „The suffering becomes the tool which we use for our growth of moral understanding, and so in yet another way the sufferer is of use to us in helping us so to grow.“ (Ebd., Hervorhebung v.v.) Die Opfer der von den Nationalsozialisten verübten Gräueltaten wären somit zum Nutzen der anderen Menschen gewesen, damit diese persönlich wachsen und ihren Charakter hätten vervollkommnen können. Dass dies als befriedigende Theodizee reichen soll, ist lächerlich. Und selbst angenommen, dem wäre so, so ergibt sich dennoch zwingend die Frage: Welchen Nutzen hatten die Opfer? Worin bestand ihr Nutzen, aufgrund dessen sie hätten charakterlich vervollkommnet werden können? Etwa darin, dass sie während ihrer eigenen Schikanen auch andere leiden sahen? Zwar mag es durchaus sein, dass es ohne Leiden auch wertvolle Tugenden wie Empathie, etc. nicht geben würde, doch ist dies alleine kein hinreichender Rechtfertigungsgrund für die Existenz des Bösen, insbesondere nicht in dem Ausmaße, wie es vorhanden ist – spätestens an der Shoah muss ein solches System kläglich scheitern. Mit Eagleton ist ein weiterer kritischer Gedanke anzumerken: „Even if suffering makes you gentler and wiser, it is still bad for you. It is still a bad thing that this was the way you managed to become gentler and wiser, rather than some other way.“ (Eagleton (2010,2), S. 134f., Hervorhebung im Original.) Nach: Hick (1977), S. 256. Vgl. hierzu auch eine interessante Parallele zur jüdischen Mystik: Jacobson verweist darauf, dass im Sohar das Böse gerade mit einer reinigenden Bedeutung gesehen wird: Man muss gewisse Erfahrungen an Bösem gemacht haben, um gestärkt und gereinigt daraus emporzusteigen. (Nach: Jacobson (2004), S. 103.) Interessanterweise wird das Böse hierbei sogar soweit in die Konzeption aufgenommen, als wahre Perfektion in der Integration des Bösen in das Gute besteht, sodass das wahre Gute nicht als Gutes allein gesehen wird, sondern in der dialektischen Integration des Bösen in das Gute. (Nach: Ebd., S. 104–107.) Wie Jacobson weiter ausführt, besteht hierin gemäß dem Sohar auch der Grund für das Leiden Hiobs, denn dieser fixierte sich ausschließlich auf das Gute, was dazu führte, dass das darüber erzürnte Böse ihn in Besitz nahm, um ihm vor Augen zu führen, was er getan hatte. (Nach: Ebd., S. 108.) Das Böse ist Hiob also widerfahren, weil er anstelle der Integration des Bösen in das Gute dieses gerade vom Guten trennte. (Nach: Ebd., S. 109.) Böses dagegen, welches mit dem Guten versöhnt und in dieses integriert ist, ist nicht mehr länger böse. (Nach: Ebd., S. 108; zur Bedeutung des Bösen im Sohar s. z.B. auch: Schäfer, P. (1993), S. 97–107, dessen Ausführungen sich mit den Schilderungen Jacobsons decken.)

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Frage, weswegen dieser Vervollkommnungsprozess überhaupt notwendig ist: Wenn der Mensch unterwegs zu seiner Vervollkommnung ist und dies in dem Sinne, dass er auch zu Beginn, also im Paradies und beim Sündenfall, unvollkommen und unterwegs auf diesem Pfad der Vervollkommnung war, stellt sich die Frage, weswegen Gott den Menschen nicht gleich zu Beginn vollkommen geschaffen hat352 und zwar in einer Weise, dass er diese von Hick propagierte zusätzliche Stärke bereits in sich trug. War er nicht fähig dazu oder wollte er es nicht? Gottes Allmacht und Allgüte stehen somit auf dem Spiel. Die These des Nutzen-Kosten-Verhältnisses ist weiter keineswegs beweisbar und wird gerade auch aufgrund der Shoah mehr als fragwürdig. Hick selbst nimmt die Problematik der Shoah auf und stellt die Frage, ob dies mit der soulmaking-Theodizee vereinbar sei.353 Seine Antwort auf diese ernstzunehmende Frage ist aber geradezu lächerlich: Gott sieht alles Böse voraus, auch das dämonische Böse, welches sich in der Shoah manifestierte, und über all dieses Böse besitzt er die Kontrolle – sprich: er setzt es ein zur Vervollkommnung und Charakterbildung des Menschen, sodass also Gott letzten Endes für die Shoah verantwortlich war und diese einem positiven Zweck diente.354 Für Hick spielt denn auch letztlich 352

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Nach Hick hat Gott den Menschen nicht vollkommen geschaffen, strebt dies aber mit ihm an, er ist also als Schöpfergott noch unterwegs dazu, sein Geschöpf vollkommen zu schaffen. (Nach: Hick (1977), S. 256.) Beim Menschen handelt es sich also um eine noch nicht abgeschlossene, sondern sich noch immer in Gang befindende Schöpfung. Nach: Ebd., S. 288f. Nach: Ebd., S. 289. Zugleich widerspricht sich Hick aber auch selbst, wenn er festhält, dass Gott dieses unermessliche Grauen nicht wollte und diese Menschen Gottes Ziel zuwiderhandelten. (Vgl.: Ebd., S. 361.) Plötzlich spricht Hick von der Macht des Bösen und dass sich diese Ereignisse eben doch letztlich der Macht Gottes entzogen haben. Gerade diese Selbstkontradiktion ist es, welche die Schwäche der Theorie aufzeigt und deutlich macht, dass die Theorie spätestens an den Erlebnissen der Shoah scheitern muss. Die Theorie erweist sich damit selbst als unbrauchbar für eine logisch schlüssige und nachvollziehbare Erklärung des Bösen und eine Rechtfertigung Gottes angesichts dessen Existenz. Hicks Versuch, die Shoah dennoch wieder irgendwie in seine Theorie zu integrieren, ist nicht nur lächerlich und trivialisiert das erlittene Leid, sondern ist auch ein Faustschlag in die Gesichter all jener, welche diese Hölle als Opfer erlebt (und manche auch überlebt, der Großteil aber nicht) haben: „First, as regards the millions of men, women, and children who perished in the extermination programme, it gives the assurance that God’s good purpose for each individual has not been defeated by the efforts of wicked men. In the realms beyond our world they are alive and will have their place in the final fulfilment of God’s creation.“ (Ebd., S. 362.) Die Bedeutung des irdischen Lebens – aber auch des Leids – wird damit nivelliert, da dies keine Rolle spielt und es nur darauf ankommt, dass im Zustand danach alles gut sein wird und diese Menschen, welche dahingeschlachtet wurden, dort leben. Swinburne etwa spricht explizit davon, dass die Shoah von Gott zum

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die Frage nach dem Verhältnis von Leid und Glück keine Rolle, vielmehr geht es einzig um die Frage, ob diese Welt ihrem einzigen Zweck nachkommt, nämlich

Zwecke eines größeren Gutes zugelassen wurde. (Nach: Swinburne (1998), S. 107.) Auch er betont, dass die Shoah viel Gutes hervorgebracht habe, indem sie Mitleid, Tapferkeit, etc. – also higher order goods, Güter höherer Ordnung – ermöglichte. (Nach: Ebd. S. 151.) Er behauptet, das Leiden in den Konzentrationslagern sei das Resultat einer großen Anzahl freier schlechter Entscheidungen während mehreren Jahrhunderten gewesen, habe zugleich aber auch viele künftige gute Entscheidungen möglich gemacht. (Nach: Ebd., S. 151f.) Es sind also Dinge wie Leiden und Schmerz, welche Swinburne nebst anderen dadurch gerechtfertigt sieht, dass sie im Gegenzug Tugenden wie Mitleid, Tapferkeit, Widerstand, Empathie, etc. hervorbringen und so letztlich größere Güter hervorbringen, welche es ohne die entsprechenden Leiden ebenfalls nicht gäbe. (Vgl.: Ebd., S. 161.) Dennoch sieht Swinburne eine (nicht offensichtliche) Grenze für das menschliche Leiden. (Nach: Ebd., S. 151.) Solange eine solche Grenze postuliert wird, fragt sich, wieviel es denn braucht, bis das Fass voll ist, wenn diese Grenze allem Anschein nach in der Shoah nicht erreicht wurde. Noch gravierendere Konsequenzen mit Blick auf die Shoah ergeben sich aus folgender Aussage: „It is a great good for the agent if he can help someone who needs help. He is privileged to have the opportunity to be of use and blessed if he takes it. God does a great good for us if he gives us such opportunity. He can only do this by building a world in which natural processes ensure that by our actions we can bring benefits to others which they cannot easily secure in any other way. But there are also benefits for the one who needs help. He is also privileged to be the vehicle who presents the one who can help with the opportunity to help; he makes the life of the helper matter, by giving him a serious choice whether or not to help someone who needs help. And if help is provided, then of course the sufferer is further blessed by someone caring for him.“ (Ebd., S. 167.) Das ist geradezu absurd und grotesk: Das Nazi-Opfer muss sich also sogar privilegiert fühlen, dass ein anderer an ihm Mitleid und Tapferkeit ausüben darf! Überhaupt bleibt zu Swinburne anzumerken, dass er Gott viel zu anthropomorph zeichnet und all sein Handeln und Reagieren eins zu eins in Analogie zu unserem Handeln und Reagieren setzt. (Vgl. z.B.: Ebd., S. 107 u.ö.) Im folgenden Zitat werden die Juden zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sogar auf eine Stufe mit Tieren gestellt, die es nicht zu quälen gälte! Und auch hier findet sich wieder das Element des Privilegs, Werkzeug zur Charakterbildung anderer sein zu dürfen, sowie jenes der angeblichen Grenze des Leidens, welches Gott zulässt zur Erreichung dieser Charakterbildung, ein äußerst verstörendes Zitat, welches hier daher auch in seiner ganzen Länge wiedergegeben werden soll: „But many, as a result of their own bad choices or the bad environment (in the formation of which the bad choices of others will have placed their part), do not recognize much bad or wrong as bad or wrong. Only the starkest and most horribly wrong acts do they recognize as such. They have not yet reached but are close to the brink of total insensitivity to moral goodness. Their only hope is to be presented with stark choices – evils which even they can recognize; and a God as concerned for their salvation – i.e. their becoming good people (through their free choices) – as for the salvation of near-saints will, if compatibly with his goodness he

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dem Prozess der Vervollkommnung der Charakterbildung355 – und diese Frage bejaht Hick. So reicht es für ihn denn auch nicht, die Frage zu stellen, ob Gott nicht auch eine bessere Welt als die aktuelle hätte erschaffen können. Vielmehr muss darüber hinaus der Zweck als Kriterium hinzugezogen werden, wodurch die Frage wie folgt umzuformulieren sei: Könnte die Welt mit Blick auf das Ziel, welches Gott mit ihr verfolgt – also die Charaktervervollkommnung des Menschen –, besser sein bzw. gäbe es eine bessere Welt, welche diesem Ziel (besser) dient?356 Der erwähnte Vervollkommnungsprozess muss indes keinesfalls in diesem Leben bewerkstelligt werden, sondern es handelt sich um einen andauernden Prozess, der auch in einem anderen Leben und in einer anderen Welt vollendet werden kann.357 Damit kann diese Vorstellung streng genommen aber weder mit dem christlichen noch mit dem jüdischen Glauben vereinbar sein. Dabei stellt aber genau dieses eschatologische Moment das zentrale Moment der Theorie Hicks dar.358 Denn nur mit der Annahme, dass am Ende wirklich alle durch die Erfahrung des Leids perfektioniert werden, kann die These, dass das Böse notwendig ist und einem pädagogischen Zweck dient, indem der Mensch dadurch charakterlich gestärkt wird, aufrechterhalten werden. Wenn diese Charakterbildung dagegen nur einen kleinen Teil der Menschen umfassen würde, käme das Problem nach der Frage, weswegen es dieses Böse geben darf, ja sogar muss, von Neuem. Hick versucht dieser Kritik

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can, provide them with such choices. That means giving them the opportunity to resist temptations to do cruel acts. He will give them the opportunity to feed the dying beggar rather than leave him to starve, to disobey orders to kill a Jew imprisoned for his race, or not to torture animals. Yet of course those choices are only available if these terrible evils will happen if the chooser refuses the right choice. And there must be, as there is, a limit to the suffering which God allows anyone to endure for the sake of such a great good as the salvation of the hard-hearted. But it remains the case that it is a great privilege for anyone to be the means of making available serious choices, even or possibly especially for the hard-hearted.“ (Ebd., S. 169f.) Streminger fragt zu Recht kritisch an, ob ein so erworbenes Mitleid überhaupt noch ein Gut zu nennen sei. (Nach: Streminger (1991), S. 217.) Nach: Hick (1977), S. 259. Nach: Ebd., S. 308. Nach: Ders. (2001), S. 51; vgl.: Weisberger (1999), S. 129. Hick flüchtet sich in diese eschatologische Dimension, da er zugeben muss, dass der von ihm postulierte soulmakingProzess hier auf Erden – wir sehen es tagtäglich – kläglich scheitert. (Nach: Hick (1977), S. 336.) „Without such an eschatological fulfillment, this theodicy would collapse.“ (Ders. (2001), S. 51.) Wobei Hick hierbei durchaus auch auf ein christliches Fundament setzt, indem er auf die Vorstellung vom Purgatorium, dem Fegefeuer, verweist. (Nach: Ders. (1977), S. 347.) Nach: Weisberger (1999), S. 144.

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durch die Postulierung auszuweichen, dass, wenn die Übel tatsächlich irgendeine Rolle im Prozess der Charakterbildung gespielt haben, diese am Ende als gut (!) erwiesen werden und gar keine Übel darstellten.359 Doch ist dies nicht die einzige Schwierigkeit: Auch stellt sich die Frage, wenn alles so auf den menschlichen Vervollkommnungsprozess zentralisiert ist, weshalb es in dieser Welt dann auch Tiere gibt, welche unter dem Bösen leiden.360 Hick trivialisiert diese Frage und behauptet, dass wir nicht unsere Erfahrungen auf Tiere übertragen dürften, welche dies zu erfahren unfähig seien.361 Weiter argumentiert er, dass der Tod für die Tiere im Gegensatz zum Menschen kein Problem darstelle.362 Doch lässt er damit einen wesentlichen Aspekt der Problematik außer Acht: Hick betrachtet nur den geschlossenen Raum des Tier-Organismus, geht aber nicht der Frage nach von Menschen verübter Tierquälerei nach. Vielmehr plädiert Hick dafür, dass ein Tier Güter und Übel immer nur momentan wahrnimmt,363 sodass sich ein misshandeltes Tier demgemäß gar nicht an die Misshandlung erinnern und verwahrlost sein könnte. Das Leiden der Tiere sei dem der Menschen unter- und ihr Leben dem der Menschen als deren „natural origin and setting“364 beigeordnet.365 Damit zurück zum Menschen als Subjekt des angezielten Vervollkommnungsprozesses. Die Soulmaking-Theodicy trivialisiert das Leid der Menschen, 359

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Nach: Hick (1977), S. 338f. Hick beschreibt zwar das Böse selbst immer noch als böse (vgl.: Ebd., S. 363f.), dennoch betont er, dass es in einer finalen Perspektive durchaus zum Guten beigetragen hat. Noch extremer dagegen schildern Madden/Hare Ende der 60-er Jahre, also ebenfalls nach der Shoah, die Vorstellung der ultimativen Harmonie in der Ausrichtung, dass in Gottes Perspektive alles gut ist, indem sie festhalten, dass diese Richtung die tatsächliche Existenz des Bösen leugnet und als Fehlbeurteilung der menschlichen Erkenntnis erklärt. (Nach: Madden/Hare (1968), S. 60f.) Damit wird letzten Endes das Böse in äußerster Konsequenz nivelliert. Schockierenderweise würde diese Sicht auf die Schlussfolgerung hinauslaufen, dass all die Schrecken der Shoah keine Übel, sondern in Tat und Wahrheit Güter waren! Eine solche Theodizee ist damit spätestens seit Auschwitz obsolet. Weiter gibt es natürlich auch die Vorstellung, dass das Böse gar nicht so schlimm ist, wie es scheint, dass es also auf den Blickwinkel ankommt. Philips kritisiert hier zu Recht, dass die dafür angeführten Beispiele zu einseitig gewählt werden und bei einer ausgewogeneren Betrachtung ersichtlich würde, dass Übel nicht nur weniger schlimm sein können, als sie je nach Blickwinkel scheinen, sondern dass sie auch viel schlimmer sein können, als das, was wir wahrzunehmen glauben. (Nach: Philips (2005), S. 77f.) Hick behandelt diese Frage ebenfalls in seinem Buch: Hick (1977), S. 309–317. Nach: Ebd., S. 313. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 314. Ebd., S. 316. Nach: Ebd.

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wenn es als notwendig zur eigenen Perfektionierung oder zur Perfektionierung anderer erachtet wird. Auch die Bedeutung dieses Lebens wird beschnitten, wenn von einem Prozess ausgegangen wird, der sich in einem anderen Leben vollziehen kann. In einem jüdisch-christlichen Kontext dagegen, welcher sich der Vorstellung einer wie auch immer gearteten Wiedergeburt verwehrt, ist dieses Leben, wie es hier und jetzt konkret ist, für jedes Individuum von existentieller Bedeutung und Erfahrungen von Leid und Unrecht verschärfen sich umso mehr. Die Soulmaking-Theodicy kann keine Theodizee angesichts der Erfahrung der Shoah liefern, ganz im Gegenteil. Hicks These stellt sowohl Gottes Allmacht infrage, wenn Vollendung des Charakters nur über solch unermessliches Leid möglich sein soll, aber noch viel wichtiger wird auch Gottes Gutheit infrage gezogen, wenn er all dieses Leiden zulässt, um dieses eine Geschöpf zu perfektionieren.366 Denn paradoxerweise ist das Resultat dieses angeblich dazu bestimmten Prozesses, den Menschen zu perfektionieren und zu Gott zu führen, genau das Gegenteil, indem der Mensch sich von Gott abwendet angesichts all der grauenvollen Dinge, welche unter seinen Augen geschehen.367 Zusammenfassend für die vorgestellten Entwürfe nach Auschwitz lässt sich eine Auffälligkeit konstatieren: Auschwitz hat insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem moralischen Bösen angestoßen. Bei Lissabon stand noch ein Naturereignis hinter der angestoßenen Debatte. Das moralische Übel ist so heute die alles entscheidende Frage, die Problematik der natürlichen Übel dagegen wird nicht nur zurückgedrängt,368 sondern selbst aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als Folgen menschlicher Taten erkannt. So gehen die immer häufigeren Überschwemmungen wie auch die schweren Dürren 366

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Nach: Weisberger (1999), S. 151. Für Hick ist die Frage nach dem Nichteingreifen Gottes in bestimmten Situationen wie etwa der Shoah dabei insofern bedeutungslos, als er davon ausgeht, dass Gott überhaupt nicht aktiv ins Weltgeschehen eingreift, sondern die Welt mit einer gewissen Distanz zu sich selbst schafft, sie sich selbst überlässt und dass dies sogar gut so ist, weil eine autonome Welt eine bessere Welt sei. (Nach: Badham (2005), S. 201f.) Nach: Weisberger (1999), S. 121. Dennoch konstatiert etwa Stosch, dass für viele neuzeitliche Theologen gerade das natürliche Übel und damit noch immer Lissabon das eigentlich gravierende Problem für die Theodizee-Problematik darstellt: „In der gegenwärtigen Theologie wird immer wieder die These vertreten, dass die schwierigste Herausforderung in der Theodizeefrage eigentlich nicht das moralische Übel sei, weil hier relativ leicht verständlich zu machen sei, dass es nicht auf Gott, sondern auf den Menschen zurückgehe. Dagegen liege die eigentliche Herausforderung des Gottesglaubens angesichts des Leidens in der Welt nicht in Auschwitz, sondern in Ereignissen wie dem Erdbeben von Lissabon begründet. Denn da das

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aufgrund von Klimaverschiebungen auf die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung zurück. Auch ehemals natürliche Übel erweisen sich so heute zusehends als moralische Übel. Diese Verschiebung auf den Menschen hin – also eigentlich weg von einer Theodizee hin zu einer Anthropodizee – zeigt sich gerade auch in den betrachteten neueren Ansätzen: Der mit dem Begriff Auschwitz umschriebene Mord an den Juden zeigt, wozu Menschen fähig sind, und wirft die Frage auf, wie Gott ein solch grausames Geschöpf frei walten lassen kann ohne grenzgebend einzugreifen. Auch die Free-Will-Defense richtet ihren Blick auf den Menschen, indem die menschliche Willensfreiheit als Grund für die Übel in der Welt angegeben wird, diese selbst aber als so großes Gut behauptet wird, dass Gott um dieses Gutes willen nicht eingreife, da es letztlich alle Übel, welche durch dieses Gut entstehen, überträfe. Ebenso befasst sich die Soulmaking-Theodicy mit dem Menschen und nimmt seine charakterliche Entwicklung in den Fokus, welche angeblich durch die Erfahrung von Übeln vervollkommnet werde. All diesen modernen Ansätzen ist so die Fokussierung auf den Menschen gemeinsam. Diese Verschiebung ist charakteristisch für die Moderne und ihre Auseinandersetzung mit dem Bösen: „Der eigentliche Schrecken des Bösen: seine Unwägbarkeit, Undurchschaubarkeit und Unmenschlichkeit wird heute weniger in der Natur gefürchtet als im menschlichen Miteinander.“369 Nachdem ein kurzer Überblick über einige neuzeitliche Modelle in der Theodizee gewonnen worden ist, soll im zweiten Teil dieser Arbeit der biblische Umgang mit dem Bösen anhand dreier Beispiele aufgezeigt werden.370

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natürliche Übel direkt auf Gottes Schöpfungsordnung zurückfalle, sei dadurch seine Güte ungleich radikaler in Frage gestellt als durch die von ihm ja nur zugelassenen Verbrechen der Menschen.“ (Stosch (2013), S. 56.) Ammicht-Quinn (1992), S. 219. Eine Betrachtung und Analyse der entsprechenden biblischen Texte ist nicht nur deshalb von Bedeutung, da diese auch den Rahmen und die Basis für die Überlegungen Maimonides’ und Thomas’ bilden werden bzw. mit denen sie ihre philosophischen Systeme in Einklang zu bringen versuchen. Vielmehr ist es auch die Überzeugung der Autorin, dass theologische Entwürfe niemals an der Bibel vorbeikommen – und darin stimmt sie grundlegend mit den beiden systematischen Entwürfen, welche im dritten Teil dieser Arbeit Betrachtung finden werden, überein. Diese Sichtweise vertritt auch der 26. Band des Jahrbuchs für Biblische Theologie, welches dem Thema Das Böse gewidmet ist: „Dass die biblische Überlieferung wesentliche und immer wieder bedenkenswerte Aspekte im Blick auf die Frage nach dem Bösen und den Umgang mit ihm beizusteuern hat, ist die Grundüberzeugung, die diesen Band bestimmt. Insofern ist diese auch für die ‚anderen‘ theologischen Disziplinen nie obsolet, vielmehr geht es darum, in der Erörterung konkreter Fragen des Lebens und des Glaubens, auch in systematischen und praktischen Reflexionen den biblischen Bezug und in der Darstellung biblischer Sachverhalte deren theologische Relevanz zur Geltung zu bringen.“ (Frey/Oberhänsli-Widmer (2012), S. viif.)

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Dabei wird auf das Buch Hiob eingegangen, in dessen Zusammenhang nochmals der Frage nach der Theodizee nachgegangen werden wird, diesmal jedoch nicht auf philosophischer, sondern auf biblisch-theologischer Ebene. Weiter sollen auch die erste sowie die zweite Schöpfungserzählung genauere Betrachtung finden, da sich hier die abgründige Frage nach dem Ursprung des Bösen stellt.

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teil 3 Biblischer Zugang



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kapitel i

Einführung Bevor im dritten Teil dieser Arbeit zwei Entwürfe zur Erklärung der Herkunft des Bösen in systematischer Sicht vorgestellt werden, sollen einige grundlegende biblische Texte Betrachtung finden.1 Es gilt im dritten Teil u.a. zu bedenken, ob und wie diese Texte von den beiden Theorien aufgenommen werden sowie ob sie den biblischen Aussagen gerecht zu werden vermögen oder diesen widersprechen. Denn die entscheidende Bezugsgröße legitimer theologischer Aussagen bildet die Hl. Schrift: „Was die Theologie zum Thema der Theodizee zu sagen hat, muss sie an Texten der biblischen Überlieferung ausweisen und prüfen. Nur unter dieser (im philosophischen Diskurs nicht unbedingt selbstverständlichen) Voraussetzung kann sie sich zur Sache äußern.“2 Es werden drei unterschiedliche Erzählungen betrachtet: die beiden Schöpfungserzählungen in den ersten Kapiteln der Genesis sowie das Buch Hiob.3 Diese drei Texte bieten sich insbesondere deshalb an, weil sich auch Thomas von Aquin und Maimonides mit denselben hinsichtlich ihrer Betrachtung der Erklärung des Bösen auseinandersetzen. Dabei wird von ihnen noch eine weitere Textstelle intensiv bedacht, welche im Rahmen der hier vorgenommenen 1 Die Textauslegung wird in der Regel am hebräischen Text nach der Version der Biblia Hebraica Stuttgartensia vorgenommen. Dabei gilt es zu beachten, dass die Wiedergabe des hebräischen Texts innerhalb dieser Arbeit gemäß ‫( כתיב מלא‬Ketiv male), also der scriptio plena, der Vollschrift mit mater lectionis, der Ausschreibung einiger Vokale (i.d.R. i, o sowie u), erfolgt, da ohne Vokalpunktation geschrieben wird. Aus diesem Grunde wird beispielsweise Elohim als ‫ אלוהים‬und nicht wie im hebräischen Bibeltext ‫ אלהים‬wiedergegeben. An einigen Stellen wird, wo nötig, nebst dem hebräischen Text auch auf die griechische (Septuaginta) sowie die lateinische (Vulgata) Übersetzung verwiesen. Als Grundlage für die deutsche Übersetzung wird auf die Einheitsübersetzung (eü) zurückgegriffen. Für unser Sprachempfinden ungewohnt wird im Hebräischen in der Regel die letzte – und nicht wie im Deutschen die vorletzte – Silbe betont. Um diese Endsilbenbetonung anzuzeigen, wird oftmals ein Akzentzeichen über den letzten Konsonanten gesetzt, um die korrekte Aussprache für Ungeübte und des Hebräischen nicht Mächtige zu erleichtern. 2 Dietrich/Link (2000), S. 12, Hervorhebung im Original. 3 Selbstverständlich finden sich sowohl im Alten als auch im Neuen Testament zahlreiche weitere Texte, welche sich mit der Frage nach dem Bösen befassen, die hier aber nicht besprochen werden. An dieser Stelle sei daher auf die beiden Bände von Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, verwiesen: Dies. (1995); dies. (2000), wo sich eine Vielzahl weiterer Texte findet.

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Biblischer Zugang

biblischen Überlegungen nicht eigens behandelt wird: Jes 45,7. Auf diese Stelle wird aber an unterschiedlichen Stellen immer wieder kurz verwiesen werden. Methodisch gilt es zu bedenken, dass eine korrekt durchgeführte Textexegese genügend Material für eine eigene Arbeit böte – und zwar für jeden der drei behandelten Texte. Da der biblische Teil allerdings – wie bereits der philosophische – nicht den Hauptteil dieser Arbeit bilden soll, sondern lediglich als Wissensgrundlage für die folgenden theologisch-dogmatischen Ausführungen dient, muss die Analyse der gewählten biblischen Erzählungen entsprechend kurz ausfallen.4 Auffällig ist an dieser Stelle, dass die drei gewählten Texte alle aus dem Alten Testament stammen. Eine Betrachtung neutestamentlicher Textstellen, welche sich mit der Frage nach dem Bösen befassen, würde von vorneherein auf einen christlichen Kreis einschränken. Die Betrachtung alttestamentlicher Texte dagegen öffnet den Blick über das Christentum hinaus hin zum Judentum, insofern es sich um Texte handelt, welche sowohl im christlichen Kanon als auch im jüdischen Tanach5 auftauchen. Der Umstand, dass sich die vorliegende Arbeit mit einem jüdisch-christlichen Vergleich befasst, erklärt, weswegen auch im Rahmen der Betrachtung der Ausführungen des Aquinaten die neutestamentlichen Bezüge ausgeblendet werden. Die Abfolge der Behandlung der drei Texte gestaltet sich wie folgt: Zunächst wird die zweite Schöpfungserzählung analysiert werden, danach wird die erste Schöpfungsgeschichte hinsichtlich ihrer Aussagen zum Bösen betrachtet. Zum Schluss wird im Buch Hiob die Frage nach dem ungerechtfertigten Leiden thematisiert. Damit wenden wir uns der zweiten Schöpfungserzählung zu.

4 Für die Drucklegung werden nur die zur Beantwortung der Frage nach der Herkunft des Bösen dienlichen Textstellen dargestellt und interpretiert. Auf eine ausführliche inhaltliche Darstellung und Interpretation der gesamten Texte wird dagegen verzichtet. 5 Das Wort Tanach für die jüdische Heilige Schrift setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der darin enthaltenen Schriftgruppen zusammen: Thorah (‫ ;תורה‬Weisung; der Pentateuch), Newi‘im (‫ ;נביאים‬Propheten) sowie Ketuwim (‫ ;כתובים‬die (übrigen) Schriften).

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kapitel ii

Die zweite Schöpfungserzählung: Gen 2,4b-3,24 Wie Krauss und Küchler festhalten, lassen sich die Erzählungen in Gen 2 und 3 evtl. bis in die Zeit von König Salomo zurückführen, also in das 10. Jh. v.Chr.1 Damit wären die ältesten feststellbaren Schichten dieser Erzählung beinahe doppelt so alt wie die erste Schöpfungserzählung, welche üblicherweise der Priesterschrift zugeschrieben und in die späte Exilszeit/frühe Nachexilszeit (also ins späte 6. Jh.) datiert wird. Da mit Blick auf die Publikation nur jene Teile der Erzählung thematisiert werden, welche Schlüsse hinsichtlich der Frage nach dem Bösen und seiner Herkunft zulassen, wird nur die Erzählung vom sogenannten Sündenfall dargestellt,2 um hieraus die Aussagen zum Bösen herauszukristallisieren. In einem weiteren Schritt wird die rezeptionsgeschichtliche Weiterentwicklung in Form der Lehre von der Erbsünde thematisiert. 2.1

Die Übertretung des göttlichen Verbots

Die in den Kapiteln 2 und 3 der Genesis geschilderten Ereignisse im Garten Eden bzw. im Paradies3 lassen sich grob in zwei Teile aufteilen: Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Erschaffung des Menschen im engeren Sinne und zwar letztlich als soziales Wesen, welches eines Partners oder – mit den Worten der Erzählung – einer Hilfe bedarf. Im dritten Kapitel wird das Drama der Verfehlung geschildert. Diese ist aber bereits zuvor schon motivisch in mehrerer Hinsicht angedeutet. Die Darstellung der Übertretung des göttlichen 1 Nach: Krauss/Küchler (2003), S. 11. 2 Es seien an dieser Stelle beispielhaft einige Literaturhinweise erwähnt, welche hinsichtlich der Deutung der gesamten Perikope hinzugezogen werden können: Krauss/Küchler (2003); Löning/Zenger (1997); Klaiber (2005); Schmid (2012, 2); Flasch (2004); Lobel (2011); Safranski (2011); Bonhoeffer (1989); Buber (2003); Zenger (2016, 1); ders. (2016,2); Baumgart (1999). 3 Die Bezeichnung Paradies begegnet in der Septuaginta (lxx), der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, welche im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte übersetzt wurde, begonnen in der Mitte des 3. Jh. v.Chr. und abgeschlossen ca. zu Beginn des 2. Jh. n.Chr., wobei die Übersetzung der ‫( תורה‬Thoráh), also der ersten fünf Bücher des biblischen Kanons, der fünf Bücher des Moshe bzw. des Pentateuch, als Erstes vorgenommen wurde. (Nach: Fabry (2016), S. 59.) Gott schuf demgemäß in Edem (!) ein παράδεισον (Parádeison). Diesen Begriff entnahmen die Verfasser der lxx dem Persischen, wo es einen Lustgarten bezeichnet. (Nach: Klaiber (2005), S. 50f.)

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Verbots setzt mit dem Auftreten eines neuen Akteurs ein: der Schlange (‫הנחש‬, haNachásh), welche wie Mann und Frau nackt war. Es wird betont, dass auch sie eines von Gottes Geschöpfen ist. Wird Gott in der ersten Schöpfungserzählung schlicht und einfach gattungsmäßig als ‫( אלוהים‬Elohím), also als Gott, bezeichnet, so wird in der nachgeordneten, aber wesentlich früher entstandenen zweiten Erzählung der Erschaffung der Welt und des Menschen der Gottesname selbst, das Tetragramm ‫( יהוה‬jhwh), der allgemeineren Bezeichnung vorangestellt. Gott wird also als ‫( יהוה אלוהים‬Adonai4 Elohim) bezeichnet. Auffällig dabei ist, dass im Gespräch der Schlange mit der Frau diese beiden Akteure lediglich von Elohim reden und nicht die Doppelbezeichnung oder gar nur den Eigennamen verwenden.5 Als Grund dafür wird angeführt, dass man die Verwendung des Gottesnamens in diesem Zusammenhang der Versuchungs- und Gebotsübertretungsdarstellung habe vermeiden wollen.6 Die Schlange fragt die Frau, ob Gott dem Menschenpaar tatsächlich gesagt habe, 4 Das Tetragramm wird – zurückgehend auf eine lange Tradition – nicht ausgesprochen, sondern mit Adonai (mein Herr) oder haShem (der Name) bzw. haShema (aram. der Name) wiedergegeben. (Vgl. auch: Troyer (2008), S. 144f.) Sehr Religiöse Juden schreiben aufgrund dieser Ehrfurcht das Tetragramm bis heute noch nicht einmal aus, sondern ersetzen es durch bzw. ‘‫ה‬. Diese Umschreibung wurde bereits in der späteren rabbinischen Tradition Standard, wie Troyer herausstreicht. (Nach: Ebd., S. 159.) Aus Überlegungen des Respekts gegenüber der anderen Glaubensrichtung verzichtet die Autorin vielfach darauf, das Tetragramm auszuschreiben, sondern verwendet dafür die Bezeichnung Adonai, gerade auch, wo es darum geht, die LeserInnen im Hinblick auf die Aussprache – wie in den Klammerbemerkungen nach hebräischen Ausdrücken – anzuleiten. Wann genau sich die Unaussprechbarkeit des Tetragramms durchgesetzt hat, ist umstritten. Aufgrund der Quellenlage wird aber davon ausgegangen, dass sich diese Tradition bereits zu Beginn des 2. Jh. v.Chr. zu etablieren begann. (Nach: Ebd., S. 148.) Als Hinweis darauf, bzw. für eine noch etwas frühere Datierung, kann auch die lxx hinzugezogen werden: An einigen Stellen, an denen im hebräischen Original das Tetragramm auftaucht, wählt die lxx die Bezeichnung kyrios (Κύριος) als Übersetzung, was Herr (also eine Übersetzung von Adonai) bedeutet. (Vgl.: Ebd., S. 163.) Doch, so weist Troyer nach, ist eine noch ältere Übersetzungsvariante für das Tetragramm in der lxx auszumachen, welche an einzelnen Stellen auftaucht: theos (θεός) also schlicht Gott. (Nach: Ebd., S. 162f.) Gerade die Wiedergabe mit κύριος ist mit einem Verweis auf das nt äußerst interessant: Dort wird Jesus Christus als κύριος bezeichnet. Für alle in Griechisch geschulten jüdischen Menschen zur damaligen Zeit bzw. jene, welche das at nur in der griechischen Übersetzung kannten, musste dies äußerst provokativ, ungeheuerlich, revolutionär und skandalös sein: Mittels der Verwendung des für Gott gebrauchten Begriffs wurde eine Gleichsetzung und Identifizierung Jesu Christi mit Gott angedeutet. 5 Siehe: Gen 3,1.3.5 (2x). 6 Nach: Zenger (2016,2), S. 89.

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es dürfte nicht von allen Bäumen des Gartens essen.7 Es stellt sich die Frage, woher die Schlange von dem in Gen 2 nur an den ersten Menschen ergangenen Verbot weiß, welches sie übrigens in umgekehrter Weise widergibt. Gott hatte in Gen 2,16f. nämlich zum Menschen gesagt, er dürfe von allen Bäumen des Gartens essen, nur nicht vom Baum der Erkenntnis. Weshalb richtet die Schlange ihre Frage an die Frau, war doch diese bei der Aufstellung des Verbots nicht anwesend, da sie zu der Zeit noch nicht geschaffen war? Und woher weiß die Frau davon? Hat der Mann sie darüber informiert oder hat Gott nach ihrer Erschaffung auch ihr das Verbot bekanntgemacht?8 Der Text lässt dies alles bewusst mit einer Leerstelle offen. Doch auch die Frau gibt Gottes Wort nicht so wieder, wie der Mensch es von Gott erhalten hatte, vielmehr erweitert sie es, indem sie sagt: „Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.“ (Gen 3,2b-3 eü) Einerseits spricht die Frau vom Baum in der Mitte des Gartens, obwohl dort zwei Bäume stehen, nebst dem Baum der Erkenntnis auch jener des Lebens. Weiter fügt sie zum Essverbot auch ein Berührungsverbot hinzu. „Psychologisch ist das eine Übertabuisierung, Ausdruck einer Berührungsangst angesichts des Verbotenen und zugleich unbewusste Betonung seiner Attraktivität.“9 So ist es letztlich das Gesetz selbst, welches zu seiner Übertretung verlockt.10 Die Schlange versucht die Frau zu beruhigen, indem sie ihr sagt, dass sie und der Mann nicht sterben werden, vielmehr werden ihnen die Augen geöffnet und sie werden sein wie Gott und Gut und Böse erkennen.11 Die Frau gelüstet es nach den Früchten des Baumes, die so 7 8

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Nach: Gen 3,1. Buber etwa nimmt an, dass die Frau auf wundersame Weise das Verbot vernahm, als sie noch Rippe des Mannes und so noch nicht als Frau geschaffen war. (Nach: Buber (2003), S. 11f.) Klaiber (2005), S. 59. Nach: Safranski (2011), S. 27. Nach: Gen 3,4f. Maimonides betont, dass die gottgleiche Qualität nicht im moralischen Urteil von gut und böse bestehen könne, sondern in den intellektuellen Fähigkeiten zu sehen sei. Andernfalls würde der Mensch durch das Übertreten des göttlichen Verbots nobler, als er es vor der Sünde war. Maimonides’ Auslegung der Geschichte vom Garten Eden mit Blick auf den Intellekt sowie die Unterscheidung von Gut und Böse findet sich in mn i,2. Er selbst spricht dabei von einer großen Schwierigkeit, vor welche uns die Geschichte vermeintlich stellt: Einerseits kann es zur skandalösen Vorstellung kommen, dass Gott zwar wollte, dass der Mensch einen Verstand besäße, gleichzeitig aber nicht weise sein würde. Andererseits ergibt sich daraus eine witzige Ironie, dass nämlich der Mensch seine wahre Vollständigkeit dank einer Sünde gegen Gott erlangte.

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gut zu essen aussehen, und sie sehnt sich danach, klug zu werden.12 So isst sie von den Früchten, doch nicht etwa, weil sie – wie es ihr die Schlange gesagt hatte – danach strebte zu sein wie Gott (diese Verlockung wird in der Beschreibung der Gedanken der Frau bewusst nicht aufgenommen), sondern weil sie Wissen erlangen möchte.13 Dass die Frau auch dem Mann, der mit ihr war, von den Früchten zu essen gibt,14 ist eine sehr interessante Bemerkung: Der Mann war die ganze Zeit über anwesend, dennoch tauchte er bis jetzt nicht auf. Bisher hätte man sich die Szene auch so vorstellen können, dass die Frau und die Schlange alleine sind. Doch während der ganzen „Verführung“ war der Mann dabei. Weshalb richtete sich die Schlange in ihrer Rede dann aber ausschließlich an die Frau? Und weshalb sagt der Mann während der gesamten Schilderung nicht ein Wort? Man begegnet hier einem sehr interessanten und ungewohnten Rollenbild: Die Frau erscheint als die entscheidende Führungsfigur innerhalb des Paares, sie ist dem Mann übergeordnet.15 Gemeinhin wird sie als böse Verführerin dargestellt, die den Mann zum Essen der verbotenen

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(.15 ’‫ עמ‬,(‫ הרוי )תשמ”ד‬:‫ )לפי‬Mit dem Verweis auf den Intellekt als gottähnliches Moment im Menschen hält Maimonides eine unkörperliche Ähnlichkeit, also eine metaphorisch und amorph verstandene, fest. (Nach: mn i,1.) Die Ebenbildlichkeit gilt dabei nur für den „acquired intellect“ (McCallum (2007), S. 99.), also den erworbenen, angeeigneten Intellekt. Maimonides vertrete damit genau die gegenteilige Position von der üblichen Interpretation: Die Erzählung lehre eben gerade nicht den Aufstieg des Menschen aus den Tieren hin zur Vollkommenheit des Verstandes, sondern ganz im Gegenteil den Abstieg des Menschen weg von der Vollkommenheit des Verstandes hinunter zu den Tieren. (.16 ’‫ עמ‬,(‫ הרוי )תשמ”ד‬:‫)לפי‬ Nach: Gen 3,6. Nach: Schmid (2012,2), S. 96. Nach: Gen 3,6. Für diese Interpretation plädieren etwa Krauss und Küchler: Krauss/Küchler (2003), S. 79f. sowie 85. Die besondere Stellung der Frau ist auch anhand der Schilderung ihrer Erschaffung ersichtlich: Nach mehrmaligem Scheitern (!; vgl.: Gen 2,19f.) lässt Gott einen tiefen Schlaf über den Menschen kommen und bildet aus diesem selbst ein weiteres Geschöpf – interessanterweise das einzige, welches im Garten Eden selbst entsteht, und zwar nicht aus dem Ackerboden oder dem Staub vom Ackerboden wie alle übrigen Geschöpfe, sondern aus der Rippe des Menschen (nach: Gen 2,21), also aus einem bereits von Gott bearbeiteten und umgewandelten Material, welches seinerseits ursprünglich zwar aus dem Staub vom Ackerboden genommen war, nun aber bereits eine andere Qualität besitzt. (Nach: Flasch (2004), S. 31.) Im Gegensatz zum ersten Menschen dagegen wird bei der Frau keine Geisteinhauchung erwähnt. (Nach: Flasch (2004), S. 67.) Genesis Rabba nimmt interessanterweise eine äußerst negative Deutung der Frau vor, indem ihre Erschaffung mit dem Auftreten des Satans parallelisiert wird: „Said R. Hinena son of R. Ada, ‚From the beginning of the Book of Genesis to this passage the letter samech [which is the first letter in the word for Satan] is not used [until the passage, ‚And he

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Frucht verführt hat.16 Hierbei handelt es sich allerdings um die (für Frauen durchaus folgenschwere) Wirkungsgeschichte der Erzählung. Der Text selbst sagt dagegen gerade „nichts über eine Verführung des Mannes durch Worte oder Taten der Frau, sondern nur über eine Verführung der Frau durch die Schlange. Allenfalls hat der Mann auf die Frau ‚gehört‘, d. h. ihr gehorcht, wie ihm Gott vorwerfen wird (Gen 3, 17).“17 Bezüglich der Art der Früchte hat man sich den Kopf zerbrochen. Gemeinhin konnotieren wir damit – zumindest in der christlich geprägten Tradition – einen Apfel. Doch ist zu betonen, dass im Text die gegessene Frucht nicht spezifiziert wird. Wie also kam der Apfel ins Paradies? Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Identifizierung der Frucht des Baumes der Erkenntnis mit einem Apfel aufgrund eines lateinischen Wortspiels zustande gekommen ist. Im Lateinischen heißt Apfel malum (mālum mit langem A). Das lateinische Wort für Böse lautet malum (mălum mit kurzem A). Und so kam folglich das Böse mit einem Apfel in die Welt.18 Dass diese Verbindung wohl über das Lateinische vonstattenging, lässt erkennen, dass es sich hierbei um die Deutungstradition des Abendlandes handelt.19 Auf jüdischer Seite dagegen ging man eigene Wege und beschrieb die Frucht u.a. als „Feige, da anschließend von Feigenblättern als Bekleidung die Rede ist.“20 Werden der Mann und die Frau sogleich sterben, wie man es aufgrund von Gottes Rede in Gen 2,17 erwarten würde, oder hat die Schlange am Ende etwa die Wahrheit gesagt? Ja und Nein.21 Ja, sie hatte Recht, dass die beiden nicht sterben würden – zumindest nicht augenblicklich. Nein, sie hatte nicht Recht,

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closed (sgr) up its place with flesh‘].“ (BerR 17, 6, 2 A, Hervorhebung im Original.) Und weiter: „When woman was created, Satan was created with her.“ (BerR 17, 6, 2 B.) So wird denn die Frau äußerst negativ interpretiert und sogar als Quelle und Ursprung des Bösen geschildert: So hält etwa Flasch fest, Hioronymus habe geschrieben, die Frau sei „bitterer als der Tod. Die Erzählung von Eva beweise: Die Frau ist der Ursprung alles Bösen; durch sie ist der Tod in die Welt gekommen.“ (Flasch (2004), S. 41.) Krauss/Küchler (2003), S. 85, Hervorhebung im Text. Als die Autorin diesen Gedanken hatte, freute sie sich und hatte die Hoffnung, hierüber forschen und zu neuen Einsichten gelangen zu können, allerdings musste sie während ihrer Auseinandersetzung mit Gen 2–3 feststellen, dass diese These bereits erforscht ist und auf verschiedener Seite vertreten wird, so beispielsweise auch: Krauss/Küchler (2003), S. 83 sowie Schmid (2012,2), S. 93. Nach: Krauss/Küchler (2003), S. 83. Ebd. Vgl. hierzu etwa: BerR 15, 7, wobei hier auch Weizen als mögliche gemeinte Pflanze erwähnt ist. So auch Buber: „Dass die Schlange bestreitet, dies würde dann geschehen, ist, wie sich hernach zeigt, so wahr wie unwahr: sie müssen nicht sterben, sowie sie gegessen haben; sie stürzen nur in die menschliche Sterblichkeit, das ist, in das Wissen, dass man sterben

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denn der Mann und die Frau werden sterben: Denn Gott wird sie, wie es am Ende der Geschichte in Gen 3,22–24 geschildert wird, aus dem Garten vertreiben und den Zugang für immer versperren lassen, damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen können22 und so vollends wie Gott werden. Und so werden sie, wenn ihre irdischen Tage abgelaufen sein werden, sterben müssen.23 Im Hinblick darauf, dass ihnen durch den Genuss der Früchte dieses Baumes die Augen geöffnet und sie Gut und Böse kennen werden, hatte die Schlange die Wahrheit gesagt: Denn in dem Augenblick, in dem sie die verbotenen Früchte genossen hatten, wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten, dass sie nackt waren.24 Erstmals schämten sie sich für ihre Nacktheit, die zuvor so selbstverständlich für sie gewesen war. Sie verloren ihren kindlich-natürlichen Umgang mit derselben und versuchten, die einschlägigen Stellen ihrer Körper mit Blättern zu bedecken. Die kindliche Unschuld ist der erwachsenen Aufgeklärtheit gewichen. Dies ist – nebst dem einmal drohenden Tod – der Preis für

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muss – die Schlange spielt mit Gottes Wort, wie Eva mit ihm gespielt hat.“ (Buber (2003), S. 12, Hervorhebung im Original.) Hätte der Baum des Lebens Unsterblichkeit verliehen? Gemäß Thomas von Aquin ist diese Frage zu verneinen, da der Mensch die Unsterblichkeit erst im Moment seiner Vollendung (im Gnadenstand) erlangt hätte. So sagt Thomas von Aquin in De malo: „Wie daher die Stärke des Weines durch Beimischung von Wasser allmählich verringert wird und letztlich wegfällt, so wird die Kraft der Art durch die Beimischung der Feuchtigkeit der Nahrung allmählich verringert und fällt endlich aus. Daher ist es notwendig, dass ein Lebewesen vergeht und letztlich stirbt, wie es im 1. Buch von Über das Werden und Vergehen heißt. Gegen diesen Verlust half der Baum des Lebens durch Wiederherstellung der Kraft der Art zu ihrer vormaligen Lebenskraft durch ihre eigene Kraft. Aber nicht so, dass er einmal als Nahrung genommen die Kraft ewiger Dauer spenden würde. Denn er war vergänglich, daher konnte er durch sich selbst nicht die Ursache unvergänglicher Dauer sein. Aber er stärkte die natürliche Kraft, gemäß einer bestimmten Zeit länger zu dauern, an deren Grenze er wieder genommen werden konnte, um länger zu leben – immer wieder, bis der Mensch in den Stand der Gnade überführt würde. In diesem würde er die Nahrung nicht länger brauchen. So war der Baum des Lebens daher ein Hilfsmittel bis zur Unsterblichkeit. Aber die ursprüngliche Ursache der Unsterblichkeit war die der Seele von Gott verliehene Kraft.“ (qdm q. 5, a. 5 ad 9, Hervorhebung im Original.) Auch Ibn Ezra veranschlagt für den Baum des Lebens nicht das Erlangen der Unsterblichkeit, sondern lediglich die Verlängerung der Lebensspanne. (Nach: Ibn Ezra (1998), S. 81.) An dieser Stelle sei auf eine interessante Interpretation des angedrohten Todes, welche sich bei Ricoeur findet, verwiesen: „Es gibt nichts bis zum Tod, was nicht umgewälzt würde: der Fluch ist nicht, dass der Mensch stirbt (‚denn Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück‘), sondern dass er sich gegen den Tod in der Angst vor seiner Nähe aufbäumt; der Fluch ist die menschliche Weise zu sterben.“ (Ricoeur (2009), S. 282.) Gen 3,7.

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das Wissen und die Selbstständigkeit. Aufgrund der großen Präsenz des Themas Nacktheit in der gesamten Erzählung, wurde und wird oft eine allzu sexuelle Deutung der Geschichte vorgenommen. Das angedeutete Erkennen wird sexuell konnotiert.25 Dazu gilt es zu betonen, dass dies nicht per se falsch ist,26 sondern dass dem Erkennen im Biblischen durchaus eine sexuelle Dimension zukommen kann. So wird das Verb ‫( ידע‬yadá) etwa in dieser Weise verwendet, wenn beispielsweise in Gen 4,1 gesagt wird, Adam erkannte seine Frau und damit der Geschlechtsakt ausgedrückt wird. Doch ist dies eine verengte Sicht, wenn in der Erzählung vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse einseitig die Sexualität bedacht wird. Vielmehr geht es hier um „die Unterscheidung zwischen lebensförderlich und lebensabträglich“27, welche ein Charakteristikum „jeden erwachsenen menschlichen Lebens ist.“28 Und so muss dementsprechend auch das Thema der Nacktheit differenzierte Betrachtung erfahren: So bedeutet es „im Alten Testament weniger die sexuelle Entblößung, sondern ist vielmehr Ausdruck der völligen Schutzlosigkeit. Von daher ist die ‚Schamlosigkeit‘ des ersten Menschenpaares nicht so sehr Ausdruck sexueller Unbefangenheit, sondern Konsequenz eines ungebrochenen Urvertrauens.“29 Dass Mann und Frau sich nach dem Essen der verbotenen Früchte voreinander schämen, liegt also nicht einzig daran, dass sie sich plötzlich in ihrer Sexualität erkennen – wenngleich dies mitschwingt –, sondern es symbolisiert auch das nun gestörte Vertrauen – in sich selbst sowie in die Umwelt. Mit Klaiber lässt sich daher festhalten:

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Siehe hierzu auch beispielsweise ganz explizit Ibn Ezra: „The first is the Tree of Knowledge, which creates the desire for intercourse, and for that reason they covered their nakedness. […] When the man ate from the Tree of Knowledge, he knew his wife, this ‚knowledge‘ being a term for sexual intercourse. It is because of the Tree of Knowledge that the word for sexual intercourse is knowledge. Likewise, a lad, when he {already} knows what is good and bad, begins to desire sexual intercourse.“ (Ibn Ezra (1998), S. 80f., Hervorhebung im Original.) Somit deutet Ibn Ezra auch eine sexuelle Beziehung zwischen Adam und Eva bereits im Paradies an – allerdings erst nach dem Genuss von den Früchten des verbotenen Baumes. Buber dagegen betont, dass die sexuelle Deutung des Erkennens grundsätzlich falsch sei: „Die eine [Interpretation], auf die Erwerbung des geschlechtlichen Verlangens hinweisende, verbietet sich wie durch die Tatsache der Erschaffung von Mann und Weib als geschlechtsreifer Wesen so durch den Begriff des mit der ‚Erkenntnis von Gut und Böse‘ verknüpften ‚Wie-Gott-Werdens‘: dieser Gott ist übergeschlechtlich.“ (Buber (2003), S. 14.) Schmid (2012,2), S. 94. Ebd. Klaiber (2005), S. 57.

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Die Erkenntnis von ‚Gut und Böse‘ beginnt damit, dass die Menschen sich selbst erkennen. Sie erkennen ihre sexuelle Differenz und damit ihre Begrenzung; sie erkennen die eigene Blöße und halten sie nicht aus.[30] Das gebrochene Vertrauen zu Gott zerstört die selbstverständliche Offenheit für den anderen. Die äußere Nacktheit ist Zeichen für eine innere Bloßstellung; die sexuelle Scham ist Symptom für eine tiefere Beschämung, die nur dürftig mit einem Feigenblatt kaschiert werden kann.31 Doch wenn der Mensch nun zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, weswegen lässt er sich dann so oft täuschen und tut etwas vermeintlich Gutes, aus dem aber nur allzu oft schlimme Folgen – sei es für andere oder für ihn selbst – hervorgehen? Und wenn er darum weiß, warum entscheidet er sich dann oftmals für das Falsche, nämlich das Böse? Weshalb bittet König Salomo Gott in 1 Kön 3,9 genau um diese Fähigkeit? Wozu müsste er von Gott etwas erbitten, das er bereits besitzt? Die Erkenntnis- bzw. Unterscheidungsfähigkeit, die der Mensch durch den Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis erlangt hat, scheint also nur eine begrenzte – und nur allzu oft eine verworrene – zu sein. Hier kann Ps 51 evtl. als Verständnishilfe hinzugezogen werden. Denn zwar mag der Mensch die Kenntnis gewonnen haben, doch entsprechend des Erkannten zu handeln, dazu ist sein Wille anscheinend zu schwach. „Wenn Gott seinen ‚heiligen Geist‘ in ihm wirken lässt, kann er ‚heilig‘ leben, d. h. in jener intensiven Lebensgemeinschaft mit dem heiligen Gott, so dass die zerstörerische Unheilsmacht der Sünde gebrochen und der durch sie ausgelöste Unheilszustand unterbrochen wird.“32 Vor Gott bleibt nicht lange unbemerkt, was geschehen ist und so stellt er die beteiligten Parteien zur Rede, angefangen beim Mann, über die Frau bis hin zur Schlange.33 Und wie für Menschen üblich, will niemand Verantwortung für sein Tun übernehmen; jeder versucht, die Schuld auf andere abzuschieben. Gott stellt den Mann zur Rede. Dieser begnügt sich dabei nicht nur damit, der Frau die Schuld zuzuschieben, sondern er macht Gott selbst für dieses Vergehen verantwortlich: Schließlich war es ja Gott, der ihm die Frau als Gehilfin zur Seite gestellt hat.34 Und so wendet sich Gott an die Frau. Diese führt ihrerseits 30

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Vgl. hierzu auch Buber: „Man schämt sich, dass man ist, wie man ist, weil man nun dieses Sosein in seiner Gegensätzlichkeit zu einem gemeinten, gesollten Sein ‚erkennt‘; aber nun ist es wirklich etwas zum Sich-schämen geworden.“ (Buber (2003), S. 19.) Klaiber (2005), S. 61. Zenger (1999), S. 19. Vgl.: Gen 3,9–13. Vgl.: Gen 3,11f. Nach Bereshit Rabba ist genau dies der Grund, weswegen Gott Adam nicht gleich von Anfang an eine passende Gefährtin erschaffen hat, sondern erst nachdem ihn dieser darum bat: „The Holy One, blessed be he, foresaw that later on man would

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ins Gericht, dass sie von der Schlange verlockt worden war.35 Und so wendet sich Adonai Elohim der Schlange zu, welche ihrerseits keine mildernden Gründe vorzuweisen hat. Diese wird sodann auch als einzige der beteiligten Akteure direkt verflucht.36 Mit all diesen Dingen, die bis hierher Erwähnung fanden, schildert die Versuchungserzählung nur allzu menschliche Erfahrungen, die universale Gültigkeit besitzen: (1) Die Verlockung des Verbotenen und der Umgang mit diesem werden paradigmatisch geschildert. So radikalisiert die Frau das eigentliche Verbot um ein Verbot des Berührens, damit sie erst gar nicht in Versuchung geraten kann, sondern so weit wie möglich Abstand von dem verboten Lockenden nimmt. Genau dadurch wird dessen Anziehungskraft gesteigert, sodass ein Scheitern über kurz oder lang gesehen vorprogrammiert ist. (2) Auf dem Weg zum Erwachsenenalter kommen nicht nur Wissen und Aufgeklärtheit hinzu, sondern es geht auch ein großer Teil der kindlich-naiven Unschuld in uns verloren. Die ungezwungene Natürlichkeit weicht dem Gefühl der Scham. Der Mensch beginnt plötzlich, sich auch von außen wahrzunehmen, er beginnt zu realisieren, wie ihn seine Mitmenschen sehen. Er realisiert seine Verletzlichkeit und beginnt, sich zu verbergen, sich den anderen nicht direkt zu zeigen und zwar nicht nur im körperlichen Sinne. (3) Die Konfrontation mit der eigenen Schuld und die entsprechend damit verbundene Bewältigungsstrategie scheinen sich nicht geändert zu haben. Weil man im Grunde genommen genau weiß, dass das, was man gemacht hat, nicht gut war, versucht man es unter den Teppich zu wischen und hofft schlichtweg darauf, dass der Dreck niemals ans Licht kommt. Wird ein Mensch aber dennoch erwischt, so versucht er sich in Ausflüchten und Schuldzuweisungen an andere, er will die Verantwortung für sein Tun nicht übernehmen, sondern macht Gründe geltend, die zumindest mildernd, im besten Fall auch völlig entlastend wirken sollen. Und genau dies macht diese Geschichte auch heute noch so reizvoll, weil wir uns darin ein Stück weit selbst wiedererkennen können. Die Geschichte schildert paradigmatisch Erfahrungen, die jeder von uns schon einmal gemacht hat. Ging die Suche nach dem letztendlich verantwortlichen Akteur vom Mann über die Frau hin zur Schlange, so erfolgt die Bestrafung in umgekehrter Reihenfolge.37 Nachdem die Schlange als Anstifter feststeht, wendet sich Gott ihr zu. Ohne nach dem Grund für die Versuchung zu fragen, geht Gott sogleich zur Strafe über. Klaiber deutet dies dahingehend, dass die Schlange aus dem

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complain to him about [his wife, Eve], so he did not create her until [man] himself had asked for her on his own.“ (BerR 17, 4, 4 B.) Vgl.: Gen 3,13. Nach: Gen 3,14. Nach: Krauss/Küchler (2003), S. 112.

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Grund keinem Verhör unterzogen wird, da sie „nicht im gleichen Masse verantwortlich wie die Menschen“38 ist. Der Fluch trifft die Schlange direkt, sie selbst als Wesen wird verflucht. Von nun an wird sie zur Strafe auf dem Boden kriechen und den Staub essen; Feindschaft wird gelegt zwischen die Nachkommenschaft der Schlange und jener der Frau.39 Mit der Erzählung wird so eine von den damaligen Menschen erlebte Wirklichkeit begründet: Es wird erklärt, weshalb sich Schlange und Mensch Spinnefeind sind. Auch die Frau wird bestraft, indem sie von nun an unter Schmerzen und Lebensgefahr gebären muss.40 Hierin leuchtet aber nebst dem Fluch der schmerzhaften Geburt zugleich auch eine Verheißung auf: Der geschaffene Mensch wird nicht einfach vergehen, sondern er wird über die Generationenfolge fortbestehen. So drückt die Namensgabe Adams diesen Verheissungscharakter richtig aus, indem er Eva zur Mutter alles Lebendigen, zur der Nachkommenschaft das Leben Gebenden macht. Der Text lässt ganz klar darauf schließen, dass rein aufgrund dieser Darstellung keine Abwertung der Sexualität zu rechtfertigen ist. Doch wie lässt sich dies aufgrund des Textbefundes begründen? Wie zu sehen sein wird, werden nur Zustände verschlechtert, die zuvor bereits bestanden, so wird etwa die Arbeit des Mannes, welche er zuvor bereits tätigte, aber noch ohne Mühsal, ihm zur Last und schweißtreibend gestaltet.41 Das bedeutet analog zur Strafe Evas, dass auch sie bereits im Paradies hätte gebären können – somit wäre die Sexualität also im Paradies miteingeschlossen gewesen –, allerdings wäre dieser Vorgang für sie in diesem Zustand der reinen göttlichen Ordnung schmerz- und gefahrlos vonstatten gegangen. Damit kann klar gezeigt werden, dass das erste Menschenpaar die Sexualität bereits vor dem Sündenfall kannte, damals aber noch ein ganz natürliches und unschuldiges, der göttlichen Ordnung entsprechendes Verhältnis dazu hatte. So ist auch die Sexualität von Gott in seiner geplanten Schöpfungsordnung miteingeschlossen und gewollt. Sie stellt also durchaus etwas zutiefst Positives und zentral zum Menschsein Dazugehörendes dar, wenn sie in der rechten Ordnung, nämlich Gottes Schöpfungsordnung und -plan gemäß gelebt wird. Nebst den Geburtsschmerzen wird die Frau dem Manne untergeordnet.42 Daraus lässt sich schliessen, dass Mann und Frau zuvor entweder gleichberechtigt waren oder aber, dass die 38 39

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Klaiber (2005), S. 62. Nach: Gen 3,14f. Interessanterweise wird hierbei das Wort Same verwendet, welches in Bezug auf die Frau eher ungewöhnlich anmutet. Die Vulgata gibt die Passage nicht korrekt wieder: Gemäß dieser Übersetzung wird nicht der Same der Frau den Kopf der Schlange zertreten, sondern die Frau selbst. Nach: Gen 3,16. Vgl.: Gen 3,17–19. Nach: Gen 3,16.

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Frau dem Manne sogar übergeordnet gewesen war und die „natürliche“ Ordnung nun umgedreht wurde. Für letztere Annahme spricht auch die Schilderung der Versuchung: Der Mann taucht darin nicht als wirklicher Akteur auf, vielmehr treibt die Frau die Handlung voran. Damit würde diese Erzählung ein sehr feministisches Bild liefern und für eine gottgewollte Ordnung plädieren, in welcher die Frau an oberster Stelle steht. Hierfür spricht nebst der Schilderung der Handlung auch die Tatsache, dass die Frau als einziges Lebewesen im Garten selbst erschaffen wurde und zwar nicht direkt aus der Erde, sondern aus einem schon bearbeiteten Stoff.43 Analog zu der Deutung der ersten Schöpfungserzählung, in welcher die Überordnung des Menschen durch seine späte Erschaffung als Krone der Schöpfung gedeutet wurde, müsste auch hier durch die Letzterschaffung der Frau deren Überordnung gefolgert werden. Nichtsdestotrotz wurde gerade diese zweite Erzählung der Erschaffung des Menschengeschlechts dahingehend gedeutet, dass die Frau schwächer und daher für die Versuchung anfälliger gewesen sei44 und dies führte schließlich zu ihrer Unterordnung unter den Mann, die sodann nicht mehr als Minderung und Verkehrung der eigentlich in der Schöpfung angelegten und gottgewollten Ordnung wahrgenommen, sondern sogar als die eigentlich richtige und der Frau als Strafe wohlverdient und selbstverschuldet zukommende Ordnung hingestellt wurde. Der Text selbst lässt dagegen ohne Zweifel erkennen, dass diese Unterordnung der Frau nicht die eigentliche Schöpfungsordnung widerspiegelt, sondern eine Minderung, einen Mangel darstellt, den es letztlich zu überwinden gilt. Das Herrschen des Mannes über die Frau wird von den Menschen der damaligen Zeit, welche diesen Text verfassten, durchaus wahr- und ernstgenommen, aber es wird auch in kritischer Weise aufgezeigt, wie es zu diesem aktuellen Zustand gekommen ist, wodurch er letztlich als ungerecht und falsch qualifiziert wird. Es wird festgehalten, dass es nicht immer so wahr: In mythischer Vorzeit gab es keine patriarchale Herrschaft. Zuletzt richtet sich Gott an den ersten Menschen. Wie die Frau, so wird auch dieser nicht selbst verflucht, sondern der Fluch trifft den Ackerboden, den es zu bearbeiten gilt. So wird des Menschen Leben mühselig und anstrengend.45 Die Erklärung zielt darauf ab, deutlich zu machen, weshalb sich die Bestellung des Ackerlandes als so schwierig und kräfteraubend gestaltet. Nochmals wird die Erzählung mit der vorangehenden verknüpft, indem in Gen 3,19 auf die Erschaffung 43 44

45

Nach: Gen 2,21. Vgl. hierzu die Identifikation der Frau mit der Materie: mn iii,8; Fox (1990), S. 186; Klein-Braslavy (2011,1), S. 149; qdm q. 4, a. 7 arg. 4 und 5. Inwiefern die Materie im Gegensatz zur Form als für das malum anfällig angesehen wurde, wird im systematischen Teil an den Positionen Maimonides’ und Thomas’ herausgearbeitet. Vgl.: Gen 3,17–19.

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des Menschen aus Staub hingewiesen wird, zu dem er am Ende seines nun mühseligen Lebens zurückkehren wird. Weder Mann und Frau noch ihr Tun (das Bestellen des Ackerbodens, die Arbeit sowie das Gebären) werden also verflucht. Die einzigen Dinge, welche ein Fluch trifft, sind die Schlange sowie der Ackerboden. Die drei beteiligten Parteien haben gemeinsam, dass sie alle etwas unterworfen werden. Bei den Bestrafungen geht es folglich „um eine Unterwerfung: die Schlange unter die (Nachkommen der) Frau, die Frau unter den Mann und der Mann unter den Tod.“46 Der Tod wurde dem Manne alleine von Gott angedroht. Die Frau wäre an und für sich also davon gar nicht betroffen, wie auch im Rahmen der Strafformulierung an den Mann ersichtlich wird. „[N]ur als Rechtsanhang Adams ist sie mitbetroffen.“47 Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Reihe von Gott durchgeführten Bestrafungen Erklärungen für den aktuellen Zustand liefern soll, ein Zustand, der als unzureichend erlebt und dem ein Sinn abzuringen versucht wird: Die Erkenntnis wird gewonnen, dass dieser Zustand als Strafe für ein Vergehen, die Übertretung eines göttlichen Verbotes, von Gott selbst verhängt wurde, dass sich aber gerade darin erweist, dass dies ein mangelhafter und schöpfungswidriger Zustand ist. Der Text verklärt nicht das Leben im Paradies und will so eine Wirklichkeitsflucht bewirken. Im Gegenteil versucht er, ein realistisches Bild der Gegenwart aufzuzeigen und zu erklären, wie es dazu kommen konnte. Er zeigt die Mängel der Zeit auf und weist darauf hin, dass dies nicht die einzig mögliche Ordnung, ja dass es vielmehr sogar ein zu überwindender, da schöpfungswidriger Zustand ist. Dabei ist der Text aber durchaus so realistisch, dass er erkennt, dass dies unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich ist. Doch übt er sich in Gesellschaftskritik und weitet so den Blick für die eigentlich anzustrebende Ordnung. „Es geht somit in diesen Kapiteln weniger um Schuld und Bestrafung als vielmehr um eine Definition menschlicher Existenz. Die Pointe der Erzählung liegt im Hinweis auf das Paradox, dass der real existierende Mensch zwar Erkenntnis hat wie ein Gott, aber sterben muss wie jedes andere Geschöpf und dies auch weiß.“48 Und so wird ihm auch seine natürliche Grenze, welche ihm als Geschöpf natürlicherweise zukommt, aufgezeigt.49

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Krauss/Küchler (2003), S. 112. Flasch (2004), S. 31. Krauss/Küchler (2003), S. 113. So ist es die Geschöpflichkeit, welche unsere Grenzen bestimmt und uns diese auch bewusst macht, denn „[z]ur Geschöpflichkeit aber gehören wesentlich Grenzen.“ (Greshake (2011), S. 15.)

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Erst jetzt, nachdem das göttliche Verbot übertreten wurde und das Menschenpaar für dieses Vergehen die gerechte Strafe erlitten hat, macht der Mann von seinem ihm von Gott übertragenen Recht der eigentlichen Namensgebung Gebrauch, indem er den Namen der Frau ‫( חווה‬Chawwá; Eva) nennt. In der Erklärung für diese Namenswahl wird eine Verbindung zum Wortstamm leben/Leben (‫ ;חי‬chai) gezogen.50 Dies wird so gedeutet, dass damit einer Tradition entgegengetreten wird, welche die Schlange als Symbol für das Lebensgebende, die mütterliche Schlangengöttin, verehrte.51 Hierfür spricht auch die Verwurzelung der Schlange in der Erzählung als aktive Kraft hinter der Versuchung. Letztlich soll damit also ausgesagt werden, dass das Leben nicht von dieser mütterlichen Schlangengöttin herrührt, sondern es sich einzig und allein Gott zu verdanken hat, indem alles menschliche Leben auf die von Gott geschaffene Frau als Mutter des gesamten Menschengeschlechts zurückzuführen ist.52 Nach dieser Darstellung und Analyse der Verbotsübertretung bleibt zu klären, was der analysierte Bibeltext über die Herkunft des Bösen53 sagt.

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Nach: Gen 3,20. Nach: Krauss/Küchler (2003), S. 100. Nach: Ebd. Nebst der erwähnten Perikope sind weitere Stellen hinsichtlich der Aussagen zum Bösen in der Urgeschichte von Bedeutung, wobei hier insbes. auf Gen 4 sowie auf die Sintfluterzählung verwiesen werden soll. Gen 3 und 4 sind eng miteinander verwoben. Inhaltich setzen sie jedoch auch eigene Akzente, indem Gen 3 die Störung der Beziehung zwischen Gott und Mensch erzählt, Gen 4 dagegen die Störung der Beziehung der Menschen untereinander thematisiert. Gemäß Goodman gibt es einen gemeinsamen Nenner für die Erzählungen vom Paradies bis hin zur Erzählung vom Turmbau zu Babel: Allen ist gemeinsam, dass der Mensch darin versucht, Gott gleich zu werden. (.171 ’‫ עמ‬,(2010) ‫ גודמן‬:‫ )לפי‬Der Mensch ist unzufrieden mit seiner Begrenztheit und seine Sünde resultiert aus dem verborgenen Verlangen in den Tiefen seines Geistes nach Perfektion und damit Göttlichkeit. (.‫ שם‬:‫ )לפי‬Interessanterweise gehen die biblischen Erzählungen von hier aus fortan in umgekehrter Perspektive weiter. (.‫ שם‬:‫ )לפי‬Nun stehen nicht mehr die Sünden des Menschengeschlechts, sondern einer bestimmten Nation im Fokus: Die Sünden Israels erweisen sich grosso modo nicht als Streben zur Gottesannäherung, sondern sie stellen ganz im Gegenteil die Entfernung von Gott dar. (.‫ שם‬:‫)לפי‬ Die Urgeschichte beschäftigt sich nicht mit tatsächlichen Ereignissen, sondern mit dem Wesen des Menschen und thematisiert, weshalb er so ist, wie er ist und eben nicht sein sollte. (Nach: Zenger (1999), S. 24f.) Wie in einem Mythos üblich will hier also keine Historie, sondern etwas viel Grundlegenderes und Universaleres erzählt werden. Zur näheren Auseinandersetzung mit der Urgeschichte und der Frage nach dem Bösen sei insbesondere auf Baumgart (1999), Schüle (2012) sowie Zenger (1999) verwiesen.

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Die Herkunft des Bösen gemäß Gen 2,4b-3,24

Das Geschöpf Mensch hat sich aus freiem Willen zur Verbotsübertretung entschieden, unter kleiner Fremdeinwirkung durch die Schlange, welche diesem Entschluss etwas nachgeholfen hat. Somit ist es zwar der Mensch, der das Böse in Form dieser Übertretung realisiert hat, doch ist er dafür nicht alleine verantwortlich. Er wurde bewusst fehlgeleitet: Die Schlange hat die Menschen mit ihrer Rede bewusst verführt. In diesem Akt der Verführung ist durchaus etwas Böses erkennbar. Der Mensch kann also nicht alleine schuld sein am Zustandekommen des Bösen. Die Schlange scheint bereits von diesem Bösen korrumpiert gewesen zu sein. Dies ist eine äußerst interessante Feststellung. Die Schlauheit der Schlange, durch welche sie sich vor allen anderen Tieren auszeichnet, erscheint in einem ambivalenten Lichte: So scheint in ihr auch eine Listigkeit zu liegen. An der Schlange wird paradigmatisch aufgezeigt, „dass die von Gott in seine Schöpfung gelegte Klugheit zur Infragestellung Gottes missbraucht werden kann.“54 Es liegt der Geschichte fern, ein dualistisches Weltbild zu entwerfen, in welchem Gott eine böse Macht als Gegenspieler gegenüberstünde und als Ursache des Bösen zu gälten hätte.55 Vielmehr wird ja ausdrücklich betont, dass die Schlange ein Geschöpf Gottes ist. Krauss und Küchler halten fest, dass das Buch Genesis „in der Möglichkeit des Bösen eine im Menschen liegende Gegebenheit sieht, deren Ursprung nicht weiter erklärt zu werden braucht.“56 Dass diese Möglichkeit des Entscheidens zum Bösen und damit des Verwirklichens desselben als im Menschen gegeben vorausgesetzt wird, scheint einzuleuchten. Der Text sagt dementsprechend auch nichts dazu, weshalb der Mensch das von Gott aufgestellte Verbot denn auch übertreten wollen kann. Ein freier Wille des Menschen wird somit unreflektiert vorausgesetzt. Doch ist augenscheinlich, dass dieser freie Wille sich – zumindest im Paradies – nicht aus eigenem Ansporn heraus gegen Gottes Willen und Gesetzesordnung auflehnt und entscheidet, sondern dazu eines woher auch immer kommenden Anstoßes – hier der Schlange – bedarf. So halten etwa Krauss/ Küchler mit Blick auf die Schlange hinsichtlich der Erklärung des Bösen in der zweiten Schöpfungserzählung fest: Es könnte durchaus sein, dass die sprechende Schlange die dramaturgische Funktion einer inneren Stimme hat, die jene Aspekte der menschlichen Intelligenz repräsentiert, die man Misstrauen oder Zweifelsucht 54 55 56

Klaiber (2005), S. 59. Vgl. auch: Ebd. Krauss/Küchler (2003), S. 89, Hervorhebung im Original.

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nennen kann. Möglicherweise hat sich der sonst so präzise biblische Erzähler gerade hier bewusst unscharf ausgedrückt, um auf das unerklärbare Rätsel einer in der ‚guten‘ Schöpfung unzweifelhaft bestehenden Möglichkeit zu Boshaftigkeit und Unruhestiftung zu verweisen. Offenbar war für ihn der Mensch in seinem ursprünglichen Stand der Unschuld zwar fähig, eigene Entscheidungen zu treffen, braucht aber, um Gebotsübertretungen zu erwägen, einen Anstoß, dessen Ursprung nicht näher begründet werden kann.57 Es scheint darauf hinauszulaufen, dass ein Großteil der Beantwortung der gestellten Frage im Verweis auf den menschlichen Willen, welcher eben ein freier ist, zu suchen ist. Bis zu dem Grade, bis zu welchem der Ursprung des Bösen nachvollzogen werden kann, scheint somit der Mensch als Urheber in den Fokus zu treten, genauer gesagt: „[S]oweit sein Ursprung überhaupt erklärt werden kann, entspringt es dem Spielraum an Freiheit, den Gott seinen Geschöpfen gibt.“58 Zum ersten Mal wurde diese von Gott dem Menschen eingeräumte Freiheit im Akt des Essens der verbotenen Früchte missbraucht. Die Folge davon war ein zweifach gestörtes Verhältnis, einerseits zu Gott, andererseits aber auch des Menschen zu sich selbst sowie zu seinen Mitmenschen. „Das Böse kam durch die Übertretung des Gebotes Gottes in die Welt, oder in der theologischen Begrifflichkeit ausgedrückt, die Gen 3 noch meidet: die Sünde durch das Sündigen.“59 Doch muss klargestellt werden, dass die Sünde gemäß biblischer Darstellung gerade nicht mit dem „Sündenfall“ in die Welt gekommen ist. Es ist stärker und mehr als nur ein Meiden der Sündenbegrifflichkeit. Die biblische Darstellung in ihrer Gesamtanordnung innerhalb der Genesis, lässt als Programm glasklar erkennen, dass an dieser Stelle noch nicht 57

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Ebd., S. 82. Hick formuliert hierbei eine interessante Feststellung mit Blick auf den unschuldigen Zustand des Menschen im Paradies und der Gebotsübertretung in diesem perfekten Zustand: „It is impossible to conceive of wholly good beings in a wholly good world becoming sinful. To say that they do is to postulate the self-creation of evil ex nihilo! There must have been some moral flaw in the creature or in his situation to set up the tension of temptation; for creaturely freedom in itself and in the absence of any temptation cannot lead to sin. Thus the very fact that the creature sins refutes the suggestion that until that moment he was a finitely perfect being living in an ideal creaturely relationship to God.“ (Hick (1977), S. 250, Hervorhebung im Original.) Mit Ricoeur gesprochen, ist es merkwürdig, dass die Verantwortung für das Böse in Gen 3 nicht ausschließlich dem Urmenschen übertragen, sondern auf Mitakteure (die Schlange und die Frau) ausgeweitet wird. (Nach: Ricoeur (2009), S. 267.) Klaiber (2005), S. 200. Ebd., S. 62.

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die Sünde Eingang in die Welt gefunden hat, sondern „vielmehr erst die Voraussetzung dazu – die Fähigkeit, Gut und Böse zu erkennen und, damit gegeben, die Verantwortlichkeit.“60 An dem bisher Gesagten wird Mehrfaches ersichtlich: Zum einen kam das Böse (aber noch nicht die Sünde) durch die Störung der göttlichen Gesetzesordnung in die Welt, denn in diesem Akt der Übertretung des von Gott gegebenen Verbots hat sich das Geschöpf erstmals gegen seinen Schöpfer aufgelehnt und dadurch die Schöpfungsordnung empfindlich gestört. Zum anderen geschah gerade dies aufgrund eines (verführten) freien menschlichen Willens. Weiter wird aber auch betont, dass der Mensch hierfür eines Anstoßes bedurfte und nicht einfach schon aufgrund seines freien Willens das Verbot übertreten hätte.61 Diesen Anstoß allerdings genauer zu fassen, erweist sich als schwierig. Eindeutig handelt es sich dabei gemäß dem Text nicht um eine böse, mit Gott rivalisierende göttliche Potenz. Das Böse kann auf keinen Dualismus zurückgeführt werden. So wird die Schlange explizit als Geschöpf Gottes dargestellt.62 Genau dies macht aber auch die Deutung schwierig. Ein Dualismus wäre sicherlich insofern viel einfacher nachzuvollziehen, als sichergestellt würde, dass Gott letztlich nicht verantwortlich für das Böse ist – weder direkt, indem er es geschaffen, noch indirekt, indem er seinem Geschöpf die Fähigkeit zur Aktualisierung des Bösen verliehen hat. Und genau hierin besitzt der Text eine inhaltliche, biblische Parallele: So drückt auch Jesaja (bzw. Deuterojesaja) auf die wohl radikalste Weise dieses alleinige Gott-Verdanktsein alles Existierenden aus und wendet sich auf nicht zu überbietende Weise gegen einen dualistischen Ursprung: „Ich erschaffe das Licht 60 61

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Schmid (2012,2), S. 96. So sagt etwa auch Sichère, dass dem freien Willensentscheid der ersten Menschen ein erstes Böses vorausgegangen ist, welches letztlich ein Rätsel, ein „énigme“ bleibt. (Nach: Sichère (1995), S. 73.) Trotz dieser Vorgegebenheit des Bösen, bleibt die menschliche Entscheidung von entscheidender Bedeutung: „En somme, il existe bien un mal plus ancien que l’homme mais qui n’advient pour l’homme que dans la mesure de sa propre décision.“ (Ebd.) Auch Ricoeur weist auf diese Äußerlichkeit des Bösen hin: „[E]s bedeutet, dass das Böse, wiewohl gesetzt, bereits da ist und anzieht; diese Äußerlichkeit ist dem menschlichen Bösen so wesentlich, dass der Mensch, wie Kant sagt, nicht der absolute Boshafte, nicht die Bosheit sein kann; er ist immer nur der nachfolgende Böse, der durch Verführung Bösgewordene; das Böse ist zugleich jetzt ‚gesetzt‘ und immer schon da: beginnen heißt hier fortsetzen; dieses Verführtsein wird in der Äußerlichkeit einer unreinen Berührung symbolisiert; es ist wesentlich, dass das Böse in gewisser Weise erlitten wird: das ist, zwischen Irrtümern, der Wahrheitsgrund jeder Identifikation des menschlichen Bösen mit einem pathos, einer ‚Passion‘.“ (Ricoeur (2009), S. 180, Hervorhebung im Original.) So betont etwa auch Claret, dass die Vorgeschichte des von Menschen gewirkten Bösen – diese Anreize in der Schöpfung – „entscheidend auch von Gott zu verantworten ist.“ (Claret (2011,1), S. 84.)

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und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.“ (Jes 45,7 eü) Im Hebräischen wird hier zweimal das für das schöpferische Handeln Gottes reservierte Verb ‫( ברא‬bará) verwendet und zwar in Zusammenhang mit den beiden Objekten Dunkelheit (‫ )חושך‬und Unheil/Böses (‫)רע‬.63 Ausgerechnet in Bezug auf die beiden negativ konnotierten Elemente wird Gottes Schöpfungshandeln auch verbal mit besonderem Gewicht eigens, unmissverständlich und ausdrücklich betont.64 Somit wird die Einheit der gesamten Wirklichkeit betont: Alles, auch die lebensverneinende Dunkelheit sowie das Böse, verdankt sich einzig und allein Gott, er ist der alleinige Grund aller Dinge.65 Neben ihm gibt es keine anderen 63

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Wie im systematischen Teil aufgezeigt wird, zieht Maimonides für seine Interpretation gerade auch diese Verwendung des Schöpfungsverbs mit Blick auf die negativen Elemente heran. Vgl. z.B. auch Gross: „Bei polaren Aussagen liegt ohnehin der Hauptton häufig auf dem zweiten Glied. ii-Jesaja verdeutlicht dies auch lexikalisch, indem er für das erste Glied jeweils ein unspezifischeres, von menschlichen handwerklichen Tätigkeiten genommenes Verb wählt und dabei variiert […], während er in beiden zweiten Gliedern denselben terminus technicus gebraucht, der im Alten Testament Gottes analogielosem Handeln vorbehalten ist […]. ii-Jesaja lenkt also sprachlich die Aufmerksamkeit auf den je zweiten Teil der polaren Totalitätsaussage, der jeweils ein negativ qualifiziertes Objekt enthält“ (Gross (1996), S. 91.). Bei Gross findet sich auch eine Auflistung weiterer alttestamentlicher Texte, welche das Böse Gottes Wirkmacht zuschreiben. Er konstatiert: „Gott ist verantwortlich auch für Leid und Übel, für Krankheit und Krieg, für Naturkatastrophen und Tod. Dies war auch unbezweifelte Überzeugung. Nicht ob, sondern warum Gott für das Leid verantwortlich ist, wurde gefragt. Alles Gute kommt von Gott, alles Übel vom Menschen: Diese billige Entlastungsstrategie haben sie durchschaut und entlarvt; dafür ist ihnen Gott viel zu wichtig, zu groß, zu mächtig, als dass sie sich einen derartig lächerlichen Gott für die Heile-Welt-Ecke aufdrängen ließen. Sie protestieren dagegen nicht nur in ihrem eigenen Namen, sondern auch im Namen Gottes. Sie sprechen daher nicht von Gott, sondern darüber zu Gott, d.h. sie treiben keine Theodizeespekulation über Gott, sondern das Leid des Unschuldigen wird zentraler Inhalt ihres Gebets, ihres alltäglichen Gottesbezugs.“ (Ebd., S. 94f., Hervorhebung im Original.) Um diese spannende Stelle richtig verstehen zu können, muss der zeitgeschichtliche Kontext beachtet werden: Deuterojesaja richtet sich hier angesichts der Katastrophe des Exils an die Gläubigen und betont, dass Gott der alleinige Herr der Geschichte ist, dass er die Ursache von allem ist. „Um das Grundlegend-Weltumgreifende seiner Einsicht auszudrücken, greift Deuterojesaja hier zur Schöpfungsterminologie. Doch will er nicht eigentlich eine Schöpfungsaussage machen – so, als komme das Böse in der Schöpfung genauso von Gott wie das Gute –, vielmehr die Geschichte will er deuten: Gott wird das ‚Licht‘ und das ‚Heil‘ der Befreiung Israels durch Kyros genauso bewirken, wie er die ‚Finsternis‘ und das ‚Unheil‘ des babylonischen Jochs über Israel gebracht hat.“ (Dietrich/Link (1995), S. 167.) Die Heilszeit zielt nicht nur auf das Wiederherstellen des ursprünglichen

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Götter und es gibt nichts, das seinen Ursprung etwas anderem als Gott zuzuschreiben hat.66 Die Schöpfung – mit ihren guten, aber auch ihren schlechten Aspekten – kann nicht auf einen dualen Ursprung zurückgeführt werden.67 So zeigen beide Texte, Jesaja wie auch Gen 3, dass ein Dualismus nicht vertretbar ist mit dem biblischen Gott. Mit der bewusstseinsverändernden Erkenntnis, dass der Gott Israels nicht nur der Gott dieses Volkes, nicht nur ein Gott unter anderen oder der höchste des Götterhimmels, sondern der einzige Gott ist, setzte sich so auch die theologische Erkenntnis durch, dass alles – eben auch das Böse – keinen anderen Ursprung als den einen Gott haben kann. So besteht

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Zustandes, sondern beinhaltet sowohl für Israel als auch (durch Vermittlung Israels) für die gesamte Welt eine gesteigerte Gotteserkenntnis, sodass der Aussagegehalt zutiefst positiv ist. (Nach: Ebd.) „Sobald man nun aber diesen Satz seines situationsdeutenden und ermutigenden Charakters entkleidet, ihn zu einer generellen Behauptung verallgemeinert und aus ihm allgemeingültige Schlüsse ziehen will, wird alles problematisch.“ (Kessler, H. (2000,1), S. 73.) So hält Wagner mit Blick auf Deuterojesaja (Jes 40–55) für die betrachtete Stelle in Jes 45,7 fest: „Wenn alles, was ist, von Gott kommt, Welt und Mensch, dann muss auch das Böse von Gott kommen, auch wenn es im Menschen liegt. Ein Böses als eigene – etwa dämonische oder satanische – Größe außerhalb Gottes gibt es nicht.“ (Wagner (2012), S. 49.) „Dieser Satz bringt auf den Punkt, was mit einem monotheistischen Gottesbild einhergeht, ja, einhergehen muss: eine Spannweite in der Gottesrede, die größer nicht sein könnte. Licht und Dunkel umfassen die beiden urzeitlichen Größen, die Schöpfung und das Chaos, das Gott überwältigt, in Schach hält und jeden Tag neu besiegt. Licht und Dunkel stehen für Gut und Böse, für Leben und Tod, für eine heilsame Lebensordnung und das die Welt verschlingende Chaos.“ (Bechmann (2012), S. 50.) Doch muss hier angemerkt werden, dass damit Spannungen entstehen, welche die biblischen Texte nicht auflösen, ja nicht einmal aufzulösen versuchen: „Da ist zum einen das streng monotheistische und gänzlich undualistische Postulat in Jes 45,7, demzufolge Gott allein das Gute und das Böse ‚schafft‘, sodass daneben keinerlei Raum für andere Wirkursachen und Mächte bleibt, und zum anderen doch die Voraussetzung eines irgendwie freien Handelns von Menschen und Mächten, doch wird die Spannung zwischen beiden ebensowenig aufgelöst wie die Spannung zwischen der ‚sehr guten‘ Schöpfung und der offenkundigen Gegenwart von bösen Bestrebungen, Handlungen oder gar Mächten in der vorfindlichen Welt.“ (Frey/Oberhänsli-Widmer (2012), S. XVIIIf., Hervorhebung im Original.) Die Spannungen finden sich aber auch im Menschenbild selbst, welches von der Priesterschrift entworfen wird, indem der Mensch nicht nur als Ebenbild Gottes geschildert wird, sondern auch als mit einem bösen Herzen ausgestattet, dem sein böses Trachten entspringt. (Nach: Schüle (2012), S. 20.) „Die Menschen sind zur Herrschaft über die Erde bestimmt, gleichzeitig geht von ihnen aber auch die Gefahr aus, die die Welt in den Untergang stürzt. So gewinnt man den Eindruck, dass es gerade diese sich paradoxierenden Sichtweisen sind, die das Nachdenken über den Menschen innerhalb der Urgeschichte wesentlich vorantreiben.“ (Ebd.)

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die Absicht dieser Aussage nicht darin, die Herkunft des Bösen zu klären und zu sagen, dass Gott für dessen Existenz verantwortlich ist (also eine Kritik an Gott), sondern sein Anliegen ist es, mit allen Mitteln die Einzigkeit Gottes herauszustreichen. Und ebendieses Anliegen schließt die Ablehnung eines Dualismus als Ursprung der Wirklichkeit – und insofern eben auch die Betonung der göttlichen Erschaffung aller Elemente – mit ein.68 Wie Jes 45 spricht sich Gen 3 dezidiert gegen ein dualistisches Erklärungsmodell aus. Was kann in Bezug auf die Fragestellung weiter aus der Erzählung herausgeholt werden? Der Text deutet mehrere Dinge an, lässt aber letztlich offen, woher das Böse kommt.69 Stellt sich die Frage, weshalb der Text sich dazu nicht konkreter äußert: Hat es die Menschen damals nicht beschäftigt, woher das Böse überhaupt kommt, weswegen sich eine theologische Beschäftigung mit dieser Thematik nicht aufdrängte?70 Einige Dinge, welche als Kooperatoren erkannt wurden, wurden in den Text eingearbeitet, anhand derer aufgezeigt werden konnte, wie das immer wieder wahrgenommene Fehlverhalten des Menschen erklärt werden konnte. So scheint es etwas zu geben, das den Menschen zuallererst zum Übertreten der göttlichen Gesetze verleitet. Doch bleibt es trotz dieser Verlockung, komme sie nun von außen oder von etwas Innerem, der Mensch selbst, der sich in freier Wahl mit seinem freien 68

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Auch im täglichen Morgengebet wird diese Textstelle aufgenommen, allerdings wird – um die Rede der Erschaffung des Bösen durch Gott zu vermeiden – im Siddur explizit lediglich bekannt, dass Gott alles, also implizit auch das Böse, geschaffen hat. (Vgl. hierzu: Bollag (2011), S. 24.) Dieses letztliche Offen-Halten der Frage nach dem Ursprung des Bösen scheint eine feste Größe im Tanach zu sein und gilt somit nicht nur für die Erzählung vom Sündenfall. (Vgl.: Frey/Oberhänsli-Widmer (2012), S. xiii.) Görres etwa führt das Böse im Sündenfall auf den Menschen zurück und definiert das in dieser Erzählung dargestellte Böse auf äußerst interessante Weise: „Auch in der biblischen Geschichte vom Sündenfall erscheint das Böse als ein Mangel: Es fehlt den Paradiesesmenschen die Totalität der Zustimmung zum ganzen Gott, zum Ganzen seines Schöpfungsplanes einschliesslich des Unverstandenen und Ungenehmen. Es fehlt das bedingungslose Vertrauen, die totale Identifizierung ohne Besserwissen und ohne misstrauischen Zweifel.“ (Görres (1982), S. 118.) Mit dieser Definition des Bösen in der Erzählung der Verbotsübertretung im Garten Eden als Vertrauensmangel klingt das zentrale Element, welches uns in den Erklärungsversuchen sowohl von Maimonides als auch von Thomas von Aquin begegnen wird, bereits an: Das Böse ist wesentlich als Mangel an etwas Gutem zu definieren. Vgl. hierzu etwa: „Die Bibel will nicht über den Ursprung des Bösen Auskunft geben, sondern von seinem Charakter als Schuld und als unendliche Belastung des Menschen zeugen. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen unabhängig hiervon zu stellen, liegt dem biblischen Autor fern, und gerade dann wird die Antwort nicht eindeutig, direkt sein können.“ (Bonhoeffer (1989), S. 97.)

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Willen zu dieser Übertretung entscheidet. Wie die Erzählungen von Gen 3 und 4 aber eindrücklich festhalten, ist der Mensch erst in dem Moment im vollen Sinne verantwortlich zu nennen und die gewählte Entscheidung sowie die daraus resultierende Tat als Sünde zu qualifizieren, in dem das Wissen um, die Erkenntnis von und damit die Unterscheidung in Gut und Böse gegeben sind. Die Geschichte erklärt mit den nachfolgenden Geschichten der Sündenverstrickung, inwiefern der Mensch verantwortlich für sein Tun und dieses somit Sünde und nicht bloß ein Verfehlen ist. Es wird darüber hinaus ganz grundsätzlich eine Erklärung geliefert, wieso die erlebte Welt sowie die in ihr herrschende Ordnung so ist, wie sie ist, mit all ihren Mängeln.71 Dies wäre sodann das Hauptanliegen des Texts. Vielmehr als die Herkunft des Bösen hätte die Verfasser das Ergründen des Weltzusammenhangs, das Erklären der aktuellen Welt interessiert. So würde es also interessieren, wie das Böse in die Welt gekommen ist, aber nicht, wie und wo dieses Böse überhaupt entstanden ist, woher es kommt usw. Aber dies ist nur eine mögliche Antwort auf die 71

Hiernach wäre diese Erzählung der Ansicht etwa Leibniz’ diametral entgegengesetzt: Leibniz geht – wie weiter oben aufgezeigt worden ist – davon aus, dass unsere Welt die beste aller möglichen Welten darstellt. Die biblische Schilderung in Gen 2–3 dagegen würde die beste aller möglichen Welten – eben das Paradies – sowie den besten aller möglichen Seinszustände des Menschen – nämlich jenen der unschuldigen Geschöpflichkeit, der prälapsarische Mensch, wie er von Gott geschaffen und gewollt war – als eine verlorene beschreiben und erklären, weswegen die heutige Welt nicht mehr so perfekt und schmerzfrei ist. Damit besäße die Schilderung der aktuellen Welt ein ungeheures kritisches Potential: Die Welt, wie sie aktuell ist, ist eben gerade nicht die beste aller möglichen Welten, sondern die Verhältnisse in ihr – zwischen Geschöpf und Gott, aber auch der Geschöpfe untereinander – ist grundlegend und dauerhaft gestört. Diese Störung muss überwunden und zum ursprünglichen Zustand zurückgekehrt werden (wobei eine Rückkehr nicht so leicht möglich ist, da der Eingang zum Garten Eden versperrt ist). Dieses kritische Potential ist dem leibnizschen System völlig abhanden gekommen. Hier wird der aktuelle Zustand verherrlicht und davon abgeraten, irgendetwas daran ändern zu wollen, da dies ja nur zu einer Verschlechterung der aktuellen Gegebenheiten führen würde. Diese optimistische Weltsicht birgt sodann eine große Gefahr: die Gefahr, in den aktuellen Zuständen zu verharren, ohne den Versuch zu wagen, diese zu verbessern. „Damit leugnet er [= Leibniz, v.v.] die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit, das empirische Material zu verbessern. Leibniz stellt das in aller Deutlichkeit heraus, wenn er sagt, sofern wir verstehen würden, wie Gott die Welt schuf, könnten wir uns nicht einmal wünschen, dass irgendetwas in ihr anders sein sollte.“ (Neiman (2004), S. 224.) Damit widerspricht Leibniz der Intention des Textes der zweiten Schöpfungserzählung, wenn dieser tatsächlich so zu verstehen ist, wie oben aufgezeigt. Eine solche Aussage kann rein auf der Grundlage dieses Textes nicht getroffen werden. In der Folge werden wir aber sehen, ob dies evtl. aufgrund einer anderen Perikope möglich ist.

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Frage, weshalb der Text die Frage nach der Herkunft des Bösen nicht weiter ergründet und somit letztlich offen lässt. War es dieses Desinteresse an dieser Frage, war es eine Thematik, welche das altorientalische Denken schlichtweg nicht interessierte? Kam das Interesse an dieser Frage vielleicht erst durch hellenistisch-römisches Denken sowie der damit verbundenen Philosophie auf? Oder drückt dieses Offen-Lassen die Position aus, dass der Mensch letztlich die Herkunft des Bösen gar nicht ergründen kann? So hätte der Text nur jene Komponenten aufgegriffen, welche im Alltag wahrgenommen werden können. Darüber hinaus wäre die vom Menschen und seinem freien Willen losgelöste Herkunft des Bösen in einem gewissen Sinne ausgeklammert worden, da sie von der Wahrnehmung nicht zu ergründen gewesen wäre und die Reichweite menschlichen Erkennens und Denkens überstiegen hätte. Mag es nun so oder so gewesen sein, feststeht, dass genau diese Unklarheit und Offenheit den Raum für spätere Interpretationen offen gelassen hat. Gewisse Aspekte in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Bösen sind im Text vorgegeben, andere können entsprechend der Einsichten der jeweiligen Zeit hinzugefügt werden. Anhand der aufgezeichneten Linie in Gen 3 wird aber unzweifelhaft deutlich, dass der Mensch auf entscheidende Weise mit dem konkreten Auftreten des Bösen in der Welt verbunden ist. Der Hinweis auf seinen freien Willen – und dies ist dem Text durchaus bewusst – stellt für sich alleine genommen allerdings noch keine hinreichende Begründung dar. Denn dass zwischen Gut und Böse unterschieden werden kann, setzt voraus, dass es Gut und Böse – zumindest potenzhalber – gibt. Person X kann nicht zwischen Y und Z wählen, wenn es nur Y gibt. Damit also der menschliche Wille eine echte und freie Wahl zwischen zwei Dingen hat, muss es beide wenigstens hypothetisch ausserhalb seines Willens geben. Es ist aber diese Wahl seines freien Willens, welche dann das eine oder das andere der beiden Wahlmöglichkeiten aktualisiert und in die Realität überführt. Auf dieser Linie scheint auch Paul Ricoeur zu stehen, wenn er schreibt, dass der Mensch bzw. der freie Wille des Menschen nichts über den Ursprung des Bösen aussagt, „sondern nur die Beschreibung des Ortes, wo das Böse auftritt und wo es wahrgenommen werden kann“72. Gemäß Shatz beurteilt es etwa Nachmanides so, dass der freie Wille und damit die Wahlmöglichkeit, welche auf dem Verlust des ursprünglichen Zustands der Unschuld gründet, eigentlich einen Rückschritt darstellen:73 So hält Shatz in seinen Ausführungen zum genannten Theologen fest, dass das 72

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Ricoeur (2002), S. 12. Interessanterweise veranschlagt Ricoeur für die begriffliche Fassung des Bösen bzw. „der Ursymbole des Bösen“ (Ricoeur (2009), S. 175.) die Bündelung im Terminus des unfreien Willens. (Nach: Ebd.) Nach: Shatz (2009, 1), S. 232f.

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erste Menschenpaar vor der Verbotsübertretung analog zu Vorgängen wie der Atmung etc. automatisch, ohne darüber nachzudenken, das Richtige getan hatte, danach aber verloren sie diesen unmittelbaren und automatischen Zusammenhang – das Gute bzw. Richtige zu tun wurde nun zu einem willentlichen Akt der Wahl, der bewussten Entscheidung.74 Nachdem geklärt wurde, worin die zweite Schöpfungserzählung die Herkunft des Bösen ergründet oder eben gerade nicht letztgültig definiert, sind die Betrachtungen zu Gen 2,4b-3,24 an ihr Ende gelangt. Bevor allerdings die erste Schöpfungserzählung in den Blick genommen wird, soll der theologischen Rezeption dieses Textes anhand der Frage nach dem Charakter des hier begangenen Vergehens nachgegangen werden.75 2.3

Die Lehre von der Erbsünde

Die dargestellte Textpassage, oder besser gesagt ihre Interpretation, erhielt in der Theologiegeschichte großes Gewicht, indem darauf aufbauend die Erbsündenlehre76 entwickelt wurde. Das erste Menschenpaar hatte durch den Sündenfall das Paradies verwirkt und von den Folgen dieser Sünde ist – klassischerweise mittels Fortpflanzung bzw. Abstammung (propagatio)77 übertragen 74 75

76

77

Nach: Ebd., S. 232. Gerade die Lehre von der sog. Erbsünde, welche sich u.a. auf Grundlage der Erzählung vom Paradies entwickelte, ist mit Blick auf des Aquinaten Erklärung des Bösen äußerst bedeutsam und kann daher nicht übergangen werden. Es werden lediglich die Grundlinien in der Entwicklung aufgezeigt, ohne dabei Vollständigkeit gerade auch mit Blick auf die konsultierte Literatur beanspruchen zu wollen. Dabei werden die biblischen Grundlagen geklärt, weiter wird auch die Entwicklung der lehramtlichen Theoriebildung (wobei etwa auf Karthago (418) sowie Orange (529), welche vom Tridentinum in großem Stil rezipiert wurden, nicht näher eingegangen wird) durchleuchtet, in einem nächsten Schritt werden neuere Ansätze beispielhaft kurz vorgestellt und zum Schluss soll auch eigenen Überlegungen Platz eingeräumt werden. Die Fülle der Literatur ist immens, beinhaltet diese Lehre doch viel Zündstoff und zählt so zu den am meist diskutierten Theorien überhaupt: „Nur wenige andere ‚Lehrstücke‘ sind in Geschichte und Gegenwart so intensiv und kontrovers bedacht worden – sei es in Gestalt der expliziten Ablehnung, sei es in kreativer theologischer Reformulierung, sei es in säkularisierter Anschlussnahme. Ein Grund dafür ist sicher, dass im Modell ‚Ursünde‘ wesentliche theologische Linien zusammen laufen, so dass theologische Entwicklungen, etwa der Christologie oder des Freiheitsbegriffs, Rückwirkungen für das Verständnis von Sünde und Ursünde zeitigten.“ (Knop (2009), S. 34f.) dh 1513. Dieser Modus wird in Trient explizit abgegrenzt gegen die Vorstellung der Übertragung durch Nachahmung (imitatio), ebenso wird im Text bewusst nicht der konkretere,

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(transfusum)78 – das gesamte Menschengeschlecht betroffen. Niemand (mit Ausnahme von Maria und Jesus) ist von dieser über die Schuld verbundenen menschlichen Schicksalsgemeinschaft ausgenommen. Die Erbsündenlehre besteht insbesondere aus zwei Elementen, welche zusammengebracht werden müssen, um auch bei neuen Konzepten im Rahmen der Tradition zu bleiben: der Allgemeinheit bzw. Universalität der Erbsünde (d.h. die gesamte Menschheit als Schicksalsgemeinschaft betreffend und umfassend) zum einen sowie dem tatsächlichen Schuldcharakter dieser lediglich ererbten und nicht selbst begangenen Sünde zum anderen.79 Seit Augustinus (354–430 n.Chr.)80 ist die Lehre von der Erbsünde – „mindestens in der westkirchlichen abendländischen christlichen Tradition“81 – von zentraler Bedeutung.82 Sie besitzt zweifellos einen biblischen Hintergrund, der nicht einzig und allein auf der Erzählung vom Garten Eden in Gen 2–3 beruht, sondern auch auf weiteren Bibelstellen. Diese biblischen (sowohl alttestamentlichen wie neutestamentlichen) Grundlagen sollen in der Folge dargestellt werden. 2.3.1 Biblische Grundlagen Eine kurze Übersicht hinsichtlich des Alten Testaments findet sich bei Zenger,83 der versucht, die entsprechende Interpretation in den rechten Zusammenhang zu rücken. Nebst Gen 2–3 ist v.a. Ps 51,7 von Bedeutung.84 In beiden Texten wird je ein wichtiges Element der späteren Erbsündenlehre grundgelegt.85 Der Ursprung jenes Aspekts, welcher besagt, dass die eine, ursprüngliche Sünde des ersten Menschenpaares eine Veränderung der gesamten menschlichen Natur zur Folge hatte, welche dazu führte, dass bereits jeder Mensch von Anfang an und noch vor jeder selbstverschuldeten individuellen Sünde86

78 79 80 81 82 83 84 85 86

biologische Begriff der Zeugung (procreatio) bzw. der Zeugungsfähigkeit (generatio) gewählt. Der Verzicht auf den Terminus der Zeugung trägt u.a. dem Anliegen Rechnung, den Modus der Übertragung nicht auf die Sexualität einzuengen. (Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1072.) dh 1513. Nach: Essen (2011), S. 1117. Mit Blick auf Augustins Biographie sei verwiesen auf: Rosen (2015). Wiedenhofer (1999,2), S. 7. Nach: Ebd. Siehe: Zenger (1999). Nach: Ebd., S. 10. Nach: Ebd. Vgl. die Formulierung im Dekret über die Erbsünde des Konzils von Trient: Mit Blick auf die Säuglingstaufe wird dort explizit festgehalten, dass das Neugeborene bereits von

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die Schuld für eine Sünde zu tragen hat, die er nicht selbst begangen, sondern die er sozusagen geerbt hat, ist in Gen 3 zu verorten.87 Dieses sogenannte peccatum originale originans88 – in Unterscheidung zum peccatum originale originatum89 – hatte eine Veränderung der conditio humana zur Folge, die fortan in der Bestimmung als grundlegend sündig besteht. Doch sieht man sich Ps 51 an, wird ersichtlich, dass gemäß biblischen Vorgaben die menschliche Konstitution zwar beschädigt, allerdings nicht gänzlich zerstört ist.90 Dass das Heilwerden der beschädigten Möglichkeiten der menschlichen Existenz jedoch nicht ohne Hilfe möglich ist, geht aus diesem Psalm offensichtlich hervor: Nur von Gott her kann Heilung kommen und die menschliche Konstitution wieder so hergestellt werden, wie sie von Anbeginn her gedacht, gewollt und geschaffen war. Jeder Mensch ist von Anbeginn seines Lebens auch selbst in die Macht der Sünde verstrickt, wodurch der zweite Aspekt (peccatum originale originatum) zum Tragen kommt, der sich im oben erwähnten Psalm findet:91 „Denn ich bin in Schuld geboren; in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.“ (Ps 51,7 eü) Gerade auch dieser Vers hatte weitreichende Konsequenzen in Hinblick auf die Bewertung der menschlichen Sexualität.92 Doch ist es wichtig, ihn im Kontext zu lesen. So hält Zenger fest, dass er insbesondere vor dem Hintergrund des vorangehenden Verses zu interpretieren ist.93 Daraus wird ersichtlich, dass es darum geht, festzuhalten, dass der Mensch von Anfang an – daher der Verweis auf Zeugung und Geburt – hinter seinen Möglichkeiten zurück bleibt und darin an Gott schuldig wird.94 Doch lässt der Verweis auf Empfängnis und Geburt auch eine soziale Dimension der Sünde erkennen: Der Mensch „ist Sünder gerade als Mitglied einer sozialen Gemeinschaft, in die er hineingeboren wird.“95 Er ist in die Sünde verstrickt, dessen waren sich die Verfasser der biblischen Schriften bewusst. Immer wieder taucht auch

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dieser Sünde betroffen ist, welche es sich durch die Geburt zugezogen habe, obwohl es selbst noch keine Sünden begangen hat. (Nach: dh 1514.) Nach: Zenger (1999), S. 10. Gemeint ist mit diesem Begriff also die Sünde Adams (und Evas) oder mit anderen Worten die Ursünde selbst. Dieser Terminus bezeichnet die Erbsünde in den Nachkommen Adams (und Evas), also dasjenige, das übertragen wird und in allen weiterwirkt, das diese aber nicht selbst aktiv begangen, sondern sich sozusagen in einem gewissen Maße passiv zugezogen haben. Nach: Ebd., S. 18. Nach: Ebd., S. 10. Nach: Ebd., S. 17. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd.

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das Phänomen auf, dass ein „Hang der Menschen zum Bösen“96 existiert. Die Sündenverstricktheit des Menschen wird sehr modern betrachtet, insofern das uns aus der Befreiungstheologie bekannte Phänomen von sozialer und struktureller Sünde bereits den Verfassern des at bekannt war.97 Es bleibt allerdings anzumerken, dass Ps 51 keineswegs „[v]on ‚Erbsünde‘ im traditionellen Sinn“98 spricht. Zwar äußert sich dieser Psalm zum Phänomen der Sünde, aber eher im Hinblick auf das Sündigwerden des Einzelnen, wodurch ihm auch seine Ohnmacht bewusst wird.99 Zu einer klassischen Verweisstelle konnte Ps 51,7 für die Erbsündenlehre nur durch das Herauslösen aus dem Kontext und die ausschließliche Fokussierung auf diesen einen Vers – unabhängig von seiner eigentlichen Bedeutung in und anhand seiner Stellung innerhalb des gesamten Psalms – werden. Doch gilt es zugleich festzuhalten, dass auch dies nicht von ungefähr kommt: Es gibt in diesem Psalm durchaus Anklänge an die Erbsündenlehre, indem darauf hingewiesen wird, dass der Mensch von Anfang an 96 97

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Ebd., S. 11. Nach: Ebd. Dennoch qualifiziert Wiedenhofer dieses Phänomen in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie als neu. (Nach: Wiedenhofer (1999,1), S. 40.) Wobei die strukturelle Sünde im Bereich der Befreiungstheologie in der Tat Elemente aufgreift, die zuvor nicht in diesem Lichte gesehen wurden. Gerade im Hinblick auf die strukturelle Sünde, wie sie gemäß Zenger den biblischen Verfassern bewusst gewesen war, gilt es zu bedenken, dass die damaligen Strukturen anders waren als in der heutigen, globalisierten Welt der freien Marktwirtschaft, mit der ganz neue Probleme der Ausbeutung des Menschen und der Sichtweise auf den Menschen als Ressource aufkamen, ja überhaupt erst entstehen konnten, und das Phänomen daher nicht nur in anderer Weise auftrat, sondern folglich auch anders betrachtet wurde. Zweifellos macht die von der Befreiungstheologie als sündhafte Struktur ausgewiesene und in das Bewusstsein der Menschen gerückte soziale oder strukturelle Sünde einen wichtigen Aspekt der Sünde aus. „Soziale Sünde wäre also ein menschliches Übel, das eine dem Bewusstsein der Individuen äußerliche Existenzweise annimmt und sich ihm auferlegt. Exakt auf das spielen wir an, wenn wir von ‚Strukturen der Sünde‘ sprechen. […] Es ist überflüssig darauf hinzuweisen, dass Strukturen nicht sündigen, noch unterdrücken, rauben und morden. Die Strukturen als solche sind unschuldig. Es sind die Träger oder Vertreter der Strukturen, die all dessen fähig sind […]. Solche Handlungsträger gebrauchen die Strukturen zugunsten ihrer Ziele. Sie können das, was sie tun, nur dank der Struktur und auf sie gestützt ausführen […]. Diese ungerechten Strukturen sind für die Gesellschaft das, was die Konkupiszenz für das Individuum ist. Sie führen, ja sie reißen fort zum Bösen. Deshalb können wir von ihnen das sagen, was wir über die Konkupiszenz sagen: sie sind ‚sündhaft‘ (pecaminoso).“ (Boff, Clodovis; Christo, Libanio: Pecado social y conversion estructural, zitiert nach: Vorgrimler (1985), S. 152f.) Auf die befreiungstheologische Betrachtung der Sünde wird in dieser Arbeit aber nicht weiter eingegangen. Zenger (1999), S. 21. Nach: Ebd.

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hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und so auf das vorpersonale Element der Sünde, das uns in Form der Erbsündenlehre begegnet, verwiesen wird, wenngleich auch nicht ausgedeutet wird, woher und wie dies zustande kommt.100 Auf diese universale Sündenverfallenheit des Menschen, von der er immer schon betroffen ist, verweist auch die biblische Urgeschichte. Gerade auch in dem dort (und an vielen anderen Stellen des at, aber auch des nt) über Gott und seine unendliche Liebe, die er seinem sündigen Geschöpf trotz allem entgegenbringt, und die der Grund für dessen Weiterexistenz ist, Gesagten, zeigt sich nach Zenger die grundlegendste Bedeutung der Erbsündenlehre, die somit wesentlich auch über einen positiven Aussagegehalt – wohl nicht in Bezug auf den Menschen, doch in Bezug auf Gott – verfügt: „Die tiefste Bedeutung aller Erbsündentheologie, wie immer sie buchstabiert wird, liegt in dieser ihrer Botschaft vom barmherzigen und lebendigmachenden Gott.“101 Darin erweist sich Gott „als Gott des Lebens gerade angesichts der Sünde des sündigen Menschen […]. Die Radikalität und die Universalität der liebenden Zuwendung Gottes gerade zum sündigen Menschen sind die Realität, die der Radikalität und Universalität der Sünde entgegenwirkt.“102 So ist es Gott selbst, der in seinem Wesen und in seiner Beziehung zum Menschen eben diesem Hoffnung gibt, angesichts seiner Sündhaftigkeit dennoch bestehen zu können, als Sünder angenommen zu sein sowie Barmherzigkeit und Vergebung von Gott erfahren zu dürfen. Neutestamentlich fußt die Theorie von der Erbsünde insbesondere auf Paulus: In seiner Adam-Christus-Typologie (Röm 5,12–21) betont Paulus immer wieder, dass Tod und Sünde durch einen Menschen (Adam) in die Welt gekommen sind. Analog dazu ist auch durch einen Menschen (Jesus Christus) die Rechtfertigung von der Sünde und damit das wahre Leben zu den Menschen gekommen. „Wie es also durch die Übertretung eines einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt.“ (Röm 5,18 eü) Gemäß Zenger ist Röm 5,12 „[d]er klassische Schriftbeleg für die kirchliche Erbsündenlehre“103. Dort heißt es: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ (Röm 5,12 eü) Beeinflusst sei diese Formulierung von der frühjüdischen Theologie gewesen, welche aber durch die paulinische Adam-Christus-Typologie eine Engführung 100 101 102 103

Nach: Ebd. Ebd., S. 33, Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd., S. 9.

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erfahren habe, was historische Missverständnisse zur Folge hatte.104 Es muss hier betont werden, dass es sich hier um eine gravierende und folgenreiche Fehlübersetzung handelt, aufgrund derer es überhaupt erst möglich war, diesen Text heranzuziehen für das, was mit der Erbsünde besagt werden sollte: Die Vulgata, die lateinische Übersetzung der Hl. Schrift, übersetzt Röm 5,12 mit in quo omnes peccaverunt. Das in quo wurde relativisch auf Adam bezogen: in dem alle gesündigt haben. Diese Fehlübersetzung bzw. die damit verbundene schwerwiegende Fehlinterpretation fand Augustinus bei Ambrosiaster (4. Jh. n.Chr.) vor.105 Wenngleich einige Elemente so von Augustinus bereits übernommen werden konnten, so hatte vor ihm dennoch niemand eine solch systematische, alle später wichtigen Elemente umfassende Theorie entwickelt: Kein einziger der Vorgänger sprach von einer eigentlichen (übertragenen) Sündenschuld, auch nicht die Hauptgewährsleute Augustins. Keiner lehrte in diesem Sinne die Erbsünde oder erklärte ihretwegen die Taufe für heilsnotwendig. Keiner hat behauptet oder zu erklären versucht, dass der Mensch kraft Abstammung vor Gott schuldig und so seines ewigen Heils verlustig sei.106 Was nun genau bei Augustinus als Novum passierte, soll in der Folge im Rahmen eines historischen Abrisses durch Antike sowie Mittelalter nebst anderen zentralen Entwicklungslinien der Theorie beleuchtet werden, denn die Erbsündenlehre ist – beeinflusst von Paulus – insbesondere durch Augustinus in die christliche Lehre eingegangen. 2.3.2 Historischer Abriss von der Antike bis zum Mittelalter Erst Augustinus entwickelte einen Schuldzusammenhang des Menschengeschlechts, da anscheinend erst zu seiner Zeit bzw. in dem damaligen gesellschaftlichen Kontext die Notwendigkeit zur Entwicklung einer solchen Lehre gegeben war. Den Kirchenvätern aus der Ostkirche war dieser Gedanke dagegen noch fremd gewesen. „Auch sie sehen die Menschheit in einem allgemeinen Unheilszusammenhang (nicht aber Schuldzusammenhang) verbunden, aber gegenüber der Gnosis107 wurde eher der Gedanke der sittlichen Freiheit und Verantwortung hervorgehoben“108. Hier ging es nicht um die Behauptung 104 105 106 107 108

Nach: Ebd. Nach: Pröpper, ThA ii, S. 998. Ebd., Hervorhebung im Original. Zur Gnosis s. z.B.: Markschies (2001). Wiedenhofer (1999,1), S. 45.

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einer irgendwie von Adam stammenden und über diesen sich im gesamten Menschengeschlecht verbreitenden Erbschuld; vielmehr wurde die Bedeutung des Todes hervorgehoben: Durch Adam kam der Tod in die Welt und damit auch auf alle Menschen, welche von ihm abstammen – keine Erbsünden- bzw. Erbschuldlehre also, sondern eine Erbtodlehre.109 Wiedenhofer bezeichnet Augustinus in der Folge auch als Vater der Erbsündenlehre.110 Erst bei ihm findet sich eine in sich konsistente und alle Elemente umfassende Theorie einer eigentlichen Erbschuldtheorie. Diese entwickelte er als theologische „Sicherheitslinie“ gegen Manichäismus111 und Pelagianismus112.113 Erst diese Konstellation machte den Gedanken einer Schuldgemeinschaft erforderlich. Der Manichäismus, dessen Name auf seine Gründergestalt Mani (ca. 215–276 n.Chr.)114 zurückzuführen ist, vertritt ein dualistisches Weltbild. Augustinus selbst hatte lange Jahre, bevor er sich zum christlichen Glauben bekehrte, den Manichäern angehört, da diese ein einfaches Weltbild vermittelten, das Gut und insbesondere Böse durch die Aufgliederung in zwei gleichwertige Prinzipien viel einfacher zu erklären vermochte, als dies in einem monistischen Weltbild, wie es durch den Monotheismus vorgegeben ist, möglich ist. Gerade in der Spätantike, als die alte politische Ordnung im Westen zusammenbrach, besaß „die religiös-politische Erlösungsbewegung der Gnosis“115 hohe Plausibilität und Anziehungskraft.116 „Der spätantike Mensch wird damit in neuer und radikaler Weise auf sich selbst zurückverwiesen, auf seine Subjektivität und Freiheit, aber auch auf seine Verlorenheit, Gebrochenheit, Ausgeliefertheit und Angst. In dieser Situation der Heimatlosigkeit versprach nun die gnostische Bewegung Erlösung durch Wissen, durch Erkenntnis“117. Mit seiner Hinwendung zum christlichen Glauben, erkannte Augustinus, dass sich die Welt nicht in zwei Prinzipien aufteilen lässt, sondern dass sie vom guten Gott

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Nach: Pröpper, ThA ii, S. 994–996. Nach: Wiedenhofer (1999,1), S. 46. Zum Manichäismus s. z.B.: Böhlig (2007); zu Augustins Auseinandersetzung mit demselben beispielsweise: Drecoll/Kudella (2011). Zur Auseinandersetzung zwischen Augustinus und Pelagius s. z.B.: Teselle (2014); für die weitere Entwicklung der Kontroverse s. beispielsweise den Sammelband: Hwang/Matz/ Casi-day (2014). Ebenso sei für die gesamte Debatte um Pelagius und Augustinus sowie auf die spätere Entwicklung verwiesen auf: Rottenwöhrer (2011). Nach: Wiedenhofer (1999,1), S. 46. Nach: Hick (1977), S. 38. Wiedenhofer (1999,1), S. 46. Nach: Ebd. Ebd., S. 46f.

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gut geschaffen wurde.118 Er erlangte die Einsicht, dass das Böse kein Sein ist bzw. hat, sondern lediglich die Abwesenheit des Guten, absentia boni, ist.119 Für diese Einsicht war insbesondere die Bekanntschaft mit dem Neuplatonismus federführend, zumal „dieses System kein zweites Prinzip kennt, sondern die ganze Wirklichkeit einordnet zwischen das Sein und das Nichts.“120 Weiter gelangte Augustinus zur Überzeugung, dass das Böse nicht einfach so, sondern durch das Tun und den Willen des Menschen auftritt. Der Mensch selbst tritt so immer mehr in den Vordergrund im Hinblick auf die Ergründung des Woher und Warum des Bösen.121 Es „kommt aus der Freiheit des Geschöpfes. Das Böse ist daher in erster Linie Schuld und Strafe: freiwillige Abkehr des Geschöpfs von seinem Schöpfer, der sein Lebensgrund ist, daher schuldhafte Verfehlung seines wahren Grundes und Selbstverfehlung, denen die bösen Folgen auf dem Fuß folgen.“122 Der Grund des Bösen wird im freien Willen des Menschen verortet.123 Dadurch gelingt es Augustinus, dem Bösen nun doch eine positive Wirklichkeit zuschreiben zu können im Sinne einer „moralische[n] Tat des Menschen“124, andererseits wird diese Vorstellung aber auch den biblischen Vorstellungen gerecht: Denn das Böse wird mittels der Ansiedlung im freien Willen nun wirklich zur „Sünde, Schuld vor Gott, und es ist wesentlich Tun.“125 So gelingt Augustinus auch eine ertragbare Aussage im Hinblick auf die Theodizee: Denn entweder erscheint das Böse direkt als Sünde des Menschen oder es kann – wenn es ihn trifft, ohne dass er es selbst verursacht hat – als gerechte Strafe Gottes für die Sünde des Menschen gewertet werden.126 Doch diese Einsicht alleine führte noch nicht zur Entwicklung der Erbsündenlehre. Erst im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen mit dem Pelagianismus konnten diese gewonnenen Einsichten zu dem weiterentwickelt werden, was 118 119 120

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Nach: Ebd., S. 47. Vgl. z.B.: Augustinus, De civ. Dei xi,9; ders., Conf. vii,12. Pröpper, ThA ii, S. 1000. Pröpper findet kritische Worte für diese erste Entwicklungsstufe in Augustins Denken und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit der Thematik: „Als philosophische Theorie jedenfalls, die das Böse entwirklicht, bringt sie sich in den Verdacht einer abstrakten Fiktion, weil sie die Wirklichkeit vor aller Erfahrung in einer Weise prädefiniert, die dann, um durchgehalten werden zu können, mit der Verleugnung der Erfahrung bezahlt werden muss.“ (Ebd., S. 1001, Hervorhebung im Original.) Nach: Wiedenhofer (1999,1), S. 48. Ebd. Vgl.: Augustinus, De libero arbitrio. Pröpper, ThA ii, S. 1005. Ebd. Nach: Ebd., S. 1006. Diese Überzeugung bildet auch den Kern der Erklärung bei Thomas von Aquin, wie im systematischen Teil zu sehen sein wird.

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wir heute als Erbsündenlehre kennen127 – wobei Augustinus die Elemente, welche er in dieser Debatte gegen die Pelagianer anführte, bereits früher entwickelt hatte und nicht etwa erst in der tatsächlichen Konfrontation: Bereits […] in seiner Schrift ‚Ad Simplicianum‘[128] von 397 […] ist der entscheidende Schritt zur strengen Erbschuldlehre vollzogen. Bereits diese Schrift enthält alle wesentlichen Aussagen und konstitutiven Elemente;[129] im Streit mit den Pelagianern und Semipelagianern brauchte Augustinus bloß noch ihre Implikationen zu verdeutlichen und die Konsequenzen klar zu benennen.130 So war Augustinus immer mehr zur Einsicht gelangt, dass der Mensch gar nicht so frei ist, zwischen zwei Dingen zu wählen, wie er anfangs noch geglaubt hatte: Vielmehr will der Mensch das Gute gar nicht, sondern ist von Beginn weg dem Bösen zugewendet.131 Pelagius betonte ebenso die Freiheit des Individuums und damit auch dessen Eigenverantwortung, doch Augustinus sah mit zunehmendem Alter auch den gemeinschaftlichen Charakter in Form einer Schicksalsgemeinschaft, der sich aufgrund seiner biblischen Lektüre sowie pastoraler Notwendigkeiten – etwa die theologische Begründung der Notwendigkeit der praktizierten Kinder- bzw. Säuglingstaufe – ergab.132 Immer mehr treten „die furchtbare Macht des Bösen und der Sünde und die Einzigartigkeit 127 128 129

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Nach: Wiedenhofer (1999,1), S. 48. Augustinus, Ad Simplicianum de diversis quaestionibus. Auf diese Begebenheit weist beispielsweise auch Ricoeur hin und betont, dass dies ohne Zweifel den hinreichenden Beweis zu erbringen vermag, dass die Kontroverse, welche zwischen Augustinus und Pelagius bzw. den Semipelagianern entbrannte, nicht den alleinigen und entscheidenden Grund für die Entwicklung der augustinischen Erbsündenlehre bildet; vielmehr waren die wichtigen Elemente bereits 15 Jahre vor jeglicher Kontroverse nachweislich vorhanden. (Nach: Ricour (1974), S. 152.) Die bereits in Ad Simplicianum auftauchenden wichtigen Kernelemente der augustinischen Erbsündenlehre sind 1. die Vorstellung „einer vererbten Schuld, d. h. [2., v.v.] einer Verfehlung, die Strafe verdient, die [3., v.v.] jeder persönlichen Fehltat vorangeht und [4., v.v.] mit dem Faktum der Geburt selbst verbunden ist.“ (Ebd., S. 153.) Dabei tauchen hier auch wichtige Elemente wie die Verbindung mit der Konkupiszenz und der Fortpflanzung auf. (Nach: Augustinus, Ad Simpl. 2,20.). Pröpper, ThA ii, S. 1010. Nach: Ebd., S. 1010f. Nach: Wiedenhofer (1999,1), S. 48f. Auch Knop weist auf diesen Zusammenhang hin, wenn sie die Kontroverse insbes. am Verhältnis von Gnade und Freiheit festmacht und dabei die Bedeutung der Kindertaufe herausstreicht. (Nach: Knop (2009), S. 26.)

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der Erlösung durch Jesus Christus“133 in den Vordergrund der Überlegungen Augustins. Damit wird die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zusehends betont und so der Aspekt hervorgehoben, dass der Mensch nicht alleine aus diesem Zustand herausfindet.134 Nicht nur aufgrund der von Augustinus betonten Erlösungsbedürftigkeit musste der Pelagianismus in zunehmendem Maße als „Verharmlosung der Sünde“135 erscheinen, sondern auch, weil in ihm zwar der individuelle Charakter und damit die Freiwillig- und Eigenverantwortlichkeit, nicht aber die soziale und damit universal-kollektive Dimension der Sünde bedacht wurde.136 Um sich gegen beide Positionen – Manichäismus 133 134 135 136

Wiedenhofer (1999,1), S. 49. Nach: Ebd. Ebd. Nach: Ebd. Pelagius fußt mit seiner Sicht auf der ostkirchlichen Patristik. Die ostkirchliche Theologie adoptierte das griechische Erziehungsethos in ihre Theologie und sah den Aspekt der Erziehung (paideia) als wesentlichen Punkt im universal-kosmisch verstandenen Heilshandeln Gottes, der oikonomia, das seinen Kulminationspunkt – aber eben nicht seinen Endpunkt – in der Menschwerdung des Logos in Jesus Christus hatte. (Nach: Pröpper, ThA ii, S. 983f.) In diesem menschgewordenen Logos enthüllt sich ein für alle Mal das wahre Wesen des Menschen. (Nach: Ebd., S. 983.) „Deshalb zielt nun das ganze Heilshandeln Gottes darauf ab, das Bild Gottes, das der Mensch ja schon ist, von der Korruption der Sünde zu befreien und es in einem erzieherischen Prozess zu höchstmöglicher Gottähnlichkeit herauszubilden.“ (Ebd., S. 984.) So ist also der patristische Ausspruch, dass Gott Mensch wurde, damit der Mensch Gott werde, nicht im Sinne einer Vergöttlichung gemeint. Vielmehr geht es um das Wiederaufdecken und -entdecken der in der Schöpfung gegebenen (und nie ganz verloren gegangenen) Gottesebenbildlich- und -ähnlichkeit. Mit dem Bild der Vergöttlichung wird also eigentlich der Umstand bezeichnet, „dass die menschliche Freiheit die ihrer eigenen Unbedingtheit entsprechende Erfüllung nicht ohne die Gemeinschaft mit Gott finden kann, was ihre bleibende Unterschiedenheit gerade einschließt: eine Unterscheidung, die der Humanität des Menschen nur zugute kommen kann. Vergöttlichung heißt einfach, dass die wesentliche Dynamik des Menschen an ihr Ziel kommt“ (ebd., S. 985.). Damit ist eine Vermenschlichung gemeint, dass also Gott Mensch wurde, damit der Mensch wieder Mensch – und damit Abbild Gottes – werde. Der menschgewordene Logos leitet uns als paidagogos, als Lehrer, dazu an, in seiner Nachahmung zu diesem ursprünglichen Abbildverhältnis zurückzufinden; die Initiative kommt wesentlich von Gott her, er spricht uns an und wir antworten gleichsam einem automatisch mitschwingenden Resonanzkörper, aber dennoch in Freiheit darauf. (Nach: Ebd., S. 983–985.) Da es für Pelagius nun keine kollektive Sündenverstrickung gibt, kann der Einzelne angeleitet durch den Pädagogen Christus aus seiner individuellen Sündenverfallenheit herausfinden, indem er ihn nachahmt. Es geht also um eine Nachahmung des Lebens und Beispiels Christi, wodurch eine Verengung auf den Tod Christi als Weg aus der Sünde ausgeschlossen ist. Es ist nicht nur Christus, der uns befreien kann, sondern jeder Mensch ist selbst dazu in der Lage, wenn er dem Beispiel Christi folgt. Es ist

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und Pelagianismus – abzugrenzen und nicht Gefahr zu laufen, in eine der beiden ungenügenden und daher unzulässigen Positionen zu fallen, verbindet Augustinus die beiden Elemente individuelle und kollektive („schicksalhafte Verflochtenheit mit der sündigen Menschheit, in die man durch die Geburt eintritt“137) Sünde und verwendet und prägt so für diese Verbindung den Begriff Erbsünde oder auch Ursünde.138 „Im Vordergrund steht nun die unabweisbare, weil vorgegebene Schuldhaftigkeit des Menschen, aus der nur der Tod Christi befreien kann. […] Diese Schuldverfallenheit ist kein unentrinnbares naturales Geschick, sondern sie geht auf den menschlichen Willen, nämlich den Willen Adams zurück, in dem alle Willen eingeschlossen sind“139. Wiedenhofer weist darauf hin, dass die soziale Dimension der Sünde nicht nur darin zu sehen ist, dass eine kollektive Schicksalsgemeinschaft im Sinne eines Schuldzusammenhangs besteht, sondern dass der soziale Charakter der Sünde auch in der Tatsache liegt, dass auch eine individuell begangene und zu verantwortende Sünde immer auch einen Teil des Kollektivs der sozialen Gemeinschaft trifft, da die Sünde „eigentlich immer direkt oder indirekt eine Verfehlung gegen die Gemeinschaft und ihre Ordnung“140 ist.141 Doch wenn der Mensch gar nicht so frei ist, sondern „ins Böse schon eingestimmt hat“142, wie ist es dann überhaupt möglich, diesem Wirkungsfeld zu entrinnen? Die Antwort ist in der göttlichen Gnade zu verorten. Denn sie, die Gott in unser Herz eingestiftet hat, ist es, die uns zu Gott hinzieht – auch das Antworten des Menschen auf diese Gnade verdankt sich ganz und gar der Gnade.143 Wobei Augustinus hier gut paulinisch vorgeht: Im ersten Korintherbrief schreibt der Apostel Paulus: „Was hast du, was du nicht empfangen hast?“ (1 Kor 4,7) So ist letztlich alles Gnade und alles hat sich dieser zu verdanken: „die Einladung, die Antwort, das Durchhalten und die Vollendung.“144 Gottes Einladung erfolgt aus Gnade, die Antwort des Menschen ist nur durch die Gnade möglich, ebenso verdankt sich auch sein Durchhalten in diesem Weg der Gnade ganz der Gnade

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nicht wie bei Augustinus, dass uns alles aus Gnade gegeben werden muss und wir nichts vermögen. Vielmehr geht Pelagius davon aus, dass der Mensch bereits alles besitzt, was er zu diesem Schritt benötigt und diesen Weg so auch aus eigener Kraft – unter Anleitung Christi – gehen kann. Wiedenhofer (1999,1), S. 49. Nach: Ebd. Ebd., S. 49f. Ebd., S. 56. Nach: Ebd. Pröpper, ThA ii, S. 1011. Nach: Ebd., S. 1012. Ebd.

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und auch seine Vollendung ist letztlich ganz aus Gnade geschenkt.145 Hier nun aber begegnen wir auch dem Phänomen der Prädestination: Wenn nämlich die Antwort als Ja nur von der Gnade geschenkt wird, so drängt sich die Frage auf, weswegen einige dann diese Gnade nicht erhalten, Ja sagen zu können. Und genau hier setzt auch der Gedanke der Erbschuld an: Denn die so Verdammten, weil nicht mit der Gnade beschenkt, können gerechterweise von Gott nur dann verdammt werden, wenn sie dies auch als Strafe verdienen, ansonsten wäre Gott als ungerecht zu qualifizieren. Die Vorstellung einer vorbestimmten Erwählung Einzelner und der prädestinierten Verdammnis anderer als solche findet Augustinus nicht stoßend. Erst die Frage, ob die Verdammnis ungerecht erfolgt, entscheidet in seinen Augen darüber, ob die Vorstellung angenommen werden kann oder nicht. Erst und nur dort, wo sie wenigstens nicht ungerecht über die Verdammten ausgesagt bzw. verhängt wird, ist sie für ihn annehmbar. Dank der Vorstellung von der Erbsünde wird für Augustinus genau dies möglich: Zwar sind die Verdammten zur Verdammnis prädestiniert,146 doch 145

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Gerade auch mit Blick auf dieses Gnadenverständnis Augustins ergibt sich ein Konfliktherd mit Pelagius: Denn dieser war der festen Überzeugung, dass der Mensch selbst die Verantwortung für sein Heil trägt. (Nach: Breuning (2011), S. 140.) Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass er sich selbst erlösen könnte, doch wird ihm die Eigenverantwortung nicht so konsequent abgenommen, wie dies im augustinischen Gnadenmodell des „du hast alles empfangen“ der Fall ist. Gemäß Pelagius besitzt der Mensch die Gnade bereits: „Was der Mensch zum guten Handeln benötigt, das hat ihm doch Gott schon gegeben: das Vermögen der menschlichen Natur selbst, namentlich ihre Freiheit, ihre Affinität zum Guten, die Schwerkraft des Gewissens und alles, was zum geschaffenen Menschen als Abbild Gottes gehört – dies alles ist doch schon die Gnade, Gottes Geschenk. Natürlich weiß auch Pelagius, dass die schöpfungsmäßigen Anlagen durch die Sünde beeinträchtigt sind. Aber hat Gott den Menschen denn etwa fallengelassen? Er kommt ihm doch unablässig zu Hilfe: durch die Gesetzgebung am Sinai schon, die Botschaft der Propheten, dann durch Wort und Verhalten Jesu, endlich das Wort der Schrift, die Predigt der Kirche und besonders die Menschen, die das Evangelium beispielhaft leben – diese gleichsam von außen begegnenden Hilfen halten der Freiheit doch ihre Möglichkeit offen, lenken sie auf ihr Ziel, ohne sie jedoch zu determinieren: sie kann also gut handeln und kann es immer, sie muss es nur tun.“ (Pröpper, ThA ii, S. 987, Hervorhebung im Original.) Damit vertritt Pelagius die Ansicht, dass der Mensch durchaus in der Lage ist bzw. wäre, nicht zu sündigen, wodurch es ihm gelingt, die Kontingenz des Bösen festzuhalten, wie Ricoeur richtig hervorstreicht. (Nach: Ricoeur (1974), S. 151.) Die Vorstellung einer doppelten Prädestination zum Guten bzw. zum Bösen stellt allerdings keine Theorie dar, welche Augustinus plötzlich und völlig unvermittelt am Ende seines Lebens aufgrund seiner sich immer verdüsternden und finstereren Weltsicht entwickelt hätte. Vielmehr taucht das Problem, an welchem diese Theorie letztlich aufgehängt wurde, bereits in Ad Simplicianum auf: Es ist die Frage, welche sich aus der Bibelstelle „Jakob habe ich [= Gott, v.v.] geliebt, Esau aber gehasst“, welche in Röm 9,13 auftaucht

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ist es gleichsam nicht ungerecht, da sie – aufgrund der sie als eigene betreffende Schuld Adams – tatsächlich persönlich stafwürdig sind.147 So erweist sich „[d]ie Erbschuldtheorie also als Hilfshypothese der Prädestinationslehre, die ihrerseits eine Konsequenz der Sünden- und Gnadenlehre ist“148. Weshalb aber wurde die Sexualität gerade auch aufgrund des Erbsündendogmas so negativ betrachtet? Was hat sie mit der Lehre von der Erbsünde zu tun? Der Grund liegt in der Art und Weise, wie man sich die Weitergabe dieser ver- und geerbten Schuld vorstellte: Es war der Akt der Zeugung – und damit die Sexualität –, der zur Verbreitung der Erbsünde führte.149 Die Vorstellung

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und die aus einem der sog. zwölf kleinen Propheten, nämlich Maleachi, entnommen ist („Ich liebe euch, spricht der Herr. Doch ihr sagt: Worin zeigt sich deine Liebe? – Ist nicht auch Esau Jakobs Bruder? – Spruch des Herrn – und doch liebe ich Jakob, Esau aber hasse ich. Darum mache ich seine Berge zur Öde und überlasse sein Erbland den Schakalen der Wüste.“ (Mal 1,2–3)), ergibt: Weshalb hat Gott Jakob von Anfang an geliebt, Esau aber gehasst und zwar noch vor deren Geburt, noch vor jeder individuellen Tat (vgl. Röm 9, 11)? Auf diese Frage versuchte Augustinus eine theologisch vertretbare (und so Gott „entschuldigende“) Antwort zu finden. So schreibt er bereits in Ad Simplicianum unter Zuhilfenahme von Röm 9,12a („nicht abhängig von Werken“), dass Esau nicht etwa aufgrund eines göttlichen Vorherwissens seiner späteren Taten verworfen wurde. (Nach: Augustinus, Ad Simpl. 2,8.) Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1018. Siehe hierzu auch: Augustinus, Ad Simpl. 2,16. Augustinus sagt noch in Ad Simplicianum, dass Gott nicht Esau selbst als Menschen bzw. Geschöpf hasst, sondern dass er nur die Sünde an ihm hasst. (Nach: Augustinus, Ad Simpl. 2,18.) Doch damit ist das Problem eigentlich nicht aufgehoben: Weswegen hasst Gott an Esau die Sünde, nicht aber an Jakob, der doch als Mensch genauso von Anfang an in die sündige Maße eingebunden und auch selbst Sünder ist? Und weshalb wählt er die einen zum Gefäss für die Zurechtweisung anderer, die doch selbst genauso strafwürdig wären, aus? Doch stellt dies, wie gesagt, für Augustinus selbst in keinster Weise ein Problem dar, wird doch Esau nicht unverdient verdammt und steht doch uns kein Urteil darüber zu, wem Gott vergibt und wem nicht. So greift er in Ad Simpl. 2,18 auf Röm 11,33 zurück für seine Argumentation: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!“ Und so schließt er bereits bei Ad Simplicianum mit dem Urteil: „Wenn du Geschuldetes nicht bezahlen musst, hast du Grund, freudig zu danken; wenn du es bezahlen musst, hast du keinen Grund, darüber zu klagen.“ (Augustinus, Ad Simpl. 2,22.) Pröpper, ThA ii, S. 1018. Vgl. hierzu etwa Discherl, welcher betont, dass die Erbsündenlehre von Augustinus her „leibfeindliche Tendenzen“ (Discherl (2012, 1), S. 174.) beinhaltet und fördert und als eine ihrer Folgen insbesondere zur „Abwertung des Sexualaktes als Weise der Sündenweitergabe“ (ebd.) führte. Zu einem konkurrierenden Modell von Leib und Geist bei Augustinus s. beispielsweise: Rotenberg (1997). Doch wie Angenendt betont, sind Leib- und Sexualfeindlichkeit gerade nicht direkt auf Augustinus zurückzuführen, da dieser durchaus

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war, dass sich die Erbsünde „auf demselben Weg fortpflanzt wie die menschliche Natur (durch die Zeugung) und daher auch wirklich universal ist.“150 Der zentrale Aspekt ist die Konkupiszenz151, die Begierde, mittels derer gemäß

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auch positive Lichtblicke auf die Sexualität wirft; vielmehr setzten Tendenzen, welche die selbst innerhalb der Ehe gelebte Lust verurteilten, bereits vor Augustinus ein, wobei weiter auch nicht Augustinus selbst, sondern die von ihm ausgehende Rezeptionsgeschichte zu leib- und sexualfeindlichen Tendenzen führten: Vor Augustinus war es gemäß Angenendt bereits Clemens von Alexandrien, welcher die eheliche Geschlechtslust vehement verurteilte und gar als gesetzeswidrig qualifizierte. (Nach: Angenendt (2015), S. 74.) Augustinus dagegen verurteilte „die Sexualität keineswegs grundsätzlich“ (ebd., S. 75.), ganz im Gegenteil entwickelte er vielmehr ein ganz und gar innovatives und „neuartiges Konzept“ (ebd.) in Form der Paradiesesehe. (Nach: Ebd.) Dabei charakterisiert er die im Paradies vorhandene Sexualität als absolut rein und erhaben über jegliche die Sinne und die Vernunft trübende, und im letzten selbstsüchtige Ekstase. (Nach: Ebd.) Die Lust ist es demnach, welche für Augustinus das Übel des Sündenfalls darstellt – und nur der zum Ziel und Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft vollzogene Geschlechtsakt innerhalb der Ehe (jeder darüber hinausgehende Verkehr selbst innerhalb der Ehe, welcher also nur der Befriedigung der Lust dient, ist damit davon ausgenommen) ist ohne Schuld. (Nach: Ebd., S. 75f.) Doch hat Augustinus ein ausschließendes dualistisches Verhältnis zwischen physischer Sexualität und geistiger Kreativität verfochten (vgl. z.B.: Rotenberg (1997), S. 175.), bishin zur Konsequenz, dass Körper und Geist nicht neben- bzw. miteinander existieren können (nach: Ebd., S. 189.) und die sexuellen Triebe abzutöten sind (nach: Ebd., S. 129f.). Als gravierend allerdings sollte sich Augustinus’ Vorstellung der „Übertragung der Erbsünde durch die begehrliche Konkupiszenz“ (Angenendt (2015), S. 77.) herausstellen, welche auf Ps 51,7 zurückzuführen ist und eine folgenreiche Rezeptionsgeschichte in Gang setzte. (Nach: Ebd., S. 77f.) Augustinus kann damit keine generelle negative Sicht auf die Sexualität vorgeworfen werden. Negative Konsequenzen zeitigte allerdings die von ihm forcierte Vorstellung, dass die Erbsünde durch die begehrliche Konkupiszenz übertragen wird. Gerade die willentlich genossene Lust, welche die Vernunft trübt und überwältigt, wird verurteilt. Dabei wirkte sich in der Rezeptionsgeschichte ein minimaler Wandel als maximales Übel aus: „Hatte für Augustinus das willentliche Genießen der Lust die Sündigkeit ausgemacht, so war es nunmehr das unvermeidliche Erleben“ (Ebd.). Augustinus selbst hatte dagegen sowohl die Sexualität als auch die Lust nicht generell als negativ gewertet, erst in der Folge wurde die Lust in jedem Fall, nicht nur bei willentlichem Zustimmen, sondern allein schon beim unweigerlichen Erleben, zu etwas Negativem abgestempelt, was Auswirkungen bis weit in die Neuzeit hinein zeitigte. Wiedenhofer (1999,1), S. 38. Gemäß dem Neuen Lexikon der katholischen Dogmatik wird unter Konkupiszenz Folgendes verstanden: „Der Begriff bezeichnet, weit gefasst, die natürliche Triebstruktur, das Begehren und die sinnliche Begierde des Menschen, der sich auf Gott hin ausrichten oder aber in Sünde verstricken kann. Enger gefasst spielt der Begriff im Kontext der Erbsündenlehre eine Rolle, wo er mitunter pejorativ mit der Leiblichkeit und Sexualität des Menschen in Verbindung steht.“ (Discherl (2012, 2), S. 411.)

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Augustinus die Sünde Adams auf seine Nachkommen übertragen wird.152 Die Begierde erhält so durch Augustinus selbst „schuldkonstitutive[…] Bedeutung“153: „Sie ist zunächst Strafe der Sünde, zugleich Übertragungsmittel der Sünde und nun immer auch selbst Sünde“154. Damit ist aber auch der Sexualakt zwischen zwei Eheleuten als von der Sünde verderbt anzusehen, da er von der Begierde geleitet ist.155 Erst Papst Benedikt xii. sollte 1341 in seinem Schreiben Cum dudum an die Armenier die Aussage treffen, dass weder die Ehe noch der eheliche Vollzug zwischen den Ehegatten Sünde sei.156 Bleibt nochmals anzumerken, dass Augustinus seine Erbsündenlehre gerade auch deshalb an Röm 5,12–21 entwickeln konnte, weil er sich eines falsch in das Lateinische übersetzten Textes bediente.157 Gemäß dieser Übersetzung nahm fatalerweise beispielsweise nicht der Tod seinen Weg zu allen Menschen, sondern die Sünde.158 Weiter wurde Augustinus auch von einem römischen Rechtssatz geleitet, demgemäß die gesamte Familie die Schuld für die Vergehen des Familienoberhauptes bzw. des Stammvaters zu tragen hatte.159 Adam ist aber der Stammvater der gesamten Menschheit. Als pater familias hatte daher nicht alleine er die Schuld für die von ihm begangene Sünde zu tragen, sondern mit ihm zusammen haftete die gesamte Menschheit als seine Familie; wir alle haften als Familienangehörige mit.160

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Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1093. Siehe hierzu z.B.: Augustinus, Enchiridion viii,26. Pröpper, ThA ii, S. 1023. Ebd. Wobei hier eine genauere Differenzierung zu treffen ist: Für Augustinus ist nämlich nur der zwischen den Ehepartnern vollzogene Akt, welcher das hinsichtlich des Zwecks der Zeugung von Nachkommenschaft notwendige Maß übersteigt, Sünde; der Zeugungsakt dagegen bzw. der zum Zwecke der Zeugung notwendige Geschlechtsakt zwischen den Ehepartnern ist auch für Augustinus frei von Schuld. (Nach: Angenendt (2015), S. 75f.) Nach: dh 1012. Ganz anders dagegen noch Papst Gregor der Große: „Obwohl der Papst bei der Pollutio den nicht ethisch zu bewertenden Naturvorgang von dem ethisch zu bewertenden Willensentscheid zu unterscheiden wusste, urteilt er bei der Ehe, die selbst keineswegs als Sünde genommen werden dürfe, für deren Lust anders: ‚Selbst die erlaubte Vereinigung mit der Gattin‘ könne ‚nicht ohne das Verlangen des Fleisches geschehen‘; auch in rechtmäßiger Ehe geboren zu werden, bedeute, ‚in Sünde geboren zu sein‘ (vgl. Ps 51,7).“ (Angenendt (2015), S. 78.) Nach: Fonk (1999), S. 75f. Nach: Ebd., S. 75. Nach: Ebd., S. 76. Nach: Ebd.

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Es bleibt anzumerken, dass hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Pelagius insbesondere von zwei unterschiedlichen Denksystemen161 gesprochen werden kann, welche aufeinander prallten: das östliche, das so von Augustinus nicht mehr geteilt werden konnte, und das westliche. Denn Pelagius teilt mit der Ostkirche die Vorstellung, dass der Mensch als Ebenbild Gottes von Gott alle Anlagen erhalten hat und diese mittels der paideia und der Nachahmung des menschgewordenen Logos wiedererlangen kann: „Rechtfertigung und Heiligung dagegen erreicht der Mensch durch das ‚Exemplum Christi‘, das er nur nachzuahmen braucht.“162 Gerade dies war aber auch der historische Schwachpunkt der Theorie des Pelagius: Denn durch die gewandelten Zeitverhältnisse vermochte dieses Erklärungsmodell nicht mehr die Erfahrungen der Menschen abzudecken und war deshalb heftiger Kritik ausgesetzt.163 Doch wurde Augustins Entwicklung der Erbsündenlehre von weit mehr Faktoren bestimmt: So sind es insbesondere das Problem des Bösen und die damit verbundenen notwendigen Überlegungen zur Theodizee, welchen eine zentrale Bedeutung zukommt.164 Augustins Denken verlief dabei nicht geradlinig direkt zu einer fertig entwickelten Lehre, sondern entwickelte sich vielmehr über mehrere Stufen während seinem gesamten Leben.165 Augustins Lehre wurde im Kern zwar übernommen: So wurde an der jeder persönlichen Sünde zuvorkommenden, von Adam ererbten strafwürdigen Schuld festgehalten. Diese Aussage macht nach Pröpper sodann auch den „harten Kern“166 der augustinischen Erbsündenlehre aus. Andere Teile dagegen wurden im Laufe der Zeit abgemildert: So wurden zunehmend auch die Sündenstrafen für die ungetauft verstorbenen Kinder abgemildert und sie wurden nicht mehr in der Hölle selbst, sondern in der Vorhölle, im limbus puerorum verortet.167 Natürlich konnte auch die Vorstellung einer doppelten Prädestination – wenngleich diese für die Entwicklung der Theorie bei Augustinus von entscheidender Bedeutung war – nicht übernommen werden. Aber auch das 161

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So war Pelagius denn folglich gar kein Häretiker, sondern Vertreter eines überkommenen Denkmodells, das aber durchaus seine Berechtigung hatte, waren doch die ostkirchlichen Kirchenväter, welche dieses Modell noch legitim vertreten hatten, nicht der Häresie bezichtigt worden. Pröpper, ThA ii, S. 988. Noch Schmitz-Moormann konnte dagegen behaupten, Pelagius hätte die Meinung vertreten, „der Mensch könne auch ohne Christus sein Heil gewinnen“ (Schmitz-Moormann (1969), S. 18.). Nach: Pröpper, ThA ii, S. 989. Nach: Ebd., S. 982. Vgl. hierzu: Ebd., S. 998–1018. Ebd., 1027. Nach: Ebd., S. 1042f.

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Wesen der Ursünde selbst wurde, wie Pröpper aufzeigt, nach und nach verändert: So sei es insbesondere Anselm von Canterbury (1033–1109)168 zu verdanken, dass die Begierde – zumindest in den Getauften – nicht mehr als Sünde angesehen worden sei.169 Wie später Thomas von Aquin170 ausformulierte, „besteht die Ursprungssünde ihrer Grundlage nach (materialiter, v.v.) in der Begierlichkeit (concupiscentia, v.v.), ihrem Wesen nach (formaliter, v.v.) aber im Wegfall (defectus, v.v.) der ursprünglichen Gerechtigkeit (iustitia originalis, v.v.).“171 Da die Begierde selbst nun nicht mehr Sünde ist, kann sie auch in den Getauften noch fortwirken und weiterexistieren.172 Die Erbsünde selbst

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Mit Blick auf das Leben Anselms sei auf die maßgebliche Biographie von Southern verwiesen: Southern (1990). Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1043. Zum Verständnis der Erbsünde bei Thomas von Aquin s. z.B. insbes.: qdm qq. 4f. sowie STh i–ii, qq. 81f., aber auch scg iv,50–52. Es sei auch hingewiesen auf Johnson (2007), wo die Position Thomas’ mit jener Augustins verglichen wird. sth i–ii, q. 82, a. 3 resp.; vgl.: qdm q. 4, a. 2 resp. Mit der Bestimmung der Erbsünde als Wegfall der ursprünglichen Gerechtigkeit verweilt Thomas im Erbe Anselms von Canterbury. (Vgl.: Anselm von Canterbury, De conc. virg.) Auch die Erbsünde selbst ist somit privativ charakterisiert. Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1050. Thomas begründet das Fortwirken der Erbsünde in den Getauften wie folgt: „Die Erbsünde ist der ursprünglichen Gerechtigkeit entgegengesetzt, durch die der höhere Teil der Seele sowohl mit Gott vereinigt war als auch die niederen Vermögen beherrschte und sogar den Körper vor dem Verfall bewahren konnte. In der Taufe wird also die Erbsünde in bezug [sic!, v.v.] darauf aufgehoben, dass die Gnade gespendet wird, durch die der höhere Teil der Seele mit Gott vereinigt wird. Der Seele wird aber nicht das Vermögen gegeben, durch das sie den Körper vor dem Verfall bewahren kann, oder durch das der höhere Teil der Seele die niederen Teile ohne Aufbegehren erhalten kann. Daher bleiben nach der Taufe auch die Notwendigkeit zu sterben und die Begierde, die die Materie in der Erbsünde ist. Somit hat sie in bezug [sic!, v.v.] auf den höheren Teil der Seele an der Erneuerung durch Christus teil, aber in bezug [sic!, v.v.] auf die niederen Vermögen der Seele und den Körper selbst verbleibt immer noch das Alte, das von Adam herrührt. Es ist aber ganz offensichtlich, dass der Mensch nicht durch den höheren Teil der Seele zeugt, sondern durch die niederen Teile und durch den Körper. Daher überträgt der getaufte Mensch auf den Nachkommen nicht die Erneuerung durch Christus, sondern die Altlast Adams. Deswegen überträgt er die Erbsünde nichtsdestotrotz auf den Nachkommen, obzwar er selbst frei von der Erbsünde ist, insofern sie Schuld ist.“ (qdm q. 4, a. 6 ad 4.) Was also auf die Nachkommenschaft selbst durch einen Getauften übertragen wird, ist der Teil der Erbsünde, der „auch nach der Taufe [in ihm] zurückbleibt“. (qdm q. 4, a. 6 ad 16.) Dieser Teil aber ist mit der Begierde bzw. dem Zunder der Sünde zu identifizieren (nach: qdm q. 4, a. 6 ad 16.), also der materiale, nicht aber der formale Teil der Erbsünde (vgl.: qdm q. 4, a. 2 resp.).

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wird bei Thomas als habitus173 verstanden. Auch er sieht die Praxis der Kindertaufe als wichtiges Indiz bzw. als einen Beweis dafür, dass es eine von Adam durch Geburt auf alle Nachkommen des adamitischen Menschengeschlechts übertragene Sünde geben muss.174 Weiter sieht Thomas den Sündencharakter hinsichtlich des gesamten Geschlechts gegeben, indem er den Menschen auf zweifache Weise bedenkt: einerseits als Individuum, andererseits aber zugleich auch als soziales Wesen, indem er als Teil einer größeren Gemeinschaft betrachtet wird.175 So hält der Aquinate in De malo fest: Auf jede der beiden Weisen kann ihm eine Handlung zugeschrieben werden. Denn jene Handlung, die er aus eigenem Willen und durch sich selbst tut, kommt ihm zu, insofern er eine einzelne Person ist. Aber insofern er Teil einer Gemeinschaft ist, kann ihm eine Handlung zukommen, die er nicht durch sich selbst und aus eigener Wahl begeht, die jedoch von der ganzen Gemeinschaft oder von der Mehrzahl der Gemeinschaft oder vom Führer der Gemeinschaft begangen wird.176

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Nach: STh i–ii, q. 82, a. 1 resp. Unter einem Habitus ist dabei eine durch wiederholtes Tun anerworbene Grundhaltung zu verstehen, etwas, das gleichsam zu einer zweiten Natur geworden ist („Ebenso sind die Habitus kaum veränderlich, weil sie zur Natur werden“ (scg iii,65.).) und Auswirkungen dahingehend hat, dass die früheren Handlungen die künftigen bestimmen, sodass auch in Zukunft gleich gehandelt wird. Ein Habitus ist also eine Art des Verhaltens, welche man ähnlich dem Pawlowschen Hund antrainiert hat. Der Habitus ist allerdings nicht nur etwas Äußerliches, sondern zu einer zweiten (nicht ersten, da nicht von Natur aus zur Person gehörig, sondern antrainiert) Natur in der Persönlichkeit oder dem Charakter geworden. Zur Habitus-Lehre des Aquinaten s.: Darge (1996). Vgl.: qdm q. 4, a. 1 resp. Interessanterweise hält der Aquinate in seinem Kommentar zum Römerbrief fest, dass die Juden die Vergebung von der Erbsünde in der Beschneidung erlangt haben. Da die Heidenchristen allerdings keinen Anteil am Bund der Beschneidung haben, ist auf sie die Erlösung von der Erbsünde durch die Barmherzigkeit Jesu Christi gekommen. (Nach: cro ix,5.) Dies bedeutet, dass nach Thomas von Aquin durchaus auch Nichtgetaufte Vergebung von der Erbsünde erlangen konnten (und evtl. noch immer können), nämlich in der Beschneidung. Dies gilt zumindest für die Zeit vor Christi Geburt. Ob dies auch angesichts der christlichen Taufe für das jüdische Volk noch immer zutrifft, wird aus dem Text nicht zweifelsfrei ersichtlich – der Grundton scheint allerdings eher dagegen zu sprechen. Vgl.: qdm q. 4, a. 1 resp. qdm q. 4, a. 1 resp. Thomas verweist hierbei auf Aristoteles (en viii, 9; 1168b), wodurch sich von demjenigen, das der Herrscher eines Staates tue, sagen ließe, der Staat selbst tue es.

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Dies ließe sich nun analog auf Adam und die Gemeinschaft des adamitischen Menschengeschlechts übertragen. Im Falle von Adam als „Herrscher“ bzw. als Vater des gesamten Menschengeschlechts handelt es sich also nicht um eine persönliche Sünde, sondern vielmehr um eine Sünde der ganzen Natur,177 an welcher alle Menschen als Glieder am Körper Adams teilhaben. Thomas hält den Gedanken von Schuld und dazu notwendiger Freiwilligkeit wie folgt fest, wobei er auch hier die zweifache Unterscheidung in eigenes Tun und Eingebunden-Sein in eine soziale Schicksalsgemeinschaft vornimmt: Wenn also dieser Mangel, der auf eine derartige Weise durch die Geburt auf diesen Menschen übertragen wird, betrachtet wird, insofern dieser Mensch eine bestimmte einzelne Person ist, so kann ein derartiger Mangel nicht die Natur der Schuld haben. Um die Natur der Schuld zu haben, ist es erforderlich, dass er willentlich ist. Wenn aber jener gezeugte Mensch als ein bestimmtes Mitglied des Ganzen der menschlichen Natur betrachtet wird, die sich vom ersten Vorfahren fortpflanzt, so als wenn alle Menschen ein Mensch wären, so hat der Mangel wegen seinem freiwilligen Anfang die Natur der Schuld. Dieser ist die in einer Handlung bestehende Sünde des ersten Vorfahren.178 Adam selbst nämlich ist als Vorfahr des gesamten Menschengeschlechts nicht als gewöhnliche, sondern als universale Ursache der gesamten Menschheit anzusehen.179 Weiterentwickelt bzw. im Hinblick auf ein entscheidendes Element korrigiert wurde die augustinische Erbsündenlehre nebst Thomas auch im Erbsündendekret des Konzils von Trient.180 Die Erbsünde wird nun „als Mangel an übernatürlicher, heiligmachender Gnade, die jedem aktuellen Handeln immer schon vorausliegt und insofern als transzendentale Bedingung 177

178

179 180

Nach: qdm q. 4, a. 1 resp. Diese Bestimmung der Erbsünde als Sünde der Natur hat weitreichende Konsequenzen: „Da die Erbsünde eine Sünde der Natur ist, so folgt: wie die menschliche Natur aus vielen Teilen zusammengesetzt ist, so gehören viele Sünden zur Erbsünde, nämlich Mängel verschiedener Teile der menschlichen Natur.“ (qdm q. 4, a. 2 ii ad 1.) qdm q. 4, a. 1 resp. Dennoch erfolgt nach Thomas die Strafe nicht für die Schuld eines anderen, sondern für die je eigene Sünde. (Vgl.: qdm q. 4, a. 1 ad 19.) Oder in anderen Worten: Die Erbsünde ist, „wenn sie auf diesen Menschen bezogen wird, wie er eine besondere Person ohne Berücksichtigung der Natur ist, in diesem Sinne eine Strafe. Wenn sie aber auf den Ursprung bezogen wird, in dem alle gesündigt haben, so hat sie die Natur der Schuld.“ (qdm q. 4, a. 2 ad iv.) Nach: qdm q. 4, a. 1 ad 18. Nach: Fonk (1999), S. 77.

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vollkommenen Gelingens der kategorialen sittlichen Handlung anzusehen ist“181, gedeutet.182 Trient übernimmt sodann aber die bereits erwähnte Formulierung des Übertragungsmodus der Erbsünde propagatione, non imitatione von Augustinus.183 Auch an der irrtümlichen Übersetzung und Interpretation des in quo wird festgehalten – und zwar trotz zur damaligen Zeit besseren Wissens: Hatte doch Erasmus von Rotterdam (1466–1536 n.Chr.) – als Erster – darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine Fehlübersetzung handelte.184 Doch weshalb war es erst so spät zu diesem Hinweis gekommen? Erst die Humanisten waren es, welche sich mit dem Ideal des ad fontes wieder den Originalquellen in der Originalsprache zuwandten und so die Bibel nicht einfach in der üblichen lateinischen Übersetzung der Vulgata studierten, sondern in Hebräisch und Griechisch. Dennoch formulierte das Tridentinum – in eindeutiger Kritik an Erasmus von Rotterdam – dass Röm 5,12 „nicht anders zu verstehen [ist], als wie es die überall verbreitete katholische Kirche immer verstanden hat.“185 Für die westliche (katholische und protestantische) Kirche – im Unterschied zur Ostkirche, welche keine solche Lehre entwickelte – macht die Taufe dasjenige Element aus, welches von der Erbsünde reinigt. Doch muss dies kritisch beurteilt werden: War es doch in Augustins System gerade die vorgefundene Praxis der Kindertaufe, welche er für seine Theorie heranzog, und wurde gleichsam im Gegenzug diese seine Theorie zur wichtigen Stütze für die Notwendigkeit der Kindertaufe.186 Diese wechselseitige Koppelung mit der 181 182

183 184 185

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Ebd., Hervorhebung im Original. Dabei wird allerdings zugleich augenscheinlich, dass Trient durchaus nicht nur negativ die Erbsünde beleuchtet, sondern auch auf den positiven Gegenpol – die Gnade – fokussiert. „Es verweist auf die zentrale christologische Achse der Ursündentheologie: Ausgangspunkt, Mitte und Maß ist die Rechtfertigung des Menschen durch Christus. Damit ist der systematische Ort der Ursündenlehre gefunden, von dem aus die theologische Anthropologie aus der Perspektive der Soteriologie in den Blick kommt.“ (Reifenberg (2009), S. 15.) Auf diese Vorrangstellung von Vergebung der Sünden und Erlösung in Jesus Christus weist etwa auch Ricoeur hin. (Nach: Ricoeur (2009), S. 350.) Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1022. Nach: Essen (2011), S. 1092. dh 1514. Allerdings bleibt anzumerken, dass Trient hier die wesentlich ältere Synode von Karthago, welche im Jahre 418 n.Chr. stattgefunden hatte, zitiert. Ursprünglich kann dieses Zitat also nicht als Kritik an der humanistischen Betrachtungsweise der infrage stehenden Bibelstelle gewertet werden, sondern konnte diese Konnotation und diese unmissverständliche Kritik an Erasmus’ Auslegung erst im konkreten historischen Kontext des Tridentinums erhalten: die Bekräftigung der Aussage gegen Erasmus von Rotterdam, dass Röm 5,12 sehr wohl von der Erbsünde spricht. (Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1072.) Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1022.

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Kindertaufe187 war das entscheidende Faktum für die weitere Rezeption und Durchsetzungskraft der augustinischen Erbsündenlehre, wie Pröpper festhält.188 Es handelt sich hierbei folglich in Tat und Wahrheit um einen folgenreichen Zirkelschluss: A benötigt B, um sich Gewicht zu verschaffen, B erhält im Gegenzug aber von A dafür seine theologische Legitimierung. Gerade durch die Wiederentdeckung des Katechumenats durch das Zweite Vatikanum – nicht erst durch die Säuglingstaufe wird der Mensch Teil der rettenden Kirche, sondern bereits durch die Aufnahme in den Katechumenat gehört er der Kirche an (wenngleich es auch keine Zugehörigkeit im Vollsinn ist)189 und erhält Anteil am Heil – und die Tatsache, dass die Erwachsenentaufe das eigentliche Ideal der Taufe darstellt, muss unweigerlich die Frage auftauchen, inwieweit Taufe und Erbsündenlehre zusammengedacht werden müssen. So sind auch 187

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Welche weitreichenden Konsequenzen diese gegenseitige Abhängigkeit zeitigen kann, erkannte bereits Schmitz-Moormann richtig: „Wird der Bezug auf die Sünde Adams fortgenommen, so kann die Kindertaufe nicht mehr zur Vergebung der Sünden gespendet werden […]. Damit würde in dem Maße, wie die Erbsünde als solche fragwürdig wird, weithin auch die kirchliche Praxis der Kindertaufe, so, wie sie heute verstanden wird, hinfällig.“ (Schmitz-Moormann (1969), S. 19.) Kraus dagegen vertritt die Ansicht, dass die Kinder- bzw. Säuglingstaufe durchaus weiterhin eine positive Bedeutung hat, ja vielmehr betont er im Unterschied etwa zur Ansicht der Verfasserin, dass diese sogar sinnvoll sei. (Nach: Kraus (1997), S. 268; die Verteidigung der Säuglingstaufe findet sich bei Kraus auch etwa in folgendem Aufsatz: Ders. (2001), S. 70, Sp. 2.) In das Kraftfeld Gottes kann der Säugling aber auch durch eine bewusste Segnung und dem damit verbundenen Anvertrauen und Gottes-schützender-Macht-Übergeben eintreten. Die Art des Glaubenswegs ist es ja gerade, welche u.a. das Christentum von anderen Religionen unterscheidet: Christin bzw. Christ wird man im Unterschied etwa zum Islam und zum Judentum nicht einfach durch die Geburt in eine dieser Religionsgemeinschaft angehörende Familie: Nein, das zentrale am Christentum ist die bewusste und je eigene Entscheidung zu diesem Glauben sowie die Einsicht in das vertrauensvolle Bekenntnis, dass Jesus der Christus, der Messias ist, der uns als Gottes Sohn das Heil und die Erlösung gebracht hat. Mit diesem Glauben verbunden sind die metanoia (µετάνοια), die Umkehr vom bisherigen Leben sowie der Wunsch, künftig ganz nach Gottes Willen zu leben. Und erst daraus entsteht das Verlangen nach der Taufe auf den dreieinen Gott, durch welche wir mit Christus sterben und mit ihm wiederauferstehen zu einem neuen Leben und zu einer neuen Schöpfung (vgl. Tauftheologie in Röm 6,3–11). Doch genau dieses unterscheidende Merkmal und zentrale Charakteristikum wurde mit der Praxis der Säuglingstaufe aufgegeben. Diese kann in abzuwägenden Einzelfällen tatsächlich sinnvoll sein, sie darf aber niemals den Regel- und Normalfall bilden, der nur in Form der Erwachsenentaufe (bzw. auch der Taufe zur eigenen Entscheidung fähigen und folglich bereits etwas älteren Kinder) als Voll- und Idealform bestehen kann. Nach: Pröpper, ThA ii, S. 1026. Vgl.: lg 14.

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die Entwicklungen hinsichtlich der Lehre vom limbus puerorum insbesondere unter dem Pontifikat Benedikts xvi. zu beachten.190 Und wenn durch die Taufe die Vergebung der Sünden – auch und gerade der Erbsünde – erfolgt, wie kann es dann sein, dass das Kind zweier Getaufter dennoch in Erbsünde empfangen wird? Die Scholastik erklärt dies, wie gesehen, damit, dass die Begierde dennoch als Zunder auch in den Getauften vorhanden bleibt: So betonte Thomas von Aquin, dass auch in den Getauften die Ursprungssünde als Zunder wirksam bleibt. Diesen Zunder aber definiert er als „eine Fehlausrichtung in den niederen Teilen der Seele und des Leibes selbst“191. Mit anderen Worten kann gesagt werden, dass in der Taufe zwar die Schuld getilgt wird, die Ursünde bzw. deren Folgen in Form der korrumpierten menschlichen Natur bleiben aber auch in den Getauften weiterhin vorhanden. Sie bleiben Teil der Schicksalsgemeinschaft Mensch und auch ihre Nachkommen werden in diese hineingeboren. Doch nicht nur das wiedergefundene theologische Bewusstsein, dass die Erwachsenentaufe den eigentlichen Regel- und Idealfall der Taufe darstellt, muss in die Überlegungen zu einer heute sinnvollen Lehre von der Erbsünde einfließen: Gerade auch die Neubestimmung durch das Zweite Vatikanum hinsichtlich der Bewertung der Nichtchristinnen und Nichtchristen muss Konsequenzen für eine konsistente Theologie und damit auch für die davon tangierte Erbsündenlehre haben. Die Menschheit ist nicht als massa damnata, als verdammte Masse, anzusehen, Heil gibt es nicht nur in der (katholischen) Kirche: Vielmehr umfasst Gottes Heilswille grundsätzlich alle Menschen, ist er doch wesentlich universal, und sind alle Menschen guten Willens in sein Heil eingeschlossen. Der Kirche – nicht nur als konstitutionelle Größe verstanden – gehören auch „alle Gerechten von Adam an“192 an. Auch dieser Punkt weist Verbindungen zur erwähnten Neubewertung der Kindertaufe bzw. der Rückkehr zur ursprünglichen Praxis der Erwachsenentaufe auf. Auf jüdischer Seite dagegen gibt es grosso modo keine Erbsündenlehre. Weder Welt noch Menschheit wurden nach der Gesetzesübertretung der Ureltern als schlecht gewertet. Eine große Ausnahme bildet Chasdai Crescas 190

191 192

Siehe hierzu den Bericht der Internationalen Theologischen Kommission aus dem Jahr 2007: Die Hoffnung auf Rettung für ungetauft gestorbene Kinder. Wobei es anzumerken gilt, dass diese Lehre entgegen der breiten Wahrnehmung und wohl auch der gelehrten Praxis niemals mehr als eine theologische Meinung neben anderen war, sie wurde nicht in dem Sinne zu einer offiziellen Lehre der Kirche erhoben, als sie etwa dogmatisch gefasst worden wäre. So hält Hoping fest, dass der limbus eine „freilich niemals dogmatisch definierte Lehre“ (Hoping (2009), S. 189.) darstellte. STh i–ii, q. 81, a. 3 ad 2. lg 2.

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(ca. 1340–1410/11),193 welcher sich mit der Erbsündenlehre auseinandersetzte194 und diese – zusammen mit anderen christlichen Lehren – kritisch zu widerlegen versuchte. Die entsprechende Schrift Crescas‘ heißt denn auch passenderweise Buch der Widerlegung der Grundlehren/Dogmen der Christen.195 Was dabei besonders interessant ist, ist die Tatsache, dass die Überzeugung anklingt, nicht Taufe und Christentum befreiten von der (Ur-)Sünde, sondern allein die Beschneidung: So schreibt er, dass, wenn schon die Notwendigkeit zur Erlösung von der Sünde bestehe, dies viel adäquater und spezieller sei, wenn dies durch das bzw. im Blut der Beschneidung, die ja selbst schon Gebot und Gottesdienst sei, geschehe.196 Ebenso hält Crescas fest, dass es die Thorah des Moshe sei, welche ewiges Leben schenke.197 So interessant dieser einzigartige Ausspruch auf jüdischer Seite auch ist, es bleibt anzumerken, dass hierbei im Hinblick auf das Erlösungsgeschehen lediglich Männer in den Blick genommen werden, wenn auf die Beschneidung abgestützt wird. Frauen dagegen werden als passive Elemente dieses Geschehens völlig aus dem Blick verloren. Die christliche Taufe dagegen mitsamt dem Glauben an Jesus als dem Christus schließt Männer und Frauen gleichermaßen als aktive Subjekte in den Reinigungsprozess von den Sünden und in das Erlösungsgeschehen mit ein. Nach der Behandlung der Ausführungen zur Erbsündenlehre im christlichen wie jüdischen Mittelalter, sollen nun die neuzeitlichen Entwicklungen Betrachtung finden. Insbesondere durch das neuzeitliche Erwachen des Freiheitsbewusstseins ergeben sich gravierende Schwierigkeiten hinsichtlich der Erbsündenlehre: Denn wie soll eine Sünde, die ich nicht selbst begangen habe, sondern die noch jeder eigenen, aktuell-persönlichen Tatsünde vorausliegt, tatsächlich strafwürdig sein? Wie kann ich die Schuld für eine Sünde tragen, die ich nicht begangen habe? Karl Barth etwa hält diesbezüglich fest, dass der Begriff der Erbsünde eine „contradictio in adiecto“198 darstelle: Entweder ist 193 194

195 196 197 198

Zu Crescas sei verwiesen auf:. (2010) ‫הרוי‬ Kosman erwähnt eine Geschichte aus dem babylonischen Talmud, welche den Tod – wie er behauptet ähnlich zur christlichen Erbsündenlehre – als Produkt oder Resultat der geschlechtlichen Sünde erscheinen lässt. (.45 ’‫ עמ‬,(2007) ‫ קוסמן‬:‫ )לפי‬Wobei Kosman hier verkennt, dass die Erbsünde nicht Strafe für eine geschlechtliche Sünde, sondern Folge des Essens der verbotenen Frucht ist und sich höchstens über die Sexualität – wie auch immer konkret, sei hier dahingestellt – überträgt und auf die Nachfahren weiter auswirkt. Die Sexualität ist also nicht Ursache für die Erbsünde, sondern Medium der Weitergabe dieser Sünde bzw. ihrer Folgen. .47–39 ’‫ במיוחד עמ‬,(1990) ‫קרשקש‬ .47 ’‫ עמ‬,‫ שם‬:‫לפי‬ .42 ’‫ עמ‬,‫ שם‬:‫לפי‬ Barth, kd IV/1, S. 558, Hervorhebung im Original.

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etwas Sünde, aber dann ist es kein Erbe – oder aber etwas ist ein Erbe, aber dann ist es keine Sünde.199 In der Folge sollen einige Einwände erwähnt werden, denn das Abstellen auf die Sündenfallgeschichte als historisches Ereignis, welches eine der notwendigen Grundvoraussetzungen der Erbsündenlehre bildete, musste früher oder später zu einer Krise führen, sobald diese Historizität infrage gestellt würde. 2.3.3 Moderne Problemkonstellation sowie neuere Ansätze Die fragwürdigen, hinterfrag- und auch von historischer Seite widerlegbaren Voraussetzungen der Theorie lassen sich mit Essen wie folgt zusammenfassen: Die Schöpfungs- und Sündenfallgeschichte von Gen 2 und 3 wurde realgeschichtlich und mithin der Sündenfall Adams als historisches Ereignis aufgefasst. Dazu gehörte ebenfalls die Vorstellung von einem paradiesischen Zustand zu Beginn der Menschheitsgeschichte. Die historische Fixierung der Ursünde auf den Beginn der Menschheitsgeschichte wiederum erzwang ein Festhalten am Monogenismus, demzufolge die Menschheit von einem Menschenpaar abstammte. Der Monogenismus sicherte zudem den generativen Zusammenhang aller Menschen in der Sünde, sofern und weil die Erbsünde auf demselben Weg der natürlichen Zeugung fortgepflanzt werde wie die menschliche Natur.200 Dieses biologistische Modell der Übertragung der Erbsünde konnte in der Neuzeit nicht länger aufrechterhalten werden. Ist es nun aber möglich, die gegebenen Vorstellungen neu zu formulieren, um den Inhalt in Absehung des in der Urgeschichte anzusiedelnden und einmaligen Ereignisses, wie es in Gen 2–3 begegnet, darstellen zu können, wie es gemäß Essen Kant und Kierkegaard unternommen hatten,201 oder ist die Theorie aufzugeben, da die Vorstellung einer jedem eigenen Handeln zuvorkommenden und dennoch persönlich strafwürdigen Schuld dem heutigen Denken als widersinnig erscheint? So sieht Essen aufgrund der Erkenntnisse Kants auch für die Theologie die 199

200 201

Nach: Ebd. Im Unterschied zur Erbsünde zeichnet sich ein Erbe gerade dadurch aus, dass es auch ausgeschlagen werden kann; im Falle der Erbsünde aber wird nicht danach gefragt, ob man dieses Erbe antreten will oder nicht, was bedeutet, dass dem davon betroffenen Subjekt nicht frei steht, wie es sich dazu verhalten will. Aus diesem Grunde auch kann nicht von einem Erbe gesprochen werden, weswegen Barth den Begriff Ursünde vorzieht. (Nach: Ebd.) Essen (2011), S. 1093. Nach: Ebd., S. 1094.

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Aufgabe gestellt, die Erbsünde wie dieser wesentlich vom Phänomen der menschlichen Freiheit her zu bedenken und sie als Freiheitsbestimmung zu fassen.202 Konsequenterweise werden denn auch nicht nur auf Seiten der Philosophie gewichtige Einwände gegen die Erbsündenlehre erhoben, sondern auch die Theologie setzt sich intensiv mit der Thematik auseinander – gerade 202

Nach: Ebd., S. 1098. Kant hält in seiner 1793 erschienen Religionsschrift fest, dass der Hang zum Bösen dem Menschen angeboren ist bzw. noch jeder Tat vorausgeht, zugleich aber als freiheitliches Geschehen dennoch individuell, persönlich zurechenbar ist. (Nach: Kant (2003), B36 [38] – B37 [38].) Mit dieser Betonung der Freiheit geht auch die Ablehnung der Vorstellung der Vererbung einher. (Nach: Ebd., B40 [40] – B41 [40].) Kant hält dabei fest, dass der Hang zum Bösen nicht in dem Sinne zur menschlichen Natur gehört, dass wir mit diesem erschaffen wurden und er zu unserer notwendigen Beschaffenheit gehört. Vielmehr betont er die Kontingenz dieses Ereignisses, dass also zunächst ein Unschuldszustand anzunehmen und der Mensch erst später ins Böse gefallen ist – der Grund hierfür bleibt aber nach Kant unbegreiflich. (Nach: Ebd., B45 [42] – B48 [44].) Diese letzte Unauflösbarkeit des Problems hängt mit der doppelten Annahme der Verantwortung der Freiheit bei gleichzeitig bereits vorgefundenem Zustand zusammen. (Nach: Honnefelder (2005), S. 175.) In einem etwas längeren Zitat von Honnefelder soll die Bedeutung der Verbindung von Freiheit und Schuld wiedergegeben werden: „Doch weist der Terminus Schuld über die Tat hinaus in spezifischer Weise auf den Täter der Tat und seine Freiheit als den Ursprung der Tat. Damit erscheint die Freiheit zur bösen Tat als das eigentlich Böse bzw. Übel. Dies ist vor allem dann Maß zwingend, wenn Freiheit nicht nur – wie etwa bei Aristoteles und der ihm in diesem Punkt folgenden Tradition – als die Möglichkeit verstanden wird, dem Urteil der praktischen Vernunft folgen zu können, sondern als Charakteristikum eines Willens erscheint, der als ein Vermögen ursprünglicher Selbstbestimmung begriffen wird. Denn dann liegt der Ursprung der Schuld nicht nur im falschen Urteil der Vernunft bzw. in der Schwäche des Willens, dem richtigen Urteil zu folgen, sondern in der Möglichkeit des Willens, sich überhaupt für eine als moralisch böse beurteilte Tat entscheiden zu können. Denn ursprüngliche Selbstbestimmung impliziert, dass – und zwar gerade dann, wenn dem Willensakt ein richtiges Urteil der praktischen Vernunft voraufgeht, – es der Wille als Wille ist, der sich aus seiner Freiheit heraus zum Bösen entscheidet, wenn er eine Wahl trifft, die dem moralisch verpflichtenden Urteil der Vernunft entgegenläuft. Dies gilt gerade dann, wenn der Wille nicht als ein blindes, sondern als ein rationales Vermögen betrachtet wird, das also solches auf das Gute als das Erstrebenswerte hingeordnet ist. Seine eigene freie Entscheidung zu der als böse beurteilten Tat wird zum unerforschlichen und zugleich anstößigen Phänomen. […] Die Möglichkeit der Schuld erscheint – wie von Kant herausgearbeitet – als ein radikales, d.h. ursprünglich Böses. […] Anthropologisch erscheint dieses in der Möglichkeit der Schuld bestehende Böse bzw. Übel als ein in der Natur des Menschen gelegener Selbstwiderspruch, theologisch wird das Phänomen unter dem Begriff der Erbsünde thematisiert, in der klassischen Theodizee zieht es die Frage nach sich, warum Gott ein Wesen schafft, das durch diese Möglichkeit und das damit verbundene Übel gekennzeichnet ist.“ (Ebd., S. 190, Hervorhebung im Original.)

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auch aufgrund der Anforderungen durch den angedeuteten Wechsel in der Bedeutung des Freiheitsgeschehens. Wie Claret aufzeigt, ist der Beginn der theologischen Diskussion um die Erbsünde Anfang der 50-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts anzusetzen.203 Der Höhepunkt der Debatte war im folgenden Jahrzehnt, nämlich Ende der 60-er Jahre des 20. Jh. erreicht.204 Die Berechtigung dieser Lehre – mit durchaus leidvoller Vergangenheit, gerade auch im Hinblick auf die Limbus-Theorie – erscheint heute als immer fragwürdiger und zwar nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in kirchlichen Kreisen.205 Begonnen hat diese Entwicklung allerdings bereits im 18. Jh., als das Individuum immer mehr in den Fokus geriet und so eine Haftung für fremdverschuldete Sünde immer weniger haltbar erschien.206 „Sobald aber aus der religiösen Sündenerfahrung vor Gott eine moralische Vorstellung wurde, musste die Erbsünde in der Tat unverständlich werden.“207 Nicht nur die Frage nach der individuellen Schuldverantwortlichkeit, sondern auch die Verbindung der Erbsündenlehre mit der negativen Sicht auf die menschliche Sexualität lässt dieses Thema heute immer mehr auf Ablehnung stoßen.208 Essen stellt einige aktuelle Versuche einer theologischen Auseinandersetzung mit der Erbsündenlehre dar, von denen einige im Folgenden kurz zusammenfassend Erwähnung finden sollen. Dabei müssen diese Theorien, um auf der Linie der Tradition stehen zu können, die beiden zentralen Elemente der Universalität auf der einen sowie des Schuldcharakters auf der anderen Seite miteinander verbinden können, wobei genau dies aufgrund des neuzeitlichen Sündenverständnisses wesentlich als Freiheitsgeschehen problematisch ist209 und ein eigentliches Dilemma darstellt. Rahner versucht dies dadurch aufzuweisen, dass er den Menschen als immer auch mitbestimmt durch die Mitund Umwelt versteht: Denn diese sind „konstitutiv für die Selbstvermittlung menschlicher Freiheit.“210 So prägt nach Rahner die Freiheitsgeschichte der anderen Menschen auch die eigene Geschichte.211 Dass die Freiheitsgeschichte anderer Menschen durchaus Konsequenzen für unser eigenes Leben zeitigt, erhellt bereits aus der Definition von Freiheit: Die eigene Freiheit ist begrenzt durch die Freiheit anderer, meine eigene Freiheit endet dort, wo die Freiheit 203 204 205 206 207 208 209 210 211

Nach: Claret (2011,2), S. 8. Nach: Ebd. Nach: Wiedenhofer (1999,1), S. 7. Nach: Ebd. Ebd. Vgl.: Ebd. Nach: Essen (2011), S. 1116. Ebd., S. 1118. Nach: Rahner (1999), S. 109f.

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des anderen beginnt. So geht aus Rahners Entwurf hervor, „dass die Freiheitssituation eines jeden Menschen immer schon mitbestimmt und mitgestaltet ist durch fremde Schuld.“212 Auch für die eigene Freiheitssituation spricht Rahner von einer „Schuldbestimmtheit“213. In der Tat ist es so, dass ein Mensch immer auch durch seine Mitwelt mitbestimmt wird und dass „fremde Schuld die realen Möglichkeiten der Selbstbestimmung der Freiheit ihrerseits bestimmt.“214 Der Hinweis, dass die Mitwelt unser Dasein in entscheidender Weise mitprägt und wir in sündige Strukturen eingebunden sind, ist durchaus wichtig. Doch muss mit Essen festgestellt werden, dass diese Theorie die Vorgaben der traditionellen Erbsündenlehre nicht in genügender Weise aufnimmt, da die so verstandene Schuld dem Individuum zu äußerlich bleibt: „[D]ie Erbschuld [wird] in die externen Bedingungen der Genese menschlicher Freiheit [lokalisiert]!“215 Das gestellte Problem vermag sie folglich indes nicht zu lösen: Wie Schuldübertragung funktionieren soll, wird nicht geklärt. Als weiterer Ansatz, welcher die neuzeitliche Freiheitsbestimmung des Menschen nicht in die Überlegungen miteinbezieht und so das Problem des Zusammendenkens von Schuldübertragung und persönlicher Freiheitsentscheidung zu umgehen vermag – ob dies angesichts des neuzeitlichen Denkens allerdings legitim ist, sei dahingestellt –, soll die Theorie Pannenbergs216 angeschnitten werden. Wesentlich für sein Verständnis ist die Bestimmung des Menschen als zwischen Zentriertheit und Exzentrizität Stehender.217 Analog zu Augustinus versteht Pannenberg die Sünde ihrem Wesenskern nach als Selbstliebe (amor sui) bzw. „Ichzentriertheit“218 des Individuums, welches sich seiner eigentlichen Bestimmung, die exzentrisch in erster Linie auf Gott hin, in einem zweiten Schritt aber auch auf den anderen Mensch hin zu verstehen ist, verschließt.219 Durch diese Bestimmung des wesentlichen Kerns der Sünde als Egozentrizität, welche eine „Selbstverfehlung des Menschen“220 hinsichtlich seiner Bestimmung auf die Exzentrizität hin nach sich zieht, gelingt es Pannenberg, die Sünde in „den Naturbedingungen unseres Daseins“221 zu verorten, wodurch es ihm 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221

Essen (2011), S. 1119. Rahner (1999), S. 113. Essen (2011), S. 1122. Ebd., Hervorhebung im Original. Aufgrund der von Pannenberg aufgestellten Erbsündenlehre entfachte eine heftige Debatte zwischen demselben und Pröpper. Siehe dazu: Pröpper (2001); Pannenberg (2000). Nach: Pannenberg (1983), S. 77. Ebd., S. 106. Nach: Ebd., S. 104–107. Ebd., S. 104. Ebd., S. 104, Hervorhebung im Original.

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gelingt, den Aspekt der Universalität der Erbsünde einzuholen: „[I]n seinen naturhaften Ursprüngen [ist der Mensch] immer schon durch die Struktur solcher Sündhaftigkeit gekennzeichnet.“222 So geht Pannenbergs Entwurf hinsichtlich des universalen Charakters der Erbsünde hin zu einer „strukturelle[n] Allgemeinheit der Sünde“223: Die Universalität der Sünde ist auf ihre Verortung in den Strukturen des Menschen selbst zurückzuführen. Essen hält denn auch bezüglich Pannenbergs Erbsündenlehre fest: „Kern des Erbsündendogmas ist nach Pannenberg, dass ein jedes Individuum von Geburt an selbst schon Sünder ist.“224 Indem Pannenberg die Sündhaftigkeit in der Struktur der naturalen Verfasstheit des Menschen verortet, gelingt es ihm aber nicht nur, deren Universalitätscharakter auszudrücken, sondern er kann auch das Problem einer wie auch immer gearteten, evtl. gar biologisch zu verstehenden Übertragung der Schuldhaftigkeit umgehen.225 Wie Essen aufzeigt, führt im Rahmen dieses Entwurfs kein Weg an einer Entkoppelung von Urheber und Verantwortung vorbei:226 Denn diese sündhafte strukturelle Verfasstheit des Menschen ist jeder individuellen Entscheidung bereits vorgegeben; das Individuum ist für diese natürlich vorgegebenen Strukturen seines Daseins nicht verantwortlich zu machen.227 So ist diese Naturbegebenheit der sündhaften Strukturiertheit menschlichen Daseins nicht durch eine freiheitliche Tat des Menschen zu erklären.228 Verantwortung des Menschen erscheint in diesem System erst dort, „wo der Mensch sein Dasein übernimmt.“229 Dies führt zu einer gewichtigen Konsequenz in Pannenbergs Ansatz: „Entscheidend ist, dass die individuelle Verantwortlichkeit Pannenberg zufolge ohnehin nur begrenzt anwendbar ist auf die Erbsünde.“230 Diese Vorgegebenheit der sündigen Struktur innerhalb des Daseins des Menschen zieht eine Aufforderung des Menschen zur Überwindung dieses Zustands und damit verbunden auch eine Aufforderung zur Öffnung des selbstverschlossenen Ichs auf den exzentrischen anderen nach sich. Wohl ist also der Mensch nicht verantwortlich hinsichtlich der seinem Dasein vorgegebenen Struktur der Ichbezogenheit, jedoch ist seine Verantwortung dort anzusetzen, wo er diesen Zustand nicht überwindet.231 „Folglich 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231

Ebd. Ders. (1991), S. 282. Essen (2011), S. 1127. Nach: Ebd., S. 1128. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd. Ebd. Nach: Ebd., S. 1129.

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kommt die Sünde als Freiheitsgeschehen erst dort in den Blick, wo der Mensch den Zustand der Sünde affirmiert und damit in den Widerspruch seiner Freiheit einwilligt.“232 Durch diese Entkoppelung des natural vorgegebenen Zustands vom Freiheitsgeschehen lässt sich mit Essen kritisch anfragen: „Wer ist Täter jener Verkehrung des Verhältnisses von Egozentrizität und Exzentrizität, die vorgängig zum individuellen Handeln geschieht und gleichwohl ‚Selbstverfehlung des Menschen‘ sein soll?“233 Wie kann hier vernünftigerweise von Selbstverfehlung gesprochen werden, wenn diese Struktur bereits vorgegeben ist? Eine solche Unterbelichtung des Aspekts der menschlichen Freiheit vermag nicht alle heute gestellten Anfragen zu erklären, ebenso wird die Frage nach der jeder individuellen Tat vorgegebenen Schuld nicht befriedigend geklärt. Natürlich gibt es unzählige neuere Ansätze hinsichtlich der Erbsündenlehre, welche die von der Neuzeit gestellten Probleme auf die eine oder andere Weise zu lösen oder zu umgehen versuchen, doch sollen diese beispielhaften Erwähnungen hier an dieser Stelle genügen.234 Dagegen sollen noch einige eigene Gedanken Erwähnung finden, da die Herausarbeitung weiterer Elemente zur Beantwortung der Frage nach der Herkunft des Bösen beitragen kann. Das Grundproblem und den Hintergrund der Überlegungen bildet die Frage, ob Schuld überhaupt übertragbar ist, ob also die Erbsünde für den Einzelnen – obwohl jeder eigenen Freiheitstat zuvorkommend – tatsächlich strafwürdige Schuld ist oder nicht. Zwar wurde diese Ansicht gerade auch mit Trient lehramtlich gutgeheißen, doch stellt sich die Frage, ob aufgrund der neuen Gegebenheiten – es sei hier an das neuzeitliche Freiheitsbewusstsein zu denken, aber auch an die Tatsache, dass die augustinische Erbsündenlehre stark beeinflusst war von Augustins zunehmend düsterem Welt- und Menschenbild und insbesondere eine nachweislich falsch übersetzte Bibelstelle zur Bekräftigung hinzugezogen wird – diese Theorie nicht grundlegend neu zu überdenken bzw. aufzugeben und neu zu formulieren ist.235 Dass andere Wege prinzipiell möglich sind und auch tatsächlich beschritten wurden, wurde indes anhand der Position des Pelagius deutlich. Wie soll eine fremde Sünde dermaßen auf 232 233 234

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Ebd. Ebd., S. 1130, Hervorhebung im Original. Ein weiterer interessanter Ansatz findet sich beispielsweise bei Hoping, welcher sich bei Essen kurz kritisch dargestellt findet: Ebd., S. 1131–1144. Bei Hoping selbst: Hoping (1990); ders. (1994); ders. (2009). Siehe hierzu das zur Methodik im Hauptteil (iv Systematischer Teil) Ausgeführte. Die Hermeneutik ist insbesondere bei Angehrn überblicksmäßig nachzulesen: Angehrn (2003).

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jemanden übertragbar sein, dass diese quasi zu seiner eigenen und damit strafwürdigen Schuld wird? Muss hier nicht besser wieder ein Schritt hinter Augustinus zurückgemacht werden? Es gibt einen theologischen Kern, der selbst unveränderlich ist, die Art und Weise, wie diese theologische Aussage allerdings ausgedrückt und vermittelt werden kann, ist an die jeweiligen Kontexte gebunden.236 Im Falle Augustins und der Erbsündenlehre kann aber nicht nur von einem kontextuellen Zeitbezug die Rede sein, sondern muss vielmehr auch die enge und folgenschwere Verstrickung mit der Person des Augustinus selbst berücksichtigt werden, welche es aufzubrechen und vom theologischen Kern zu trennen gilt. Natürlich kann ein Mensch sich schuldig fühlen, obwohl er für die von anderen verursachten Zustände, in denen er leben muss, nicht verantwortlich ist. Als Beispiel hierfür sei etwa an Deutschland erinnert: Heute Geborene fühlen sich schuldig bezüglich der Shoah, auch wenn sie zu jener Zeit noch nicht einmal auf der Welt waren. Sie können daher in keinster Weise auf vernünftige Art und Weise als schuldig bezeichnet werden. Zwar mag subjektiv ein Schuldbewusstsein vorhanden sein, doch generiert dieses keinesfalls eine objektive Schuld. Genau so ist auch die Menschheit nach dem Sündenfall nicht verantwortlich – und daher objektiv gesehen nicht schuldig – für den aktuellen Zustand der korrumpierten menschlichen Natur. Wie gesehen, kennt beispielsweise das Judentum keine eigentliche Erbsünde. Kann nicht auch das Christentum darauf verzichten? Macht eine Menschwerdung Gottes in Christus nur dann Sinn, wenn alle Menschen von der Erbsünde als tatsächlich strafwürdige Schuld schon vor jeder eigenen Tat betroffen sind? Genügte es nicht schon, dass Gott den Menschen so sehr liebt, dass er alleine schon aufgrund des Sündigwerdens einzelner Individuen Mensch geworden wäre,237 um diese für ihre selbst begangenen Sünden zu sühnen und zu erlösen? Der universale Heilswille Gottes steht und fällt nicht mit der universalen Sündigkeit der 236

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Wie Essen herausstellt, charakterisiert diese Unterscheidung in Aussagemittel bzw. – form und Aussageabsicht eine Großzahl der neueren Erbsündentheorien. (Nach: Essen (2011), S. 1145.) So sind gerade Christologie bzw. Soteriologie und Gnadenlehre aufs Engste mit der Erbsündenlehre verbunden, ja sie erst bilden den richtigen Interpretations- und Verstehenshorizont derselben. (Nach: Knop (2009), S. 36.) Stehen die Ansätze losgelöst von Christologie und Gnadenlehre da, führt dies zu erheblichen Konsequenzen. (Nach: Ebd.) So ist denn gemäß Knop die Einheit der Menschen auch in Christus zu suchen und zu verorten. (Nach: Ebd., S. 37.) Auch schon Schmitz-Moormann hebt die Verankerung der Erbsündenlehre in Christologie und Soteriologie hervor. (Nach: Schmitz-Moormann (1969), S. 20.) Daraus ergibt sich für ihn die Frage, ob die Rede von der Erbsünde in der modernen Welt fallen gelassen werden könnte, qualifiziert er sie doch lediglich als Hilfskonstrukt. (Nach: Ebd., S. 20f.)

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gesamten Menschheit in Form der Erbsünde.238 Der Mensch hat, wenn auch nicht von Anbeginn an, so doch schon sehr früh seine Bestimmung und sein Wesen verfehlt. Ob dies nun in Adam und Eva im Paradies geschah239 oder anderweitig, ist unerheblich, die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen steht und fällt nicht mit der Historizität des Sündenfalls, wie er in der Bibel geschildert wird. Wäre dies so, so wäre die Erlösungsbedürftigkeit leicht zu widerlegen, wenn nur nachgewiesen würde, dass es niemals ein Paradies gab. Was aber wichtig ist an dem Gedanken, dass der Mensch von Anfang an hinter seinen Möglichkeiten zurückblieb,240 ist die theologische Aussage, dass die Sünde – und damit das Negative und das Böse – nicht zur Schöpfung hinzugehört, sondern wesentlich kontingent241 ist.242 Die menschliche Natur bzw. die conditio humana, die Bedingungen des Menschseins sind seither geschwächt und anfällig für das Böse, der Mensch befindet sich seither im status naturae lapsae, im Zustand der gefallenen und beschädigten Natur – dies ist aber nicht in dem Sinne zu verstehen, dass eine biologische Übertragung durch Zeugung 238 239 240 241

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Vgl.: Pröpper, ThA ii, S. 1088. Nochmals sei daran erinnert, dass ja Gen 3 gerade bewusst auf die Bezeichnung Sünde für die Verfehlung des ersten Menschenpaares verzichtet. Vgl.: Knop (2009), S. 25. Siehe dazu z.B.: „Die Erbsündenlehre bedenkt die Voraussetzungen der Erlösung zu einem anderen Menschsein hin, indem gezeigt wird, dass der Mensch vollen Menschsein erlösbar und erlösungsfähig ist. Eine kritische Diskussion heutiger Erbsündentheologien führt zum Schluss, dass die Ursünde zentral in die Freiheitsbestimmung des Menschen hineingedacht werden muss und als Verweigerung gegenüber Gottes Selbstangebot in Schöpfung und Offenbarung zu verstehen ist. Die der Ursünde entspringende Erbsünde bezeichnet das Unheilsmoment der unverfügbaren Anfangsbedingung des einzelnen Subjekts. A priori und ausnahmslos wird jeder Mensch von diesem Unheil betroffen. Erfahrbar wird diese Unheilssituation an der Schwierigkeit im Freiheitsvollzug: Dem Wollen und Sollen des Guten scheint kein adäquates Können zu entsprechen (vgl. Röm 7,14–24). Dafür muss es einen Grund geben, der weder unmittelbar in Gott noch im Menschen als Geschöpf Gottes liegen kann, aber auch nicht im einzelnen Individuum, das diese Schwierigkeit selber zu verantworten hätte, denn sie ist dem Menschen vorgegeben. Weil sie nicht zum Menschsein gehört, kann sie nur geschichtlich ‚erworben‘ sein. Weil sie allen Menschen vorgegeben ist, muss gelten: von Anfang der Menschheitsgeschichte an. Der Ort der Ursünde liegt also in den unverfügbaren Anfangsbedingungen der menschlichen Freiheitsgeschichte.“ (Reifenberg (2009), S. 16.) Dabei wird nicht nur die Kontingenz der Sünde sichtbar, sondern zu Beginn des Zitats wird der positive Gegenpol der Erbsündenlehre, mit der diese immer zusammenhängen und in ihren Ausführungen davon durchdrungen sein muss, hervorgehoben: Das Moment der Gnade und der Erlösung. Siehe dazu auch die Grundbestimmungen, welche Hopings Theorie zugrundeliegen (zusammenfassend nachzulesen bei: Essen (2011), S. 1131f.).

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etc. stattfindet, sondern die Natur des Menschen selbst ist so verändert, dass diese geschwächte Verfasstheit sozusagen zu den dna-Anlagen243 des Menschen gehört, es wird also nichts biologisch oder durch Begierde übertragen, sondern die Natur eines jeden Menschen ist „automatisch“ bereits so verfasst, da eine Veränderung der menschlichen Natur als solcher stattgefunden hat –, aber nicht gänzlich korrumpiert und verdorben. Es gibt zwar einen Hang zum Bösen244, doch kann der Mensch sich in jeder Situation neu entscheiden, ob er 243 244

Dies soll allerdings nicht wörtlich, biologisch verstanden werden, sondern schlichtweg im Sinne von Erbanlagen verstanden als Disposition und naturale Verfasstheit, als Zustand. Vgl. hierzu Kants Ausführungen zum Hang zum Bösen sowie zum radikalen Bösen: Kant (2003), B3 [19] – B8 [22] sowie B20 [28] – B26 [32]. Kant selbst definiert den Hang wie folgt: „Unter einem Hang (propensio) verstehe ich den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia), sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist. Er unterscheidet sich darin von einer Anlage, dass er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann. – Es ist aber hier nur vom Hange zum eigentlich, d.i. zum Moralisch-Bösen, die Rede; welches, da es nur als Bestimmung der freien Willkür möglich ist, diese aber als gut oder böse nur durch ihre Maximen beurteilt werden kann, in dem subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze bestehen muss, und, wenn dieser Hang als allgemein zum Menschen (also als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf, ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen genannt werden wird. – Man kann noch hinzusetzen, dass die aus dem natürlichen Hange entspringende Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen, oder nicht, das gute oder böse Herz genannt werde.“ (Ebd., B20 [28] – B21 [29]; Kursivdruck in Original, Fettdruck in Original gesperrt; vgl. auch: Ebd., B24 [31] – B26 [32].) Damit ist die Kontingenz und der Bezug zur Freiheit – und damit die Zurechenbarkeit – bei gleichzeitiger Festmachung in der gesamten Gattung als Quasi-Natur ausgedrückt. Dass dieser „natürliche“ Hang in allen Menschen wurzelt, macht das Böse radikal, in ihm tief verwurzelt. (Nach: Ebd., B27 [32]; vgl. auch: Ebd., B31 [35].) Kant steht mit seinen Ausführungen zum Hang zum Bösen der Erbsündenlehre sehr nahe. Gerade der katholischen Fassung widerspricht er aber insofern, als er dem Menschen jegliche Fähigkeit zu einer guten Handlung abspricht, da selbst eine gute Tat aus einer falschen Ordnung der Maximen erfolgt – darin erweist er sich der protestantischen Tradition näher. Alles wird von der Unterordnung der moralischen Gesetze unter die Selbstliebe bestimmt, sodass es diese Unterordnung ist, welche den Menschen – auch den vermeintlich guten – böse macht, alle seine Taten – auch die vermeintlich guten – als letztlich – ihrer Motivation nach – böse bestimmt. (Vgl.: Ebd., B34 [36] – B35 [37].) Eine ideengeschichtliche Nähe von Kants Hang zum Bösen hin zur Erbsündenlehre wird etwa auch von Forschner postuliert. (Nach: Forschner (2009), S. 519.) Zum Hang zum Bösen sowie zum radikal Bösen bei Kant vgl. z.B.: Schulte, C. (1988), insbes. S. 77–101. Ricoeur etwa spricht mit Verweis auf Stellen im at (die Rede von der Verstockung) von einem Hang bzw. einer Neigung zum Bösen. (Nach: Ricoeur (2009),

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diesem Hang nachgeben will oder nicht. Hilfreich ist hier auch die Vorstellung von den beiden Trieben: dem Trieb zum Guten sowie zum Bösen.245 Dass der Mensch nicht gänzlich und auch nicht bereits mit dem Moment seiner Geburt schlecht ist, wird beispielsweise auch aus der in der Urgeschichte entwickelten Anthropologie deutlich: So breitete sich die Gewalt wie ein Lauffeuer in der Schöpfung aus, nachdem sie einmal in die Welt gekommen war und bedrohte das gesamte Leben, doch waren nicht alle der Gewalt – und damit dem Lebensfeindlichen und Bösen – verfallen: Noach fand Gnade in den Augen Gottes, weil er ganz auf Gottes Wegen wandelte und rechtschaffen war.246 Und so wird auch der erste Bund Gottes mit den Menschen erst nach der Ursünde beschrieben, wenn er am Ende der Sintflut mit Noach und seinen Söhnen sowie der Schöpfung insgesamt einen Bund schließt:247 Das sündige Menschengeschlecht ist dennoch in Gottes Augen würdig, sein Bundespartner zu werden und zu sein. Interessanterweise wird hier auch die Begrifflichkeit aus der ersten Schöpfungsgeschichte wieder aufgegriffen, wenn von Gottes Auftrag der Fruchtbarkeit und der Vermehrung die Rede ist und nochmals daran erinnert wird, dass der Mensch als Abbild Gottes geschaffen wurde. Hier erscheint also auch die Aufforderung Gottes, trotz des Mangels in unserer Natur unserem ursprünglichen Wesen zu entsprechen und die Überwindung des sündigen Zustands anzustreben; darüber hinaus wird aber auch bekräftigt, dass der Mensch noch immer Abbild Gottes ist und sein soll. Ausdrücklich steht nach der

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S. 103–105.) Schelling wiederum unterscheidet in seiner Freiheitsschrift zwei unterschiedliche Hänge zum Bösen, wie Buchheim ausführt: den „natürlichen Hang“ (Buchheim (2000), S. 59.) sowie den „Hang zum Bösen als Aktus der Freiheit“ (ebd.), wobei Letzterer auch als radikal Böses bezeichnet wird. (Nach: Ebd.) „Man kann beide gut als einerseits den konstitutiven und andererseits den exekutiven Hang zum Bösen auseinanderhalten. Der erste ist, wie gesehen, wesensnotwendig, aber nicht ein wirkliches Böses; der zweite hingegen besteht in verwirklichter Bosheit, ist aber nicht notwendig, sondern ihn hat sich der Mensch aus Freiheit nur de facto zugezogen.“ (Ebd.) Folgt man der Definition von Hoping/Schulz, so kann diese Bestimmung durchaus auf der Linie der Tradition gesehen werden. Es wird hierbei zwar nicht der Begriff Trieb zum Bösen verwendet, doch wird von der Macht des Bösen, welche in uns wirkt, was inhaltlich denselben Gedanken in anderen Termini ausdrückt, gesprochen. Die Definition bei Hoping/Schulz lautet denn wie folgt: „Die christliche Glaubenslehre kennt nicht nur die einzelne böse Tat, für die Menschen Verantwortung tragen, sondern auch die Macht des Bösen in uns, vor aller bösen Tat. Diese Macht des Bösen in uns trägt den Namen peccatum originale, Ur-sünde, selten von Augustinus, häufig aber seit der Reformation Erbsünde genannt“ (Hoping/Schulz (2009), S. 7.). Zu den beiden Trieben s. insbes. die diesbezüglichen Ausführungen im systematischen Teil dieser Publikation. Vgl.: Gen 6,8–9. Vgl.: Gen 9,1–17.

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Sintflut denn auch, dass der Mensch bzw. sein Trachten nicht von Geburt, sondern erst von Jugend an – also zu dem Zeitpunkt, zu dem er selbst für seine Taten verantwortlich wird und sich frei entscheiden kann – böse ist.248 So kann von Verantwortung und Schuld erst dort die Rede sein, wo der Mensch als frei Verantwortlicher vor Gott steht. Der Trieb zum Bösen wird also erst mit der Jugend über den Menschen in dem Sinne bestimmend, dass er nun für das daraus resultiernde Verhalten zur Verantwortung gezogen wird.249 Die veränderte Natur des Menschen beinhaltet immer schon den Trieb zum Bösen,250 wobei dabei nicht eine Sünde oder dergleichen biologisch übertragen würde. Theoretisch gesehen ist es möglich, dass ein Mensch diesem Trieb nicht nachgibt, sondern immer dem Guten folgt. Praktisch gesehen sind aber die Möglichkeiten, in denen der böse Trieb uns locken kann, so vielfältig und unzählig, dass dies nicht möglich ist: An irgendeinem Punkt in seinem Leben wird der Mensch schuldig.251 Doch besteht immer die Möglichkeit, sich zu bekehren und in Zukunft nicht mehr schuldig werden zu wollen. Durch Gottes Gnade252 248 249 250

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Vgl.: Gen 8,21. Dagegen ist der Trieb zum Bösen – auch gemäß der klassischen Lehre (vgl.: Cohen/Geert (1984), S. 15.) – von Anfang an im Menschen vorhanden, also bereits mit der Geburt. Hierin wird Augustins Bestimmung insofern gewahrt, als auch hier eine unterschiedliche Bestimmung des Willens zur Sünde vorgenommen wird. Und so gilt für Augustinus wie auch für die hier angeführten Gedanken gleichermaßen: „Während Adam sich selbst zur Sünde bestimmt hat, ist der Wille der Menschheit aus Adam vorab und gerade nicht eigeninitiativ bestimmt durch eine sündige Neigung zur Sünde.“ (Knop (2009), S. 29, Hervorhebung im Original.) Wobei anzumerken gilt, dass im Gegensatz zu Augustinus bei den hier vorliegenden Ausführungen in Bezug auf diese Neigung nicht von einer sündigen Neigung die Rede ist und auch nicht sein kann. Bei allen Parallelen gilt es also doch auch gewichtige Unterschiede auszumachen. Die Einzigen, welche gemäß katholischer Lehre in der Tat nicht von diesem Sündenzusammenhang betroffen waren, sind Maria sowie Jesus: Sie sind von den Folgen der Erbsünde ausgenommen. Dies bedeutet im Rahmen der hier angestellten Überlegungen, dass in ihnen diese Doppelstruktur von Trieb zum Guten und Trieb zum Bösen nicht vorhanden war, sondern dass in ihnen die ursprüngliche Verfassung der menschlichen Natur gegeben war, in der der Mensch noch nicht anfällig für das Böse war, sondern so von Gott geschaffen war, ganz im Guten und auf Gottes Wegen zu bleiben und nach seinem Willen zu leben. Sie konnten sich tatsächlich immer den Versuchungen des Bösen widersetzen, da diese nicht in ihnen selbst waren. Wenzler etwa betont die Wichtigkeit, im Zusammenhang der Rede von der Erbverwundung verstanden als Neigung zum Bösen (vgl. Kraus (2001), S. 69, Sp. 3-S. 70, Sp. 1.) auch immer die Wirklichkeit der Gnade mitzubetonen und auch hier von Vererbung – nicht im Sinne eines Zustands, sondern eines den universalen Heilswillen Gottes ausdrückenden Angebots, dem der Mensch frei gegenübersteht und ihm allein dessen Annahme bzw. Ablehnung anbetraut ist (nach: Wenzler (2011), S. 168.) – zu reden: eine „Erbgnade“ (Ebd.)

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kann man denn auch in der Versuchung beschützt und vor ihr bewahrt werden. Von Schuld kann somit nur in Bezug auf die persönlichen, aktuellen Tatsünden die Rede sein. Was „geerbt“ wurde bzw. was sich im Menschsein mit dem – wie auch immer vorzustellenden – Sündenfall verändert hat, ist das Anfälligsein für die Sünde und das Böse, der Trieb zum Bösen, der in uns allen wohnt und sich mit der Jugend entfaltet. Es kann folglich nicht von einer Erbsündenlehre im Sinne einer Erbschuldlehre die Rede sein, adäquater erscheint der Begriff der Erbsündenfolgenhypothek253: Die nachfolgenden

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also, wie Wenzler es bezeichnet. (Nach: Ebd., S. 166–171.) Auch Reifenberg betont, dass die Erbsünde nicht nur negativ zu bedenken ist, sondern dass gerade auch das Moment der Erlösung – in und durch Christus – hervorgehoben werden muss und zieht dabei folgendes Fazit: „Die Erbsündenlehre begünstigt keine pessimistische oder verdrießliche Weltsicht; sie bringt vielmehr im Blick auf die Erlösung in Christus die Positivität und Vollendbarkeit des Geschaffenen trotz seiner Belastung durch die Sünde zur Geltung.“ (Reifenberg (2009), S. 17.) Auch Discherl stellt die notwendige Verbindung der Lehre von der sündigen Verstrickung des Menschen mit der Rede vom Heil heraus und zieht hierfür die Erzählung von Kain und Abel hinzu, wobei er in Rückbezug auf Schoonenberg den relationalen Charakter nicht nur des Bösen, sondern gerade auch des Heils herausstreicht. (Nach: Discherl (2012, 1), S. 172.) Auch Ricoeur weist die unübergehbare Verbindung zwischen Heilsgeschichte und Überlegungen zur Ursünde als deren Antitypus auf. (Nach: Ricoeur (1974), S. 161.) Der Begriff ist durchaus anpassbar, ist doch das Deutsche eine der wenigen Sprachen, welche überhaupt von Erbsünde spricht. In vielen anderen Sprachen – insbes. romanischen Sprachen wie das Französische und das Spanische, aber auch im Englischen – wird von Ursünde gesprochen, analog zum Lateinischen peccatum originale. (Nach: Wenzler (2011), S. 162.) Eine Aufstellung unterschiedlicher Vorschläge zu einer neuen Begrifflichkeit findet sich beispielsweise: Ebd., S. 163f. Dabei plädiert Wenzler nicht nur wegen der missverständlichen Begrifflichkeit von der Rede von der Erbsünde für das Finden neuer Termini, sondern insbes. auch wegen der damit verbundenen Konnotationen aufgrund der negativen Auswirkungen, welche mit diesem Begriff verbunden sind. (Nach: Ebd., S. 164.) Dabei sei insbes. auf den von Kraus vorgeschlagenen Terminus der universalen Sündenverfallenheit verwiesen, nachzulesen in: Kraus (1997), insbes. S. 263–265. Dieser Begriff schließt nach Kraus alle wichtigen Elemente ein. Der Begriff selbst ist also durchaus anpassbar, sofern der Inhalt gewahrt bleibt – ein Umstand, der gemäß Kraus eben mit Sündenverfallenheit gegeben sei: „Die Sündenverfallenheit schließt sowohl die Radikalität der Sünde als auch die Universalität der Sünde mit ein. Sie integriert die im Herzen der Menschen wirkende Neigung zum Bösen, die Anfälligkeit aller Menschen für das Böse und das Versagen aller Menschen gegenüber dem Bösen. Die Sündenverfallenheit ist ein innerer Wesenszug jedes Menschen. So gehört sie von Geburt an zu allen Menschen. Da sie in diesem Sinn im Erbe aller Menschen liegt, lässt sich formulieren: Die Sündenverfallenheit ist eine Erbneigung zum Bösen, eine Erbschwäche für das Böse und ein Erbversagen gegenüber dem Bösen.“ (Ders. (2001), S. 69, Sp. 3.) Dabei vertritt Kraus die Ansicht,

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Generationen haben die Folgen254 zu tragen und nicht etwa die Schuld.255 Die Folge aber besteht in der Schwächung des Menschen durch den bösen Trieb. Sie lastet auf den nachfolgenden Generationen wie eine Hypothek, die aber im Unterschied zu einem finanziellen Erbe nicht ausgeschlagen werden kann. Damit ist es für uns nachfolgende Generationen schwieriger, nicht sündig zu werden, aber eben nicht unmöglich. Es ist eine Hypothek, gegen die wir unser ganzes Leben ankämpfen müssen: Der Kampf gegen den bösen Trieb.256 So ist die Erbsünde für uns keine strafwürdige Schuld, sondern uns betreffen die Folgen, welche der Sündenfall nach sich zog. Wir können uns zu dieser Hypothek nicht in dem Sinne verhalten, dass wir sie nicht annehmen wollen, da unsere Natur und damit etwas immer schon Vorgegebenes davon betroffen ist, doch können wir uns so dazu verhalten, dass wir die Folgen in unserem Leben so gut wie möglich zu überwinden versuchen. Und wenn wir dem Trieb zum Bösen

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dass nicht eigentlich Röm 5,12 als Belegstelle heranzuziehen sei, sondern vielmehr Röm 1,21f. (Nach: Ders. (1997), S. 261.) Bei Gestrich beispielsweise findet sich nebst dem Terminus Ursünde auch ein Plädoyer für den Begriff Allgemeinsünde. (Nach: Gestrich (2009), S. 166 sowie 177.) Im Neuen Lexikon der katholischen Dogmatik wird für den Begriff Ursünde votiert, der, so Kraus, aus der Übersetzung Hünermanns des Enchiridions Denzingers von 1991 stammt (nach: Kraus (1997), S. 262.), wobei es zu betonen gilt, dass „bei dieser Übersetzung der wesentliche Unterschied nicht gewahrt [ist] zwischen der Ursünde als einem personalen Urereignis und dem vorpersonalen, universalen Zustand, den die Sachaussage des Erbsündenbegriffs meint.“ (Ebd.) Erbsünde wird im erwähnten Lexikon denn auch wie folgt definiert: „Die Rede von der E. fragt nach dem Ursprung der geschichtl. bedingten Sündenverflochtenheit des gut erschaffenen Menschen, die er nicht als Individuum zu verantworten hat, weil sie ihn vom Anfang seiner Existenz her kollektiv prägt. Daher ist Ur-Sünde der adäquatere Ausdruck.“ (Discherl (2012,1), S. 172.) Auch Gaudium et Spes verzichtet auf den Begriff der Erbsünde. (Vgl.: gs 13.) So spricht etwa auch Wenzler nicht von der Erbsünde, sondern von der Ursünde und ihren Folgen. (Nach: Wenzler (2011), S. 153.) Dieser Ansicht ist beispielsweise auch Wenzler: Auch er spricht mehrfach davon, dass nur die Folgen der Ursünde übertragen werden (so z.B. Ebd., S. 157; 159.), nicht aber eine Schuld (nach: Ebd., S. 161.). So wird auch nicht eine Sünde im eigentlichen, sondern im analogen Sinne weitergegeben: Sünde verstanden als Tat. (Nach: Ebd., S. 159.) Von Weitergabe oder Vererbung kann ihm zufolge also nur mit Blick auf den „durch die Sünde verursachte[n] Zustand, die Prägung der Wirklichkeit durch die Sünde“ (Ebd.) die Rede sein. Eine solche Hypothek sehen wir wieder am Beispiel Deutschland: Die heute Geborenen haben die Gräuel der Shoah nicht selbst verübt, doch die Konsequenzen, welche daraus resultierten, haben sie dennoch zu tragen, diese Hypothek lastet auf ihren Schultern, ob sie wollen oder nicht. Doch auch hier können sie sich gegen diese Last auflehnen, indem sie selbst anders und besser handeln und in ihrem Leben dafür kämpfen, dass sich so etwas nie wieder ereignen wird.

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auch nicht immer in jeder Situation widerstehen können,257 so können wir uns doch darum bemühen, ihm so wenig wie möglich anheimzufallen. Schuldig werden wir erst dort, wo wir selbst aus freier Entscheidung heraus diesem Trieb zum Bösen, der immer schon in uns wohnt und ab dem Alter, in welchem wir zu eigenen, freien und überlegten Entscheidungen fähig werden, inkraft tritt, nachgeben. Somit besteht eine gewisse Nähe zu Pröppers Unterscheidung „von Disposition zur Sünde und Faktum der Sünde“258. Ob allerdings mit den hier angeführten Überlegungen der theologische Kern der Erbsündenlehre gewahrt wird, der nicht aufgegeben werden darf, sei dahingestellt: Wird doch hier im strengen Sinne eigentlich nicht mehr von einem peccatum originale originans und einem peccatum originale originatum ausgegangen, sondern lediglich von Folgen, welche aus der Ursünde resultieren und zu einer Veränderung der menschlichen Natur führten. Weiter wird damit zusammenhängend auch die Vorstellung einer aus der Erbsünde folgenden, vorgegebenen und dennoch zugleich persönlich strafwürdigen Schuld aufgegeben. Dies aus zwei Gründen: 1. Das neuzeitliche Freiheitsdenken: Ein Mensch kann nicht für etwas bestraft werden, für das er selbst nicht verantwortlich ist; es wird von persönlicher Sünde ausgegangen und nicht von geerbter, die aber doch strafwürdige Schuld generieren würde. 2. Die Verankerung der Folgen in der naturalen Verfasstheit des Menschen: Der Mensch ist für die Strukturen seiner Natur, in welchen er sich vorfindet, nicht verantwortlich zu machen, er kann nicht strafwürdige Schuld dafür tragen, dass seine Natur so beschaffen ist, wie sie es ist; ebenso kann für ihn selbst auch nicht von persönlicher Sünde im Hinblick auf das Zustandekommen des ihm vorgegebenen Zustands gesprochen werden.259 Nur dort ist Sünde und Schuld für diesen Zustand anzunehmen, wo es aufgrund der Sünde erst zu diesem Zustand kam – also nur im Hinblick auf die Ursünde des Menschen, wann, wo und wie immer dies auch gewesen sein mag. Für die sich aber schon von Anfang an und vor jeder eigenen 257 258 259

So spricht auch Ricoeur vom Nachgeben in Bezug auf die Sünde. (Nach: Ricoeur (2009), S. 292.) Essen (2011), S. 1143. Diese Unterscheidung lässt sich auch bei Reifenbergs zusammenfassender Einführung finden: „Mit der Vorstellung von einem sündenbedingten Wandel des Menschen zu diesem Schlechteren hin verbindet sich das argumentative Ziel, eine durchgehend optimistische Vision der Begrenztheit der menschlichen Realität zu zeichnen: Die Begrenztheit des Menschen ist weder Sünde noch führt sie irgendwie zwangsläufig zu ihr.“ (Reifenberg (2009), S. 16.) Das Individuum selbst ist also nicht schuldig zu sprechen im Hinblick auf seine Begrenztheit, desgleichen ist diese denn auch als solche nicht als Sünde zu qualifizieren. Erst dort, wo der Mensch tatsächlich sündig wird, ereignet sich Sünde, denn trotz Begrenztheit und Anfälligkeit bestünde keine Notwendigkeit zur Sünde.

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Entscheidung in diesem Zustand und dieser Verfasstheit der menschlichen Natur unter ihren Möglichkeiten und Anlagen befindlichen nachfolgenden Generationen von Menschen kann nur und erst dort von Sünde – strafwürdige und persönliche Sünde – und Schuld gesprochen werden, wo sie selbst schuldig und sündig werden.260 Dies bedeutet nicht, dass der Zustand, in dem sie sich befinden, überwunden werden müsste – denn die veränderte menschliche Struktur können sie nicht so verändern, dass in ihnen nur noch der Trieb zum Guten übrigbliebe –, sondern dass sie versuchen, nicht dieser doppelten Struktur, welche in ihnen ist, nachzugeben, sprich eigentlich dem negativen Teil dieser doppelten Struktur, sondern dass sie versuchen, immer und überall dem positiven Anteil dieser doppelten Struktur Folge zu leisten – wenngleich auch klar sein muss, dass es immer die eine oder andere Situation des Scheiterns gibt und geben wird. Die Möglichkeit, in die negative Seite zu verfallen, wird nicht definitiv überwunden, indem ein Individuum sich einmal gegen diese entscheidet und der positiven folgt. Vielmehr gilt es, sich in jeder Situation von Neuem gegen die negativen Verlockungen zu behaupten; jede Situation entscheidet von Neuem über Sünde und Schuld oder Unschuld und Rechtschaffenheit. Endgültig aus diesem ewig – oder besser gesagt während unserer gesamten irdischen Lebenszeit – in uns tobenden Kampf befreien kann nur die Gnade Gottes und auch nur in Annahme der Gnade Gottes kann es ein Bestehen in den Versuchungen der negativen Seite, welche uns zum Bösen zieht, geben. Der Vorteil dürfte hier sein, dass nicht auf einen Monogenismus zurückgegriffen werden muss, um die persönlich strafwürdige Schuld eines jeden Menschen festhalten zu können, sondern dass die Schicksalsgemeinschaft der von dieser doppelt verfassten Menschennatur in der Gattung selbst liegt – ohne von einem einzigen Vorfahren abstammen zu müssen. Der Mensch ist qua Menschsein von den Folgen der von wie vielen Menschen auch immer verübten Ursünde betroffen und nicht qua adamitischer Abstammung. Was hierin weiter bestehen bleibt, ist die qualitative Unterscheidung261 der 260

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Gemäß Marion besteht aber genau hierin die Ursünde: im Abwälzen der Schuld auf andere. (Nach: Marion (1979), S. 245; vgl. Adam auf Eva und Eva auf die Schlange.) Dies bestimmt die Logik der Sünde und behinaltet so von Anfang an das Moment der Weitergabe. Wer diesen Zusammenhang der Erbsünde nun aber leugnet, macht sich genau dessen schuldig und gerät in und durch diese Leugnung selbst in die erwähnte Logik. (Nach: Ebd., S. 245f.) Die Überwindung dieses Mechanismus geschieht in und durch Christus, der die „Konsequenz, die Anklage des Schuldigen, auf sich gezogen“ (Menke (2011), S. 54.) hat. (Nach: Ebd.) Dies etwa ganz im Unterschied zu Kierkegaard, welcher die Ursünde (bei ihm in Adam) und allen nachfolgenden Generationen gleichsetzt, indem er festhält, dass die Sünde beider auf exakt dieselbe Weise in die Welt tritt. (Nach: Kierkegaard (1984), S. 29 und 32.) Es

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Ursünde, welche Folgen für das gesamte Menschengeschlecht zeitigte, und unsere persönlichen, aktuellen Tatsünden, deren Folgen nur uns selbst betreffen. Dass hierbei aber der wesentliche Kern des theologischen Aussagegehalts der Erbsündenlehre nicht gewahrt sein könnte, wird aus der Bestimmung ebendieses Kerns von Essen ersichtlich: Denn wie immer auch das infragestehende propagatione von den Konzilsvätern im einzelnen [sic!, v.v.] verstanden worden ist, es bezeichnet in jedem Fall die Beziehung zwischen dem peccatum originis Adams und dem peccatum originale seiner Nachkommen. Wie aber diese Beziehung näher zu denken ist, sofern hier von der ‚Übertragung‘ einer strafwürdigen Schuld die Rede ist, macht doch gerade den Kern der überlieferten Erbsündenlehre aus, den es theologisch zu denken und begrifflich zu bestimmen gilt.262 Doch genau diese Rede von einer strafwürdigen Schuld wird im Rahmen der dargestellten Überlegungen nicht gewahrt. Es wurde nicht nur nicht versucht, die universale strafwürdige Schuld einsichtig zu machen, ganz im Gegenteil

262

wird betont, dass kein Recht besteht, „Adams Sünde größer oder die erste Sünde irgendeines anderen Menschen kleiner zu machen.“ (Ebd., S. 29f.) Die Art und Weise bzw. die Qualität bestimmt er als „Sprung, mit der Plötzlichkeit des Rätselhaften.“ (Ebd., S. 29.) Die Erbsünde selbst bzw. ihre Folge wird von Kierkegaard als Angst definiert. (Nach: Ebd., S. 54.) Nun bestimmt aber Angst sowohl das Hineinfallen in die Sünde als auch den Zustand nach der Sünde. (Nach: Ebd., S. 55.) Dabei nimmt Kierkegaard eine doppelte Bestimmung der Angst vor: „Die Angst, in der das Individuum die Sünde im Wege des qualitativen Sprunges setzt, und die Angst, die mit der Sünde hereingekommen ist und hereinkommt und die insoweit auch quantitativ in die Welt kommt, jedesmal wenn ein Individuum die Sünde setzt.“ (Ebd., S. 56.) Wobei Angst in diesem Zusammenhang nicht im Sinne von Furcht zu verstehen ist, wie Axt-Piscalar aufzeigt: „Die Angst resultiert vielmehr aus dem endlichen Freiheitsvollzug als solchem […] und sie ist daher am ehesten als Lebensangst zu bestimmen, um ihren das Leben in seinem freiheitlichen Vollzug latent immer bestimmenden Charakter zu erfassen.“ (Axt-Piscalar (2009), S. 152.) Essen (2011), S. 1146, Hervorhebung im Original. Die Deutsche Bischofskonferenz hält den festzuhaltenden Kerngehalt dahingehend fest, dass die Universalität der Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts, aus welcher letztlich nur die Gnade Gottes befreien kann, ausgedrückt werden müsse: So ist die kirchliche Lehre gewahrt, „wenn festgehalten wird, dass die Menschheit, welche eine Einheit bildet, bereits an ihrem Anfang das Heilsangebot Gottes ausgeschlagen hat und dass die daraus resultierende heillose Situation eine universale Wirklichkeit ist, aus der sich keiner aus eigener Kraft befreien kann.“ (dbk, kek, Bd.1, S. 134.)

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Die zweite Schöpfungserzählung

wurde diese in den aufgezeigten Denkanstößen der Verfasserin sogar abgelehnt und aufgegeben. Nachdem nun die Herkunft des Bösen gemäß der Schilderung in der zweiten Schöpfungserzählung sowie deren Rezeption in Form der Erbsündenlehre behandelt wurden, wird im nächsten Kapitel analysiert, wie die Herkunft des Bösen in der ersten Schöpfungserzählung thematisiert wird.

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kapitel iii

Die Erste Schöpfungserzählung: Gen 1,1–2,4a Auch in diesem Kapitel werden nur jene Aspekte der Erzählung dargestellt und analysiert, welche für die Frage nach der Herkunft des Bösen von Bedeutung sind,1 um die entsprechenden Elemente herauszukristallisieren. In einem weiteren Schritt wird wiederum der Rezeptionsgeschichte nachgegangen, indem die Lehre von der Erschaffung aus dem Nichts, die creatio ex nihilo, vorgestellt wird. Bevor allerdings die für die Frage nach dem Bösen zentralen Textstellen dargestellt werden, gilt es einige weitere Aspekte der Erzählung zu erwähnen. Im Gegensatz zur zweiten Schöpfungserzählung verwendet die erste für Gott nur die Bezeichnung ‫אלוהים‬, Elohim. Pury hält hierbei fest, dass Elohim in dieser Erzählung wie ein Eigenname verwendet wird und führt hierfür folgende Begründung an: Entscheidend ist aber der Sprachgebrauch. Wenn ein undeterminiertes Appellativum – z.B. ‚ein Pharao‘, ‚ein Mensch‘, ‚ein Gott‘ – in einem gegebenen Text wiederholt als Handlungs- und Wortträger auftritt, so verwandelt sich die Gattungesbezeichnung [sic!, v.v.] in einen Namen: Pharao, Adam, Gott. Für mich ist ausschlaggebend, dass in Gen 1 ’lhym [Elohim, V.V.] weder mit ‚der Gott‘ noch mit ‚ein Gott‘ übersetzt werden kann, sondern nur mit ‚Gott‘. Genau darin besteht der Übergang vom Appellativum zum Eigennamen.2 Dass sich die Priesterschrift3 für diese Gottesbezeichnung entscheidet, hat nach Pury durchaus auch theologische Gründe: Mit dem Gottesnamen ist 1 Es sei auf einige Literaturbeispiele zur Auseinandersetzung mit der gesamten Perikope verwiesen: Küchler/Krauss (2003); Löning/Zenger (1997); Baumgart (1999). Die Frage nach der Abgrenzung zwischen der ersten und der zweiten Schöpfungserzählung nach Gen 2,3 oder in 2,4 ist bei Baumgart (1999) nachzulesen, welcher sich selbst im Gegensatz zu der hier angeführten Abgrenzung für die Abgrenzung zwischen den Versen 3 und 4 ausspricht. 2 Pury (2008), S. 125. Dieser Hinweis ist auch mit Blick auf die zweite Schöpfungserzählung interessant, sodass Pury also Adam schon vor der Erschaffung als Adam interpretiert und nicht erst im Gegenüber zur Frau vom Menschlein zum Individuum Adam wird. 3 Die erste Schöpfungerzählung wird der Priesterschrift (P) zugeschrieben. P wird in die späte Exilszeit/frühe Nachexilszeit (also ins späte 6. Jh. v.Chr.) datiert. Unter Exilszeit wird dabei das rund dreißigjährige babylonische Exil verstanden, welches mit der Zerstörung Jerusalems sowie des Tempels im Jahr 587/6 v.Chr. begann und im Jahr 538/7 v.Chr. endete. P zeichnet

© VERLAG FERDINAND SCHÖNINGH, 2018 | doi 10.30965/9783506788856_009 3: .8

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eine partikulare Beziehung des Gottes Israels zu seinem Volk in den Blick genommen. Wenn dagegen nur einer Gott des Universums ist, dieser aber von unterschiedlichen Völkern mit unterschiedlichen Namen belegt wird, so gilt es linguistisch eine Einheit herzustellen, indem eine Bezeichnung gewählt wird, welche alle unterschiedlichen Namen in sich vereinigt, sodass sich ein Allgemeinbegriff – die einfache Bezeichnung Gott – anbietet.4 Der Gott Israels kann so auch sprachlich als universaler Gott der gesamten Erde und aller Völker dargestellt werden, sodass diese Bezeichnung das universale Gottesverhältnis in den Blick rückt. Gemäß Pury wird so für die Menschheit Elohim zum Namen des Schöpfers.5 Da kein spezifischer Name verwendet wird, kann prinzipiell jedes Volk seinen Schöpfergott mit diesem Gott in der ersten Schöpfungserzählung identifizieren.6 Für das Volk Israel ist es dabei klar, dass der universale Gott und der partikulare Gott Israels identisch sind, sodass für sie feststeht, dass – auch wenn nicht das Tetragramm verwendet wird – es dieser Gott Israels ist, welcher die gesamte Welt erschaffen hat und die Geschichte lenkt.7 Da dieser Weltregierer der einzige Gott ist, kann er auch einfach als Gott bezeichnet werden.

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sich unter anderem durch formelhafte Wiederholungen aus. Zu P und ihren Merkmalen sei verwiesen auf: Zenger (2016,1). Nach: Ebd., S. 136f. Nach: Ebd., S. 138. Weiter weist er darauf hin, dass sich die Priesterschrift dafür ausspreche, dass Gott (Elohim) sich unter unterschiedlichen Namen offenbaren könne. (Nach: Ebd.) Dabei verweist er insbesondere auf Ex 6,2f.: Gott (Elohim) spricht zu Moshe und offenbart ihm den Gottesnamen in Form des Tetragramms, wobei er zugleich daran erinnert, dass er sich Abraham, Isaak und Jakob als El Shaddai geoffenbart hatte. So handelte es sich gemäß Pury nach Sicht der Priesterschrift beim Tetragramm also gerade nicht um den wahren Eigennamen Gottes, sondern dies wäre eine Offenbarungsform, der eigentliche Name wäre dann aber der zum Eigennamen gewordene Gattungsbegriff Gott. Das Tetragramm dagegen sei nur für das Volk Israel unerlässlich in seiner Gottesbeziehung. (Nach: Pury (2008), S. 138.) Für Pury wäre damit das Tetragramm ein Name unter vielen, welcher lediglich die partikulare Beziehung Israels zum universalen Gott umschreiben würde. So hält etwa Schmid fest: „Gen 1 entwickelt eine inklusive Theologie – hinter allen göttlichen Manifestationen steht der eine Gott schlechthin –; Deuterojesaja dagegen vertritt eine streng exklusive Theologie – es gibt keinen Gott außer Jhwh, alle anderen Götter sind Nichtse.“ (Schmid (2012,2), S. 86, Hervorhebung im Original.) Damit nimmt die Verfasserin die gegenteilige Position zu Pury ein: Der geoffenbarte Name in Form des Tetragramms ist der eigentliche Eigenname, die Allgemeinbezeichnung. Elohim dagegen wird nur mit Blick auf alle Völker in den Blick genommen, sodass auch diese Gott als den Weltschöpfer erkennen, obgleich sie ihn nicht unter seinem eigentlichen Namen kennen. Dass diese beiden Götter identisch sind, zeigt sich auch mit Blick auf die Exodusgeschichte: So wird in Ex 1 von der Mehrung des Volkes Israel berichtet, welche eine Erfüllung des

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Die Erste Schöpfungserzählung

Betrachtet man die Wirkungsgeschichte der beiden Schöpfungserzählungen, so muss besonders im Hinblick auf diese nun zu behandelnde erste Schöpfungsgeschichte ein wichtiger Punkt Erwähnung finden: Es handelt sich bei diesen beiden Erzählungen nicht um Berichte im Sinne eines Geschehensprotokolls. Genau so wurden die beiden Geschichten allerdings lange Zeit missverstanden, indem sie gleichsam als Tatsachenberichte behandelt wurden. Die Erde wurde in sechs Tagen erschaffen, das erste Menschenpaar waren Adam und Eva, etc. Dass die biblischen Geschichten aber gerade nicht so verstanden werden wollen,8 wurde übersehen. Die Anordnung der Erzählungen macht es eigentlich überdeutlich, dass ein Biegen der Erzählungen hin zu Tatsachenberichten einen Missbrauch derselben darstellt. Die Unterschied- und Widersprüchlichkeit der Geschichten machen deutlich, dass es sich hierbei nicht um Berichte darüber handeln kann, wie die Weltschöpfung genau vor sich ging. Vielmehr wollen die Texte – zeitgebunden wie sie sind – mit den Mitteln und Motiven, welche den Menschen zur damaligen Zeit, in welcher die Verfasser gelebt haben, zur Verfügung standen, eine in beiden Erzählungen identische theologische Botschaft vermitteln: Gott steht hinter dem, was existiert, ihm verdankt sich die gesamte Welt und die gesamte Wirklichkeit. Gott allein ist der Schöpfer allen Lebens. Das Vermeiden des Begriffs Schöpfungsbericht durch das Zurückgreifen auf Formulierungen wie Schöpfungsgeschichte und Schöpfungserzählung soll die genannten Aspekte ins Bewusstsein rufen und jene Menschen, welche nicht in der Theologie beheimatet sind, dafür sensibilisieren, dass die Texte nicht wortwörtlich als Tatsachenberichte zu verstehen sind.9 Es sind Geschichten und Erzählungen mit einer theologischen Botschaft Segens und Auftrags in Gen 1 an die Menschen darstellt. Dies bedeutet theologisch formuliert: „Dass sich die Isrealiten in Ägypten vermehren, ist ein gottgewollter Vorgang, es ist Schöpfungsgeschehen“ (Schmid (2012,2), S. 86.). Weiter nimmt mit Schmid auch die Schilderung vom Durchzug durchs Schilfmeer in Ex 14 wiederum Vokabular aus Gen 1 auf: „Dass beim Meerwunder bei der Spaltung des Meeres dasselbe geschieht wie bei der Schöpfung, dass nämlich ‚das Trockene‘ sichtbar wird, ist in der Priesterschrift offenbar mit Bedacht so dargestellt. Es zeigt sich so nämlich in der Tiefenstruktur des Textes, dass hinter dem Meerwunder Schöpfungshandeln steht, oder umgemünzt auf die Gottesvorstellung: Der Gott der Schöpfung und der rettende Gott beim Exodus sind ein und derselbe.“ (Ebd., S. 87f.) 8 Die beiden Texte sind bewusst hintereinander gestellt, obwohl sie sich z.T. deutlich widersprechen, so etwa mit Blick auf die Frage nach Überflutung oder Trockenheit vor der Schöpfung. 9 Auf diesen Punkt weist auch Rothgangel hin, wenn er dafür plädiert, die Formulierung Schöpfungsbericht sollte weitestgehend vermieden werden, um nicht den genannten Anschein eines Tatsachenberichts bei der Leser- oder auch Zuhörerschaft zu erwecken. (Nach: Rothgangel (2012), S. 296.) Er hält weiter fest, dass die Bezeichnung Schöpfungsbericht sogar

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von unschätzbarem Wert. Aber es sind und bleiben letztlich Geschichten und nicht mehr, sie schildern nicht die reale Abfolge des Schöpfungsvorgangs. Dies sagt aber nichts über die Einstellung aus, mit der an die Texte herangegangen wird. Die Texte sind zwar in ihre Zeit eingebunden, insofern sie vom damaligen Denken durchdrungen sind, nichtsdestotrotz weist aber die darin entwickelte Theologie über die eigene Zeit hinaus. Wird verstanden, was die Texte zu ihrer Zeit auszusagen versuchten, kann die darin tradierte Botschaft in die heutige Zeit übersetzt und so von Neuem fruchtbar gemacht werden. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen zur Textgattung werden in der Folge die Aspekte im Text, welche einen Schluss über das Böse zulassen, analysiert. Zunächst muss dabei der Schilderung des Zustands vor der Schöpfung nachgegangen werden, um anschliessend Gottes Schöpferhandeln an diesem zu thematisieren. 3.1

Der Zustand vor der Schöpfung

Die gesamte Bibel setzt ein mit den Worten ‫בראשית ברא אלוהים את השמים‬ ‫( ואת הארץ‬beReshít bará Elohím et haShamayim we’et haAretz; Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde (Gen 1,1)). Damit bezeugt der biblische Kanon von Anfang an Gott als den Schöpfer und alles Existierende als seine Schöpfung. Himmel und Erde verdanken sich ganz dem Schöpferhandeln Gottes. Nach diesem Programm, sozusagen die Überschrift über das Kommende, wird mit einer Beschreibung des vorgefundenen Zustands, des Zustands vor dem göttlichen Schöpferhandeln, fortgefahren: ‫והארץ הייתה תוהו ובוהו‬ ‫( וחושך על פני תהום ורוח אלוהים מרחפת על פני המים‬we’haAretz haitá thohu wa’wohu weChoshech al Penei Thehóm weRuach Elohím merachéfeth al Penei haMayim; Die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser (Gen 1,2)). Hierbei werden vier Elemente als vorgefunden erwähnt.10 „1. Die Tohuwabohu-Erde, das heisst die lebensfeindliche Welt; 2. Die Finsternis als bedrohliche Unheilsmächtigkeit;

10

dort noch häufig beibehalten wird, wo „man sich ‚eigentlich‘ des stilisierten und poetischen Charakters von Gen 1 bewusst ist. Um das Missverständnis zu vermeiden, dass es sich in Gen 1 um einen Tatsachenbericht handelt, ist deshalb auf einen bewussten Sprachgebrauch zu achten, der Gen 1 als ‚Schöpfungserzählung‘ oder ‚Schöpfungspoesie‘ kennzeichnet.“ (Ebd.) Das hier von Rothgangel ausschließlich in Bezug auf Gen 1 Gesagte ist aber durchaus auf alle Schöpfungsgeschichten der Bibel auszuweiten, so insbes. auch auf den sog. zweiten Schöpfungsbericht ab Gen 2,4b. Nach: Löning/Zenger (1997), S. 30.

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3. Das Urmeer und 4. ‚die Wasser‘ als die chaotischen Gestalten der zwei Urwasser“11. So werden am Beginn der Geschichte Chaosmächte12 geschildert, die bereits von Gott vorgefunden werden, die er also „nicht erschafft, sondern erschaffend bearbeitet“13. Wie Löning und Zenger herausarbeiten, könnte auch die Rede von der Ruach Elohim, also dem Wind (oder Geist) Gottes, in diesem Umfeld der Chaosmächte anzusiedeln sein.14 „Als Aussage über Gottes schöpferische Lebenskraft ‚vor der Schöpfung‘ meint sie die göttliche Energie und Kreativität, die sich dann im Schöpfungsakt verwirklichen.“15 Die Aussagen zum Urzustand werden insbesondere bei der Thematisierung des Bösen gemäss der ersten Schöpfungserzählung von grosser Bedeutung sein. Nachdem der Urzustand beschrieben worden ist, setzt das Schöpfungshandeln Gottes ein. Mit Blick auf die vorgefundenen Chaosmächte wird dieses mit „kriegerischem“ Vokabular als Trennen, etc., geschildert. 3.2

Schöpferhandeln als Trennung und Bändigung der Chaosmächte

Gottes Schöpfertätigkeit beginnt in Gen 1,3 mit der Erschaffung des Lichts als Gottes erstem Werk. Im Schaffen des Lichtes begegnet bereits ein zentrales Charakteristikum dieser Schöpfungserzählung: Gott ruft das Licht ins Dasein. Sein Sprechen, also sein Wort, verändert die Wirklichkeit. „Dahinter steht die Vorstellung von der souveränen Macht des Königs, dessen bloßer Befehl das zu bewirken vermag, was er will. Es gibt dazu Parallelen in der ägyptischen Mythologie, die die Erschaffung bestimmter Dinge auf das Machtwort einer Gottheit zurückführen.“16 Gott benennt das zu Schaffende und durch dieses Aussprechen Gottes wird es sogleich geschaffen. Das unglaubliche Werk der Schöpfung erscheint alles andere als mühsam und erschöpfend. Gott schüttelt die Dinge sozusagen einfach aus seinem Rockzipfel resp. metaphorisch passender aus seinen Mundwinkeln. Gott erscheint so unglaublich mächtig. 11 12

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16

Ebd. Wie Baumgart hervorstreicht, ist Chaos innerhalb der biblischen Urgeschichte mit dem Leben Verunmöglichenden bzw. Verhindernden zu identifizieren. (Nach: Baumgart (1999), S. 304.) Löning/Zenger (1997), S. 30. Nach: Ebd., S. 31. Ebd. So auch Baumgart, der ‫( רוח‬Ruach; Wind, Geist, Hauch) in diesem Zusammenhang mit folgenden Umschreibungen wiedergibt: „göttlicher, potentiell-kreativer Sturmwind“ (Baumgart (1999), S. 57.) sowie „Beschreibung der potentiell kreativen Macht und Kraft Gottes“ (Ebd.). Krauss/Küchler (2003), S. 18.

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In spielerischer Leichtigkeit schafft er das, wovon sich der Mensch kaum vorstellen kann, wie es all dies überhaupt geben kann. Dass es nun nebst der vorgegebenen Dunkelheit auch das Licht gibt, führt dazu, dass durch deren beständigen, rhythmisch geordneten Wechsel die Zeiteinheit Tag hervorgebracht wird. Zu Beginn der Schöpfung steht so die lebensermöglichende Kategorie Zeit, welche durch das Licht ermöglicht wird. Weiter stellt das Licht aber nicht nur das Lebensermöglichende dar, sondern mit dem Licht wird auch – als „Zielsetzung der Schöpfung“17 – die Heilsdimension in Gottes Schöpfung eingetragen.18 Nachdem Gott das Licht erschaffen hat, schaut er sich das Geschaffene an, und qualifiziert es als gut.19 Diese erste Schöpfertätigkeit Gottes endet damit, dass Gott in Gen 1,4b zwischen der Dunkelheit – dem vorgefundenen Element – und dem Licht – der geschaffenen Wirklichkeit – scheidet. Mit Zenger und Löning gilt es herauszustreichen, dass sich die Qualifizierung des Geschaffenen als gut ausdrücklich nur auf das an diesem Tag geschaffene Licht bezieht,20 nicht aber auf die übrigen berichteten Ereignisse dieses Tages, also beispielsweise nicht auf den Wechsel von Tag und Nacht und erst recht nicht auf die Finsternis. Das ist theologische Absicht: Die Finsternis gilt hier eben nicht als Schöpfungswerk, sondern ist die gemäß Gen 1,2 schon vor der Schöpfung gegebene chaotische Mächtigkeit. Aus ihr wird nach Gen 1,3–5 zwar ‚die Nacht‘ genommen, die ihrerseits in der Abfolge Nacht – Tag in den Lebensprozess der Schöpfung integriert wird. Aber gleichwohl lassen die Erzähler zwischen den Zeilen erkennen, dass es die chaotische Mächtigkeit der Finsternis auch nach der Schöpfung noch gibt – und dass sich an deren fortwährender Begrenzung die Mächtigkeit des Schöpfergottes erweist.21 So taucht hier bereits ein wichtiges Element zur Frage nach der Herkunft des Bösen auf. Mit Blick auf die Erschaffung des Lichts gilt es festzuhalten, dass Gott damit wesentlich die vorgegebene (!) chaotische Macht der Finsternis eingegrenzt hat. Diese besteht zwar weiter, kann aber nicht mehr ungehindert lebensfeindlich wirken.

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Löning/Zenger (1997), S. 143. Nach: Ebd. Nach: Gen 1,4a. Nach: Löning/Zenger (1997), S. 33. Ebd., S. 33f.

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Ein weiteres Thema der Erzählung ist das Stiften der Lebensräume, welche anschließend mit Leben gefüllt werden können. Gottes Handeln wird geradezu als das Errichten eines Hauses für das Leben geschildert, die Welt wird als Lebenshaus22 vorgestellt. Nach der Erschaffung des Lichts stellt Gott eine Scheide zwischen den Wassern auf, welche das Wasser oberhalb derselben von jenem unterhalb scheiden soll. Dieser Scheide gibt er den Namen Himmel. Damit endet der zweite Schöpfungstag.23 Wiederum nimmt Gott etwas Vorgefundenes und begrenzt es. Nun lässt Gott am dritten Tag in Gen 1,9 das Trockene sichtbar werden, indem sich das Wasser sammelt. So werden Erde und Meer geschaffen, welche wie das Licht als gut bezeichnet werden.24 Gott fährt fort mit seinem Schöpfungswerk und erschafft noch am selben Tag die Pflanzen der Erde, wobei auch dieses Werk als gut bezeichnet wird.25 Damit steht das Lebenshaus: Die einzelnen Räume – Himmel, Meer und trockenes Land – sind bereit, mit Leben gefüllt zu werden. So wie auch ein Haus nicht als Zweck für sich gebaut wird, sondern einer Familie Lebensraum geben soll, kreiert auch Gott dieses Lebenshaus dazu, es mit Leben zu füllen. Das zeitlich nachfolgend Erschaffene bildet so den eigentlichen Grund für die Erschaffung des zeitlich Vorgängigen. Nach der Erschaffung der Lebewesen qualifiziert Gott in Gen 1,31 alles Geschaffene sogar als sehr gut (‫ ;טוב מאוד‬tov me‘ód). Bei dieser Qualifizierung steht die Lebensdienlichkeit im Fokus, sodass es im gesamten Schöpfungshandeln Gottes sowie bei allem Geschaffenen letztlich um ein einziges Thema geht: Das Leben. So bezeichnet gut „die Lebensdienlichkeit der Schöpfung. Wenn sie als ‚sehr gut‘ bezeichnet wird, bedeutet dies: Sie ist ganz auf gelingendes Leben hin ausgerichtet.“26 Gott versucht, die lebensfeindlichen Mächte, welche seiner Schöpfungstat bereits vorgegeben sind und für die er folglich nicht im Geringsten verantwortlich zu machen ist, zu überwinden.27 Dies bedeutet keine Schwäche in Gott, ganz im Gegenteil: In seinem schöpferischen Handeln am lebensfeindlichen Chaos vor der Erschaffung der Welt, aus dem Gott das Lebenshaus Erde geschaffen hat, erweist sich seine Souveränität.28 Im Erschaffen der Lebensräume und -zeiten wird Gottes Handeln als Teilen, Ordnen und Scheiden 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Lönings und Zengers Überschrift eines ihrer Kapitel als „Die Welt als Lebenshaus“ (Löning/Zenger (1997), S. 142.). Nach: Gen 1,6–8. Nach: Gen 1,10. Nach: Gen 1,11–12. Schmid (2012,2), S. 80. Nach: Claret (2011,1), S. 75. Nach: Löning/Zenger (1997), S. 32f.

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umschrieben. Gerade in diesen Tätigkeiten besteht ein Anklang an das Enuma Elisch-Epos: Gott trennt die Wasser, worin eindeutig die Vorstellung aus dem genannten babylonischen Schöpfungsmythos anklingt: Der dort geschilderte Kampf29 wird in der Schilderung der ersten Schöpfungserzählung stilisiert, indem Töten und Kampf, etc. in stilisierte Formen des Kampfes in Form von Teilen, Ordnen, Scheiden und Trennen übertragen werden. Nicht nur in der ersten Schöpfungsgeschichte, sondern auch in weiteren Teilen der Schöpfungstexte der Bibel wird der Akt der Erschaffung in diesen Formen des Kampfes gegen die zerstörerischen Chaosmächte geschildert.30 Gottes schaffende Tätigkeit geschieht gerade auch „gegenüber vorgegebener Ordnung“31 bzw. Unordnung und so ist die Billigungsformel (Gott sah, dass es gut war) „bezogen auf die Sinnhaftigkeit der Ordnung Gottes, die er jeweils einführt. Über diese Ordnung besteht kein Zweifel.“32 Es sind vor allem die der Schöpfung vorausgehenden lebensfeindlichen Chaosmächte, welche zur Erklärung des Bösen auf dem Hintergrund von Gen 1,1–2,4a herangezogen werden müssen. Diesem Punkt soll in der Folge weiter nachgegangen werden. 3.3

Die Herkunft des Bösen gemäß Gen 1,1–2,4a

In Gen 1,1–2,4a wird keine Erschaffung der Welt aus dem Nichts geschildert,33 wenngleich dieser Text in späterer Zeit als Grundlage für die Theorie der creatio ex nihilo hinzugezogen wurde. Gott ordnet die Chaosmächte und ermöglicht so einen Lebensraum. Das eigentliche theologische Interesse des Textes besteht damit nicht in der für uns heute so wichtigen Frage nach dem Woher 29

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Der Kampf zwischen Tiamat (bzw. Tiamtu) und Marduk. (Vgl.: Enuma Elisch, Tafel iv.) „Er schoss einen Pfeil, dann (/damit) spaltete er ihren Bauch; Er durchschnitt ihren Leib, er zerteilte das Innere.“ (Ebd., Tafel iv, v. 101f., S. 218.) Er zerteilte Tiamat in zwei Hälften und bildete daraus den Himmel, die Wasser grenzte er mit einer Haut ein, damit sie nicht entweichen konnten. (Nach: Ebd., Tafel iv, v. 136–140, S. 224f.) Hier wird also ebenfalls das Aufrichten des Himmelsgewölbes, das Trennen der unteren von den oberen Wassern berichtet wie in Gen 1, jedoch wird dies hier in einem handfesten Götterkampf geschildert. Aus Tiamat wird aber auch die Erde mit Bergen und Flüssen gebildet. (Nach: Ebd., Tafel v, v. 53–58, S. 235.) Zur Entstehung des Enuma Elisch s.: Ebd., S. 16–21. Vgl.: Ps 74,13–17; 89,10–12. Die Rede von der Bändigung der Chaosmächte in einem ständigen Kampf wird nochmals eindrücklich in der Hiobgeschichte begegnen. Berger, K. (1998), S. 135. Ebd. Vgl. beispielsweise: Keel/Schroer (2002), S. 172.

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des Bösen, sondern ganz im Gegenteil waren die Verfasser zur Zeit der Entstehung dieser Perikope daran interessiert, wie es angesichts des Chaos und der zerstörerischen Mächte überhaupt etwas Gutes geben kann. Gott setzt inmitten des vorgefundenen Chaos ein Lebenshaus34 und füllt dieses anschließend mit Leben. Dieses Gute wird ganz und gar auf Gott und sein wirkmächtiges Schöpferhandeln zurückgeführt. Es ging nicht um ein Ringen mit dem Bösen, sondern vielmehr um die Erklärung des Guten und damit um die dankbare Anerkennung Gottes als Schöpfer der lebensermöglichenden Elemente und die theologische Erkenntnis, dass sich alles Leben Gott verdankt, inklusive des lebensermöglichenden Raums: „Nicht das Böse ist das zu Erklärende, es ist das Vorgegebene. Erstaunlich und nur auf Gottes Eingriff zurückzuführen ist vielmehr das Gute und die Ordnung. Die gute Schöpfung reicht so weit, wie Gottes Ordnung reicht. An verschiedenen Stellen und immer wieder kommt die naturgegebene Unordnung zum Vorschein.“35 Die Frage wird ergründet, wie in diesem Chaos überhaupt Gutes – insbesondere das Leben – existieren kann. Der theologische Akzent liegt auf dem Guten und nicht auf dem Bösen. Nur das Gute gilt es zu erklären, das Böse dagegen wird als vorgegeben wahrgenommen.36 Wenngleich also die lebensbedrohlichen Mächte – denn als dies wird das Böse in der behandelten Perikope vorgestellt und thematisiert – nicht von Gott zu verantworten sind, so bleibt zu bedenken, dass diese Mächte auch durch die Schöpfung nicht gebannt sind. Sie existieren weiterhin; wenngleich Gott sie begrenzt hat, können sie doch noch immer in die Schöpfung und das von Gott gestiftete Lebenshaus einfallen.37 Mit Blick auf das Phänomen des Bösen bzw. der lebensfeindlichen und -bedrohenden Chaosmächte lässt sich sagen, „dass nämlich Gott offenbar eine Welt geschaffen hat, in der von Anfang an auch etwas lauert, das dem Menschen urplötzlich, ohne dass er sich wirksam davor schützen könnte, im Handumdrehen sehr gefährlich werden und ihm – weil die ganze Existenz bedrohend – ‚böse‘ zusetzen kann.“38 Die Chaosmächte sind dabei keineswegs gottgewollt. Wohl schließt die Perikope die 34 35 36 37

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Zum Lebenshaus s.: Löning/Zenger (1997), insbes. S. 145. Berger, K. (1999), S. 38. Nach: Ders. (1999), S. 38. Ein biblisches Beispiel hierfür findet sich in der Erzählung von der Sintflut: Die Urwasser (‫ ;תהום‬Thehóm) brechen nochmals über die Erde ein und überfluten sie (s.: Gen 7,11), was beinahe – wären Gottes Güte und Lebensfreundlichkeit nicht größer – zur kompletten Vernichtung des geschaffenen Lebens geführt hätte. Doch auch in der Hioberzählung werden die Chaosmächte, welche Gott in einem beständigen Kampf in Zaum hält, in den Gottesreden auf imposante Weise nochmals heraufbeschworen, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird. Claret (2011,1), S. 81.

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weitere Existenz dieser gebändigten Chaosmächte nicht aus, doch wird nur die Schöpfung und alles in ihr, alles also, das als gut39 qualifiziert wird, von Gott gewollt. Diese Rede von der Gutheit des Geschaffenen hängt damit gerade auch an der Annahme bereits vorgefundener Chaosmächte.40 Mit Blick auf die lebensbedrohenden Chaosmächte wird Gott vom Text nicht zur Verantwortung gezogen, da diese als bereits vorgegeben erscheinen und von Gott soweit gebändigt und geordnet werden, dass Leben (und zwar als Gut) möglich wird. Gottes Verantwortung liegt in der Existenz des Guten. Für Gen 1,1–2,4a lässt sich festhalten, dass der Text eigentlich nichts über die letztliche Herkunft der Chaosmächte und damit des Bösen aussagt, vielmehr schweigt er sich darüber aus. Das Böse in Form der lebensbedrohenden Chaosmächte findet sich bereits vor der lebensschaffenden Schöpfung vor. Dies ist darin begründet, dass die Verfasser kein Interesse daran hatten, dieser Frage nachzugehen. Was sie dagegen sehr wohl beschäftigte, war die Existenz des Guten und des Lebens, welches sie angesichts des Chaos theologisch zu begründen suchten. Als wichtige theologische Konsequenz ergibt sich daraus, dass wir aus der Überzeugung heraus leben müssen, dass Gottes Schöpfung als ins Chaos hineingepflanzter, lebensermöglichender Lebensraum zu verstehen ist, in den das Chaos allerdings immer wieder hereinbrechen kann und faktisch auch hereinbricht. Auf der alleinigen Grundlage von Gen 1,1–2,4a allerdings zu behaupten, es sei von Gott geschaffen und letztlich von ihm zu verantworten, ist unzulässig. Anhand dieser Perikope ist nicht zu klären, woher das 39 40

Vgl. insbes. Gen 1,31, wo Gott alles, was er geschaffen hat, ansieht und als sehr gut (‫טוב מאוד‬, tov me‘ód) qualifiziert. Nach: Gross/Kuschel (1992), S. 36. Mit Gross/Kuschel sei hier insbesondere die Finsternis eigens erwähnt: „Die Finsternis kann zunächst von nichts getrennt werden, sie ist total. Elohim erschafft aber das Licht als erstes Schöpfungswerk hinzu und trennt es alsbald zeitlich von der Finsternis. Sie sinkt so zu einem Teilaspekt herab und ist als solcher, d.h. als Nacht, die stets wieder dem Tag weichen muss, in die Schöpfung integriert. […] So getrennt und als getrennte der Schöpfungswelt integriert, erhalten sie ihre Namen Tag und Nacht. Aber Lebenszeit ist nur der Tag. Die Nacht ist keine Lebenszeit, ihr haftet auch in der Schöpfungswelt die Lebensfeindlichkeit ihrer Existenzform vor Einsatz des Schöpfungshandelns Gottes an; selbst so entmächtigt und integriert, kann die Finsternis nicht als gut beurteilt werden. Deshalb steht nur an diesem ersten Schöpfungstag die Billigungsformel nicht am Ende, so dass sie Tag und Nacht umgriffe, sondern Elohim zieht ausnahmsweise am ersten Tag die Beurteilung des Lichtes vor, während er der Finsternis zwar einen Namen gibt, sie aber nicht beurteilt, und er nennt auch, um jedes Missverständnis auszuschalten, ausnahmsweise das Licht ausdrücklich in der Billigungsformel“ (Ebd., S. 37f.).

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Böse kommt. Es ist bereits vorhanden. Bedeutet dies nun aber, dass es ein gottgleiches, ewiges Prinzip neben Gott ist? Sind diese Chaosmächte als dualistische Kräfte neben Gott zu sehen? Dies scheint unwahrscheinlich, zumal die erste Schöpfungserzählung, entstanden im 6. Jh. v.Chr., vom Bewusstsein des Monotheismus lebt. Fragwürdig ist aber doch, wie Gott dann diese Mächte nicht ganz beseitigen, sondern nur begrenzen und in seine Schöpfung integrieren kann. Doch genau dies ist der entscheidende Punkt: Gott ist so mächtig, dass er es nicht nötig hat, die Chaosmächte ganz zu vernichten, sondern sie sich positiv zu Nutzen machen kann für sein lebensermöglichendes, -schaffendes und -erhaltendes Wirken. Zugleich bleibt das Böse in Form dieser vorgegebenen und weiterhin existierenden, wenngleich gebändigten Chaosmächte ein Rätsel. Sie kommen nicht von Gott. Alles von Gott Geschaffene nämlich ist gut, indem es seinem Zweck entspricht. Dies bedeutet, dass es seinem Ziel und seiner Aufgabe nach lebensförderlich und -dienlich sein sollte. Die lebensfeindlichen Mächte dagegen passen nicht zu diesem Konzept des Lebenshauses. Vielmehr werden sie in dieses durch Begrenzung lebensdienlich integriert. Als konzise Schlussfolgerungen aus den Erörterungen lässt sich in den Worten Schüles festhalten: „Für sich genommen sieht die Priesterschrift im Bösen etwas Ungeschaffenes und insofern Unerklärbares – etwas, das so chaotisch und bedrohlich ist wie die Chaoselemente von Gen 1,2 und das es entsprechend zu bändigen gilt.“41 Der Text fragt danach, wie es angesichts all dieses Bösen, Lebensbedrohlichen und -feindlichen nicht nur etwas, sondern etwas Gutes bzw. Leben geben kann. Zugleich drückt der Text – gerade auch, wenn man die gesamte Urgeschichte in den Blick nimmt – das Vertrauen aus, dass Gott dieses Leben bewahrt und durchträgt.42 Und so wird im Unterschied zu den im ersten Teil vorgestellten klassischen Theodizee-Entwürfen die Existenz des Bösen nicht zur Herausforderung an Gott bzw. an den Glauben an ihn: Ganz im Gegenteil kann die angesichts all dieses Lebensfeindlichen dennoch vorhandene Existenz des Guten vielmehr im Umkehrschluss als „Beweis“ für die

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Schüle (2012), S. 22. In der Urgeschichte bindet sich Gott ganz zum Schluss selbst an die Erhaltung dieses von ihm geschaffenen Lebens und setzt mit dem Regenbogen ein verlässliches Zeichen für diesen unilateralen Bund, welches sowohl die Schöpfung als auch ihn selbst an die Unaufkündbarkeit dieses Bundes erinnert. „Wer dem Gott der Bibel das Attribut der Allmacht beilegen will, muss die Konnotation wahlloser Gewalttätigkeit von ihr fernhalten. Gott hat sich an seine Schöpfung gebunden; darin liegt eine erste Grenze seiner Freiheit.“ (Dietrich/Link (2000), S. 175.)

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Existenz Gottes43 gesehen werden:44 Alles Lebendige und Leben Ermöglichende verdankt sich dem einen Gott, der Schöpfer der ganzen Welt und Lenker der gesamten Weltgeschichte ist. Doch wenn die Elemente der Chaosmächte der in Gen 1,1–2,4a geschilderten Schöpfung bereits vorfindlich sind, wie kann dann von einer creatio ex nihilo, einer Schöpfung aus dem Nichts, die Rede sein? Dieser Frage soll in der Folge nachgegangen werden, indem die Rezeption der ersten Schöpfungsgeschichte mit Fokus auf die Entwicklung der creatio ex nihilo-Lehre durchleuchtet wird. 3.4

Die Lehre von der creatio ex nihilo

Aus der Erzählung in Gen 1 geht hervor, dass die Erde nicht aus dem Nichts erschaffen worden ist, sondern aus einem vorgefundenen Chaos heraus.45 Die creatio ex nihilo dagegen stellt eine theologische Weiterentwicklung dar. Bezüglich dem Terminus nihilo führt Kraemer eine interessante Deutung desselben an: So sei dieses Nichts für islamische Philosophen im Rahmen der Bezeichnung creatio ex nihilo gleichsam mit Gott identifiziert worden, „for God is called ‚nothing‘ or ‚no thing‘ because of his incomprehensibility and ineffability.“46 Ziel wäre es demnach also, mit dieser Formel auszudrücken, dass sich die Welt ganz und gar der schöpferischen Tat Gottes verdankt. Und genau dies ist auch das Anliegen in der christlichen Lehre der creatio ex nihilo: Die gesamte Schöpfung – mitsamt der Materie, aus der sie geschaffen 43

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Wobei es anzumerken gilt, dass es dem Text selber gerade nicht darum geht, Gottes Existenz zu beweisen, da diese zu keiner Zeit infrage stand: Dass es Gott bzw. Götter gibt, war zur Zeit der Entstehung des Textes eine gegebene Tatsache. Vielmehr sollte aufgezeigt werden, dass der Gott Israels der eine und einzige Gott und Schöpfer und Lenker der gesamten Welt ist: Er allein hat die Geschicke der Geschichte in seiner Hand. Damit begegnen wir hier dem genauen Gegenteil der „Beweisführung“ des Aquinaten: Wie später im dritten Teil dieser Arbeit zu sehen sein wird, stellt für diesen interessanterweise gerade das Vorhandensein (es wird hier bewusst auf den Begriff „Existenz“ verzichtet, da das Böse nach Thomas von Aquin kein eigenes, unabhängiges Sein besitzt, es ist keine Existenz, sondern ein Mangel, eine Abwesenheit) des Bösen den Beweis für die Existenz Gottes dar. (Vgl. z.B.: scg iii,71.) Nach: Kraemer, J. (2008), S. 384. Diese Sicht stützt sich gerade auch auf den Schöpfungspsalm 104, von welchem in der Exegese gemeinhin ein höheres Alter als die Erzählung in Gen 1 angenommen wird. (Nach: Ebd., S. 385.) Auf den genannten Psalm wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit allerdings nicht genauer eingegangen. Ebd., S. 386.

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wurde – verdankt sich dem Schöpfungsakt Gottes, sie ist gänzlich auf einen freien Willensakt der Liebe des Schöpfers zurückzuführen und damit auch von Gott verschieden. Verbunden mit der Frage nach dem Bösen ist die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts auch im Hinblick etwa auf die Theodizee, aber auch auf weitere Grundfragen der Theologie von Bedeutung.47 Hier ist der Dreh- und Angelpunkt anzusetzen „for classical accounts of divine action, free will, grace, theodicy, religious language, intercessory prayer and questions of divine eternity – in short, the foundation for any account of a scriptural God who acts in history but yet remains the transcendent Creator of all that is.“48 Folglich wird dieser Exkurs nicht nur wegen der oben betrachteten Schöpfungserzählung aufgegriffen, sondern insbesondere wegen den Konsequenzen und Schlussfolgerungen dieser Theorie, welche u.a. bezüglich des Bösen sowie der Theodizee gezogen werden können. Denn die theologischen Aussagen über die Herkunft des Bösen, welche im dogmatischen Teil beleuchtet werden, werden nicht nur an den biblischen Aussagen selbst, sondern gerade auch an deren Entwicklungs- und Interpretationsgeschichten, die sich etwa in der Lehre von der creatio ex nihilo spiegeln, entwickelt. Obwohl im biblischen Text nicht erwähnt, wird die genannte Theorie nichtsdestotrotz an ebendiesem entwickelt. Zur Entwicklung der Vorstellung, Gott habe die Welt nicht aus einer bereits vorhandenen Materie, sondern aus dem Nichts – ein Gedanke, mit dem seine Allmacht unterstrichen werden soll – erschaffen, war eine gewisse Entwicklungsleistung im Denken der Menschen vonnöten, eine Stufe, die zur Zeit der Entstehung der biblischen Texte noch nicht erreicht war.49 Denn die Entwicklung der Formel creatio ex nihilo in Bezug auf die biblische Schöpfungserzählung stellt zugleich „auch eine Interpretation des biblischen Schöpfungsgedankens mit philosophischen

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Weber etwa streicht die besagte Lehre mit den daraus verbundenen Konsequenzen (gerade auch im Hinblick auf das Attribut der göttlichen Allmacht) als Notwendigkeit für den christlichen (!) Monotheismus heraus. (Nach: Weber, S. (2013), S. 42.) Cogliati (2010), S. 1. So ist denn auch fragwürdig, ob die Vorstellung der creatio ex nihilo überhaupt im biblischen Kanon auftaucht. Oft wird hierbei auf 2 Makk 7,28 verwiesen, wobei gerade auch diese Stelle kontrovers behandelt wird. Klaiber etwa spricht sich dafür aus, dass hier sehr wohl das älteste Zeugnis der Vorstellung der creatio ex nihilo gegeben ist (nach: Klaiber (2005), fn 5 S. 19; dieser Sicht schließt sich beispielsweise auch Schmid an: Schmid (2012,1), S. 328; ders. (2012,2), S. 90.), sodass sich diese bereits in der Bibel finden würde und nicht erst eine nachbiblische Entwicklung darstellte. Löning/Zenger dagegen sprechen sich dafür aus, dass die Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts zu biblischen Zeiten gerade unbekannt war. (Nach: Löning/Zenger (1997), S. 19f.)

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Begriffen“50, genauer gesagt mit Begriffen der hellenistischen Philosophie, dar. Die Auseinandersetzung mit der Gnosis51 ist dabei zwar ebenfalls nicht zu vernachlässigen, allerdings macht sie gemäß May keineswegs den Hauptaspekt aus, sondern bildet nur einen der Bezugspunkte, der andere Anknüpfungspunkt dagegen wird vom philosophischen Weltbildungsmodell gebildet.52 Erst um die Mitte des zweiten Jahrhunderts wurde die Auseinandersetzung mit der Philosophie als zentrale Aufgabe des christlichen Denkens erkannt und als solche in Angriff genommen. […] Die Vermittlung der Vorstellung von dem frei und voraussetzungslos schaffenden Gott in den Begriffen der griechischen Metaphysik wird nun zu einem zentralen Thema der christlichen Theologie.53 In exemplarischer Weise hat May die Entwicklung dieser Theorie geschichtlich für die frühe Kirche aufgezeigt.54 May betont bereits auf den einführenden Seiten, dass die Theorie der Schaffung der Welt aus dem Nichts zwar inhaltlich bereits in der biblischen Erzählung vom ersten Schöpfungsbericht bzw. in der Bibel enthalten, aber der Form nach noch nicht durchdacht ist.55 Die Theorie findet so ihre Anhaltspunkte in der Erzählung von Gen 1,1–2,4a.56 50 51

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May (1978), S. 24. Klassischerweise geht die Gnosis von einem dualistischen Weltsystem aus. Die Materie wird als schlecht qualifiziert, die Seele – der göttliche Funke – ist gefangen im Körper, der Tod dagegen wird als Befreiung der Seele aus der Materie geglaubt, erfahren und angestrebt. (Vgl. hierzu auch: Schubert, A. (2012), S. 189, der festhält, dass oftmals der neuplatonische Emanationsgedanke geteilt wird.) Darin lässt sich eine gewisse Verbindung (allerdings nur mit Vorsicht und Vorbehalt) zum Neuplatonismus etwa eines Plotin ziehen: „Plotin bestimmt das Schlechte an sich als die Materie (→ hylê) und deren Maßlosigkeit (ametria); es ist kosmologisch notwendig, aber nicht alles hat Teil an ihm, sondern nur, was an Materie gebunden ist.“ (Perger (2002), S. 228, Sp. 1.) Gegen die gnostische Materiefeindlichkeit richtet sich die Lehre der creatio ex nihilo: Die Materie wird als ebenfalls von Gott geschaffen und gewollt betrachtet und dadurch als gut qualifiziert. Nach: May (1978), S. 24. Ebd, S. 1. Zwar ist die entsprechende Schrift bereits etwas älter, doch wird sie auch in aktuellen Publikationen noch immer als maßgebliche Quelle zitiert, so basiert etwa auch McMullins Analyse zu weiten Teilen auf Mays Erkenntnissen. (Siehe insbes.: McMullin (2010), S. 16–20.) Nach: May (1978), S. vii. Dabei schien insbes. die so lange Zeit vorherrschende lateinische Version der Vulgata für die Vorstellung der Schaffung aus dem Nichts zu sprechen. So führte gemäß McMullin Gen 1,1 in der Vulgata-Version in der frühen Kirche dazu, „to affirm that God’s act of

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Demnach stellte die Vorstellung der Weltschöpfung als creatio ex nihilo keine Verfälschung des biblischen Textes und der darin enthaltenen Verfasserintention dar, sondern führte die theologische Vorstellung, die dahinter steckt, auf eine höhere Stufe. Dabei muss auch mitbedacht werden, dass die Rede von der Schaffung aus dem Nichts keineswegs statisch ist, denn in den Anfängen, da diese Rede aufkam, hatte sie noch nicht dieselbe Bedeutung, die sie später erlangen sollte und die bis heute Geltung besitzt, nämlich in einem ontologischen Sinne verstanden; vielmehr wurde zu Beginn im hellenistischen Judentum die Rede von einer Erschaffung aus dem Nichts nicht in Widerspruch zur Vorstellung von einer ewigen Weltmaterie gesehen.57 Als Beispiel für das Verständnis des göttlichen Schöpfungshandelns im jüdisch-hellenistischen Bereich führt May Philo von Alexandrien an. Wie er festhält, übernahm dieser die aus der hellenistischen Philosophie stammende Vorstellung einer präexistenten Materie, die nicht von Gott geschaffen wurde.58 Doch stellte dies – so hält May fest – für Philo keine Begrenzung der göttlichen Allmacht dar, weswegen er sich auch gar keine Gedanken zu diesem Problemkomplex machte.59 Für den hellenistischen Juden Philo war es problemlos möglich, eine ungewordene Materie anzunehmen, diese aber dennoch nicht im Sinne eines dualen Systems als Prinzip neben Gott – „als ontologisch gleichwertiges Prinzip“60 – anzunehmen, sondern Gottes Allmacht weiterhin annehmen zu können.61 Philo verortet an einigen Stellen den Ursprung des Bösen in der Materie bzw. bezeichnet die Materie als einen der Ursprünge des Bösen.62 „Die Pointe seiner Aussage besteht gerade in der These, dass sich Gottes Schöpfergüte in der Formung des Stoffes äußert, während die Frage nach dem Ursprung der Materie und ihres ursprünglichen ungeordneten Zustandes nicht reflektiert wird.“63 Weshalb darüber hinaus im Judentum die Entwicklung in Bezug auf die creatio ex nihilo-Lehre allgmein anders als im Christentum und auch viel später – und selbst dann noch mit anderen Konsequenzen, nämlich keineswegs so verbindlich – verlaufen ist, hält May sehr schön fest:

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creating was ex nihilo, that there was nothing before heavens and earth appeared other than the Creator Himself.“ (McMullin (2010), S. 14, Hervorhebung im Original.) Nach: May (1978), S. vii. Nach: Ebd., S. 10f. Nach: Ebd., S. 11f. Ebd., S. 15. Nach: Ebd., S. 12. Nach: Ebd., S. 11. Ebd., S. 10.

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Dem rabbinischen Judentum lagen die Fragestellungen der griechischen Ontologie relativ fern. Aber der Hauptgrund dafür, dass es auch hier nicht zur Entstehung einer eigentlichen Lehre von der creatio ex nihilo kam, ist wohl darin zu sehen, dass sie durch den Text der Bibel nicht zwingend gefordert wurde. Die Erwähnung des Chaos in Gen. 1,2 konnte auch dafür sprechen, dass eine ewige Materie existierte, die Gott bei der Schöpfung lediglich geordnet hatte. Das jüdische Denken ist in seinem ganzen Wesen undogmatisch; es fand sich in der Frage der Weltschöpfung durch die Aussagen der Bibel nicht festgelegt und besaß damit einen weiten Spielraum für höchst verschiedenartige Schöpfungsspekulationen. Erst die jüdische Philosophie des Mittelalters[64] entwickelte in der Auseinandersetzung mit dem arabischen Neuplatonismus und Aristotelismus eine differenzierte Lehre von der creatio ex nihilo. Diese gewann aber auch jetzt nicht alleinige Geltung, sondern die biblischen Aussagen über die Schöpfung blieben weiterhin in unterschiedlicher Weise interpretierbar.65 Die (exklusive) Lehre der creatio ex nihilo stellt somit eine genuin christliche Theorie dar und findet sich folglich im Judentum nicht in vergleichbarer Weise. Im Weiteren wird daher insbesondere die Entstehung der christlichen Theoriebildung beleuchtet, die sich wesentlich früher einhellig durchsetzte. Es bleibt aber anzumerken, dass die Lehre nicht ausschließlich im christlichen Bereich zu situieren ist, wenngleich auf diesen der Fokus gerichtet wird; vielmehr stellt diese Theorie eine Gemeinsamkeit66 aller drei monotheistischen, abrahamitischen Religionen dar.67 Gemäß Soskice ist Mays Ansiedlung der Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo im genuin christlichen Bereich 64

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In der Forschung besteht bis heute keine einhellige Meinung darüber, ob beispielsweise Maimonides die Lehre der creatio ex nihilo vertrat oder in aristotelischen (Ewigkeit der Welt, ohne Anfang) bzw. platonischen (Präexistenz der Materie) Linien verharrte. (Nach: Klein-Braslavy (2011,4), S. 71.) May (1978), S. 24f. Wie Soskice hervorstreicht, handelt es sich bei der Lehre von der creatio ex nihilo nach Maimonides’ Auffassung nicht nur um eine Gemeinsamkeit der drei monotheistischen, abrahamitischen Religionen, sondern um die einzige Lehre, die von allen drei erwähnten Religionen – Judentum, Christentum und Islam – gleichermaßen geteilt wird. (Nach: Soskice (2010), S. 24.) Nach: Cogliati (2010), S. 1; vgl.: Acar (2010), S. 77. Mit Blick auf die Entwicklung der Lehre von der creatio ex nihilo im Islam sei insbes. auf zwei Koranstellen verwiesen, die als Grundlage dienten: Sure 2,117 („Er ist der Schöpfer der Himmel und der Erde. Wenn Er eine Sache beschlossen hat, sagt Er zu ihr nur: Sei!, und sie ist.“) sowie Sure 19,9 („Er sprach: ‚So wird es sein. Dein Herr spricht: Das ist Mir ein Leichtes. Auch dich habe Ich

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sehr konservativ.68 Dagegen hält sie fest, dass jüdische Denker schon viel früher mit griechischen Ideen in Kontakt gekommen waren, nämlich weit vor der Zeitenwende, genauer gesagt seit der Eroberung des Gebiets von Israel durch Alexander d.Gr. im 4. Jh. v.Chr.69 In Auseinandersetzung mit dem griechischen Weltbildungsmodell, gegen welches sich das Christentum mit dem Gedanken der creatio ex nihilo antithetisch absetzte,70 änderte sich das Verständnis der Formel creatio ex nihilo, die bis anhin nicht ontologisch zu verstehen war, grundlegend, indem sie nun nicht nur ontologisch verstanden wurde, sondern auch die Vereinbarkeit mit der Vorstellung einer präexistenten Materie, welche Gott in der Schöpfung lediglich formend gestaltete, explizit abgelehnt wurde.71 Mit dem ontologisch verstandenen Satz der creatio ex nihilo widerspricht das Christentum dem griechisch-philosophischen Konsens, dass aus nichts auch nichts entsteht (ex nihilo nihil fit) und setzt sich bewusst von diesem ab. Daraus geht deutlich hervor, dass die Theorie zwar in Auseinandersetzung mit Ideen und Vorstellungen in der griechischen Philosophie entwickelt wurde, wobei es aber nicht zu einer Aufnahme derselben kam, sondern es gerade darum ging, sich im Rahmen einer kritischen Antwort abzusetzen.72 Zunächst ging es nur darum, den biblischen Schöpfungsglauben zu wahren, gerade auch gegen Relativierungen durch die Gnosis, insbesondere deren „negative Beurteilung der Welt“73, was zu weiten Teilen eine einschneidende Konsequenz zur Folge hatte: Aufgrund der zutiefst negativen Sichtweise der materiellen Welt konnte deren „Entstehung nicht mehr auf einen Schöpfungsakt des wahren, höchsten Gottes“74 zurückgeführt werden.75 Bei den in der Philosophie verwurzelten christlichen Theologen des 2. Jh. dagegen ging es explizit darum, „die christliche Wahrheit bewusst als die Wahrheit der Philosophie“76 herauszustellen.77 Bleibt aber daran zu erinnern, dass uns die ersten Vorläufer der Lehre der creatio ex nihilo ausgerechnet bei einigen gnostischen Vertretern begegnen: So ist es gemäß

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vorher erschaffen, als du noch nichts warst.‘“), die mit Blick auf die Erschaffung des Menschen formuliert ist. Nach: Soskice (2010), S. 31. Nach: Ebd. Nach: May (1978), S. viii. Nach: Ebd., S. 22. Nach: Soskice (2010), S. 31. May (1978), S. 40. Ebd. Nach: Ebd., S. 30. Ebd. Nach: Ebd.

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May Basilides, der als Erster davon spricht, dass Gott für die Schöpfung nicht auf eine präexistente Materie zurückgriff und diese lediglich gleichsam einem Künstler bearbeitete, da diese Vorstellung die göttliche Allmacht einschränken würde und anthropomorph sei, sondern dass er einzig „auf Grund [sic!, v.v.] seines Willensentschlusses allein durch sein machtvolles Wort aus dem Nichts“78 die Welt schuf.79 „Der erste kirchliche [also außerhalb der Gnosis zu situierende, V.V.] Theologe, der erklärt, das Schaffen Gottes müsse anders gedacht werden als das eines menschlichen Künstlers, ist Theophilus von Antiochien, der bereits der auf Basilides folgenden Generation angehört.“80 In der Gnosis ist der explizite Gedanke der Schöpfung aus dem Nichts also bereits eine Generation früher nachzuweisen. Wie May herausarbeitet, geht es im Denksystem des Basilides nicht nur um die Allmacht Gottes, die mittels der Vorstellung der Schöpfung aus dem Nichts betont wird, sondern auch die Auffassung, Gott sei der Welt absolut überlegen und transzendent, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung.81 Für beide Pole ist ein Verhältnis wechselseitiger Korrespondenz auszumachen.82 Da von Basilides das erste uns erhaltene Zeugnis der Rede von der Schöpfung aus dem Nichts im eigentlichen, uns heute geläufigen – nämlich ontologischen – Sinne stammt, drängt sich für May die Frage auf, ob er diese denn auch tatsächlich als erster entwickelt hat oder ob es bereits frühere Zeugnisse gab, welche uns heute nicht mehr zugänglich sind.83 May plädiert denn auch tatsächlich für letztere These und vertritt die Meinung, dass es durchaus möglich – wenn auch nicht notwendig – ist, darauf zu schließen, „dass schon vor Basilides, d. h. zu Beginn des zweiten Jahrhunderts, in Antiochien der Begriff der creatio ex nihilo vertreten worden sein könnte.“84 Wie May festhält, finden sich mit dem Reflexionsniveau Basilides’ vergleichbare Aussagen im außergnostischen Bereich des Christentum erst bei Tatian.85 Einerseits konnte natürlich nicht an diesem sich in der Gnosis so breiter – und abgesehen von Basilides weitestgehend in nicht annehmbarer 78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 74. Nach: Ebd., S. 75. Ebd. Nach: Ebd., S. 76. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 78. Ebd. Nach: Ebd., S. 85; vgl. auch: Ebd., S. 153. An anderer Stelle dagegen lässt May diese Ehre Tertullian (vgl.: Ebd., S. 139.) bzw. Theophilus von Antiochien (vgl.: Ebd., S. 149.) zukommen. Wiederum an anderer Stelle betont May, dass es Irenäus war, der als „erste[r] katholische[r] Theologe […] im Abendland von einer Schöpfung aus nichts im prägnanten Sinn sprach“ (ebd., S. 162.).

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Weise – Behandlung erfreuenden Thematik vorbeigegangen werden, ohne sich auch im außergnostischen Bereich Gedanken darüber zu machen, wie denn nun die diesbezüglich rechtgläubige Lehre auszusehen habe.86 Andererseits begannen sich zu fraglicher Zeit viele christliche Theologen intensiv mit der Philosophie auseinanderzusetzen und zwar mit dem Ansporn, ihre Botschaft als die eigentliche, wahre Philosophie auszuweisen:87 Um Gottes Allmacht und Einheit wahren zu können, wird das philosophische „Weltbildungsmodell mit der Lehre von der creatio ex nihilo verbunden: man nimmt an, dass Gott aus nichts die formlose Materie geschaffen und diese zum geordneten Kosmos gestaltet hat.“88 Denn die Wahrung der genannten Eigenschaften erforderte es, dass auch die Materie auf Gott als deren Ursprung zurückgeführt wurde:89 Gott schuf die Materie, aus der er die gesamte Schöpfung kreierte, aus dem Nichts und griff nicht nur auf eine präexistente Materie90 zurück, der er im Schöpfungsakt lediglich eine bestimmte Form verlieh, wie dies noch im „im ganzen zweiten und im frühen dritten Jahrhundert von philosophisch gebildeten Christen“91 scheinbar problemlos vertreten worden war. Die genannte Einsicht, dass auch der Ursprung der Materie selbst auf Gott als Schöpfer zurückzuführen ist, „wird fast gleichzeitig von Tatian und Theophilus von Antiochien vertreten, und bereits durch Irenäus erhält die Lehre von der creatio ex nihilo ihre im wesentlichen [sic!, v.v.] bleibende Gestalt.“92 May ist der Meinung, dass die Lehre von der creatio ex nihilo zwingendermaßen früher oder später aus den beiden Polen biblische Schöpfungserzählung und Auseinandersetzung mit der philosophischen Prinzipienlehre hervorgehen musste.93 Doch weswegen es gerade Tatian war, der diesen Schritt als Erster beschritt, gelte es zu beleuchten,94 da dies im Unterschied zur Entwicklung der Lehre selbst keineswegs zwingend war. Wie May aufzeigt, hat Tatian diesen Gedanken aber 86 87 88 89 90

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Nach: Ebd., S. 119. Nach: Ebd., S. 120. Ebd., S. 150, Hervorhebung im Original. Nach: Ebd., S. 151. Die Vorstellung von der präexistenten Materie ist platonisch: Platons Schöpfungsverständnis findet sich im Timaios. Er geht von der Präexistenz der Materie aus, dies bedeutet, dass die Materie, aus der die Welt geschaffen wurde, bereits vor dem Schöpfungsakt vorhanden war. Der Demiurg schafft die Welt folglich aus dieser ihm vorgegebenen Materie. Als Vorbild für die Gestaltung und Formung der Schöpfung dient ihm die Welt der Ideen, nach deren (= Ideen) Abbild er die Dinge formt. May (1978), S. 149. Ebd., S. 151. Nach: Ebd., S. 153. Nach: Ebd.

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noch nicht mit jenem der creatio ex nihilo zusammengebracht.95 Denn die beiden Aspekte gehören nicht uranfänglich und untrennbar zusammen. Wer beispielsweise zwar auf der einen Seite davon sprach, dass die Welt aus nichts geschaffen wurde, konnte dennoch zugleich weiterhin von der Präexistenz der Materie ausgehen, wie etwa Philo.96 Darin wurde keineswegs ein Widerspruch gesehen. Wie May betont, handelt es sich bei der Aussage, dass auch die Materie geschaffen ist, nicht um eine logische Konsequenz der Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts, sondern der Gedankengang verläuft gerade umgekehrt:97 „[E]rst dort, wo man die Einsicht gewonnen hatte, dass um der Einheit und Allmacht Gottes willen die Materie als geschaffen zu denken sei, fand man dafür in dem Satz von der Schöpfung aus dem Nichts die prägnante Formel.“98 Doch gerade der zweite Schritt in der Entwicklung des Gedankengangs fehlt bei Tatian. Dennoch erweist sich jene Komponente des Gedankengangs, welche er bereits gefunden hatte, nämlich die Aussage, dass Gott der Urheber und Schöpfer gerade auch der Materie ist, als die entscheidende Voraussetzung für die darauffolgende Entwicklung des gesamten Gedankengangs der Behauptung der Schöpfung aus dem Nichts.99 Auch wenn nicht mehr letztgültig eruiert werden kann, wann, in welchem Bereich und zu welchem Zeitpunkt genau die Lehre von der creatio ex nihilo in unserem Sinn zuallererst in Antiochien (denn für diesen Ort als Entstehungsort plädiert May) auftauchte, so steht als ein Fixpunkt fest, dass sie ihren Durchbruch im katholischen (nicht konfessionell zu verstehen) Bereich bereits im ausgehenden 2. Jh. n.Chr. feierte.100 Im Unterschied zu Tatian ist erst bei Theophilus, dem wahrscheinlich der Gedanke der creatio ex nihilo bereits vorlag,101 der entscheidende Unterschied zwischen dem in allmächtiger Freiheit schaffenden biblischen Gott und dem platonischen Demiurgen, der in seiner schöpferischen Tätigkeit an die Voraussetzung des Stoffes und seiner Möglichkeiten gebunden ist, voll erfasst und ausgesprochen. Jetzt wird mit der These der creatio ex nihilo und der korrespondierenden positiven Aussage, dass die freie Willensentscheidung Gottes der alleinige Grund der Schöpfung ist, der biblische Gedanke der freien Schöpfung im 95 96 97 98 99 100 101

Nach: Ebd., S. 155. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 160–162. Nach: Ebd., S. 160.

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Horizont des philosophischen Denkens grundsätzlich formuliert und zur Geltung gebracht. Mit dem schärferen Erfassen seiner Eigenart musste der biblische Gottesbegriff nun allerdings auch in wachsendem Maße zum philosophischen Problem werden.102 So war die aus der Bibel hervorgehende Überzeugung, dass der Schöpfung ein freier Willensentscheid Gottes zugrunde liegt und alles Geschaffene somit als kontingent zu betrachten ist, der zentrale Grund für die Entwicklung der Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts in Abgrenzung zu den philosophischen Weltbildungsmodellen aus dem hellenistischen Raum.103 Zwar nennt May einige für die Entwicklung der creatio ex nihilo wichtige Theologen, doch sieht er in Irenäus und Theophilus die beiden wichtigsten Persönlichkeiten, welche zur Entwicklung der Lehre in der uns heute bekannten Form geführt haben.104 Die Lehre der Schöpfung aus dem Nichts wurde bereits in der Patristik entwickelt und setzte sich mit rasantem Tempo durch. Eine schöne Zusammenfassung des Vorgangs sowie auch der Annahmen, welche die Entwicklung hin zur Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts veranlassten, findet sich bei McMullin, der die Verbindung zur biblischen Schöpfungssicht als weitaus wichtiger für die Entstehung der creatio ex nihilo-Lehre als etwa die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie erachtet: Gerade in Auseinandersetzung mit dualistischen Welterklärungsmodellen wurde in der theologischen Reflexion erkannt, dass diese dualistischen Systeme Gottes Schöpfermacht auf illegitime Weise einschränken und sich die Hl. Schrift gerade gegen eine solche Limitierung ausspricht, sodass auf dieser Grundlage die Lehre von Gottes Allmacht formuliert werden konnte, was auch die Vorstellungen einer präexistenten Materie als ungeschaffenes Prinzip neben Gott, das nicht ganz seiner Macht unterliegt, sowie der Existenz niederer Wesen, welche für die Mängel in dieser Welt verantwortlich sind, ausschloss.105 Es wird ersichtlich, wie ungeheuer wichtig die Thematik und die Frage nach der Herkunft des Bösen gerade auch für die Entwicklung der creatio ex nihilo-Lehre waren. Mit Augustinus wurde eine weitere wichtige Stufe der Verfestigung der Lehre erreicht.106 Erst diesem Denker sollte es gelingen, eine befriedigende Lösung

102 103 104 105 106

Ebd., S. 164f. Nach: Soskice (2010), S. 33. Nach: May (1978), S. 181. Nach: McMullin (2010), S. 20. Nach: Cogliati (2010), S. 2.

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dafür zu finden, wie eine zeitliche Weltschöpfung und Gottes Unveränderlichkeit zusammengedacht werden können.107 Im Mittelalter lehrten alle großen christlichen Theologen des Westens die creatio ex nihilo.108 Doch nicht nur unter den Theologen hatte sich diese Lehre bis zum Mittelalter großmehrheitlich durchgesetzt, sondern auch die Philosophen schlossen sich ihr an, diese Spezifikation gilt nicht nur hinsichtlich des Westens, sondern auch der islamischen Welt.109 Wie Acar betont, bemühten sich Anhänger von Judentum, Christentum und Islam noch im Mittelalter darum, eine in philosophischer wie theologischer Hinsicht befriedigende Darstellung der Frage nach der Schöpfung zu finden.110 In der Folge soll für den christlichen Bereich des Mittelalters insbesondere Thomas von Aquin111 kurz beleuchtet werden. Der Aquinate geht davon aus, dass Gott das wahre Sein ist; alles Geschaffene dagegen besitzt nur Anteil am Sein.112 Hierin steht Thomas von Aquin dem neuplatonischen Emanationsgedanken113 nahe: Alles Seiende ist ein Ausfluss (in Abstufungen) aus dem wahren Sein. Doch ist Emanation hier nicht so zu verstehen, dass eine Notwendigkeit des Hervorgehens bestehen würde,114 vielmehr ist es trotz dem Aufgreifen dieses Begriffes ein völlig freier Akt Gottes – ein Akt der Liebe.115 Bei Thomas lassen sich also – wie beispielsweise der hier erwähnte und aus dem Neuplatonismus aufgegriffene Begriff der Emanation verdeutlicht – nicht nur aristotelische, sondern auch (neu-)platonische Elemente ausmachen. Für alles Seiende ist eine zwingende und einseitige Abhängigkeit vom einen Sein auszumachen.

107 108 109 110 111

112 113

114 115

Nach: May (1978), S. 177. Nach: Broadie (2010), S. 53. Nach: Acar (2010), S. 77. Nach: Ebd. Für die creatio ex nihilo bei Thomas von Aquin vgl.: STh i, q. 45, a. 1 resp.; sowie für die Bedeutung des Wortes ex insbes.: STh i, q. 45, a. 1 ad 3, wo Thomas herausstreicht, dass dies nicht materiell (also aus dem Stoff Nichts), sondern temporal (also nachdem zuvor nichts war) gemeint sei. Nach: Burrell (2010), S. 42. Vgl.: Ebd., S. 42–44. Oliver weist darauf hin, dass der Gedanke der Emanation im Hinblick auf Thomas von Aquin von vielen Kommentatoren unterschlagen wird. (Nach: Oliver (2010), S. 137.) Vgl.: Oliver (2010), S. 137. Auch Oliver weist darauf hin, dass die Schöpfung gemäß Thomas von Aquin auf einen freien Willensentscheid Gottes zurückzuführen ist. (Nach: Ebd., S. 140.)

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So even ‚necessary things‘ will require a cause for their very being: this is a radical revision of Aristotle, depending on the Avicennian distinction of essence from existing. What it suggests is that Aquinas was seeking for a way of understanding created being using Aristotelian metaphysics, yet the ‚givens‘ of that philosophy will have to be transformed to meet the exigency of a free creator.116 Alles Seiende besitzt sein Sein nicht aus sich selbst, sondern es stellt ein ungeschuldetes Geschenk von Seiten des Schöpfers dar.117 Gott selbst wird so zum unhintergehbaren Dreh- und Angelpunkt des Schöpfungsaktes. Im Verständnis von Gott liegt der Schlüssel für das Verständnis der Schöpfung.118 Das Geschaffene besitzt kein esse in einem geschlossenen Sinn, sondern sein Sein wird definiert als ein esse-ad119 – ein Sein hin zu Gott, dem es sich verdankt und aus dem es hervorgeht. Nur Gottes Sein ist unabhängiges und abgeschlossenes esse bzw. ipsum esse120. Das Sein des Geschöpfes dagegen wird mittels einer (einseitigen) Relation zu seinem Ursprung und damit einer einseitigen Abhängigkeit bestimmt. Dies stellt eine Besonderheit in der Form der Beziehung dar: Es besteht keinerlei Reziprozität. Das Schaffen Gottes hat zwar Auswirkungen auf das Geschaffene, allerdings bleibt Gott selbst in seinem Sein, in seinem Wesen, etc. komplett unangetastet und unverändert.121 Dies ist die einzige Beziehung, welche sich so verhält, denn in unseren innerweltlichen Bereichen hat die Reihe Ursache-Wirkung immer auch Auswirkungen auf den Verursacher.122 Diese Vorstellung der Nicht-Reziprozität der Beziehung von Gott und Geschöpf teilt Thomas mit Maimonides sowie mit Chasdai Crescas.123 Thomas von Aquin geht davon aus, dass in der natürlichen Welt mehr Gutes als Böses in der Schöpfung existiert, in der menschlichen, kulturellen Welt dagegen überwiegen die Übel.124 Durch Thomas’ Verbindung des Seins mit dem Guten125 ergibt sich eine sehr interessante Konsequenz: Gott als

116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

Burrell (2010), S. 43, Hervorhebung im Original. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 44. Nach: Ebd., S. 42 und 45. Nach: Ebd., S. 51. Nach: Ebd. Nach: Davies, D. (2010), S. 65. Nach: Burrell (2010), S. 46. Nach: Ebd., S. 47.

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das wahre Sein ist das wahre Gute.126 Alles Geschaffene hat sein Sein von Gott, es hat Anteil an diesem und ist als Sein-Zu auf dieses als seinem Ursprung und Ziel ausgerichtet.127 Nicht nur das Sein besteht in Abhängigkeit zu Gott als dem wahren Sein, sondern auch seine Qualität: So wie Gott das wahre Gute ist, ist auch alles Geschaffene gut.128 Alles, was also Sein hat, muss als Sein gut sein.129 Dies wiederum bedeutet auf das Böse gemünzt nichts anderes, als dass dem Bösen kein Sein im eigentlichen Sinne zukommen kann, dass es kein Sein hat und damit auch nicht aus dem wahren Sein und wahren Guten, welches Gott ist, hervorgeht. Dies soll vorerst genügen, im Kapitel zum Aquinaten wird aber noch eingehender auf die Thematik des Bösen eingegangen werden. Da Thomas von Aquin kurz Erwähnung fand, soll auch ein Wort zu Maimonides verloren werden. Bezüglich diesem ist die Sachlage nicht so eindeutig, wie bereits angedeutet worden ist. Soskice beispielsweise vertritt die Meinung, dass er durchaus die creatio ex nihilo vertreten hat.130 Demnach gäbe es einige Parallelen zwischen Thomas von Aquin und Maimonides auch im Hinblick auf die Schöpfungsvorstellung: Für beide ist zu unterscheiden zwischen Gott und dem Geschaffenen, welches gänzlich anders als Gott ist; Gott selbst ist nicht Teil des geschaffenen Systems, sondern steht außerhalb.131 Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zu philosophischen Ansichten.132 Auch Davies geht davon aus, dass Maimonides – und auch Crescas – von der creatio ex nihilo ausgeht.133 Er stellt einen Kausalzusammenhang her zwischen dieser von den 126 127 128 129 130

131 132 133

Vgl. z.B.: scg iii,20. Auch in STh q. 5, a. 1 resp. hält Thomas die Identität des Guten mit dem Sein fest. Wirk- und Finalursache sind damit identisch: Gott ist es, welcher diese Bewegung in Gang setzt und wieder auf sich zulaufen lässt. (Vgl.: Schäfer, C. (2013), S. 42.) Vgl.: scg iii,7. So ist auch der Teufel als Geschöpf gut. (Vgl.: Thomas von Aquin, Johanneskommentar, c. viii, l. vi, iv, 1246.) Siehe: Soskice (2010), S. 34–37. Abraham Ibn Ezra, der große jüdische Exeget des Mittelalters, dagegen verwirft die Meinung, dass in Gen 1 die Rede von einer creatio ex nihilo ist. Vielmehr vertritt er die Ansicht, dass hierbei eindeutig von einem Schaffen aus einer bereits vorhandenen Materie (vgl. die auf philosophischer Seite bekannte Position Platons) die Rede sei. (Nach: Ibn Ezra (1998), S. 3f. sowie fn 16 S. 4.) Nach: Soskice (2010), S. 36. Nach: Ebd. So nennt Davies zwei Gründe, welche dafür sprechen, dass Maimonides im mn die Lehre der creatio ex nihilo vertritt: „First, unlike the Platonic position, it is philosophically sound, Second, unlike the Aristotelian position, it is in accord with beliefs taught by the law.“ (Davies, D. (2011), S. 27.) Eine Auseinandersetzung mit den Schöpfungstheorien Platons, des Aristoteles und des Maimonides kann ebd., S. 26–42 nachgelesen werden. Ebenso sei an dieser Stelle auf Gluck verwiesen, welcher ebenfalls eher für die creatio ex nihilo

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beiden vertretenen Lehre sowie der Ansicht der nichtreziproken Abhängigkeit, wobei Letztere die Annahme der Ersteren zur Folge hat.134 Puig etwa betont, dass für Maimonides auch die Vorstellung der Ewigkeit der Welt gangbar sei: So halte Maimonides nicht nur fest, dass Aristoteles die Annahme, dass der Welt Ewigkeit zukommt, nicht bewiesen habe – ja es auch gar nicht hätte tun können, wessen er sich bewusst gewesen sei –, sondern relativiert auch die Konsequenzen einer solchen Theorie, indem er festhält, dass der Existenz nichts abträglich wäre, wäre die Welt ewig.135 Eine allfällige Ewigkeit der Welt spricht nicht nur nicht gegen die Existenz Gottes, sondern sie könnte darüber hinaus auch dabei helfen, Gott zu erkennen: „[I]f the world is eternal, we know His [= Gott, V.V.] existence.“136 Da Maimonides nicht nur Philosoph, sondern auch Theologe ist, kann er theologisch mit Ps 19, 2 in mn ii, 4 sagen, dass die Himmel Gottes Ehre erkennen lassen. So ließe selbst eine ewige Welt auf Gottes Herrlichkeit und damit auf seine Existenz schließen. „The language, in an allegorical interpretation, is a decisive manifestation that the spheres are living and rational creatures and Maimonides, in a richly lyrical exposition, incorporates the cosmology in the chorus of Creation.“137 Zusammen mit Maimonides ist auch Thomas von Aquin der Ansicht, dass die Frage nach einem zeitlichen Beginn der Welt nicht rational ergründet werden kann.138 Allerdings gehen die Gründe, welche die beiden zu dieser Erkenntnis bewegen, auseinander.139 Für den Aquinaten liegt sie schlichtweg in der Natur der Welt selbst begründet und nicht in einer etwaigen Begrenztheit unserer Vernunft.140 „Therefore the beginning of the world is a sheer fact, and can only be known positively, in this case by revelation.“141 Natur und Offenbarung geraten hier auf Konfrontationskurs,142 was gerade auch im Hinblick auf die Frage nach der Beweisbarkeit der Annahme, dass die Welt geschaffen wurde, Konsequenzen mit sich bringt. Die Ergründung dieser Frage fällt demnach

134 135 136 137 138 139 140 141 142

bei Maimonides in Abgrenzung zur Ewigkeitsvorstellung spricht und dafür plädiert, dass Maimonides hierfür ein logisch strukturiertes Argument vorbringt, welches aber nicht von der traditionellen Auffassung, sondern von der Offenbarung ausgehe. (Nach: Gluck (1998).) Nach: Davies, D. (2010), S. 70. Nach: Puig (1986), S. 217. Ebd., Hervorhebung im Original. Ebd. Nach: Kluxen (1986), S. 229. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd. Nach: Ebd., S. 229f.

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nicht in den Bereich der Physik143, sondern in jenen der Metaphysik144 und kann daher nicht aufgrund der gegebenen Dinge erkannt werden.145 Doch damit zurück zum Rambam. Eine sehr interessante Zusammenstellung bezüglich seiner Schöpfungsvorstellung findet sich bei Klein-Braslavy.146 Diese soll in der Folge kurz dargestellt werden. Sie hält fest, dass die Beurteilung der Frage, welche Position Maimonides in Bezug auf die Frage nach der Entstehung der Welt einnimmt, nicht ohne Kontroversen vonstatten geht.147 Nehmen wir zunächst in den Blick, welches Vokabular Maimonides zur Darlegung seiner Position verwendet. Zur Umschreibung des biblischen Terminus ‫ברא‬ 143

144

145 146

147

Bei der Physik handelt es sich um jene Disziplin, welche sich mit der Natur, der physis (φύσις) beschäftigt. Wichtig ist für Aristoteles dabei die Verbindung der Physis mit dem Aspekt der Bewegung (vgl.: Buchheim (2002,2), S. 349 Sp. 1.): Gemäß Aristoteles’ Physik ist sie „ein gewisses Prinzip und eine Ursache von Bewegung und Ruhe in dem Ding, in dem sie primär an sich und nicht akzidentiell vorhanden ist“ (Phys. ii, 1; 192 b20–23). Wobei die Bewegung in beide Richtungen zu denken ist: Der Gegenstand, der selbst bewegt wird, ist auch selbst Beweger; es ist ein „bewegt bewegendes Prinzip“ (Phys., ii, 7; 198 a26– 29.). Physikos meint dabei ‚zur Natur gehörig‘, ‚natürlich‘; weiter bezeichnet es aber auch den Naturphilosophen oder Naturforscher bzw. die naturbezogene Betrachtungsweise. (Nach: Buchheim (2002,1), S. 345 Sp. 1.) Das Augenmerk richtet sich also auf die Natur, die Welt und die in ihr wahrnehmbaren Phänomene selbst, um so Prinzipien aufgrund von Erfahrung, Erkenntnis und Sehen – und nicht etwa spekulativem Denken – generieren zu können. Gegenstand ist nur die wahrnehm- und erfahrbare Welt. Die Metaphysik befasst sich im Gegensatz zur Physik dementsprechend mit denjenigen Dingen, welche hinter bzw. über die Physik hinaus liegen. Hier wird also nicht mehr das Wahrnehmbare betrachtet und das Gesehene in „naturwissenschaftlichen“ Prinzipien gedeutet, sondern es werden durchaus auch spekulative Überlegungen angestellt, die nicht an der unmittelbaren Erfahrung gemessen werden können. Es geht insbesondere um „die ersten Prinzipien des Seienden“ (Töpfer (2002), S. 277 Sp. 2.) und Gott als erstem Beweger (vgl.: Metaph. i. ii. iv, 1–3.). „Umstritten ist, ob m. zunächst nur bibliothekarische Ordnungsbezeichnung (‚die nach der Physik eingereihten Bücher‘) derjenigen Werke des Aristoteles war, deren Inhalt er selbst ‚Erste Philosophie‘, ‚Theologie‘ oder ‚Weisheit‘ nennt, oder immer (auch) thematisch gemeint war im Sinne einer Lehre des jenseits des Physischen Liegenden, das in Aristoteles’ Methodologie erst im Ausgang vom sinnlich Erfahrenen, insofern ‚nach‘ diesem erkannt wird. […] Der Sache nach beginnt m. freilich nicht erst mit Aristoteles.“ (Töpfer (2002), S. 277, Sp. 2.) Nach: Kluxen (1986), S. 230. Siehe: Klein-Braslavy (2011,4). Von derselben siehe auch: (‫ברסלבי )תשמ"ו‬-‫קליין‬. Weiter sei biespielsweise auch auf Seeskin (2010); Malino (1986) sowie die Darstellung Nehorais (‫ ))נהוראי )תשנ"ו‬verwiesen, wobei dieser einen Zusammenhang zwischen den drei Themenkomlexen Schöpfung, Prophetie und Vorsehung, welche einander gegenseitig ergänzen, aufweisen will. (.119 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫)לפי‬ Nach: Klein-Braslavy (2011,4), S. 71.

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(bará) benutzt der Rambam das Arabische Wort ‛adam, was sowohl nichts als auch Materie bedeuten kann.148 Beide Begriffe sind mehrschichtig und müssen daher genauer spezifiziert werden, um die jeweils gemeinte Bedeutung zu erfassen. So kann das äquivoke ‫ ברא‬einerseits „bringing into existence out of nothing“149 bedeuten, andererseits aber auch „bringing into existence out of matter“150. Will Maimonides den Gedanken der creatio ex nihilo ausdrücken, so spezifiziert er die Begriffe weiter hin zu „bringing into existence after pure and absolute nonexistence“151, etwas ins Dasein bringen nach purer und absoluter Nichtexistenz. Mit dem Terminus des Schaffens ‫ ברא‬wird so ausgedrückt, dass etwas, nachdem zuvor absolut nichts existiert hat, ins Dasein gebracht wird. Es wird also nicht aus nichts (was als ein Etwas, ein Stoff missverstanden werden könnte), sondern nach dem der Schöpfung vorausgegangenen Zustand der Nichtexistenz geschaffen.152 Dieser vormalige Zustand ist nicht nur der Zustand der Nichtexistenz, sondern er wird – mit zusätzlichem Gewicht – als Zustand reiner und absoluter Nichtexistenz charakterisiert.153 „Thus, when he wished to express the idea of creatio ex-nihilo, he added the words ‚pure and absolute.‘[154] which made it mean, univocally, ‚nothing.‘“155 Dies klingt ganz einfach in Bezug auf die Beurteilung der Position des Maimonides – es scheint so, als ob er ganz klar die Erschaffung aus dem Nichts vertritt. Doch erweist sich das Ganze leider als komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Denn ausgerechnet in Bezug auf Gen 1 verzichtet Maimonides auf die Spezifizierung „after pure and absolute“. Hieraus schließt Klein-Bras148 149 150 151 152 153 154

155

Nach: Ebd., S. 72. Ebd. Ebd. Ebd., S. 73. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Hierin kann eine Parallele zu Ibn Sīnā gesehen werden, der ebenfalls von after absolute non-existence spricht, wenn er den Gedanken der creatio ex nihilo ausdrücken will. (Nach: Acar (2010), S. 79.) Dabei geht es Ibn Sīnā mit dem Begriff nach/after jedoch nicht etwa um eine zeitliche, sondern um eine existentielle Abfolge. (Nach: Ebd., S. 79f.) Wesentlich geht es Ibn Sīnā also nicht darum, zu sagen, dass der Kosmos nach einer vormaligen Nicht-Existenz begonnen hat, sondern im Fokus steht die Aussage, dass damit die absolute Abhängigkeit des Geschaffenen vom Erschaffer ausgedrückt wird. Genau dies ist das eigentliche Anliegen der Aussage after absolute non-existence im Sinne Ibn Sīnās. (Nach: Ebd., S. 80.) Dass dieses after bei Ibn Sīnā nicht zeitlich zu verstehen ist, wird in der Tatsache offensichtlich, dass er von der Koexistenz Gottes und des Universums ausgeht. (Nach: Ebd., S. 82.) Klein-Braslavy (2011,4), S. 73, Hervorhebung im Original.

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lavy, dass Maimonides den Terminus hier ganz bewusst äquivok verwendet.156 Der Grund, weswegen der Rambam den Begriff bewusst offen formuliert hat, könnte im esoterischen Charakter157 seines mn begründet sein: So könnte er nämlich seine tatsächliche Ansicht bezüglich der Schöpfung vor der breiten Masse verborgen haben, nur die Geschulten könnten so vordringen zu seiner wirklichen Position.158 Dies bedeutet: If Maimonides uses an equivocal explanation in order to hide his genuine opinion from the multitude, then it must be that the opinion he tries to conceal is that which is most remote from the position of the multitude and closest to that of the philosophers. The multitude thinks that bara’ is creatio ex-nihilo; hence, Maimonides’ genuine opinion must be that Creation takes place out of nonexistence that is ‚something,‘ i.e., ‚matter.‘159 Doch welche Position genau nähme Maimonides demnach ein, wenn er die creatio ex nihilo tatsächlich ablehnen würde? Welcher philosophischen Richtung 156 157 158 159

Nach: Ebd., S. 74. Hierauf wird im systematischen Teil näher eingegangen werden. Nach: Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Auch Nuri’el geht davon aus, dass Maimonides mit Bezug auf die Frage nach der Weltschöpfung den siebten von ihm zu Beginn des mn erwähnten Widerspruch verwendet hat: Das heisst, er verbirgt seine eigene Meinung, um die einfache Masse nicht zu verunsichern; diese kann sodann den Text in seiner einfachen Bedeutung lesen, seine eigene Meinung aber widerspricht dem, was auf den ersten Blick ausgesagt wird. (.373 '‫ עמ‬,(‫ נוריאל )תשב"ד‬:‫ )לפי‬Dabei betont Nuri’el, dass gerade auch eine linguistische Prüfung jener Worte angesagt ist, bei welchen auf einen solchen Widerspruch verwiesen wird, um zu sehen, wie dieser Terminus gewöhnlich verwendet wird, nicht nur um zu erkennen, was wirklich ausgesagt werden soll, sondern um zu sehen, wie die Masse, welche die Worte ihrem einfachen Sinn nach begreift, das Gesagte versteht. Maimonides nimmt nach Nuri’el einen linguistischen „Trick“ vor, um seine wahre Meinung – und damit den Widerspruch zur üblichen Lehre – vor der breiten Masse zu verbergen. (.376 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Dabei geht er insbesondere dem Begriff ‫( הבורא‬haBoréh, der Schöpfer, der Schaffende) nach, (.377–386 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬wobei er insbesondere auf Maimonides’ Abhandlung zu Jes 45, 7 verweist: Dort wird der Terminus mit Bezug auf die Erschaffung des Bösen bzw. der Dunkelheit verwendet, wobei damit gerade keine wirkliche Tätigkeit ausgedrückt wird, sind die genannten Phänomene doch qualifiziert als Privationen. (Vgl.: mn iii,13.) Dies lässt für Nuri’el den Schluss zu, dass mit Bezug auf die Schöpfung bei Maimonides gerade nicht von einer Schöpfung im Sinne einer Neuschöpfung aus dem Nichts auszugehen, sondern in Richtung Ewigkeit der Welt zu denken sei. (.387–386 '‫ עמ‬,(‫ )נוריאל )תשב"ד‬Über die damals bahnbrechende These des jungen Nuri’els siehe z.B:. 67 '‫ במיוחד עמ‬,(‫הרוי )תשנ"ד‬

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würde er am Ehesten angehören: Aristoteles mit seiner ewigen Welt oder Platon mit seiner präexistenten Materie? Klein-Braslavy spekuliert diesbezüglich in folgende Richtung: „The Aristotelian position is the most distant from the multitude’s understanding of the biblical verse. Hence, it is more plausible that, according to the esotericists, this is Maimonides’ hidden position on the Creation. Nevertheless, the esotericist approach does not completely rule out Plato’s position.“160 Doch hält Maimonides fest, dass weder die Position der 160

Klein-Braslavy (2011,4), S. 74. Maimonides selbst behandelt die Thematik in mn ii,13–30. Er stellt dabei zunächst drei grundsätzlich zu unterscheidende Theorien zur Vorstellung der Erschaffung der Welt durch Gott vor: 1. Die Position der Thorah: Zunächst war nur Gott; 2. die Materie ist ewig – also Platons Vorstellung, dass die Materie bereits vorgegeben war; 3. die Ewigkeit der Welt, also Aristoteles’ Ansicht. (Nach: mn ii,13.) Aristoteles’ Position wird in mn ii,14f. weiter kritisch thematisiert. In mn ii,16 stellt Maimonides sodann seine eigene Position vor. Dabei hält er fest, dass die Frage nach Erschaffung oder Ewigkeit unentschieden, dass also beides weder letztgültig beweis- noch widerlegbar ist. (Nach: mn ii,16.) Interessanterweise argumentiert Maimonides mit Blick auf das Phänomen der Wunder nicht dahingehend, dass diese den Beweis dafür darstellen, dass Aristoteles’ These von der Ewigkeit der Welt falsch ist, da sie ja gerade eine freie Wahl voraussetzen. (.66 '‫ עמ‬,(2000) ‫ סיסקין‬:‫ )לפי‬Dies ist nach Seeskin dem Umstand geschuldet, dass für Maimonides Wunder nicht als Argumentation hinzugezogen werden können, zumal sie z.T. auf Träumen oder Einbildung beruhten oder wiederum durch natürliche Phänomene erklärbar sind. (.67–66 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Diese Unmöglichkeit des Beweisens bzw. des Widerlegens einer der Positionen aber führt Maimonides dazu, dass die durch die Prophetie überlieferte Ansicht anzunehmen sei. (Nach: mn ii,16.) Maimonides zieht einen Vergleich mit einem Jungen, der abgeschieden auf einer Insel zur Welt kommt und als Halbwaise ohne Mutter aufwächst, weswegen er sich auch nach Erlangung der Vernunft nicht vorstellen kann, wie jemand ins Dasein gelangt, heran. Der Rambam vergleicht nun diesen Jungen mit Aristoteles, welcher ebenfalls nur den vollkommenen Endzustand durch die Naturbetrachtung erkennt, nicht aber sieht, was zuvor im Bauch geschah, sodass Aristoteles durch die Betrachtung dessen, wie es jetzt ist, nicht zu dem gelangen kann, wie es zu diesem Zustand kam, wie also die Welt überhaupt erst entstanden ist. (Nach: mn ii,17.) Er weist auf, dass die Vorstellung von der Schöpfung aus dem Nichts möglich ist. (Nach: mn ii,18.) Ebenso weist er die grundsätzliche Kompatibilität der Ansicht Platons mit der Auffassung der Bibel auf. (Nach: mn ii,25.) In alledem ist Maimonides bestrebt, die Vorstellung von der creatio ex nihilo nicht nur als plausibel und möglich aufzuzeigen, sondern darüber hinaus auch die große Masse der „gewöhnlichen“ Gläubigen in der Richtigkeit ihrer Glaubenstradition zu bekräftigen, um sie nicht in Verwirrung zu stürzen. Seine eigene Meinung aber – und das, was er mit den wenigen auserwählten Lesern anstrebt – scheint davon, folgt man den AuslegerInnen wie etwa Klein-Braslawy, abzuweichen, sodass er selbst eine philosophische Position – sei es nun Platos oder Aristoteles’ – einzunehmen scheint. Maimonides betont, dass die Welt – auch nach biblischer Auffassung mittels metaphorischer Auslegung – allein aufgrund ihres Geschaffenseins keinesfalls notwendigerweise vergehen muss, womit er unverkennbar

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creatio ex nihilo noch jene der Ewigkeit der Welt von Aristoteles bewiesen werden können.161 „Both positions are ‚possible‘; moreover, the position of creatio ex-nihilo is perfectly compatible with Aristotelian physics, as the latter prevails in the world only after it was created.“162 Zurück zur christlichen Lehre der Schöpfung aus dem Nichts, gilt es festzuhalten, dass diese bis heute prägend ist und noch immer einen weitgehenden Konsens darstellt. Welche Konsequenzen die Lehre heute im Hinblick auf die Frage nach dem Bösen besitzt, zeigt sich etwa bei Claret: Aufgrund der Lehre von der creatio ex nihilo zieht Claret den Schluss, dass auch die Übel als letztlich von Gott gewollt anzusehen sind.163 Konnte rein aufgrund des biblischen Textes noch auf vor der Schöpfung bereits vorhandene Chaosmächte, deren Ursprung nicht weiter betrachtet und geklärt wurde und die so nicht als der Schöpfung selbst immanent verstanden wurden, ausgegangen werden, ist diese Interpretation aufgrund der Wirkungsgeschichte, welche der Text durch die an ihm entwickelte und vorangetriebene Lehre der creatio ex nihilo erhielt, nicht mehr möglich. Gott hat die Welt aus nichts zuvor Vorhandenem und Vorgefundenem erschaffen, sondern eben aus dem ontologisch verstandenen Nichts. Das Böse taucht nun als etwas der Schöpfung selbst Inhärentes auf, was auch heute noch zu Interpretationen wie jener Clarets führen kann. Ist somit zwar die Einzigartigkeit und Allmacht Gottes sowie seines Schöpferhandelns mit dieser Theorie gewahrt, so ist zugleich zuallererst das Problem der Existenz des Bösen in Erscheinung getreten und stellt uns bis heute vor große Herausforderungen. Denn aufgrund der Lehre der Schöpfung aus dem Nichts, deren positiver Wert zweifellos und unverkennbar die Sicherung der Überzeugung

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in die Nähe von Aristoteles’ Ewigkeitsvorstellung rückt, wobei er allerdings zwischen Ewigkeit und Fortdauer der Welt (oder wie Pines übersetzt „eternal a parte post“ bzw. bei Ibn Tibbon ‫( נצחות‬nitzchút) im Unterschied zu Aristoteles’ ‫( קדמות‬kadmút) (vgl.: mn ii,28.)) – Letztere angedeutet in der Hl. Schrift – unterscheidet. (Nach: mn ii,27f.) Nach: mn ii,16; vgl.: Klein-Braslavy (2011,4), S. 76. Ebd., Hervorhebung im Original. Zur Frage der Ewigkeit der Welt oder creatio ex nihilo – ein Thema, welches bei Maimonides nicht nur im mn, sondern auch in der Mishneh Thorah behandelt wird – s. auch: Halbertal (2014), S. 202–208. Wie Halbertal herausstreicht, bringt diese Thematik allerdings auch Konsequenzen für weitere Themenkomplexe mit sich: „Providence, reward and punishment, and miracles all depend on a divine personality possessed of will, a figure that continually reacts and changes, is moved and acts. The Aristotelian divinity, in contrast, is entirely self-sufficient, unchanging in its perfection and causing the universe to be by its very existence. It should come as no surprise, then, that the question of ‚eternity or ex nihilo‘ became the paradigmatic problem for Jewish belief as it encountered Greco-Arab philosophy.“ (Ebd., S. 203, Hervorhebung im Original.) Nach: Claret (2011,1), S. 76.

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Die Erste Schöpfungserzählung

ist, dass sich alles Gottes freiem Schöpfungsakt zu verdanken hat und somit kontingent und in jeglicher Hinsicht völlig von Gott, dem Schöpfer, abhängig ist, kommt man an Gott als dem direkten oder zumindest indirekten Schöpfer des Bösen kaum vorbei. Doch zugleich weist auch die Lehre von der creatio ex nihilo selbst eine mögliche Lösung des Problems auf: Da alles aus dem Nichts ist und aus nichts ja bekanntlich eigentlich nichts wird, tendiert alles wieder zum Nichts zurück. So kann die Degeneration als natürliches Phänomen, welches aus der Erschaffung aus dem Nichts resultiert und so alles Geschaffene im Gegensatz zum Schöpfer kennzeichnet, einsichtig gemacht werden. An der Materie haftet weiterhin diese Möglichkeit zum Nichtenden. So können gerade auch durch die creatio ex nihilo Plotins und Aristoteles’ Vorstellung der Materie und des Bösen aufgenommen und fruchtbar gemacht werden, wie im systematischen Teil zu sehen sein wird. Bisher haben wir gesehen, was die beiden Schöpfungsgeschichten zum Bösen sagen – oder gerade nicht sagen – und wie die beiden Erzählungen in der Rezeptionsgeschichte weitergewirkt haben. Im nächsten Kapitel soll dargestellt werden, wie das Buch Hiob die Frage nach dem Bösen – insbesondere des scheinbar ungerechtfertigten Leidens – thematisiert.

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kapitel iv

Das Buch Hiob und die Theodizee Das Buch Hiob1 kann aus verschiedenen Gründen im Rahmen der Behandlung mit der Thematik des Bösen nicht außenvor gelassen werden.2 So stellt sich die Frage, wie damit umzugehen ist, dass unter den Folgen des Bösen oftmals gerade gerechte Menschen zu leiden haben. Wie ist dies mit dem Gottesbild, mit dem Gott, der sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit,3 einem Rettergott, einem, der Gutes belohnt und Böses bestraft, in Einklang zu bringen? Unausweichlich taucht aufgrund der Alltagserfahrung frommer, gerechter und gottesfürchtiger Menschen die Frage nach der Theodizee auf. Und genau mit diesem Problem setzt sich nach weitläufiger Meinung das Buch 1 Um die Rede vom Buch Hiob deutlich von der Rede von seinem Protagonisten Hiob abzuheben, wird der Kursivdruck zur Kennzeichnung des Buches verwendet. „Gemäß Hiob“ bezieht sich also beispielsweise auf das Buch als solches, „gemäß Hiob“ dagegen auf eine Aussage der Figur Hiob. 2 Ammicht-Quinn betont, dass es sich bei der biblischen Erzählung von Hiob um den „in der Theodizee-Literatur am meisten zitierte[n], paraphrasierte[n] und interpretierte[n] biblische[n] Text“ (Ammicht-Quinn (1992), S. 15.) handelt. Doch ist mit Kreiner darauf hinzuweisen, dass dieser Frage andere Prämissen zugrundeliegen, als wenn allgemein danach gefragt wird, weswegen es überhaupt Übel und Böses in der guten Schöpfung gibt, also unabhängig davon, wer von diesen getroffen wird. Die Frage nach dem Leiden der Unschuldigen und Gerechten setzt nämlich voraus, „dass Gott bzw. Gottes Vorsehung der bestimmende Grund bzw. die direkte Ursache für schlechthin alle Ereignisse ist.“ (Kreiner (2005), S. 26.) Die Bedeutung Hiobs kommt nicht von ungefähr, sondern liegt auch in seiner rebellischen Demut begründet. (Nach: Langenhorst (1996), S. 189; beim Titel des entsprechenden Aufsatzes handelt es sich um ein Zitat aus dem Gedicht „Hiob“ von Nelly Sachs.) „Betend rebelliert er und rebellierend betet er.“ (Kaiser (2006), S. 19.) Die Bibel charakterisiert Hiob damit bipolarkontrastreich: Er verfügt über eine „charakteristische Doppelgesichtigkeit“ (Langenhorst (1994), S. 325, Hervorhebung im Original.), ja mehr noch erscheint er in der biblischen Darstellung mit einer gewissen „Schizophrenie“ (ebd.). 3 Wobei hier natürlich darauf hingewiesen werden muss, dass das Volk Israel vor seiner Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten viel Leid erdulden und über sich ergehen lassen musste  – dies alles aber nicht zu verstehen als Strafe oder Urteil Gottes über die Sünden des Volkes, sondern es geht um die anschließende Errettung, die der Errettung vorgängige Sklaverei war Teil des Heilsplanes Gottes für seine Geschichte mit seinem erwählten und von ihm in die Befreiung geführten Volk. (Nach: Kraemer, D. (1995), S. 19f.) Gerade die Vorstellung, dass dieses Leiden eine Erfüllung der göttlichen Absicht gewesen sein soll, wirft einen Schatten auf das Gottesbild.

© VERLAG FERDINAND SCHÖNINGH, 2018 | doi 10.30965/9783506788856_010 3: .8

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Hiob auf eindrückliche Weise auseinander. Das Problem der Theodizee und die Frage nach der Herkunft des Bösen sind unlösbar miteinander verbunden. Das Böse und das Leiden selbst würden kein so gravierendes Problem darstellen, ließen sie sich nur verstehen und begründen. Solange also wie im Fall des Tun-Ergehen-Zusammenhangs das Leiden mittels begangener Sünde – und damit Schuld und Eigenverantwortlichkeit – zu erklären war, konnte es akzeptiert und hingenommen werden, da es nicht mehr als gerecht war. Und dies stellt gemäß Neiman auch den Grund dafür dar, dass sich der Mythos vom Sündenfall durch alle Zeiten hindurch erhalten hat, denn auch dieser ringt dem mühsamen und leidvollen Leben des Menschen einen Sinn ab: „Der Glaube an den Sündenfall ist nicht zuletzt deshalb so beharrlich, weil es leichter ist, das Leben als Strafe zu sehen, denn als ganz und gar sinnlos.“4 Neiman führt das Modell der Erlösung auf dieses Phänomen zurück: „Die Sünde gab dem Leiden einen Ursprung, die Erlösung gab ihm ein Ziel.“5 Erst, wo das Leiden sinnlos scheint, wird es unerträglich und damit zum Problem.6 Dieser Punkt war mit Hiob als Inbegriff des unschuldig Leidenden und in dessen Horizont der Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht nur hinterfragt, sondern auch aufgebrochen wird, erreicht.7 Hiobs Leiden kann kein Sinn abgerungen werden, es ist der Inbegriff des ganz und gar unverdienten und sinnlosen Leidens und genau dadurch so empörend und sich all unserem Verstand hinsichtlich Begründungen und Erklärungen, die es leichter hinzunehmen machten, entziehend. So ist es nicht nur die Existenz des Bösen an sich, welche uns vor philosophische wie theologische Probleme stellt, sondern erst diese im Zusammenspiel mit der scheinbaren Zufälligkeit von Strafe und Schuld.8 Doch noch weitere Gründe sprechen für eine Betrachtung des Buches Hiob und eine fundierte theologische Auseinandersetzung mit demselben im Hinblick auf die dieser Arbeit zugrundeliegende Frage. Denn im Rahmen des systematischen Teils werden die Modelle Maimonides’ sowie Thomas’ analysiert und miteinander verglichen werden. Diese beiden genannten Theologen haben sich nicht nur mit der Frage nach dem Bösen sowie seiner Herkunft beschäftigt, sondern befassten sich auch mit Hiob und dem darin geschilderten gleichermaßen theologischen wie philosophischen Grundproblem. So hält etwa Dobbs-Weinstein fest:

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Neiman (2004), S. 470. Ebd., S. 322. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 210. Nach: Ebd., S. 50.

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Das Buch Hiob und die Theodizee

Apart from the evident advantage offered by the fact that Job is the single Biblical book upon which both Maimonides and Aquinas commented systematically and at some length, it is also one of the few Biblical texts shared by both traditions [= jüdische und christliche Tradition, v.v.] that fully addresses a philosophical question from outside the framework of revelation, namely, man’s natural capacity for perfection. Moreover, since the text raises the question of the relations between rational cognition and knowledge through faith, it presents a unique occasion for an examination of the harmony between philosophy and revelation, as understood by Maimonides and Aquinas, respectively, from within the boundaries of both disciplines.9 Gerade mit Blick auf den Rambam lässt sich die Erzählung von Hiob nicht nur als Theodizee-Anfrage charakterisieren: Vielmehr gerät der damit verbundene Aspekt der göttlichen Vorsehung als zentrales Interesse in den Fokus der maimonidischen Hiobinterpretation, wie im systematischen Teil zu sehen sein wird. Nach diesen grundsätzlichen, einleitenden Bemerkungen soll geklärt werden, wie sich das vorliegende Kapitel gliedert: Zunächst wird der Entstehungsgeschichte sowie der eigentlichen Aussageabsicht des Textes nachgegangen. Anschließend wird der Inhalt des Buches zusammenfassend wiedergegeben, wobei auch hier nur einzelne Aspekte interpretiert werden und eine Fokussierung auf Prolog und Epilog der Erzählung, einige grundlegende Redeabschnitte Hiobs sowie die Gottesreden vorgenommen wird.10 Zu guter Letzt wird die Frage thematisiert, wie das Buch Hiob mit der Frage nach dem Bösen umgeht, zum einen mit Blick auf die Theodizee, zum anderen hinsichtlich der Frage nach der Herkunft des Bösen.

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Dobbs-Weinstein (1989), S. 102. Auch dies stellt eine Kürzung mit Blick auf die Publikation dar. An dieser Stelle sollen einige Literaturhinweise zur ausführlicheren Auseinandersetzung mit Hiob gemacht werden: Kaiser (2006); Larrimore (2013); Witte (2012); Hirschfeld (2015); Langenhorst (1994); ders. (1996); ders. (2006); Witte (2007); Dell (2007); Newsom (2007); Wilson (2006); Schwienhorst-Schönberger (2007,1); ders. (2007,2); ders. (2007,3); ders. (2016); Mathys (2006); Oorschot (2007); Spieckermann (1994); ders. (2012); Heckl (2010); Zahrnt (1988); Dietrich (2008); Syring (2004); Schifferdecker (2008); Pelham (2012); Fokkelman (2012); Lux (2012); Gillmayr-Bucher (2007); Oberhänsli-Widmer (2003); Opel (2010); Müllner (2007); Kunz-Lübcke (2007); Pilger (2010); Keel (1978).

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Entstehungsgeschichte und Intention

Das Buch Hiob11 stellt „einen hochpoetischen Dialog zwischen dem unschuldig leidenden Hiob, seinen ihm zum Trost gekommenen Freunden und Gott als Ursache seines Glücks und Unglücks“12 dar, welcher von einem Prolog sowie einem Epilog umrahmt wird.13 Das Buch selbst ist in einem mehrere 11

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Zu den sich vom hebräischen Text unterscheidenden, in griechischer Sprache verfassten Versionen des Hiobbuches mit Fokus auf der Septuaginta s. z.B.: Witte (2007). Das Buch Hiob stellt eine Herausforderung dar, indem es unter anderem sehr viele hapax legomena, Worte, welche in der gesamten Bibel einzig an einer Stelle auftauchen und daher auch schwierig zu übersetzen sind, aufweist. (Nach: Kaiser (2006), S. 32.) Viele Passagen zeugen dabei „of such great obscurity that interpreters have sometimes felt obliged to change letters to make any sense of them. (Some of the most influential passages, 13:15, 19:27, and 42:6, are among the most opaque.)“ (Larrimore (2013), S. 6.) Witte (2012), S. 5. Hirschfeld etwa macht sich Gedanken dazu, ob es sich um eine (klassische) Tragödie handelt oder nicht, wobei er insbesondere in der im Hiobbuch letztlich propagierten Unverstehbarkeit Gottes eine Parallele ausmacht. (Nach: Hirschfeld (2015), S. 15.) Auch Dell verweist auf Gemeinsamkeiten mit der antiken Tragödie, hält aber zugleich auch die Unterschiede fest und betont so, dass die Parallelisierung nicht zu weit getrieben werden darf. (Nach: Dell (2007), S. 18.) Der Hinweis auf eine Verbindung zwischen Hiob und griechischer Tragödie findet sich zum ersten Mal im fünften Jahrhundert. (Nach: Newsom (2007), S. 375.) Interessanterweise ähnelt vor allem Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ – verfasst im Jahre 1946 und damit zur deutschen Nachkriegsliteratur zählend – in Struktur und geschilderten Situationen der biblischen Hioberzählung. (Nach: Ebd., S. 386f.) Der gravierende Unterschied besteht aber darin, dass das Drama Borcherts nicht mit der Offenbarung eines allmächtigen Gottes im Sturmwind endet, sondern dass der Protagonist alleine dasteht, ohne Gott, und Antworten erfleht, welche ihm keiner geben kann. (Nach: Ebd., S. 387.) Interessant ist hierbei auch Wiesels „Prozess von Schamgorod“, denn hierbei kommt die Figur des Anfeinders, des Satan (im Stück ein Fremder namens Sam, wobei hier wohl die Figur des Samma’el mitschwingt) in den Blick: „What Wiesel does hermeneutically with the book is to explore the dramatic potential of the Adversary. As many biblical commentaries observe, the Adversary in Job is not the opponent of God but in a sense is God’s defender. Here Wiesel takes that notion and examines it. What is most horrifying in Wiesel’s play is the way in which the stranger Sam’s defense of God succeeds.“ (Ebd., S. 392.) Vgl.: Witte (2012), S. 5. Zur Gliederung, gerade auch des poetischen Dialogteils, s. z.B.: Schwienhorst-Schönberger (2007,2), S. 11f., wobei auf den Seiten 12f. auch kurz die mögliche Entstehungsgeschichte geschildert wird. Wilson dagegen nimmt einen dreiteiligen Epilog an, den er bereits in Kp 32 beginnen lässt: 32,1–37,24 (1. Epilog), 38,1–42,6 (2. Epilog) sowie 42,7–17 (dritter (und gemäß gängiger Einteilung eigentlicher) Epilog). (Nach: Wilson (2006), S. 14.) An dieser Stelle sei insbes. mit Blick auf die Prosateile verwiesen auf: Syring (2004). Im Unterschied zu der weitläufigen Ansicht, dass das Hiobbuch in

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Das Buch Hiob und die Theodizee

Schichten14 umfassenden Entwicklungsprozess zwischen dem 5. und 3. Jh. v.Chr.15 entstanden und stellt ein Konglomerat „altorientalischer, israelitischjüdischer und altgriechischer Wirklichkeits- und Lebensdeutungen“16 dar. Es wurde und wird nicht nur von Juden-17 und Christentum rezipiert, sondern auch vom Islam18.19

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einer längeren Entwicklung bis zur heutigen Form gewachsen ist, vertritt etwa Mathys die Ansicht, die Erzählung sei in einem Guss entstanden und weist darauf hin, dass diese Sicht in der neueren Forschung immer stärker vertreten werde. (Nach: Mathys (2006), S. 126–128.) Zur Entstehungsgeschichte, welche sich natürlich insbesondere an den auszumachenden unterschiedlichen Redaktionsstufen festmacht, sei verwiesen auf: Schwienhorst-Schönberger (2016); Oorschot (2007). Auch Schwienhorst-Schönberger verweist auf unterschiedliche Entstehungsmodelle, wobei er auch die Konsequenzen für die damit einhergehenden Interpretationen aufweist: Schwienhorst-Schönberger (2007,3). Dabei gibt es grundsätzlich zwei unterschiedliche Modelle: Das eine geht davon aus, dass zunächst nur Teile von Hi 1–2 sowie 42 vorlagen und der Rest erst später dazukam; das andere dagegen geht davon aus, dass die genannten Teile, welche eine Novelle bilden, erst nachträglich hinzukamen und dass dafür im Gegenzug die Dichtung bereits vorgelegen hätten. (Nach: Spieckermann (2012), S. 11f., wo sich auch Hinweise zu Literatur, welche die entsprechenden Modelle favorisieren, finden.) Es gibt noch eine dritte Einheit, welche zuletzt eingefügt worden ist: die Elihu-Reden. Nach: Witte (2012), S. 5. Hinsichtlich altorientalischer Paralleltexte sei beispielhaft verwiesen auf: Schellenberg (2007); Sedlmeier (2007) sowie Lux (2012), S. 28–52. Lux verweist dabei nebst aller Gemeinsamkeiten insbes. auf die auffälligen und auch (theologisch) gravierenden Unterschiede der Texte im Vergleich zur biblischen Erzählung von Hiob. (Nach: Ebd., S. 52.) Auch sei verwiesen auf Uehlinger (2007), welcher konsterniert ein Desinteresse der jüngeren (deutschsprachigen) Forschung an den altorientalischen Parallelen des Hiobbuches feststellt. (Nach: Ebd., S. 101f.) Witte (2012), S. 5. Hinsichtlich der Rezeption im Judentum sei verwiesen auf: Oberhänsli-Widmer (2007) sowie dies. (2003), wobei Oberhänsli-Widmers Durchsicht bis ins 20. Jh. reicht. Sie streicht dabei hervor, dass die jüdische Auseinandersetzung mit der Hiobsthematik zeitlich zwei Pole kennt: „einerseits die Antike mit dem biblischen Original, den frühjüdischen und rabbinischen Folgetexten, andererseits das 20. Jahrhundert mit einer überbordenden Fülle von Romanen, Theaterstücken sowie Gedichten zu Hiob, die vorwiegend in die Schoa-Thematik eingewoben sind.“ (Ebd., S. 1.) Interessanterweise beinhaltet der zeitliche Bruch, wie Oberhänsli-Widmer nachweist, auch eine inhaltliche Zäsur: Wurde Hiob in der Antike nämlich noch als Dulder und Wohltäter gezeichnet, so tritt er in der Moderne vermehrt als Rebell auf; die Antike zeigte ihn als Nicht-Juden, in der Moderne dagegen wurde Hiob „zum Symbol eines jüdischen jedermann oder des jüdischen Volkes an sich“ (ebd., S. 9.). (Nach: Ebd., S. 8f.) Für das Erlahmen und Vergessen der Figur des Hiob zwischen Antike und Moderne war insbesondere das negative Urteil des Talmuds verantwortlich. (Nach: Ebd., S. 9.) So sind es in der Moderne auch nicht die Rabbiner, welche die Figur des Hiob wieder aufnehmen, vielmehr erfolgt die neue Rezeption vornehmlich

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Das Thema der Erzählung klingt wohl bereits im Namen seines Protagonisten an: Hiob. Der Name, der außer in Ez 14,14.20 und Sir 49,9 innerhalb des Alten Testaments nicht mehr begegnet, ist in altorientalischen Texten des 2. Jahrtausends v.Chr. mehrfach belegt. Wahrscheinlich ist er vom akkadischen ’ajja-’abu abzuleiten, was soviel heißt wie ‚wo ist der (mein) Vater?‘ ‚Vater‘ ist als sogenanntes theophores (d.h. ‚gotthaltiges‘) Namenselement auf eine Gottheit zu beziehen: Wo ist mein Vater? – Wo ist Gott? Ijob ist gleichsam die persongewordene Frage nach Gott – im Leid (vgl. 23,8f.).20 Hiob selbst wird nicht als Israelit, sondern als außerhalb des jüdischen Volkes Stehender beschrieben, als ein Goi, ein Nichtjude. Dadurch wird das thematisierte Problem der Frage nach dem Leiden der gerechten Menschen als ein über das Volk Israel hinausreichendes virulentes Thema herausgestrichen. Es handelt sich um Fragen der menschlichen Existenz überhaupt: „die Suche

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in einem säkular geprägten Milieu. (Nach: Ebd., S. 333.) Zur rabbinischen Hiobinterpretation s. insbes. bT Baba Batra 14b-16b sowie Midrash BerR 57,4. BerR ist nach 400 n.Chr. entstanden. (Nach: Stemberger (2011), S. 310.) Interessant ist hierbei die Auffassung, Hiobs zweite Frau sei Jakobs Tocher Dina gewesen. Denn Hiob als Nicht-Israelit führt die Möglichkeit eines vom Bund unabhängigen Zugangs zu Gott vor Augen. Durch den Verweis auf Dina erscheinen dann aber wenigstens die nach der Restituierung Hiobs geborenen Kinder als Teil des Bundes. (Nach: Larrimore (2013), S. 16.) Mit Blick auf die Antike (Testament Hiobs, Targumim, Midrash und Talmud) sei verwiesen auf: Oberhänsli-Widmer (2003), S. 56–166. Referenzen zur Wiederentdeckung der Figur Hiobs im 20. Jh. – gerade angesichts der Erfahrung der Shoah – finden sich im philosophischen Teil dieser Arbeit, weswegen sie hier nicht nochmals wiederholt werden. An dieser Stelle sei allerdings verwiesen auf: Langenhorst (2007). Der Islam setzt dabei eigene Akzente, wie später aufgezeigt werden wird. Nach: Witte (2012), S. 5f. Schwienhorst-Schönberger (2007,2), S. 16. Dagegen verweist Mathys auf eine weitere Etymologie, welche sich bei Martin Noth findet, die heute kaum mehr ernsthaft vertreten und sogar beinahe nicht mehr referiert werde: Hiob als Angefeindeter, wobei für den Namen Hiobs (‫איוב‬, Ijov) dieselbe Wurzel wie im Wort Feind (‫אויב‬, Ojiev) veranschlagt wird. (Nach: Mathys (2006), S. 130, mit Verweis auf die einschlägige Literatur.) Diese Verbindung von Hiob und Feind deutet bereits der Babylonische Talmud an. (Vgl.: bT Baba Batra 16a.) Mathys selbst folgt nicht dieser Deutung, sondern verweist auf die wohlgewählten Namen und ihre durchdachte Anordnung im Buch Hiob, was für das Andeuten der Frage nach dem Wo des Vaters bzw. Gottes spreche. (Nach: Mathys (2006), S. 131–133.) Zu weiteren möglichen Namensbedeutungen s.: Heckl (2010), S. 224–228. Heckl selbst hebt die Plausibilität der Verbindung mit anfeinden hervor. (Nach: Ebd., S. 231.)

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nach dem Sinn von Leiden, nach der Erkennbarkeit und Wirksamkeit einer göttlichen Gerechtigkeit, nach dem Verhältnis von Glück und Glaube.“21 Interessanterweise lässt sich das Buch Hiob so interpretieren, dass Theodizee, Leiden des Gerechten, etc. gar nicht das Hauptanliegen des Werkes bilden, vielmehr geht es um ein viel subtileres Problem, welches den anderen Aspekten zugrunde liegt: Es geht um das Verhältnis von Gott zum Menschen bzw. um deren Relation, welche aufgehoben wird, indem Gott Hiob preisgibt und damit erst das ganze Leid über Hiob hereinbrechen kann – solange die Relation zwischen Hiob und Gott aber noch intakt war, konnte ihn kein Schade treffen.22 Hiob beschäftigt sich demnach mit der Frage bzw. den Auswirkungen, „wenn nicht der Mensch die Beziehung zu Gott, sondern Gott die Beziehung zum Menschen sistiert, und zwar ohne ersichtlichen Grund. Die sich daraus 21

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Witte (2012), S. 5; vgl. z.B.: Schwienhorst-Schönberger (2007,2), S. 16. Zahrnt betont, dass es im Hiobbuch nicht eigentlich nur um die Frage des Leidens geht, sondern dass Wesen und Nutzen der Religion überhaupt fragend in den Blick genommen werden. (Nach: Zahrnt (1988), S. 19.) Dietrich etwa hält fest, dass die Identifizierung Hiobs und seiner Freunde mit Nichtisraeliten auch von einem anderen Gesichtspunkt aus durchaus Sinn macht: „Im Hiobbuch wird Israel also bewusst in die Welt des Alten Orients einbezogen. Das macht tiefen Sinn. Denn sowohl Hiobs Klagen als auch die Erklärungen der Freunde sind gut altorientalisch.“ (Dietrich (2008), S. 16.) Nach: Spieckermann (2012), S. 11; vgl.: Langenhorst (1994), S. 333. Pelham liefert eine weitere mögliche Interepretation: Ihr gemäß steht in der Erzählung von Hiob nämlich die Schöpfung zur Debatte, es wird thematisiert, wie die Welt im Idealfall nach Meinung Hiobs sein sollte, aber in Realität nicht ist bzw. gerade im Erfahren seines unverdienten Leidens nicht mehr so erlebt wird. (Nach: Pelham (2012), S. 24.) Mit der infrage gestellten Schöpfung steht aber auch der Schöpfer selbst auf dem Prüfstand. (Ebd.) Pelham geht so weit, dass sie Hiob Egozentrismus vorwirft, indem er in Hi 29 – und damit auch in der Schilderung seines Zustands zu Beginn des Prologs – die Welt schildert, wie sie sein sollte. (Nach: Ebd., S. 46–49.) Hiob sei „without question“ (ebd., S. 49.) selbstzentriert. Als handelte es sich beim rechtschaffenen Hiob um einen Egomanen schreibt sie: „He is so self-centered that he insists that for the world to be as it should all other persons must make space for him, both physically, with their bodies and their voices, and mentally, by giving him their full attention. Anything less than this and the world has turned into an anti-world, the world he describes in chapter 30.“ (Ebd.) Pelham betont, Hiobs größtes Problem liege nicht in seinem Leiden selbst, sondern in der verlorenen sozialen Stellung und seinem verlorenen sozialen Ansehen. (Nach: Ebd., S. 61.) Mit dieser Interpretation steht Pelham alleine da. Eine so egozentrische, arrogante Figur würde wohl kaum von Gott als rechtschaffen gelobt und am Ende als jemand bestätigt, der recht von Gott gesprochen hat. Mit dem Stichwort der Interpretation sei an dieser Stelle auch auf Fokkelman verwiesen, welcher die Ansicht vertritt, dass das Buch Hiob wesentlich als literischer Text gesehen werden und man die Merkmale poetischer Struktur zur Abfassungszeit des Buches kennen und beachten muss, um die Erzählung richtig verstehen zu können.

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ergebende Problemkonstellation erhält im Hiobbuch ihre Brisanz durch die Erkenntnis, dass Gott vielleicht ohne den Menschen leben kann, nicht aber der Mensch ohne Gott.“23 Aus dieser Relationssistierung von Seiten Gottes gegenüber dem Menschen wird die bereits im Namen des Protagonisten angedeutete Frage nach dem Wo Gottes, gerade auch im Leiden des Menschen, aufgeworfen. Dass diese aufgehobene Beziehung dabei vom Leidenden selbst gar nicht zwingend als sistiert wahrgenommen werden muss, wird in der Folge deutlich werden, wenn Hiobs Interpretation seiner Situation durchleuchtet wird. 4.2

Der Prolog

Die Hauptfigur der Schrift – Hiob bzw. Ijov24, ein Mann aus dem Lande Uz25 – wird zu Beginn der Schrift als rechtschaffene, untadelige und gottesfürchtige

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(Nach: Fokkelman (2012), S. 5.) Fokkelman macht dabei interessante numerische Entdeckungen, welche wohl nicht zufällig sind, sondern seiner Meinung nach ein äußerst wohl durchdachtes Konzept und eine bewusst gewählte Konstruktion erahnen lassen. Beispielhaft sei die Verteilung der Gesprächsdauer auf die einzelnen Figuren erwähnt: „The poetry of the book of Job consists 232 short and 180 long strophes. Their sum, 412, does not look very particular. But this changes radically when we examine how the strophes are spread over the speakers. Then it turns out that exactly fifty percent of the total falls to only one of the six speakers, and that is the hero himself, Job. Job speaks 206 strophes and the other 206 strophes are divided over his four friends (actually three plus one: the Elihu section follows when Eliphaz, Bildad and Zophar have finished) plus God. […] The 206 strophes that Job himself speaks are also exactly divided into two equal halves as regards S- and L-units: 103 strophes by him are short (two-line strophes) and 103 are long (threeline strophes). This form of balance is a specific characteristic of the Book of Job, for in the Book of Psalms it is not used.“ (Ebd., S. 8.) Spieckermann (2012), S. 11. Weitgehend wird angenommen, dass Hiob keine reale Persönlichkeit war. Dies jedoch vermag der Authentizität der Hioberzählung nichts anzuhaben, liegt diese doch nicht in der Historizität ihres Protagonisten begründet, sondern in der Erfahrung seines Leidens, der Erfahrung des Sinnlosen und letztlich nicht Erklärbaren, einer Erfahrung von beinahe universalem Charakter. (Vgl.: Lux (2012), S. 7.) „Als Bedeutungsträger ist eine literarische Figur in einer traditionalen Erzählgemeinschaft weitaus ‚wirklicher‘ als eine reale Person, von der es keine Erzählung gibt.“ (Schwienhorst-Schönberger (2007,1), S. 12.) Der Frage nach der Historizität des Protagonisten Hiob werden auch Thomas von Aquin und Rabbi Moshe ben Maimon nachgehen, wobei sie sich in der Beurteilung dieser Frage interessanterweise unterscheiden. Das Land Uz begegnet nebst dem Buch Hiob noch in Jer 25,20 sowie Klgl 4,21. Zu erscheint auch als Personenname und zwar als Name eines Verwandten Abrahams.

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Person geschildert, welche sich vom Bösen fernhält.26 Damit wird Hiob als Inbegriff des rechtschaffenen Menschen geschildert.27 Er wird als angesehener, reicher Mann beschrieben28 und es wird deutlich, dass dieser Reichtum von Gott kommt: Gottes Segen ruht auf Hiob und er ist es, welcher Hiobs Reichtum 26

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Nach: Hi 1,1. Vgl. hierzu auch Spr 2,7 sowie 3,7, wo sich dasselbe Wortfeld nachweisen lässt. (Nach: Mathewson (2006), S. 44.) Für Fokkelman stellt das Buch Hiob eine Absage an die Vorstellung einer erbsündenhaften Befleckung des Menschen dar. (Nach: Fokkelman (2012), S. 319.) Doch mit Gillmayr-Bucher sei hier darauf hingewiesen, dass interessanterweise zwei wichtige Charakterisierungen fehlen: Hiob wird weder als gerecht (‫צדיק‬, zadík) noch als weise (‫חכם‬, chachám) beschrieben. (Nach: Gillmayr-Bucher (2007), S. 149.) Gerade das Fehlen des Attributs der Weisheit wird in der Hiobinterpretation des Maimonides von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Hierbei klingt nach Kaiser die Beurteilung der Schöpfung als sehr gut in Gen 1,1–2,4a an. (Nach: Kaiser (2006), S. 13.) Vgl.: Hi 1,2–3. Hierin kann eine interessante Verbindung zu Hiobs Herkunftsort Uz gezogen werden: „Dass der Ländername Uz als Personenname für einen Sohn des Abrahambruders Nahor auftaucht (Gen 22,20f.), lässt Hiob, den Mann aus Uz, als entfernten Verwandten der Vätergestalten Israels erscheinen, an die auch Hiobs Status als reicher Viehbesitzer erinnert. Hiob ist ein verwandter Fremder, was von vornherein trotz seines Jahweglaubens den heilsgeschichtlichen, kultischen und liturgischen Glaubensrahmen des Volkes Israel in seinem Denken zurücktreten lässt. Aber noch als Fremder trägt Hiob eine Spannung auch Israels in sich, das als fremdes Volk ins verheißene Land kommt, das doch auch das Land seiner Väter ist. Hiob ist ein Fremder, wie Israel sich selbst immer wieder, in Ägypten, auf der Wüstenwanderung, sogar noch im gelobten Land als abseits und einzelgängerisch leidendes und dabei auserwähltes Volk empfunden hat. Israel hat das in die Vätergeschichte auf den Fremdling Abraham reprojiziert, der gleichfalls fern aus dem Osten, nämlich dem Lande Ur, kommt und die göttliche Botschaft empfängt“ (Kaiser (2006), S. 16f.). Obwohl also Hiob selbst als Nicht-Israelit geschildert wird, wird dennoch mittels der Herkunft aus Uz sowie der Betonung seines Viehreichtums eine auf der Sprachebene verbleibende (verwandtschaftliche) Beziehung zum Volk Israel hergestellt. Interessanterweise gäbe es aber noch eine weitere Figur mit Namen Uz, welche weitaus negativer konnotiert ist: So wird in Gen 36,28 ein Nachkomme Esaus mit Namen Uz erwähnt. Im Unterschied zu Gen 22,20f. wird diese Verbindung im Midrash nicht gezogen und zwar aus gutem Grund, wie Oberhänsli-Widmer betont: „Dass der Midrasch diese Verknüpfung vermeidet, gründet in einer prinzipiell wohlwollenden Gesinnung Hiob gegenüber, denn selbst wenn dieser keinen direkten Abraham-Spross und somit keinen Juden darstellt, so ist er doch ein gottesfürchtiger Nichtjude, ja […] der gottesfürchtige Heide par excellence. Jede Konnotation Hiobs mit Esau beziehungsweise einem Esau-Verwandten würde demgegenüber im rabbinischen Kontext die negativste Assoziation wachrufen, symbolisiert doch Esau bekanntlich seit der talmudischen Epoche den Erzfeind Israels an sich, und beinahe alle späteren Lebensbedroher des Judentums werden in der Folge ebenso in die Kette ‚Esau – Edom – Rom‘ eingereiht.“ (Oberhänsli-Widmer (2003), S. 48f., Hervorhebung im Original.)

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mehrt.29 Interessant ist im Hiobbuch auch die Verwendung der unterschiedlichen Gottesnamen.30 Findet sich zu Beginn der Erzählung noch das Tetragramm im Munde Hiobs, fehlt dieses im Dialogteil mit den Freunden dagegen.31 Die Geschichte nimmt sehr früh eine dramatische Kehrtwende, indem die Schilderung des Geschehens von einer Beschreibung Hiobs übergeht in eine Darstellung eines Gesprächs zwischen Gott und Satan. Die Gottessöhne kommen zu Gott und auch der Satan kam unter ihnen.32 Gott bezeichnet Hiob in seinem Gespräch mit Satan als seinen Knecht. Damit stellt Gott ein besonderes Nähe-Verhältnis zu Hiob her, welches insbes. unter Berücksichtigung

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Vgl.: Hi 1,10. Eine Auflistung der unterschiedlichen Bezeichnungen in Hi 3,4–42,6 findet sich bei: Wilson (2006), S. 262–269 (Appendix 5); zur Auflistung der Verwendung der Gottesbezeichnungen im gesamten Hiobbuch sei verwiesen auf Syring (2004), S. 99–101. Hinsichtlich der Gründe, wann und weshalb das Tetragramm verwendet wird, sei verwiesen auf: Heckl (2010), S. 265–267. Interessanterweise entfällt diese theologisch durchschlagskräftige Unterscheidung der Gottesbezeichnungen im Buch Hiob in der lxx. Denn der gängige Terminus für das Tetragramm, kyrios (κύριος), wird in der Übersetzung auf alle Gottesbezeichnungen ausgeweitet, was nicht ohne weitreichende theologische Konsequenzen bleibt: „This has a twofold result for the understanding of the external and pre-Israelite environment of the book of Job. On the one hand, Job and his friends now are seen as worshipers of the one single God of Israel. In the other hand, the book of Job is from now on a part of Hellenistic literature which also uses the term (ὁ) κύριος for different gods.“ (Witte (2007), S. 50.) Es gilt allerdings anzumerken, dass eine Gottesbezeichnung, welche sich im poetisch-dialogischen Teil findet, nicht mit κύριος, sondern mit Pantokrator (παντοκράτωρ), All- oder Weltenherrscher, wiedergegeben wird: ‫( שדי‬Shaddai). Üblicherweise, d.h. in allen Büchern außer Hiob, wird Pantokrator dagegen als Übersetzung von ‫( צבאות‬Zewa’ót, Heerscharen) verwendet. (Nach: Ebd., S. 51.) Nach Mathys macht es durchaus Sinn, dass Hiob und die Freunde im dialogischen Teil den einen Namen, das Tetragramm, nicht verwenden: „Der israelitische Erzähler darf das Tetragramm (den Jahwenamen) verwenden. Das ist Hiob und seinen Freunden – Ausländern – versagt, wird als für sie nicht angemessen betrachtet.“ (Mathys (2006), S. 127.) Im Dialogteil taucht das Tetragramm an einer einzigen Stelle dennoch auf: Hi 12,9. Die Verwendung des Tetragramms an besagter Stelle wirft die Frage auf, ob hier ursprünglich eine andere Gottesbezeichnung stand, welche später durch das Tetragramm ersetzt wurde, oder ob die Verwendung des Tetragramms an dieser Stelle originär ist. (Nach: Heckl (2010), S. 85.) Mit Verweis auf Jes 41,20 legt Heckl dar, dass die gegebene Parallele der beiden Stellen eine Anpassung an Jes 41,20 auch in sprachlicher Hinsicht plausibel erscheinen lässt. (Nach: Heckl (2010), fn 226 S. 85.) Doch ist inhaltlich auf einen gravierenden Unterschied in den beiden Textstellen hinzuweisen: „The prophet speaks of yhwh’s saving acts on behalf of Israel. Job, as to be expected, instead uses the prophet’s words to accuse God, not to praise God.“ (Schifferdecker (2008), S. 43.) Nach: Hi 1,6.

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seiner nichtjüdischen Herkunft äußerst brisant ist.33 Interessanterweise wird Hiob, der Nicht-Israelit, so in eine Reihe gestellt mit den großen und prägenden Figuren des Volkes Israel, indem dieser Titel im at abgesehen von Hiob ausschließlich Vertretern aus Israel vorbehalten ist.34 Satan behauptet, Hiob sei nur deshalb so gottesfürchtig, weil es für ihn von Nutzen sei, da ihm so der Segen Gottes sicher sei; sobald aber an Hiobs Besitz gerührt werde, weiche er ganz sicher von seinen rechten Pfaden ab und fluche Gott.35 Gott lässt sich auf die „Wette“36 ein und lässt Hiob prüfen. Seinen Besitz gibt er in Satans Hand, doch nicht ihn selbst.37 Daraufhin verliert Hiob alles an einem einzigen Tag: All sein Vieh, seine Kamele, seine Knechte und sogar seine Kinder.38 Interessant ist die Darstellung der vier (sprichwörtlich gewordenen) Hiobsbotschaften. Die Einleitung „Noch ist dieser am Reden, da kommt schon ein anderer und sagt“ (3x) ist auffallend: 33 34

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Nach: Kaiser (2006), S. 12. Nach: Oberhänsli-Widmer (2003), S. 44f. Fokkelman betont, dass sich Knecht als direkte Aussage Gottes über einen Menschen nur hinsichtlich zweier weiterer Figuren findet: Moshe und David. (Nach: Fokkelman (2012), S. 320.) Zum Knecht Adonais siehe auch: Heckl (2010), S. 430–438. Hinsichtlich Abraham ist eine Gemeinsamkeit besonders augenfällig: Genauso wie bei seinem Knecht Abraham, ist es auch bei Gottes Knecht Hiob letztlich Gott selbst, der ihn prüft: „Indeed, the story deals with the problem of evil, but it is not the evil of a person on earth. Rather, it deals with the evil emanating from the celestial world. As in the story of the Binding of Isaac (Gen. 22), one questions the right of God to require an old father, whom he called my servant, to sacrifice his son, even if it was for the sake of testing the father’s faithfulness. In both cases God tested people whom he called my servant. […] The catastrophe which befell Job had the signature of God.“ (Caspi/Greene (2012), S. xv, Hervorhebung im Original.) Peleg etwa erwähnt unter Angabe weiterführender Literatur eine weitere interessante Koinzidenz zwischen Hiob und Abraham. So wird nämlich nicht nur Hiob als Dulder und Rebell bipolar gezeichnet, sondern auch Abrahams Bild enthält eine gewisse Ambivalenz mit Blick auf seine Reaktion: In Gen 18,16–33 verhandelt Abraham mit Gott, er fordert ihn heraus, indem er auf das Schicksal möglicher Unschuldiger in Sodom bei dessen Vernichtung hinweist. Doch bei der Bindung Isaaks in Gen 22,1–19 rebelliert Abraham nicht, sondern fügt sich ganz Gottes Willen. (Nach: Peleg (2012), S. 32.) Nach: Hi 1,9–11. Auf das hier für fluchen verwendete Verb wird weiter unten eingegangen. Es sei aber bereits hier erwähnt, dass dieses Verb üblicherweise segnen bedeutet, im Buch Hiob jedoch ambivalent verwendet wird. „Mit dieser Wette geht Gott ein Risiko ein. Indem er auf Hiob setzt, setzt er sich selbst aufs Spiel. Verliert er die Wette, gerät er in Misskredit: Wenn Hiob versagt, hat Gott versagt. Hiob aber wird durch die Wette zwischen Gott und Satan, ohne dass er die geringste Ahnung davon hat, zu einem metaphysischen Versuchsobjekt.“ (Zahrnt (1988), S. 22.) Nach: Hi 1,12. Nach: Hi 1,13–19. Thomas von Aquin nimmt eine interessante Deutung vor, wenn er darauf hinweist, dass die Reihenfolge der Schilderungen von Hiobs Reichtum und vom

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Mit dieser Einleitungsformel wird das zeitliche Nacheinander der Botschaften zu einer atemlosen Folge vernichtender Ereignisse zusammengezogen, die sich schließlich zu einem einzigen Bild der Zerstörung verdichten: Vier Boten stehen vor Hiob, die als einzige Überlebende der Katastrophen ihm das Ende seiner wirtschaftlichen Existenz und den Verlust aller familiären Hoffnungen zu verkünden haben.39 Alles geht Schlag auf Schlag, alle vier Botschaften erreichen Hiob quasi gleichzeitig. Die Katastrophen selbst sind bewusst gestaltet: 1. Raubzug der Sabäer 2. Feuer Gottes (= Blitz)40 fällt vom Himmel 3. Raubzug der Chaldäer 4. Sturm

→ von Menschen verübtes Böses(soziales/moralisches Übel) → Naturkatastrophe → von Menschen verübtes Böses(soziales/moralisches Übel) → Naturkatastrophe

Es wird somit abwechselnd eine Naturkatastrophe und ein von Menschenhand verübtes Verbrechen geschildert.41 Damit kommt sowohl das moralische/ soziale Böse in den Blick als auch das natürliche. Da aus dem Prolog bekannt ist, dass Satan (und letztlich Gott) hinter diesen Katastrophen steht, ist insbesondere der Hinweis auf die Kategorie des moralischen Übels interessant, denn allem Anschein nach werden diese Menschen von Satan instrumentalisiert, um Leid über Hiob zu bringen. Es wäre zu erwarten, dass sich Hiob – wie es Satan vermuten ließ – von Gott abwenden würde, nachdem er all seinen ökonomischen und familiären Besitz verloren hatte. Doch Hiob reagiert nicht, wie Satan es erwartet hatte, vielmehr äußert er den berühmten Spruch: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn.“ (Hi 1,21b eü) Als Zeichen der

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Verlust und seinen Leiden umgedreht wurde: Wurde zunächst vom Wichtigeren zum weniger Wichtigen geschritten, geht das Leiden vom weniger Wichtigen zum Wichtigen, da nach einer größeren Bedrängnis eine kleinere nicht gefühlt würde; durch das Umdrehen der Reihenfolge wird so die Bedrängnis Hiobs gesteigert. (Nach: Thomas von Aquin, Exp. sup. Iob i,3.) Syring (2004), S. 76. So z.B.: Schwienhorst-Schönberger (2007,1), S. 17. Vgl.: Ebd.

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Trauer zerreisst er seine Kleider und schert sein Haupt,42 doch Gott zürnte er nicht einen Augenblick: „Bei alldem sündigte Ijob nicht und äußerte nichts Ungehöriges gegen Gott.“ (Hi 1,22 eü)43 In der Hiob-Erzählung kennt das Verb für segnen, welches hinter der Passivform ‫( מבורך‬meworách) steht, zwei sich konträr entgegengesetzte Bedeutungen: Zum einen kann es klassisch für segnen stehen, gleichzeitig kann es aber auch fluchen bedeuten. Im ersten Moment ist dadurch nicht eindeutig klar, ob Hiob sich weiterhin Gott unterwirft und ihn lobpreist oder ob er ihn doch – wie von Satan angekündigt – verflucht. Dies wird erst durch den Nachsatz klar, indem betont wird, dass Hiob in alledem mit seinen Lippen nicht sündigte. Daraus erhellt, dass Hiob das ambivalente Verb in seiner positiven Bedeutung des Segnens verwendet haben muss. Doch endet die Geschichte damit nicht: Ein weiteres Mal versammeln sich die Gottessöhne und erneut kam unter ihnen auch Satan.44 Erneut trachtet Satan nach Hiobs Unheil, indem er Gott einzureden versucht, Hiob hätte nur darum nicht gegen Gott geflucht, weil er selbst ja nicht angerührt wurde; sobald aber sein nacktes Fleisch nicht verschont werde, werde er Gott fluchen.45 Von entscheidender Bedeutung ist dabei ein unscheinbares Wörtchen:

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Nach: Hi 1,20. Im Prolog wird Hiob dahingehend geschildert, dass er Gottes scheinbar unbeschränktes Recht, auch die Gerechten leiden zu lassen, unhinterfragt und ohne auch nur im Geringsten aufzubegehren, gelten lässt. (Nach: Illman (2003), S. 311.) Nach: Hi 2,1. An dieser Stelle klingt ein polytheistischer Götterhimmel mit einer Obergottheit (etwa wie in Griechenland das Pantheon mit dem Göttervater Zeus) an, allerdings handelt es sich hier nicht mehr selbst um Götterwesen, sondern um Boten Gottes, um Engel. (Nach: Schwienhorst-Schönberger (2007,2), S. 18.) Zur Vorstellung eines himmlischen Thronrats im Alten Testament s. z.B.: White (2014); Neef (1994). Es gilt auch anzumerken, dass die im Hiobbuch beschriebene Satansfigur noch nichts mit dem heutigen Satan, dem Teufel, zu tun hat, vielmehr handelt es sich schlichtweg um einen Ankläger. (Nach: Schwienhorst-Schönberger (2007,2), S. 18.) In der lxx wird ‫ השטן‬mit διάβολος (diabolos) wiedergegeben, „[d]as heißt wörtlich übersetzt: ‚derjenige, der entzwei wirft, der Zer-würfnis [sic!, v.v.] stiftet‘.“ (Ders. (2007,1), S. 15.) Zuständigkeit sowie Aufgabenfeld des Anklägers lassen sich für den Hiobprolog mit Syring wie folgt umschreiben: Satan „gehört zum ‚Hofstaat‘ Gottes und ist mit der Aufgabe betraut, auf Personen und Ereignisse zu achten sowie auf mögliche Verfehlungen und mangelnde Standhaftigkeit hinzuweisen und diese, eine Entscheidung Gottes vorausgesetzt, mit geeigneten Maßnahmen zu prüfen, durchaus im Sinne eines göttlichen ‚Controlling‘.“ (Syring (2004), S. 93.) Zur späteren Entwicklung der Engelsfallmythen rund um die Figur des Luzifer und dessen Wandlung zum Teufel s. z.B.: Vollenweider (2012). Zur Entwicklung der Teufelsfigur s. auch: Flasch (2015). Nach: Hi 2,2–5.

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‫( חינם‬chinám; umsonst, ohne Grund im doppelten Sinne von ohne Anlass aber auch ohne Absicht).46 Denn dieses Wort stellt das „Schlüsselwort im Gespräch Gottes mit dem Satan“47 dar: Satan wirft die (rhetorische) Frage auf, ob Hiobs gottesfürchtige Haltung denn ‫ חינם‬sei oder ob er nicht vielmehr gottesfürchtig sei, weil es sich für ihn lohnte, da er so Gottes Segen empfange und mit Reichtum beschenkt sei.48 So ist Gottes Einwilligung auf den Einwand Satans von dieser Frage nach dem Grund für Hiobs Gottesfürchtigkeit bestimmt, welche im Wort ‫ חינם‬ausgedrückt ist: Gott lässt Satan Unheil über Hiob bringen, „um zu ergründen, ob dessen Gottesfurcht Liebe zu Gott – also Gottesbeziehung als Lebensgrund – oder Selbstliebe ist – also egomane Perversion von Beziehung zur Selbstbezüglichkeit.“49 Dabei stellt Satans Formulierung eine interessante Nähe – bei noch interessanterem Unterschied – zum ius talionis, dem Recht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten (vgl. Ex 21,23–25), dar:50 Satan äußert zu Gott „Haut für Haut“, womit er ausdrücken will, dass jeder sein nacktes Leben retten will und es ihm nur um sein eigenes Leben geht – solange andere Güter oder das Leben anderer berührt werden, kümmert es den Einzelnen nicht, erst wo an ihm selbst gerührt wird, verzweifelt er und lässt ab von Gott.51 Die Formulierung „Haut für Haut“ erinnert dabei an das berühmte „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, etc. in Ex 21,23–35. Doch wird anstelle des in Ex verwendeten Wortes ‫( תחת‬tachat; anstelle) in Hiob auf diesen mit der Vorstellung des Talionsprinzips verbundenen Begriff bewusst verzichtet und stattdessen der Begriff ‫( בעד‬be'ád; für im Sinne von zugunsten von) verwendet. Dadurch wird das einfache Vergeltungsschema der Talion aufgesprengt.52 So 46

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Nach: Spieckermann (2012), S. 12f. Spieckermann verweist dabei auf eine Parallele der Hiobgeschichte zu Spr 23,29–34: Wie der Betrunkene in Spr 23,29–34, leidet auch Hiob an ‫( פצעים חינם‬petza’ím chinám; Wunden ohne Grund). (Nach: Ebd., fn 3 S. 13.) „Beide erleiden Macht und Willkür, denen sie ausgeliefert sind, Hiob anders als der Süchtige (vgl. Prov 23,35) ohne Wahl. Die partielle Affinität von Prov 23,29–34 zu Hiobs Geschick rückt Gottes Tun im Hiobbuch in kein günstiges Licht.“ (Ebd., fn 3 S. 13f.) Ebd., S. 13. Nach: Hi 1,9–10. Spieckermann (2012), S. 13. Vgl.: Ebd., fn 3 S. 13. Nach: Hi 2,4–5. Diesbezüglich sei auch auf Maimonides verwiesen, der darauf hinweist, dass das Leiden Hiobs bei den geringen Dingen beginnt und dann in aufsteigender Folge immer gravierender und seine Person immer direkter treffend wird. (Nach: mn iii,22.) Auch bei Maimonides findet sich so die Vorstellung, dass einige Menschen in der Tat erst durch ihre eigene Bedrängnis aus der Ruhe zu bringen sind, das Leid anderer dagegen lässt sie scheinbar kalt. Nach: Spieckermann (2012), fn 3 S. 13.

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hält Spieckermann fest, die gewählte Wendung ‫ בעד‬bringe nicht die im Talionsrecht angesprochene „plausible ‚Ordnung‘ des Strafens“53 zum Ausdruck, sondern ziele mit der Verbindung mit „Haut für Haut“ vielmehr gerade „auf eine unkalkulierbare, jede Äquivalenz ausschließbare Lebensbedrohung. Konsequent wird festgestellt, dass der Mensch alles für sein Leben zu geben bereit ist, dahingestellt, ob es nützt oder nicht.“54 Angestachelt von Satan gibt Gott Hiob in dessen Hand – einzig Hiobs Leben bleibt der Macht Satans entzogen.55 Hiobs Körper ist von Kopf bis Fuß von Geschwüren übersäht,56 doch – in der 53 54

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Ebd. Ebd. Kaiser dagegen vertritt die Ansicht, dass „Haut für Haut“ der beduinischen Tauschgeschäftformel entspreche und so die Frömmigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs als reines Tauschgeschäft – ganz im Sinne des do ut des (Ich gebe dir, damit du mir gibst) – charakterisiere. (Nach: Kaiser (2006), S. 25f.) Nach: Hi 2,6. Interessanterweise scheint gerade die Schilderung der Krankheit Hiobs dem späteren Urteil seiner Freunde – die Schuld und Sündhaftigkeit Hiobs und damit sein Leiden als gerechte Strafe – seine Rechtfertigung zu geben: Denn in der Thorah heißt es gegen denjenigen, der sich Gott und seinen Geboten widersetzt, explizit: „Der Herr schlägt dich mit bösen Geschwüren am Knie und am Schenkel, und keiner kann dich heilen. Von der Sohle bis zum Scheitel bist du krank.“ (Dtn 28,35 eü) Und Hiobs Krankheit wird in Hi 2,7 mit folgenden Worten geschildert: „Der Satan ging weg vom Angesicht Gottes und schlug Ijob mit bösartigem Geschwür von der Fußsohle bis zum Scheitel.“ (Hi 2,7 eü) Die beiden Stellen auf Hebräisch einander gegenübergestellt: ‫ "יככה יהוה בשחין רע על הברכיים ועל השקיים אשר לא תוכל להירפא מכף‬:Dtn 28,35 "‫רגלך ועד קדקודך‬ "‫ "ויצא השטן מאת פני יהוה ויך את איוב בשחין רע מכף רגלו עד קדקודו‬:Hi 2,7 Damit findet sich eine wörtliche Zitation aus Dtn 28,35 (mit bösem Geschwür von der Fußsohle bis zum Scheitel), was Hiobs Leiden als Strafe Gottes für Hiobs Verfehlungen gegen Gott erscheinen lässt. (Vgl.: Syring (2004), S. 86.) Die Leserschaft weiß um das unverdiente Leiden Hiobs, die Freunde Hiobs dagegen, welche den vom allwissenden Erzähler beschriebenen Vorgang im Prolog nicht kennen, können gar nicht anders, als das Leiden Hiobs als gerechte göttliche Strafe zu deuten. (Vgl.: Heckl (2010), S. 265.) Dass die Zitation in der Richtung von Hi zu Dtn und nicht umgekehrt erfolgte, scheint „recht eindeutig zu bestimmen sein, denn Dtn 28 dürfte aufgrund seiner traditionsgeschichtlichen Nähe zu den neuassyrischen Vasallenverträgen deutlich früher zu datieren sein als die entsprechenden Texte des Hiobbuchs.“ (Schmid (2007), S. 250.) Dass aber Hiobs Freunde, welche ja wie dieser selbst gerade keine Israeliten sind und daher weder Gott unter seinem geoffenbarten Namen noch die Weisungen der Thorah kennen können, dennoch die Stelle aus Dtn 28,35 kennen, ist interessant. Denn der Text scheint diese Kenntnis eindeutig vorauszusetzen, um so die Konfrontation zuzuspitzen. Heckl plädiert aus diesem Grunde auch dafür, dass die Verfasserschaft an dieser Stelle „bewusst ein[en] Anachronismus in Kauf genommen“ (Heckl (2010), fn 195 S. 265.) hat. Diese anachronistische Kenntnis hat aber nicht nur Konsequenzen für die Freunde Hiobs, sondern

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Asche57 sitzend – flucht er Gott noch immer nicht.58 Selbst seine Frau rät ihm, Gott zu lästern und daraufhin zu sterben.59 Doch Hiob hört nicht darauf und macht eine weitere berühmt gewordene Äußerung: „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen? Bei all dem sündigte Ijob nicht mit seinen Lippen.“ (Hi 2,10b eü) Interessant ist hierbei, dass Hiob – wie später in der Auseinandersetzung mit den Freunden und Elihu – nicht wie sonst im Prolog üblich das Tetragramm verwendet. Endlich nun kommen Hiobs Freunde zu Besuch, welche in den folgenden Reden versuchen werden, Hiobs Leiden zu begründen und als gerecht und verdient zu rechtfertigen: Eliphas aus Teman, Bildad aus Schuach und Zophar aus Naama kommen und halten mit ihm die Shiv’a, die siebentätige Trauer nach einem Todesfall.60 Auffällig ist an dieser Stelle, dass die Erzählung bis zur

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auch für den Protagonisten selbst: „Der Text scheint darauf abzuzielen, dass Hiob sich als unter dem Gottesfluch stehend erkennen und sich dieser Situation entsprechend bewähren soll.“ (Ebd., S. 265f.) Doch noch ein weiterer Aspekt ist hierbei interessant: Satan wirft Hiob gerade vor, nur aufgrund eines do ut des-Prinzips an Gott zu glauben und ihm treu verbunden zu sein. Genau an dieser Stelle setzt er mit seiner Anfechtung denn auch an: Indem er seine Taten als vermeintliche Strafe Gottes erscheinen lässt, greift er gerade den Tun-Ergehen-Zusammenhang selbst auf. Doch zeigt er damit bereits an, dass ein solcher Zusammenhang nicht besteht. Es geht nun darum, wie Hiob damit umgeht: Erkennt er sich selbst als vermeintlich schuldig und damit strafwürdig oder zieht er den Zusammenhang infrage oder aber zieht er gar Gott infrage, welcher sich nicht an diesen Zusammenhang hält, und wenn er Gott infrage stellt, gibt er ihn dann auf oder hält er auch trotz seiner Unverständigkeit, welche sich nicht in ein menschliches System zwingen lässt, weiter an ihm fest? Der Satan nimmt eindeutig an, dass Hiob Gott verschmähen wird, Gott dagegen vertraut auf die Treue seines Knechts. Dabei weist der Hinweis auf die Asche evtl. darauf hin, dass Hiob sein Haus und die Zivilisation verlässt und sich in die Abgeschiedenheit desjenigen Ortes begibt, welcher für die Aussätzigen vorgesehen ist, wie die lxx nahelegt. (Nach: Schwienhorst-Schönberger (2007,1), S. 19.) Nach: Hi 2,7–8. Nach: Hi 2,9. Die Übersetzung ist dabei keineswegs unumstritten, da die übliche, eine Frage einleitende Partikel fehlt und so auch nicht definitiv auf die Bedeutung des in Hiob doppeldeutigen Verbes segnen bzw. fluchen geschlossen werden kann. Zwar kennt die negative Darstellung der Frau Hiobs eine lange Geschichte, doch findet sich auch ein positiverer Strang, welcher um Verständnis für Hiobs Frau ringt, so bereits die Septuaginta. Siehe hierzu z.B.: Seow (2007). Nach: Hi 2,11–13. Hiob wird damit gleichsam als lebender Toter dargestellt. Zur Reaktion der Freunde Hiobs als einem dem Tode Verfallenen gegenüber s. auch: Heckl (2010), S. 278–281. Überhaupt nimmt die Todesthematik auf Basis des verwendeten

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Ankunft der Freunde abwechselnd einmal auf der Erde spielt und einmal im Himmel und die beiden Himmelsszenen gerahmt sind von Teilen, welche den Fokus auf die Erde als Ort des Geschehens richten, wobei sich insbes. auf Erden die Figuren nebst Hiob in allen Teilen ändern (1. Hiob und seine Kinder, 2. Hiob, seine Kinder und die Boten, 3. Hiob und seine Frau).61 Das Auftreten der Freunde leitet so auch formal bereits zu etwas Neuem über. Diese Szene stellt das Bindeglied zwischen dem Prolog und dem poetisch-dialogischen Hauptteil dar und damit auch den Übergang zwischen Hiob, dem Dulder, und Hiob, dem Rebellen.62

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Vokabulars weiten Raum in der Erzählung ein. (Nach: Mathewson (2006), S. 28.) Interessant ist hierbei auch, wie negativ die Freunde in die Erzählung eingeführt werden: „An dieser Stelle wird deutlich, dass das vermutete Wortspiel von den ‫ =[ רעי איוב‬Freunde Hiobs, V.V.], die zu Hiob kommen (‫)בוא‬, wegen des Bösen ‫רעה‬, das auf ihn gekommen ist (‫)בוא‬, keinem Zufall entspringen dürfte. Die Freunde werden in 2,11–13 – überspitzt ausgedrückt – als das eingeführt, wozu sie in der Dichtung für Hiob sukzessive werden, als Teil des Bösen, das Hiob trifft.“ (Ebd., S. 280, Hervorhebung im Original.) Nach: Lux (2012), S. 66. Mit Kaiser lässt sich sagen, dass es gerade auch Hi 2,10 ist, das diesen spannungsvollen Wechsel erzählerisch trotz der scheinbaren Diskrepanz zwischen Hiobs vormaligem dulderischen Verhalten und seinem späteren haltlosen Aufbegehren stimmig möglich macht: Hieß es in Hi 1,22 noch, Hiob sündigte in alledem nicht und tat nichts Törichtes gegen Gott, so heißt es in Hi 2,10 nur noch, dass er in alledem nicht mit seinen Lippen sündigte, also eine rein äußerliche Schilderung. „Diese Formulierungsnuance bei der sonstigen Neigung des Erzählrahmens zur Wiederholung von Formulierungen ist auffällig, denn sie lässt offen, was in seinem Herzen im Angesicht der Abkehr seiner Frau vorgegangen ist und vorgeht. Das allein genügt, um die Erzählung über den Besuch der Freunde in ein ungewisses Licht zu rücken und die Zusammenballung einer ungeheueren [sic!, v.v.] Erregung in Hiob während des siebentägigen rituellen Schweigens ahnbar zu machen.“ (Kaiser (2006), S. 29.) Illman dagegen betont, dass es sich beim Dulder und dem Rebellen um zwei unterschiedliche Hiobfiguren handelt, welche nicht miteinander in Einklang zu bringen seien. (Nach: Illman (2003), insbes. S. 332.) Dass diese erste gewissermaßen monologische Rede (eine Anrede fehlt) dennoch auf einen bestimmten Adressaten zielt, lässt sich wie folgt aufweisen: „Indirekt ist die Klage dabei thematisch dennoch an Gott gerichtet: auf ihn als den eigentlichen Verantwortlichen, der als hinter dem Leben stehend gesehen wird. Dass Gott aber nicht direkt angesprochen wird, ist Ausdruck für die aus der Perspektive des Sprechers in Hi 3 gestörte Gottesbeziehung.“ (Heckl (2010), S. 45.) Dagegen ist auch die interpretatorische Möglichkeit gegeben, den Monolog als auf die Leserschaft ausgerichtet anzusehen. (Nach: Fokkelman (2012), S. 204.)

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Die erste Rede Hiobs63

Endlich bricht Hiob das Schweigen der Trauer,64 indem er den Tag seiner Geburt verflucht.65 Diesen verflucht er nicht einfach nur, sondern mit dem Hinweis auf die Finsternis greift er selbst die lebensfeindliche Macht der Finsternis aus der ersten Schöpfungserzählung auf. Licht und Finsternis werden gegeneinander so ausgespielt, dass die lebensfeindliche Finsternis dem scheinbar lebensermöglichenden, in Wahrheit aber feindlichen und schmerzvollen Licht vorgezogen wird.66 Hierin wird ersichtlich, dass Hiobs gesamte Lebenswelt und seine ganze Wahrnehmung durch die Leidenserfahrungen auf den Kopf gestellt worden sind. Hiobs Welt ist aus den Fugen geraten. Diese Verkehrung der Weltordnung bis in ihr Gegenteil zeigt sich gerade auch in Hiobs Todeswunsch sowie in der Verfluchung des Tages seiner Geburt: „Während die Geburt von Kindern im alten Israel durchweg als positiver Grundwert betrachtet wurde, war der Tod negativ besetzt. Und während in den Klagen des Einzelnen der Ruf nach Rettung vom Tode an jhwh ergeht, träumt Hiob von der Rettung durch den Tod.“67 Hiob versteht die Welt – und Gott – nicht mehr. Und so zielt sein Wunsch nicht nur auf die Auslöschung seines eigenen Lebens, sondern

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Heckl betont, „dass Hi 3 als Eröffnungsabschnitt der Dichtung eine übergreifende Funktion hat“ (Heckl (2010), S. 38.), wobei das eigentliche Gegenstück zu dieser den Dialog eröffnenden Rede in den Gottesreden zu suchen sei. (Nach: Ebd., S. 39.) Nach: Hi 3,1–23. Hiob greift dabei auch schon die Nacht seiner Empfängnis auf und wünscht, dass auch diese ausgelöscht wird. Kraemer hält fest, dass hierbei gerade fragwürdig ist, ob Hiob dennoch unschuldig bleibt, da der Akt der Zeugung Gott gerade als Mitwirkenden sieht, sodass die Verfluchung dieses Tages einer Verfluchung Gottes gleichkomme. (Nach: Kraemer, D. (1995), S. 30.) Damit erweist sich Hiobs Wunsch nach Auslöschung seiner Zeugung und seiner Geburt als Antimythos zur Schöpfung: Hiob äußert darin den Wunsch um „die Rücknahme der ganz persönlich an ihm geschehenen Schöpfungstat Gottes.“ (Lux (2012), S. 144; vgl.: Ebd., S. 145f.) Die gesamte Passage von dortiger und hiesiger Welt, von Licht und Finsternis, von Leben und Tod ist äußerst interessant, indem die an und für sich negativen Attribute „paradoxerweise zu positiven Dimensionen umgedeutet“ (Pezzoli-Olgiati (2007), S. 451.) werden. Pezzoli-Olgiati verweist dabei auf eine Parallele in Koh 6,3–5. Der erste Monolog Hiobs lässt nur ein – gleichermaßen paradoxes und vernichtendes – Fazit zu: „Die geordnete Schöpfung liefert den Menschen dem Leiden aus, während die durch Dunkelheit und Finsternis mit chaotischen Zügen versehene Unterwelt dem Toten auszuruhen erlaubt. […] Interessanterweise bleiben die Attribute der zwei entgegengesetzten Welten konstant, nur ihre Wertung wird vertauscht.“ (Ebd., S. 452.) Lux (2012), S. 148, Hervorhebung im Original.

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eigentlich dieser gesamten unverständigen, verkehrten Schöpfung.68 Es wird ersichtlich, dass offenbar nicht nur Hiobs Verhältnis zur Schöpfung gestört ist, sondern auch jenes zum Schöpfer selbst. Eine so verdrehte Welt dürfte es in Hiobs Augen nicht geben. Damit wird nicht nur Gottes Schöpferintention, sondern auch seine Schöpfungstat selbst infrage gezogen, hätte er doch eine Ordnung und nicht eine scheinbare Unordnung schaffen müssen. Die Schöpfung und Gott sind Hiob unverständlich geworden. In der Folge muss es Hiob also nicht nur um eine Einsicht in diese gestörte Ordnung gehen. Vielmehr steht seine Beziehung zu Gott auf dem Prüfstand und muss überdacht werden. Dass das Verhältnis zu Gott selbst in der Hioberzählung in die Krise geraten ist, spiegelt sich auch auf semantischer Ebene wider und zwar ausgerechnet anhand des Verbes ‫( בירך‬beréch, segnen), denn dieses kann sich in der Novelle der Macht des Fluches kaum erwehren: brk viermal in der Bedeutung ‚fluchen‘, dreimal mit der Bedeutung ‚segnen‘. brk ist dabei nicht einfach ein Euphemismus für fluchen, sondern indiziert mit den beiden semantischen Antipoden segnen und fluchen das theologische Problem, das erzählt werden soll: den Verlust der Eindeutigkeit dessen, was zwischen Gott und dem Menschen gilt, zwischen Gott und Hiob, von dem gesagt werden kann, er sei fromm und redlich, gottesfürchtig und meide das Böse (1,1 u.ö.). brk, normalerweise ein theologischer Zentralbegriff für Gottes Menschenfreundlichkeit und des Menschen Dankbarkeit im Gotteslob, ist in der Novelle in die Sphäre des Fluches geraten.69 Die Frage wird aufgeworfen, durch wen diese Beziehungsstörung, welche sich in diesem Wort äußert, gestört wurde und so der Segen zum Fluch werden konnte: Ist Gott an dieser Verschiebung und Unsicherheit schuld oder trägt der Mensch die Schuld dafür oder sind am Ende sogar beide dafür verantwortlich?70 Eindeutig ist Gott verantwortlich für diese Beziehungsstörung und dadurch für die Verlagerung vom Segnen hin zum Verfluchen.71 Hiob dagegen kehrt dieses Verhältnis nicht um, sondern ist gewillt, nicht nur das Gute,

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Nach: Dietrich (2008), S. 20. Damit ist Hiob „nur ein Beispiel für einen viel umfassenderen Sachverhalt: dass in der Welt, so wie sie ist und wie Gott sie geschaffen hat und gewähren lässt, ganz grundsätzlich etwas nicht stimmt.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) Spieckermann (1994), S. 435, Hervorhebung im Original. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 435f.

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sondern auch das Böse, nicht nur den Segen, sondern auch den nicht nachvollziehbaren Fluch aus Gottes Hand anzunehmen und weiterhin zu beteuern, Gottes Name sei gepriesen bzw. gesegnet.72 Er hält an dem Verhältnis des Segens weiter fest, ungeachtet seines Loses. Und genau dieses Festhalten stellt die Bedingung dafür dar, dass Gott Hiob nach der Prüfung am Schluss wieder segnet.73 Doch genau dadurch verfestigt sich die verkehrte Ordnung: „Erst der wider alle Erfahrung am Lobpreis festhaltende Hiob bewegt Gott erneut zum Segen. […] Das Gotteslob ist nicht [mehr, v.v.] Reaktion auf die Erfahrung des Segens; vielmehr wird das von dem Frommen in der Leiderfahrung festgehaltene Gotteslob zur Voraussetzung des Segens.“74

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Nach: Ebd., S. 436. Wilson dagegen nimmt die Position ein, dass Hiob durchaus den Namen des wankelmütigen Adonai verfluche, seine Beziehung zum verlässlichen Elohim dagegen sei davon nicht betroffen und bleibe ungestört intakt. (Nach: Wilson (2006), S. 101–103.) Nach: Spieckermann (1994), S. 436. Genau dieser Wechsel von Segen und Fluch, welcher sich in der Gestalt des Hiob spiegelt, besitzt aber auch Bedeutung für die Geschichte des auserwählten Volkes Israel selbst: „Bei allen Parallelen zur Figur des leidenden Frommen in der altorientalischen Literatur ist die Doppelbedeutung des Leidens als schmerzliches Gezeichnetsein und Auszeichnung biblisches Urgestein und gehört zum Gewaltigsten der Hiob-Dichtung, eben weil sich hier die Grundfigur der Geschichte Israels reflektiert, spätzeit-charakteristisch in das Einzelschicksal zurückgenommen, aber trotzdem und gerade darin scharf kenntlich: Ohne ägyptische Sklaverei keine Führung in die Freiheit, kein auserwähltes Volk – nicht im Sinn einer logisch-systematischen Theodizee-Rabulistik, sondern im heilsgeschichtlichen Sinn Israels. An Hiob erscheint das für Israel zentrale Problem seiner heilsgeschichtlichen Selbstdeutung, dass seine im Bundesschluss erfolgte Hervorhebung durch Gott eine Leidensgeschichte enthält“ (Kaiser (2006), S. 17.). Für Kaiser spiegelt sich damit im Einzelschicksal Hiobs die Erwählungsgeschichte Israels wider, welche nicht nur Glück, Prosperität (sowohl ökonomisch als auch in Form von Kinderreichtum) und Segen kennt, sondern die trotz der Auserwählung Gottes vor zeitweiligem Leiden nicht schützt. Doch die Erzählung von Hiob gibt damit Hoffnung, dass Gott sich an seine Auserwählung und seinen Bund erinnert und sich so wieder liebend zuwendet und die Geschicke wieder wendet. An dieser Stelle sei Margarete Susman erwähnt, welche die Leidensgeschichte Hiobs als Leidensgeschichte des Volkes Israel deutet bzw. darauf hinweist, dass sich das gesamte Leiden des Volkes Israel bereits in der Figur des Hiob findet. Damit steht Susman jedoch nicht alleine da, sondern reiht sich vielmehr in eine lange Tradition ein: „Das mittelalterliche Judentum, vor allem in seinem frömmigkeitsgeschichtlich für das aschkenasische Judentum wichtigsten Buch, dem Sefer Chassidim (‚Buch der Gerechten‘), parallelisiert das Leiden Hiobs mit dem Leiden des jüdischen Volkes.“ (Lauer (2004), S. 14, Hervorhebung im Original.) Spieckermann (1994), S. 436, Hervorhebung im Original.

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4.4

Der Wunsch Hiobs nach einem Rechtsstreit mit Gott

Im Verlaufe des fortschreitenden Dialogs mit den Freunden kommt in Hiob der Wunsch nach einem Rechtsstreit mit Gott auf. Stünde Hiob vor Gott, würde er ihm seinen Fall vorlegen und Gott würde erkennen, dass Hiob rechtschaffen ist und ihn in der Folge freisprechen:75 War es zunächst Eliphas, welcher die Thematik der „Aussprache“ mit Gott aufscheinen ließ, nimmt Hiob immer mehr diesen Standpunkt ein und radikalisiert ihn dahingehend, dass er mit Gott gegen Gott ins Gericht gehen will. Gerade die Thematik der Gerichtsverhandlung schwingt dabei vokabularisch im Buch Hiob durchgehend mit, vom Prolog über den Dialog bis hin zum Epilog, und fungiert als strukturierendes Element innerhalb der Erzählung:76 Genau diese juridische „Fixierung“, welche linguistisch angezeigt ist, wird in der Hioberzählung interessanterweise aber letztlich gerade aufgebrochen, wenn der Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen, welcher ja einem strengen, juridischen Äquivalenzdenken von Aktion und Reaktion bzw. Vergehen und gesetzlicher Ahndung des Verbrechens entspricht, negiert wird.77 Der Gerichtswunsch Hiobs besitzt dabei eine tiefere Bedeutung. Interessant ist auch der Perspektivenwechsel, welcher sich in den ersten Kapiteln der Erzählung ereignet: Steht nämlich zu Beginn die Motivation der Religiosität des Menschen im Zentrum der Debatte zwischen Satan und Gott, so verschiebt sich diese anthropologische Zentrierung hin zu einem theologischen Diskurs, steht doch das Gottesbild selbst aufgrund des aufgebrochenen und infrage stehenden Tun-Ergehen-Zusammenhangs auf dem Prüfstand.78 Die auf der Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs beharrenden „Freunde fungieren dabei als Repräsentanten der alten Theologie, der alten Ordnung.“79 Hiob dagegen hat aufgrund seines persönlichen Leidens die Unzulänglichkeit derselben erkannt und ist nun auf der Suche nach einer neuen, hinreichenden und befriedigenden Theologie, welche auch angesichts des unverdienten Leidens nicht zusammenbricht. Seine Gottesbeziehung hält 75 76 77

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Nach: Hi 23,4–7. Nach: Hoffman (2007), S. 22f. Dass im Buch Hiob gerade dieses Modell gewählt wird, um seine Unzulänglichkeit aufzuweisen, ist interessant und lässt für Hoffman nur einen Schluss zu: „[T]he author attempts to refute the validity of the trial paradigm by using the very same paradigm; namely, he uses a false concept to prove its falsity. And this is indeed indicative of the rather somber conclusion of the book: there is no solution. One can live either with or without a belief in an overall paradigmatic concept of the world’s conduct.“ (Ebd., S. 30.) Nach: Langenhorst (1994), S. 37. Ebd., S. 38.

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diesen Bruch, das Fehlen einer Antwort und die noch nicht geglückte Suche nach einer neuen Antwort aus. Bis aber diese Antwort gefunden ist, verharrt Hiob interessanterweise selbst im bekannten Schema und nimmt an, Gott sei ein Fehler unterlaufen, sobald aber Hiobs Unschuld erwiesen sei, werde Gott von ihm ablassen, ihn wieder ins Recht setzen und wie vormals belohnen. Und genau aus diesem Grunde beharrt Hiob auch so vehement auf einem Prozess mit und gegen Gott.80 Damit ist Hiobs Prozessverlangen gar nicht so revolutionär, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, verteidigt Hiob doch gerade durch dieses Verhalten die traditionelle Vorstellung eines direkten Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen.81 Wohl bestreitet Hiob den von seinen Freunden bestehenden Tun-Ergehen-Zusammenhang im Hinblick auf sein eigenes Los,82 doch wendet er sich zugleich an Gott, dieser möge diesem Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen auch im Leben Hiobs zum Durchbruch verhelfen.83 Hiob beteuert seine Unschuld,84 welche ihm aber nichts nützt, da Gott in seinem Tun nicht umgestimmt werden kann, sondern macht, was er will.85 Da er um seine Unschuld und die Ungerechtigkeit des Loses weiß, fürchtet er sich nicht vor dem Rechtsspruch. Vielmehr ist es der scheinbar unberechenbare Gott, den er fürchtet. „Hiob hat den satanisierten Gott zum Feind. Seine 80 81 82

83

84 85

Nach: Ebd., S. 39. Nach: Ders. (2006), S. 15. Schwienhorst-Schönberger weist dabei vier unterschiedliche Positionen, welche im Verlaufe der Reden von den Freunden Hiobs vorgetragen werden, aus: 1. Das Leid wird als Folge menschlicher Schuld gedeutet; 2. das Leid ist verbunden mit des Menschen Kreatürlichkeit und stellt so dessen natürliche Folge dar, es gehört schlechthin zur menschlichen, geschaffenen Natur; 3. Gott nutzt das Leiden zu Erziehungszwecken sowie zur Zurechtweisung; und zu guter Letzt: 4. Im Leid werden die Frommen getestet, um ihren Glauben und ihre Rechtschaffenheit auf ihre Echtheit zu prüfen. (Nach: Schwienhorst-Schönberger (2007,2), S. 14.) Wie die Leserschaft aufgrund des vorgeschalteten Prologs weiß, ist es in der Tat die vierte Position, welche die tatsächlichen Gegebenheiten der Hioberzählung wiedergibt. Dennoch wird in den Gottesreden nicht auf die unterschiedlichen Positionen eingegangen. (Nach: Ebd.) Gott dagegen weist in seinen Reden auf, dass er die menschlichen Vorstellungen in jeder Hinsicht, auch hinsichtlich des Beurteilens von Ordnung und Chaos, letztlich unendlich übersteigt: „Die menschliche Konstruktion von Sinn und Stimmigkeit wird von Gottes Wirklichkeit überstiegen.“ (Opel (2010), S. 164.) Nach: Langenhorst (2006), S. 15. Dieses Verharren im Tun-Ergehen-Zusammenhang wird mit Blick auf den Epilog nochmals von Bedeutung sein, wenn der Frage nachgegangen wird, weswegen bzw. was genau Hiob von seinen Reden am Ende widerruft. Nach: Hi 23,11f. Nach: Hi 23,13.

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Gotteserfahrung hat die Entmenschlichung des Menschen zur Konsequenz.“86 Das Verhältnis zu Gott ist in eine Krise geraten. Dieser willkürliche Gott versetzt Hiob in Angst und Schrecken und lässt ihn verzagen.87 In den Kapiteln 29–31 findet sich – in Abgrenzung zu im poetischen Teil vornehmlich dialogischen Elementen – ein längerer Monolog Hiobs.88 Interessant in den sog. Herausforderungsreden ist auch die gegenüber der Rahmenhandlung in Pro- und Epilog grundsätzlich veränderte Situation.89 4.5

Die Herausforderungsreden in Hi 29–31

In Hi 29 preist Hiob seine ruhmreiche Vergangenheit, in Hi 30 dagegen beklagt er seine klägliche Gegenwart. Interessant ist aber vor allem die große Unschuldsbeteuerung Hiobs im 31. Kapitel. Es handelt sich dabei um die letzte lange Rede Hiobs, danach folgen nur noch zwei kurze Reden Hiobs als Reaktionen auf die beiden Gottesreden. Hiob hebt hervor, dass er nichts verbrochen hat. Auffälligerweise beharrt Hiob in seinen Reden gerade nicht auf absoluter Fehlerlosigkeit, sondern hebt insbesondere das Freisein von schweren Sünden – und damit der Rechtfertigung so schwerer Leiden, wie sie ihn getroffen haben, als Strafe – hervor.90 Hinsichtlich seiner Unschuldsbeteuerung verweist Hiob nicht nur auf Taten, sondern auch nur schon auf Gedanken und beteuert so die 86

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Spieckermann (1994), S. 432. Damit ergibt sich eine schizophrene Situation: Hiob will sich einerseits vor Gott verstecken, indem er sich den Tod wünscht, gleichzeitig aber drängt er sich an Gott, ruft ihn an und verlangt nach Schutz – Gottes Schutz vor Gott, den Schutz des Erlösergottes vor dem Verfolgergott. Darin zeigt sich „die durchgehende Doppelrichtung in Hiobs Verhalten zu Gott. In dessen Eigenschaft als vermeintlicher Feind möchte Hiob vor ihm verschwinden. In dessen Eigenschaft, trotz seiner vermeintlichen Feindschaft doch für Hiob sein Gott zu sein, verlangt Hiob seine äußerste Nähe, will von ihm als der Verschwundene wahrgenommen sein. Und diese verwegene Gegenläufigkeit der Impulse, aus der später Hiobs Verlangen nach Gott als Zeugen gegen Gott als Richter herauswächst, ist elementar, geht noch seinem Appell an Gott als Richter voraus, ist Herausforderung des entsetzlichen Gottes in beinahe schon intimer und vor Verzweiflung witziger Rede. Der deus absconditus ist es, an den sich der fast zerschmetterte Hiob so eng, als an seinen Gott, und noch in der äußersten Hoffnungslosigkeit vertrauensvoll heranmacht“ (Kaiser (2006), S. 43.). Nach: Hi 23,15f. Nach: Opel (2010), S. 3. Nach: Heckl (2010), S. 176. Nach: Ebd., S. 214.

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Wichtigkeit eines lauteren Herzens.91 Auffallend sind dabei insbesondere die Parallelen zur Vorstellung des jenseitigen Gerichts im Alten Ägypten: So finden sich gemäß Kunz-Lübcke auch die Vorstellung von der Verstümmelung sowie von Feuerstrafe, welche Hiob als Strafen an sich anführt, sollte er gesündigt haben, um seine Unschuld zu beteuern, bereits bei den Ägyptern.92 Bei Hiob dagegen sind diese Strafen auf das Diesseits angewandt. Als weitere Parallele ist anzuführen, dass sich der Verstorbene gemäß dem ägyptischen Totenbuch vor 42 Totenrichtern behaupten muss.93 Auch Hiob verweist „insgesamt auf 42 geleistete bzw. unterlassene Handlungen“94, damit ist die Herzensprüfung vor den Totenrichtern überstanden und Hiobs Unschuld erwiesen.95 Doch besteht noch eine weitere Parallele: Die Erwähnung des Kopfschmucks. So sagt Hiob in Hi 31,36, dass er allfällige Anklageschriften, welche allesamt völlig wirkungslos seien, zum Zeichen seiner Unschuld als Kranz um seinen Kopf winden wolle. Wie Kunz-Lübcke aufzeigt, ist auch dieses Element im ägyptischen Totenbuch nachweisbar, wo es wiederum die Unschuld des Trägers bezeugt.96 Nach Aufweis der Unschuld und bestandener Herzensprüfung steht dem Toten im ägyptischen Totenbuch der letzte Schritt bevor, nämlich vor Osiris zu treten; und so steht auch Hiob als letzter Schritt im Rahmen seiner Herzensprüfung das Herantreten vor Gott bevor.97 Aus diesen Parallelen zum ägyptischen Totenbuch folgert Kunz-Lübcke, dass die Elihu-Reden erst nachträglich hinzugefügt wurden und auf die große Unschuldsbeteuerung nach ägyptischem Vorbild ursprünglich die Gottesreden bzw. Gottes Bestätigung von Hiobs Unschuld und die Zurechtweisung der Freunde folgte.98 Mit dem Reinigungseid wird damit Gott selbst herausgefordert, sodass auf diese Herausforderung denn eigentlich auch „nur der Tod Hiobs oder aber die Antwort Gottes folgen kann.“99 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Nach: Kunz-Lübcke (2007), S. 291. Nach: Ebd., S. 286. Nach: Ebd. Ebd., S. 290. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 288. Nach: Ebd., S. 288–290. Nach: Ebd., S. 290. Heckl (2010), S. 176. Dass jedoch zuerst die Reden Elihus folgen, lässt darauf schließen, dass diese wohl später in die Erzählung eingefügt und zwischen die Herausforderungsreden und die Gottesreden geschoben wurden. (Vgl.: Opel (2010), S. 16; zu den unterschiedlichen Modellen hinsichtlich der Ursprünglichkeit oder einem späteren Hinzukommen der Elihureden siehe: Pilger (2010), S. 4–24.). Gemäß Fokkelman dagegen sind die Herausforderungsreden gerade nicht an jemand Spezifisches gerichtet, sodass die Rede keine Herausforderung Gottes zur Prüfung des Herzens Hiobs beabsichtige. Vielmehr sieht Fokkelman den Adressatenkreis offen auf

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4.6

Die Gottesreden

Die Gottesreden selbst sind mehr als nur Gottesrede: Es handelt sich dabei vielmehr um einen Dialog zwischen Gott und Hiob, denn auf jede der beiden Reden Gottes folgt eine Antwort Hiobs.100 4.6.1 Erste Gottesrede und Hiobs Antwort Adonai antwortet Hiob aus dem Sturm.101 Es fällt somit auf, dass nicht mehr von Gott mit unterschiedlichen Begriffen die Rede ist wie im Dialogteil, sondern dass nun die aus dem Prolog bekannte Rede vom Tetragramm wieder aufgenommen wird.102 In seiner ersten Rede103 erinnert Gott Hiob an die Grenzen des menschlichen Erkennens und Wirkens. Dabei liegt der Fokus dieser ersten Rede aber nicht auf der Geringfügigkeit des Menschen: Gott schildert nämlich nebst dem den Menschen entzogenen Plan der Schöpfung und der Naturgewalten auch die Tiere und ihre Lebensweise, welche den Menschen ebenfalls entzogen sind, wobei Gott in dieser Schilderung als der im alten Orient verbreitete Herr der Tiere erscheint.104 Es wird ersichtlich, dass es nicht darum geht, Gottes Herrschaft und Bändigung sowie Unterwerfung der Wildtiere

100 101 102

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alle, welche bereit sind, zuzuhören. (Nach: Fokkelman (2012), S. 273.) Die Herausforderungsreden selbst charakterisiert er als These (Hi 29), Antithese (Hi 30) sowie Synthese (Hi 31). (Nach: Ebd.) Mittels Zählung von Strophen, Versen, Silben, etc. gelangt er zum Fazit, dass Hi 23 und Hi 30 eine Einheit bilden, indem sie sich gegenseitig numerisch vollenden und dadurch als zusammengehörig ausgewiesen werden. (Nach: Ebd., S. 279.) Vgl.: Lux (2012), S. 232. Keel etwa qualifiziert die beiden Gottesreden als Streitreden. (Nach: Keel (1978), S. 53.) Nach: Hi 38,1. Schwienhorst-Schönberger verweist darauf, dass hierin auch bereits eine gewisse Antwort liegt: Mit Verweis auf Ex 3,14 hält er fest, dass durch die Verwendung des Tetragramms „das Thema von Anwesenheit und Abwesenheit Gottes […], von seinem Offenbar- und Verborgensein“ (Schwienhorst-Schönberger (2007,1), S. 221.) anklingt. Denn gerade in diesem Namen ist Gottes Wesen ausgedrückt: Dieses ist sonach zu bestimmen als „Da-Sein, aber dieses Da-Sein ist unverfügbar. Gott ist gegenwärtig, aber seine Gegenwart ist dem menschlichen Auge bisweilen verborgen.“ (Ebd.) Vgl.: 38,1–40,2. Vgl. dazu: Keel (1978), S. 63–125, insbes. S. 86–125. Die Auswahl der Tiere ist thematisch wie folgt zu erklären: „Nebst der Zugehörigkeit zum Bereich der widermenschlichen Welt muss noch ein anderer Faktor bestimmend gewesen sein. Und hier fällt nun auf, dass die meisten Tiere von Ijob 39 als bevorzugte Jagdtiere der ägyptischen und vorderasiatischen Könige erscheinen: Löwe, Steinbock, Hirsch, Wildstier, Wildesel, Strauß und Raubvögel aller Art.“ (Ebd., S. 71.) Genau diese Tiere sind es auch, mit denen zusammen der Herr der Tiere im Alten Orient abgebildet wurde. (Nach: Ebd., S. 87.) Keel streicht heraus, dass zwei Elemente in der Darstellung betont werden: Zum einen wird die Wildheit

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aufzuzeigen. Vielmehr geht es in dieser ersten Gottesrede darum, Gottes Fürsorge für seine Schöpfung und seine Geschöpfe auszudrücken.105 Genau hierin findet sich eine tröstliche Antwort an Hiob, betont doch Gott, dass er auch dort sein Geschöpf nicht verlässt, sondern fürsorgerisch trägt, wo vermeintlich das Chaos die Überhand gewonnen und Gott zurückgedrängt hat. „Sein Wirken dient der Erhaltung und nicht der Vernichtung der Schöpfungs- und Lebensordnungen. Damit widerspricht er deutlich der Anklage Hiobs, er, der Schöpfer, sei sein Feind (Hi 6,4;7 ,20 [sic!, v.v.]; 13,24).“106 Hiobs Entgegnung107 fällt sehr kurz aus. Er sieht ein, dass Gott unendlich über ihn erhaben ist und Hiob ihm nichts entgegnen kann, er will vielmehr schweigen.108 4.6.2 Zweite Gottesrede und Hiobs Antwort Mit seiner zweiten Rede109 greift Gott Hiobs Vorwurf, Gott sei ein Frevler (Hi 9,24) auf. Gott schildert die lebensfeindlichen chaotischen Elemente in der Schöpfung und verweist darauf, dass er diese in einem ständigen Kampf in ihre Schranken weist. Als zu bekämpfende Elemente erscheinen dabei Nilpferd (‫ ;בהמות‬Behemót, Behemot) sowie Krokodil (‫ ;לוויתן‬Liwjathán, Leviathan).110 Wenn diese [= die Welt bzw. die menschliche Lebenswelt, v.v.] noch nicht endgültig im Chaos des Bösen versunken ist, dann nur, weil sich der Schöpfer dem Kampf gegen das Böse in seiner Schöpfung verschrieben

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der geschilderten Lebenswelt unterstrichen, zum anderen wird aber auch Gottes Herrschaft über diese wilde und fremdartige Welt hervorgehoben. (Nach: Ebd., S. 81.) Welch weitreichende Konsequenzen in der Interpretation es haben kann, wenn dieser altorientalische Hintergrund nicht beachtet wird, wird etwa an Stumps Auslegung ersichtlich: Stump interpretiert diese Passage dahingehend, dass Gott als liebender Elternteil geschildert werde, welcher Leiden nur zulasse, um auf diesem Wege ein größeres, sonst nicht erreichbares Gut zu verwirklichen. (Nach: Stump (2010), S. 191.) Hierin klingt weniger die Hiob-Erzählung an; vielmehr scheinen klassische Erklärungen zur Theodizee wie etwa bei Augustinus und Thomas von Aquin – wie im dritten Teil noch zu sehen sein wird –, welche betonen, dass Gott selbst aus dem Schlechten noch Gutes zu vollbringen vermag, aber auch modernere Ansätze wie die Free-Will-Defense und die Soulmaking-Theodicy, welche das Zulassen des Bösen als einem höheren Guten dienlich erklären, wie im ersten Teil gesehen wurde, als Interpretationshintergrund Pate gestanden zu haben. Nach: Lux (2012), S. 237–239. Ebd., S. 241. Vgl.: Hi 40,3–5. Nach: Hi 40,4f. Vgl.: Hi 40,6–41,26. Zur Deutung dieser beiden Figuren wird im Rahmen der Auseinandersetzung der Herkunft des Bösen gemäß dem Buch Hiob mehr gesagt werden.

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hat, es zähmt, einhegt und bändigt. Er ist also nicht der Feind Hiobs, sondern der starke Bundesgenosse des Leidenden, der an seiner Seite steht, das Böse begrenzt und abwehrt.111 Hiob bekennt sich in seiner Antwort112 zu Gottes Allmacht. Er sieht ein, dass er in Unverstand sprach über Dinge, welche seinem Verstand entzogen sind.113 Zwar sitzt Hiob noch immer in der Asche und atmet noch immer Staub – rein äußerlich hat sich an seiner Situation also nichts verändert –, doch hat er nun Gott, den er nur vom Hörensagen gekannt hatte, selbst geschaut,114 nun kennt er ihn aus eigener Erfahrung, weswegen er mit sich und seinem Schicksal versöhnt ist.115 Gerade in seinem Leiden hat Gott eine persönliche Beziehung zu Hiob geschaffen. Er ist nicht mehr nur der Ferne und völlig Andere, er ist der auch im Leiden Nahe und Zugängliche. Zwar entzieht sich Gott einer Rechtfertigung, doch niemals entzieht er dem Menschen seine Gegenwart. Und gerade diese Tatsache stellt Gottes Antwort auf Hiobs Klage dar: Gott ist bei ihm und zeigt sich ihm, er macht sich ihm erfahrbar und lässt ihn Gottes Wirklichkeit selbst erkennen, ohne fremde Vermittlung durch Theologie und Tradition. Erst dieser so erfahrene Gott kann Hiob in seiner Situation genügen und ihm Trost verschaffen, auch wenn er weiterhin ohne Antwort zurückbleibt. Gottes Auftritt versagt im Hinblick auf die von Hiob aufgeworfene Frage und Anklage, da sie keine wirkliche Antwort und Rechtfertigung liefert. So schildert sich Gott selbst als fürsorglich und gegen die Chaosmächte kämpfend, wie den Leserinnen und Lesern des Prologs jedoch bekannt ist, vernachlässigt Gott diese beiden Funktionen mit Blick auf Hiob sträflich. Doch schenkt Gott gerade mit seinem Auftreten in der Szene Hiob das, was er letztlich braucht: einen ihm zugewandten personalen Gott, der bei ihm ist und sich für die persönliche Begegnung und Erfahrung als zugänglich erweist. Vermittelt wird die wichtige menschliche und theologische Erkenntnis, dass Gott im Leiden bei den ungerecht Leidenden ist. Diese Deutung widerspricht jener Dalferths, welcher die Tatsache, dass sich Gott vom Menschen nicht zur Rede stellen lässt, sondern sich einzig mit der Betonung seiner absoluten Schöpfermacht verteidigt, einseitig negativ dahingehend versteht, dass der Mensch in seinem Fragen 111 112 113 114

115

Lux (2012), S. 250f. Vgl.: Hi 42,1–6. Nach: Hi 42,3. Dieses Schauen aber ist nicht physisch zu verstehen, sondern bezeichnet vielmehr einen inneren Vorgang, ein visionäres Schauen Gottes. (Nach: Schwienhorst-Schönberger (2007,1), S. 262.) Nach: Hi 42,5f.

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und Leiden letztlich alleine bleibt.116 Die persönliche Gotteserfahrung und die Einsicht in seine menschliche Anmaßung und Vermessenheit gegenüber Gott befähigen Hiob schließlich zum Widerruf117 seiner unverständigen Rede. Doch was genau widerruft Hiob und weshalb? Eine Antwort hierauf wird erst mit Blick auf den Beginn des Epilogs gegeben werden können, da erst hier die Spannung, welche im Widerruf Hiobs liegt, ersichtlich wird. 4.7

Der Epilog

Im Anschluss an die an Hiob alleine gerichteten Gottesreden wendet sich Gott den Freunden Hiobs zu, wobei er seine Mahnrede nicht an die Freunde insgesamt, sondern nur an Eliphas richtet.118 Erneut wird Hiob – wie schon im Prolog – als Knecht Gottes bezeichnet119 und damit in ein besonderes Näheverhältnis zu diesem gerückt. Gottes Urteil fällt nicht so aus, wie man es erwarten könnte: Er verurteilt nämlich ausgerechnet jene, welche seine Gerechtigkeit auf jede erdenkliche Weise zu verteidigen suchten, dagegen lobt er den, der sich gegen diese scheinbare Gerechtigkeit auflehnte und betonte, dass sein Schicksal nicht gerecht sei.120 Langenhorst betont, dass Hi 42,1–7 die – wenn auch spannungsgeladene und scheinbar widersprüchliche – zentrale Stelle in der Hioberzählung darstellt, um die Botschaft verstehen zu können.121 Die Spannung ist kaum aufzulösen: Denn obwohl Hiob das Gesagte angesichts seiner persönlichen Gotteserfahrung widerruft, bestätigt Gott die Rechtschaffenheit der Rede Hiobs.122 Worauf also beziehen sich Gottes Urteil und Hiobs Widerruf? Wird das widerrufen, was von Gott als recht gelobt wird? Langenhorst betont, dass sich die rechte Rede nicht unbedingt auf das bezieht, was Hiob sagte – zumal ja auch er an einen ihm zustehenden Tun-Ergehen-Zusammenhang appellierte –, sondern vielmehr darauf, wie er redete, nämlich in seiner Zu- und nicht Abwendung von Gott, in seinem Mit-Gott-Ringen.123 116 117 118 119 120

121 122 123

Nach: Dalferth (2010), S. 94. Nach: Hi 42,6a. Nach: Hi 42,7. Nach: Hi 42,7. Auffälligerweise scheinen hier also nur die drei Redegänge zwischen Hiob und seinen drei Freunden im Blick zu sein, Elihu dagegen bleibt positiv wie negativ unerwähnt, was wiederum die spätere Entstehung dieser Reden plausibel macht. Nach: Langehorst (2006), S. 16. Vgl.: Hi 42,5–7. Nach: Langenhorst (2006), S. 18f. Weiter betont Langenhorst, dass Hiobs Verharren im Tun-Ergehen-Zusammenhang als falsch erkannt und deshalb von Hiob widerrufen wird.

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Hiob hat insofern Unrecht gesprochen, als er provokativ die These aufstellte, dass ein absolutes Chaos herrsche, ohne Plan, ohne jegliche Ordnung, doch dem ist gerade nicht so: „Die Welt ist trotz ihrer chaotischen Elemente nicht als ganze ein Chaos, und Jahwe ist nicht selbst ein Frevler, sondern der Bekämpfer dieses Chaos.“124 Gerade der bis zum Erkenntnisgewinn durch die Gottesreden auch von Hiob plädierte Tun-Ergehen-Zusammenhang stellt so selbst ein Übel dar.125 Hiob kann daher inhaltlich widerrufen, was er im Unverstand gesprochen hatte, formal kann sein Reden aber dennoch als angemessen bezeichnet werden, da er sich nicht von Gott abgekehrt hatte, sondern sich ihm gerade zuwandte in seinem Klagen. Auch die Klage und Anklage, die Rebellion und das Ringen mit Gott erhalten so ihren von Gott legitimierten Platz. „Nicht um endgültige Antworten also geht es dem Hiobbuch, sondern darum, einen Weg aufzuzeigen, als gläubiger Mensch im Leid bestehen zu können, ohne an Gott verzweifeln zu müssen.“126 Es sind also gerade Hiobs Festhalten und Leiden an Gott und daraus resultierend sein Sich-An-Gott-Wenden und Mit-Ihm-Ringen, welche den Umgang Hiobs mit seinem Leiden so außergewöhnlich machen und uns ein Vorbild sein können. Gott fordert die Freunde Hiobs dazu auf, ein Sühnopfer darzubringen; Hiob soll dabei für sie Fürbitte bei Gott einlegen, da Gott sich nur von diesem, der recht von ihm gesprochen hat, erweichen lässt.127 Gott bestätigt die Legitimität des stellvertretenden Opferns Hiobs für seine Kinder zu Beginn der Erzählung also nicht ganz, sondern nur teilweise, müssen die Freunde doch selbst Opfer darbringen. Hiob dagegen tritt als Fürbitter für seine Freunde in Erscheinung, worin ein dem Knechtstitel vergleichbarer Wert besteht.128 Hiobs Besitz wird wieder hergestellt, ja mehr

124 125 126

127 128

(Nach: Ders. (1994), S. 40.) Gerade dies aber ermöglicht Leben. „[N]ur so ist die oft kritisierte Wiederherstellung Hiobs, das ‚unglaubwürdige‘ Happy End zu verstehen: als bildhafte Ausgestaltung einer göttlichen Bestätigung der menschlichen Lebensmöglichkeit und eines menschlichen Vertrauens in diese göttliche Wirklichkeit.“ (Ebd., S. 41.) Ders. (1994), S. 340. Nach: Halbertal (2015), S. 39. Langenhorst (2006), S. 33. Gerade auch als Deutehorizont der Shoah wird Hiob von DichterInnen wie etwa Paul Celan oder Nelly Sachs herangezogen. (Vgl. hierzu z.B.: Ebd., S. 23–32, wo sich nebst einigen Gedichten und ihren Interpretationen auch die einschlägigen Literaturhinweise zum Auffindungsort der behandelten Gedichte finden.) Auch Reck hält fest, dass es gerade Hiobs Haltung ist, welche im Angesicht des Leidens den sinnvollsten Umgang mit Gott darstellt. „Gemeint ist damit das – nötigenfalls leidvolle – Festhalten an Gottes Verheißungen auch in den Zeiten, die nichts von diesem Erhofften sichtbar werden lassen.“ (Reck (1998), S. 237.) Nach: Hi 42,8. Nach: Gillmayr-Bucher (2007), S. 153f.

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noch: er wird verdoppelt.129 Diese Verdoppelung spricht für Heckl gerade für eine vollständige Wiederherstellung.130 Dass Hiob mit seinen Verwandten in seinem Haus isst, spricht dafür, dass auch Hiobs Körper wieder genesen ist und er nicht mehr als Aussätziger außerhalb des Gemeinschaftsgebiets lebt.131 Auffällig ist, dass zwar Hiobs Besitz verdoppelt wird, die Zahl der Kinder132 dagegen nicht: Sie entspricht der im Prolog geschilderten Anzahl.133 Doch mit der Erwähnung der beiden nachfolgenden Generationen bis ins vierte Glied, welche zu sehen Hiob noch vergönnt war, wird Hiobs eigenes Leben aufs äußerst Mögliche gestreckt und im Sinne der Generationen (zuvor Hiob und seine Kinder, nun Hiob und seine Kinder auf vier Gererationen134) – verdoppelt.135 Mit diesem Hinweis werden die Vollkommenheit des Lebens sowie der Lebensspanne Hiobs angedeutet.136 So werden sowohl der ökonomische Besitz als auch der Familiensegen Hiobs verdoppelt.137 So sehr dieses Ende auch dem Thema die Brisanz zu nehmen scheint, muss dennoch darauf hingewiesen werden, dass die Wiederherstellung und sogar Vermehrung von Hiobs früherem Reichtum und Besitz für diesen nicht notwendig war, ihm genügte die direkte Begegnung mit Gott. Würde also dieser sagenhafte Schluss der Erzählung wegfallen, fehlte Hiob doch nichts, sondern er würde „zufrieden“, da mit Gott und seinem Gottesglauben versöhnt, leben. Denn Hiobs Gottesglaube entspringt nun nicht mehr nur der Tradition und Überlieferung; vielmehr schöpft und lebt er aus der direkten Begegnung mit Gott. Diese persönliche Erfahrung Gottes, das Erkennen seiner Geheimnishaftigkeit und Größe, das Wissen um das Getragensein von Gott selbst angesichts des (vermeintlichen) Chaos und das Vertrauen auf die Bändigung des Chaos durch Gott ermöglichen es Hiob, das sinnlose, da unerklärliche, Leiden zu ertragen und anzunehmen und nicht nur wie vor seinem rebellischen Ausbruch zu dulden.138 Gott

129 130 131 132 133

134 135 136 137 138

Nach: Hi 42,10. Nach: Heckl (2010), S. 303f. Nach: Ebd., S. 304. In Hi 42,13 wird festgehalten, dass Hiob zehn Kinder erhielt. Hierbei sei aber auf die qualitative Aufwertung der Töchter Hiobs hingewiesen, wenn sie ob ihrer außergewöhnlichen Schönheit gepriesen werden und sogar Erbteil unter ihren Brüdern erhalten. (Nach: Hi 42,15.) „Dies war eigentlich nur dann möglich, wenn keine männlichen Erben vorhanden waren.“ (Lux (2012), S. 278.) Vgl. für die alttestamentliche Regelung Num 27,8. Nach: Hi 42,16. Nach: Lux (2012), S. 277. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Vgl.: Zahrnt (1988), S. 56.

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kann nicht in einen Zusammenhang von Tun und Ergehen gezwängt werden, das weiß Hiob nun. Sein Leiden ist zwar nicht Strafe für seine Sünden, doch die Tatsache der Unschuld Hiobs besagt nicht, dass Gott ihn deswegen belohnen muss. Das Geschick Hiobs sagt nichts aus, weder über seine Rechtschaffenheit, noch über seine Gottesbeziehung. Denn auch in der größten Nähe zu Gott, als dieser ihm im Sturmwind visionär begegnete und direkt mit ihm sprach, saß Hiob weiterhin in Staub und Asche, also in einer erniedrigten und zerstörten Existenz, trotzdem war seine Gottesbeziehung in diesem Moment intensiver, realer und intimer als je zuvor. Bevor der Frage nach der Herkunft des Bösen im Buch Hiob nachgegangen wird, soll in einem nächsten Schritt die Theodizee mit Blick auf das in Hiob Geschilderte thematisiert werden. 4.8

Hiob und die Theodizee

Das Buch Hiob weist einige interessante Aspekte auf, welche es hinsichtlich einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie Gott und Leid zusammenzudenken sind, zu bedenken gilt. So ist es insbesondere der Aspekt der Klage und Anklage Gottes, welcher im Buch Hiob durch die Haltung des Protagonisten so breiten Raum einnimmt, der hierbei weiterhelfen kann. Gerade dieser Aspekt rückt bei einer philosophisch-theoretischen Herangehensweise an das Problem in den Hintergrund und verschwindet ganz aus dem Blick, steht doch letztlich schließlich nicht der Mensch, sondern Gott im Fokus des Interesses. Mit Neuhaus lässt sich sagen, dass die biblische Klage den Gottesglauben davor bewahrt, „die Erwartung des göttlichen Heilshandelns auf eine berechenbare Spur der Geschichte festzulegen. Sie erweist sich darin als jene religiöse Instanz, die Gott davor hütet, zum Ergebnis menschlicher Projektion zu werden.“139 Und 139

Neuhaus (1996), S. 24, Hervorhebung im Original. Eine sehr schöne und prägnante Definition von Klage findet sich z.B. auch bei Beirer: „Klage ist eine der intensivsten Formen des Betens. In ihr verlebendigt der Mensch die ganze Spannbreite seines Umgangs mit Gott: Von der Demut bis zur Rebellion, von der bedingungslosen Hingabe bis zur negierenden Anklage. Sie ist eine der dichtesten Erfahrungen, die persönliche Beziehung, sein Verhältnis zu Gott (und so auch zu sich selbst) zu klären. Sie ist Eingeständnis und Sprache der mystischen Erfahrung, dass die Unbegreiflichkeit Gottes wächst und nicht abnimmt, je mehr man sich ihm nähert. So ist die Klage das Gebet der ‚dunklen Nacht‘, des Loslassens in Gott hinein. Sie ist das ausharrende Gebet im Nicht-Verstehen Gottes, das Gebet in der Undurchschaubarkeit des Handelns Gottes für den Menschen. Der Erfahrung der Gottesverdunkelung gibt sie anklagend und aufschreiend eine Stimme – bis hinein ins Verstummen. Sie ist sprachliches Aushalten der erfahrenen Gottesferne, ein Ringen um und mit Gott.“ (Beirer (2000), S. 35; Hervorhebung im Original.)

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genau hier liegt auch der Unterschied in der rechtschaffenen Rede Hiobs gegenüber der von Gott getadelten und zurechtgewiesenen Rede der Freunde: „[D]enn analog zum neuzeitlichen Theodizeeverständnis lassen diese Freunde Gott äußerlich eine Rechtfertigung zuteil werden, anstatt wie Hiob darauf zu drängen, dass angesichts der eigenen Klage das Antlitz Gottes selbst hervortrete.“140 Für angemessene Theodizee-Diskurse bedeutet dies gemäß Neuhaus, dass zum einen die Identität Gottes, von dem ungeheure und machtvolle Taten in der Tradition überliefert sind, für die Klagenden angesichts der erfahrenen Wirklichkeit fragwürdig geworden ist, zum anderen aber gerade hierin eine Kontinuität mit dem auserwählten Volk und damit des Wirkens selbst aufscheint, indem sich die Menschen dennoch weiterhin von diesen überlieferten Machttaten angesprochen fühlen.141 Die Gefahr von Theodizee-Versuchen liegt damit in ihrer Abstraktheit, der einseitigen Betonung der Vernunft und dem damit einhergehenden Vergessen des konkreten Gottes, welcher erkannt werden will und sich selbst auch zu erkennen geben soll. Der überlieferte Gottesglaube mit den Zeugnissen seines Eingreifens ist in Einklang zu bringen mit der eigenen Erfahrung, welche dieser geglaubten Wirklichkeit evtl. zuwiderläuft. So zeigt das Beispiel von Hiob auf, dass es bei der Frage nach der Theodizee den Gläubigen letztlich darum geht, Gott wieder selbst zu erkennen und in ihrem Leben wahrnehmen zu können, zu wissen, dass der in der Vergangenheit wirksame Gott auch sie selbst anspricht.142 Sich angesichts des Leids von Gott gesehen, erkannt und getragen zu wissen, befähigt Hiob – und im Idealfall auch den leidenden Gläubigen und die leidende Gläubige – dazu, seine Fragen zu vergessen143 bzw. mit der Tatsache, dass er als Gerechter leiden muss, zu versöhnen, da er sich seiner bleibenden Geborgenheit bei Gott (wieder) bewusst wird und dieses Gefühl nicht mehr nur von seinem eigenen Wohlergehen abhängig macht, sondern Gott in seiner Unbegreiflichkeit und unüberbietbaren Erhabenheit, aber auch Geheimnishaftigkeit sieht und so das 140 141 142

143

Neuhaus (1996), S. 24. Nach: Ebd., S. 25. So lässt sich mit Kermani sagen, dass die Hioberzählung dafür sensibilisiert, „dass gerade die Auflehnung gegen Gott die Nähe zu Ihm voraussetzt. Hiob und die Narren, Heiligen und Derwische im ‚Buch der Leiden‘ verlieren nicht den Glauben an Gott, wenn sie gegen Ihn aufbegehren; in ihrer Verzweiflung sind sie religiöser als die Gläubigen, die Gott preisen, aber vor den realen Verhältnissen seiner Schöpfung die Augen verschließen.“ (Kermani (2011), S. 117.) Wobei Gott durchaus Hiobs Reden aufgreift und darauf reagiert, indem er betont, dass die Welt zwar chaotische Mächte aufweist, diese aber von Gott immer wieder in ihre Schranken gewiesen werden. (Nach: Langenhorst (1994), S. 338.)

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Geheimnis Geheimnis sein lässt.144 Dies jedoch stellt einen Schritt dar, den die Gläubigen nur individuell gehen können. Dem einen mag es gelingen, Gott zu erkennen, dem anderen nicht, die eine lernt damit umzugehen und zu leben, die andere scheitert an der Synthese im eigenen Leben. Theodizee-Versuche können einen Weg aufzuweisen versuchen, welcher den Gläubigen auf diesem Weg helfen kann, doch das persönliche Sehen von Gottes Antlitz, das Erkennen Gottes, wie es Gott Hiob schenkt, vermögen sie den Gläubigen nicht zu geben. Die Theodizee verfolgt einen Vernunftweg, welchen mittels der Vernunft die Allgemeinheit zu erreichen vermögen soll; das mystische Erleben bzw. die religiöse Begegnung dagegen ist dem Individuum vorbehalten. Eine Theodizee vermag so das Erlebnis der Einzelnen nicht zu ersetzen. So braucht es die Freunde, welche allgemeine Erklärungen liefern wollen, die im Einzelfall evtl. hilfreich sein mögen, an denen man sich unter Umständen aber auch aufreibt und dagegen protestiert, sich selbst Gedanken macht und so schließlich selbst zu einer individuell befriedigenden Lösung gelangt. Es braucht aber auch Hiob, welcher klagt, anklagt, streitet, seine Situation analysiert und eifrig in Form der Klage und Anklage145 nach einer Lösung verlangt, welche ihm Gott schenkt – wenn auch anders, als Hiob sich das vorgestellt hatte. Nur wer diesen Schritt Hiobs machen will, wer Gott nicht als abstraktes Gedankenkonstrukt stehen lassen, sondern als real und in seinem Wesen erfahren will, kann eine Antwort finden, welche die Theodizee aufhebt, da sie das Geheimnis akzeptiert und auf eine letztgültige, für den Menschen einsehbare Erklärung verzichtet. Dies soll aber nicht als unnütze Selbsttäuschung und Scheinantwort missverstanden werden: Denn wo der Mensch Gott selbst erfährt in seinem Leben, gerade auch in seinem Leiden, dort überwiegen für ihn diese persönliche Gotteserfahrung und das Bewusstsein der Gottesnähe das Leid. Doch macht sich auch hier der Graben der Theodizee auf: Weshalb gelingt manchen Menschen dieser von Gott gnadenhaft geschenkte Schritt Hiobs und anderen nicht? Und wie kann eine sehr gut geschaffene Welt so beschaffen sein, dass ein vernunftbegabtes Wesen ein Geheimnis letztlich stehen lassen muss, ohne es mit der Vernunft verstehen und erfassen zu können? Denn eine Klärung der Frage nach dem Warum gibt es bei dem Theodizee-Modell Hiobs letztlich

144

145

Gott bringt Hiob mit seinen Reden dazu, zu erkennen, dass Gott ständig gegen das Chaos ankämpft, dass dieses aber nicht letztgültig stabilisiert ist und so für den Menschen kein einfach verständliches System vorliegt. (Vgl.: Ebd., S. 339.) Hiobs „Recht“ zur Anklage ergibt sich dabei gerade aus Gottes Schweigen. (Nach: Kaiser (2006), S. 53.)

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nicht.146 Doch bleibt die Frage nach dem Leiden selbst ungeachtet der eigenen Gotteserfahrung zentral, insbesondere durch das Scheitern Einiger, zu einer wie auch immer gearteten Synthese in ihrem eigenen Leben zu gelangen. So liefert die Hiob-Erzählung letztlich nicht nur keine Klärung des TheodizeeProblems und der Frage nach dem Leiden der Gerechten, vielmehr hüllt sie jegliche Antwort in ein göttliches Schweigen. Gott selbst entzieht sich einer klaren Antwort, indem er die Undurchschaubarkeit der Ordnung betont. Eine wirkliche Antwort bleibt so aus, wenngleich auch das unzulässige Tun-ErgehenZusammenhang-Modell verworfen wird. Eine Alternative wird dagegen nicht geboten. Die persönliche Gotteserfahrung wird als ausreichend aufgezeigt, sodass sich die Frage aufdrängen muss, wie denen geholfen werden kann, denen diese persönliche Gotteserfahrung verwehrt bleibt. Die subjektive Perspektive aber, welche in der Hioberzählung eingenommen wird, macht den Standpunkt deutlich, dass Antwort und Abhilfe nur von Gott gegeben werden können. Diese Überzeugung kennzeichnet sodann auch den Umgang mit der Frage nach dem Leid in den alttestamentlichen Schriften.147 In rationalen Theodizee-Entwürfen dagegen wird eine universale Perspektive eingenommen, welche vom individuellen Übel abstrahiert und eine allgemeine Antwort zu geben versucht, ohne dadurch jedes einzelne konkrete Übel erklären zu wollen.148 Dieser universale Weg wird von der den Menschen universal zugänglichen Vernunft beschritten, wobei also eine Lösung vom menschlichen Intellekt und nicht von Gott erwartet wird. Damit wird auch deutlich, dass der im Buch Hiob entwickelte Umgang mit der Theodizee-Frage nicht identisch ist mit den TheodizeeEntwürfen, welche im philosophischen Teil vorgestellt wurden bzw. im systematischen Teil noch vorgestellt werden. Hiob macht deutlich, dass für das konkrete, individuelle Leid nur Gott die Antwort geben kann – eine Antwort, welche wir nicht vorherzusehen vermögen und welche wir unter Umständen ganz anders erwarten. Und wo Gott mit der Frage nach dem sinnlosen Leid konfrontiert und angeklagt wird, da wird zugleich auch Zeugnis für Gottes Omnipotenz und Weltherrschaft abgelegt, denn nur wo Gott als Pantokrator geglaubt wird, wird angenommen, dass er eingreifen könnte und müsste, 146 147

148

Dieses Modell ist daher wohl nicht nur der treffendste aller vorliegenden Erklärungsversuche, sondern der bestmögliche überhaupt. Nach: Gross (1996), S. 95. Zur Bedeutung der Klage hinsichtlich des Heilungsprozesses s. z.B. auch: Beirer (2000). Dabei wird gerade die Öffnung, welche die Klage bewirkt, hervorgehoben. (Nach: Ebd., S. 26.) Doch stellt dies keineswegs den einzigen Unterschied zwischen Hiobs Herangehensweise und jener theoretischer Theodizee-Konzepte dar: Vielmehr versuchen diese Gott so sehr zu rechtfertigen, dass sie darüber Klage und leidenschaftliche Auflehnung nicht nur vergessen, sondern diese darin gar keinen Platz mehr haben. (Vgl.: Kuschel (1996), S. 227.)

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weswegen sich die Klage an ihn richtet als denjenigen, der nicht eingreift, obwohl er könnte und nach menschlichem Verstehen auch müsste.149 „Die Theodizeefrage kündet durch ihre bloße Möglichkeit zugleich von der Möglichkeit jener Erlösung, deren Ausstehen sie gleichwohl beklagt.“150 Im Hiobbuch wird die Frage nach Gott und dem Leiden letztlich offen gehalten, wodurch es sich hierbei eigentlich nicht um eine Theodizee, sondern um eine Kritik an solchen Versuchen handelt.151 Es wird aufgezeigt, „dass Gott letztlich nicht durch Menschen gerechtfertigt, dass göttliches Sprechen nicht durch menschliches Sprechen ersetzt werden kann.“152 So stellt Hiob eigentlich gar keine klassische Theodizee dar. Vielmehr wird die Geheimnishaftigkeit betont. Es wird darauf verwiesen, dass der Mensch die Weltordnung, welche durchaus auch angesichts der in ihr drohenden Chaosmächte herrscht, letztlich nicht verstehen kann, sondern sie seinen Verstand übersteigt und ihm entzogen bleibt. Dieses Ordnungsgefüge kennt nur Gott und hält es auch fürsorglich aufrecht. Hierauf zielen die Gottesreden. Dies fordert uns zum nächsten Schritt heraus: Wie erklärt nun aber eigentlich das Buch Hiob das Böse? 4.9

Die Herkunft des Bösen gemäß Hiob

Anhand der geschilderten Geschichte wird deutlich, dass Gott nur indirekter Verursacher des Leidens Hiobs ist, indem er ihn Satan, welcher als eigentliche Ursache des über Hiob hereinbrechenden Unheils anzusehen ist, preisgibt. Gott dagegen bleibt weiterhin als „schützende“ Macht über Hiob stehen, indem er das Leben Hiobs der Macht Satans vorenthält und sich selbst dies höchste Gut vorbehält. Es wird deutlich, dass alles Gott unterliegt und er der Mächtigste ist, welcher die Grenzen absteckt, innerhalb derer die anderen handeln können; nichts geschieht, ohne dass Gott es zulässt. Hiob aber weiß nichts von der Wette zwischen Satan und Gott. Genau dadurch richtet er sich in seinem Klagen und Anklagen direkt an Gott – und hierin handelt er eigentlich richtig: Denn wenngleich es auch nicht Gott selbst ist, welcher Hiob 149 150 151

152

Vgl.: Neuhaus (1996), S. 41f. So wandelt sich Anklage in Bitte, da Gott in seiner Gottheit in den Blick kommt. (Nach: Gross (1996), S. 96.) Neuhaus (1996), S. 48. Nach: Langenhorst (1994), S. 334. Illman etwa hält dagegen fest, dass das Hiobbuch als Ganzes eine Theodizee darstelle. (Illman (2003), S. 305.) Eine Antwort kann gemäß der Hioberzählung aber gerade nicht gefunden werden. So bezeugt das Hiobbuch, dass das Leiden unerklärt bleiben kann. (Nach: Kraemer, D. 1995, S. 33.) Schwienhorst-Schönberger (2007,1), S. 75.

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quält, so ist es doch Gott, welcher die Drangsalierung Hiobs durch die Hand Satans zulässt, jedoch in den von Gott gesetzten und bestimmten Grenzen.153 Diese heikle Konstellation in Hiob problematisiert Spieckermann noch zusätzlich, indem er betont, dass Gott und Satan hier Hand in Hand arbeiten, dass Satan Gottes Hand ist, die dunkle Hand oder der Schatten Gottes.154 Denn interessanterweise fordert Satan Gott im Prolog dazu auf, Gottes Hand gegen Hiob auszustrecken, woraufhin berichtet wird, dass Gott Hiob in die Hand Satans gegeben hat. So ist es gemäß Spieckermann Gottes Hand selbst, der Schatten Gottes, welcher Hiobs Leiden verursacht, wodurch auch hier die Richtigkeit der direkten Anklage Gottes155 als Urheber und Ursache des Leidens Hiobs 153 154

155

Vgl.: Dietrich/Link (2000), S. 81. Nach: Spieckermann (1994), S. 435. Auch Wilson identifiziert die Figur des Satan eindeutig mit Gott: ‫( השטן‬haSsatán) erscheint so nicht als Ankläger, er repräsentiert auch nicht das Böse, sondern er steht für Adonais (‫ )יהוה‬Unsicherheit, er ist der Ausführer des Willens Adonais; Adonai ist unentschlossen und kämpft mit seinem eigenen zwiespältigen Gewissen. (Nach: Wilson (2006), S. 8 sowie 61f.) Damit nimmt Wilson auch eine eindeutige, inhaltlich bestimmte Unterscheidung zwischen den beiden Gottesbezeichnungen ‫( אלוהים‬Elohim) und ‫( יהוה‬jhwh) vor: Elohim werde mit Attributen wie „institutional justice, right and wrong, and black and white“ (ebd., S. 62.) charakterisiert. Er spreche nicht und müsse dies auch nicht, da jeder Elohims Erwartungen kenne. Adonai dagegen werden die Attribute „good and evil, compassion, love, loneliness, and idealism, but also vacillation and ambivalence“ (ebd.) zugeschrieben. Satan sei Adonais alter ego, „with cynism, scathing criticism, brutal realism and the absence of emotion; he is everything that ‫( יהוה‬yhwh) abhors but of whom he cannot be rid.“ (Ebd.) Tauchen in Adonai unangenehme Gedanken auf, so werde Adonai zu haSsatán, Elohim dagegen sei ein konstanter Wert. (Nach: Ebd., S. 62f.). Hiob sei gefangen im inneren Kampf zwischen Adonai und haSsatán. (Nach: Ebd., S. 63.) Mit biblischen Texten wie dem Buch Hiob, aber auch den Klagepsalmen, ist es so in der jüdischen und christlichen Tradition möglich, Gott direkt aufgrund des Übels, welches Menschen widerfährt, klagend (und anklagend) anzurufen. (Vgl.: Kessler, H. (2001), S. 16f.) Die so an Gott gerichtete Theodizee-Frage ist damit im jüdisch-christlichen Bereich gut biblisch angelegt und als legitime Auseinandersetzung mit Gott, dem Leiden und dem Glauben ausgewiesen und gerechtfertigt. Im Bereich des Islams dagegen verhält sich dies anders, wie Kessler betont: „[I]m Islam gibt es keine Theodizeefrage: Allah ist die höchste, unberechenbare Schicksalsmacht, der man sich nur unterwerfen kann; was geschieht, ist Allahs Wille, und der ist unbefragbar, in ihm muss man sich fügen; Allah anzuklagen und Rechtfertigung zu fordern, wäre Blasphemie.“ (Ebd., S. 18.) Mit Blick auf den Islam sei dabei auf die Suren 12,86; 21,83 sowie 38,41–44 verwiesen, wo Hiob zwar thematisiert wird, aber nur als Dulder, nicht aber als Rebell. So gilt für den Islam mit Kermani: „Wenn die Welt aber rundherum gut ist, ist für die Verzweiflung an Gott, gar für die Anklage Gottes, wie sie Hiob unternimmt, im Koran kein Platz. Daher klagt Hiob zwar (Sure 12,86), aber er klagt nicht an. Die Dimension des theologisch sanktionierten Protestes und der

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betont wird.156 Anhand des Prologs wird so ein wichtiger Aspekt mit Blick auf die Erklärung des Bösen ersichtlich. Weiter sind aber auch die Gottesreden von Bedeutung. So weist die Welt zwar chaotische Mächte auf, diese werden aber von Gott immer wieder in ihre Schranken gewiesen. Hervorgehoben wird dabei, dass Gott die in der Natur vorkommenden zerstörerischen Kräfte nicht nur geschaffen hat, sondern auch kontrolliert; Gott kämpft gegen das vorhandene Böse und bändigt es.157 Damit klingen hier auch die Motive der Bändigung der bereits vorhandenen Chaosmächte sowie die Herstellung einer – für den Menschen uneinsichtigen – Ordnung an, welche in ähnlicher, aber dennoch entscheidend unterschiedlicher Weise aus der ersten Schöpfungserzählung bekannt sind. Denn im großen Gegensatz zu Letzterer schildert das Hiobbuch gerade keine einfache und leicht verständliche, sehr gute Harmonie. Behemot wird so geschildert, dass der Mensch es nicht überwinden kann.158 Die Unfähigkeit des Menschen, gegen Behemot anzutreten, resultiert dabei gemäß Keel daraus, dass in der Gottesrede gerade nicht das konkrete Tier Nilpferd angesprochen wird, sondern das männliche, rote Nilpferd, welches ein Symbol des Bösen ist und das aufgrund dieser Bedeutung die Menschen auch nicht jagen und erlegen können; so war diese Aufgabe im Alten Ägypten dem göttlichen

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Auflehnung des Gläubigen gegen Gott ist ausgeschlossen. Die Geschichte Hiobs reduziert der Koran auf den Aspekt des Erduldens“ (Kermani (2011), S. 90.). Und so wird auch die Restituierung Hiobs als Aufruf zur Nachfolge in der stillen Duldung interpretiert. (Nach: Ders. (2008), S. 165.) Auf dem Hintergrund des biblischen Hiobs dagegen ist es möglich, sich an Gott anklagend zu wenden und eine Rechtfertigung von Seiten Gottes zu verlangen. Auch diese Besonderheit stellt einen Grund dafür dar, in der vorliegenden Arbeit nur Juden- und Christentum miteinander zu vergleichen, den Islam aber außenvor zu lassen. Es bleibt anzumerken, dass sich heutzutage islamische Denker dem Koran durchaus vom Gesichtspunkt der Theodizee-Frage her zu nähern und diese auf der Grundlage des Korans zu beantworten versuchen. Als Beispiel hierfür sei verwiesen auf: Al-Ghazzali (1994). Hinsichtlich einer Materialsammlung, welche sich nicht nur mit Juden- und Christentum, sondern auch mit dem Islam auseinandersetzt, sei verwiesen auf: Kermani (2008). Nach: Spieckermann (1994), S. 435. Dass letztlich Gott selbst als Verursacher hinter den Leiden Hiobs steht, wird sowohl im Prolog als auch im Epilog ausdrücklich betont. (Nach: Heckl (2010), S. 306.) Das Buch Hiob thematisiert damit unterschiedliche Erklärungsmodelle hinsichtlich der Frage nach der Verantwortung für das Böse: Einmal erscheint Satan als derjenige, welcher – zwar mit Bewilligung Gottes – Unheil über den Menschen bringt; dann wird Gott selbst als Verantwortlicher, der sowohl das Gute als auch das Böse gibt, gepriesen; zu guter Letzt wird im Rahmen des Tun-Ergehen-Schemas der Mensch als Verantwortlicher geschildert, indem er das Unheil als gerechte Strafe für seine Sünden verdientermaßen über sich selbst bringt. (Vgl.: Lux (2012), S. 156f.) Nach: Langenhorst (1994), S. 338. Nach: Keel (1978), S. 132.

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König bzw. dem Königsgott Horus vorbehalten.159 Um also die göttliche Rede von Behemot richtig verstehen zu können, muss dieser ägyptische Hintergrund bekannt sein, um zu erkennen, dass nicht von einem konkreten Lebewesen, sondern von einem Symbol des Bösen die Rede ist.160 Die Überwindung bzw. die Jagd auf dieses Ursymbol des Bösen ist Gottes ureigene Aufgabe und ihm alleine vorbehalten. Doch auch dieser kann es nicht endgültig besiegen, sondern muss sich ihm immer wieder von Neuem im Kampf stellen und es bezwingen; zerstört wird es dadurch jedoch nicht. Das Böse bleibt also weiterhin bestehen. Ähnliches ist für Leviathan anzumerken.161 Auffällig ist die gemeinsame Nennung der beiden mythischen Bilder, dass also Gott in seiner Rede sowohl Leviathan als auch Behemot erwähnt, womit der Verfasserkreis nämlich ebenso die altorientalische Tradition aufgreift.162 Insbesondere Leviathan wird in der biblischen Tradition als „Urkraft des Bösen und Chaotischen“163 präsentiert.164 Darin wird die Bedeutung der zweiten Gottesrede ersichtlich: Denn im Unterschied zur ersten Gottesrede, welche sich mit dem Verwurf der chaotischen Verfasstheit der Welt auseinandersetzte und die planmäßige Herrschaft Gottes über dieselbe gerade auch mit dem Bild des Herrn der Tiere aufwies, stellt sich die zweite Gottesrede dem Vorwurf Hiobs, Gott sei ein Frevler und die Welt böse. Mit Leviathan und Behemot zeigt Gott aber auf, dass er gerade die boshaften Wesen in einem dauernden Kampf bekämpft und überwindet.165 Interessanterweise verliert Gott allerdings kein Wort über die Wette mit Satan, welche ja in Tat und Wahrheit hinter dem Leiden Hiobs steckt.166 Die Frage sei hier aufgeworfen, ob somit Satan letztlich als eines dieser chaotischen Elemente, die Gott in einem ständigen Kampf begrenzt, dargestellt wird, sodass Satan in der Rede von Leviathan und Behemot ebenfalls indirekt als mythisches Symbol des Bösen angesprochen wäre. Hierfür spräche, dass Gott tatsächlich den Wirkbereich der Anfeindungen Satans bestimmt und begrenzt, zuerst auf Hiobs Besitz, dann auf Hiobs Körper, wobei er Satan keine 159 160 161 162 163 164 165 166

Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 143f. Nach: Ebd., S. 151. Schwienhorst-Schönberger (2007,1), S. 258. Nach: Ebd. Nach: Keel (1978), S. 155. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass das Nichterwähnen der Wette mit Satan durchaus begründet ist, stehen doch hinter den beiden Gefügen von Hi 1–2 und Hi 38–41 grundsätzlich verschiedene Modelle. (Nach: Heckl (2010), S. 203.)

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Das Buch Hiob und die Theodizee

Macht über Hiobs Seele – und damit über sein Leben – einräumt.167 Somit stellte der Verweis auf die durch Gott zu begrenzenden chaotischen Mächte in der Tat eine direkte Antwort Gottes dar, welche – ohne konkret zu werden und auf den eigentlichen Tatbestand zu verweisen – Hiob aufweisen würde, was hinter seinem Leiden steckt: der Kampf zwischen dem chaotischen Element in Form des Satan und Gott bzw. Gottes begrenzendes Handeln gegenüber dem Chaotischen. Dennoch bleibt eine Frage weiterhin bestehen: Erschafft Gott diese chaotischen Elemente oder sind sie wie in Gen 1,1–2,4a als bereits vor der Schöpfung vorhandene Chaosmächte zu verstehen? Stehen sie in der Schöpfung selbst, so fragt sich, wie und weshalb Gott chaotische Elemente erschafft, deren er anscheinend nur mit Mühe und Not – und nur in einem gewissen Rahmen – Herr werden kann. Wie ist es möglich, dass Behemot und Leviathan als die mythischen Urbilder des Bösen von Gott nicht endgültig zerstört werden können? Es ist offensichtlich, dass das Buch Hiob ein anderes Konzept von göttlicher Macht vertritt, als wir es heute gemeinhin unter Omnipotenz verstehen. Neben dem Menschen, der nur leben kann, wenn das Chaos gebändigt ist, hat Gott – das Chaos ‚geschaffen‘, das den Menschen bedroht. Freilich lässt Gott dem Chaotischen nicht freie Bahn, er hält es im Griff – ohne es aber so scharf zu kontrollieren, dass es machtlos wäre. […] Zwar verhindert er, dass die Chaoskräfte überhandnehmen [sic!, v.v.] und seine Schöpfung zerstören. Doch will er aus dieser nicht alle Störungen und Zerstörungen fernhalten. Unerklärlich-erschreckende Vorgänge wie das Wüten Leviatans […] oder das Schicksal Hiobs haben in Gottes Schöpfung Platz!168 So umgibt Gott „eine Aura der Unverfügbarkeit und Unbefragbarkeit, die kein noch so begreiflicher moralischer Appell und kein noch so aufwändiges gedankliches Bemühen zu durchbrechen vermag.“169 Gemäß Hiob kann also aufgrund des ständig tobenden Chaoskampfes nicht behauptet werden, alles Geschaffene in dieser Welt sei sehr gut.170 Allerdings geht die Erde auch

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Vgl. hierzu z.B. auch: „Leviathan, too, is given a place in creation, but he is subject to God. Even the Satan, while given a place in the heavenly court, must work within the limits God imposes“ (Schifferdecker (2008), S. 75.). Dietrich (2008), S. 24. Ebd. Vgl.: Langenhorst (1994), S. 339.

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nicht im Chaos unter, denn in seinem ständigen Kampf gegen die chaotischen Elemente sowie in seinem fürsorglichen Umgang erhält Gott die Ordnung; eine Ordnung, welche dem Menschen weder zugänglich noch verständlich ist. Doch hat wirklich Gott diese chaotischen Elemente erschaffen? Da Leviathan und Behemot nicht eigentlich für die von Gott erschaffenen Geschöpfe Nilpferd und Krokodil stehen, sondern die mythischen Figuren des Bösen repräsentieren, können sie streng genommen nur bedingt als geschaffene Elemente bezeichnet werden. Denn der Verweis auf die mythischen Symbole lässt eine solche Deutung hin zu den einfachen, erschaffenen Wesen nicht zu, ohne in nicht ganz legitimer Weise gebogen zu werden. Wenn Gott sie aber nicht erschaffen hat, woher kommen sie dann? Woher diese mythischen Urbilder des Bösen stammen bzw. wie also die Herkunft des Bösen zu erklären ist, lässt das Hiobbuch letztlich ebenfalls offen. Einzig äußert es sich dazu, dass Gott sie ständig bekämpft und begrenzt. So schildert Hiob keine durch und durch harmonische Schöpfungsordnung, sondern kennt unverständliche, chaotische Elemente in der Schöpfung, welche Gott nicht ganz aufhebt und verhindert, sondern die vom Menschen hinzunehmen sind und deren Herkunft nicht zu klären ist.171 Gott erscheint somit nicht als Garant einer harmonischen Schöpfung, sondern als Garant des Kampfes gegen das Chaos, wobei dieser ständige Kampf von Gott zum Wohle seiner Schöpfung ausgefochten wird, indem er die chaotischen Elemente, welche die Harmonie stören, begrenzt.172 Das Hiobbuch bestätigt, dass es in dieser Welt unerklärliche chaotische Mächte und auch unerklärliches Leid gibt, dass Gott aber dennoch dieses Chaos nicht nur in Schach hält und in seine – wie auch immer bestimmten – Grenzen weist, sondern dass der Mensch diese Ordnung zwar nicht bis ins Letzte verstehen, sich aber dennoch gewiss sein kann, dass – wie sinnlos auch alles scheinen mag – letzten Endes von Gott das Leben nicht nur ermöglicht, sondern die Welt auch einem göttlichen Plan gemäß zum Guten geführt wird.173 171 172 173

Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 344–346. Opel schildert Hiobs Gotteserkenntnis und damit seinen Trost wie folgt: „Die Gottesrede(n) richtet sich gegen eine Festlegung Gottes und des Menschen, betont die Ansprache des Menschen durch Gott und löst die Problematik des ungerechten Leidens Hiobs durch die Einsicht, dass die Einhaltung von Normen keine Garantie für gelingendes Leben ist, dass aber aus dem Leid nicht geschlossen werden kann, dass Gott willkürlich oder ungerecht handelt. Am Ende ist Hiob getröstet über sein Geschaffensein, weil er den Schöpfer als den nicht moralisch qualifizierten Gott erkennt, der alles ordnet und überblickt.“ (Opel (2010), S. 165.)

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Das Buch Hiob und die Theodizee

Nach diesen Ausführungen zur Behandlung der Thematik des Bösen in den beiden Schöpfungserzählungen in Gen 1–3 sowie in Hiob wenden wir uns dem Hauptteil dieser Arbeit zu, indem in der Folge die Entwürfe des Maimonides sowie des Thomas von Aquin vorgestellt werden.

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teil 4 Systematischer Zugang



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kapitel I

Einführung Der systematische Teil bildet den Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Betrachtet werden dabei zwei Positionen im Hinblick auf ihre Aussagen über das Böse sowie über dessen Herkunft. Die beiden Positionen werden von je einem Vertreter auf jüdischer sowie auf christlicher Seite wahrgenommen. Der Fokus liegt dabei auf dem Mittelalter. Um einen sinnvollen interreligiösen Vergleich durchführen zu können, gilt es, zwei Positionen auszuwählen, welche sich durch eine ähnliche Herangehensweise auszeichnen. Für die christliche Seite fiel die Wahl auf Thomas von Aquin, welcher bis in die Neuzeit prägend war und an dem als herausragendster Vertreter der Hochscholastik kein Weg vorbeiführt. Damit verläuft die Ausrichtung philosophisch-rational, wodurch Mystiker auf der jüdischen Seite von vornherein ausscheiden. Als jüdisches Pendant zum Rationalisten Thomas von Aquin wurde daher Moses Maimonides ausgewählt. Somit ist eine ähnliche Grundausrichtung gegeben, sodass die beiden Positionen sinnvoll miteinander verglichen werden können. Sowohl Maimonides als auch Thomas von Aquin waren sehr stark von der aristotelischen Philosophie beeinflusst, lassen daneben aber auch neuplatonisches Gedankengut erkennen, wie noch zu sehen sein wird. Ein Vergleich bietet sich auch aus dem Grunde an, als Thomas von Aquin das Werk des Maimonides nicht nur bekannt war, sondern er auch regen Gebrauch von demselben machte. Auch die zeitliche Nähe der beiden Figuren erleichtert einen Vergleich. Die Betrachtung folgt der zeitlichen Reihenfolge der Persönlichkeiten. So wird der Anfang mit Maimonides gesetzt. Danach setzen wir uns mit Thomas von Aquin auseinander, wobei es interessant sein wird, zu sehen, wie der Aquinate mit den Ausführungen des Rambam zum Bösen umgeht: Hat er mit Bezug auf die Ausführungen zum Bösen ebenfalls von dem ihm bekannten Schrifttum Maimonides’ Gebrauch gemacht oder nicht? Falls sich Gedanken des Rambam bei Thomas auch im Hinblick auf das Böse nachweisen lassen, muss geschaut werden, ob er die maimonidische Position übernimmt oder verwirft. Natürlich wurde sowohl über Maimonides als auch über Thomas von Aquin bereits viel geschrieben. Auch existiert eine Vielzahl vergleichender Literatur zu den beiden Persönlichkeiten.1 Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass gerade der Auseinandersetzung mit der spezifischen Frage nach dem Bösen in der 1 Es seien hier beispielhaft erwähnt: Koplowitz (1935); Wohlman (1988); ders. (1995); Dobbs-Weinstein (1987); dies. (1989); dies. (1992); Haberman (1979).

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SYSTEMATISCHER Zugang

vorhandenen Literatur jeweils mehrheitlich nur wenige Absätze oder Kapitel gewidmet werden, diese aber kaum das Hauptinteresse der Beschäftigung mit den genannten Personen und ihren Werken bilden. Der systematische Teil dieser Arbeit gliedert sich wie folgt: Zunächst wird die gewählte Methodik dargelegt werden. In einem weiteren Schritt folgen sodann die beiden Einzeldarstellungen, wobei zunächst Maimonides’ Position wiedergegeben und bewertet wird. Anschließend erfolgt dasselbe Vorgehen in Bezug auf die Ausführungen des Thomas von Aquin zum Bösen. Erst in einem letzten Schritt werden die beiden Positionen miteinander verglichen, wobei auch darauf eingegangen wird, wie sich die Ausführungen zum Bösen für die heutige Zeit eignen, was insbesondere an der Frage von Auschwitz geklärt werden muss, sodass auch der philosophische Teil dieser Arbeit nochmals in den Blick kommen wird. Es wird aber auch betrachtet, welche biblischen Vorgaben ihren Theorien zugrunde liegen und wie sie mit diesen Aussagen umgehen, sodass auch der biblische Teil nochmals Berücksichtigung finden wird. Bevor die Ausführungen der beiden herausragenden Vertreter zum Bösen vorgestellt werden, wird der Frage nach der dieser Arbeit und insbesondere diesem systematischen Teil zugrundeliegenden Methodik nachgegangen.

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kapitel ii

Methodik Um die wichtigen Linien bezüglich ihrer Aussagen zum Bösen herauszuarbeiten, wird an den Texten des Rambam sowie des Aquinaten gearbeitet. Dabei wird nebst den Originaltexten bzw. Übersetzungen auch auf Sekundärliteratur zurückgegriffen, welche die einzelnen Aussagen bereits interpretiert und bewertet. In einem weiteren Teil wird ein Vergleich der beiden Theorien vorgenommen. Der Grundpfeiler der Methodik wird also auf Textauslegung und Textkritik, einfach gesagt Textarbeit, gelegt. Daran wird ersichtlich, dass in einem ersten Schritt philologisch-historisch gearbeitet wird. Das Vokabular wird untersucht und auf seine Aussageinhalte hin beleuchtet. Damit gegeben ist allerdings bereits schon ein zweiter Schritt in der Methodik, der an diesen ersten anknüpft und ihn zugleich übersteigt: Es wird versucht, aufzuzeigen, wie Maimonides und Thomas von Aquin dachten, was sie mit dem von ihnen Ausgesagten meinten und bezweckten. Dabei soll der eigentliche Textsinn herausgearbeitet werden.1 Erforderlich ist damit eine Übersetzungsleistung – gerade auch in historisch-kultureller Hinsicht, denn unser Verstehenskontext und Erkenntnishorizont ist nicht identisch mit jenem der beiden Vertreter aus dem Mittelalter, die in einem uns fremden Kulturkreis bzw. in einer anderen Denkwelt lebten.2 Dabei gilt es zu beachten, dass hierbei eine zweifache historische Bindung begegnet: Einerseits ist der Autor bzw. die Autorin in einen bestimmten historischen Kontext eingebunden, andererseits gilt von der Leserin bzw. vom Leser dasselbe, auch diese können sich selbst nicht von ihrem eigenen Eingebundensein in einen bestimmten historischen Kontext lösen.3 Diese eigene Einbindung in die Geschichte führt zu einem weiteren Schritt: Es muss gefragt werden, ob die im Mittelalter gemachten Aussagen heute noch mit denselben Kategorien umschrieben werden können oder ob neue Begriffe, die in unseren heutigen Sprachgebrauch passen, verwendet werden müssen. Doch stellt sich eine grundsätzlichere Frage, ob nämlich das von ihnen Gelehrte und Vertretene heute überhaupt noch passend ist oder die Lehre als solche hinterfragt und abgeändert werden muss. Dann würden nicht nur das verwendete Vokabular bzw. die verwendeten Kategorien in unsere heutige 1 Vgl. Angehrn (2003), S. 74. 2 So gilt es denn nach Gadamer, sich in den anderen zu versetzen, um ihn verstehen zu können. (Nach: Gadamer (1986), S. 308.) 3 Nach: Angehrn (2003), S. 89.

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SYSTEMATISCHER ZUGANG

Lebenswelt übersetzt werden müssen, die These aber weiter beibehalten werden können, sondern die Lehre selbst müsste verändert bzw. durch neue Modelle oder Erweiterungen des Gesagten ersetzt werden. Nebst ersten philologischen Betrachtungen, welche den weiteren Schritten und der gewählten Methode dienen, wird somit insbesondere die Hermeneutik4 zurate gezogen. Die „Hermeneutik hat zur Aufgabe, die – zeitliche, soziale, kulturelle – Distanz zwischen Äußerung und Verstehen zu überbrücken, zwischen den Kontexten der Sinnproduktion und der Sinnrezeption zu vermitteln.“5 Nach diesen knapp gehaltenen Erläuterungen zur Methodik wird in einem nächsten Kapitel Maimonides behandelt. 4 Für die Drucklegung wird auf eine ausführlichere Darstellung der Hermeneutik verzichtet, sodass auch hier eine Kürzung vorliegt. Es ließen sich zahlreiche neuere Autoren aufführen, die für die Hermeneutik von Bedeutung sind, so – um nur einige Namen beispielhaft zu nennen – Martin Heidegger, Walter Benjamin, Paul Ricoeur, Emmanuel Levinas, Hans-Georg Gadamer sowie Jacques Derrida. Ein guter Überblick ist bei Angehrn (2003) zu finden, wo auch Literaturhinweise zu den für diese Methode wichtigen Autoren zu finden sind. Weiter sei auf Gadamer (1986); Fulda (1993) sowie Davidson, D. (1993) verwiesen. Der Terminus Hermeneutik geht auf das griechische Verb ἑρµηνεύειν (hermeneuein) zurück, was soviel bedeutet wie „verkünden, übersetzen, erklären, auslegen.“ (Angehrn (2003), S. 33.) Im kritischen griechisch-deutschen Wörterbuch wird es umschrieben mit den Worten: „ἑρµηνεύω, f. εύσω, ich bezeichne meine Gedanken durch Worte, drücke sie aus; ich deute, erkläre, dollmetsche.“ (Kritisches Griechisch-Deutsches Wörterbuch, S. 491, Sp. 1.) Bei dieser Übersetzung sind alle Momente der Hermeneutik thematisiert. Eine etwas mythologische Erklärung der Wortetymologie bindet es zurück an den griechischen Götterboten Hermes. Diese Sichtweise wird gemäß Angehrn allerdings von den meisten gegenwärtigen Philologen kritisch beurteilt und abgelehnt. (Nach: Angehrn (2003), S. 33.) „Wie der Götterbote Hermes Botschaften übermittelt, die dem Sinn der Menschen nicht ohne Vermittler zugänglich sind, so bemühen sich theologische, philologische und juristische Hermeneutik um Sicherheit im Umgang mit Texten, deren richtiges Verständnis und korrekte Anwendung sich nicht unmittelbar aus ihnen ableiten lassen. Interpretation als Leitbegriff der Hermeneutik steht für das Bewusstsein davon, dass Verstehen sich nicht von selbst versteht.“ (Ebd., S. 142f.) Die juristische Hermeneutik ist beispielsweise bei Gadamer (1986), S. 330–335 nachzulesen, die theologische ebd., S. 335–338. 5 Angehrn, Interpretation, S. 71. Es geht um die Spannung „zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik.“ (Gadamer (1986), S. 300, Hervorhebung im Original.)

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kapitel iii

Maimonides Bei Maimonides1 handelt es sich um einen der größten und bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Er ist unter unterschiedlichen Bezeichnungen bekannt: Moses Maimonides oder auch Moshe ben Maimon bzw. Rambam (dies steht für die Abkürzung Rabbi Moshe ben Maimon). Er war sozusagen ein Universalgenie, denn er war nicht nur jüdischer Theologe, sondern auch Philosoph und Arzt. So betonen auch Musall/Schwartz, dass die Person des Maimonides im Rahmen einer Auseinandersetzung mit jüdischer Philosophie nicht außer Acht gelassen werden darf, „[g]ilt er doch als eine zentrale, gleichzeitig aber auch recht umstrittene Autorität seiner Zeit.“2 Was ihn im Rahmen der vorliegenden Arbeit besonders interessant macht, ist die zeitliche Nähe zu Thomas von Aquin sowie die Tatsache, dass Letzterer auf die Ausführungen des vorverstorbenen Maimonides in seinen eigenen Schriften eingegangen ist, dieser also auf christlicher Seite Rezeption bereits in der damaligen Zeit erfahren und eine theologische Auseinandersetzung mit seinen Schriften stattgefunden hat. Seine Bedeutung innerhalb des jüdischen Mittelalters sowie auch die Verbindung zu Thomas von Aquin zeigt auch Sirat auf, indem sie unter anderem darauf hinweist, dass Maimonides am Scheideweg steht, steht er doch am Ende eines Zeitalters und markiert zugleich den Beginn eines neuen.3 In einem ersten Schritt wird Maimonides’ Biographie in einem kurzen Überblick dargestellt. Anschließend wird der Frage nachgegangen, in welchem Werk Maimonides die Frage nach dem Bösen behandelt, wobei auch einige grundlegende Bemerkungen zum Werk selbst gemacht werden. Danach wird der eigentlichen Behandlung des Bösen sowie der Theodizee nachgegangen. Dies wird uns auch zum Trieb zum Bösen führen. Die Entwicklung dieser Theorie wird sodann in einigen Grundzügen vorgestellt werden. In einem letzten Schritt werden die Aussagen des Maimonides zum Bösen bewertet. 1 Nach Hasselhoff taucht die Bezeichnung Maimonides 1526 zum ersten Mal auf (nach: Hasselhoff (2004), S. 9.) und zwar „in einer von Jacobus Mantinus in Bologna veranstalteten Druckausgabe“ (Ebd.). Größere Verbreitung erreicht dieser Name allerdings „erst seit der Buxtorf’schen Übertragung des More nevukhim (Basel 1629). Im Mittelalter firmiert Maimonides generell als (Rabbi) Moyses.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) 2 Musall/Schwartz (2009), S. 9; vgl.: Halbertal (2014), S. 5. Hammele beschreibt ihn als „den bedeutendsten Vertreter des rabbinischen Judentums im Mittelalter“ (Hammele (2012), S. 151.). 3 Nach: Sirat (1996), S. 157.

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Biographie

Mit Blick auf die Biographie4 des Maimonides fällt eines gleich zu Beginn auf: Welches Jahr genau als Jahr seiner Geburt anzusetzen ist, ist umstritten. Sicher ist, dass er irgendwann zwischen den Jahren 1135 und 1138 in Cordoba, im damals muslimischen Spanien5 gelegen, geboren wurde. Dieser andalusischen Herkunft fühlte er sich Zeit seines Lebens verbunden: Er „identified himself as such by signing his name in Hebrew as ‚Moshe ben Maimon ha-Sefaradi’ (‚the Spaniard,’ or, in less anachronistic terms, ‚al-Andalusī’).“6 Sein genaues Geburtsdatum ist unklar. Wie Kraemer herausstellt, stützt sich die frühe Angabe von 1135 auf die Schilderungen des Enkels von Maimonides, David ben Abraham (1222–1300 n.Chr.).7 Kraemer selbst plädiert als Geburtsjahr für den Zeitraum zwischen dem letzten Drittel des Jahres 1137 und den ersten beiden 4 Die hier vorliegende biographische Darstellung gibt lediglich einen kurzen Überblick wieder, bei dem einige Punkte fokussiert, andere dagegen ganz weggelassen werden. So wird etwa auch auf den Tod des jüngeren Bruders David 1177 – ein Schicksalsschlag, der Maimonides hart traf, sowohl emotional (Maimonides liebte David unendlich, sein Tod stürzte ihn in eine regelrechte Depression), als auch ökonomisch (David war mit seiner Handelstätigkeit für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen, was es Maimonides ermöglichte, sich ausschließlich den Studien zu widmen. Nach Davids Tod jedoch musste Maimonides die finanzielle Bestreitung des Lebensunterhalts der Familie Maimon sicherstellen, was zur Folge hatte, dass Maimonides seinen erlernten Arztberuf intensiviert praktizieren musste) – sowie auf seine Tätigkeit als Leibarzt des Großwesirs nicht eingegangen, wenngleich auch insbesondere der plötzliche Tod seines Bruders bei einem Schiffsunglück als eines der prägenden Schlüsselerlebnisse in Maimonides’ Leben angesehen werden kann. (Vgl. hierzu z.B.: Halbertal (2014), S. 58–63.) Ebenso wird auch auf seine Funktion als Nagid bzw. ra’is al-yahud von Kairo/Ägypten und die damit verbundene hohe Autorität des Maimonides über Ägypten hinaus für das gesamte arabische Judentum nicht eingegangen. Es muss angemerkt werden, dass die These, Maimonides sei der „Anführer“ der ägyptischen Juden gewesen, durchaus auch angezweifelt wird. (Vgl. z.B.: Davidson, H. (2005), S. 54–64.) Die derzeit wohl meistbeachtete Biographie zu Maimonides, welche in der aktuellen Literatur besonders starke Rezeption in Form von Zitation erfährt, stammt von Kraemer, J. (2008). Auf diese wird auch in der hier folgenden Arbeit – nebst einigen anderen Autoren – abgestützt. 5 Zu den Lebensbedingungen von Juden und Christen im muslimischen Spanien s. beispielsweise die Schilderungen anhand der Stadt Sevilla: Deimann (2012), S. 67–174. Zur Situation der Juden in Europa sei hingewiesen auf: Chazan (1999). Zur muslimischen Herrschaft in Spanien bzw. zu den Herrschaftswechseln während dem Mittelalter kann verwiesen werden auf: Herbers (2006); Kennedy (1999). Zur Situation Spaniens im 11. und 12. Jhd. sei weiterführend erwähnt: Barton (1999); Linehan (1999). 6 Stroumsa (2012), S. 6f. 7 Nach: Kraemer, J. (2008), S. 23f.

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Maimonides

Dritteln des Jahres 1138.8 Mit dieser Angabe stützt er sich auf Maimonides’ eigene Angaben in dessen Kommentar zur Mishnah9.10 Die Lebensschilderungen des so berühmten und herausragenden Universalgelehrten kennen natürlich auch sagenhafte Schilderungen, um seine Einzigartigkeit, Größe und Wichtigkeit zusätzlich herauszustreichen. Von einer solch pathetischen Lebensbeschreibung, die Lobeshymne an Lobeshymne reiht und mit sagenhaft umwobenen Lebensumständen aufzutrumpfen weiß, zeugt etwa noch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erarbeitete Biographie Maimonides’ aus der Hand von Münz. Dieser vertritt noch die Auffassung, der große Rambam sei am 14. Nissan, dem Rüsttag des Pessach, zur Welt gekommen.11 Noch weiter gehen die Datierungen, welche sich nicht nur zum Tag äußern, sondern sogar die genaue Geburtsstunde zu kennen glauben. So wird nicht nur der 14. Nissan des Jahres 4898 jüdischer Zeitrechnung (= 30. März 1139 n.Chr.) genannt, sondern als Uhrzeit wird 13.00 Uhr angegeben, womit nicht nur der direkte Bezug zu Pessach aufgrund des Datums hergestellt wird, sondern darüber hinaus zusätzliche Bedeutung verliehen wird, indem die Geburtszeit mit der Schlachtung des Pessachlammes zusammengelegt wird.12 Dieselbe Uhrzeit wird auch von Münz angegeben, allerdings wird als Geburtsjahr das Jahr 4895 (1135) genannt.13 Überhaupt spielt denn auch die Religion insgesamt eine zentrale Bedeutung für Münz’ Bewertung. Es ist ihm ein besonderes Anliegen, festzuhalten, dass – analog zur Schilderung Ibn Sīnās (= Avicenna) im fiktiven Historienroman Der Medicus14 – Maimonides’ gesamtes Wirken und Lehren zutiefst von seinem Glauben durchdrungen und geprägt war.15 Diese Verwurzelung in der Religion, der Tradition und dem Glauben scheint die intellektuellen Leistungen in

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Nach: Ebd., S. 23. Die Mishnah stellt die Verschriftlichung des mündlichen Gesetzes im 2. Jh. dar und wurde gerade auch durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels zur Sicherung der Tradition initiiert. Sie besteht aus sechs Ordnungen. Hinsichtlich der deutschen Übersetzung der Mishnah siehe: Die Mischna (2005). Als einführende Literatur zur Mishnah sei verwiesen auf: Stemberger (2008), S. 30–38; ders. (2011), S. 123–166. Nach: Kraemer, J. (2008), S. 23. Nach: Münz (1996), S. 7. Nach: Hasselhoff/Fraisse (2004), S. 10f. Nach: Münz (1996), S. 7f. „Ibn Sina hatte über Mathematik, die Seele des Menschen und über das Wesen der Trauer geschrieben. Und immer und immer wieder über den Islam, die Religion, die ihm sein Vater vermittelt hatte und der er, trotz aller Wissenschaftlichkeit, die ihn prägte, gläubig diente. Und deshalb liebten und ehrten die Menschen ihn.“ (Gordon (2013), S. 673.) Nach: Münz (1996), S. 15.

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besonderem Maße als ehrwürdig und richtig zu qualifizieren und aus dem Denker einen außergewöhnlichen Wissenschaftler zu machen. Cordoba war zur Zeit von Maimonides’ Geburt die Hauptstadt Andalusiens und gemäß Rudavsky die wohlhabendste Stadt in Europa.16 Allerdings sollte sich das friedliche und fruchtbringende Zusammenleben mit den Mauren schon bald zum Negativen wenden: Von Marokko herkommend ergriff die neu gegründete Bewegung der Almohaden17 die Macht in Andalusien. Zentrales Anliegen dieser Bewegung war es, den ursprünglichen islamischen Glauben, welcher auf Koran und Sunna, also dem islamischen Recht, gründet, wiederzubringen.18 Nordafrika und Andalusien wurden unter ihrer Herrschaft zu einem einzigen Reich geeint, in welchem die Juden nicht mehr länger willkommen waren.19 Aus diesem Grunde konvertierten viele Juden zum Islam,20 um weiterhin in ihrer Heimat wohnen bleiben zu können. In einer Quelle wird auch die Konversion Maimonides’ zum Islam erwähnt.21 Allerdings wird die Bedeutung dieser Quelle kontrovers behandelt: „[S]ome historians have accepted the account of Maimonides’ purported conversion to Islam, while others have rejected it.“22 Konversion hin oder her, sicher ist, dass sich das Leben in 16 17

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Nach: Rudavsky (2010), S. 1. Wie Strousma betont, war das Almohaden-Regime der Philosophie gegenüber durchaus tolerant eingestellt und es sei kaum vorstellbar, dass Maimonides, welcher selbst während knapp 20 Jahren unter deren Regentschaft lebte (nach: Strousma (2005), S. 261.), „would not have been influenced by the Almohads, and even less conceivable that he would have remained unaware of the intricacies of their revolution.“ (Ebd.) Diese Thematik ist im erwähnten Aufsatz näher nachzulesen, wobei u.a. gerade auch Maimonides’ starke Ablehnung jeglicher anthropomorpher Gottesvorstellungen sowie seine strikte Betonung der Unkörperlichkeit Gottes von der almohadischen Lehre beeinflusst sein könnten. (Nach: Ebd., S. 260 und 263.) Weiter könnte auch die Position al-Gazālīs über die Vermittlung durch die Almohaden, welche einen starken Bezug zu dessen Philosophie aufweisen (nach: Ebd., S. 259, 261.), zu Maimonides gelangt sein. (Nach: Ebd., S. 262.) Nach: Rudavsky (2010), S. 2. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd. Kraemer nimmt etwa die Position ein, Maimonides sei zum Islam konvertiert, und hält fest, dass dieser sich selbst in seinem Brief über erzwungene Konversion unter jene, welche unter Zwang konvertiert waren und daher Gottes Vergebung suchen mussten, einschloss. (Nach: Kraemer, J. (2008), S. 116.) Weiter betont Kraemer: „What we need to keep in mind is that Maimonides’ conversion to Islam was widely circulated, in both Muslim and Jewish sources.“ (Ebd., S. 124.) Dagegen spricht sich Halbertal dafür aus, der einzigartige Bericht eines muslimischen Historikers, welcher von der Konversion und einer entsprechenden Anklage Maimonides’ aufgrund von anschließendem Abfall vom Islam

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seiner angestammten Heimat mit der Machtübernahme durch die Almohaden grundlegend verändert hatte: Juden und Christen galten fortan als Ungläubige, welche einzig durch Konversion assimiliert werden konnten.23 Die einzig zulässige Religion im Reichsgebiet war fortan der Islam,24 wobei Juden und Christen sich mit der aus dem Christentum der Kreuzfahrerzeit nur allzu bekannten „Alternative“ Konversion oder Tod konfrontiert sahen.25 Jedoch stellte dieser Schritt der Almohaden einen gravierenden Bruch mit der islamischen Tradition dar, welche den Völkern des Bundes bzw. den Schriftreligionen (Christen- und Judentum) einen geschützten Rechtsstatus als Schutzbefohlene, den sogenannten Dimmi, gewährte.26 Damit hoben die Almohaden einen der „zentralen Grundsätze des islamischen Gesetzes“27 zum Schutze der religiösen Minderheiten auf.28 Als Folge dieser von der Tradition abweichenden Intoleranz kam es zu einer entscheidenden Veränderung der Lebensbedingungen für die in den von den Almohaden beherrschten Gebieten ansässigen Juden und Christen. So stellt denn auch beispielsweise Ivry heraus, dass Maimonides’ Familie ihr Jüdischsein mindestens gegen Außen hin soweit wie möglich minimieren musste, um weiterhin im von den Almohaden eingenommenen Spanien überleben zu können,29 was zur Folge hatte, dass es sicherlich den Anschein einer Konversion haben musste, auch wenn die Familie im Geheimen weiterhin jüdisch geblieben wäre.30 Die Stadt Cordoba selbst fiel im Jahre 1148 der Eroberung durch die Almohaden zum Opfer.31 Was genau mit Maimonides’ Familie geschah, ist nicht hinreichend bekannt: Es wird angenommen, dass sie Cordoba verließ, allerdings weiterhin in Spanien blieb, wobei ihr genauer Aufenthaltsort unklar ist.32 Um 1159/60 siedelte die Familie

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berichtet, sei „uncorroborated by any other independent source known to us and is open to question.“ (Halbertal (2014), S. 25.) Gegen eine Konversion spricht nach Halbertal weiter: „If the conversion to Islam of a relatively marginal figure such as the rabbi of Sijilmasa became known throughout the region, any such act on the part of Maimonides and his family certainly would have become known, even if Maimonidean loyalists had tried to conceal it.“ (Ebd.) Nach: Kraemer, J. (2008), S. 36. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Musall/Schwartz (2009), S. 13. Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ivry (1986), S. 139. Nach: Ebd., S. 139f. Nach: Kraemer, J. (2008), S. 37. Nach: Ebd., S. 41.

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schließlich von Spanien nach Fez über.33 Allerdings wundern sich auch hier die Historiker darüber, weswegen die Wahl ausgerechnet auf die in Marokko gelegene Stadt fiel, welche ihrerseits ebenso von den Almohaden beherrscht war.34 Für Kraemer besteht die wahrscheinlichste Möglichkeit für die Ansiedlung der Familie Maimon in Fez im Umstand, dass es dort einfacher war, als Kryptojuden – also im Geheimen weiterhin den jüdischen Glauben Lebende und Praktizierende – zu leben.35 Maimonides praktizierte in Fez den Islam, wobei es gemäß Kraemer aber nicht klar sei, ob er erst in Fez damit begonnen habe oder als bereits praktizierender Moslem in diese Stadt gekommen sei.36 Kraemer zeigt auf, dass jene, welche eine allfällige Konversion Maimonides’ zum Islam bestreiten, sich darauf berufen, dass seine Gegner eine solche nicht erwähnten.37 Dieses Argument relativiert Kraemer, indem er festhält: However, opponents such as Samuel ben Eli, Gaon of the Babylonian Academy, were not likely to endanger Maimonides’ life and the lives of his descendants, for the penalty for leaving Islam was, as we have seen, death. Moreover, we don’t really know what his enemies said about him beyond what had come down to us in documents, and they are limited in scope.38 Zugleich streicht Kraemer aber heraus, dass man sich vor Augen halten muss, dass trotz dieser Dokumentierungslage bezüglich der Gegner des Maimonides eine Konversion desselben zum Islam breit bezeugt ist und zwar sowohl in muslimischen als auch in jüdischen Quellen.39 Dies ist ein nicht zu unterschätzendes Faktum. 33 34

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Nach: Ebd., S. 83. Nach: Ebd. Kraemer bezweifelt die unter den Biographen Maimonides’ gängige Ansicht, dass die Familie sich deshalb für Fez entschieden hatte, weil Maimonides den dringlichen Wunsch verspürte, beim dort ansässigen Richter Judah ha-Kohen Ibn Shoshan zu studieren. (Nach: Ebd.) Entsprechende Quellen seien späten Datums und darüber hinaus nicht vertrauenswürdig. (Nach: Ebd.) Kraemer führt ins Gefecht, dass der damals Anfang zwanzigjährige Maimonides zu dieser Zeit gar keinen Lehrer mehr nötig hatte und dass – gesetzt den Fall, dass dem dennoch so gewesen sei – sich nicht die gesamte Familie diesem gefährlichen Ort als Lebensraum ausgesetzt hätte, nur um seinem Wunsch nachzukommen. (Nach: Ebd.) Nach: Ebd., S. 84. Nach: Ebd., S. 123. Nach: Ebd., S. 124. Ebd. Nach: Ebd.

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Im Jahre 1165 unternahm Maimonides eine Pilgerreise ins gelobte Land,40 wobei er am 16. Mai desselben Jahres im Hafen von Akko eintraf.41 Nach seiner Rückkehr gelangte Maimonides mit seiner Familie 1166 nach Alexandrien und ließ sich schließlich nach kurzem Aufenthalt in Fustat, einem alten Stadtteil Kairos, nieder.42 Genau dies ist aber ein seltsamer Umstand: Weswegen zog Maimonides aus dem gelobten Land aus und von dort ausgerechnet hinab nach Ägypten, um dort zu leben, wo es doch ein rabbinisches Verbot43 gegen das Niederlassen in diesem Land gab? Wie Kraemer ausweist, ist dieser Umstand noch verwunderlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass sich Maimonides damit über einen Grundsatz hinwegsetzte, den er später selbst als ein Gesetz kodifizierte.44 Eine Erklärung hierfür kann in der Parallele zur biblischen Josephserzählung gefunden werden: Wie damals Jakob, wollte sich auch Maimonides nicht dauerhaft in Ägypten niederlassen, sondern nur während einer Notzeit, welche seinen Aufenthalt aus wirtschaftlichen Gründen zeitweilig notwendig machte.45 Zu diesem Bild passt auch, dass Maimonides nicht in Ägypten begraben wurde. Maimonides verstarb vermutlich am 13. Dezember 1204.46 Begraben wurde der Rambam seinem Wunsch gemäß in Tiberias, wobei seine tatsächliche Grabstätte – ungeachtet des in der Verehrungstradition als sein Grabstein besuchten Grabes – bis heute unbekannt ist, sodass in Bezug auf die letzte Ruhestätte seiner irdischen Überreste eine Parallele zu seinem Namensvetter, dem biblischen Moses, bestehe, so Kraemer.47 Im Anschluss an diese überblickende Darstellung des Lebens des Maimonides soll nun das Werk vorgestellt werden, in dem der Rambam sich mit dem Bösen auseinandersetzt. Die Beschäftigung mit dem Bösen findet sich in 40

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Diese Reise scheint allerdings nicht ganz freiwillig vonstatten gegangen sein. Vielmehr war Maimonides gezwungen, mit seiner Familie zu fliehen, da er sie alle durch sein Verhalten in Gefahr gebracht hatte, indem er in Fez zu einer öffentlichen jüdischen Figur wurde und auch jüdische Schriften verfasste. (Nach: Ivry (1986), S. 140.) Nach: Kraemer, J. (2008), S. 125. Nach: Ebd., S. 145. Dabei kam Maimonides im Verlaufe seines Lebens nicht nur mit Muslimen in Kontakt: Gerade in Fustat gab es eine große Gemeinde koptischer Christen und so finden sich denn in Maimonides’ Schriften auch immer wieder zahlreiche Referenzen auf Christen und das Christentum. (.79 '‫ עמ‬,(‫ לסקר )תשס"ט‬:‫)לפי‬ Nach: Kraemer, J. (2008), S. 141. Nach: Ebd. Nach: Musall/Schwartz (2009), S. 14. Nach: Kraemer, J. (2008), S. 471, wobei Kraemer festhält, dass dieses Datum durch Maimonides’ Enkel David überliefert ist. Nach: Ebd., S. 472.

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Maimonides’ Schrift Führer der Verwirrten. Einige grundlegende Angaben und Informationen sollen zunächst zu der genannten Schrift gemacht werden, bevor der Inhalt des Textes dargelegt wird. 3.2

Der Moreh haNewuchim

Die Schrift ‫( מורה הנבוכים‬Moreh haNewuchim; mn)48 verfasste Maimonides zwischen den Jahren 1185 und 1191.49 Hasselhoff/Fraisse halten fest, dass in der Literatur als Enddatum der Abfassung des Moreh das Jahr 1190 ziemlich wahrscheinlich und gesichert ist.50 Halbertal beispielsweise vertritt die Meinung, dass die Arbeit an diesem Werk erst 1186 aufgenommen wurde,51 auch bezüglich des Anfangsjahres sind folglich unterschiedliche Meinungen auszumachen. Gesichert ist damit, dass das Werk im Zeitraum zwischen 1185/6 und 1190/1 verfasst worden ist. Zusammen mit der Mishneh Thorah sowie dem Kommentar zur Mishnah (‫פרוש המשנה‬, Perush haMishnah) bildet der Führer der Verwirrten Maimonides’ schriftliches Hauptwerk.52 Wie Halbertal festhält, handelt es sich beim mn um das wichtigste Werk in der Geschichte der jüdischen Philosophie.53 Allgemein lässt sich sein schriftliches Werk in drei Kategorien unterteilen: So verfasste er Schriften im Bereich der rabbinischen/

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Es findet sich in der Literatur auch der Titel Moreh Newuchim, also ohne bestimmten Artikel. (.(1975) ‫ סיראט‬:‫)ראה למשל‬ Nach: Kraemer, J. (2008), S. 359. Halbertal erwähnt allerdings, dass Maimonides die ersten Kapitel des dritten Teils des mn bereits um 1180 erarbeitete. (Nach: Halbertal (2014), S. 7.) Nach: Hasselhoff/Fraisse (2009), S. 13, insbes. fn 18. .14 ,9 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫לפי‬ Nach: Kraemer, J. (2008), S. 359. .9 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫ לפי‬Strauss dagegen betont, dass der mn gerade nicht als philosophisches, sondern in erster Linie als jüdisches Werk zu betrachten sei: „a book written by a Jew for Jews. Its first premise is the old Jewish premise that being a Jew and being a philosopher are two incompatible things. Philosophers are men who try to give an account of the whole by starting from what it always accessible to man as man; Maimonides starts from the acceptance of the Torah.“ (Strauss (2013), S. 495.) Strauss geht interessanterweise davon aus, dass „a synthesis between a specifically modern position and a medieval or ancient one is not possible […]. His approach is closely tied to his insistence on the need to remain completely faithful to the text at hand.“ (Weiss (2016), S. 152.) Weiter geht Strauss von einem unüberwindbaren Graben zwischen Philosophie und jüdischer Tradition und Thorah aus. (Nach: Ebd., S. 149.) Maimonides dagegen greift die Philosophie aristotelischer sowie neuplatonischer Konvenienz gerade fruchtbar auf, um sie für den Glauben nutzbar zu machen. Hinsichtlich Strauss und Maimonides sei an dieser Stelle ein Literaturhinweis angebracht: Green (2013).

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halachischen Literatur, der Philosophie sowie der Medizin, wobei er sich seine Kenntnisse in Bezug auf rabbinisches Schrifttum sowie Philosophie vermutlich als Autodidakt selbst erworben und beigebracht hat.54 Im Hinblick auf eine allfällige Zuordnung des mn zu einer der drei genannten Kategorien gilt es festzuhalten, dass dieses in erster Linie seiner Methodik nach weder als theologisches noch als philosophisches, sondern vielmehr als exegetisches Werk55 zu qualifizieren ist.56 Dies macht denn auch der große Rambam selbst im ersten Satz der Einleitung und Eröffnung des mn unmissverständlich deutlich: Der erste Gegenstand dieser Abhandlung ist, die Bedeutung gewisser Wörter zu erläutern, die in den Büchern der Prophetie vorkommen. Von diesen sind einige homonym, die aber die Unwissenden nur in einer ihrer homonymen Bedeutungen anwenden; andere wieder sind figürlich, die sie gleichfalls nur nach ihrer ersten Bedeutung verstehen, aus welcher sie übertragen wurden, und noch andere zweifelhaft, die man bald als Synonyme, bald als Homonyme betrachet.57 Verfasst wurde der Führer der Verwirrten in judäo-arabisch,58 d.h. arabisch mit hebräischen Schriftzeichen. Erste Übersetzungen ins Hebräische erfolgten noch zu Maimonides’ Lebzeiten.59 Dabei sticht insbesondere die Übersetzung 54

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Nach: Rudavsky (2010), S. 5f. Hartman vertritt die interessante These, dass sich das philosophische sowie das halachische Schrifttum dabei nicht gänzlich voneinander trennen lassen, sondern dass vielmehr selbst in den halachischen Schriften des Rambam der Geist der Philosophie spürbar sei. (.(2009) ,‫ הרטמן‬:‫)לפי‬ Im muslimischen Bereich kam es durch die Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion, wie sie weiter oben erwähnt wurde, zu philosophischen Interpretationen der religiösen Schriften, wobei allerdings gemäß Ibn Rushds (Averroës) Vorgabe gewisse Regeln zu beachten waren. (Nach: Tamer (2005,2), S. 245–247.) Diese Tradition der philosophischen Exegese nahm Maimonides auf. (Nach: Ebd., S. 248.) .246 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫לפי‬ mn i, Einleitung. Bereits hieran wird ersichtlich, dass viele Missverständnisse – gerade auch scheinbare Widersprüche zwischen Religion und Wissenschaft – auf falsche, wörtliche Auslegungen der Bibel zurückzuführen sind. Maimonides ist nun daran gelegen, mittels exegetisch-philologischer Hinweise bzw. des Aufweises, was metaphorisch oder nur in analogem Sinne mit Blick auf die Rede von Gott zu verstehen ist, diese Widersprüche aufzulösen. Nach: Kraemer, J. (2008), S. 359. Nach: Ebd. Interessant ist hier ein Vergleich zu anderen Schriften Maimonides’: Zwar war dieser sofort bereit, seinen mn ins Hebräische übersetzen zu lassen, für die Mishneh Thorah trifft dies aber umgekehrt nicht zu: Hier weigerte sich Maimonides, eine Übersetzung ins Arabische zuzulassen. (Nach: Stroumsa (2012), S. 20f.) Eine Übersetzung seines Mishnah-Kommentars ins Hebräische plante er dagegen. (Nach: Ebd., S. 21.) Für Stroumsa

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von Shmu’el Ibn Tibbon (ca. 1165–1232)60 hervor.61 Mit diesem stand Maimonides in direkter Korrespondenz,62 wodurch er auch Änderungswünsche kundtun bzw. die Übersetzungen absegnen konnte. Dies zeichnet die tibbonsche Übersetzung, welche bereits im Jahre 1204 fertiggestellt wurde,63 natürlich in besonderem Maße aus. Jehuda al-Charizis Übersetzung fällt ebenfalls in den genannten Zeitraum, doch ist seine Übersetzung in philosophisch-inhaltlicher Hinsicht weniger genau; wichtiger war hier der poetisch-literarische Wert der Übersetzung.64 Doch besitzt auch diese Übersetzung einen hohen Stellenwert, gerade im Blick auf den interreligiösen Dialog, da sie den Hintergrund für die zwischen den Jahren 1220 und 1240 entstandene anonyme lateinische Übersetzung Dux Neutrorum seu Dubitorum bildete,65 durch welche Maimonides’

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ist dies ein Indiz dafür, dass sich die sprachlichen Gegebenheiten zu Maimonides’ Lebzeiten grundlegend verändert hatten und das Arabische gegen Ende seines Lebens nicht mehr die lingua franca der Juden war, sondern sich alles immer mehr auf das Hebräische konzentrierte; dieser Entwicklung fügte sich Maimonides im Hinblick auf die Frage nach allfälligen Übersetzungen in die eine bzw. andere Sprache. (Nach: Ebd.) .579 '‫ עמ‬,(‫ רובינסון )תשס"ט‬:‫לפי‬ Nach: Kraemer, J. (2008), S. 359. Die Familie der Tibboniden gehörte zu jenen spanischen Juden, welche Andalusien nach der almohadischen Eroberung nicht Richtung Süden nach Nordafrika verließen, sondern nach Norden ins christliche Spanien oder in die Provence übersiedelten – für die Familie Ibn Tibbon wurde Letzteres zur neuen Heimat. (Nach: Halbertal (2014), S. 15f.) Zu Ibn Tibbons Übersetzung s. z.B.: .(‫ )תשמ"ג‬,‫ רביצקי‬Zu Ibn Tibbon, seiner Beziehung zu Maimonides sowie seiner Übersetzung und Interpretation des mn s. insbes.: .(‫ )תשס"ח‬,‫פרנקל‬ Nach: Musall/Schwartz (2009), S. 32. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Die lateinische Übersetzung kürzt dabei oftmals den Text al-Charizis ab, um Wiederholungen zu vermeiden. (Nach: Rubio (2006), S. 274.) Interessanterweise weicht die Übersetzung aber teilweise auch dahingehend von al-Charizi ab, als Fehler in dessen Übersetzung korrigiert werden und der Text so in die Nähe des arabischen Originals (und damit auch der Übersetzung Ibn Tibbons) gerückt wird, woraus Rubio schließt, dass dem lateinischen Übersetzer nicht nur al-Charizis hebräische Übersetzung, sondern auch das arabische Original zugänglich war. (Nach: Ebd., S. 276.) Weiter schließt Rubio aus der auffälligen Vermeidung des Begriffs deus für ‫( האלוה‬haEloah) bzw. ‫( האל‬haEl), um den wahren Gott zu bezeichnen, und des stattdessigen Rückgriffs auf den Terminus creator, also Schöpfer, darauf, dass der Verfasser des Dux neutrorum Jude war. (Nach: Ebd., S. 278.) Hasselhoff dagegen wirft die Frage auf, ob es nicht genauso gut sein könnte, dass die Übersetzung von einem vom Judentum zum Christentum Konvertierten erstellt worden sein könnte und führt dabei als wahrscheinlichen Ort die Nähe zum bei Konvertiten beliebten Dominikanerorden (vermutlich in Paris), dem interessanterweise bekanntermaßen

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Schrift christlichen Theologen der Scholastik, wie etwa Thomas von Aquin, zugänglich war. „Eine weitere lateinische Übersetzung von Johannes Buxdorf erschien 1629 unter dem Titel Doctor Perplexorum.“66 Diese Übersetzung geht auf die Übersetzung Ibn Tibbons zurück.67 Doch verweilen wir kurz bei diesen ersten Hinweisen und nehmen den Titel der genannten Schrift in den Blick. 3.2.1 Die Bedeutung des Titels der Schrift Von mn zu reden, ist bereits eine Übersetzung. Da die Schrift auf Arabisch verfasst worden ist, ist auch der Originaltitel nicht das hebräische mn, sondern

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Albertus Magnus und Thomas von Aquin, welche beide bereits zu einem frühen, der wahrscheinlichen Abfassungszeit der lateinischen Übersetzung relativ nahen Zeitpunkt, vom lateinischen Maimonides mehr oder weniger regen Gebrauch machten, angehörten, an. (Nach: Hasselhoff (2004), S. 124f.) „Den Anfang in der Geschichte der Verwendung des Dux neutrorum macht Albertus Magnus, der zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Übertragung als Baccelaureus in Paris lehrte. Ob und inwieweit er als Auftraggeber der Übertragung fungierte, muss offen bleiben.“ (Ebd., S. 129.) Kluxen (1954) spricht sich dafür aus, dass die lateinische Übersetzung in Südfrankreich stattfand, Freudenthal (2000) dagegen veranschlagt den Hof Fredericks ii., also Italien, als Übersetzungsort. Musall/Schwartz (2009), S. 32. Es findet sich auch die Schreibweise Buxtorf (so z.B. Rubio (2006) sowie Hasselhoff/Fraisse (2004)). Rubio schreibt, dass eine lateinische Übersetzung erstmals 1520 von Augustinus Justinianus, Erzbischof von Nebio, publiziert worden sei. Diese trage den Titel Dux seu director dubitantium aut perplexorum und stellt den Abdruck der erwähnten älteren lateinischen und auf al-Charizis Übersetzung zurückgehenden Übersetzung dar. (Nach: Rubio (2006), S. 266 sowie fn 1 S. 266.) Zu den lateinischen Übersetzungen siehe auch: Kluxen (1954) sowie Rubio (2006), S. 266–278. Die erwähnte Übersetzung von Justinianus stellt gemäss Hasselhoff/Fraisse nicht nur Höhe-, sondern auch vorläufigen Endpunkt der Maimonidesrezeption auf christlicher Seite dar: „Neben dieser ‚hebräischen‘ Wirklinie des More lassen sich durch seine lateinischen Übertragungen auch mehrere christliche Rezeptionslinien nachzeichnen. Die erste ist verknüpft mit dem Dominikanerorden in Paris, dessen große Lehrer Albertus Magnus und Thomas von Aquino in vielerlei Hinsicht aus der lateinischen Übertragung des Dux neutrorum schöpften. Ein halbes Jahrhundert später fand Maimonides einen weiteren literarischen Schüler in Meister Eckhart, dessen späte Schriftauslegung sich, wie Yossef Schwartz in seinem Beitrag für diesen Band ausführt, durchaus als ein maimonidisches Projekt bezeichnen lässt. Ein Jahrhundert später beleben Dionysius der Kartäuser und Nikolaus von Kues erneut das Interesse an ‚Rabbi Moyses‘. Im Jahr 1520 findet die christlich-scholastische Rezeption des Maimonides mit dem von Agostino Giustiniani veranlassten Druck des Dux dubitantium ihren Höhe- und zugleich auch ihren Endpunkt“ (Hasselhoff/Fraisse (2004), S. 21f., Hervorhebung im Original.). Nach: Rubio (2006), S. 266.

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Dalālat al-Ḥa’irīn68. Gil’adi ist der Meinung, dass Maimonides mit diesem Titel auf eine Schrift des muslimischen Theologen al-Ghazālī anspielt, der in besagter Schrift zweimal auf Gott als Führer der Verwirrten (dalīl al-mutaḥayyirīn) verweist, wovon Maimonides den Titel seines Werkes dh ableitete.69 Weiter nimmt Gil’adi an, dass Maimonides den Terminus dalīl, mit welchem Gott bezeichnet wird, bewusst abgeändert hat, um eine Identifizierung seines Werkes mit Gott zu vermeiden.70 Der von ihm gewählte Begriff dalāla indes bedeutet Hinweis oder auch Wegweiser bzw. Führung.71 Diese Nuancierung bzw. Akzentuierung wurde von den Übersetzern ins Hebräische aber gerade nicht beachtet, sondern es wurde der im arabisch-muslimischen Bereich für Gott verwendete Begriff des Führers oder Lehrers verwendet.72 Musall/ Schwartz betonen, dass nicht Maimonides selbst mit dem ‚Lehrer‘ oder ‚Führer‘ gemeint ist, wie er uns im Wort Moreh begegnet, sondern die von ihm verfasste Schrift selbst damit gemeint ist: Das Werk als Wegweiser für den Leser: Mit dieser Formulierung nimmt sich Maimonides als Person selbst zurück, während gleichzeitig der Leser gefordert ist, den Wegweiser richtig zu lesen und zu deuten. Denn dieser muss und kann den Weg seiner eigenen intellektuellen Vervollkommnung nur alleine beschreiten. Maimonides fungiert somit lediglich als einer, der ‚Wegweiser‘ und ‚Hinweise‘ gibt. Nicht ausgeschlossen wird hierbei die Gefahr, dass der ‚verwirrte‘ Leser hieran scheitert und in der Folge in noch größere Verwirrung verfällt.73 68

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Es wird auf die Umschrift von Musall/Schwartz zurückgegriffen (s. z.B.: Musall/Schwartz (2009), S. 9.). Als Abkürzung wird in der Folge, ebenfalls in Anlehnung an Musall/ Schwartz, dh verwendet. In allen anderen Teilen dieser Arbeit steht die Abkürzung dh für Denzinger/Hünermann. .347–346 '‫ עמ‬,(‫ גלעדי )תשל"ט‬:‫לפי‬ .347 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫לפי‬ .‫ שם‬:‫לפי‬ .‫ שם‬:‫ לפי‬Allerdings sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass der erste Übersetzer, Shmu’el Ibn Tibbon, durchaus in Kontakt und Austausch mit Maimonides selbst stand und dieser somit auch in die Titelwahl hätte eingreifen und auf eine Übersetzung mit Führung insistieren können. Musall/Schwartz (2009), S. 10. Ravitzky vertritt den Standpunkt, dass der mn nicht nur als Buch für die Verwirrten verfasst wurde, sondern sich auch an Führer (also mit einer politischen Komponente) richte. (.16 '‫ עמ‬,(2006) ‫ רביצקי‬:‫ )לפי‬Ein solcher Mensch lebt zugleich in zwei Welten: Einerseits wird von ihm verlangt, seinen Verstand voll und ganz auf Gott auszurichten, zugleich soll er sich aber auch an die Gemeinde wenden und Verantwortung übernehmen. (.17 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫)לפי‬

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Darin wird eine Eigenheit dieses Werkes ersichtlich, welche im folgenden Abschnitt Erwähnung finden wird. Verweilen wir aber noch einen Moment beim Titel. Weiter muss bestimmt werden, wie das Substantiv Verwirrung, von dem der zweite Teil des Titels herzuleiten ist, zur damaligen Zeit verwendet wurde. Es geht hier nicht um eine x-beliebige Verwirrung, um Menschen, welche orientierungslos sind. Vielmehr diente der Begriff Verwirrung „in der mittelalterlichen arabischen Philosophie als ein terminus technicus für den Konflikt zweier gegensätzlicher Begriffe oder Lehrmeinungen.“74 So war es gerade der Konflikt zwischen der Religion und den Erkenntnissen der Wissenschaften, welcher gebildete Menschen in Verwirrung stürzen konnte: „Discovering contradictions between his [= der gläubige jüdische Leser75, der sowohl in Judentum als auch in aristotelischer Philosophie unterrichtet ist und beide als wahr annimmt, v.v.] understanding of the biblical text and Aristotelian philosophy, he becomes perplexed.“76 Hier will Maimonides Hilfe leisten und die Vereinbarkeit und eben nur scheinbare Widersprüchlichkeit der beiden Bereiche aufzeigen. Theologie und (arabisch vermittelte griechische) Philosophie sollen miteinander in Einklang gebracht werden.77 „Der Führer der Unschlüssigen ist weitestgehend als Versuch zu verstehen, sich umfassend und aufrichtig mit dieser Frage auseinanderzusetzen.“78 Genau dies macht das charakteristische 74 75

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Musall/Schwartz (2009), fn 25 S. 23. Da zur Zeit des Maimonides wohl Männer und nicht Frauen in erster Linie als Schüler und Leser von Maimonides’ Schriften anzusehen sind, wird im Folgenden vorwiegend ausschließlich die männliche Form (Leser, Autor, Verfasser, Schüler, etc.) verwendet. Die Verfasserin bittet diesbezüglich um Verständnis für die vernünftige zeitbedingte Wiedergabe, wodurch sich niemand diskriminiert fühlen möge. Klein-Braslavy (2011,2), S. 8f. Ivry vertritt den Standpunkt, dass der mn nicht nur für die Verwirrten geschrieben wurde, sondern von einem aufgrund in ihm selbst konkurrierender philosophischer Systeme Verwirrten verfasst wurde. (Nach: Ivry (1986), S. 151f.) Gerade hierin besteht eine Parallele zur muslimisch-arabischen Philosophie: „Maimonides gehört zu der vornehmlich von Aristoteles und Platon geprägten Epoche mittelalterlicher arabischer Philosophie, die mit ihren Hauptgestalten al-Fārābī, Avicenna und Averroes durch die Bemühung um die Harmonisierung von Religion und Philosophie gekennzeichnet ist. […] Sie [= die großen muslimischen Philosophen, v.v.] sollten im Hinblick auf die Vormachtstellung des religiösen Denkens in ihrer Gesellschaft eine Symbiose von Philosophie und Religion bewirken, die es der Philosophie erlaubte, dem neuen Kontext inhaltlich angepasst zu werden, ohne dass sie von der Religion vereinnahmt würde. Ein besonderes Merkmal der arabischen Philosophie im Mittelalter ist es daher, dass sie sich in einem produktiven Spannungsverhältnis zur Religion befindet.“ (Tamer (2005,1), S. 2.) Dieser Kontext war es denn auch, in dem Maimonides’ mn entstand und der der Schrift auch seine Form gab. (Nach: Ebd.) Schwartz (2004), S. 200, Hervorhebung im Original.

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Merkmal mittelalterlich-jüdischer Philosophie79 aus: Ihre Geschichte erweist sich als Geschichte des Versuchs, eine Brücke zu schlagen zwischen Hl. Schrift und Philosophie, resp. eines je nach Vorlieben von Autor zu Autor unterschiedlichen Teils der zu dessen Lebzeiten vorherrschenden Philosophie; im Fokus steht die Harmonisierung eines ganz bestimmten philosophischen Denksystems mit den jüdischen Quellen.80 Doch wie geht Maimonides dieses Problem der Vereinbarkeit des Verständnisses biblischer Texte mit der aristotelischen Philosophie81 an, um den dadurch Verwirrten aus seiner Verwirrung zu befreien? Wie Klein-Braslavy festhält, gelingt dies Maimonides mittels seiner exegetischen Herangehensweise an die biblischen Texte.82 Und so ist Maimonides darum bemüht, mittels der von ihm gewählten exegetischen Methode aufzuzeigen, dass biblische Wahrheit und aristotelische Philosophie in Tat und Wahrheit miteinander identisch sind,83 „so that the ‚perplexed‘ can be Jew and 79

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Wenngleich auch der Begriff jüdische Philosophie für das Mittelalter anachronistisch ist und unsere heutige Sichtweise wiedergibt, da im Mittelalter auf jüdischer Seite unter Philosophie die griechische Philosophie verstanden wurde, so bezeichnet er in seiner ersten Epoche den Zeitraum zwischen dem 9. Jh. (ab Isaac Israeli) und dem 15. Jh. (bis Josef Albo). (Nach: Niewöhner (1989), Sp. 900.) Zur jüdischen Philosophie im Mittelalter s. beispielsweise: Manekin (2012) sowie Harvey (2012). Zur jüdischen Philosophie (Definition, Abriss über die Antike bis zur Neuzeit) sei verwiesen auf: Simon/Simon (1984). .8 '‫ עמ‬,(1975) ‫ סיראט‬:‫לפי‬ Es muss geklärt werden, wie Maimonides den Begriff der Philosophie versteht, um sich des Bedeutungsfelds in seinem Sprachgebrauch bewusst zu werden: „As Maimonides uses the term philosophy, the sciences of physics, chemistry, biology, and psychology are included, and astronomy is a closely allied discipline. […] He considered Greek philosophy prior to Aristotle, the philosophy of Aristotle himself, and the philosophies of post-Aristotelian Greek and Arabic thinkers standing in the Aristotelian tradition all to be deserving of the title of genuine philosophy. By contrast, the lucubrations of the school of Islamic dialectical theology known as the Kalam did not qualify as philosophy as he uses the term – this, even though the members of the school applied their dialectic to the same theoretical issues that occupied persons vouchsafed the label philosopher in the medieval Arabic world, and even though they and thinkers recognized as true philosophers engaged one another in written discourse through the centuries. Maimonides’ opinion, held in common with other medieval Arabic Aristotelians, was that the Kalam thinkers failed to grasp the criteria whereby propositions regarding the universe can properly be judged true or false, and their failure to do so disqualified them from being classified as philosophers.“ (Davidson, H. (2005), S. 87, Hervorhebung im Original.) Klein-Braslavy (2011,2), S. 9. Nach: Ebd. Die durch die Philosophie bzw. die Wissenschaften erzielten Erkenntnisse anerkannte Maimonides als Wahrheiten. Daher sah er sich vor die Herausforderung gestellt, im Falle eines Konflikts zwischen jüdischer Tradition und Philosophie/Wissenschaft die Tradition neu zu interpretieren und so aufzuzeigen, dass der Konflikt nur scheinbar auf den ersten Blick besteht, dass aber im Gegenteil die jüdische Tradition in Tat und Wahrheit mit diesen Wahrheiten übereinstimmt. (Vgl.: Halbertal (2014), S. 3.) .8

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philosopher at the same time.“84 Doch weshalb gerade diese Fixierung auf die aristotelische Philosophie, warum soll gerade sie nicht nur mit der biblischen Wahrheit vereinbar, sondern sogar identisch mit ihr sein? Als Antwort auf diese Frage lässt sich mit Pines sagen: „[H]e knew, because his reason told him so, that for the greater part the Aristotelian doctrines were wholly true.“85 Allgemein lässt sich mit Klein-Braslavy im Hinblick auf den mn festhalten, dass es sich bei dieser Schrift in der Tat eigentlich um ein exegetisches Werk handelt.86 Die Vereinbarkeit zweier unterschiedlicher Bereiche scheint ein typisches Bedürfnis der damaligen Zeit dargestellt zu haben und zwar nicht nur auf jüdischer Seite: Denn auch im christlichen Bereich finden wir die für die Scholastik so zentrale Formel fides quaerens intellectum87, der Glaube, der nach Einsicht/ Vernunft sucht.88 Es geht darum, die Glaubensinhalte mit den (damals bekannten) Wissenschaften in Einklang zu bringen und sie so als Glaubenswahrheiten herauszuarbeiten. Hierin wird der muslimische Einflussbereich auf Juden- und Christentum ersichtlich, denn zuallerst war es in diesem Umfeld des arabisch-islamischen Denkens des Mittelalters, in dem das Verhältnis von Religion und Philosophie grundlegend überdacht wurde, in einer Weise, in der für die Religion der Anspruch erhoben wurde, dass sie für alle Bereiche Gültigkeit besitzt.89 Dass diese Entwicklung innerhalb der muslimischen Welt ihre 84 85 86 87

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Klein-Braslavy (2011,2), S. 9. Pines (1974), S. lviii, Hervorhebung v.v. Nach: Klein-Braslavy (2011,2), S. 7. Bereits Strauss hatte Anfang der 60-er Jahre festgehalten, dass der mn der biblischen Exegese gewidmet sei. (Nach: Strauss (2013), S. 496.) Unter diesem Motto stand bereits das Proslogion von Anselm von Canterbury mit dessen berühmten ontologischen Gottesbeweis. Die Formel fides quaerens intellectum wird auch als ursprünglicher Titel des besagten Werkes angesehen. (Nach: Scherb (2000), S.  16.) Dieser zentralen Stellung, welche er der ratio eingeräumt hat, hat Anselm auch den Titel Vater der Scholastik zu verdanken, sodass mit ihm die Frühscholastik anbricht. Wobei diese Formel hier nur bedingt und mit Vorsicht herangezogen werden kann, da es Maimonides eben gerade nicht um Erkenntnis geht, „die dem ‚Glauben’ den Weg bereitet. Glaube wird von ihm nicht als Erkenntnisakt verstanden, sondern als politisch-religiöser Akt der Treue, der Hingabe und des Gehorsams.“ (Schwartz (2004), S. 203.) Wobei hier mit Thomas’ Position beispielsweise festzuhalten ist, dass Glaube zwar Einsicht sucht, allerdings nicht in dem Sinne und bis zu dem Grade, dass er in Wissen aufgehen würde; Glaube und Wissen fallen keinesfalls zusammen, sondern bezeichnen letztlich zwei unterschiedliche Dinge: Ein und dasselbe Ding kann nicht zugleich geglaubt und gewusst werden. (Nach: STh ii-ii, q. 1, a. 5 resp.; vgl. z.B.: Forschner (2005), S. 385.) Nach: Tamer (2005,2), S. 237, wobei er die besondere Bedeutung, welche diesbezüglich dem Wort zukommt, herausstreicht. So kommt es zur philosophischen Interpretation der religiösen Schriften, wobei allerdings gemäß Averroës’ Vorgabe gewisse Regeln zu beachten waren (nach: Ebd., S. 245f.): „Der philosophischen Freiheit der Interpretation werden damit Grenzen gesetzt, deren Überschreitung an der Autorität der Religionsschrift scheitert.“ (Ebd., S. 246f.) .8

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Wellen weit bis in das christlich geprägte Abendland schlug, erscheint gerade im Hinblick auf den regen (kulturellen, aber auch intellektuellen) Austausch, welcher im Mittelalter zwischen den drei monotheistischen Religionen stattfand, mehr als nur plausibel. Sieht man, dass die andere Religion einen so gewaltigen Erkenntnissprung gemacht hat und ihren Glauben rational verteidigen kann, so ist man im Zugzwang, die eigenen Glaubenssätze ebenfalls mit der allen gemeinsamen ratio zu hinterfragen, darzulegen und schließlich zu verteidigen. So waren es gerade auch die historischen Gegebenheiten, welche diese Entwicklung auch für die anderen mit dem Islam in Kontakt stehenden Religionen notwendig machten. Ohne die erstmalige Entwicklung im muslimischen Bereich zu sehen, würde man also einen wichtigen Aspekt, welcher zur Entwicklung dieses Phänomens in Juden- und Christentum etwa zu derselben Zeit führte, übersehen und so ein unzureichendes Bild erhalten. Nachdem nun die Bedeutung des Originaltitels geklärt worden ist, muss auch erwähnt werden, wie der Titel der Schrift in den deutschen Übersetzungen wiedergegeben wird, wobei unterschiedliche Varianten auszumachen sind: Wie Musall/Schwartz festhalten, ist die Übersetzung ‚Führer der Verwirrten‘ auf Alexander Altmann90 zurückzuführen, die Übersetzung ‚Führer der Unschlüssigen‘ dagegen geht auf Adolf Weiss91 zurück.92 Nach diesen Ausführungen zum Titel des Werkes muss der Methodik in demselben nachgegangen werden. 3.2.2 Die Methodik des mn Eine Besonderheit des mn besteht darin, dass Maimonides selbst darauf hinweist, wie mit seinem Werk umgegangen bzw. wie es interpretiert werden soll. Interessanterweise hat kaum ein Autor die ihm zugrundeliegende Methodik und sein Anliegen so explizit deutlich gemacht, wie Maimonides, doch wurde gerade seine Einleitung zum mn, in dem sich diese Dinge nachlesen lassen und er versucht, den Leser auf die richtigen Wege der Lektüre zu führen, weitestgehend übergangen und fand kaum Beachtung.93 In neuerer Zeit war es insbesondere Strauss, der auf diesen Umstand hingewiesen und das Sensorium sowie die Sensibilität für das Ernstnehmen der einleitenden Hinweise und Hilfestellungen des Rambam wieder geweckt hat.94 90 91 92 93 94

Wobei Altmann in seiner Teilübersetzung einzelner ausgewählter Texte von den Verirrten und nicht von den Verwirrten spricht. Auf diese Übersetzung wird in der vorliegenden Arbeit bei direkten Zitaten zurückgegriffen, sofern keine anderweitige Übersetzung als Quelle angegeben wird. Nach: Musall/Schwartz (2009), S. 10. Vgl.: Fox (1990), S. 7. Nach: Ebd.

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Wie wir bereits gesehen haben, handelt es sich beim mn in großen Teilen um ein exegetisches Werk. Ein Charakteristikum der Schrift zeigt sich bereits in dessen Adressatenkreis: Es handelt sich um ein esoterisches95 Werk. Wie in einem Brief wendet sich Maimonides in seiner Schrift an einen Adressaten, den er als Joseph anredet, wodurch auch das literarische Genre geklärt ist: Zwar liegt das Werk mn in Buchform vor, doch handelt es sich dabei in Tat und Wahrheit um einen Brief.96 Die Anrede an den genannten Joseph definiert zugleich das vom Rambam angezielte Publikum seines Führer der Verwirrten:97 „intellectuals learned in the law and initiated into the arcana of philosophy and science who were perplexed by Scripture’s contradictions of reason.“98 Und so beinhaltet der Führer der Verwirrten gemäß Maimonides denn auch viele verborgene, geheime Bedeutungen, welche dem einfachen Leser verborgen bleiben und nur vom philosophisch Gebildeten aufgedeckt und dechiffriert werden können.99 Maimonides versucht also, dem Leser Hinweise zu geben, aber eben nur dem philosophisch Gebildeten. Die große Masse dagegen erkennt nur das Offensichtliche im Text, die Bedeutungen dahinter bleiben ihr verborgen. Und dies ist auch besser so, da sie die einfachen Gemüter nur bestürzen und in Verwirrung bringen würden, so seine Befürchtung.100 Hierin ist in gewissem Sinne (was die intellektuellen Fähigkeiten der Leserschaft betrifft)

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Wie genau dieser Begriff zu verstehen ist, wird in der Folge geklärt werden. .63 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫לפי‬ Nach: Kraemer, J. (2008), S. 360. Ebd. Nach: Rudavsky (2010), S. 11; vgl.: mn i, Einleitung. „It is presumed that the hidden doctrine would be the position closer to the philosophers and farther from the sensibilities of average religious believers. The writer needs to hide such positions in order to protect the simplistic belief of the masses.“ (Davies, D. (2011), S. 9.) Zu dieser Technik von exoterischem und esoterischem Schriftsinn bzw. des Verbergens der wahren Meinung in Büchern zum Schutze der einfachen Masse vgl. auch: Thomas von Aquin, Exp. sup. Boethium De Trin., q. 2, a. 4 resp., wo dieser ebendiesen Standpunkt (mit Verweis auf Augustins De doctrina christiana) einnimmt. Wie Ivry herausstreicht, ist es durchaus möglich, dass Maimonides hierbei von seinem muslimischen Umfeld beein-flusst war: „Now this emphasis upon the exoteric and esoteric nature of language, upon its external and internal dimensions, its ẓāhir and bāṭin, is very much part of Shīʿi doctrine, a linguistic analogue, as it were, to the performance of taqiyya. So characteristic is this of the Ismāʿīlīs that they were also known as the bāṭiniyya, the arch advocates of esotericism, both as a methodology and as a doctrine. Maimonides, it would appear, has adopted much of their style and point of view.“ (Ivry (1986), S. 143, Hervorhebung im Original; die Umschrift der arabischen Termini konnte z.T. nicht exakt wiedergegeben werden.)

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ein Elitärismus101 festzustellen. So bietet der Text jedem Leser etwas: Je nach intellektuellem Entwicklungsgrad entnimmt er dem Text seinen exoterischen Sinn oder gelangt darüber hinaus auch zu seiner esoterischen Bedeutung.102 101

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Das Stichwort Elitärismus stellt eine Verbindung zum großen jüdischen Exegeten des Mittelalters Abraham Ibn Ezra (es finden sich unterschiedliche Lebensdaten; mit Linetsky (1998), S. xi und Birnbaum (1989), S. 247 wird hier der Zeitraum 1089–1164 n.Chr. angegeben.) dar. Ibn Ezra geht davon aus, dass die Gläubigen unterschiedliche intellektuelle Fähigkeiten besitzen und macht als Konsequenz drei Stufen aus: Die unterste Stufe wird von all denen gebildet, welche die Gebote nur durch eine Autorität gehört haben, die zweite stellt die Gruppe derer dar, die es nicht nur gehört, sondern auch selbst an den einschlägigen Thorahstellen nachgelesen haben. Doch ist auch diese Stufe noch entwicklungsfähig, da Zweiflern gegen ihre Argumente kein Paroli geboten werden kann. Daher ist die vollkommenste Stufe die Gruppe derer, die in den Wissenschaften bewandert sind und so selbst erkennen aufgrund schlüssiger Beweise und diese auch jederzeit jedermann darlegen können. (Nach: Ibn Ezra (2000), S. 581f.) Für den einfachen Gläubigen ist die persönliche Erfahrung, die empirische Erkenntnis entscheidend, dem Gelehrten aber genügt die ratio. Dem Gelehrten hätte es genügt, nur das Gebot selbst aufzuschreiben, für die intellektuell weniger Begabten dagegen brauchte es Erläuterungen, Begründungen und das Anknüpfen an die empirische Erfahrung. (Nach: Ebd., S. 586.) Für Nuri’el etwa ist es dabei nicht so, dass der exoterische Sinn als religiös und der esoterische als philosophisch aufgewiesen werden kann. Vielmehr, so stellt Harvey heraus, vertritt Nuri’el die Ansicht, dass beide Schriftsinne religiös sind, allerdings auf unterschiedlichen Stufen: Der exoterisch-religiöse Sinn richtet sich an die große Masse der Gläubigen, der esoterische Sinn dagegen ist für die aufgeklärten, „gebildeten“ Gläubigen reserviert. (.70 '‫ עמ‬,(‫ הרוי )תשנ"ד‬:‫ )לפי‬Mit diesem Phänomen, dass Maimonides sich in seiner Schrift an unterschiedliche Adressatenkreise wendet, Gebildete wie auch die grosse, einfältige Masse, ergibt sich eine Parallele zur biblischen wie auch rabbinischen Tradition, was wiederum zur Folge hat, dass Maimonides versucht, genau diese in seiner Arbeitsweise zu imitieren. (Nach: Davies, D. (2011), S. 2.) Die unterschiedlichen Personengruppen, welche mit Blick auf Religion und den Glauben an Gott ausgemacht werden können, werden in mn iii,51 genannt, wo Maimonides mit einem Gleichnis, welches einen Königspalast und die Untergebenen des Königs, welche je nach ihrer Stellung dem Palast und den inneren Gemächern des Königs näher oder weiter entfernt sind, schildert, deutlich macht, dass nur jene, welche es auf sich nehmen, die Prinzipien der Religion zu erforschen, sich also auch philosophisch damit auseinandersetzen, die Vorhalle erreichen, wobei auch hier nochmals eine Unterscheidung vorzunehmen sei, da nur jene, welche auch wirklich einen Beweis für alles Beweisbare gefunden und in dem Maße Kenntnis von Gott haben, wie es möglich ist, ihn zu erkennen, und so der Wahrheit nahe sind, wo immer eine Annäherung an die Wahrheit erreicht werden kann, sich tatsächlich innerhalb des Palastes, in dem der König wohnt, befinden. Je mehr also der Intellekt von jemandem entwickelt ist (von Mathematik und Logik über Physik bis hin zu Metaphysik), desto näher ist er Gott. Maimonides identifiziert diese vornehmste Gruppe, welche sich zusammen mit Gott im Palast aufhält, mit den Propheten. (Nach: mn iii,51.) Als Beispiel verweist Maimonides in

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Dem naiven, unbelehrten Leser bietet er [= Maimonides, v.v.] ein orthodoxes und spannungsloses Bild. Dem belehrten, idealen Leser hingegen zerfällt dieses einfache Bild und er entdeckt beim Lesen mehr und mehr Widersprüche[103]. Der maimonidische Text ist demnach zweischichtig und in seinem Charakter so esoterisch, dass er allein von einzelnen, ausgesprochen gelehrten Lesern in seiner Problematik und Komplexität vollständig erfasst werden kann.104 Diese Methodik des Offen-Legens und gezielten Verbergens gewisser behandelter Inhalte stellt ein besonderes Charakteristikum des mn dar, das sowohl für den Aufbau der Schrift als auch insbesondere für den Umgang mit und die Auslegung derselben von zentraler Bedeutung ist. Dieses Merkmal ist es denn auch, das die Ausleger vor Herausforderungen stellt, um die esoterische Bedeutung hinter dem exoterisch Erscheinenden herauszuarbeiten und zu verstehen. Die vom Rambam gewählte Methode des Verschleierns des eigentlichen, esoterischen Inhalts hinter einer weniger verfänglichen, exoterischen Aussage ist auf eine zweifache Problemkonstellation zurückzuführen, welche Maimonides vor die grundlegende Herausforderung stellte, wie er dennoch die gewünschten Inhalte den gewünschten und angezielten Adressaten offenbaren könnte: Einerseits besteht eine Forderung des rabbinischen Gesetzes, welche es verbietet, Geheimnisse der Thorah direkt und öffentlich zu lehren; darüber hinaus dürfen selbst den ausgewählten Schülern nur die Kapitelüberschriften gelehrt werden.105 Problemverschärfend kommt andererseits das soziokulturell-historische Umfeld der damaligen Zeit hinzu, welches zur Folge hatte, dass die geeigneten Schüler, die für Maimonides’ Überlegungen qualifiziert waren, weit verstreut waren und man sie so nicht einfach in einer Klasse um sich scharen konnte; dasselbe lässt sich auch über geeignete und qualifizierte Lehrer sagen, welche ebenfalls rar zu finden waren.106 Das Dilemma

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mn iii,51 auf Moshe, welcher vierzig Tage bei Gott war und in dieser ganzen Zeit weder aß noch trank (vgl. Ex 34,38), da er – so Maimonides weiter – seine intellektuelle Energie so dominierte, dass alle körperlichen Bedürfnisse, insbesondere die mit dem Tastsinn verbundenen, verdrängt wurden. Wie weiter unten noch zu sehen sein wird, besteht auch eine Verbindung vom Grad der intellektuellen Stufe zur Thematik der göttlichen Providenz. Bis heute wird noch immer am Problem des Umgangs bzw. der Auflösung dieser Widersprüche gefeilt. (Nach: Davies, D. (2011), S. 1.) Schwartz (2004), S. 182. Dieses Phänomen könnte durchaus auch von al-Fārābī beeinflusst sein. (Nach: Pines (1974), S. xcii.) Nach: Fox (1990), S. 5. Nach: Ebd.

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besteht nun darin, dass einerseits die Geheimnisse der Thorah aufgrund des rabbinischen Verbots nicht öffentlich gelehrt werden dürfen, andererseits die Schüler aber soweit auseinander ansässig sind, dass sie nicht im privaten Kreise unterrichtet, sondern nur schriftlich – und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich – allesamt erreicht werden können. Damit muss eine Schriftform gefunden werden, die es zwar erlaubt, diese weit verstreuten Schüler zu erreichen, aber zugleich nur ihnen und nicht der großen Öffentlichkeit die Geheimnisse der Thorah zugänglich zu machen.107 Die Unterscheidung einer exoterischen und einer esoterischen Text- bzw. Inhaltsebene leistet ebendies: Nur der exoterische Inhalt ist der breiten Öffentlichkeit, fällt ihnen die Schrift in die Hände, zugänglich, die esoterischen Lehren dagegen, welche die Geheimnisse der Thorah umfassen, bleiben dieser aber verborgen und werden nur von den qualifizierten Schülern entdeckt. Wie Fox herausstreicht, lässt sich in den Schriften Pines’ und Strauss’ – zumindest zwischen den Zeilen – herauslesen, dass „the main purpose of his esoteric style in the Guide is to make it possible to express heretical or near-heretical ideas without injuring either the social structure or the naïve and useful faith of simple unphilosophical believers.“108 Für die Leserschaft bedeutet dies eine während des gesamten Prozesses der Lektüre fortdauernde große Herausforderung und Anstrengung, da sie sich immer darüber klar werden muss, ob das, was Maimonides zu sagen scheint, auch tatsächlich das ist, was er tatsächlich sagen will oder eben gerade nicht, ob also mit anderen Worten hinter dem offensichtlichen noch ein verborgener esoterischer Sinn auszumachen ist oder nicht.109 Doch gibt es auch Interpretinnen und Interpreten, welche eine Unterscheidung in eso- und exoterisch, welche besagt, dass die offensichtliche Aussage die traditionelle religiöse Position wiedergibt, die verborgene dagegen der philosophisch-aristotelischen entspricht, ablehnen. So vertritt etwa Davies die Ansicht, dass Maimonides keine esoterische Position im mn zu verbergen versuche, sondern sich einer dialektischen Methode bediene.110 So benutze Maimonides die dialektische Methode der Philosophie, um den mündlichen Unterricht, welcher der schriftlichen Lehrform in vielerlei Hinsicht überlegen sei, in seiner schriftlichen Umgebung nachzuahmen.111 Mündliche Instruktionen können dem jeweiligen Schüler und dessen Wissensniveau angepasst werden, in einem gewöhnlichen schriftlichen Text ist dies nicht der Fall. Mittels 107 108 109 110 111

Nach: Ebd. Ebd., S. 10, Hervorhebung im Original. Nach: Ebd., S. 13. Nach: Davies, D. (2011), S. 11f. Nach: Ebd., S. 13.

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der dialektischen Methode kann dieses pädagogische Element imitiert werden, indem jedem Schüler nur das zugänglich gemacht wird, was seinem Wissens- und Verstehensstand auch tatsächlich entspricht. So sind die Schüler des mn auch dazu aufgefordert, nicht bei der Lektüre stehen zu bleiben, sondern sich immer weiterzubilden, die Schrift fortwährend weiter zu studieren und auch solche Literatur zu konsultieren, welche ihnen für das Verständnis des im mn Angesprochenen weiterhelfen kann, um so immer mehr zu verstehen und immer tiefer in den Lernstoff des mn vorzudringen.112 Maimonides achtet mit seiner dialektischen Methode ganz besonders darauf, in seinem mn immer nur soviel zu offenbaren, wie dem jeweiligen Leser auch tatsächlich guten Gewissens zugemutet werden kann.113 So geht es nicht um Eso- und Exoterik, um „gefährliche“ Inhalte von der breiten Masse fernzuhalten, sondern es geht darum, die mündliche Unterrichtssituation mittels der dialektischen Methode auch schriftlich abzubilden. „So dialectical writing enables Maimonides to withhold knowledge from any readers who are unworthy of it but also to encourage them to progress to a level at which they will be worthy.“114 Hierin besteht eine Parallele zur Falāsifa: Auch die muslimischen aristotelischen Philosophen bedienten sich der Dialektik verstanden als a method of reasoning from generally accepted opinions. The premises are not verifiable or falsifiable; they are simply accepted by consensus. And this consensus rests upon the way people speak and the way they perceive appearances. Dialectical reasoning produces conclusions that are not demonstrative and scientific but restricted to the assent of specific sets of people: those who consented to the veracity of the premises115, wobei im Rahmen der Interpretation ihrer Werke ebenso wie im Falle des mn immer mitbedacht werden muss, welche Adressatenschaft die Verfasser vor Augen hatten.116 Kraemer sensibilisiert dafür, dass wie bei al-Fārābī und Ibn Rushd auch bei Maimonides ein mehrschichtiges Werk vorliegt, welches dem Leserkreis auch eine ebenso mehrschichtige Interpretation abverlangt.117 Doch gerade die Gefahr des Unverständnisses und der daraus hervorgehenden abgrundtiefen Verwirrung sorgten dafür, dass das Werk in seiner ganzen 112 113 114 115 116 117

Nach: Ebd., S. 14–16. Nach: Ebd., S. 68. Ebd., S. 15f. Kraemer, J. (2000), S. 111. Nach: Ebd., S. 115. Nach: Ebd.

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Tiefe und in allen Dimensionen der Bedeutung eben nicht an die große Masse gerichtet ist, sondern nur an eine kleine intellektuelle Elite, welche vor der Lektüre durch den vermeintlichen Widerspruch von religiöser Tradition und griechischer Philosophie bzw. philosophischer Wissenschaftserkenntnis verwirrt war und in Maimonides’ Werk Hilfe aus der Verwirrung heraus erfahren sollte.118 Denn nur so – mit Zuhilfenahme einer esoterischen Textebene bzw. der dialektischen Methode – konnte Maimonides das Werk guten Gewissens verfassen, ohne zu fürchten, die einfachen Gläubigen bzw. die im Studium noch nicht so fortgeschrittenen Schüler in ihrer sorglosen religiösen Praxis zu beunruhigen.119 The aim of the Guide was to serve as a guideline for those confused by seeming contradictions between traditional Jewish practice and belief on the one hand and the statements of classical Greek, mainly Aristotelian philosophy on the other. After stating the apparent contradictions, Maimonides set out to solve them, enabling the reader to combine Jewish faith and identify with reason and with the achievements of classical Greek thinking and culture.120 Doch genau dieses Ziel wurde nicht von allen erkannt. Nicht alle Leser entsprachen Maimonides’ Wunschadressaten. Denn nur der ideale Leser des Werkes kann dessen vollen Sinn erkennen, nur von ihm können „die Geheimnisse der Schrift und der Weisheit von der Natur und davon, was über die Natur hinausgeht, sowie die bedeutendste These des Führers der Unschlüssigen, dass es keinerlei Widerspruch zwischen ihnen gibt und auch nicht geben kann, entdeckt werden“121. Es wurde Kritik laut, dass Maimonides mit seinem Werk den jüdischen Glauben nicht zu verteidigen versuchte, sondern diesen vielmehr 118

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Das Zielpublikum der Schrift ist aber nicht nur dadurch eingegrenzt, dass die verborgenen Inhalte nicht jedermann zugänglich und verständlich sind, sondern bereits die gewählte Schrift bzw. Sprache stellt eine entscheidende Eingrenzung dar: „Die intellektuelle Elite ist im Hinblick auf Maimonides’ arabische Schriften insofern doppelt eingeschränkt, als diese im Judäo-Arabischen, das heißt in arabischer Sprache mit hebräischen Lettern, geschrieben sind und damit sowohl Arabern, die die hebräische Schrift nicht lesen können, als auch Juden, die das Arabische nicht beherrschen, verschlossen bleiben müssen.“ (Tamer (2005,1), S. 5.) Diese Einschränkung hinsichtlich des jüdischen Leserkreises wurde mit Blick auf den mn von Ibn Tibbon durch seine (von Maimonides autorisierte) Übersetzung der besagten Schrift bekanntlich behoben. Vgl.: Levy (2004), S. 271. Drews (2004), S. 118, Hervorhebung im Original. Schwartz (2004), S. 203.

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attackierte.122 Die Schrift wurde so von Einigen als das genaue Gegenteil dessen gedeutet, was sie eigentlich sein sollte. Um Maimonides und sein schriftliches Schaffen entbrannten einige große Kontroversen und zwar auf jüdischer wie auf christlicher Seite, so kam es zu Bann (jüdisch) und Buchverbrennungen (christlich).123 Eine weitere These dazu, weshalb Maimonides den Weg der Verschlüsselung wählte, findet sich knapp zusammengefasst bei Ivry.124 Er geht davon aus, dass sich dies durch zwei Elemente erklären lässt: Einerseits spielen die Erfahrungen in Maimonides’ eigenem Leben eine nicht zu unterschätzende Rolle. So war er an die Unterscheidung von esoterisch und exoterisch bereits dadurch „gewohnt“, dass er während eines begrenzten Abschnitts seines Lebens sein Judentum im Verborgenen unter dem Deckmantel des Islam leben musste.125 Genau dies verband ihn aber, zusammen mit seinem Interesse für die Philosophie und der Suche nach Weisheit, mit dem Adressaten seines mn.126 Noch wichtiger aber sollte eine andere Erfahrung in seinem Leben werden: Ausgerechnet sein Mishnah-Kommentar rief viele Kritiker auf das Feld. Es wurde als überheblich angesehen, dass Maimonides sich dazu berechtigt fühlte, das jüdische Gesetzeskorpus neu zu organisieren und seine eigenen Interpretationen zu essentiellen Lehren abzugeben.127 Die Erfahrung dieser Kritik lehrte ihn, so Ivry, vorsichtig zu sein mit dem, was er schrieb, da seine Gegner nur darauf warten würden, dass er sich philosophisch zu weit vorwagen würde.128 Diese persönlichen Erlebnisse stellen gemäß Ivry zwar eine Erklärung für die Flucht auf die esoterische Ebene dar, jedoch alleine für sich genommen sei es keineswegs eine hinreichende Begründung für diesen Schritt. Denn diesem Lebensbezug fehlt die theologische Berechtigung, die ein solches Vorgehen, das zunächst und zuallererst als Laster gilt, erst zu einer Tugend macht.129 Genau diese glaubt Ivry allerdings im islamischen Kontext gefunden zu haben.130 Erst dieser Kontakt mit dem genannten Milieu stellt eine hinreichende Begründung dafür dar, dass Maimonides im mn den Weg der Unterscheidung von eso- und exoterischen Aussageinhalten beschreiten konnte. 122 123 124 125 126 127 128 129 130

Nach: Drews (2004), S. 118. Nach: Ebd., S. 122 und 128. Die Kontroversen um Maimonides sind knapp und bündig bei Drews nachzulesen: Ebd., insbes. S. 121–129. Siehe: Ivry (1986), insbes. S. 140–143. Nach: Ebd., S. 140f. Nach: Ebd., S. 141. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 142. Nach: Ebd.

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Doch nicht nur der esoterische Charakter des Werkes stellt den Leser bzw. die Leserin wie auch den Interpreten bzw. die Interpretin der Schrift bis heute vor Herausforderungen und Schwierigkeiten. Auch der Aufbau des Werkes bereitet Probleme, da es diesem an Ordnung und Struktur, aber auch an Konsistenz, also innerem Zusammenhalt der angesprochenen Themen, zu mangeln scheint.131 Doch hatte Maimonides, wie er selbst in der Einleitung zum mn132 schreibt und worauf auch Pines eigens hinweist,133 gute Gründe für diese in der Schrift herrschende Schein-Unordnung134. Keinesfalls darf aus der ungeordneten Struktur daher geschlossen werden, dass Maimonides „had lost his gift for lucid exposition.“135 Ein weiterer erschwerender Grund zum Verständnis der Aussageinhalte besteht darin, dass der mn nicht frei von Widersprüchen ist, woraus schwerer ersichtlich wird, welche Position Maimonides denn nun eigentlich vertritt. Doch muss vor Augen geführt werden, dass diese Widersprüche nicht zufällig sind und nicht von ungefähr herrühren, sondern in der Absicht des Verfassers liegen und bewusst auftauchen.136 Maimonides zählt in seiner Einleitung zum mn insgesamt sieben Gründe für Widersprüche auf, wobei der siebte dem Anliegen Maimonides’ entspricht, Inhalte nur der gebildeten Elite zu vermitteln, ohne dass die breite Masse dieselben wahrnimmt – also dem gemeinhin für die Unterscheidung in eso- und exoterisch verantwortlichen (bwz. dialektischen) Anliegen.137 131 132

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Nach: Strauss (2013), S. 495. „Daher wirst du von mir nur die Hauptsachen fordern dürfen, und auch diese sind in dem vorliegenden Werke nicht geordnet und nicht in logischer Folge gegeben, sondern zerstreut und mit anderen Gegenständen, die ich zu erklären wünschte, vermengt, weil es meine Absicht war, dass die Wahrheit zwar durch diese Erläuterungen sichtbar werde, sich dann aber wieder der allgemeinen Kenntnis entziehe. Ich wollte nicht in ungeziemender Weise der Absicht Gottes zuwiderhandeln, die es so eingerichtet hat, dass die Wahrheiten, die sich insbesondere auf die Erkenntnis Gottes beziehen, der großen Menge vorenthalten bleiben“ (mn i, Einleitung.) Grund für diese scheinbare Unordnung und Strukturlosigkeit ist also wiederum Maimonides’ doppelter Zugang von eso- und exoterisch bzw. der unterschiedlichen Leserschaft, zum einen der ideale, gebildete Leser, zum anderen die große, unwissende Masse. Vgl.: Pines (1974), S. lvii. Diese gerade auch im Vergleich zu seiner Mishneh Thorah herrschende Unstrukturiertheit ist gemäß Davidson auch mit den Lebensumständen Maimonides’ zur Zeit der Abfassung des mn zu begründen, da er – gerade auch, weil er nun alleine für den Lebensunterhalt der gesamten Familie aufkommen musste – nicht die nötige Zeit fand, sich voll und ganz in das Werk zu vertiefen, alles andere außen vor zu lassen und seine Gedanken zu sammeln und klar zu strukturieren. (Nach: Davidson, H. (2005), S. 322.) Pines (1974), S. lvii. Nach: Strauss (2013), S. 509. Nach: Cohen (2011), S. 4.

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Klein-Braslavy streicht weiter heraus, dass sich Maimonides auch Rätseln bedient, wobei es zwei Arten von Rätseln zu unterscheiden gelte: 1. Rätsel, zu deren Verständnis und Lösung man lediglich Köpfchen und Intelligenz benötigt und 2. solche, welche der Leserschaft doch ein gewisses Maß an spezifischem Wissen, das diese bereits besitzt, also ein gewisses Vorwissen, abverlangen.138 Zur zweiten Gruppe von Rätseln, welche an den idealen Leser des mn gerichtet sind, der die verborgenen Inhalte aufzuspüren vermag und in aristotelischer Philosophie geschult ist, zählt Klein-Braslavy „interpretative riddles“139. Nebst philosophischen Kenntnissen setzen diese auch Hebräischkenntnisse voraus.140 Als Beispiel für ein solches Rätsel kann auf die Gleichsetzung von Adam und Eva mit den aristotelischen Prinzipien Form und Materie hingewiesen werden. Adam und Eva sind männlich und weiblich, sie sind zwei und zugleich nur eines, sie bilden eine Zwei-Einheit.141 Dieses Bild ist als Allegorie einer philosophischen Position zu verstehen oder in anderen Worten als exoterische Bedeutung, deren esoterische (philosophische) Bedeutung gefunden werden muss. In der Philosophie des Aristoteles entspricht diese Zwei-Einheit jener der beiden Prinzipien Form und Materie.142 Damit ist noch nicht der letzte Schritt des Rätsels erreicht, sondern es gilt zu beachten, dass der Midrash143 explizit vom ersten Menschen spricht, weswegen hier nicht einfach Form und Materie als allgemeine physikalische Prinzipien gemeint sein können, sondern vielmehr Form und Materie des ersten Menschen.144 Und aus diesem Grunde kann der in aristotelischer Philosophie kundige, aber auch biblisch sensible Leser das gestellte Rätsel dahingehend lösen, dass er in der Gleichung Adam und Eva mit männlich und weiblich, in einem weiteren philosophischen Schritt mit Form und Materie gleichsetzt und zu guter Letzt erkennt, dass diese zusammen die Substanz Mensch bilden.145 Erst mit diesem Schritt ist die Allegorie in ihrem vollen Bedeutungsspektrum und ihrer ganzen Tiefe erfasst. Ein weiteres solches Rätsel wird uns im Zusammenhang mit Hiob und dem Trieb zum Bösen begegnen. Für diese Art von Rätseln bedient sich Maimonides unterschiedlichen Quellen, indem er biblische Texte mit solchen aus der Midrash-Literatur und eigenen Hinweisen mischt.146 138 139 140 141 142 143 144 145 146

Nach: Klein-Braslavy (2011,1), S. 147. Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 148. Nach: Ebd., S. 149. Hinsichtlich eines einführenden Überblickes über die Midrash-Literatur sei verwiesen auf: Stemberger (2011), S. 257–397. Nach: Klein-Braslavy (2011,1), S. 150. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 160.

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Nachdem nun also die Methodik sowie die sich daraus ergebenden Charakteristika der Schrift geklärt sind, gilt es, sich den Aufbau derselben vor Augen zu führen und der Frage nachzugehen, welche Sprache Maimonides in diesem Werk verwendet. 3.2.3 Aufbau und Sprache des mn Das Werk selbst gliedert sich in drei Teile, wobei für die gegebene Fragestellung insbesondere das dritte Buch von Interesse ist. Strauss legt eine (thematisch-inhaltlich) detailliertere Gliederung des mn vor: Wie er aufzeigt, lässt sich das vom Rambam in drei Bücher gegliederte Werk in zwei große Sequenzen (1.: Views, der wesentlich größere Teil, welcher das gesamte erste sowie zweite Buch umfasst und bis in die Mitte des dritten Buches reicht; 2.: Actions) aufteilen, die ihrerseits große Themenkreise beinhalten, welche sich insgesamt in sieben Großthemenkreise (1.: Biblical terms applied to God; 2. Demonstrations of the existence, unity, and incorporeality of God; 3.: Prophecy; 4.: The account of the Chariot; 5.: Providence; 6.: The actions commanded by God and done by God; 7.: Man’s perfection and God’s providence) unterteilen lassen und ebenfalls aus mehreren Untersektionen (abgesehen vom vierten sowie vom siebten Themenkreis beinhaltet jeder Themenkreis sieben Untersektionen, doch auch im vierten Themenkreis findet sich die Zahl 7 wieder, wie Strauss aufzeigt, indem dieser zwar über keine Untersektionen verfügt, dafür aber insgesamt sieben Kapitel umfasst) gebildet werden.147 Innerhalb des dritten Buches konzentriert sich die Betrachtung auf die Kapitel 8–24 sowie 51–54, welche Problemen der Themenkreise Theodizee und Vorhersehung gewidmet sind.148 Insbesondere die Kapitel 10–12 sind von zentraler Bedeutung für die Frage nach der Herkunft des Bösen. Doch zeigt bereits dieser Blick in die Anzahl Kapitel, in welchen sich Maimonides in erster Linie mit dem hier gestellten Thema befasst, deutlich auf, dass es sich hierbei für Maimonides keinesfalls um das Hauptanliegen seiner Auseinandersetzungen handeln kann. Die zentrale Frage für den Rambam innerhalb seines Werks mn ist aber ebenfalls eine metaphysische: die Beschäftigung mit dem Ursprung der Welt.149 147

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Nach: Strauss (2013), S. 493–495. So scheint die Zahl 7 durch diesen Strukturaufweis für Strauss im Werke des Maimonides von besonderer – wenn auch bisher noch unergründeter – Bedeutung zu sein. (Vgl.: McCallum (2007), S. 15.) Einzig die siebte Sektion weist keine Verbindung zur Zahl 7 auf, außer dass es sich hierbei um die siebte Sektion handelt, besteht diese siebte Gruppe doch nur aus zwei Untersektionen und beinhaltet die Kap. 51–54 im dritten Buch des mn, also vier Kapitel. Vgl.: Rudavsky (2010), S. 11. .263 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫לפי‬

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Soweit die einführenden Bemerkungen zum Werk selbst. Genauer soll hier nicht mehr darauf eingegangen werden, wenngleich dies auch bedeutet, dass wichtige Aspekte außen vor gelassen werden. So wird beispielsweise auf die Unterscheidung von Ma’aseh beReshith (‫מעשה בראשית‬, Tat/ Erzählung/Bericht des Anfangs, also des Anfangs der Bibel und damit der Schöpfung der Welt) und Ma’aseh Merkavah150 (‫מעשה מרכבה‬, Tat/Bericht/ Erzählung der Thronwagen151) nicht weiter eingegangen.152 Auch die für den mn so wichtige Thematik des Aufweises der Unkörperlichkeit Gottes153 wird außer Acht gelassen.154 Ebenso werden die arabischen Philosophen und 150 151 152

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Eine kurze Abhandlung hierzu kann nachgelesen werden bei Davies, D. (2011), S. 106–154. Ma’aseh beReshith wird dort aber nicht thematisiert. Der Terminus ist der Thronwagenvision im Buch Ezechiel entnommen. Gemäß Strauss handelt es sich bei dieser Unterscheidung sowie bei der Behandlung derselben gar um das wichtigste Geheimnis der Thorah, des Gesetzes. (Nach: Strauss (2013), S. 496.) Dabei nimmt Maimonides eine Gleichsetzung der beiden Elemente mit Naturwissenschaft (Ma’aseh beReshit) und Theologie (Ma’aseh Merkavah) vor. (Nach: Ebd., S. 499.) Wie Davidson heraussstreicht, bilden diese zwei Komplexe den Höhepunkt des exegetischen Stranges des mn. (Nach: Davidson, H. (2005), S. 340.) Genau bei dieser Identifikation handelt es sich nach Strauss aber um das Geheimnis des mn. (Nach: Strauss (2013), S. 499.) Wie Kaplan aufweist, tangieren diese beiden Themenkomplexe auch das Phänomen des Esoterismus im mn, da dieser nicht auf beide Bereiche gleichermaßen anzuwenden sei – was ein Großteil der Forschung allerdings täte –, sondern dass auch mit Blick auf den esoterischen Zugang zwischen Ma’aseh beReshith und Ma’aseh Merkavah unterschieden werden müsse. (.(‫ קפלן )תשס"ט‬:‫)לפי‬ Wohl hat Maimonides, der hierin wohl von den Almohaden beeinflusst war, sich nicht als erster Jude Gedanken zu dieser Thematik gemacht, doch nie zuvor wurde es auf so revolutionäre Weise und für den Glauben sowie das damit verbundene Heil der Gläubigen als so zentrales und unverzichtbares Element herausgearbeitet. (Nach: Strousma (2005), S. 263.) Maimonides’ Verhältnis bzw. Nähe zu almohadischen Lehren kann beispielsweise bei Strousma vertieft nachgelesen werden: Strousma (2012), insbes. S. 53–83. Dabei erachtete Maimonides eine körperliche Vorstellung von Gott als noch schwerwiegender als die bildliche Darstellung Gottes in Form von Statuen: „A worshipper who envisions God as a merciful grandfather seated on a throne is worse than one who worships statues. A  person worshipping a statue may see the statue as nothing more than a symbolic representation of the exalted God, but a worshipper of God who imagines Him as a human body internalizes the statue and the image into his own consciousness.“ (Halbertal (2014), S. 2.) Kurze Erwähnung finden soll aber Maimonides’ Umgang mit den zehn Geboten, respektive insbesondere mit der Frage danach, welches denn nun als das erste Gebot anzusehen ist. Diese sehr interessante Darstellung findet sich in mn ii, 33. Die Argumentation stützt sich auf eine Talmudstelle (bT Makkot 23b–24a), in welcher Rabbi Simlai die Ansicht vertritt, dass die beiden Verse 2 und 3 des 20. Kapitels des Buches Exodus als

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SYSTEMATISCHER ZUGANG die ersten beiden der zehn Gebote zu betrachten seien. Denn das Wort Thorah (‫)תורה‬ entspricht gemäß jüdischer Zählweise, der gemäß jedem Buchstaben des Alphabets ein Zahlenwert zugeordnet ist, dem Zahlenwert 611 (;11=‫ה‬+‫; ו‬5=‫; ה‬6=‫; ו‬600=‫ר‬+‫; ת‬200=‫; ר‬400=‫ת‬ 611=‫ה‬+‫ו‬+‫ר‬+‫)ת‬. (.‫נד‬-‫ עמ' נג‬,‫ מצוות עשה‬,‫ ספר המצוות‬:‫ )ראה‬Wenn es also heißt, dass Moshe dem Volk die Gebote gegeben (befohlen) hat (Dtn 33,4; ‫ )תורה ציווה לנו משה‬und das Wort Thorah seinem Zahlenwert nach gedeutet wird, so folgt daraus, dass Moshe das Volk 611 Weisungen gelehrt hat, fehlen also noch zwei für die volle Zahl an Ge- und Verboten, die gemeinhin als 613 gezählt werden. Die fehlenden zwei Gebote nun sind in Ex 20,2f. zu finden: Existenz und Einheit Gottes bilden die zwei ersten und gleichsam wichtigsten Gebote, (.‫נד‬-‫ עמ' נג‬,‫ מצוות עשה‬,‫ ספר המצוות‬:‫ )לפי‬die dem Volk nicht durch Moshe vermittelt, sondern direkt von Gott gegeben worden sind, was die andere Formulierweise der Verse 2 (‫ )אנוכי יהוה אלוהיך‬und 3 (‫ )לא יהיה לך‬erklärt: Im Unterschied zu den übrigen Geboten, in denen über Gott in der 3. Person gesprochen wird, ist es hier Gott selbst, der in der 1. Person zu Wort kommt. Obwohl also Ex 20,2 weder als Ge- noch als Verbot formuliert ist, handelt es sich hierbei um das erste Gebot, welches Gottes Existenz thematisiert. Die Begründung, die er für diese direkte Vermittlung durch Gott liefert, ist äußerst interessant: Bei den beiden Grundpfeilern Existenz und Einheit Gottes handelt es sich um mittels der menschlichen Vernunft erreichbare Erkenntnisse, sie bedürfen nicht der Offenbarung und Vermittlung durch Propheten, sondern jeder Mensch kann sie selbst erlangen. (Nach: mn ii,33.) Dieser sehr interessanten Auslegung widerspricht etwa Chasdai Crescas, wenn er den Grundsatz festhält, dass Ge- und Verbote nicht über Abstraktes (wie den Glauben an Gott) ausgesagt, sondern nur über Konkretes wie Handlungen, auf die direkt Einfluss genommen werden kann, verhängt werden könnten, eine Ansicht, die von Abrabanel (1437–1508 (nach: Birnbaum (1989), S. 245.)) übernommen wird (.317 '‫ עמ‬,‫ פירוש התורה‬,‫ אברבנאל‬:‫ ;)ראה‬im Hinblick auf die Einteilung der zehn Gebote bedeutet dies, dass Ex 20,2 (Gebot, ‫ )אנוכי‬und Ex 20,3 (Verbot, ‫ )לא יהיה לך‬keine Ge- bzw. Verbote sein können. Sie stellen für Abrabanel vielmehr die Voraussetzung und den Vorspann für die dann folgenden Gebote dar, welche sich überhaupt erst aus dem Glauben an die Existenz und die Einheit Gottes ergeben. (.317–319 '‫ עמ‬,‫ פירוש התורה‬,‫ אברבנאל‬:‫)לפי‬ Da sich Ge- und Verbote nur auf Konkretes bzw. auf Handlungen beziehen können, identifiziert Abrabanel die beiden ersten Verbote mit den Versen 4 (‫ )לא תעשה לך‬und 5 (‫( )לא תשתחווה להם ולא תעבדם‬.317–318 '‫ עמ‬,‫ פירוש התורה‬,‫ אברבנאל‬:‫)לפי‬. Die oben angeführte Stelle aus dem babylonischen Talmud (bT), welche die Anzahl der Gebote auf 613 festsetzt (wobei auch hier keine Liste anzutreffen ist), ist alles andere als selbstverständlich: Die genannte Zahl findet sich weder in der Mishnah des Jehuda haNassi aus dem 2. Jh. noch im Jerusalemer Talmud (jT). (Nach: Davidson, H. (2005), S. 169.) Jehuda haNassi hat dabei ältere Überlieferungen von Rabbi Akkiva sowie Rabbi Me’ir gesammelt und herausgegeben. (Nach: Freedman (2014), S. 26.) Um einen einführenden Überblick in den Talmud zu erhalten, sei verwiesen auf: Freedman (2014); Stemberger (2008), insbes. S. 40–69; ders. (2011), S. 183–256; Zinvirt (2009), insbes. S. 35–71. Auffällig ist der außergewöhnliche Charakter des Talmud: „The Talmud was not written as a book, the people whose discussions it preserves had no idea that someone would come along generations later and edit them into a coherent book. A characteristic Talmudic discussion contains the opinions of people, who may have lived centuries apart, woven together to sound as if they are having an actual conversation.“ (Freedman (2014), S. 2.) Es handelt sich beim

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Aristoteles-Kommentatoren Ibn Rushd155 (Averroës), Ibn Bājja156 (Avempace), al-Fārābī157 und Ibn Sīnā158 (Avicenna; dieser zwar in geringerem Maße und mit Vorbehalt159), welche von großer Bedeutung für Maimonides waren und durch die die aristotelischen Werke vermittelt wurden, nicht weiter erwähnt.160

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Talmud also um eine Diskussionensammlung bzw. die Zusammenstellung fiktiver Dialoge. Dabei sind auch die Erklärungen der mittelalterlichen Tosafisten so um den eigentlichen Talmudtext herum angeordnet, dass sie ebenfalls mit ihm in Diskurs treten. (Vgl.: Shear-Yashuv (2004), S. 337.) Bei diesem zeitlich ungebundenen Dialog handelt es sich also – mit neuscholastischer Begrifflichkeit – um eine philosophia perennis, „das Gespräch der wenigen großen Philosophen über die Zeiten und Orte hinweg“ (Ebd.). Zur philosophia perennis siehe: Schneider, H. (1989), Sp. 898. Dieses Phänomen eines Diskurses über die Grenzen von Ort und Zeit hinweg wird auch in der Methodik des Thomas von Aquin auffallen: Denn auch er lässt die Positionen der unterschiedlichsten Persönlichkeiten nebeneinander auftauchen und diskutiert sodann noch selbst mit, indem er Position für die richtige Antwort bezieht und diese an den anderen Positionen abhandelt und aufweist, wie diese zu verstehen sind, um sie mit der richtigen Antwort in Einklang bringen zu können. So ist es ihm möglich, dass Aristoteles und Augustinus zugleich ihre Position darlegen und er selbst schließlich ebenfalls mit den beiden ins Gespräch tritt. Zu Averroës s.: Giovanni (2012), S. 116–122. Wie Pines festhält, war Ibn Bājja (auch Ibn Badja) der Gründer der aristotelischen Schule im muslimischen Spanien. (Nach: Pines (1974), S. lxxxi.) Maimonides bezeichnet ihn in mn ii,9 als exzellenten Philosophen. Zu Ibn Bājja s.: Giovanni (2012), S. 109–111. Wie Pines herausstreicht, war insbes. al-Fārābī – natürlich nach dem großen Aristoteles – die philosophische Bezugsgröße für Maimonides. (Nach: Pines (1974), S. lxxviii.) Maimonides zog al-Fārābī denn auch allen anderen arabischen Philosophen vor. (.15 '‫ עמ‬,(2009) ‫פינס‬: ‫ )לפי‬Nebst dem hier erwähnten Aufsatz finden sich Ausführungen zu al-Fārābīs Einfluss auf sowie Maimonides’ Umgang mit demselben in seinem mn u.a. bei Daiber (2005). Zu Maimonides’ Verhältnis zu Ibn Sīnā finden sich viele Bücher sowie Aufsätze. Hier soll lediglich auf einen interessanten Aufsatz hingewiesen werden, welcher sich diesbezüglich mit einer weniger bedachten Thematik befasst: der Frage danach, ob die Schriften und das Denken Ibn Sīnās Maimonides direkt aus erster Hand oder durch Vermittlung bekannt waren: Zonta (2005). Zu Ibn Sīnā allgemein s.: Germann (2012). Nach: Ivry (1986), S. 147 sowie Hyman (1986), S. 159. Dieser Vorbehalt Maimonides’ gegenüber dem Aristoteliker Ibn Sīnā stellt eine Besonderheit dar: „Avicenna (d.[ied] 1036) is the only eminent philosopher considered as belonging to the Aristotelian school with regard to whom Maimonides, in his letter to Ibn Tibbon, expresses some reservations and even some distrust.“ (Pines (1974), S. xciii.) Die genannten Aristoteles-Kommentatoren gehören zur in der arabischen Welt Falsafa genannten Strömung bzw. Denkrichtung. (Nach: Halbertal (2014), S. 21.) Damit ist auch Maimonides’ Denken in dieser Strömung anzusiedeln. Ibn Rushd (1126–1198) stammte sogar wie Maimonides ebenfalls aus Cordoba und war einer seiner Zeitgenossen. Die Nähe zwischen den beiden Denkern mit Blick auf die Philosophie lässt vermuten, dass

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Maimonides war von der aristotelischen Philosophie sehr angetan, wenngleich auch manche Schilderungen eine Nähe zu Platon bzw. zum Neuplatonismus vermuten lassen.161 Dennoch war es insbesondere die aristotelische Philosophie bzw. deren arabische mittelalterliche Vermittlung, die ihn interessierte und sein Denken prägte.162 Stroumsa bezeichnet den Aristotelismus im mn denn auch als „Neoplatonized Aristotelianism“163.

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sie derselben philosophischen Strömung angehörten und in der Maimonides folglich in seiner Jugend, als er noch in Cordoba lebte, unterrichtet wurde. (Nach: Ebd., S. 22.) Doch nicht nur zu Ibn Rushd kann eine biographische Verbindungslinie zu Maimonides gezogen werden: In mn ii,9 (in al-Charizis Übersetzung mn ii,10) erwähnt er einen Schüler des Ibn Bājja (dort nicht unter diesem Namen erwähnt, sondern als Abu Bekr Ibn al Zaig bzw. Abū Bakr Ibn al-Sa’igh (so auch z.B. in mn ii,24); al-Charizi erwähnt ihn nur als al Za’ig), mit dem zusammen er studiert hatte. Zu Maimonides’ Verhältnis zum Neuplatonismus s. insbes.: Ivry (1992). Wie Ivry herausstreicht, versuchte Maimonides zwar, den Neuplatonismus abzulehnen, doch gelang es ihm nicht ganz. (Nach: Ebd., S. 137.) Dabei zählt Ivry insbesondere den Emanationsgedanken sowie das Konzept des Einen auf, welche nicht nur von Maimonides verwendet wurden, sondern deren Aufnahme er mit anderen mittelalterlichen Arbeiten teilte, da diese Elemente in die grundlegenden Strukturen der Lehren des mittelalterlichen Aristotelismus eingeflochten worden seien – also für damalige Leser nicht mehr als eindeutig neuplatonisch erkennbar waren. (Nach: Ebd.) Wobei Ivry darauf aufmerksam macht, dass in weiten Teilen nicht anerkannt werde „that Maimonides’ Neoplatonism could be a serious departure from Aristotelian doctrine, adduced only because that doctrine proved inadequate for him.“ (Ebd.) So konnte Maimonides zwar mit neoplatonischem Gedankengut angereicherten Aristotelismus mit Bewunderung hin- und aufnehmen, reinen Neuplatonismus dagegen verachtete er. (Nach: Ivry (1986), S. 151.) Gemäß Goodman hat Maimonides den Neuplatonismus als kongruent mit den biblischen Aussagen herausgestellt. (Nach: Goodman (1992), S. 158.) Dagegen veranschlagt Idel für Maimonides einen Aristotelismus – eine Entwicklung, welche einen radikalen Umbruch am Ende des zwölften Jahrhunderts kennzeichnete, indem der früher vertretene Neuplatonismus etwa eines Abraham Ibn Ezra seine Dominanz zugunsten des Aristotelismus, wie etwa bei Maimonides zurückgedrängt wurde – auf der einen und verweist auf der anderen Seite auf die gleichzeitige Entwicklung der Kabbalah in der Provence, welche den maimonidischen Aristotelismus als religiös suspekt ansah und dagegen platonische Elemente forcierte, welche als mit der jüdischen Frömmigkeit in Einklang erachtet wurden. (Nach: Idel (1992), S. 319–321.) Diese frühe Kabbalah zeichnete sich durch ein gemischtes System aus neuplatonischen Konzepten, Symbolik sowie mystischen und mythischen Spekulationen aus. (Nach: Ebd., S. 320.) Für den Umgang mit Maimonides ergibt sich ein interessantes Bild: „The early Kabbalists welcomed ideas explicitly rejected by Maimonides, but even exploited the Guide itself to lend credence to a Platonic view actively combatted by Maimonides.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) Vgl.: Ivry (1986), S. 151. Stroumsa (2012), S. 17.

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Wie bereits erwähnt, verfasste Maimonides den mn auf Arabisch mit hebräischen Lettern, dem sogenannten Judäo-Arabisch, wobei es hierbei zu einer interessanten Mischung aus arabischen und hebräischen bzw. aramäischen Begriffen kam: Neue Begriffe, die Maimonides mit arabischen Worten ausdrückte, standen direkt neben traditionellen, bereits vorhandenen Fachtermini, welche Maimonides dementsprechend aus dem Hebräischen bzw. dem Aramäischen übernahm.164 Dafür, dass er als Sprache zwar das Arabische wählte, als Schrift dagegen die hebräischen Lettern, gibt es einen einleuchtenden Grund: Denn wohl war (das spanische) Arabisch seine Muttersprache, doch war die erste Schrift, die er wie jeder andere jüdische Knabe lernte, weder die arabische noch die lateinische Schrift, sondern das hebräische Aleph-Beth. Daher waren ihm diese Buchstaben auch am Vertrautesten, egal wie gut er auch die arabische Schrift beherrschte.165 Nicht einmal im Traum wäre es ihm in den Sinn gekommen, für sein jüdisches Zielpublikum eine andere Schrift als die hebräische zu verwenden.166 Die meisten Schriften des Rambam wurden auf Judäo-Arabisch verfasst, nicht so die Mishneh Thorah (‫)משנה תורה‬, welche er im Mishnah-Hebräisch verfasste, womit sein Streben, dem Verfasser der Mishnah, Jehuda haNassi, zu folgen, angezeigt wird.167 Arabisch kam für Maimonides aber nicht nur aus dem Grunde als bevorzugte Abfassungsprache seiner Schriften infrage, weil sie damals die lingua franca im Lebenskontext des Maimonides war, sondern weil er selbst tief verwurzelt in diesem Kulturkreis war: So ist mit Tamer anzunehmen, „dass er sich seinem arabischsprachigen Umfeld verpflichtet fühlte. Er war ein Gelehrter, der nicht nur konsumierte, was ihm auf arabisch zugänglich war, sondern der auch arabische Schriften jüdischer Prägung schuf.“168 Die Verwendung der unterschiedlichen Sprachen besitzt bei Maimonides durchaus auch eine inhaltliche Komponente: Hebräisch war für ihn als Sprache des Glaubens reserviert, das Arabische dagegen stellte für ihn die Sprache des Wissens dar, denn als diese hatte er sie in seinen Studien kennengelernt, waren ihm doch griechische Philosophie und Medizin in arabischer Vermittlung und Übersetzung zugänglich.169 Da die Verfasserin des Arabischen allerdings leider nicht mächtig ist, muss auf Übersetzungen zurückgegriffen werden. Dies ist natürlich nicht der Idealfall, aber es 164 165 166 167 168 169

Nach: Cohen, M. (2011), S. xiv f. Nach: Hopkins (2005), S. 90. Wenngleich er auch – wie aus einigen Originalschriftzeugnissen hervorgeht – die arabische Schrift sehr gut beherrschte. (Nach: Ebd.) Nach: Ebd. Nach: Stroumsa (2012), S. 20. Tamer (2005,1), S. 5. Nach: Ebd.

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existieren sehr gute Übersetzungen und es wurde darauf geachtet, mit verschiedenen Übersetzungen zu arbeiten, um so auf Unterschiede und damit auf Schwierigkeiten im Text aufmerksam zu werden. Es werden die englische Übersetzung von Shlomo Pines,170 in seltenen Fällen auch jene von Friedländer, die französische von Munk, die hebräischen Übersetzungen von Ibn Tibbon und al-Charizi, die lateinische Druckversion von 1520, welche, wie erwähnt, auf die hebräische Übersetzung al-Charizis zurückgeht und somit jene Textvorlage wiedergibt, welche auch Thomas von Aquin vorgelegen haben mag, sowie die deutsche Übersetzung von Weiss zu Rate gezogen.171 170

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Folgt man Fox, so ist diese Übersetzung von Pines über alle anderen Übersetzungen in moderne Sprachen erhaben, selbst über jene Munks. (Nach: Fox (1990), S. 53f.) Kraemer betont, dass es durchaus unterschiedliche Fassungen gibt, die ursprüngliche Fassung von Maimonides nicht erhalten ist und der Text des mn alles andere als perfekt sei. (Nach: Kraemer, J. (2006), S. 351.) Doch war es gerade Pines Autorität – nebst der allgemeinen Zuverlässigkeit seiner Übersetzung, welche die Textfassung Munks, den textus receptus, zur allgemein akzeptierten Version werden ließ. (Nach: Ebd., S. 353.) Wie Kraemer festhält, differiert Ibn Tibbons Übersetzung nicht nur an einigen Stellen von der überlieferten arabischen Lesetradition, sondern scheint darüber hinaus sogar in den differierenden Teilen genauer und dem von Maimonides anvisierten Sinn näher zu kommen. (Siehe hierzu z.B.: „As opposed to the received Arabic text, Ibn Tibbon’s version fits the present context and does not clash with what Maimonides stated elsewhere.“ (Ebd., S. 355.)) Natürlich ist für die Genauigkeit der tibbonschen Übersetzung auch der direkte Austausch zwischen dem Übersetzer und dem Verfasser des mn verantwortlich. Mit Blick auf diese Korrespondenz ist denn auch das Problem der zahlreichen und fehlerhaften, nicht originalen arabischen Abschriften des mn erwähnt: „In many places where Maimonides objected to Samuel’s translation he acknowledged that the problem was the faulty text that Samuel had received. One cause of error was that scribes circulated copies of the Guide that were not adequately proofread. When early unexamined copies became public, it was virtually impossible to correct them, and faulty readings got into circulation.“ (Ebd., S. 360, Hervorhebung im Original.) Kraemer betont die Möglichkeit, dass evtl. niemals ein Original existierte: „The extant draft manuscripts of the Guide in Maimonides’ handwriting contain many additions and corrections. Unfortunately, we do not have Maimonides’ final redaction of the Guide, which would have been the prototype of exemplars and could have helped us in our quest. Miamoindes’ method of composition, writing chapters, then quires and codices over a five year period and correcting and revising as he progressed, with scribes copying parts and circulating them, raises the possibility that there may not have been an original. We would be justified in assuming, however, that Maimonides kept a working copy of his own which he continuously corrected.“ (Ebd., S. 374f., Hervorhebung im Original.) Zitiert wird, sofern nicht anderweitig vermerkt, nach der deutschen Übersetzung von Weiss. Die Zitation erfolgt nach folgendem Schema: Abkürzung des Titels der Schrift, danach folgt in lateinischen Zahlen das jeweilige Buch (insgesamt drei Teile) innerhalb

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Bleibt anzumerken, dass auch Maimonides selbst mit Quellen arbeitete, welche ihm nicht im Original, sondern lediglich in Übersetzung mittels arabischer Tradierung zugänglich waren: So ist mit Hopkins nicht anzunehmen, dass Maimonides, der sich zu weiten Teilen auf griechisch-hellenistische Schriften, dabei im Bereich der Philosophie172 insbesondere jene des Aristoteles (in der Medizin dagegen Galen), bezieht, kein Griechisch konnte, sondern sie lediglich durch arabische Übersetzungen bzw. in ihrer arabischen Vermittlung durch die großen mittelalterlichen Aristoteleskommentatoren kannte.173 Nach diesen grundsätzlichen Bemerkungen zum mn sowie den zu Rate gezogenen Übersetzungen soll nun endlich dem eigentlichen Thema dieser Arbeit nachgegangen und aufgezeigt werden, wie Maimonides das Böse sowie dessen Herkunft im mn thematisiert. 3.3

Die Ausführungen zum Bösen im mn

Im mn befasst sich Maimonides mit unterschiedlichen Aspekten des Bösen. So setzt er sich nicht nur mit den unterschiedlichen Formen sowie der Herkunft des Bösen auseinander, sondern er geht auch dem Problem der göttlichen Vorsehung anhand des Beispiels des biblischen Buches Hiob nach. Die Erscheinungsformen des Bösen weiß er in unterschiedliche Kategorien zu unterteilen, um so der Wirklichkeitserfahrung näher zu kommen. Entsprechend diesen

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der Schrift, in welchem sich das Zitat findet, anschließend folgt nach einem Komma in arabischen Zahlen das Kapitel. Um Klarheit zu schaffen hier ein Beispiel: mn iii,10. Die erwähnte Stelle bezieht sich also auf das zehnte Kapitel im dritten Buch des Führer der Verwirrten. Wie Davies festhält, wird das Werk Moreh Newuchim und damit auch sein Verfasser Maimonides als Höhepunkt mittelalterlich-jüdischer aristotelischer Philosophie gehandelt. (Nach: Davies, D. (2011), S. 1.) Nach: Hopkins (2005), S. 87f. Der Frage, ob Maimonides Aristoteles direkt kannte, geht beispielsweise Davidson intensiv nach und hält fest, dass für den mn einige aristotelische Werke direkt erwähnt werden, darunter die Nikomachische Ethik sowie die Physik; andere Verweise, an denen Maimonides zwar Aristoteles anführt, nicht aber das Werk, aus dem er zitiert, sind vermutlich nicht direkt aus Aristoteles’ Werken entnommen, sondern stammen indirekt aus einer Zitation Aristoteles’ in al-Fārābīs Werk. (Nach: Davidson, H. (2005), S. 99f.) Eine Ausnahme bildet gemäß Davidson die Metaphysik des Aristoteles, denn hier erwähnt Maimonides dieses Werk zwar einige Male im mn, doch – so Davidson – stammten die darauf folgenden Ausführungen keineswegs aus besagtem Werk, sondern sind Ibn Sīnā entnommen. (Nach: Ebd., S. 102.) Eine Zusammenstellung der philosophischen Kenntnisse bzw. der Autoren, welche Maimonides bekannt waren, findet sich ebd., S. 90–117.

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unterschiedlichen Herangehensweisen des Maimonides in seiner Auseinandersetzung mit der Thematik des Phänomens des Bösen soll auch in der Folge nebst den Erscheinungsweisen des Bösen auch die Theodizee behandelt werden. Dabei wird mit der Theodizee begonnen. Erst im Anschluss daran werden die unterschiedlichen Formen des Bösen thematisiert. 3.3.1 Das Problem der Theodizee im mn Die Problematik der Theodizee wird an mehreren Stellen im mn behandelt.174 Maimonides hält dabei eines vorweg unmissverständlich fest: Gott ist absolut gerecht.175 Dieser Gedanke bestimmt die ganzen weiteren Ausführungen und begründet auch Maimonides’ Verständnis des Bösen, das ein Mensch erleiden muss: Der Mensch hat das Böse, das ihm widerfährt „completely deserved.“176 Nimmt Maimonides damit die Position des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ein? Diese Frage wird im Rahmen der Auseinandersetzung mit Hiob eine Antwort finden. Wie Reines aber festhält, liefert Maimonides keine systematisch durchstrukturierte Behandlung der Thematik, welche sich leicht an einer Stelle zusammengetragen finden ließe; vielmehr sind Aussagen und Gedanken zu derselben im gesamten mn verstreut zu finden und müssen so zuerst zusammengetragen werden, um dadurch anschließend zu einer systematischen und vollständigen Sichtweise seiner Überlegungen und seines Verständnisses der Theodizee zu gelangen.177 Wie Maimonides herausstreicht, ist der Grund der Beschäftigung mit der Frage nach der Allwissenheit Gottes darin zu suchen, dass die vorgefundenen Verhältnisse in der Welt eben gerade nicht unserem Bild und unserer Vorstellung diesbezüglich entsprechen: Die Zustände scheinen ungeordnet zu sein, wenn man sieht, dass es oftmals gerade den guten Menschen schlecht, den schlechten dagegen gut ergeht.178 Für Maimonides steht fest, dass es im Einklang mit dem Gesetz des Moshe unzulässig ist, zu sagen, Gott sei ungerecht.179 Sowohl das Gute, das einem Menschen zuteilwird, als auch das Leid, welches ihm widerfährt, erfolgt aufgrund eines der Gerechtigkeit Gottes entsprechenden gerechten Urteils.180 So hält Maimonides fest, dass dem jüdischen Glauben gemäß Gott „niemand [sic!, v.v.] bestraft, als den Schuldigen und den, 174 175 176 177 178 179 180

Nach: Reines (1972), S. 169. Nach: mn iii,17; vgl.: Reines (1972), S. 169. Reines (1972), S. 169. Nach: Ebd., S. 170. Nach: mn iii,16, insbes. S. 89f., vgl. hierzu auch die Erfahrungen in den Psalmen. Nach: mn iii,17. Nach: mn iii,17.

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dem Strafe gebührt.“181 Damit sieht man sich aber genau mit dem Problem der Theodizee konfrontiert, denn in der Realität erkennen wir immer wieder, dass die tatsächlichen Zustände sich als komplizierter und dieser einfachen Logik auch oftmals widersprechend erweisen. Das eindrücklichste biblische Zeugnis für dieses Problem findet seinen Ausdruck in der Gestalt des Hiob, des Inbegriffs des unschuldig leidenden Gerechten.182 So setzt sich Maimonides in seinem Führer der Unschlüssigen gerade auch mit dieser biblischen Figur auseinander. 3.3.1.1 Maimonides’ Hiobinterpretation Gleich zu Beginn hält Maimonides fest, dass die Frage nach der Historizität des Hiob, welche immer wieder kontrovers behandelt wurde, letztlich unerheblich sei: Die Wahrheit der theologischen Aussage, welche anhand der Erzählung gemacht werden will, steht und fällt nicht mit der Beantwortung der Frage, ob Hiob tatsächlich gelebt hat und damit eine historische oder lediglich eine literarische Figur ist. Mit Einem [sic!, v.v.] Worte, ob er nun existiert hat oder nicht, alle denkenden Menschen werden durch ähnliche Verhältnisse wie die Ijobs, die immer vorkommen, in Ratlosigkeit versetzt, so dass man von dem Wissen Gottes und seiner Vorsehung das sagt, was ich bereits angeführt habe, nämlich dass es vorkomme, dass ‚den untadeligen, vollkommenen und in seiner Handlungsweise rechtschaffenen Menschen, der sich überaus vor der Sünde scheut’, schwere, unverhoffte und ununterbrochen aufeinander folgende Übel treffen und zwar hinsichtlich seines Vermögens, seiner Kinder und seines Leibes, und dies ohne sein Verschulden, durch welches er diesen Zustand selbst verursacht hätte.183 Maimonides selbst aber scheint die Linie zu vertreten, dass Hiob keine historische Person war. Hierfür spreche unter anderem, dass keine genauen Angaben zu Ort und Zeit gemacht werden, die Hiobs Existenz greif- und in die Geschichte einordbar machten.184 Wie der Rambam festhält, handelt es sich seiner Ansicht nach bei der Erzählung über Hiob um eine Parabel, welche 181 182 183

184

mn iii,17. Hiob wird sogar von einigen Autoren geradezu als biblischer Führer der Verwirrten bezeichnet. (.84 '‫ עמ‬,(‫ )תשס"ג‬,‫ ישפה‬:‫)למשל‬ mn iii,22. So setzt sich Maimonides mit der jüdischen Tradition hinsichtlich der Providenz anhand des Buches Hiob insbesondere mit der Frage nach Lohn und Strafe sowie dem Leiden des Gerechten auseinander. (Nach: Dobbs-Weinstein (1987), S. 89.) Nach: mn iii,22.

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die unterschiedlichen Ansichten zur Thematik der göttlichen Vorsehung zum Ausdruck bringt.185 In Bezug auf das Buch Hiob unterscheidet Maimonides zwischen einem wörtlichen (exoterischen) Sinn der Schrift und einem figurativen (esoterischen).186 Die beschriebene Form des Vorsehungsverständnisses bei Maimonides findet sich im Buch Hiob im Rahmen des esoterischen Sinnes bzw. der esoterischen Bedeutung der Parabel – wie das Buch Hiob von Maimonides qualifiziert wird – wieder.187 Denn obwohl Hiob als der Inbegriff eines rechtschaffenen, guten und gläubigen Menschen geschildert wird, erleidet er alle nur vorstellbaren Übel, kein Leid geht an ihm und den Seinen vorüber. Darin, so bezeugt Maimonides, wird die Ordnung des menschlichen Leidempfindens und der Fähigkeit des Erduldens desselben geschildert: Denn manche Menschen werden durch den Verlust ihres Vermögens nicht erschüttert, sie kehren sich nicht daran und achten ihn gering, aber das Hinsterben ihrer Kinder macht ihnen bange, so dass der Kummer um diese sie tötet. Es gibt aber auch andere, die sogar auch den Verlust ihrer Kinder ertragen und nicht erschüttert und nicht schwach werden, allein körperliche Leiden zu ertragen ist der Empfindende unvermögend.188 Weiter schildert er auch, welche Auswirkungen diese Leiderfahrungen auf den Menschen haben, denn in nicht zu geringem Ausmasse führen sie zum Glaubensabfall. Jeder hat dabei in der einen oder anderen Form des Leidens seine Grenze: Kommen aber die bei Ijob erwähnten Bedrängnisse über sie, so werden manche schon beim Verluste ihrer Habe Gottesleugner und glauben, dass es in dem ganzen Seienden an einer vernünftigen Ordnung fehle; andere werden selbst bei dem Kummer über den Verlust ihrer Güter bei dem Glauben an die Gerechtigkeit und an die Weltordnung beharren, werden es aber nicht ertragen, wenn sie mit dem Verlust ihrer Kinder heimgesucht werden; und noch andere werden auch dieses ertragen und selbst beim Verluste der Kinder in ihrem Glauben nicht irre werden, aber bei den körperlichen Leiden wird es kein einziger von ihnen aushalten, sie werden vielmehr murren und entweder laut oder im stillen [sic!, v.v.] über Ungerechtigkeit klagen.189 185 186 187 188 189

Nach: mn iii,22. Nach: Reines (1972), S. 194. Nach: Ebd. mn iii,22. mn iii,22.

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Bevor Maimonides’ Sichtweise der Providenz behandelt wird, soll seine HiobInterpretation vorgestellt werden, welche aufs Engste mit Maimonides’ Providenzverständnis zusammenhängt, sieht er doch in dieser Erzählung die Problematik der Providenzvorstellungen abgebildet.190 Maimonides behandelt die Geschichte des Hiob in zwei Kapiteln: Kapitel 22 und 23 des dritten Buches des mn.191 Besonders interessant sind die Ausführungen des Rambam zur Person des Satan.192 Bei seinem ersten Auftreten betont Maimonides, dass die Art und Weise, wie dieser Auftritt geschildert wird, darauf hinweise, dass Satan weder zu den Gottessöhnen gehöre, mit denen zusammen er vor Gott hintritt, noch dass sein Kommen um seiner selbst Willen gewünscht und beabsichtigt sei.193 Die Erwähnung der Leiden, welche Hiob anschließend treffen, diene einzig dazu, die unterschiedlichen Positionen, welche in Bezug auf Providenz und das Ereilen von Leid eingenommen werden können, darzulegen.194 Maimonides führt seine zentrale These bereits hier zu Beginn der Behandlung der Hiob-Erzählung an: 190

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193 194

Strauss weist darauf hin, dass der Umstand, dass Maimonides zwischen dem echten Providenzverständnis, welches sich im Buch Hiob finde, sowie demjenigen des Gesetzes unterscheide, ziemlich außergewöhnlich und interessant sei. (Nach: Strauss (2013), S. 524.) Da aber Providenz und Intellekt korrelieren, wie noch zu sehen sein wird, überrascht dieser Umstand wenig: Denn genauso, wie der Intellekt nicht nur auf das jüdische Volk beschränkt ist, sondern grundsätzlich allen Menschen offen steht, umfasst auch die Providenz grundsätzlich alle Menschen. Daher ist auch das universale Providenzprinzip durch eine Geschichte abzubilden, welche offener ist als eine auf das jüdische Volk beschränkte Erzählung, eine Geschichte also, welche durch die Zugehörigkeit zu den Völkern der Protagonisten die universelle Komponente der wahren Providenzvorstellung aufzuzeigen vermag. Noch Raffel konstatiert einen Mangel an Forschungen zu Maimonides’ Vorsehungslehre und ein Übergewicht einer einseitigen Fokussierung auf die Erforschung der philosophischen Quellen Maimonides’. (Nach: Raffel (1983), S. 2.) Raffel liefert indes eine Zustammenstellung der Interpretationen zu Maimonides’ Providenzlehre von Shmu’el Ibn Tibbon über Chasdai Crescas bis hin zu Interpreten des 20. Jahrhunderts wie Leo Strauss und Shlomo Pines. Einen Überblick über die Interpretationen zu Maimonoides’ Providenzlehre sowie seiner Hiobinterpretation durch die Jahrhunderte s. insbes. auch: Appendix B bei Weber, G. (2009), Bd. 2, S. 19–84. Bzw. in der lateinischen Ausgabe mn iii,23–24. Als Nebenbemerkung sei auf den Grund für die unterschiedliche Zählweise der lateinischen Übersetzung hingewiesen, welche im dritten Buch jeweils um ein Kapitel nach hinten versetzt ist: „[D]ie arabisch-hebräische, vorgesetzte Vorrede wird im Lateinischen zum ersten Kapitel.“ (Hasselhoff (2004), S. 33.) Auf die maimonidische Unterscheidung in zwei Satanstypen, welche im Buch Hiob auftreten, wird weiter unten eingegangen. An dieser Stelle sei aber erwähnt, dass interessanterweise der lateinische Text nicht – wie zu erwarten wäre – von diabolus, sondern durchgängig von Sathan spricht. Nach: mn iii,22. Nach: mn iii,22.

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Das Bemerkenswerteste aber in dieser Erzählung ist, dass die H. [sic!, v.v.] Schrift Ijob keinerlei Wissenschaft zuschreibt. Sie sagt nicht, er sei ein verständiger oder weiser oder ein denkender Mann gewesen, sondern schildert ihn mit vorzüglichen Charakterzügen und rechtschaffener Handlungsweise. Denn, wäre er weise gewesen, so hätte er, wie später gezeigt werden soll, über seine Lage nicht im Ungewissen sein können.195 Bereits ganz zu Beginn seiner Auseinandersetzung wird so deutlich, dass Maimonides nicht eine Verbindung von Sünde und Leiden als Straffolge annimmt, sondern dass er von einer Verbindung des persönlichen Wohlergehens mit dem Intellekt ausgeht, dass also Providenz und Verstand zusammenhängen.196 Abermals kommt die Rede auf Satan, denn die Darstellungen seines ersten und seines zweiten Kommens unterscheiden sich – und genau dieser Unterschied war für Maimonides, so schreibt er, eine prophetische Offenbarung.197 Denn im Gegensatz zu seinem ersten Auftritt kommt Satan beim zweiten Mal gleichsam den Gottessöhnen ebenfalls, um sich vor den Herrn zu stellen.198 Maimonides legt dieses Sich-vor-Gott-Hinstellen dahingehend aus, dass man Subjekt von Gottes Ordnung und seinem Willen ist, dass man notwendigerweise anwesend ist, um Gottes Willen auszuführen, dass man also das ausführen muss, was Gott will.199 Dass dieser Aspekt von Satan nur einmal ausgesagt wird, von den Gottessöhnen aber bei beiden Auftritten, bedeutet für Maimonides nichts anderes, als dass Satan und die Gottessöhne nicht denselben Bezug zur Wirklichkeit bzw. zum Seienden haben, sondern dass die Gottessöhne ständig zum Seienden gehören, Satan dagegen besitzt auch einen Teil, welcher weniger zum Seienden gehört.200 Dass Satan keine Macht über Hiobs Seele erhält, hängt nach Maimonides damit zusammen, dass sein Wirkbereich auf die Erde beschränkt ist, die Seele aber gerade das ist, was den Tod überdauert.201 195

196

197 198 199 200 201

mn iii,22. So wird gleich zu Beginn der Hiob-Erzählung mit der Feststellung seiner Rechtschaffenheit eine Einschränkung Hiobs moralischer Tugenden auf seine Handlungen ausgedrückt. (Nach: Dobbs-Weinstein (1987), S. 110.) Diese Ausführungen folgen im nächsten Unterkapitel über Maimonides’ Providenzmodell aufgrund der Hiob-Erzählung. Weitere Ausführungen zur Thematik der Providenz, welche Maimonides außerhalb der Auseinandersetzung mit Hiob erwähnt, folgen zu einem späteren Zetpunkt im Rahmen der Behandlung der Providenz bei Thomas von Aquin, wo die beiden Positionen miteinander verglichen werden. Nach: mn iii,22. Nach: mn iii,22; vgl. Hi 2,1. Nach: mn iii,22. Nach: mn iii,22. Nach: mn iii,22. Interessant ist hierbei ein Verweis auf Ibn Bājja, welcher den den Tod überdauernden Teil des Menschen mit dem Intellekt – und damit seiner Ansicht nach

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Der Satan selbst besitzt unterschiedliche „Erscheinungsweisen“: Mit Verweis auf bT Baba Bathra 16a ist er sowohl mit dem Trieb des Bösen202 als auch mit dem Todesengel identisch.203 Da Maimonides in mn ii,12 den Trieb zum Bösen mit der Imagination identifiziert, muss auch diese Identifikation mitbedacht werden.204 Nach diesen Bemerkungen zur Figur des Satan geht Maimonides im 23. Kapitel dazu über, die fünf in der Hiob-Erzählung vertretenen Positionen zur Vorsehung darzustellen. Dabei weist er zuallererst auf die drei grundsätzlichen Annahmen hin, in welchen alle Gesprächsteilnehmer übereinstimmen: 1. Gott weiß um all das Leid, das Hiob getroffen hat, 2. Gott selbst hat dieses Leid verursacht sowie 3. vor Gott gibt es keine Ungerechtigkeit und es darf ihm auch keine Ungerechtigkeit zugeschrieben werden.205 Maimonides hält fest, dass sich dieselben Gedanken immer und immer wieder in den unterschiedlichen Reden wiederfinden.206 Weiter streicht er eine wichtige Gemeinsamkeit in der Sichtweise der drei Freunde Eliphas, Bildad und Zophar heraus: den Tun-Ergehen-Zusammenhang.207 Maimonides’ Interesse besteht im Weiteren darin, die unterschiedlichen Erklärungsversuche der Freunde, wie dennoch

202 203

204 205 206 207

mit etwas Überindividuellem – identifiziert. (Nach: Pines (1974), S. ciii; zu Ibn Bājjas Ansicht s. auch: mn i,74.) Wie Pines weiter herausstreicht, scheint Maimonides zu dieser Ansicht zu neigen. (Nach: Pines (1974), S. civ.) Die Lehre vom Trieb des Bösen wird weiter unten thematisiert. Nach: mn iii,22. Als weitere Stellen für den bösen Trieb sowie den Todesengel seien zu erwähnen: „Die rabbinische Vorstellung des bösen Triebes als von Gott geschaffene Grösse wird besonders deutlich unterstrichen in Berachot 61a, Sukka 52b, Qidduschin 30b sowie in Schemot Rabba 46,4; repräsentative Belege für die Funktion des Todesengels als Werkzeug Gottes sind namentlich die ausführlich beschriebenen ‚Todesszenen Moses’ im Midrasch Ptirat Mosche (‚Midrasch über das Hinscheiden des Moses’) sowie die Parallelstelle in Devarim Rabba 11,10.“ (Oberhänsli-Widmer (2003), fn 50 S. 158, Hervorhebung im Original.) Es sei darauf hingewiesen, dass die lateinische Übersetzung (dort mn iii,23) den Todesengel zwar korrekt mit angelus mortis wiedergibt, für den bösen Trieb dagegen wird der Terminus creatura mala, also böse Kreatur, gewählt. An dieser Stelle sei auch auf Costa verwiesen, welcher eine Analyse der Talmud- und Midrashzitate, welche Maimonides in mn iii,8–24 anführt, vorlegt: Costa (2010), wobei sich die Seiten 356–360 mit der Figur des Satan und dem Trieb zum Bösen befassen. Interessanterweise, so Costa, finden sich die entsprechenden rabbinischen Zitate in den analysierten Kapiteln insbesondere in jenen Kapiteln, welche sich mit der Frage nach dem Bösen beschäftigen. (Nach: Ebd., S. 365–368.) Vgl.: Weber, G. (2009), Bd. 1, S. 68. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23.

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solch unsagbares Leid über den Rechtschaffensten aller Menschen kommen konnte, zu ergründen.208 Dabei setzt er jede dieser Positionen in Verbindung zu einer der Positionen, welche gemäß mn iii,17209 grundsätzlich in der Frage nach der Vorsehung eingenommen werden können. Es werden insgesamt fünf unterschiedliche Ansichten zur Thematik der vorgestellt: 1. Alles ist Zufall (Epikur). 2. Die Vorsehung gilt für einen bestimmten Bereich, ein anderer dagegen ist dem Zufall überlassen. Für den irdischen Bereich bedeutet dies, dass es hier Vorsehung nur für die Gattungen gibt (Aristoteles). 3. Nichts ist Zufall (Ashariten). 4. Der Mensch besitzt einen freien Willen und erhält daher von Gott Lohn bzw. Strafe für seine Taten (Mutaziliten). Auch Leiden, das nicht direkt als Strafe erklärt werden kann, wird in diesem System als Lohn – und zwar als künftiger Lohn in der kommenden Welt – verkauft: „Gott lasse es zu, dass der Fromme getötet werde, aber nur um ihm in der zukünftigen Welt einen desto höheren Lohn zu gewähren.“210 Maimonides verurteilt weder die Ansicht des Aristoteles noch jene der Ashariten oder der Mutaziliten, da sie aus lauteren Motiven zu dieser Meinung gelangt sind.211 Zu guter Letzt stellt Maimonides 5. die Position des jüdischen Gesetzes vor, welche er als die unserer Thorah qualifiziert. Pines betont, dass Maimonides seine eigene Position von dieser unterscheidet.212 Im Rahmen der erwähnten fünften Position, der Wir-Position, hält der Rambam fest, dass bei den Menschen alles nach Gottes Willen und Gerechtigkeit geschieht und nur jene hier auf Erden bestraft werden, die es verdient haben213 – er spricht also nicht von einem größeren Lohn, der sie dafür im Jenseits erwartet, wie es die Mutaziliten taten. Für Tiere und Pflanzen lehnt er dagegen eine Vorsehung für die Individuen ab.214 Welche Figur der Hiob-Erzählung wird mit welcher der fünf vorgestellten Positionen identifiziert? Eliphas ist mit der fünften Ansicht zur Vorsehung, jener der Thorah, zu identifizieren, indem er alles als Lohn bzw. Strafe für unsere

208 209 210

211 212

213 214

Nach: mn iii,23. Bzw. in der lateinischen Übersetzung mn iii,18. mn iii,17. Zu den unterschiedlichen Sichtweisen hinsichtlich des Konzepts von Willensfreiheit und Vorherbestimmung bzw. der Frage nach Gottes Gerechtigkeit bei den Mutaziliten und den Ashariten s. z.B.: Kermani (2011), S. 96–100. Nach: mn iii,17. Nach: Pines (1974), S. lxv. Wie Raffel betont, können die Wir- und Ich-Position, also jene des jüdischen Gesetzes sowie Maimoindes’ eigene Position, nicht gänzlich getrennt werden, sondern das Wir ist Teil des Ich. (Nach: Raffel (1983), S. 140f.) Nach: mn iii,17. Vgl.: mn iii,17.

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Taten interpretiert.215 Diese Ansicht kann nach Eliphas dadurch aufrechterhalten werden, als das, was wir für richtig und vollkommen erachten, nicht zwingenderweise mit Gottes Beurteilung übereinstimmen muss, dass wir also durchaus nicht alle unsere Sünden und Fehler als solche identifizieren und deswegen den Grund für unsere Strafe letztlich nicht erkennen.216 Bildad dagegen nimmt den vierten Standpunkt, die Meinung der Mutaziliten, ein, indem er betont, dass Belohnung und Strafe gelten, dass es aber auch sein kann, dass ein Schuldloser hier leidet, dafür kann er aber mit einem entsprechenden Lohn im Jenseits rechnen.217 Die dritte Position zur Vorsehung, jene der Ashariten, wird von Zophar eingenommen, wenn dieser behauptet, dass letztlich alles ausschließlich vom Willen Gottes abhänge und deswegen schlechterdings nicht nach einem Grund für das Widerfahrene zu suchen sei.218 Hiob nimmt nach Maimonides den Standpunkt des Aristoteles ein:219 Der Gottlose und der Frevler sind vor Gott einerlei, da er sie alle beide gering achtet.220 Gottes Vorsehung gilt nicht für den Bereich des Menschen oder genauer gesagt nur für die Gattung insgesamt, nicht aber für die einzelnen menschlichen Individuen. In dem Moment, in welchem Hiob Gott selbst begegnet, kommt er von der Meinung, dass Reichtum, Kindersegen, Wohlergehen, etc. das Zentrale seien, ab und genau wegen dieser Umkehr zur richtigen Meinung und Erkenntnis – so Maimonides – sagt Gott über Hiob, er allein habe recht von ihm gesprochen.221 Doch worin besteht diese richtige Meinung hinsichtlich der Erklärung des Leidens? Hiob erkennt die wahre Ordnung der Güter: Nicht Wohlergehen und Reichtum sind das Höchste, sondern die wahre 215

216 217 218 219 220 221

Nach: mn iii,23; vgl. mn iii,17. Wobei die Identifizierung der einzelnen Positionen in mn iii,23 und mn iii,17 nicht zwingend völlig identisch zu sein hat, sondern von Maimonides lediglich darauf hingewiesen wird, dass gewisse Ähnlichkeiten zwischen den parallel gesetzten Positionen bestehen, dass sie miteinander konform sind bzw. korrespondieren. (Vgl.: Weber, G. (2009), Bd. 1, S. 71.) Die Verbindung, welche Maimonides an der hier erwähnten Stelle zwischen Eliphas’ Meinung sowie der Ansicht der Thorah zieht, ist dabei äußerst interessant und stellt auch einen gewichtigen Grund für die Interpretation dar, dass Maimonides die Lehre der Thorah bezüglich der Providenz ablehnt, „because Eliphaz’s opinion is discredited by God in Job 42:7–8; it serves to reinforce the reading of some scholars that Maimonides actually rejects the traditional reading of the Torah and understands his own opinion to be different.“ (Ebd., S. 72.) Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23; vgl. mn iii,17. Nach: mn iii,23; vgl. mn iii,17. Nach: mn iii,23; vgl. mn iii,17. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23.

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Gotteserkenntnis, nicht die traditionelle Gotteserkenntnis der Vielen – und dieses wahre Gut kann auch in der größten Drangsal nicht genommen werden, sodass Hiob nach dieser Erkenntnis sein Leiden nicht mehr stört, er hat Abstand davon gewonnen und geht ganz in der Freude der Gotteserkenntnis auf.222 Hiob und die drei Freunde geben so die vier im 17. Kapitel vorgestellten antiken Ansichten zur Vorsehung wieder.223 Die fünfte Position, jene Elihus, sei dagegen späteren Datums.224 Elihu bringe zwar eine neue Sichtweise ein, wiederhole aber auch immer wieder das bereits von den Freunden Gesagte, um so den Unwissenden diese Innovation zu verbergen.225 Elihu zielt darauf ab, uns zu verdeutlichen, dass wir noch nicht einmal die Naturereignisse und Naturkräfte verstehen; um wieviel weniger können wir dann Gottes Lenkung und Vorsehung verstehen!226 Gottes Lenken und Vorsehen funktionieren nicht wie das menschliche Lenken und Vorsehen.227 Maimonides spricht dabei in seiner Darstellung der Position Elihus nicht von einer Analogie zwischen Gottes Vorsehung und Lenken und unseren Tätigkeiten mit denselben Begriffen, sondern er vertritt eine völlige Verschiedenheit und Ungleichheit,228 wodurch Vorsehung229 und Lenkung nicht analoge Begriffe in Bezug auf Gott und den Menschen sind, sondern äquivoke. Dieselben Begriffe bezeichnen also je nach Subjekt – Gott oder Mensch – etwas völlig anderes. Genau um diese Erkenntnis der Verschiedenheit der göttlichen Vorsehung und Lenkung von unserer Begrifflichkeit und Vorstellung geht es nach Maimonides im Buch Hiob. Dieser Erkenntnisschritt, den Hiob gemacht hat, ist es denn auch, welcher es dem Menschen ermöglicht, Abstand von seinen Leiden zu gewinnen, sodass diese seinen Glauben an Gott und die wahre Gotteserkenntnis nicht mehr zu trüben vermögen.230 Vielmehr versteht der Mensch, dass Gottes Wege nicht unsere Wege sind231 und sein Walten in und Lenken der Welt sowie seine Providenz 222 223 224 225 226 227 228 229

230 231

Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23. Nach: mn iii,23. Im Gegensatz zum Begriff der Lenkung, für welchen sowohl Ibn Tibbon als auch al-Charizi den Begriff ‫( הנהגה‬Hanhagáh) verwenden, findet sich bei Ibn Tibbon für die Providenz der Begriff ‫( השגחה‬Hashgacháh), bei al-Charizi dagegen ‫( שמירה‬Shemiráh). Die unterschiedlichen Begriffe werden im Vergleich zu Thomas’ Providenzvorstellung nochmals thematisiert. Nach: mn iii,23. Vgl. Jes 55,8.

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anders sind, als wir sie uns aufgrund der auch für den menschlichen Kontext verwendeten Begriffe vorstellen.232 Nachdem Maimonides’ Hiob-Interpretation hinsichtlich ihres Aussagegehalts für die Vorsehung dargestellt wurde, soll der Theodizee-Entwurf des Rambam vorgestellt werden, wobei einige aus der Hiob-Interpretation bekannte Elemente wieder begegnen werden. 3.3.1.2 Maimonides’ Theodizee-Entwurf Wie Reines betont, spielen verschiedene Aspekte in Maimonides’ Theodizee hinein, wobei die Vorsehung233 die wichtigste Komponente der Theorie darstelle.234 Dabei streicht er zwei Merkmale heraus, welche für das Verständnis der Vorsehung bei Maimonides von Bedeutung sind: „First that Maimonides’ theory of providence differs essentially from providence as traditionally understood; and second that Maimonides will deliberately obscure his discussion of providence to conceal it from the unqualified reader.“235 Doch inwiefern unterscheidet sich Maimonides’ Verständnis der Vorsehung von der traditionellen jüdischen Lehre? Dazu muss zunächst geklärt werden, wie die Vorsehung in Letzterer verstanden wird, um so die Unterschiede, welche gravierend und fundamental sind,236 da Maimonides eine „radically different theory of providence“237 entwickelt, herausarbeiten zu können. Reines betont, dass das traditionelle Verständnis im Judentum einer in theistischen Religionen üblichen Sichtweise entspreche:238 Dabei wird von einem mächtigen und vorherwissenden Gott ausgegangen; alles erscheint als unter seiner Führung stehend, Gott erschafft das Universum nicht nur, sondern erhält es auch, 232

233

234 235 236 237 238

Maimonides’ Hiob-Interpretation unterscheidet sich somit grundlegend von jenen Aussagen, welche im biblischen Teil herausgearbeitet wurden. Da für Maimonides in jedem Falle Gottes Gerechtigkeit zuoberst steht, kann es für ihn kein Leid geben, das unerklärt bleibt, wie dies von Hiob veranschlagt wird. Hier wird zunächst Maimonides’ Konzept der göttlichen Vorsehung behandelt, bevor zur Beschäftigung mit dem Bösen übergegangen wird. Bei Maimonides selbst findet sich allerdings genau die umgekehrte Reihenfolge: Dem Diskurs über die Auffassung der göttlichen Vorsehung geht die Frage nach dem Bösen voraus, ein Diskurs, den Halbertal als einen der beeindruckenden Höhepunkte des religiösen Denkens Maimonides’ qualifiziert (.278 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫)לפי‬. Zu Maimonides’ Hiobinterpretation hinsichtlich des Aspekts der Vorsehung siehe auch: Wohlman (1988), S. 251–255. Nach: Reines (1972), S. 170. Ebd., S. 171. Nach: Ebd., S. 173. Ebd. Nach: Ebd., S. 171.

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indem er immer wieder von Neuem machtvoll und wundersam in das Weltgeschehen eingreift.239 In diesem Eingreifen Gottes zeigt sich, dass er „cares for the Jews in particular and mankind in general.“240 Die göttliche Vorsehung oder Fürsorge besteht so in zweifacher Weise: Einerseits generell als kontinuierliche Erhaltung der Existenz der Welt – also als creatio continua –, andererseits auch als spezielle Vorsehung und Fürsorge im Sinne des außergewöhnlichen Eingreifens Gottes in das menschliche Geschick – auch des Individuums. Wunder beispielsweise gehören so in den Bereich der besonderen, individuellen Vorsehung. Maimonides lehnt die traditionelle Sichtweise aus folgenden Gründen ab: The fact that it is the view expressed by the literal meaning of Scripture and writings of the Sages is no evidence of its truth. […] Hence Scripture and the rabbinic writings are written in the form of parables. As such they contain two entirely different sets of meanings: an external, mythological sense appropriate to the masses’ deficient understanding, and a secret, true sense intended for the qualified intellectual elite. Thus Maimonides says the traditional view of providence is based on the literal meaning of Scripture and is, therefore, not to be taken either as the real opinion of Judaism, or as the true opinion suitable for the philosophically trained thinker.241 Nach Maimonides’ Ansicht dagegen ist das Leiden des Menschen wesentlich mit seiner Tugendhaftigkeit – aber nicht nur der moralischen, sondern insbesondere der intellektuellen – verbunden: Das Phänomen des Leids und die Kategorie der Tugend – unter besonderer Berücksichtigung des Intellekts als Tugend – müssen zusammengesehen werden. Das Gutsein einer Person wird 239 240 241

Nach: Ebd. Ebd. Ebd., S. 172. Die veränderte Sicht Maimonides’ auf den Bereich der Vorsehung ergibt sich aus der Bedeutung, welche er der natürlichen und kausalen Ordnung beimisst: Gottes Weisheit ist es, welche den größten Ausdruck von Gottes Offenbarung darstellt; in Gegensatz zur konventionellen Sichtweise sind es nicht das Außergewöhnliche und die Wunder bzw. das Wunderbare, welche Gottes Weisheit offenbaren, sondern das, was wir in der Natur erkennen. (Nach: Halbertal (2014), S. 2.) „This fundamental change in religious sensibility away from miracle and toward causality, or, as Maimonides formulated it, from will to wisdom, required Maimonides to reinterpret some of Judaism’s basic concepts, such as providence, creation, prophecy, and revelation, all of them seemingly based on a revelation of divine will and a fracturing of the normal causal order.“ (Ebd., S. 2, Hervorhebung im Original.)

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also in erster Linie nicht dadurch bestimmt, dass die Person etwa religiöse Gebote einhält oder moralisch einwandfrei ist. Dies ist natürlich auch von Bedeutung, allerdings macht dies alleine eine Person noch lange nicht gut. Von entscheidender Bedeutung ist nämlich der intellektuelle Entwicklungsgrad einer Person.242 Zwar besitzt auch eine so qualifizierte Person die geforderte moralische Haltung, doch ist es erst der Intellekt, der wahre Gutheit hervorzubringen vermag: „It goes without saying that such a person, by reason of his intellect, will possess the usual moral qualities as well, but, true human virtue and goodness come only from intellectual perfection.“243 Eine Person ist nur dann wahrhaft gut, „if he has realized his intellectual capacities through the study of science and metaphysics“244. Hierbei folgt Maimonides der aristotelischen Unterscheidung von intellektuellen und moralischen Tugenden, wie Frank aufzeigt.245 Mithilfe dieser Sichtweise gelingt es Maimonides innerhalb seines Systems aufzuzeigen, weswegen eine religiös und moralisch makellos erscheinende Person dennoch Leid erdulden muss: Denn in Tat und Wahrheit ist diese Person gar nicht wahrhaft gut, da ihr die hierfür intellektuellen Erfordernisse fehlen. Zwar ist sie moralisch gut, aber dennoch ist sie nicht wirklich als tatsächlich gut zu erachten. Menschen, die ungerechtfertigt zu leiden scheinen, leiden nur deshalb – und zwar in gerechter Weise –, weil „they are not really good, only moral, and their suffering comes justly from a lack of virtue.“246 Wie Reines festhält ist dies „a fundamental point in Maimonides’ interpretation of the Book of Job.“247 Moralische Tugend alleine reicht nicht 242

243

244 245 246 247

Hier begegnet eine Parallele zu Thomas von Aquin: So umfasst für ihn vollendete Glückseligkeit „the activity of the speculative intellect rather than the practical intellect.“ (McCluskey (2000), S. 72f.; vgl. hierzu: STh i–ii, q. 3, a. 5 resp.) Weiter findet sich dieses Element bei Maimonides nebst dem mn auch in seinem Mishnah-Kommentar und der Mishneh Thorah. (Nach: Halbertal, Maimonides, S. 162.) An diesem Phänomen tritt, mit Wohlman gesprochen, die von Maimonides veranschlagte enge Verbindung zwischen Wahrheit der Thorah sowie den metaphysischen Wahrheiten auf der einen sowie den ethischen Prinzipien und Argumenten auf der anderen Seite zu Tage. (.357 '‫ עמ‬,(‫ וולמן )תשס"ז‬:‫)לפי‬ Reines (1972), S. 186, Hervorhebung v.v. Hierin besteht eine Konvergenz mit Ibn Sīnā, welcher das Schicksal im Jenseits ebenfalls an den intellektuellen Entwicklungsgrad bindet. (Vgl.: Marmura (1985), S. 92.) Obwohl Maimonides mit seinem Konzept von der Tradition abweicht, befindet er sich zugleich mit seiner Betonung des Intellekts auf traditionellem Boden: „Judaism’s intellectuality is, along with its monotheistic orientation, one of its essential characteristics.“ (Birnbaum (1989), S. 36.) Reines (1972), S. 186. Nach: Frank (1989), S. 89. Reines (1972), S. 186. Ebd., fn 73 S. 186.

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aus; um wahrhaft als gut qualifiziert werden zu können, ist die intellektuelle Tugendhaftigkeit von entscheidender Bedeutung. Nur, wer nebst moralischem Verhalten auch seinen Intellekt bildet, besitzt wahre Tugend und ist so wahrhaft gut. Dies lässt uns nun aber auch erkennen, weswegen Hiob leiden musste: Da dieser im Prolog auffälligerweise nicht als weise qualifiziert wird und so die Tugend nicht besaß, verdiente er konsequenterweise sein Leiden, da er nicht wirklich gut und damit strafwürdig war. Im Unterschied zum Buch Hiob hat damit in Maimonides’ Hiob-Interpretation Hiob sein Leid verdient, er ist kein unschuldig Leidender. Da Gott gerecht ist und seine Gerechtigkeit immer zum Tragen kommt, kann es in Maimonides’ Augen gar keine unschuldig Leidenden geben. Um also von Leid frei zu sein, benötigt der Mensch ein gewisses Maß an entwickeltem Intellekt. Nun ist aber der Intellekt selbst als in drei Stufen unterteilt anzusehen: So unterscheidet Maimonides zwischen dem hylischen („hylic intellect“)248, dem aktuellen („actual intellect“)249 sowie dem erworbenen Intellekt („acquired intellect“)250. Erst wenn er die dritte Stufe des Intellekts erreicht hat, nämlich jenen Intellekt, den er sich mittels Studium der Wissenschaften und der Metaphysik angeeignet hat,251 ist er „entirely free from suffering of any kind. For the source of all human suffering is matter or body, from which the consciousness of the acquired intellect is completely divorced.“252 Dies bringt uns zur Vorsehung. 3.3.1.3 Die göttliche Vorsehung In mn iii,54253 stellt Maimonides eine vierstufige Skala der Vervollkommnung254 auf, welche aufsteigend zu verstehen ist: 1. Die Vollkommenheit des 248 249 250 251 252

253 254

Ebd., S. 189. Ebd. Ebd. Nach: Ebd., S. 186. Ebd., S. 189f. Birnbaum stellt eine Parallele zwischen diesem Vorsehungs- und Theodizee-Konzept des Maimonides zu Ibn Daud (1110–1180 (nach: Birnbaum (1989), S. 247.)) her, welcher eine ähnliche Sichtweise vertrete. (Nach: Ebd., S. 29.) Nach Maimonides garantiert somit die praktische Vernunft noch nicht Teilhabe an der göttlichen Vorsehung; erst bei Erreichen der Stufe der theoretischen Vernunft weiß sich der Mensch unter der Providenz Gottes, was an Hiob ablesbar ist. (Vgl.: Raffel (1983), S. 99.) Wie Raffel aufweist, stimmt Maimonides hierin, sprich in der Überlegenheit der theoretischen über die praktische Vernunft sowie der Enthobenheit von den irdischen Geschicken durch bzw. wahre Glückseligkeit in der Kontemplation, zu weiten Teilen mit Aristoteles überein. (Nach: Ebd., S. 100f.) Bzw. im lateinischen Text mn iii,55. Zur menschlichen Vervollkommnung s. inbes. auch: Kellner (1990).

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Besitzes, 2. die Vollkommenheit des Körpers, 3. die Vollkommenheit der Tugenden sowie 4. (und damit höher und wichtiger als die Vollkommenheit in den Tugenden und der Sittlichkeit) die Vollkommenheit des Intellekts bzw. der geistigen Vollzüge. Im Gegensatz zu den drei anderen Vollkommenheiten besitzt diese vierte und höchste Vollkommenheit keinen Bezug zu dem Menschen Äußerem, sondern liegt in ihm selbst allein. Die vierte Art aber ist die wahre menschliche Vollkommenheit, nämlich wenn der Mensch die geistigen Vorzüge erlangt, d. h. die Vorstellung der abstrakten Dinge, um daraus inbetreff der wirklichen Dinge wahre Glaubensmeinungen abzuleiten. Diese aber ist allein der Endzweck, und sie macht den Menschen wahrhaft vollkommen. Diese Vollkommenheit ist auch ihm ausschließlich eigen und um ihretwillen ist er eines ewigen Fortbestandes würdig. Sie ist es auch, durch die der Mensch Mensch ist.255 Die wahre Vollkommenheit des Menschen besteht so letztlich in der wahren Gotteserkenntnis, die mit der Vollkommenheit des Intellekts einhergeht.256 Die höchste Vervollkommnung des Menschen identifiziert Maimonides dabei als die Stufe der Prophetie (insbes. Moshe). Das Wesen der Prophetie und ihr wahrer Begriff ist die Emanation, welche von Gott durch die Vermittelung [sic!, v.v.] der aktiven Vernunft sich zuerst auf das Denkvermögen und dann auf die Einbildungskraft ergießt und dies ist die höchste Stufe des Menschen und die äußerste Vollkommenheit, die bei seiner Art vorhanden sein kann, und dieser Zustand ist die äußerste Vollkommenheit der Einbildungskraft.257 Damit spielt in die Vorsehungslehre des Rambam wesentlich auch der neuplatonische Emanationsgedanke hinein. Die Betonung des Intellekts mit Blick auf die letzte Vervollkommnung des Menschen steht der traditionellen rabbinischen Auffassung diametral entgegen, welche insbes. die Bedeutung der Gesetzesobservanz sowie die Reinheit der Motive betont.258 Allerdings stehen die beiden Systeme nicht in so gravierendem Gegensatz, wie zunächst vermutet werden könnte, denn auch die intellektuelle Vervollkommnung setzt die 255 256 257 258

mn iii,54. Nach: mn iii,54. mn ii,36. Nach: Kellner (1990), S. 3.

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moralische voraus: „One cannot hope to achieve rational perfection, therefore, without having first achieved moral perfection.“259 So behandelt auch Maimonides zwischen seiner Hiobinterpretation und den Vervollkommnungsstufen die göttlichen Gebote.260 Bedacht werden muss auch Maimonides’ Interpretation der Erzählung vom Garten Eden: Maimonides hatte in mn i,2 darauf hingewiesen, dass die Erkenntnis von Gut und Böse eine tiefere Stufe darstellt, die ursprüngliche Erkenntnis dagegen Kenntnis von wahr und falsch, was auf einer höheren Stufe anzusiedeln ist, beinhaltet. In seinem mn versucht der Rambam nun, diese ursprüngliche, höhere Stufe dem idealen Leser wieder zugänglich zu machen, sodass er wieder das Wahre, was letztlich Gott ist, erkennt. Mittels des Intellekts kann die Kenntnis der Wahrheit wiedererlangt werden. So stellt Maimonides’ Konzept der Vervollkommnung des Intellekts und der damit verbundenen wahren Gotteserkenntnis eine Verbindung zu seinem Intellektskonzept, wie es in seiner Deutung der Erzählung vom Garten Eden überliefert ist, dar. Die beiden Intellektskonzepte bilden eine Einheit und müssen zusammengesehen werden: Die Vervollkommnung des Intellekts führt den Menschen wieder auf die ursprüngliche, höhere Stufe seines Intellekts und seines Erkennens, die Stufe der Erkenntnis von wahr und falsch – und damit auch zur Erkenntnis der Wahrheit bzw. zur wahren Gotteserkenntnis.261 Da die Erkenntnis von Gut 259 260

Ebd., S. 27. Vgl. insbes.: mn iii,30–49. Diese partikulare Sichtweise mit Beschränkung auf das Judentum widerspricht aber gerade Interpretationen, welche die Universalität und die Religions- sowie Völkergrenzen übergreifende Funktion des Intellekts betonen. So hält beispielsweise Pines diese universale Sicht für die Philosophie fest, wenn er betont, dass für Maimonides die Philosophie sogar über allen religiösen oder nationalen Differenzen steht, sodass er kaum Gebrauch von jüdisch-philosophischen Texten macht, da die Philosophie mittels des Verstandes, welcher im Unterschied zu Religion und Volkszugehörigkeit grundsätzlich allen Menschen gleichermaßen offen steht und sie eint, völker- und religionsübergreifend ist. (Nach: Pines (1974), S. cxxxiii f.) Und auf diesem Wege kann denn Gott auch von allen Menschen erreicht werden, nicht nur von Angehörigen der jüdischen Religion bzw. des jüdischen Volkes und durch Wahrung der entsprechenden Gebote. (.‫ ועוד‬57 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הרטמן‬:‫ )לפי‬Zwar bestätigt auch Kellner die Offenheit der intellektuellen Vervollkommnung evtl. auch für die Völker, betont zugleich aber, dass die weitaus höhere Stufe der Vervollkommnung, nämlich die praktische Vervollkommnung, aber dennoch den Juden allein vorbehalten bleibt und nur diese können daher auch Subjekte einer adäquaten imitatio Dei sein. (Nach: Kellner (1990), S. 57.) Shatz stellt die These auf, dass mn iii,54 eigentlich einen Status kennzeichnet, welcher mn iii,51 vorausgeht, dass also die Anordnung aufgrund der inhaltlichen Folge umgekehrt sein und mn iii,51 tatsächlich den Schluss, wie es sprachlich auch angedeutet ist, bilden müsste. (Nach: Shatz (2009,3).)

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und Böse nach Maimonides zum Bereich der Imagination gehört und diese von ihm mit dem Satan identifiziert wird, welcher wiederum Mangel ist, geht es bei diesem Wechsel von der niederen Stufe der Kenntnis von Gut und Böse hinauf zur ursprünglichen Stufe der Kenntnis von wahr und falsch auch um die Transformation vom Einflussbereich des Satans bzw. des Mangels – und damit des Bösen – hin zum Einflussbereich des Wahren, Guten, sprich Gottes. Und so stellt dieses Intellektskonzept in der Tat die Verbindung zwischen einer Erklärung des Phänomens des Bösen sowie der Providenzlehre dar: Auf der Intellektstufe von Gut und Böse ist der Mensch Subjekt des Bösen, wird von diesem tangiert und geschädigt, nach seiner Transformation hin zur Intellektsstufe von wahr und falsch und damit in den Einflussbereich Gottes wird der Mensch wahrhaft Subjekt der göttlichen Providenz. Somit liefert Maimonides ein komplexes, in sich geschlossenes und kohärentes System, welches nur verstanden werden kann, wenn alle Teile des mn berücksichtigt werden. Nuri’els Plädoyer, dass der Begriff des Satans ein Zentralbegriff im mn ist, erweist sich damit als korrekt.262 Das bisher Gesagte ist nicht so zu verstehen, dass auf solche Weise im Intellekt perfektionierte Menschen von keinen Leiden getroffen würden. Vielmehr zeichnet es ihren Umgang mit diesen Leiden, die notwendig an der Materie vorkommen, aus welcher ihr Körper ja weiterhin besteht, aus. Denn zwar erfahren auch sie Leid, allerdings sind sie davon nicht betroffen, sondern sind in ihrer intellektuellen Entwicklung darüber erhaben263 oder in den Worten Reines’: „[N]o matter, what ills or misfortunes may overtake his body or material possessions, the consciousness of the acquired intellect is entirely unaware of them, and continues to enjoy the blessedness of intellectual contemplation.“264 Der Mensch wird verändert, indem Übel zwar seinen Leib treffen können, dies 261

262 263 264

Vgl. hierzu auch: Lobel (2011), S. 79f. Wie Lobel herausstreicht, waren im Paradieseszustand wahr und gut bzw. falsch und böse im Unterschied zum aktuellen Zustand identisch. (Nach: Ebd., S. 84.) .(‫ נוריאל )תשמ"ו‬:‫ראה‬ Vgl.: mn iii,51. Reines (1972), S. 190. Caspi verweist hier auf zwei Hiob-Typen, die sich in ihrer Bezogenheit auf die materiellen Güter unterscheiden: „one who knows God by the material things he possesses. This Job’s happiness is connected directly to his material well being and when misfortune befalls him, he faults God. The second type of Job is the one who knows true happiness and realizes God despite suffering. He rises above the affliction and the pain.“ (Caspi (2012), S. 72.) Wo der Mensch an die materielle Welt gebunden bleibt, befindet er sich in der Wirkmacht des Bösen und des Leidens. Wo er dagegen die wahre Glückseligkeit, welche in der Gotteserkenntnis besteht, kennt, die materielle Welt hinter sich zurücklässt und ganz Intellekt und so ganz mit Gott geeint ist, ist er dagegen nicht

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ihn jedoch nicht mehr länger betrifft, da er ganz Geist ist;265 obwohl er noch in seinem Leib steckt, ist er schon von diesem losgelöst und lebt gleich den körperlosen, reinen Vernunftwesen: In connecting his intellect fully with that of the divine intellect, man assumes a new identity, at least for as long as he can maintain the conjunction. He is now like the angels: pure form, part of eternal being, savoring a taste of eternity. The natural evils which can befall all men cannot touch him, for he is no longer mortal – at least, not essentially so. Should anything happen to his physical body while in this state, it will not affect his mind, his true being, which is with God.266 Maimonides scheint nahezulegen, dass denjenigen, welcher ganz auf Gott gerichtet ist, kein Übel treffen kann: „Wende dich ihm zu und du wirst in Frieden leben und von jedem Übel bewahrt bleiben.“267 Doch macht ein weiterer Ausspruch deutlich, dass man zwar durchaus noch von Übeln getroffen werden kann, diese aber nicht mehr als Übel wahrnimmt bzw. diese nicht mehr ein Übel sind, denn die Erkenntnis Gottes ist stärker als allfällige Übel. So verhält es sich mit dem ultimativen, metaphysischen Übel, dem Tod: Wer mit all seinen Gedanken und seinem Verlangen ganz auf Gott gerichtet ist und stirbt, der bleibt nunmehr ohne Ablenkungen, welche ihn auf Erden zu gewissen Zeiten von Gott trennten, immer in diesem Gedanken bzw. im Falle von Moshe, Aharon und Mirjam sterben sie durch den Kuss Gottes, wodurch sie dem Tode ganz entrinnen.268 Wendet sich aber der Mensch von Gott ab, so kann ihn Übel durchaus wieder treffen.269

265

266 267 268

mehr Teil der durch Materie, Böses und Leid bestimmten Welt. Denn das Böse ist gerade als Privation an der Materie definiert, nur an ihr kann es auftreten. Ein von der Materie Losgelöster dagegen kann nicht mehr Subjekt dieser Privation und damit des Bösen sein. Auf diesen Aspekt des Bösen als Privation wird weiter unten eingegangen werden. Es geht also darum, dass es auf dieser Stufe zu einer Vereinigung mit dem aktiven Intellekt kommt – und genau aufgrund dieser Einigung treffen ihn körperliche Leiden nicht mehr: „Since the Active Intellect is non-material, it also is not subject to corruption and does not even exist in time. Thus the individual, whose intellect is united with the Active Intellect, also becomes immune to physical corruption. That is to say, the body of the individual continues to be corrupted, but the essence of the individual has attained eternity.“ (Weber, G. (2009), Bd.1, S. 8.) Ivry (1985), S. 156. mn iii,51. Nach: mn iii,51; vgl.: McCallum (2007), S. 103. Die wahre göttliche Vorsehung, welche in der wahren Gotteserkenntnis, in dem Verlangen einzig nach Gott, in absoluter Gottesliebe (bzw. wie Kellner es nennt: „amor Dei intellectualis“ (Kellner (1990), S. 5, Hervorhebung

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Die intellektuelle Entwicklungsstufe des Menschen hat auch Auswirkungen hinsichtlich der Annäherung zu Gott: So unterscheidet Maimonides in mn  iii,51270 unterschiedliche Stufen, welche er anhand einer Parabel

269 270

im Original.)) besteht, ist somit wesentlich durch eine Abwesenheit des Übels bzw. des Leidens gekennzeichnet. (Nach: Dobbs-Weinstein (1987), S. 90.) So ist das Ziel intellektueller Vervollkommnung wahre Gotteserkenntnis – ein Erkennen, welches sich von der überlieferten Tradition unterscheidet und abhebt. Es geht um das wahre Erkennen Gottes als der, der er ist, alles Verlangen des Menschen soll einzig auf Gott gerichtet sein. Das letzte Ziel des Menschen ist somit die visio beatifica, die glückselige Gottesschau. In Teilen kann diese mittels Schulung des Intellekts bereits hier erreicht werden, vollends ist dieses Aufgehen des Intellekts in Gott – losgelöst vom Körper – aber erst mit dem Tod als letzte, vollständige Befreiung vom Körper (und auch Rettung vor dem Tod) möglich. Es handelt sich also um eine vom Intellekt zu erreichende Gotteserkenntnis, welche nicht nur von Philosophen errreicht werden kann, sondern beispielsweise auch von Propheten – an erster Stelle und alle anderen Personen überragend Moshe –, da diese in direktem Kontakt mit Gott stehen und ihn so während der Gottesnähe in Zeiten des Ergehens prophetischer Worte an sie sehen. Es geht also nicht um den Intellekt in dem Sinne, dass jeder von uns bestrebt sein müsste, einen iq von 150 und mehr zu erreichen. Vielmehr geht es darum, dass der Verstand aus der Emanation des Intellekts von Gott heraus geprägt ist, es geht also um den Aspekt der Emanation Gottes, welcher sich auch im Medium der Prophetie äußern kann. (Vgl. hierzu auch: mn ii,36.) „It is suggested here that given the constant connection in The Guide of the Perplexed between intellectual activity and human perfection, that the excellent men are those whose rational faculties are affected by the divine overflow which reaches man through the medium of the Active Intelllect but who are not actually prophets as such.“ (McCallum (2007), S. 104, Hervorhebung im Original.) Zu Aristoteles’ und al-Fārābīs Intellektverständnis und Maimonides’ möglicher Beeinflussung durch ebendiese s. z.B.: Ebd., S. 86–108. Interessant ist hierbei eine Parallele zu al-Fārābī, welcher nach McCallum ebenfalls eine Loslösung des Menschen von allem Körperlichen – und somit vom Erleben des Leidens – durch den Intellekt statuierte: „When man’s intellect attains the status of the acquired intellect, dependence on bodily related powers such as the sense and the imagination is transcended.“ (Ebd., S. 94.) Die Verbindung von Intellekt und der kommenden Welt ist dabei in Maimonides’ Werk nicht einzig im mn zu finden, sondern taucht etwa auch in der Einleitung zu Perek Chelek 3 sowie Hilchot Tshuwa 8 (wo er auch die komplette Trennung von allem Körperlichen in der kommenden Welt hervorhebt) auf. Wie Shatz aufweist, spricht Maimonides auch bereits in seinem Mishnah-Kommentar davon, dass das letzte Ziel des Menschen die intellektuelle Vervollkommnung im Sinne der Gotteserkenntnis ist. (Nach: Shatz (2009,2), S. 27.) Hierbei handelt es sich also durchaus um einen Zug in Maimonides’ Denken, welcher sich durch sein ganzes Schaffen hindurchzieht und nicht erst eine späte Innovation, also keine Veränderung seines Systems, sondern Kontinuität. Wie Shatz weiter aufzeigt, sind moralische Tugenden nicht Bestandteil dieser intellektuellen Vervollkommnung. (Nach: Ebd.) Nach: mn iii,51. Bzw. in der lateinischen Ausgabe: mn iii,52.

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erläutert.271 Er verwendet das Bild von Stadt und Palast und erläutert, dass nur der kleinste Teil überhaupt den Palast betreten kann, ein noch viel geringerer Teil aber kann bis zum Thronsaal vordringen.272 Hier wiederum sticht Maimonides’ Elitärismus ins Auge. Auf Gott und die Menschen angewendet, besagt diese Parabel, dass nur ganz wenige Menschen zu Gott vordringen können.273 Und dies hängt vom Intellekt ab: Je mehr nämlich eine Person ihren Intellekt perfektioniert, desto näher kommt sie Gott. Nur solche Menschen können sich adäquat über Gott äußern – alle anderen reden gar nicht wirklich über Gott, auch wenn sie dies zu tun vorgeben.274 Nicht nur die Annäherung an Gott, sondern auch die Teilhabe an der göttlichen Vorsehung – auch wenn sie jenseits menschlichen Verstehens anzusiedeln ist – ist an den Intellekt gebunden. In dem Maße nämlich, in dem ein Mensch seinen Intellekt perfektioniert, nähert er sich nicht nur Gott an, sondern kommt auch in Berührung mit der göttlichen Emanation und erhält Anteil am Schutz der göttlichen Vorsehung.275 Da aber dem so ist, ergibt sich notwendig nach dem im vorigen Kapitel Gesagten, dass sich auf manche menschliche Individuen, die gemäß 271 272 273

274 275

Vgl. hierzu auch: mn ii,36f. Nach: mn iii,51. Nach: mn iii,51. Hierbei gilt es mit Nuri’el einige interessante Aspekte festzuhalten: „I call your attention to the fact that those who are engaged in the study of mathematical sciences and the science of logic are still at the fourth stage […]. This may also be asserted on the basis of what we mentioned earlier, that logic and belief have their place only in the mind, and therefore do not belong to the contents of the mind that survives death. […] The highest level is that wherein the person who has already mastered the entire range of intellectual and spiritual knowledge and has reached perfection in his understanding, but is still living within a physical body on this earth, activates his thought to concentrate solely on the Divine Realm.“ (Nuriel (1986), S. 50.) Die Rangierung, welche Maimonides in seinem Palastgleichnis vornahm, sorgte indes bei seinen Lesern für Furore: „Traditionally inclined readers of Maimonides were outraged at the implication that ‚men of science’ attained a higher degree of perfection and closeness to God than the halakhists.“ (Kellner (1990), S. 15.) Kellner selbst versteht das Gleichnis allerdings auf grundsätzlich davon differierende – und der Kritik den Wind aus den Segeln nehmende – Weise: „The parable, as I understand it, deals with Jews only, at least from the third and possibly from the second class onward. There is simply no comparison drawn in the parable between Jews and non-Jews, or between halakhists and gentile philosophers. There is, rather, a comparison between halakhists plain and simple and halakhists who have perfected themselves in natural science and philosophy. Whatever Maimonides may have felt about the intellectual perfection of Aristotle and other philosophers, and about the chances of immortality for non-Jews, the issue does not come up in the parable of the palace.“ (Ebd., S. 17.) Damit wird diesbezüglich der Intellekt also nicht als universal-menschliches Charakteristikum in den Blick genommen. Nach: Davidson, H. (2005), S. 387. Vgl.: mn iii,17; vgl. z.B.: Davidson, H. (2005), S. 374. .8

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der Eignung ihrer Materie und gemäß ihrer Beziehung einen größeren Anteil von dieser Emanation erhalten haben, die Vorsehung notwendig in einem höheren Maße erstrecken wird, wenn sie sich, wie ich sagte, nach der Vernunft richtet. Somit wird die göttliche Vorsehung nicht allen Menschen in gleichem Maße zuteil werden, sondern über manche wird die Vorsehung in einem höheren Maße walten, welches ihrer höheren menschlichen Vollkommenheit entspricht.276 Diese Überzeugung ist bei Maimonides von äußerst großer Bedeutung, erhebt er sie doch gemäß Davidson gleichsam in den Rang fundamentaler Prinzipien des Gesetzes.277 Maimonides verbindet die drei Elemente Leiden – Intellekt – Vorsehung. Alle drei hängen direkt miteinander zusammen und sind über das mittlere Glied, den Intellekt, verbunden: Wer sich nicht ganz dem reinen Intellekt widmet, leidet am Leiden, indem er es wahrnimmt und nicht darüber enthoben ist. Wer aber seinen Intellekt nicht schult, ist zugleich auch nicht Objekt der göttlichen Vorsehung. Und die Folge aus diesem Fehlen der göttlichen Vorsehung ist wiederum Leid. Wer aber ganz im Intellekt steht, steht ganz unter der göttlichen Vorsehung, sodass Leiden von dieser Person abgehalten wird. Da die Providenz aber mit der Vernunft zusammenhängt, ist klar, dass Wesen, die nicht mit der Vernunft begabt sind – also Pflanzen und Tiere – nicht als Individuen unter Gottes Providenz stehen. Maimonides verbindet so das Phänomen der Providenz für die Einzeldinge mit der Vernunft und somit auch mit der Vorstellung von der Emanation dieser Vernunft. Wesentlich für die Lehre von der Vorsehung sowie die Theodizee bei Maimonides ist damit der neuplatonische Emanationsgedanke: Nur wer Anteil an der Vernunft hat, nur die vernunftbegabten Wesen also, stehen auch als Individuen unter der Vorsehung Gottes, alle anderen dagegen nur als Gattung – diese Verbindung lässt sich ziehen, da die Providenz von dem Wesen mit der vollkommensten Vernunft ausgeht.278 Die Größe des Anteils an der Vorsehung, welche einem einzelnen Menschen zukommt, bemisst sich somit am Grad seiner Vernunft. So hält Maimonides fest: „Dieser uns schirmende und mit uns verbundene König ist die auf uns emanierende Vernunft, die das Bindemittel ist zwischen uns und Gott.“279 So ist der neuplatonische Emanationsgedanke der Garant für die Ausweitung der aristotelischen Vorsehungsvorstellung für die Einzeldinge auch auf den Bereich der Menschen. Für den Emanationsgedanken ist dabei 276

277 278 279

mn iii,18. Maimonides’ Ausführungen zur Vorsehung werden im Rahmen der Vorsehungslehre bei Thomas von Aquin nochmals und auch etwas ausführlicher ausgeführt werden. Nach: Davidson, H. (2005), S. 375. Nach: mn iii,17. mn iii,52. .8

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auch mn ii,11 wichtig: Maimonides schildert hier, dass die Lenkung von Gott emaniert auf die absoluten bzw. separierten Vernunftwesen (Engel), von diesen auf die Sphären der unveränderbaren Formen (Sonne, Mond, etc.) und von dort aus schließlich auf den Werden und Vergehen unterworfenen Bereich des aus der materia prima Geschaffenen (Erde mit Menschen, Tieren und Pflanzen). Diese Schilderung der Emanation von einem Bereich auf einen anderen und erst von diesem zweiten auf einen dritten erinnert an die Vorstellung der Zweitursachen, dass also Gott nicht direkt in den Bereich des Irdischen eingreift, sondern über die anderen Ebenen als Zweitursachen. Die Emanation aus den körperlosen Dingen – Gott und Engel – ist dabei zu unterscheiden von der Emanation aus den körperhaften Sphären.280 „Da es bewiesen ist, dass Gott unkörperlich ist, und es feststeht, dass das All sein Werk und er, wie wir gezeigt haben und noch zeigen werden, dessen bewirkende Ursache ist, können wir sagen, dass die Welt durch die von Gott ausgehende Emanation entstanden ist, und dass Gott alles, was in ihr entsteht, durch Emanation in ihr bewirkt.“281 So ist mittels des Emanationsgedankens letztlich alles auf Gott rückführbar, die gesamte Schöpfung, also auch die Vernunft. Maimonides’ Konzept der göttlichen Vorsehung lässt sich linear ansteigend mit dem intellektuellen Entwicklungsstand des Menschen abbilden:

Providenz

Intellekt

Und hier nun nochmals zurück zur Tatsache, dass auch Gerechte von Übeln getroffen werden: Die göttliche Vorsehung, die einem Menschen zukommt, ist 280 281

Nach: mn ii,12. mn ii,12. .8

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nämlich nicht statisch zu verstehen, vielmehr kann sich der Grad an göttlicher Vorsehung im Laufe des Lebens durchaus auch ändern – ohne dabei ganz zu verschwinden, wie Davidson betont.282 Kehrt sich der Mensch nämlich vom Intellekt ab und richtet seinen Verstand auf profane Angelegenheiten, so nimmt der Grad an göttlicher Vorsehung ab.283 Interessanterweise hängt nicht nur die Fähigkeit zur Prophetie vom Grade der intellektuellen Vervollkommnung ab, wobei Prophetie im Gegensatz zur göttlichen Vorsehung selbst nicht automatisch aus einem solch entwickelten Intellekt entspringt, dieser aber Voraussetzung für die Prophetie ist, sondern auch die Unsterblichkeit steht in Verbindung mit dem geschulten Intellekt:284 „Immortality is enjoyed by human intellects that reach the level at which they have a being belonging to the imperishable incorporeal realm – presumably the active intellect – as the object of their thought, become identical with that imperishable object of their thought, and become equally imperishable and immortal.“285 Der Intellekt ist es, welcher Anteil an der Providenz gibt, dazu befähigt, unter Umständen auch prophetisch wirksam zu werden, und die Unsterblichkeit zu erlangen. Nochmals soll das Gesagte mit der Hiob-Interpretation in Verbindung gebracht werden: Entsprechend zu Maimonides’ Erläuterung der wahren Gutheit als intellektueller Tugend ergibt sich ein niederschmetterndes Urteil bezüglich der Person des Hiob: Hiob hat sein Leid und Leiden verdient, da er in Tat und Wahrheit böse war, er erschien nur als gut, Gutheit verstanden in der Sichtweise der breiten, aber eben unverständigen und ungebildeten Masse. Job was not virtuous; he was, on the contrary, evil, and the suffering he underwent, consequently, was deserved. Job, according to Maimonides, was an ignorant man; and inasmuch as ignorance is sin, and intellectual perfection alone virtue, despite all appearances Job was evil. It is true that Job appeared to be pious and moral, but this was not intellectual or real virtue, rather goodness as understood by the uneducated masses.286 So urteilt Maimonides im gleichen Kapitel denn auch, dass Hiob nicht als weise beschrieben wird, sondern nur als moralisch rechtschaffen, seine Tugendhaftigkeit bestand nur in seinem Verhalten – wäre er nämlich weise gewesen, so Maimonides weiter, hätten ihn die Leiden nicht getroffen.287 Dass der Mensch überhaupt leiden kann und auch tatsächlich leidet, ja vielmehr 282 283 284 285 286 287

Nach: Davidson, H. (2005), S. 375f. Vgl.: Ebd. Nach: Ebd., S. 541. Ebd. Reines (1972), S. 195, Hervorhebung v.v. Nach: mn iii,22. .8

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sogar leiden muss, liegt daran – und zwar aufgrund eines notwendigen Kausalzusammenhangs –, dass er aus Materie besteht.288 Und so löst Maimonides das Problem der Theodizee, indem er Gott die Verantwortung für dieses letztlich abspricht und das Ganze an die Materie bindet. Ob der Mensch an diesem Leiden leidet oder nicht, hängt von ihm – bzw. von seiner intellektuellen Entwicklungsstufe – ab. Erreicht der Mensch die höchste Stufe des Intellekts, so bleibt er vom Leiden, von welchem er aufgrund des zwingenden Zusammenhangs mit der Materie natürlich nicht befreit wird, völlig unberührt, vielmehr erträgt er das Leid und lässt es stoisch über sich ergehen, ohne daran zu leiden. Denn mit seinem Intellekt ist er von der Materie und den Leiden, welche an diese gebunden sind, in gewissem Sinne – wenn auch nicht physisch – losgelöst. Doch eben gerade diese Stufe intellektueller Fähigkeit hat Hiob nicht entwickelt.289 Er blieb auf der Stufe moralischer Gutheit stehen und hat so die wahre Gutheit, wie sie Maimonides definiert, nicht erreicht, weswegen er das ihm Widerfahrene als Leid erlebte und daran litt – und zwar verdientermaßen und selbstverschuldet, da er seinen Intellekt nicht entsprechend geschult hat. Hätte er dies getan, so hätte er zwar vielleicht auch die Prüfungen durchleiden müssen, von denen die biblische Erzählung berichtet, doch hätte er die Geschehnisse nicht als Leid erlebt, sondern wäre intellektuell unberührt geblieben von den materiellen und körperlichen Gebrechen. Diese Trennung seines Intellekts von der Materie macht es möglich, von Leid – oder besser gesagt von dem als Leid Erlebten – verschont zu bleiben.290 Und ob jemand diese Fähigkeit besitzt, indem er die hierzu notwendige intellektuelle Entwicklungsstufe erreicht hat, hängt von jedem Einzelnen ab: Als Leid erfahrenes Leid ist gemäß Maimonides tatsächlich selbstverschuldet, da es unsere Aufgabe ist, unseren Intellekt so zu pflegen, dass er das mit dem materiellen Prinzip kausalerweise verbundene Übel nicht als Leid verspürt, sondern darübersteht. Und diesen Schritt hat Hiob während der Erzählung gemacht: Er erkannte die äquivoke Rede, welche Elihu herausarbeitete. Durch diese Erkenntnis wurde er über das 288 289

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Vgl.: Reines (1972), S. 204. Es bleibt allerdings mit Kasher anzumerken, dass Maimonides im Rahmen seiner Behandlung des Buches Hiob eine Entwicklung des Charakters Hiobs in drei Stufen vorstellt: Zunächst begegnet Hiob zwar als Gerechter, der aber leiden muss, da er nicht weise ist. Während seines Aufbegehrens nimmt er die Position Aristoteles’ ein, indem er Gottes Einwirken auf die Einzeldinge nicht für den menschlichen Bereich annimmt und so Gott als völlig indifferent gegenüber dem Leiden Hiobs als Individuum zeichnet. In einem dritten Schritt ereignet sich eine Veränderung an Hiob aufgrund der Epiphanie Gottes. Durch diese Selbstoffenbarung Gottes fand Hiob zur Wahrheit. (.81–82 '‫ עמ‬,(‫ כשר )תשמ"ה‬:‫)לפי‬ Nur diese Verbindung von Providenz und Intellekt interessiert Maimonides sodann an der Hiobserzählung. (Vgl.: Larrimore (2013), S. 94.)

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Physische entrückt und einigte sich in der Gottesrede ganz mit dem aktiven Intellekt. In diesem Moment wurde Hiob zum Objekt der göttlichen Vorsehung, sodass ihm Leid fortan nichts mehr antun konnte und sein Schicksal sogar wieder gewendet und Unheil von ihm abgehalten wurde. Nachdem geklärt ist, wie Maimonides Theodizee und Providenz behandelt, soll in der Folge seinem Verständnis des Bösen Beachtung geschenkt werden. 3.3.2 Die Behandlung des Bösen im mn Einerseits wird thematisiert, in welchen Formen das Böse auftritt, andererseits klärt Maimonides aber auch, was das Böse ist, woran und weshalb es auftaucht. Bevor aber diese Wesensbestimmungen thematisiert werden, wird der erste erwähnte Punkt ausgeführt: Die unterschiedlichen Formen des Bösen. 3.3.2.1 Die drei Formen des Bösen Mit dem Phänomen des Bösen beschäftigt sich Maimonides insbesondere in den Kapiteln 10–12 des dritten Teils seines mn.291 Dieses existentiell betrachtet eigentlich so große Problem stellt also nur einen sehr kleinen Teil seiner Überlegungen in diesem Werk dar. Maimonides unterscheidet drei Arten des Bösen:292 (1.) das natürliche Böse, (2.) das soziale Böse und (3.) das individuelle Böse.293 Rudavsky bezeichnet die drei Typen als metaphysisches, natürliches und moralisches Übel,294 wobei sie – mit der Verfasserin übereinstimmend und sich simpel aus dem Inhalt der jeweiligen Kategorie ergebend – ebenfalls antönt, dass man die Übel der zweiten sowie dritten Kategorie berechtigterweise auch als soziale bzw. persönliche Übel bezeichnen kann.295 Es gilt zunächst zu klären, was Maimonides unter diesen drei Manifestationen des Bösen versteht. Unter das natürliche Böse fällt alles Unheil, das dem Mensch qua Geschöpfsein und damit aufgrund seiner Endlichkeit zukommt, also z.B. der Tod. Die zweite Kategorie wird gebildet von Unrecht, welches Menschen anderen Menschen zufügen. Als klassisches Beispiel hierfür führt Maimonides das Phänomen des Krieges an. Im Unterschied dazu fällt unter die noch ausstehende Form des Bösen all jenes Unheil, das sich ein Mensch selbst zufügt, so insbesondere durch 291 292 293 294

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Vgl.: Rudavsky (2010), S. 138. Nach: mn iii,12 (Lateinisch: mn iii,13); vgl.: Kraemer, J. (2008), S. 389. Vgl.: Kraemer, J. (2008), S. 389f. Hinsichtlich des moralischen Übels ist anzumerken, dass Maimonides dieses in philosophischer Sicht anders bestimmt als in religiöser: „Moral evil is ultimately a matter of convention when considered from a philosophical point of view, and a matter of violating divine commandments when considered from a religious point of view.“ (Fox (1975), S. 86.) Letztlich gibt es damit für Maimonides keine rationalen Gesetze, sondern alles ist Ausdruck des göttlichen Gesetzes, der göttlichen Vorschriften, Ge- und Verbote. Nach: Rudavsky (2010), S. 140f.

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Maßlosigkeit etwa in Bezug auf das Essen, wodurch er sich selbst schadet.296 Maimonides bleibt nicht bei der Kategorisierung des Bösen stehen, sondern nimmt auch eine Klassifizierung gemäß Quantität vor. Dabei erweisen sich die Übel 1–3 als aufsteigende Reihe – und zwar nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht.297 Das natürliche Böse bildet die kleinste Gruppe, bereits etwas häufiger, aber immer noch relativ spärlich kommen soziale Übel vor; die größte Gruppe bilden aber jene Übel, die sich ein Mensch selbst zufügt.298 Diese Qualifizierung ist sehr interessant. Denn schauen wir uns die Um- und Mitwelt an, ergibt sich das Gefühl, dass Umweltkatastrophen, Krankheiten und dergleichen stark verbreitet sind und in zunehmendem Maße vorkommen. Auch fügen Menschen einander so viel Leid zu, wie wir gerade im 20. Jahrhundert auf erschreckende Weise erfahren mussten. Krieg und Gewalt können unserer Erfahrung gemäß doch nicht seltener sein als das Leid, das die Einzelnen selbst zu verantworten haben und sich selbst zufügen. Führt man sich weiter vor Augen, dass Maimonides als Arzt praktizierte, erscheint es umso unglaublicher, dass er das natürliche oder metaphysische Übel als das seltenste der drei Arten des Übels qualifiziert, war er doch aufgrund seines Berufes ständig umgeben von den schlimmsten Erscheinungsformen dieses Übels als physische Übel in Form von Krankheiten.299 Schaut man sich aber 296

297 298

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Wie Maimonides dabei festhält, sind all jene Güter, welche der Mensch zum Leben wirklich benötigt, durch Gottes Gnade überall zu jeder Zeit am Reichlichsten vorhanden, je weniger notwendig dagegen etwas ist (vgl. Gold, etc.), desto seltener ist es; doch sind es gerade diese (eigentlich unnötigen) Güter, nach denen sich unser Verlangen verzehrt und unser Streben richtet. (Nach: mn iii,12.) Es ergibt sich hier eine äußerst interessante Parallele zu Maimonides’ Biographie: Der Tor, welcher nach diesen überflüssigen Dingen strebt, nimmt oft große Gefahren auf sich, „z. B. auf Seefahrten oder in den Dienst von Königen, wobei sein letzter Zweck der ist, diese überflüssigen, unnötigen Dinge zu erlangen. Widerfahren ihm aber Unfälle auf diesen Wegen, die er wandelte, da lehnt er sich gegen Gottes Fügung und seine Bestimmungen auf und schilt dann über die Zeit und ihre Ungerechtigkeit.“ (mn iii,12.) Bedenkt man, dass Maimonides’ vielgeliebter Bruder David als Händler bei einem Schiffsunglück ums Leben kam, ist diese Aussage äußerst bemerkenswert. .285 '‫ עמ‬,(1994) ‫ שביד‬:‫לפי‬ Nach: mn iii,12 (lateinische Ausgabe: mn iii,13); vgl.: Parens (2012), S. 43f. Interessant ist hierbei ein Verweis auf Aristoteles, welcher die philosophische Bezugsgröße des Maimonides darstellt. Demgemäß lässt sich das Böse noch weiter quantitativ bestimmen: Es kommt häufiger vor als das Gute! Das Böse nämlich gehört zum Unbegrenzten, wie Aristoteles mit Verweis auf die Pythagoräer aufweist, das Gute dagegen zum Begrenzten. (Nach: en ii,5; 1106b.) Das Gute ist äußerst selten und gerade deshalb (weil es so schwer ist, die Mitte zu treffen – sprich das Gute zu tun und tugendhaft zu sein) ist es auch so schön und lobenswert. (Nach: en ii,9; 1109a.) Nach: Rudavsky (2010), S. 141.

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die Definition und das Verständnis Maimonides’ genauer an, so erscheint diese Rangierung durchaus nachvollziehbar und sogar logisch. Denn Maimonides sieht das Individuum selbst als Verursacher von Krankheiten und dergleichen an: Es ist der Mensch mit seinem maßlosen Verhalten, welcher Krankheiten zu verantworten hat; diese Maßlosigkeit des Menschen ist es, welche die meisten physischen Übel hervorruft und erzeugt.300 Und eben darum, weil die meisten physischen – aber auch psychischen – Übel vom jeweiligen Menschen selbst verschuldet301 und nicht wie das Faktum der Sterblichkeit als metaphysische Übel über ihn verhängt sind, sind sie großmehrheitlich der dritten Kategorie, dem individuellen bzw. moralischen oder persönlichen Übel zuzurechnen. Auch hierin zeichnet sich Maimonides durch eine äußerst differenzierte Betrachtungsweise aus, indem er das individuelle Übel in physische sowie psychische Übel unterteilt.302 Was bei der Dreiteilung auffällt, ist die auffallende Nähe zu der unter dem philosophischen Teil aufgezeigten Vorstellung Leibniz’ mit der Unterteilung des Übels in unterschiedliche Unterarten. So spricht auch dieser vom physischen, vom metaphysischen sowie vom moralischen Übel.303 Leibniz’ metapyshisches Übel entspricht sodann dem metaphysischen Übel bei Maimonides, das natürliche Übel ist eher mit dem individuellen Übel des Rambam zu identifizieren, das moralische dagegen mit dem sozialen. Es fällt auf, dass die drei genannten Kategorien den Menschen in den Blick nehmen und das Böse von seiner Perspektive aus interpretieren. „Since evil, according to Maimonides, is a category imposed by man upon things, rather than something real existing in them, the discussion of evil in the Guide examines the three classes of things interpreted by man as evil.“304 Maimonides 300

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Hierbei kann eine Verbindung zu Maimonides’ Tätigkeit als Arzt gezogen werden: Seiner Ansicht nach geht es in der Medizin nämlich gerade auch um präventive Praktiken, indem er eine Verbindung von der physischen Gesundheit zur Tugend zieht und so auch eine religiöse Dimension einfließen lässt: Ein Arzt muss in erster Linie den Patienten behandeln und nicht die Krankheit; er muss dem Patienten dabei helfen, seine Wünsche, sein Verlangen bzw. sein Begehren zu lenken. (Nach: Halbertal (2014), S. 62.) Denn die Maßlosigkeit, welche sich in der dritten Kategorie der Übel manifestiert, resultiert in Krankheiten; um daher die Krankheiten effektiv behandeln zu können, muss die Maßlosigkeit bekämpft werden, welche die Krankheiten hervorbringt. „This psychophysical attitude toward medicine forges the tie between Maimonides the halakhist and philosopher and Maimonides the physician.“ (Ebd.) Ja mehr noch hält Maimonides fest, dass die Laster die Ursache der dritten Kategorie des Übels sind und dass diese Art von Übeln „die Ursache aller körperlichen und seelischen Krankheiten und Leiden“ (mn iii,12; Hervorhebung v.v.) darstellt. Vgl.: Rudavsky (2010), S. 141. Vgl.: Leibniz, Theodicee, ii, §21. Dobbs-Weinstein (1992), S. 225, Hervorhebung im Original.

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behandelt das Böse so in erster Linie von einem anthropologischen Gesichtspunkt aus. Der Mensch selbst ist verantwortlich für das Böse, gerade auch als Täter, wodurch der Rambam einen freiheitstheoretischen Entwurf vorlegt. Nachdem geklärt worden ist, welche verschiedenen Arten von Übeln existieren, wenden wir uns der zentralen Frage dieser Arbeit zu: Woher kommt das Böse – ganz abgesehen von der Zugehörigkeit zu diesen Kategorien? 3.3.2.2 Die Herkunft des Bösen Die Antwort ergibt sich für Maimonides ganz einfach: Das Böse ist durch die Materie gegeben.305 Dies ergibt sich gerade auch aus einem Zusammenspiel von mn iii,8, wo die Materie mit der Privation verknüpft wird, und mn iii,10, wo betont wird, dass alle Übel Privationen sind. Hiermit schließt sich Maimonides der neuplatonischen Bestimmung des Bösen, wie sie uns bei Plotin (204– 270 n.Chr.)306 begegnet, an: Auch dieser hatte bereits festgehalten, dass das Böse Beraubung (στέρησις, Stéresis) des Guten sei,307 wodurch er betonte, dass das Böse nur einen parasitären Charakter besitzt. Und wie später Maimonides, hielt bereits Plotin die Materie für den Ursprung des Bösen: Folglich muss es ein Etwas geben, welches an sich selber unbegrenzt ist und selber gestaltlos, und ebenso bei den andern vorher genannten Bestimmungen, die das Wesen [φύσις, Physis, v.v.] des Bösen bezeichnen; und was etwa nach ihm von solcher Beschaffenheit ist, das hat dies entweder beigemengt, oder es ist von solcher Beschaffenheit, weil es auf dies sich ausrichtet, oder es bringt ein Ding von solcher Beschaffenheit hervor. Materie [ὕλη, Hylè, v.v.] also, welche den Figuren, Gestalten, Formen, Maßen und Grenzen zur Unterlage dient, sie, die sich mit fremder Zier schmückt, denn sie hat aus sich selber nichts Gutes, sondern ist nur ein Schattenbild im Vergleich mit dem Seienden, ist vielmehr die Substanz des Bösen (sofern es auch vom Bösen irgendwie eine Substanz geben

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Mit Blick auf die Materie lassen sich bei Maimonides mit Dobbs-Weinstein zwei Zugangsweisen herauskristallisieren, welche sie als neuplatonisch bzw. aristotelisch charakterisiert: „The first account (= neuplatonisch, v.v.) is expressed in poetic language, presenting matter as the source of privation, evil, error, and all moral transgressions. The second (= aristotelisch, v.v.) is a scientific account, of matter as a principle underlying generation and corruption. Both accounts are based upon acceptance of creation ex nihilo, which Maimonides affirms in explicit opposition to Aristotle but finds to be consistent with Neoplatonic cosmology.“ (Ebd., S. 217, Hervorhebung im Original; vgl. auch: .362 '‫ )תשס"ז( עמ‬,‫)וולמן‬ Zu Plotin sei einführend verwiesen auf: Alt, K. (2005). Nach: Plotin, Enneaden i,8, 1.

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kann): sie ist es, welche unser Gedankengang aufdeckt als das erste Böse und das an sich Böse.308 Es ist die Materie, an der die Privationen auftreten können, und so ist sie bzw. das materielle Prinzip auch für die Übel verantwortlich.309 Auch Aristoteles verbindet die Materie mit dem Prozess von Veränderung und Degeneration.310 So konnte Maimonides die beiden Vorstellungen miteinander verbinden und das Böse nicht nur im Sinne der Degeneration – und damit in Form des metaphysischen Übels –, sondern auch im Sinne der Privation – und damit in Form der physischen Übel – an die Materie als Ursprungsort binden. Doch ergibt sich hieraus für Dobbs-Weinstein ein gravierendes Problem: „[T]here remains the problem of attributing a qualification originating in practical reason to an ontological principle that is the proper object of speculative reason.“311 Es werden also zwei unterschiedliche Bereiche miteinander vermengt. Das materielle Prinzip wird von Maimonides gewissermaßen mit dem Bösen identifiziert,312 weiter setzt er dieses Prinzip mit Negation und Privation gleich.313 308 309

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Ebd., i,8, 3. Vgl.: Rudavsky (2010), S. 137. Mit Blick auf die bereits erwähnten drei Formen von Übeln ergibt sich hierbei aber ein Problem, da die zweite und dritte Kategorie den Fokus auf den Menschen und seinen freien Willen richten, indem die Taten des Menschen in den Blick genommen werden und so die Materie, welche für die erste Kategorie von entscheidender Bedeutung ist, aus dem Blick gerät. (Vgl.: Costa (2010), S. 359.) Vgl.: Aristoteles, Phys. ii,1; 193a. Dobbs-Weinstein (1992), S. 218. So streicht beispielsweise auch Wohlman heraus, dass Maimonides die Materie als Wurzel des Bösen in jedem Gebiet veranschlagt (.362 '‫ עמ‬,(‫ )תשס"ז‬,‫ וולמן‬:‫)לפי‬, sodass die Materie, aus welcher ja auch der Mensch besteht, den letzten Grund für die drei von Maimonides für die humane Wirklichkeit aufgezeigten Formen des Bösen darstellt. Mit Dobbs-Weinstein ist allerdings darauf hinzuweisen, dass dies nicht von der materia prima gilt, welche nach mn ii,17 auf einzigartige Weise aus nichts ins Dasein gebracht worden ist, denn da sie absolut unbestimmt sei, sei sie nicht von der Privation betroffen, welche nur der geformten Materie zukomme. (Nach: Dobbs-Weinstein (1992), S. 221f.) Als Quelle des Bösen tritt die Materie daher erst als bestimmte bzw. in der sublunaren Sphäre auf. (Nach: Ebd., S. 224.) Nach: Rudavsky (2010), S. 138. Die notwendige Verknüpfung von Materie und Privation thematisiert Maimonides beispielswiese in mn iii,8: „Aber die Natur und das wahre Wesen der Materie besteht eben darin, dass sie niemals der Verbindung mit dem Nichtsein (der Privation) entgehen kann“. Oder in der Übersetzung Altmanns: „Denn die wesenhafte Natur des Stoffes ist das unaufhörliche Behaftetsein mit dem Mangel (der Privation).“ (Des Rabbi Mosche Ben Maimon More Newuchim, S. 62.) Sowohl bei Pines als auch bei Munk findet sich privation, im Hebräischen Ibn Tibbons wiederum ‫( העדר‬He’der; Mangel, Abwesenheit, Fehlen). Al-Charizi wählt dagegen den Begriff ‫( אפס‬Efess; Null, also das Nichtige). In der lateinischen Ausgabe findet sich die Thematik der Verbindung

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Wird diesbezüglich Rudavskys Interpretation gefolgt, kann aufgrund der Gleichung a=b=c der logische Schluss gezogen werden, dass, wenn die Materie (= a) mit dem Bösen (= b) sowie auch mit der Negation und der Privation (= c) gleichzusetzen ist, auch die Teile b und c miteinander identifiziert werden, was nichts anderes bedeutet, als dass Maimonides das Böse im Sinne einer Negation bzw. Privation versteht. So schreibt er denn auch in mn iii,10, dass alle Übel Privation sind.314 Auffälliger und wichtiger noch ist in dieser Gleichung aber die Identifikation der Materie mit dem Bösen. Hierin lässt sich eine Parallele zu Plotin315 und damit zum Neuplatonismus aufzeigen, mit dem er für seinen Glauben grundlegende Aspekte teilt: [T]here is a transcendent deity who is related nevertheless to this world; that an emanative mechanism operates through which the universe is permanently structured, and through which God’s presence, however seemingly impersonal and mediated, is rendered actual; that man has free will, and that it is matter which accounts for the evil in the world, even as the intellectual triumph over matter brings one to individual salvation.316 Es wird ersichtlich, dass sich Maimonides gerade in der Frage der Herkunft des Bösen nicht eigentlich als Aristoteliker, sondern als Platoniker, genauer gesagt als Neuplatoniker erweist.317 Wie Ivry festhält, boten sich die neupla-

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von Materie und Privation in mn iii,9, wobei auch hier der Begriff privatio Verwendung findet. Nach: mn iii,10, wobei Maimonides hierbei auch betont, dass an einem Ding nur insofern von einem Übel gesprochen werden kann, als es sich um das Nichtsein des Dinges oder aber um eine Privation guter Eigenschaften dieses Dinges handelt. So streicht der Rambam den sekundären (und auch parasitären) Charakter des Bösen heraus: Kein Ding ist als Ding schlecht, es können aber Privationen an ihm auftreten und diese – und nur diese – sind schlecht. „Nun, das Böse liegt nicht in einem beliebigen Mangel, sondern im völligen. Ist doch ein Ding, das nur ein wenig des Guten ermangelt, keineswegs böse, es kann ja sogar vollkommen sein im Rahmen seiner besonderen Anlage; wenn es dagegen vollständig seiner ermangelt – und das ist die Materie –, das ist das wahrhaft Böse, das kein Stückchen vom Guten an sich hat; denn die Materie besitzt ja nicht einmal das Sein – sonst könnte sie auf diesem Umweg am Guten teilhaben –, sondern dass sie ‚ist’, ist lediglich sprachlicher Gleichklang, richtig wäre es zu sagen, dass ihr Sein das Nicht-sein ist.“ (Plotin: Enneaden, i,8, 5.) Ivry (1986), S. 149, Hervorhebungen v.v. Ivry hält denn auch fest, dass sich Maimonides mit seiner Konzeption von Form und Materie wesentlich von Aristoteles abhebt und mittels Neuplatonismus zu einer Überordnung der Form und einer Abwertung der Materie gelangen konnte. (Nach: Ivry (1985), S. 146.)

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tonischen Lehren, die Maimonides nicht nur im Bereich der Identifikation der Materie mit dem Bösen, sondern beispielsweise auch im Rahmen der göttlichen Vorsehung318 aufgreift, insbesondere an, da Maimonides sie für am ehesten kompatibel mit dem traditionellen jüdischen Glauben hielt.319 Die Identifikation der Materie mit dem Bösen ist bei Maimonides nun aber nicht dahingehend zu verstehen, dass das Böse die Materie ist oder dass die Materie an sich böse ist. Vielmehr betont Maimonides, dass das Böse nicht existiert, es ist ein Mangel an Sein, eben eine Privation. Die Wirklichkeit an sich ist gut, alles Existierende – also auch die Materie, an der die Privationen auftreten und die der Ursprungsort des Bösen ist – ist gut;320 das Böse dagegen ist das Fehlen, die Abwesenheit dieser Wirklichkeit, der Mangel an Sein.321 Es ist nicht ein Nicht-Sein, sondern ein Nichts, ein Nichts an Sein. Das Böse selbst ist nicht wirklich, vielmehr besteht es in der Abwesenheit des Guten.322 Es ist nicht etwas Geschaffenes, sondern es ist vielmehr das Ungeschaffene, aber zugleich indirekt Erschaffene. Es ist als Nichts an Sein das, was zu schaffen unmöglich ist.323 Folglich geht es nicht um den „Kontrast zwischen einer Entität und einer anderen Entität, sondern zwischen einer Entität und ihrer Abwesenheit.“324 Maimonides vergleicht dies mit Licht und Dunkelheit:325 Auch der Schatten kann zu demselben Zweck herangezogen werden.326 Das Licht ist etwas 318 319 320

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Vgl.: Ivry (1986), S. 150. Nach: Ebd., S. 151. Vgl.: mn iii,10; vgl.: McCallum (2007), S. xi. Alles Geschaffene ist damit als Geschaffenes grundlegend und in erster Linie gut. An dieser an sich guten Materie kann aber das Böse als Mangel bzw. Privation auftreten, sodass das Böse aufs Engste mit der Materie verbunden, aber nicht identisch ist. Diese Sichtweise wird uns weiter unten im Kapitel zu Thomas von Aquin nochmals begegnen. .280 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫ לפי‬Dies bedeutet, dass alles von Gott Geschaffene gut ist, als böse ist etwas daher nur akzidentell (lat. per accidens, wie wir bei Thomas von Aquin immer wieder sehen werden) zu verstehen. (Vgl.: Dobbs-Weinstein (1992), S. 224.) .40 '‫ עמ‬,(1990) ‫ שורץ‬:‫לפי‬ .281 '‫ עמ‬,(1994) ‫ שביד‬:‫לפי‬ Rosenberg (2001), S. 35. Nach: mn iii,10. Wobei nach Ansicht der Verfasserin Dunkelheit und Schatten als Beispiele hinken, da es sich hierbei nicht ausschließlich um eine Privation im Sinne eines Übels handelt, sondern lediglich unter gewissen Umständen. So kann in einem dichtbewachsenen Wald der Schatten größerer Bäume tatsächlich zu einem lebensbedrohlichen Übel für kleinere Pflanzen werden. An einem heißen Tag dagegen empfinden wir den Schatten als eine Wohltat und die Sonne als ein Übel. Auch die Dunkelheit der Nacht ist nicht in jedem Falle ein Übel: Es ist wichtig, dass es nachts dunkel ist, damit wir schlafen, uns erholen und das am Tag Erlebte verarbeiten können. Dieser natürliche Rhythmus von Tag und Nacht ist für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden von tragender Bedeutung.

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Seiendes, es besitzt Sein. Der Schatten dagegen ist kein Sein und auch nicht ein Nicht-Sein, sondern ein Nichts, das nur in Verbindung mit dem Seienden Licht auftreten kann. Es haftet diesem natürlicherweise an. Mit der Schaffung des Lichts tritt automatisch auch der Schatten auf, der selbst aber keine Existenz hat. Dieser wird denn auch nicht geschaffen. Schatten kann es nur dort geben, wo es Licht gibt. Das Licht kann aber nicht ohne den Schatten existieren. Zugleich mit der Schaffung des Lichts als Wirklichkeit taucht denn auch der Schatten mit kausaler Notwendigkeit in der wirklich geschaffenen Welt auf, doch besitzt er selbst kein (unabhängiges) Sein. Auf vergleichbare Weise haftet das Böse der Materie an. Auch dieses ist nicht geschaffen. Bezüglich des von Maimonides gewählten Vergleichs, in welchem anstelle des bisher aufgeführten Schattens die Dunkelheit genannt wird, kann folgende Analogie angeführt werden: Wenn jemand Licht macht, so ist dies wirklich als eine Schöpfung anzusehen. Schaltet er allerdings daraufhin das Licht wieder aus, taucht er den zuvor mit Licht erhellten Raum zwar wieder in Dunkelheit, doch kann nicht in derselben Weise vernünftig behauptet werden, er hätte die Dunkelheit geschaffen.327 Es handelt sich hierbei um zwei unterschiedliche Verständnisse von machen: Im ersten Fall (Licht) ist die Erschaffung eines Seins gemeint, im zweiten (Dunkelheit) dagegen wird die Wegnahme dieser geschaffenen Wirklichkeit bezeichnet, der Zustand des Fehlens dieser Entität. In der Weise, wie man sagen kann, dass Gott den Schatten bzw. die Dunkelheit geschaffen hat, indem er das Licht erschaffen hat, kann man auch sagen, er habe das Böse erschaffen, indem er die materielle Welt erschaffen hat.328 Und auf diese Weise ist denn nach Maimonides auch die Bibelstelle Jes 45,7 zu verstehen, wodurch sie eine neue Bedeutung erhält: Es geht nicht mehr in erster Linie um die Betonung des Monotheismus, sondern darum, das Wesen des Bösen zu erläutern.329 Bereits in der von Maimonides verwendeten Terminologie lässt sich diese Ansicht gemäß Rudavsky bestätigen, denn im Hinblick auf das Böse kann Gott nur insofern verantwortlich gemacht werden, als er die Materie,

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Etwas, was zumindest dem mittelalterlichen Wissensstand nach tatsächlich als ein Übel in jeder Hinsicht, unabhängig von Umständen empfunden wurde, mit Licht und Dunkelheit verbunden ist und daher eigentlich vielleicht als bestes Beispiel fungiert, dürfte das Phänomen einer Sonnenfinsternis sein: Dunkelheit, die am Tag über das Licht einbricht, die Sonne, die am Tag dasein müsste, wird verdunkelt, es tritt eine Abwesenheit der Sonne zu einem Zeitpunkt ein, zu dem sie eigentlich vorhanden sein müsste. Dies dürfte die Privation des Lichts als Übel sein. Doch ist diese Privation bzw. ihre Möglichkeit im Gegensatz zu Schatten und Dunkelheit nicht automatisch mit der Existenz der Sonne gegeben, weswegen wohl auch dieses Beispiel im Letzten hinkt. .25 '‫ עמ‬,(1987) ‫ רוזנברג‬:‫לפי‬ Nach: mn iii,10. .25 '‫ עמ‬,(1987) ‫ רוזנברג‬:‫לפי‬

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durch welche das Böse gleichsam einem Schatten in die Welt kam, ins Dasein gebracht hat, wobei Maimonides hierfür interessanterweise die Verwendung des Verbes, das biblisch exklusiv für das schöpferische Handeln Gottes gebraucht wird (‫ברא‬, bará), hervorhebt und betont, dass diese Verwendung und der damit verbundene bewusste Verzicht auf das einfache Verb machen (‫עשה‬, assá) durchaus einen theologischen Aussagegehalt besitzen und bewusst gewählt sind, da das Schöpfungsverb die Schaffung aus dem Nichts oder aus der Privation in die Existenz ausdrückt.330 330

Nach: Rudavsky (2010), S. 139; vgl.: mn iii,10 (im lateinischen mn: iii,11 (facere – creare, wobei wörtlich auf den Charakter per accidens hingewiesen wird)): „Beachte: Der Prophet sagt nicht: ‚Er macht (‫עשה‬, ossé) die Finsternis’ oder ‚er macht das Übel’, weil diese keine existierenden Dinge sind, auf welche man das ‚Machen’ beziehen könnte. Tatsächlich sagt er in Beziehung auf diese beiden Dinge: ‚Er erschafft’ (‫בורא‬, boré), weil dies in der hebräischen Sprache ein Wort ist, welches auf die Privation bezogen werden kann, wie in den Worten: ‚Im Anfange schuf (‫ברא‬, bará) Gott’ (Gen 1,1), wo es bedeutet: Aus dem Nichts (der Privation).“ In der hebräischen Übersetzung des mn durch Ibn Tibbon wird der Privationscharakter des Bösen mit dem Wort ‫( העדר‬He’der; Fehlen, Abwesenheit) wiedergegeben. In der französischen Übersetzung von Munk wird privation verwendet, wobei Munk nicht festhält, dass das Wort im Hebräischen mit der Privation verbunden ist, sondern er schreibt, dass es sich dabei um einen Terminus handelt, „qui dans la langue hébraïque se rattache au non-être“, also mit dem Nicht-Seienden bzw. Nicht-Sein, was bereits eine Interpretationsstufe über die reine Privation hinausgeht. Auch al-Charizis hebräische Übersetzung geht in diese Richtung, wenn er anstelle von ‫ העדר‬durchgängig den Begriff ‫( אפיסה‬Afissáh (hier klingt über dieselbe Wurzel ‫( אפס‬Efess; Null) an); Fehlen, Zuendegehen) verwendet. Auch Pines schreibt zuvor zwar von Privationen, veranschlagt aber für das hebräische Schöpfungsverb eine Verbindung zum Nichtsein, wobei er in einer Fußnote die alternative Übersetzung mit Privation festhält. (Nach: Pines, mn, fn 5 S. 438.) Zuvor schon betont er in einer Fußnote, dass der von Maimonides verwendete arabische Begriff sowohl „nonbeing“ als auch Privation bedeute. (Nach: Pines, mn, fn 1 S. 438.) Diese Doppeldeutigkeit des arabischen Begriffs hat zur Folge, dass eine Übersetzung immer auch schon eine interpretierende Entscheidung zwischen den beiden Varianten, welche im ursprünglichen Wort beide zugleich anklingen, fällt und so die Bedeutung entscheidend einengt. Wird wie bei Ibn Tibbon der Begriff des Mangels, der Privation gewählt, so wird das Positive betont, das Ding, an dem ein entsprechender Mangel auftreten kann, und der umschriebene Mangel selbst als wesentlich sekundär herausgestellt. Entscheidet man sich dagegen wie al-Charizi für das Nicht-Sein, so wird das Negative betont, es erhält eine eigenständige und damit primäre Erscheinungsform. Da Ibn Tibbons Übersetzung in Korrespondenz mit dem Autor entstand, bevorzugt die Verfasserin der vorliegenden Arbeit diese Übersetzung und damit die Wiedergabe als Mangel bzw. Privation, eine Einengung des arabischen Begriffs, welche aber durch die Korrespondenz mit Ibn Tibbon wohl von Maimonides abgesegnet und somit durchaus legitim und den gewünschten Sinn wahrend ist. Im Rahmen des Verweises auf das Schöpfungsverb macht der Sinnwechsel, welcher etwa von Pines vorgenommen wird und der so beide Wortbedeutungen einholt und dem Kontext anpasst, durchaus Sinn. Um die ursprüngliche Bedeutungsvielfalt bzw.

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Auch das Böse ist göttlichen Ursprungs, doch nicht für sich, sondern lediglich als Zufall oder Nebenprodukt. Das Böse ist ein notwendiges Resultat der Schöpfung und muss existieren [wobei hier Existenz nicht im Sinne einer tatsächlichen Wirklichkeit, eines Seins zu verstehen ist, v.v.]. Sein Status ist jedoch dem des Schattens ähnlich, der immer im Verein mit einem Körper auftritt. Wie die Abwesenheit von Dingen an ihr Vorhandensein gekoppelt ist, so kommt auch das Böse in die Welt.331 Denn auch der Transfer von Nicht-Sein bzw. der Privation ins Sein verlangt nach einem Agenten: Gott ist akzidentell verantwortlich für das Böse, indem er Positives macht (‫ )עשה‬und somit durch die Schaffung aus dem Nichts (‫ )ברא‬auch die Möglichkeit zu Bösem „mitschafft“, da dieses ins Dasein Gebrachte in seinem Sein mit Privation assoziiert bleibt.332 Gott macht also sowohl im Falle des Lichts als auch im Falle des Friedens etwas Positives – alles also, das er erschafft, ist positiv –, doch sind damit negative Konsequenzen verbunden, welche daraus folgen, dass das Gute aus dem Nichts hervorgeht und daher in seinem Sein weiterhin mit der Möglichkeit zur Privation verbunden bleibt; diese negativen Aspekte sind also nicht nur mit der Privation sondern auch mit der Schaffung des Guten aus dem Nichts verbunden.333 Wenngleich also mit der Erschaffung des Guten auch die Möglichkeit zu seinem Fehlen und damit zum Bösen gegeben ist, so ist dennoch die Schöpfung als solche als gut zu qualifizieren.334

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den äquivoken arabischen Begriff auch in der deutschen Übersetzung anklingen zu lassen, könnte etwa auf folgende Wiedergabe zurückgegriffen werden: Mit Bezug auf Dunkelheit und das Böse kann die Rede von der Privation bzw. vom Mangel beibehalten werden. Mit Blick auf das hebräische Schöpfungsverb dagegen könnte eine Verbindung dieses Verbs im Hebräischen mit dem am Sein Mangelnden bzw. das vom Sein Privatierte ausgedrückt werden, wodurch einerseits das Nichtsein angesprochen ist, andererseits aber zugleich auch der Aspekt des Mangels bzw. der Privation wieder anklingt und so die Wortverwandtschaft angedeutet werden kann. Rosenberg (2001), S. 36. Vgl.: Rudavsky (2010), S. 139f. Vgl.: Ebd.; vgl.: mn iii,10: „Und nach diesen Prämissen wird in Wahrheit kund, dass man von Gott schlechterdings nicht sagen kann, dass er selbst überhaupt ein Übel schafft, nämlich dass er ursprünglich beabsichtigt, ein Übel zu schaffen. Dies ist undenkbar. Vielmehr sind seine Werke alle vollkommen gut, denn er erschafft nur Seiendes und alles Seiende ist gut. Die Übel aber alle sind Privationen, auf die sich das Schaffen nicht bezieht, außer in dem Sinne, den wir auseinandersetzten, indem der Schöpfer die Materie mit der Natur hervorbrachte, die sie an sich hat, nämlich dass mit ihr immer, wie bekannt, die Privation verbunden ist.“ Im Unterschied zu Weiss und Pines übersetzt etwa Friedländer nicht „alle Übel sind Privationen“, sondern dass sie negativen Charakter besitzen, womit das Böse eher in die Nähe der Negation als der Privation gerückt wird. .26 '‫ עמ‬,(1987) ‫ רוזנברג‬:‫לפי‬

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Zugleich bedeutet dies aber auch, dass Gott – obwohl er nur Gutes geschaffen hat – indirekt oder akzidentell für die Existenz des Bösen verantwortlich ist.335 Damit kehren wir zurück zum oben angeführten Zitat, welches besagt, dass das Böse an der Materie hängt: Das materielle Prinzip ist die Quelle des Bösen. Nur an diesem kann es auftreten. Gäbe es keine Materie bzw. kein materielles Prinzip, so hätte auch das Böse keine Auftrittsfläche, es könnte nicht existieren. Doch weswegen taucht das Böse gerade an der Materie auf? Wie Rosenberg festhält, ist die Materie ihrem Wesen nach unvollkommen.336 Diese Unvollkommenheit ist es denn auch, welche das Einfallstor für das Böse in die existierende Welt bildet. So ist zwar die Schöpfung an sich gut, doch da alles Geschaffene aus Materie besteht, kommt mit diesem Vollkommenen (in dem Sinne, dass es besser nicht sein könnte, sondern die Schöpfung angesichts der notwendigen „Mängel“ aufgrund der Materie so vollkommen wie irgend möglich ist) auch die Unvollkommenheit einhergeht.337 Auch die Anordnung der Behandlung der einzelnen Themen im mn stellt für Rudavsky gleichsam einen Beweis dafür dar, dass eine intensive Beziehung zwischen dem Bösen und der Materie besteht.338 Schematisch lässt sich Maimonides’ Entwurf damit wie folgt darstellen: Mensch

{

metaphysisches Böses soziales Böses individuelles Böses

{

Privation an der Materie

Hieran wird ersichtlich, dass zwar die Möglichkeit des Bösen überhaupt mit der Materie gegeben ist, an der es als Privation auftritt, es aber der Mensch ist, welcher das Böse in Form des sozialen sowie des individuellen Bösen mittels seines freien Willens realisiert. Wenngleich dieser freie Wille bei Maimonides auch nicht direkt angesprochen ist, so ergibt er sich logischerweise als Konsequenz aus den drei Formen des Übels: Da der Mensch aufgrund seines freien Willens die Möglichkeit hat, Böses über sich und seine Mitwelt zu bringen, indem er sich freiwillig gegen Gottes Willen stellt, kann er das Böse realisieren. Es ist der Mensch, welcher Kriege führt und so soziale Übel verursacht und es ist der Mensch, welcher sich maßlos an Genüssen wie Essen verhält und so individuelles Übel über sich selbst bringt.

335 336 337 338

Vgl.: Rudavsky (2010), S. 139f. Nach: Rosenberg (2001), S. 37. Nach: Ebd. Nach: Rudavsky (2010), S. 138.

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Da das Böse der Materie auf natürliche Weise anhaftet und sie dadurch kompromittiert, ergibt sich für Maimonides in Bezug auf die durch die Existenz des Bösen gegebene Unvollkommenheit der Schöpfung auch kein Problem für die Gotteslehre. Da die Unvollkommenheit der Schöpfung im materiellen Prinzip begründet ist,339 welches – wie bereits erwähnt – seinerseits auch die Quelle und der Grund des Bösen ist, ergibt sich für Maimonides auch keine Notwendigkeit „to explain why a perfect Deity created an imperfect world“340. Denn die simple Tatsache „that matter contains the ingredients of evil does not (in Maimonides’ mind) reflect negatively on a perfectly good creator.“341 Dabei wird augenscheinlich, dass nach Maimonides’ Auffassung kein Böses existiert, dessen Ursprung in Gottes Begrenztheit oder seiner Indifferenz gegenüber dem Bösen zu suchen wäre.342 Wo hingegen Gott von dieser Thematik berührt wird, ist der Bereich der göttlichen Vorsehung.343 Denn gerade hier stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass – wenn doch Gott auf gütige Weise für seine Geschöpfe sorgt – häufig gerade unverdientes Übel geschieht oder anders gesagt: Wie sind Gottes „providential care“344 und „gratuitous evil“345 zusammenzudenken?346 Wie Maimonides dieses Paradoxon auflöst, wurde im Rahmen seiner durchaus innovativen Hiobinterpretation und damit zusammenhängend seiner Antwort auf die Theodizee behandelt. In Kap. 10 definiert Maimonides das Böse als Privation – eine Definition, welche bereits weiter oben angedeutet worden ist. In den beiden folgenden, ebenfalls für die Behandlung der Thematik des Bösen zentralen Kapiteln entwickelt Maimonides eine der Tradition verpflichtete Theodizee, zumindest qualifiziert sie Rudavksy als klassische Theodizee.347 Hierbei folgert Maimonides – aufgrund des Verständnisses des Bösen als Privation –, dass die meisten Übel, welche zwischen Menschen geschehen, auf Unwissenheit bzw. Privation von Wissen zurückzuführen sind.348 Das Problem des Bösen tangiert somit im mn auch die Thematik des Wissens Gottes, wobei Maimonides festhält, dass die Tatsache, dass das Böse existiert, eben gerade nicht als Argument dafür angesehen werden könnte, „that God is 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348

Nach: Ebd., S. 137. Ebd. Ebd. .280 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫לפי‬ Nach: Rudavsky (2010), S. 137. Ebd. Ebd. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 140. Nach: Ebd.

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ignorant of human affairs.“349 Denn die Tatsache, dass Gott die Welt geschaffen hat, spricht biblisch fundiert unzweifelhaft dafür, dass Gott die Welt kennt und weiß, wie sie zu funktionieren hat – ansonsten hätte er sie nicht erschaffen können, so Maimonides; dass also vieles ungeordnet erscheint, spricht nicht gegen Gott und auch nicht gegen sein Wissen um die Vorgänge in dieser Welt.350 Damit ergibt sich auch ein Zusammenhang mit der Schöpfungsthematik: Mittels der Lehre der creatio ex nihilo vermag Maimonides die Möglichkeit der Existenz von Wundern in dieser Welt aufzuzeigen.351 Maimonides richtet sich in seiner Betrachtung des Phänomens des Bösen gegen zwei klassische Thesen:352 Zum einen wendet er sich gegen den TunErgehen-Zusammenhang, indem er bezüglich Hiob festhält, dass dieser nicht im moralischen Sinne zu beschuldigen sei für die Übel, die über ihn gekommen sind; er lehnt die Auffassung ab, dass das über Hiob hereingebrochene Leid das Ergebnis seiner Sünden sei. Der klassische Tun-Ergehen-Zusammenhang wird damit von Maimonides negiert. Hiob hat gemäß Maimonides nicht moralisch gefehlt, er hat nicht gesündigt. Dennoch ist Hiob in Maimonides’ Augen strafwürdig, da ihm die intellektuelle Tugendhaftigkeit fehlte. Zum anderen weist er auch die Auffassung zurück, dass die Gerechten mit ihren in dieser Welt erlittenen Leiden ihren Lohn in der kommenden Welt vermehren und die bösen Menschen ihre gerechte Strafe in der kommenden Welt erhalten. Um Gottes Gerechtigkeit wahren zu können, muss in diesem Modell auf eine andere Welt zurückgegriffen werden: Nur mithilfe dieser Konstruktion einer zweiteiligen Wirklichkeit kann der Graben zwischen erlebter Wirklichkeit und Rechtsempfinden überwunden werden. Die von uns erfahrene Welt kann nur gerecht sein, wenn ihr eine andere zur Seite gestellt wird.353 Nur durch diese 349 350 351 352 353

Davies, D. (2011), S. 90. Vgl.: Ebd. Nach: Ebd, S. 100. .279–280 '‫ עמ‬,(2009) ‫ הלברטל‬:‫ לפי‬An diesen Ausführungen orientiert sich denn auch der gesamte Absatz. Dieses System erweist sich für das Leben des Einzelnen als genau so nutzlos und gefährlich wie Leibniz’ Theorie von der bestmöglichen Welt: Es dient dazu, dass die Menschen die hiesigen, tatsächlichen Zustände indifferent hinnehmen, ohne sie verändern zu wollen. Eine Veränderung dieser Welt ist nicht anzustreben, da die Verheißungen alle auf das Jenseits konzentriert und der Mensch so auf bessere Zustände nach seinem Tod vertröstet wird. Wie Leibniz’ Theorie richtet sich diese Theorie also letztlich gegen ein Auflehnen gegen die aktuellen Zustände und Systeme in Welt und Gesellschaft und fördert die Sicht, dass alles, so wie es jetzt ist, seinen Sinn und seine Ordnung hat – auch wenn diese erst im Jenseits erkannt werden kann. Die eine Theorie geht davon aus, dass diese Welt, so wie sie ist, bereits die bestmögliche ist und wir mit allen angestrebten Veränderungen

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Hinzufügung kann dieses System von Lohn und gerechter Strafe aufrechterhalten werden. Doch lehnt Maimonides dieses Weltbild entschieden ab. Seiner Meinung nach vermag es das Problem des Bösen nicht zu lösen. Das Böse wird von Maimonides – so Rudavskys These – nicht in erster Linie theologisch betrachtet, sondern es wird vielmehr als ontologisches Problem behandelt.354 Wie gesehen, ist die Herkunft des Bösen in der Materie zu suchen. Im Bereich dieser Thematik muss nochmals auf die bereits behandelte Hiobinterpretation des Maimonides eingegangen werden, da hier eine Verbindung der beiden Themenbereiche Theodizee und Herkunft des Bösen vorliegt. Da das Böse der Materie anhaftet, kann Gott nicht direkt für das Böse verantwortlich gemacht werden. Vielmehr ist das Böse in der Erschaffung der Materie mitenthalten. Und so ist Gott insofern nur indirekt für die Existenz des Bösen verantwortlich zu nennen, als er die Materie ins Dasein gerufen hat.355 Damit hängt eine Begrenzung der göttlichen „Allmacht“ in einem gewissen Sinne zusammen, denn es gibt – so Maimonides in mn iii,15 – Dinge, die Gott nicht kann, er ist an gewisse Grenzen gebunden. Diese Einschränkung ist Gott aber nicht als Unfähigkeit oder als Machtmangel anzulasten, vielmehr ist er an die Gesetze der Logik gebunden:356 Das Unmögliche kann Gott nicht tun und da Privation und Materie notwendigerweise miteinander zusammenhängen, kann Gott auch keine Materie schaffen, welche nicht von der Privation berührt wird. So ist diese Welt auch angesichts des Bösen die bestmögliche: Denn Gott hätte die Welt nicht besser – also ohne Böses – schaffen können.

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nur zu einer Verschlechterung derselben führen würden; die andere besagt, dass wir uns nicht aufzulehnen brauchen, da es zwar in dieser Welt als ungerecht erscheint, aber sich die Gerechtigkeit dieser Ordnung im Jenseits dafür als umso größer erweisen wird, da diese Welt alleine kein geschlossenes System darstellt, sondern zusammen mit dem Jenseits eine Wirklichkeit und eine (gerechte) Ordnung darstellt. Veränderungen hier hätten somit auch Auswirkungen auf das Gesamtsystem und damit auf das Jenseits, was seinerseits ebenfalls zu einer Verschlechterung des aktuell von Gott gerecht und vernünftig eingerichteten Systems führen könnte bzw. würde. Beiden fehlt somit ein wichtiges kritisches Potential, welches die Menschen dazu anregt, die aktuellen Zustände zu überdenken und zu einer Verbesserung der Zustände in dieser Welt anzuregen, um bereits hier – zusammen mit Gott – zu versuchen, wieder zur von Gott gewollten Ordnung, die sich im Urzustand der Schöpfung zeigt, zurückzukehren und so bereits ein Stück Himmel auf Erden zu verwirklichen. Nach: Rudavsky (2010), S. 138. Nach: Ebd., S. 139f. Vgl.: Ebd., S. 142. Maimonides betont weiter, dass in einigen Aspekten einer solchen Unmöglichkeit alle Forschungsmeinungen übereinstimmen, bei einzelnen Phänomen eine solche Einigkeit allerdings nicht bestehe, sondern einzelne etwas für unmöglich halten, von welchem andere gerade dessen Möglichkeit behaupteten. (Nach: mn iii,15.)

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Vielmehr schließt die Erschaffung aus einer Materie immer schon die Möglichkeit zu deren Privation ein. Die geschaffenen Dinge sind somit gut – gerade auch aufgrund des Emanationsgedankens –, dennoch tritt an ihnen das Böse in Form von Privation auf. Dass das Sein und damit das Gute in unterschiedlichen Stufen aus Gott ausströmen, also nicht nur unkörperlich, und damit ohne Materie (also ohne Möglichkeit zum Bösen), sondern auch körperlich, ist gut. Wie schon Plotin aufzeigte, gehört die unterschiedliche Seinsstufung zur Vollkommenheit der Welt und so hat auch das Böse seinen fixen Platz in der Welt, wobei Plotin dies mit der Vorstellung eines Malers und seines Kunstwerkes, in dem eben auch schwarze Flecken zur Schönheit des Ganzen beitragen, vergleicht.357 Die unterschiedliche Stufung des Seins führt dazu, dass diese Welt im Gesamt gesehen – eben auch mit jenen Farben im Gemälde, welche nicht zu passen scheinen – die schönstmögliche ist.358 Dass hierbei aber automatisch auch das Böse notwendigerweise mitgegeben ist, begründet Plotin indes wie folgt: Die Emanation des Guten in unterschiedliche – und damit niedere  – Seinsstufen beinhaltet die Notwendigkeit, dass dieser Prozess irgendwann an ein Ende gelangt, dass also nicht weiter hinunter emaniert werden kann, dieser Punkt ist also an der Grenze vom Sein zum Nicht-Sein gegeben und genau an diesem Punkt ist auch das Böse anzusiedeln, indem die Materie das letzte Glied in dieser Kette ist, welches selbst aber nichts mehr von diesem Emanierten in sich trage.359 Die gute, unterschiedliche Stufung des Seins beinhaltet somit als Endpunkt auch die Materie, an der Privationen auftreten können. Durch die Seinsfülle ist damit auch die Möglichkeit zum Bösen, dessen Herkunft in der Materie auszumachen ist, notwendigerweise gegeben, indem die Privationen, welche als das Böse definiert werden, an ebendieser auftreten. Ganz besonders das metaphysische Übel bzw. der natürliche Degenerationsprozess hängt so mit der Materie zusammen. Doch auch die anderen Übel sind nicht unabhängig von ihr, insofern sie es ist, an der Privationen – und damit das Böse – auftreten können. Damit nimmt Maimonides gerade auch in seiner Behandlung des Bösen viele neuplatonische Elemente auf: den Emanationsgedanken, die Stufung des Seins als Zeichen der Vollkommenheit, die beste aller möglichen Welten in Aufnahme Plotins, aber auch die Bestimmung des Bösen als Privation sowie damit verbunden die Materie als Ursprung des Bösen, indem sie notwendiger Anknüpfungspunkt des parasitär bestimmten, privativen Bösen ist. 357 358 359

Nach: Plotin, Enneaden iii,2, 11. Nach: Ebd. iii,2, 12. Hier klingt eindeutig der Gedanke der bestmöglichen Welt an, den sowohl Maimonides als auch Leibniz, aber auch Thomas von Aquin übernommen haben. Nach: Ebd. i,8, 7.

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Nachdem nun geklärt ist, woher das Böse kommt und in welchen Formen es an der Materie auftreten kann, muss der Frage nachgegangen werden, ob diese Elemente sich so auch mit der Hiob-Erzählung decken. 3.3.2.3

Die Kompatibilität der Ausführungen zum Bösen mit der Hiobinterpretation Wie bereits erwähnt, ist Gott nicht direkt der Grund für das Böse. Auch in der Hiob-Erzählung erscheint nicht Gott als Urheber des Bösen. Vielmehr trägt die Figur des Satan die Schuld für die leidvollen Prüfungen, mit denen Hiob sich konfrontiert sieht. Darüber hinaus identifiziert Maimonides Satan als den Trieb zum Bösen, Yetzer haRa (‫)יצר הרע‬, „the very desire and lust that lead the human into personal evil in the first place“360. Hier soll zunächst noch beim begonnenen Thema verweilt werden, bevor zum angerissenen Thema übergegangen und geklärt wird, was genau unter dem Trieb zum Bösen zu verstehen ist. Bezeichnend für die Interpretation ist die Begrenzung des Einflussbereichs des Satans: Wohl kann er Hiob alles nehmen, jene Dinge, welche ihm gehören – Besitz, Familie, Freunde –, ebenso wie jene, welche zu ihm selbst gehören, sprich sein Körper, seine physische Gesundheit und Integrität. Doch eines kann er ihm nicht nehmen: Hiobs Leben ist seinem Einflussbereich entzogen. Er hat also keine Macht über Hiobs Seele.361 Dies ergibt zusammen mit den Überlegungen Maimonides’ zum Intellekt ein stimmiges Bild: „[P]rivation has no power over the intellectual or cognitive intellect, and so Satan cannot influence Job’s spiritual existence.“362 Und weiter lassen sich auch die beschriebenen Leiden, welche Hiob widerfuhren und er wehrlos über sich ergehen lassen musste, nahtlos in die von Maimonides entwickelte Kategorisierung der Übel einfügen: Da wären als metaphysisches Übel das Hinwegraffen seines gesamten Besitzes, seines Hauses, seines Viehs sowie seiner Söhne und Töchter zu nennen; das soziale Übel zeigt sich in der Abwendung seiner Freunde, ja im Sich-Gegen-Ihn-Wenden, woraus die völlige Isolierung und Einsamkeit Hiobs resultiert; und zu guter Letzt erscheint das individuelle-physische Übel in den diversen Krankheiten, welche den Körper Hiobs zugrunderichten.363 Hierzu gilt es aber nach Ansicht der Verfasserin einen wichtigen Punkt festzuhalten, welcher nicht unterschlagen werden darf: Maimonides ist der Auffassung, dass die individuellen Übel das Individuum aufgrund seines maßlosen Verhaltens 360 361 362 363

Rudavsky (2010), S. 147. Nach: Ebd. Ebd. Nach: Ebd. Allerdings gilt es hierbei anzumerken, dass auch bereits in den Katastrophen, welche Hiob treffen, das soziale Übel zur Sprache kommt: Denn es werden kriegerische Raubzüge geschildert.

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und Konsumierens über sich selbst bringt. Doch gerade dieser Punkt will bei der biblischen Erzählung nicht so recht greifen. Zwar kann einerseits das körperliche Leiden Hiobs (Krankheiten, Furunkeln, etc.) durchaus als das in der dritten Kategorie bei Maimonides geschilderte individuelle Übel identifiziert werden. Andererseits entzieht es sich dieser Kategorisierung zugleich auch, indem Hiob innerhalb der biblischen Erzählung an keiner einzigen Stelle durch Maßlosigkeit auffällt. Er hat dieses persönliche Übel nicht durch sein maßloses Verhalten selbst verschuldet. So hinkt die Gleichsetzung der in der biblischen Hiob-Erzählung geschilderten unterschiedlichen Übel, welche Hiob treffen, mit den von Maimonides definierten Kategorien des Übels ein wenig. Die maimonidische Hiobinterpretation hat sich bisher in zweierlei Hinsicht als spannend erwiesen: Zum einen erklärt Maimonides, weswegen Hiob als vermeintlich gänzlich Unschuldiger dennoch gerechterweise leidet und löst somit innerhalb des von ihm aufgezeigten Denksystems die Theodizee-Frage. Ob diese Frage mit dem Verweis auf die Pflicht, seinen Intellekt zu schulen und von den materiellen Leiden unabhängig zu machen, aber tatsächlich befriedigend beantwortet ist, sei dahingestellt. Das Problem der Existenz des Übels bleibt damit bestehen. Und sicherlich ist es auch nicht hilfreich den leidenden Menschen die Schuld zu geben, dass sie das Leid auch tatsächlich als Leid erleben und daran leiden. Doch ist das von ihm entwickelte System sehr interessant und in sich selbst schlüssig. Zum anderen ist es spannend zu sehen, dass die drei maimonidischen Kategorien des Bösen auch in der Erzählung des Hiob auszumachen sind. Sein Kategorisierungssystem behauptet sich so einerseits an der Heiligen Schrift, andererseits vermag es aber auch angesichts der Erfahrung zu bestehen. Insbesondere die differenzierten Unterscheidungen in Bezug auf die zwischen- und innermenschlichen Übel ist beeindruckend und vermag auch heute zu überzeugen: So unterscheidet Maimonides im zwischenmenschlichen Bereich zwischen Übeln, welche Menschen über andere Menschen bringen, und solchen, welche ein Mensch sich selbst zufügt. Innerhalb dieser zweiten, innermenschlichen Kategorie unterscheidet er weiter zwischen körperlichen und seelischen Übeln. Mit dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise der Übel, des menschlichen Zusammenlebens sowie des Menschen an sich erscheint Maimonides – und mit ihm das von ihm entwickelte System – sehr modern. Doch mit diesen interessanten Bemerkungen, welche bisher aufgezeigt worden sind, ist es noch nicht getan. Noch weitere bemerkenswerte Punkte lassen sich an der maimonidischen Interpretation der Hiob-Erzählung aufzeigen. Zunächst soll diesbezüglich ein Punkt weiterentwickelt werden, der bereits aufgegriffen worden ist. Maimonides beschreibt Hiob als nur vordergründig gut, das letzte Erforderliche zu wahrer Gutheit fehlt ihm dagegen, weswegen

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er verdientermaßen leidet. Auch dieser Hinweis auf die intellektuelle Entwicklung lässt sich äußerst passend mit dem Ende der Hioberzählung in Verbindung bringen: So kommt es zu einer direkten Begegnung zwischen Hiob und Gott. Hiob setzt sich mit der Metaphysik auseinander, er blickt hinter die Dinge, wie sie sind. Im Gespräch mit Gott schult Hiob seinen Intellekt und entwickelt die erforderliche Stufe, welche ihn die Nichtigkeit des materiellen Prinzips erkennen lässt, wodurch er Abstand dazu und dem damit verbundenen Übel gewinnt und so nicht mehr daran leidet. So ist es mit der göttlichen Gerechtigkeit übereinstimmend, dass Hiob nicht mehr leidet, sondern wieder – in viel größerem Ausmaße als zuvor – zurückerhält, was ihm genommen wurde. In der Begegnung mit Gott entwickelt sich Hiob von einem bloß moralischen zu einem tatsächlich guten Menschen. Und so wird er auch wieder direktes Objekt der göttlichen Vorsehung. Die Hiob-Interpretation deckt sich so mit den Ausführungen des Rambam zu den drei Formen des Übels sowie zur Vorsehung. Was mit Blick auf die Hiobinterpretation des Maimonides bisher unterschlagen wurde, soll nun endlich nachgeliefert werden, da es auch zum nächsten Punkt, dem Trieb zum Bösen, überleiten wird: Die Satan-Interpretation des Rambam. 3.3.2.4 Maimonides’ Satan-Interpretation Maimonides erkennt in der biblischen Erzählung zwei unterschiedliche Satane.364 So erklärt Maimonides, weswegen in der Erzählung Satan zweimal vor 364

Zur Satansinterpretation bei Maimonides siehe mn iii,22 sowie ii,30 (insbes. fn 77, Übersetzung Weiss). Weiter sei auch auf einen Aufsatz von Nuri’el verwiesen: (‫נוריאל )תשמ"ו‬. Dabei stellt Nuri’el zunächst auch die Deutungen anderer Interpreten dar, von älteren wie etwa Crescas bis hin zu neueren wie Klein-Braslavy. (.83–85 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )ראה‬Nuri’el selbst streicht die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gottessöhne hervor, mit denen zusammen Satan auftritt, um zur richtigen Interpretation des Satans gelangen zu können. (.85 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Gottessöhne identifiziert er dabei als natürliche Ereignisse. (.86 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Das zweimalige Auftreten Satans lässt darauf schließen, dass es sich hierbei um zwei unterschiedliche Figuren, zwei Satane handelt. (‫ שם‬:‫ )לפי‬Der erste Satan ist kein Engel. (.87 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Dennoch steht er in Beziehung zu Gott und da er zusammen mit den Gottessöhnen auftritt, gehört auch er zu den Naturereignissen und wird von Nuri’el mit dem Zufall identifiziert. (.88 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Nach Nuri’el können dementsprechend alle im Buch Hiob geschilderten Ereignisse diesem ersten Satan zugeschrieben werden. (.89 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Beim zweiten Satan dagegen handelt es sich um einen Engel, er wird identifiziert mit dem besonderen Mangel bzw. der besonderen Privation und gehört damit zu den Naturgesetzen. (.‫ שם‬:‫ )לפי‬Von diesem Mangel ist aber der Verstand nicht betroffen, welcher nach dem Tod übrigbleibt, weswegen auch dieser zweite Satan keine Macht über die Seele des Menschen, also den Teil, welcher den

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Gott tritt: es sind zwei unterschiedliche Personifizierungen, die je einmal vor Gott hintreten.365 Beide Interpretationen sind äußerst spannend. Auf die Frage Gottes, woher der Satan komme, antwortet dieser ihm: „Die Erde habe ich durchstreift, hin und her.“ (Hi 1,7) Das Wirkungsfeld dieses Satans ist unten auf der Erde, hier schreitet er umher, im Himmel dagegen ist er machtlos.366 Und so wird dieser erste Satan, welcher dem Leser gleich zu Beginn begegnet, mit der am Materiellen hängenden und an ihm auftauchenden Privation identifiziert.367 Daher auch besitzt dieser erste Satan keine Macht über Hiobs Leben und seine Seele, sondern kann „lediglich“ Naturkatastrophen und Feinde über ihn kommen lassen.368 Alleine diese Deutung ist schon bemerkenswert. Doch noch interessanter wird es, betrachten wir die zweite Satansgestalt. Das zweite Auftreten des Satans deutet Maimonides als eine weitere Erscheinungsform und zwar diesmal nicht mehr als das Böse, welches als Privation an Äußerlichem auftritt, sondern als etwas in uns. Hier begegnen wir dem Trieb zum Bösen, dem Yetzer haRa, welchem weiter unten ein kleiner Exkurs gewidmet wird. Maimonides greift im Rahmen dieser zweiten Deutung auf eine Figur „aus der talmudischen und midraschischen Literatur“369 zurück: Samma’el.370 Rosenberg qualifiziert diesen genialen Schachzug maimonidischer Interpretationskunst als „eine der vielleicht genialsten und interessantesten Thesen von Maimonides, die zudem entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des jüdischen Denkens haben sollte.“371 Samma’el steht für die linke und damit – gemäß klassischen Zuschreibungen – böse Seite in uns.372 Es gibt also nicht nur diese eine Form des Bösen, welche uns im ersten Satan begegnet, nämlich „Beraubung, Schatten, Null, etwas, das kein Dasein hat“373, sondern eine weitere Form, die in uns selbst zu suchen ist. Dies äußert sich als Kampf, der in jedem Menschen tobt: „der Kampf zwischen Vernunft und Einbildungskraft. Wir könnten auch sagen: zwischen den rationalen

365 366 367 368 369 370 371 372 373

Tod überdauert, hat. (.‫ שם‬:‫ )לפי‬Furunkel, etc. kommen als Mangel vom zweiten Satan. (.90 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Was die beiden Satansfiguren verbindet, ist die Materie, an welcher Zufall und besonderer Mangel auftreten. (.91 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫)לפי‬ Nach: Rosenberg (2001), S. 40. Nach: Ebd., S. 41. Nach: Ebd. Vgl. auch: Ebd., S. 69 sowie Nehorai: .55 '‫ עמ‬,(‫נהוראי )תשמ"ח‬ .29 '‫ עמ‬,(1987) ‫ רוזנברג‬:‫לפי‬ Rosenberg (2001), S. 69. Nach: Ebd. Ebd. Nach: Ebd., S. 71. Ebd., S. 42.

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und irrationalen Fähigkeiten des Menschen.“374 Doch auch diese zweite Erscheinungsform des Satans ist insofern mit der ersten verknüpft, als Satan auch hier als Privation auftritt, als Mangel nämlich an der richtigen Hierarchie zwischen Intellekt und Imagination bzw. als Fehlen der rechten Herrschaft oder Beherrschung der einen Fähigkeit über die andere.375 Doch welche dieser beiden Fähigkeiten wird von Maimonides nun mit Samma’el, der bösen Kraft in uns, identifiziert, die rationale oder die irrationale? Sicherlich kann es nicht die Seite des Rationalen sein, denn gerade die Schulung der Vernunft und das Erreichen der höchsten intellektuellen Entwicklungsstufe ist es ja, wie gezeigt worden ist, welche gemäß Maimonides einen Menschen erst zu einem wirklich guten und nicht nur moralischen macht. Somit besteht der böse Trieb im Menschen in seinen phantasievollen Fähigkeiten.376 Da Satan sowohl mit dem bösen Trieb als auch mit der Imagination identisch ist,377 können auch der böse Trieb und die Imagination miteinander identifiziert werden.378 Auch Klein-Braslavy folgt dieser Interpretation und löst das Rätsel um die Satansfigur in Hiob (wobei es hier um seine zweite Erscheinungsweise geht) in folgende Gleichung aus, welche deutlich macht, wie vielschichtig die Konnotationen Satans in diesem interpretativen Rätsel des Maimonides sind und dass diese ganze Tiefe wirklich nur von sehr kundigen und aufmerksamen Lesern alleine ohne Hilfestellung freigelegt werden kann: „Sammael = Satan = the Evil Inclination = the Angel of Death = imagination and solve the Sammael riddle by identifying Sammael with imagination.“379 Über weitere Interpretationen und Gleichungen gelangt man zum Schluss, dass die Schlange aus der Paradieseserzählung als eine Fähigkeit in unserer Seele („the faculty of desire“380) zu verstehen ist, die von der Phantasie bzw. Einbildungskraft dominiert wird.381 Als Konsequenz davon, dass Maimonides das Böse nicht ausschließlich als uns Äußerliches definiert, sondern darüber hinaus auch in uns selbst verortet, tritt die Verantwortung eines jeden einzelnen Menschen in Augenschein: Das Böse ist nicht nur etwas, das uns einfach so von außen widerfährt, sondern darüber 374 375 376

377 378 379 380 381

Ebd. Vgl. hierzu auch: mn ii,30 fn 77 S. 213 (in der Übesetzung von Weiss). .30 '‫ עמ‬,(1987) ‫ רוזנברג‬:‫לפי‬ An dieser Stelle sei auch auf Thomas von Aquins Ausführungen zu den Leidenschaften verwiesen, wobei diese mit Blick auf moralische Gutheit hinsichtlich ihres Bezugs zur Vernunft zu beurteilen sind. (Vgl.: STh i–ii, qq. 22–48.) Vgl.: mn ii,12 sowie mn iii,22. Vgl.: Rosenberg (2001), S. 72. Mit Blick auf das Stichwort Einbildungskraft sei auf Kants kritische Philosophie verwiesen. (Vgl.: Thompson (2013).) Klein-Braslavy (2011,1), S. 153. Ebd., S. 159. Nach: Ebd., S. 155.

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hinaus v.a. etwas, das wir von innen heraus selbst verursachen und produzieren. Maimonides betont damit, „dass der Mensch frei ist und sein Schicksal in hohem Maße selbst bestimmt. Er ist verantwortlich für Gut und Böse und trifft seine Wahl zwischen beiden.“382 So kommt nebst der eigenen Verantwortung auch die Wahlfreiheit des Menschen in den Blick. Nachdem nun mit Maimonides’ Satan-Interpretation bereits der Blick für den Trieb zum Bösen geöffnet worden ist, soll in einem weiteren Teil kurz auf die Lehre der beiden Triebe zum Guten und Bösen eingegangen werden. 3.4

Die Lehre von den beiden Trieben zum Guten und zum Bösen

Der Mensch wird von zwei Trieben geleitet: dem Trieb zum Bösen (‫)יצר הרע‬, Yetzer haRa)383 sowie dem Trieb zum Guten (‫יצר הטוב‬, Yetzer haTov).384 Dabei 382 383

384

Rosenberg (2001), S. 46. Zur Herkunft des Begriffes sowie auch zu seiner inhaltlichen Fülle s.: 11 '‫ עמ‬,(2007) ‫קידר‬, weiter auch: (2007) ‫ולר‬, die nebst den unterschiedlichen Ansichten in Mishnah und Talmud auch auf die sich daraus ergebende Frage eingeht, wie denn der Mensch gegen den Yetzer haRa ankämpfen kann. Auch Shin’an verweist auf diesen Kampf, indem er die Geschichte Josephs anführt, welcher seinen Trieb besiegte und gerade auch deshalb gerecht, ‫( צדיק‬Zaddík) genannt werde. (.52 '‫ עמ‬,(2007) ‫ שנאן‬:‫ )לפי‬Rosen-Zvi (2009) führt eine Sammlung unterschiedlicher rabbinischer Diskurse zum Yetzer haRa an. Vgl.: bT Berakhot 3a sowie (mit Bezug zum Bösen als Folge des bösen Triebs) Mishnah Berakhot 9,5. Auch in Genesis Rabba wird der Trieb zum Bösen gemeinsam mit dem Trieb zum Guten erwähnt, wobei der Frage nachgegangen wird, ob diese beide (gemeinsam auch mit der Frage nach Hölle, Todesengel, Leiden, etc.) unter das Attribut sehr gut, mit welchem Gottes Schöpfung zu Ende von diesem selbst qualifiziert wird, fallen. Dies wird bejaht. (Vgl.: BerR 9, inbes. 9,7–11.) Ricoeur etwa schreibt zur Lehre von den beiden Trieben Folgendes: „[D]er Mensch ist der Dualität zweier Tendenzen, zweier Antriebe ausgesetzt, einer guten Neigung und einer bösen Neigung, und auch diese zweite – yetzer ha-ra – hat der Schöpfer dem Menschen eingepflanzt: sie gehört zu den Dingen, die Gott gemacht hat und von denen er gesagt hat, sie seien ‚sehr gut’; so ist die böse Neigung nicht ein radikales Böses, das der Mensch erzeugt hätte und von dem freizukommen er radikal ohnmächtig wäre; es ist vielmehr eine ständige Versuchung, an der sich der freie Entscheid übt, sie ist ein Hindernis, das in ein Sprungbrett zu verwandeln ist; die ‚böse Neigung’ macht aus der Sünde nicht etwas Heilloses.“ (Ricoeur (2009), S. 151, Hervorhebung im Original.) Buber hält fest, dass die beiden Triebe gemeinsam als Diener des Menschen sehr gut sind. (Nach: Buber (2003), S. 33–36.) Der Sinn der Lehre von den beiden Trieben zum Guten und zum Bösen „erschließt sich uns erst, wenn wir sie als wesensungleich erkennen, den ‚bösen Trieb’ als die Leidenschaft, als die dem Menschen eigentümliche Kraft also, ohne die er weder erzeugen noch hervorbringen kann, die aber, sich selber überlassen, richtungslos bleibt und in die Irre führt, und den ‚guten Trieb’ als die reine

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gilt es zu beachten, dass das Wort ‫ יצר‬keineswegs statisch und somit in jedem Kontext gleich verstanden werden kann, vielmehr kam es im Verlaufe der Zeit zu Bedeutungsverschiebungen.385 Seine Bedeutung als Hang bzw. Neigung zum Bösen hat der Begriff ‫ – יצר‬so Cohen/Geert – erst im 2. Jahrhundert nach der christlichen Zeitrechnung erhalten.386 Die beiden oben genannten Triebe zum Bösen und zum Guten kämpfen um die Aufmerksamkeit des Menschen, um ihn zu einer entsprechenden Handlung zu verleiten – je nachdem eine gute oder eine böse Tat – analog dem bekannten kindlichen Bild der beiden Figürchen, welche uns auf der Schulter sitzen, in unser Ohr flüstern und wollen, dass wir ihnen folgen: auf der einen Schulter ein Engelchen, auf der anderen ein Teufelchen.387 Dabei kommen

385 386 387

Richtung, das heißt als die eine unbedingte Richtung, die auf Gott zu. Die beiden Triebe einen, das will sagen: die richtungslose Potenz der Leidenschaft mit der einen Richtung versehen, die sie zur großen Liebe und zum großen Dienste tauglich macht. So und nicht anders kann der Mensch ganz werden.“ (Ebd., S. 36.) Nach: Cohen/Geert (1984), S. 81. Nach: Ebd., S. 4. Diese „Legende von den Engeln, die jeden Menschen begleiten, einer zur Rechten und einer zur Linken – der gute Trieb und der böse Trieb“ (Rosenberg (2001), S. 70.) wird auch von Maimonides in mn iii,22 aufgegriffen. Wie bereits weiter oben erwähnt, hat Maimonides gewisse Begriffe nicht ins Arabische übersetzt, sondern die traditionellen hebräischen bzw. aramäischen Ausdrücke verwendet. Ein solcher Fall tritt im Rahmen der genannten Legende auf und dies – folgt man Rosenberg – aus einem bestimmten (etymologischen) Grund heraus: „In der betreffenden Passage – natürlich ebenfalls arabisch geschrieben – spricht er von den zwei Engeln, dem zur Rechten des Menschen und dem zu seiner Linken. Doch dann fügt er auf Hebräisch hinzu: ‚Und das sind der gute Trieb und der böse Trieb.‘ Maimonides schuf hier also nicht eine Legende, die es zuvor nicht gegeben hatte, sondern fügte seine Anmerkung in eine bereits existierende Legende ein. Warum aber tat er das? Ich glaube – und genau diese These habe ich auch in der besagten Untersuchung entwickelt –, dass Maimonides das hebräische Wort für ‚links‘, smol [‫שמאל‬, v.v.], verwendete, um uns auf die Etymologie des Namens ‚Sammael‘ [‫סמאל‬, v.v.] hinzuführen. Dazu muss nur ein Buchstabe im Hebräischen verändert werden.“ (Ebd., S. 71, Hervorhebung im Original.) Klein-Braslavy dagegen weist auf die Verbindung zu samme (‫)סמא‬, blind hin: „Given that readers have already identified Sammael with imagination, the etymology of the name Sammael should be easier to discover. The name seems to be derived from the verb samme’, blind. Imagination blinds human beings; it offers them wrong aims, inducing them to pursue physical desires and preventing them from seeing their true purpose, which is to achieve human perfection by contemplation of the intelligibles.“ (Klein-Braslavy (2011,1), S. 159, Hervorhebung im Original.) Siehe hierzu auch mn ii,30 (u.a. mit Verweis auf BerR 19 sowie 56) sowie insbes. fn 77 S. 213 in der Übersetzung von Weiss, wo sich genau dies wiederfindet. Zu den beiden Engeln bzw. den beiden Trieben s. auch: bT Chagigah 16a sowie bT Shabbath 119b.

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gemäß jüdischer Tradition aber nicht beide Triebe gleichzeitig ins Dasein: Der Trieb zum Bösen kommt dem Trieb zum Guten zuvor, er ist sozusagen der ältere – missratene – Bruder. Denn dieser oftmals so starke Trieb taucht bereits im Moment der Geburt auf.388 Dies trifft auf den Trieb zum Guten nicht zu.389 Er kommt nämlich erst im Alter von 13 Jahren390 – dem Alter des Erreichens der Mündigkeit, da ein jüdischer Knabe nun dem Minjan zugerechnet wird und fortan unter dem Gesetz steht, also religiös erwachsen ist – zum Tragen und dies aus folgendem Grund: „At the age of reaching legal majority one is supposed to be able to withstand one’s desires.“391 Erst mit Erreichen der gesetzlichen Mündigkeit also wird es einem Menschen angerechnet, wenn er seinen Begierden nachgibt, da er erst von diesem Zeitpunkt an die notwendigen Gegenkräfte in Form des Triebs zum Guten besitzt, um den Begierden widerstehen zu können. Der Grund, aus welchem der Trieb des Bösen so gefährlich ist, besteht gemäß Cohen/Geert in seiner Unvorhersehbarkeit,392 was sie am Beispiel der Geschichte des biblischen Davids festmachen: Denn so konnte er diesem Trieb im Falle seiner Konfrontation mit Sha’ul (Saul) widerstehen und diesem sein Leben lassen, doch als er die schöne Batsheva (Bathseba) beim Baden erblickte, war er dem Yetzer haRa „wehrlos“ ausgeliefert.393 Im einen Fall hörte er auf den Trieb des Guten, im anderen dagegen erlag er dem Trieb zum Bösen. Es kann immer in beide Richtungen ausschlagen und auch wenn man sich dem bösen Trieb einmal entgegengesetzt hat, garantiert dies keinesfalls, dass man ihm in der nächsten Minute bei der nächsten Gelegenheit nicht doch erliegt. Auch wenn alle Komponenten unverändert dieselben sind, kann einmal der Yetzer haTov, ein anderes Mal aber der Yetzer haRa obsiegen. Genau diese „unpredictability of the evil inclination shows its extreme danger“394. Ein weiterer Grund, weswegen dieser Trieb so gefährlich, aber auch äußerst erfolg- und einflussreich auf unsere Entscheidungen und Handlungen ist und wir uns immer wieder von Neuem gegen ihn behaupten müssen, der mit der genannten Unvorhersagbarkeit zusammenhängt, ja gewissermaßen deren Ausdruck ist, besteht darin, dass der böse Trieb „an inexhaustive arsenal of possibilities“395 besitzt. Mit ebendiesen unterschiedlichen Möglichkeiten, mit denen er uns 388 389 390 391 392 393 394 395

Nach: Cohen/Geert (1984), S. 15. Nach: Ebd. Nach: Ebd.; vgl. auch: 51 '‫ עמ‬,(2007) ‫שנאן‬. Cohen/Geert (1984), S. 15. Nach: Ebd., S. 59. Nach: Ebd. Ebd. Ebd.

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versuchen und zu Fall bringen kann, hat er sich auch David letztlich Untertan gemacht. Man könnte gewissermaßen sagen, dass es dem bösen Trieb egal ist, wenn er einmal unterliegt und der Mensch dem guten Trieb folgt, denn er weiß, dass die nächste Gelegenheit kommen wird. Das Problem wird zusätzlich verschärft durch den Umstand, dass dieser Trieb integral zur menschlichen Existenz gehört.396 Doch ist dieser Trieb sozusagen ein Zwitterwesen, denn er besteht nicht nur aus einem inneren, dem Menschen integralen Teil – einer Kraft, die von innen auf ihn einwirkt –, sondern darüber hinaus wird er auch als eine Kraft beschrieben, die von außen in das Leben eines Menschen tritt.397 Eine Person wird zugleich von innen, als auch von außen verführt: Von außen durch die Situation, die sich ergibt, indem man z.B. eine wunderschöne, aber eben bereits verheiratete Batsheva erblickt, von innen durch die Begierden, die uns eine innere Stimme in Form unreiner Gedanken, die uns das begehren lassen, was gegen Gottes Gebote ist, einflüstert, indem also der Anblick dieser unnahbaren Frau das Begehren, sie zu besitzen, auslöst und man regelrecht besessen ist von diesem Gedanken und erst Ruhe findet, wenn man sich den fremden Besitz genommen hat, wohlwissentlich, dass es falsch ist. Der äußere Reiz alleine reicht nicht aus. Erst die innere Versuchung in Form des Begehrens macht die Versuchung zu einer echten Versuchung. Hätte David nämlich Batsheva nur erblickt, seine Gedanken aber wären dabei rein geblieben – hätte also der gute Trieb obsiegt und David wäre dessen Gebot gefolgt, die Augen von ihr zu nehmen, da sie bereits die Frau eines anderen Mannes war, was zu begehren von Gott ausdrücklich verboten war –, so hätte ein und dieselbe Situation für ihn nicht zu einer echten, ihn zu Fall bringenden Versuchung werden können. Der böse Trieb geht aber noch viel weiter, indem er sogar Gottes Worte benutzt, um uns zu täuschen. Dieses Phänomen begegnet uns im christlichen Kontext in exemplarischer Weise in der Versuchungsgeschichte Jesu: Der Teufel versucht, Jesus mit gezielt gestreuten Bibelzitaten zu locken. Hier erscheint der böse Trieb also in personifizierter Gestalt in Form des Satan. Die Gefahr ergibt sich daraus, Worte aus ihrem Kontext – und damit aus ihrer eigentlichen Bedeutung – herauszureißen und sie gegen andere Worte auszuspielen. Das Umdrehen von Gottes Worten, dessen ist sich auch die Bibel immer bewusst, stellt eine große Gefahr dar und kann den Menschen schwächen. Der böse Trieb „even abuses God’s grace and the contradictions in the Torah to weaken man. The evil inclination holds that the end justifies the means.“398 Doch kann der Geist Gottes, hier sozusagen die Personifizierung des guten Triebs, auch 396 397 398

Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd.

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die gezielten Textstellen als Gegengifte eingeben, mit denen sich die Gottesfürchtigen gegen die Angriffe zur Wehr setzen und den Widersacher in seine Schranken verweisen können. Und so konterte denn auch Jesus ebenso jede Attacke mit Gegenworten aus der Schrift. Cohen/Geert weisen darauf hin, dass zwar die theoretische Möglichkeit eines Lebens frei des Einflusses des bösen Triebs und stattdessen in völliger Harmonie mit der Thorah bzw. dem guten Trieb besteht,399 dass dies faktisch aber nie der Fall ist:400 Der Mensch sieht sich immer mit dem bösen Trieb konfrontiert und steht in dauerndem Kampf mit diesem; er kann ihn jedoch nie vollends besiegen, sondern kann sich lediglich immer aufs Neue gegen ihn behaupten.401 Dass er den Trieb nach all diesen Versuchungen und Bewährungen nun endlich vollends überwunden und den endgültigen Sieg gegen ihn errungen hat und dieser ihm somit künftig nichts mehr wird anhaben können, dessen kann er sich nie sicher sein.402 Der Kampf gegen diesen so starken Trieb setzt sich vielmehr in jeder Situation neuerlich fort und fordert fortwährende Bewährung. Eine Garantie gibt es nicht und kann es nicht geben, sondern jede neue Situation bringt die Möglichkeit des Falls und des Scheiterns gegenüber dem bösen Trieb mit sich.403 Erst mit dem jüngsten Gericht wird der Kampf gegen den bösen Trieb zu einem Ende kommen, denn Gott allein ist es, der den bösen Trieb und seine Kraft zu zerstören vermag.404 Nach diesen wenigen Ausführungen zu den beiden Trieben zum Bösen und zum Guten, welche nahtlos an das von Maimonides in seinem mn über das Böse Gesagte anschließen,405 kehren wir zurück zu den Ausführungen im mn. Denn bis anhin wurden erst philologische sowie zeitgeschichtliche Überlegungen angeführt und Maimonides’ Aussagen zum Bösen hinsichtlich seiner Intention vorgestellt. Damit steht der zweite Schritt noch bevor: Die kritische Aktualisierung. Nachdem also dargestellt worden ist, was Maimonides in seinem mn über die Herkunft des Bösen schrieb und wie die Ausführungen im besagten Werk zu verstehen sind, muss ein weiterer Schritt darüber hinaus in 399 400 401 402 403 404 405

Nach: Ebd., S. 65. Nach: Ebd., S. 78. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Wie bereits erwähnt, ist es gerade dieses unerschöpfliche Arsenal an fortwährenden Gelegenheiten, welches den bösen Trieb so gefährlich und unbezwingbar macht. Nach: Ebd. Maimonides setzte durch seine Identifizierung sowohl des bösen Triebs als auch der Imagination mit Satan auch diese beiden Elemente gleich, sodass in seiner Theorie in Form der Imagination insbes. der innere Aspekt der Versuchung durch den bösen Trieb in den Fokus gerät.

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unsere Zeit und unseren Denkhorizont hinein gemacht werden. Der Weg, den wir in der Folge beschreiten wollen, ist somit der Kritik am bzw. der Würdigung des bisher Gesagten gewidmet. Die Fragen, welche uns im folgenden Kapitel begleiten werden, lauten etwa: In wieweit trifft das von Maimonides Gesagte auch heute noch zu? Vermag die von ihm dargelegte Theorie über die Herkunft des Bösen unser Denken auch heute noch zu befriedigen? Oder gibt es evtl. Gedanken darin, welche heute nicht mehr zutreffen, ja gar stoßend sind? Müssen wir evtl. nur zu neuen Begriffen finden, können den Inhalt aber weitgehend beibehalten oder muss die Theorie als solche als unzureichend und überholt abgelehnt und ein neuer Weg aufgezeigt werden? Diesen Fragen sowie den damit verbundenen Überlegungen und daraus resultierenden Antworten soll das folgende Kapitel gewidmet sein. 3.5

Beurteilung: Chancen und Mängel des Geschilderten

Es gilt zu beachten, dass die Autorin dieser Arbeit selbst christlich geprägt ist, wodurch gerade auch im Hinblick auf die Interpretation und den Umgang mit Maimonides’ Denken eine doppelte Differenz zu beachten ist, welche für die hermeneutische Beurteilung von Bedeutung ist: So gehört die Verfasserin nicht nur einer völlig veränderten Zeit und damit auch einem veränderten Denken an – denn der Unterschied zwischen Mittelalter und Neuzeit kann nicht heruntergespielt werden –, sondern darüber hinaus stammt sie auch aus einem anderen Milieu und einer anderen Tradition, ein Umstand der seinerseits wiederum große Auswirkungen auf die Denkweise hat. Somit ist es durchaus möglich, dass einige Punkte in Maimonides’ Ansatz kritisch beleuchtet werden, welche auf jüdischer Seite vielleicht kein Stein des Anstoßes wären. Doch kann gerade auch dies nicht nur als Schwierigkeit, sondern auch als Chance gewertet werden.406 Wie ist Rambams Position im Hinblick auf die Herkunft des Bösen aus heutiger (westlich-christlicher) Sicht zu beurteilen? Es muss aufgezeigt werden, inwiefern die Lehre auch für unsere heutige Zeit noch Relevanz besitzt. Zunächst fällt positiv sicherlich die von Moshe ben Maimon vorgenommene Dreiteilung des Bösen auf. Dies sagt zwar noch nichts über seine Herkunft 406

So hält etwa auch Stroumsa fest, dass heutzutage viele AutorInnen nicht-jüdische Quellen für sekundär und wenn überhaupt so lediglich mit Hilfscharakter halten, sie dagegen nimmt diese durchaus zur Kenntnis und beurteilt sie gleich wie jüdische Quellen über Maimonides: nämlich aufgrund ihres Themas und der Qualität der Forschung. (Nach: Stroumsa (2012), S. xii.)

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aus, ist allerdings für das Erleben und Verstehen des Bösen, wie es uns begegnet, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es war Maimonides bewusst, dass es nicht nur eine einzige Erscheinungsweise des Bösen gibt. Gerade diese Erfahrung machen wir auch heute noch. Wie bedeutungsvoll diese Erkenntnis war, zeigt sich nur schon darin, dass sie auch viele Jahrhunderte später in einer völlig veränderten Zeit von einem großen Philosophen der Neuzeit wieder aufgenommen wurde: So war Leibniz in seiner Behandlung der Theodizee in entscheidender Weise von Maimonides’ Position geprägt. Einerseits zeigt sich dieser Einfluss in der Sichtweise dieser Welt als bestmögliche407, andererseits – und gerade dies ist das Entscheidende – ist es gerade seine Betonung der Dreigeteiltheit des Bösen als malum morale, malum physicum und malum metaphysicum, welche den großen Einfluss Maimonides’ erkennen lässt. Wir würden heute nicht vom physischen, metaphysischen und moralischen Bösen sprechen, hätte Maimonides diese Sicht des Bösen durch seine Dreiteilung in das metaphysische, das soziale und das individuelle Böse nicht erst vorbereitet und in die Wege geleitet. Ein weiterer Punkt, den es positiv zu würdigen 407

Die Idee dieser Welt als der bestmöglichen findet sich aber nicht erst bei Maimonides und auch nicht bei dem ebenfalls bereits erwähnten Plotin, sondern ist beispielsweise auch schon von Platon überliefert: „Geben wir denn an, aus welchem Grund der Schöpfer das Entstehen und dieses Weltall schuf. Er war gut; in einem Guten erwächst nimmer und in keiner Beziehung irgendwelche Missgunst. Von ihr frei, wollte er, dass alles ihm möglichst ähnlich werde. Wer dies als den hauptsächlichsten Ursprung des Entstehens und der Welt von weisen Männern übernimmt, der tut das wohl mit dem größten Recht. Indem nämlich der Gott wollte, dass alles gut und nach Möglichkeit nichts schlecht sei, so nahm er also alles, was sichtbar war und keine Ruhe hielt, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung war, und führte es aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm dieser Zustand in jeder Beziehung besser schien als jener. Aber dem Besten war es weder noch ist es gestattet, etwas anderes als das Schönste zu tun. Indem er es überdachte, fand er, dass unter dem seiner Natur nach Sichtbaren nichts Vernunftloses als Ganzes je schöner sein werde als das mit Vernunft Begabte als Ganzes, dass aber unmöglich ohne Seele etwas der Vernunft teilhaftig werden könne. Von dieser Überlegung bewogen, gestaltete er das Weltall, indem er die Vernunft in der Seele, die Seele aber im Körper schuf, um so das seiner Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden. So also muss man – in den Grenzen der wahrscheinlichen Rede – behaupten, dass diese Welt durch des Gottes Fürsorge als ein in Wahrheit beseeltes und mit der Vernunft begabtes Lebewesen entstand.“ (Platon: Timaios 29d–30b.) Platons Timaios wird in dieser Arbeit aus gutem Grunde in mehreren Zusammenhängen als ältere Vorlage einiger der geäußerten Gedanken angeführt: „One of the most important of Plato’s Dialogues is the Timaeos. Because of its immense influence upon medieval thought, it was the only work of Plato directly known to the Latin West.“ (Dienstag (1975), S. li, Hervorhebung im Original.)

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gilt, ist Maimonides’ ganzheitliche Sichtweise mit Blick auf das individuelle Böse, indem er dieses aufteilt in physische und psychische Übel. All dies hilft dabei, das Böse ganzheitlicher und in all seinen Erscheinungsformen sehen zu können. Es gibt nicht einfach das Böse in dieser Welt, das in jeder Situation gleich auftreten würde, sondern das Böse hat viele unterschiedliche konkrete Erscheinungsformen: Es gibt ein Böses, aber viele Übel. Doch gibt es durchaus auch Kritikpunkte, die nicht übersehen werden sollten. Maimonides betonte, dass mit der Schaffung des Seins – analog zu Licht und Dunkelheit – automatisch auch seine Privation ins „Dasein“ kam, dass der Materie, da sie nicht vollkommen ist, automatisch der Mangel des Bösen als Privation anhaftet. Doch ist damit Gott tatsächlich aus dem Schneider oder handelt es sich hierbei nur um eine vordergründige, aber nicht hinreichende und damit auch nicht wirklich befriedigende Lösung des Problems? Wie nämlich steht es etwa mit den Engeln? Nehmen wir also an, dass die Engel als reine Geistwesen nicht von einer Erklärung, welche an der Materie hängt, betroffen sein können,408 so ergibt sich ein entscheidendes Problem: Die Bindung des Bösen an die Materie erklärt nämlich lediglich, wie es in dieser Welt Böses geben kann und wie materielle Wesen, oder materiell-geistige Wesen wie der Mensch von der Privation, also dem Bösen, korrumpiert werden können. Doch es vermag den Fall der Engel als von der Materie gelöste reine Geistwesen nicht zu erklären. Zweifellos soll die positive Leistung, welche mit dieser Sichtweise geleistet wurde, nicht verkannt werden. Es ist hoch zu würdigen, dass damit Gottes Güte auch angesichts des Bösen gewahrt werden konnte, da er so nicht als für das Böse verantwortlich zu sehen ist. Allerdings ergeben sich gerade auch im Hinblick auf die Theologie dennoch Schwierigkeiten: Es ist kritisch anzufragen, ob so die Allmacht Gottes nicht in entscheidender und illegitimer Weise beschnitten wird. Denn es stellt sich die Frage, ob es Gott tatsächlich nicht möglich gewesen wäre, die Welt aus einer Materie zu schaffen, der das Böse als Privation nicht schon anhaftet. Nimmt man Gottes Omnipotenz ernst, so müsste man diese Frage klar dahingehend beantworten, dass es durchaus in Gottes Macht stünde bzw. gestanden hätte. Maimonides dagegen verweist hierbei auf Gottes Gebundensein an gewisse Gesetzmäßigkeiten, wobei diese Einschränkungen keine Minderung für seine Allmacht darstellten. Maimonides geht von der Existenz von Gott gewirkten Wundern in dieser Welt aus, eine Annahme, die er auch mit der Tatsache der Erschaffung der Welt verknüpft.409 Glaubt man aber an von Gott gewirkte Wundertaten, so glaubt man auch 408 409

In mn iii,10 betont Maimonides, dass all das, was nicht aus dieser Materie gemacht ist – also alles Unkörperliche –, nicht Subjekt von Vergehen und Bösem ist. Nach: Davies, D. (2011), S. 100.

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daran, dass Gott entgegen den Naturgesetzen wirken kann. Also kann eine eingrenzende Bindung an Naturgesetze nicht angenommen werden, da sich beides zugleich zu widersprechen scheint: Entweder Gott ist an Naturgesetze gebunden, dann aber sind Wunder ausgeschlossen, oder aber Wunder sind möglich, dann aber kann Gott Naturgesetze auch aufheben bzw. umgehen. Somit müsste man auch anerkennen, dass Gott prinzipiell in der Lage wäre, eine Materie als Schöpfungsgrundlage zu verwenden, welche nicht durch Unvollkommenheit und damit mit dem Makel des Bösen als Privation des Seins behaftet ist. Überhaupt ist es mehr als fragwürdig, wenn heutzutage Theologinnen und Theologen aber auch andere WissenschaftlerInnen versuchen, die in der Bibel bezeugten Wundertaten Gottes naturwissenschaftlich zu begründen bzw. zu belegen und zu beweisen, dass die Bibel mit ihrer Schilderung der außergewöhnlichen Hergänge eben doch recht hatte und es tatsächlich so passiert sein könnte.410 Denn damit bewirken diese WissenschaftlerInnen genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich bezwecken wollten: Sie nehmen den Ereignissen ihre Besonderheit und sprechen damit die Herkunft des Ereigneten von Gott ab. Wenn die Ereignisse als natürliche Naturzusammenhänge begründet werden können, so geht damit einher, dass Gott nicht als Urheber und Akteur dahinter stehen muss, der in unser Leben eingreift, sondern dass es sich hierbei um eine religiöse Interpretation handelt, die berechtigterweise auch anders hätte erfolgen können. Da die Kenntnisse der Menschen in Bezug auf Naturzusammenhänge zur damaligen Zeit aber noch nicht genügend entwickelt waren, um diese erkennen zu können, schrieben sie das Geschehene einer übernatürlichen Ursache zu. Damit hilft man folglich weder der Theologie noch der Bibel, sondern nimmt den Schilderungen ihre Würde als Zeugnis von Gottes Größe und seiner Immanenz in der Welt, indem eine Verschiebung in Richtung historischer Quellen erfolgt. Weiter lässt sich fragen, ob die erwähnte Vorstellung, zusammen mit dem Licht komme unausweichlich auch sein Gegenteil in die Welt, als „Begründung“ für das Böse als Privation des Guten, das zusammen mit der Materie unweigerlich ins Dasein tritt, denn auch tatsächlich greift. Rufen wir uns nämlich in Erinnerung, was im biblischen Teil gesagt wurde, so wird Mehreres deutlich: Licht und Dunkelheit kamen nicht zugleich ins Dasein; vielmehr war zuerst überall Dunkelheit. Über die Erschaffung dieses vorfindlichen Elements schweigt sich der Text aus. Berichtet wird dagegen nur von der Schaffung des 410

Es gäbe hier unzählige Theorien und Bücher aufzuzählen. Es soll beispielhaft lediglich auf eine dreiteilige zdf-Serie über die zehn Plagen (2009) verwiesen werden: Die biblischen Plagen, Teil 1: Duell am Nil, Teil 2: Finsternis über Ägypten, Teil 3: Flucht aus dem Pharaonenreich.

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positiven Elements: des Lichts als Begrenzung der Dunkelheit; die lebensfeindliche und -bedrohende Macht wird durch das Leben ermöglichende Licht eingedämmt. So kann also durchaus auf biblischem Fundament begründet werden, dass Gott nur das Gute und Lebensdienliche geschaffen hat, das Böse und Lebensfeindliche dagegen tauchte nicht automatisch mit der Schaffung der Materie auf, sondern die lebensbedrohenden Mächte waren bereits zuvor im „Urraum“ vorhanden, den Gott beschränkte, ihm klare Grenzen setzte und sozusagen in seine Mitte ein Lebenshaus setzte, in das die es umschließenden lebensfeindlichen Mächte noch immer eindringen können; in das Chaos hinein wurde durch Begrenzung und Teilung der Chaosmächte sowie der Schaffung durchweg positiver Elemente Ordnung geschaffen. Auch Hiob verwies auf den begrenzenden Kampf Gottes gegen die chaotischen Elemente, wobei betont wurde, dass Leiden auch unerklärt bleiben kann. Gerade dies wird aber bei Maimonides ausgeblendet, indem er Hiobs Leiden begründet und als in Einklang mit Gottes Gerechtigkeit stehend aufweist. Hiob ist gemäß Maimonides zwar in dem Sinne unschuldig, als er rechtschaffen ist. Dennoch hat er sein Leiden verdient, da er nicht wahrhaft gut ist, zumal ihm hierzu die intellektuelle Tugendhaftigkeit fehlt. Hiob ist selbst schuld an seinem Leiden, da er seinen Intellekt vernachlässigte und so nicht Objekt der göttlichen Vorsehung ist bzw. sich nicht ganz mit dem aktiven Intellekt geeint hat und so dem Physischen nicht enthoben ist. Es wird ersichtlich, dass nicht die eigentlichen biblischen Texte Grundlage der Lehre des Maimonides zum Bösen bilden, sondern die eigene Interpretation (Hiob) bzw. die Rezeptionsgeschichte (erste Schöpfungserzählung). Die Vorstellung des Bösen als Privation, welche der Materie anhaftet, schließt nämlich an die Lehre der creatio ex nihilo an: So wird dieses Nichtende – die Privation, die Abwesenheit von dem, das da sein müsste – als Überbleibsel des Nichts (das selbst aber nicht als Stoffliches vorgestellt und verstanden werden darf!), aus dem heraus die Materie geschaffen wurde, verstanden. Die Materie ist aus dem Nichts bzw. dem absoluten Nicht-Sein entstanden, weshalb ihr weiterhin dieses Nicht-Sein potentiell in Form der Privation anhaftet. Mit anderen Worten bleibt an der Materie das nichtende Element haften, welches aus dessen Hervorgehen aus dem Nichts resultiert. Das Nichts bleibt so potentiell weiterhin als Nichts vorhanden. Die Vorstellung von der Erschaffung aus dem Nichts lässt sich durchaus mit dem für die erste Schöpfungsgeschichte Herausgearbeiteten verbinden: Zuerst ist das Nichts, dann erst wird das Positive, die Materie, geschaffen. Ebenso lässt es erkennen, dass in einen lebensfeindlichen Raum – ein Nichts, das weder stofflich noch im eigentlichen Sinne räumlich verstanden werden kann, sondern einfach absolute Leere, die nicht in einem Raum oder einem Vakuum herrscht – hinein ein positives Lebenshaus geschaffen wird, in das aber das nichtende

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Element von Außen weiter eindringen kann. Gott schafft somit ausnahmslos nur das Gute. Diese Vorstellung des Bösen als etwas Nichtendes an der Materie, das auf ihr Geschaffensein aus dem Nichts zurückzuführen ist, ist für heutiges Denken durchaus noch immer reizvoll, da gewisse Anschlussmöglichkeiten an das heutige physikalische Weltbild bestehen: So wird auch in den Naturwissenschaften mit Blick auf den Urknall überwiegend die Vorstellung von Materie und Antimaterie (als Nichtendes, selbst keine Materie, welche allerdings zeitgleich mit der Materie auftritt) angenommen. Doch ist aus theologischer Perspektive erneut zu fragen, wie es sich dann mit der göttlichen Allmacht verhält. Gott müsste doch in der Lage sein, bei der Schaffung von Etwas aus Nichts dieses nichtende Element völlig außer Kraft zu setzen und zu überwinden. Wenn er aber dazu in der Lage ist, weshalb würde er es dann nicht auch tun? Die Vorstellung einer aristotelisch-neuplatonischen Materie ist uns dabei heute fremd. Übersetzt in die heutige Zeit, geht es darum, zu betonen, dass die Unvollkommenheit der geschaffenen Materie und damit der materiell verfassten Welt wesentlich in ihrer Geschöpflichkeit und damit Unterschiedenheit vom Schöpfer begründet ist. Wäre die Schöpfung dagegen vollkommen, wäre sie gleichsam gottgleich. Dass also die Schöpfung unvollkommen und damit für Mängel, Veränderungen und Verfehlungen ihrer eigentlichen Bestimmung anfällig ist, hängt wesentlich mit ihrer Geschöpflichkeit zusammen. Es geht nicht darum, dass die Materie anfällig für den Zerfall und das Böse in Form der Privation ist, weil sie aus dem Nichts geschaffen wurde, sondern die Materie ist gut, aber eben geschöpflich verfasst und damit unvollkommen. Dies ist der Grund, weswegen Gott für die Erschaffung der Welt nicht auf eine vollkommene und für Privationen unnahbare Materie zurückgreifen konnte. Ansonsten hätte er die Welt gleichsam aus sich selbst, dem Vollkommenen erschaffen müssen – doch dann wäre seine Einheit nicht mehr gewahrt und man fiele in einen Pantheismus ab. Eine von Gott verschiedene Schöpfung kann es damit immer nur unvollkommen geben. Geschöpf zu sein bedeutet, von seinem Schöpfer verschieden und abhängig zu sein. Die Unvollkommenheit der  Materie ist somit in ihrer Geschöpfhaftigkeit begründet. Mit dem Begriff der geschöpflichen Verfasstheit ist die aristotelisch-neuplatonische Materievorstellung, welche uns bei Maimonides begegnete, ins Heute zu übertragen. Natürlich darf an dieser Stelle auch der so wichtige biblische Vers in Jes 45,7 nicht übergangen werden, wo bezeugt wird, Gott sei der Schöpfer des Guten und des Bösen. Maimonides’ Interpretation ist äußerst interessant: Gott hat das Böse nicht in gleicher Weise wie das Gute erschaffen und trägt so auch nicht die direkte Verantwortung für dessen Existenz. Indem der Rambam von Schöpfung mit Blick auf das Böse nur insofern spricht, als das Böse automatisch bei der Schaffung der (an sich guten!) Materie gleichsam als deren

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unausweichliches Nebenprodukt – und zwar wie bei der creatio ex nihilo aus dem Nichts bzw. aus vormaliger absoluter Nicht-Existenz – in Erscheinung trat, ist Gott nur indirekt als für dessen Existenz verantwortlich zu nennen. Das Böse wurde nicht um seiner selbst Willen erschaffen, wohl wurde aber die Möglichkeit zu dessen Auftreten mit dem Entschluss zur Schöpfung bewusst in Kauf genommen.411 Da nämlich Schöpfung als von Gott verschieden immer unvollkommen sein muss, kann es keine vollkommene Schöpfung geben, in welcher nicht wenigstens potentiell die Möglichkeit zum Abfall gegeben ist. Die Möglichkeit zum Bösen kam damit im Moment der Ausführung des Schöpfungswillens zum Tragen. Will man verhindern, dass es die Möglichkeit zum Bösen – auch nur schon im Degenerationsprozess der Materie – gibt, spricht man sich zugleich gegen eine Schöpfung aus. Will man dagegen eine materiell verfasste Schöpfung, so erübrigt sich prinzipiell die Frage danach, weswegen es das Böse gibt, woher es kommt und weshalb Gott es zulässt. Der Ursprung des Bösen liegt somit theologisch gesprochen in der notwendig Unvollkommenheit einschließenden Geschöpflichkeit der Welt. Doch schließt sich hieran notwendigerweise die Frage an, weswegen es nicht nur Böses in Form der Degeneration, also metaphysisches Böses, gibt. Es geraten somit die beiden anderen Formen in Maimonides’ Lösungsvorschlag in den Fokus. Die Bindung des Bösen an die Materie stellt in Maimonides’ Theorie nämlich nur einen Aspekt dar. Der natürliche Degenerationsprozess aber ist nicht im selben Sinne böse zu nennen wie das zweite Element der Theorie: Nebst der Bindung an die Materie vertritt Maimonides nämlich auch ein freiheitstheoretisches Erklärungsmodell des Bösen als Sünde am Individuum selbst wie auch an seiner Um- und Mitwelt. Insbesondere die Kategorien des sozialen und individuellen Bösen hängen damit weniger mit der Materie, als vielmehr mit dem freien Willen zusammen. Gott hat zwar alles gut geschaffen (wobei der Hinweis geschaffen, wie gesehen, bereits auf die Unvollkommenheit hinweist), doch entschied er sich mit dem Menschen zur Schaffung eines freien Wesens oder besser gesagt eines Wesens mit freiem Willen, das dadurch tatsächlich Gottes Partner und Gegenüber – wenngleich natürlich nicht auf gleicher Stufe – sein kann und soll. Mit Blick auf die neuplatonischen Einflüsse bei Maimonides ist zu betonen, dass dies prinzipiell unter dem Stichwort der unterschiedlichen Seinsstufen gut ist, insofern dies zur Vollkommenheit beiträgt. Ein Wesen, das mit freiem Willen begabt und zu freien Entscheidungen fähig ist, muss eine tatsächliche Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen – und 411

Dieses Phänomen lässt sich auch in unserem Alltag einsichtig machen: Wir bauen Atomkraftwerke, um Strom zu gewinnen, gleichzeitig nehmen wir damit aber auch in Kauf, dass es zu einem Supergau kommen kann.

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nur allzu oft auch gegensätzlichen – Möglichkeiten haben. Um sich aber wahrhaft frei entscheiden zu können, muss das ganze Spektrum vorhanden sein: Es kann nicht nur unterschiedliche Grade an Gutem geben, aus denen man wählen kann, sondern genauso muss auch das Böse (evtl. auch in unterschiedlichen Abstufungen und Härtegraden) existieren – sei es real oder der Potenz nach, aufgrund derer der Mensch es dann im Augenblick seines Entscheids gegen das Gute und für das Böse in die Wirklichkeit setzt. Damit ist Gottes Ausspruch in Jes 45 gewahrt: Gott hat das Böse und das Gute „geschaffen“, wenngleich auch nicht in gleicher Weise. Das Gute hat er seiner Existenz nach tatsächlich erschaffen und ins Dasein gesetzt, das Böse dagegen hat er der Potenz nach geschaffen und ist damit nur indirekt dafür verantwortlich zu machen, da es erst der Mensch ist, der diese Potenz in den Akt setzt, indem er das Böse wählt, es tatsächlich aktualisiert und so ins Dasein bringt.412 Damit ist eine Erklärung, welche sowohl Gott als auch den Menschen umfasst und als indirekten bzw. direkten Verursacher des Bösen berücksichtigt, für das von Menschen verursachte und zu verantwortende Böse gefunden. Mit seiner freiheitstheoretischen Rückführung des Bösen nimmt Maimonides auch die zweite Schöpfungsgeschichte auf: Der Mensch realisiert das Böse aufgrund innerer wie äußerer Anreize, die der Schöpfung inhärent sind. Die ursprüngliche menschliche Erkenntnis wurde durch den Sündenfall geschwächt, sodass die Menschheit nun unter dem Machtbereich der Imagination – und damit des bösen Triebs sowie Satans – steht. In einem gewissen Sinne wird so eine Erbsünde angenommen, wobei aber der Rambam den Standpunkt vertritt, der Mensch könne sich mittels des Intellekts selbst daraus befreien. Solange er aber noch auf Erden lebt, ist die kontemplative Einigung mit dem aktiven Intellekt nicht permanent verwirklicht, sodass endgültige Erlösung dieses sündenfall-freiheitstheoretischen Intellektsdefizits nur von Gott gegeben werden kann und zwar am Ende des Lebens. Auch das metaphysische Böse lässt sich so mit Rückgriff auf die biblischen Schöpfungserzählungen erklären: Denn durch die Vertreibung aus dem Paradies – einem Zustand, in dem es weder metaphysisches Übel zu beklagen noch menschlich verursachtes Böses gegeben hätte, hätte sich das Geschöpf Mensch tatsächlich freiwillig dem Willen und der Ordnung Gottes untergeordnet und frei nur das Gute gewählt – wurde der Mensch in einen Raum gesetzt, in den das Böse tatsächlich eindringen kann. Es war der Potenz nach bereits 412

Im Menschen kann das Böse wahrgenommen werden und tritt an ihm auf, doch gibt es daneben einen unmenschlichen Ursprung des Bösen, den wir nicht erkennen können, vielmehr wird das Böse erkannt als immer schon Da-Seiendes. (Vgl. z.B.: Ricoeur (2009), S. 357.)

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im Moment der Schöpfung da, in den Akt hat das metaphysische Böse aber erst der Mensch gesetzt, indem er sich gegen Gottes Ordnung entschied und so eine Kettenreaktion in Gang setzte, die letztlich auf ihn zurückgeführt werden kann und muss. Dies ist natürlich eine mythisch-theologische Deutung – mit der aristotelischen Unterscheidung von Akt und Potenz durchaus auch mit philosophischen Anklängen. Doch diese letztendliche Rückführung der metaphysischen Übel hat durchaus auch ihre wissenschaftlichen Gesichtspunkte: Denn Umweltkatastrophen wie Überschwemmungen, Tornados, Hurrikans, etc., welche klassisch der Kategorie der natürlichen Übel zugeschrieben werden, können aufgrund der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung zu weiten Teilen durchaus letztlich auf den Menschen selbst zurückgeführt werden. Ebenso steht es auch um einen Großteil an Krankheiten: Die ganzen Schadstoffe, welche in die Umwelt gelangen und Krankheiten wie Krebs auslösen, können so letztlich auf die unverantwortliche Lebensweise des Menschen zurückgeführt werden, von „normalen“ Zivilisationskrankheiten ganz zu schweigen. Womit wieder ein Anknüpfungspunkt an Maimonides erreicht ist, der Krankheiten tatsächlich nicht in die Kategorie des metaphysischen Übels eingereiht, sondern jenen zugeordnet hat, die der Mensch selbst zu verantworten hat. So erscheint seine Deutung des Bösen sogar äußerst modern. Das eigentliche Problem ist also der Mensch, er trägt die direkte Verantwortung für die Existenz des Bösen. Woher genau es aber kommt, ist damit nicht letztgültig definiert. Klar dürfte damit aber sein, dass biblisch gesprochen genau das Problem, welches uns bereits in der Erzählung vom Paradies begegnet, zur Aktualisierung des Bösen führte und in all seinen Konkretionen und Aktualisierungen auch immer wieder führt: die Hybris des Menschen, mehr sein zu wollen, als er ist. Der Mensch versucht, nicht nur Geschöpf, sondern Gott zu sein, totale Freiheit zu besitzen und Macht zu haben und zwar nicht nur im Guten, sondern auch im Bösen über die Welt und alles, was in ihr ist, über die anderen Geschöpfe, aber auch über die anderen Menschen. Und so bleibt Maimonides’ Interpretation der Schlange auch heute sehr hilfreich, um darüber nachzudenken, weswegen der Mensch dieser Hybris erlag: Es ist der Yetzer haRa, der Trieb zum Bösen, der den Menschen die Wahl für das Schlechte treffen lässt, der den Menschen versucht, über sich selbst hinauswachsen zu wollen und nicht mit dem zufrieden zu sein, was er ist. Die Fähigkeit der Phantasie, welche zusammen mit der Wahlfreiheit und damit der Möglichkeit, alles zu realisieren, was wir wollen und uns vorstellen können, ist es, welche in die Hybris führt. Aber da der Yetzer haRa auch mit Satan und dem Todesengel – dem Tod, der uns vom rechten Weg abführt und uns in den Tod der Phantasie und damit in die Abkehr vom wahren Leben stürzt – identifiziert werden kann, besitzt dieser Antrieb zum Bösen auch eine Facette außerhalb unserer selbst,

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außerhalb unserer Phantasie: Satan, der unsere Phantasie anstachelt und uns so sehr in ihr aufgehen lässt, dass wir darüber hinaus die Realität vergessen und in eine Scheinwelt flüchten. Die Phantasie ist eine der fruchtbarsten und faszinierendsten, aber zugleich auch bedrohlichsten, gefährlichsten, zerstörerischsten und selbstzerstörerischsten Kräfte in uns. Auch hier ist die biblische Erzählung der Schlange hilfreich, da sie uns verstehen lässt, dass ein Teil des Phänomens in und aus uns selbst hervorgeht, aber eben doch auch etwas von außen kommt, das genau zu fassen schwer ist. Letztlich ist Gott in Maimonides’ System in zweifacher Hinsicht als indirekt für das Böse verantwortlich anzusehen: Gott hat 1. die Materie aus dem Nichts erschaffen, der dadurch weiterhin die Privation anhaftet (bzw. für unsere Zeit gesprochen: die aufgrund ihrer Geschaffenheit unvollkommen ist); 2. hat er mit einem freien Willen ausgestattete Wesen erschaffen, die auch das Böse wählen können. Wahre Freiheit ist nur dann wahrhaft frei, wenn sie tatsächlich die Wahl zwischen A und B treffen kann. Ist B nicht vorhanden, kann von keiner freien Wahl und keinem echten Willensentscheid für A die Rede sein. Ein solcher Wille, der sich für A entscheidet, weil es nur A (in unterschiedlichen Abstufungen) gibt, kann nicht frei genannt werden. Ein solches Wesen ist auch kein wirklicher Partner und kein echtes Gegenüber Gottes, das sich frei für Gott entscheidet und sich aus freien Stücken seiner Ordnung unterwirft. Diese Einschränkung, dass Gott zugleich mit der Erschaffung des Menschen als einem mit freiem Willen ausgestatteten Wesen auch die Möglichkeit zum Bösen und zum Entscheid zu demselben stiften musste, schränkt im Unterschied zur an der Materie haftenden Privation die Allmacht Gottes in keiner Weise ein. Vielmehr ist es eine logische Notwendigkeit, die mit dem Verständnis von freiem Willen zusammenhängt. Möchte Gott das Böse auch noch nicht einmal indirekt verantworten und „schaffen“, in dem er es der Potenz nach ermöglicht, so müsste er sich gegen ein mit unseren Fähigkeiten ausgestattetes Wesen entscheiden. Da auch die Materie selbst, auch wenn sie nicht mit Maimonides neuplatonisch-aristotelisch verstanden, sondern über ihr Geschaffen-Sein definiert wird, unvollkommen ist und die Möglichkeit des Bösen und Leidens in sich schließt, müsste Gott darüber hinaus auch auf die (materielle) Schöpfung insgesamt verzichten. Maimonides betonte den Intellekt des Menschen als dasjenige Element, welches uns mit Gott eint. Für die heutige Zeit ist der Aufruf, sich ganz auf Gott auszurichten und sich mit ihm zu einen, wohl besser mit dem Begriff der Liebe zu umschreiben. Der Mensch richtet sein ganzes liebendes Streben auf Gott aus und konzentriert so all seine Gedanken auf Gott, wodurch er mystisch entrückt werden kann und die physische Welt in diesen Momenten hinter sich lässt. Die Liebe wie auch die unio mystica sind es somit, welche die

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maimonidischen Momente abzudecken vermögen. Wo der Mensch die Liebe Gottes zu sich erkennt und ganz für Gott und dessen Liebe offen wird, kann er sich vom Bösen abwenden und auf diese ihm begegnende und sich ihm frei schenkende Liebe ebenfalls liebend reagieren, indem er in Liebe darauf antwortet und seinen Willen aus freien Stücken Gott unterwirft, wodurch er Gottes Gegenüber wird, denn hier wird der Mensch wieder ganz Mensch und voll zu jenem Geschöpf, als das er von Gott geschaffen wurde. Der Mensch wird hier insbesondere als freie, liebende Antwort auf Gottes liebende Anrede verstanden. Zu dieser Bestimmung zurückzufinden, bedeutet, wieder Mensch im vollen Sinne zu werden. Seine Geschöpflichkeit anzuerkennen und seine Aufgabe und Bestimmung zu erfüllen, bedeutet wahre Menschwerdung. Dabei muss herausgestrichen werden, dass der Mensch immer nur reagiert, die Aktion dagegen geht immer von Gott aus: Zuallererst wird der Mensch – noch im Mutterleibe – von Gott gerufen und angesprochen. Gott ist es, der sich dem Menschen frei zuwendet und es ist Gottes größte Gnade, die er uns geben kann, diesen Ruf in unserem Leben zu hören, seine Liebe spüren und erfahren zu dürfen und so von Gott dazu bereit gemacht zu werden, sich Gott zu öffnen, ihn ganz in unser Leben zu lassen und in Liebe auf Gottes Anrede zu antworten. Damit wird aber auch klar, dass wir dies nicht mittels Intellekt-Schulung aus uns selbst heraus vermögen, vielmehr verdankt sich dies ganz der Gnade Gottes: Gott macht uns bereit dazu und erst, wenn wir uns soweit auf ihn einlassen, dass wir die Gnade, die er uns immer geben will, endlich annehmen können, werden wir wahrhaft zu den Menschen, die wir sind und werden so wahrhaft Menschen. Gott agiert, der Mensch reagiert, Gott spricht an, der Mensch antwortet, Gott liebt und der Mensch wird befreit. Auch die Liebe zu Gott ist durchaus wie Maimonides’ Intellekt-Konzept gestuft denkbar. Denn auch sie ist nicht statisch, sondern verändert sich im Verlaufe des Lebens, wobei wir uns manchmal mehr, manchmal aber auch weniger nach Gott ausrichten. Der Vorteil des Ersetzens des Intellekts durch die Liebe ist ein zweifacher: Erstens wird der Gedanke des Verdankt-Seins und damit des Unverfügbaren  – also eine Absage an die Selbsterlösung – betont. Zweitens geht damit auch eine Weitung einher, indem die Liebe im Gegensatz zum Intellekt nicht auf eine erlesene Elite beschränkt ist. Mit Blick auf eine Bewertung aus heutiger Perspektive muss betrachtet werden, wie sich diese Theorie eignet, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Diesbezüglich muss insbesondere die Shoah Berücksichtigung finden. Und hierbei wird auch zugleich die Problematik des maimonidischen Lösungsvorschlags ersichtlich: Zwar wird durchaus das soziale Übel angesprochen, wodurch die Täter benannt werden. Zugleich muss aber auch mit Blick auf Miamonides’ Hiob-Interpretation kritisch darauf hingewiesen werden,

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dass in Maimonides’ System die Opfer als Schuldige in den Blick geraten. Denn einerseits haben sie ihren Intellekt zu wenig geschult, weswegen sie nicht unter Gottes schützender Vorsehung standen. Andererseits wurden sie dadurch aber auch nicht dem Physischen enthoben, indem sie nicht kontemplativ im aktiven Intellekt verweilten, weswegen sie ihre Leiden spürten. Die Opfer wurden so zwar nicht für ihre Sünden bestraft, wohl aber war ihr Leiden gerechtfertigt, da sie ihre intellektuelle Tugend vernachlässigt hatten. Dass diese Erklärung nicht hingenommen werden kann, versteht sich von selbst. Trotz vieler positiver Elemente, welche auch heute noch fruchtbar gemacht werden können, muss daher gesagt werden, dass die Theorie insbesondere im Bereich der Erklärungen zur göttlichen Vorsehung gerade angesichts Auschwitz untauglich geworden ist. Die Unterscheidung des Bösen in die unterschiedlichen Formen dagegen ist noch immer reizvoll. Auch der freiheitstheoretische Aspekt des Bösen vermag weiterhin zu überzeugen. Ebenso ist der Verweis auf die Unvollkommenheit der Schöpfung gerade durch ihre Verschiedenheit vom Schöpfer, die sich in der Materiekonzeption manifestiert, noch immer rezipierbar. Insbesondere aber die Definition des Bösen als Privation und damit einhergehend der vorrangige Wert des Guten ist auch für heutiges theologisches Denken wertvoll. Mittels all dieser weiterhin positiven Elemente kann aufgezeigt werden, wie die Schöpfung als solche gut sein kann, obwohl Böses in ihr vorkommen kann und auch tatsächlich vorkommt. Maimonides hat viel Gutes geleistet mit seinen differenzierten Überlegungen zum Bösen, wenngleich einige Aspekte heute weniger hilfreich und daher zu überdenken sind. Doch die Position des Maimonides ist nicht erst für die Neuzeit – wenn wir wieder bei seiner einflussreichen Aufnahme durch Leibniz ansetzen – von Interesse und großer Bedeutung. Ohne hier weiter auf seinen großen Einfluss auf das Judentum einzugehen, soll seine Bedeutung für das Christentum kurz Betrachtung finden, denn auch hier ist schon sehr früh eine große Bekanntheit und Rezeption auszumachen. Das Phänomen des Ausstrahlens des Maimonides auf das Christentum ist dabei nicht erst mit der Aufklärung und der Neuzeit anzusetzen, ebenso wenig mit den Philosophen, sondern bereits durch die großen Theologen des Mittelalters. Allerdings fand diese Entwicklung auch ein sehr abruptes Ende, welche mit der Verurteilung einiger Sätze des großen rheinländischen Mystikers Meister Eckhart anzusetzen ist (und wohl auch in gewisser Weise mit derselben zusammenhängt, da dieser von einer starken Aufnahme maimonidischer Gedanken geprägt war), wie Hasselhoff herausstreicht.413 Für die gesamte Zeitdauer der christlichen 413

Nach: Hasselhoff (2005,1), S. 406f.

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Auseinandersetzung mit Maimonides im Mittelalter lässt sich mit Hasselhoff sagen: Until the middle of the fifth decade of the thirteenth century the knowledge of Maimonides was rather scarce. With the translation of the Liber de Uno Deo Benedicto Maimonides served as one of the Aristotelians who provided additional ‚modern‘ philosophical knowledge. With the translation of the Dux Neutrorum which followed soon after the situation changed radically. The broader reception of Maimonidean ideas began with Albert the Great and Thomas Aquinas. With the condemnation of some of Meister Eckhart’s theological sentences in 1329 the development came to an abrupt end. The last years of the philosophical and theological reception overlapped with the first translations of Maimonides’ medical treatises.414 Dies führt zum nächsten Kapitel über, in welchem nun eine christliche Position,415 welche Maimonides durchaus zur Kenntnis nahm und auch einige 414

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Ebd., Hervorhebung im Original. Bereits Koplowitz hatte auf diese breite Rezeption des Maimonides bzw. insbes. seines mn durch christliche Theologen hingewiesen: „Aus dieser letzten Übersetzung [= die Übersetzung al-Charizis, v.v.], welche lesbarer, oft aber auch ungenauer als die andere ist, wurde frühzeitig eine lateinische Übertragung angefertigt, welcher schon Wilhelm von Auvergne einige Gedanken entnahm, ohne seine Quelle zu nennen. Bei Alexander von Hales finden wir zum ersten Male den Namen ‚Rabbi Moyses‘, dann bei Vincenz von Beauvais. Einen großen Einfluss hat der More auf Albertus Magnus, seinen Schüler Thomas von Aquin und die thomistischen Schulen sowie auf Meister Eckhart gehabt.“ (Koplowitz (1935), S. 9.) Es bleibt allerdings anzumerken, dass es noch eine ganze Weile dauern sollte, bis Maimonides’ Schriften auf christlicher Seite nicht mehr nur in lateinischer Übersetzung, sondern in ihrer Originalsprache, bzw. für die in Arabisch verfassten unter ihnen wenigstens in ihrer hebräischen Übersetzung, gelesen werden sollten. Gerade für die „Entdeckung“ der hebräischen Sprache auf Seiten des Christentums waren Humanismus und Reformation von entscheidender Bedeutung. Für den mn lässt sich Johannes Reuchlin herausstreichen, der als Erster überhaupt diese Schrift in ihrer hebräischen Fassung aufnahm. (Nach: Leicht (2005), S. 411.) Handelte es sich hierbei um die noch zu Lebzeiten des Maimonides erarbeitete und von diesem gleichsam approbierte Übersetzung von Ibn Tibbon, wodurch ihre Übereinstimmung mit den Gedanken und tatsächlichen Positionen Maimonides’ sichergestellt ist, so kann dies in der Tat als großer Fortschritt angesehen werden. Lag ihm allerdings die Übersetzung von al-Charizi vor, so stellt dies keinesfalls einen Vorteil gegenüber der lateinischen Übersetzung dar, da diese Übersetzung, wie bereits weiter oben herausgestrichen wurde, äußerst interpretativ und ihr mehr am Poetischen, als am Inhaltlichen gelegen ist und sie zudem die Grundlage der lateinischen

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Gedanken von ihm übernahm, anderes dagegen ablehnte, und die im oben angeführten Zitat von Hasselhoff Erwähnung findet, behandelt werden soll: die Position des großen Scholastikers und Kirchenlehrers Thomas von Aquin.

Übersetzung, mit der etwa Thomas von Aquin arbeitete, war. So oder so handelte es sich bei Reuchlin um ein Novum, das lange Zeit keine Nachahmung finden sollte: „Reuchlin war der erste christliche Denker überhaupt, der den Moreh Nevukhim in seiner hebräischen Fassung rezipiert hat, und er war zugleich für etwa hundert Jahre der letzte, wenn man Johannes Buxtorfs lateinische Übersetzung des Moreh Nevukhim aus dem Jahre 1629 als nächste Station christlich-hebräischer Maimonides-Lektüre ansieht.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) Da Buxtorfs Übersetzung, wie gesehen, auf jene Ibn Tibbons zurückgeht, ist anzunehmen, dass Reuchlin auf ebendiese zurückgegriffen hat. (Nach: Ebd., S. 412.)

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kapitel iv

Thomas von Aquin Als christliche Position wird Thomas von Aquin mit seinen Ausführungen zur Herkunft des Bösen beleuchtet.1 Dabei sollen zunächst auch hier einige einleitende Hinweise zu seiner Person sowie zu seinem Leben gemacht werden. Anschließend wird sein Verhältnis zum Judentum durchleuchtet. Weiter folgt die Auseinandersetzung mit seinen Ausführungen zur Herkunft des Bösen. Danach wird die Position des Aquinaten beurteilt. Erst in einem weiteren Kapitel wird es zu einem Vergleich der Positionen des bereits dargestellten Moshe ben Maimon sowie des hier noch zu behandelnden Thomas von Aquin hinsichtlich der in dieser Arbeit behandelten Thematik, nämlich der Frage nach Herkunft bzw. Ursprung des Bösen, kommen. Die Methodik wurde bereits vorgestellt, weswegen an dieser Stelle keine diesbezüglichen Ausführungen gemacht werden. Widmen wir uns nun also zunächst den biographischen Eckdaten des Aquinaten. 4.1

Biographie

Wie bei Maimonides, kann auch das Geburtsjahr von Thomas von Aquin2 nicht mit Sicherheit angegeben werden. Fest steht, dass er am 7. März 1274 verstarb, im Alter von ca. 50 Jahren.3 Hieraus kann geschlossen werden, dass er irgendwann im Verlaufe der Zwanzigerjahre – wohl in der Mitte,4 also vermutlich etwa 1224/25 – des 13. Jahrhunderts zur Welt kam. Seine dem Adel angehörende Familie stammt aus Aquino, welches „etwa auf halber Strecke zwischen Rom und Neapel“5 liegt, und hatte ihren Stammsitz (und wahrscheinlich auch

1 Mit Eardley/Still lässt sich sagen, dass der Aquinate der bekannteste unter den scholastischen Theologen ist. „Yet medieval philosophy has been among the most neglected of all major periods of Western philosophy.“ (Eardley/Still (2010), S. 1.) 2 Die Darstellung der Biographie des Thomas von Aquin richtet sich insbesondere nach Leppin (2009). Mit Blick auf die Biographie sei weiter verwiesen auf: Weisheipl (1980). 3 Nach: Leppin (2009), S. 7. 4 Nach: Ebd. 5 Ebd.

© WILHELM FINK VERLAG, 2018 | DOI 10.30965/9783506788856_014 .8

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Geburtsort Thomas von Aquins) auf der Burg Roccasecca.6 Mit gerade einmal fünf oder sechs Jahren wurde der Jüngstgeborene Thomas dem Benediktinerorden im Kloster Monte Cassino als puer oblatus7 übergeben.8 Aufgrund politischer Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst, welche 1239 zu einem Krieg zwischen Kaiser und Kirchenstaat führten, von dem auch das Kloster Monte Cassino nicht unberührt blieb, wurde Thomas geraten, ein Studium in Neapel zu absolvieren.9 Dieses Studium bestand nicht mehr nur aus den klassischen artes liberales,10 also dem Studium der freien Künste, welches sich aus dem Trivium (Grammatik, Rhethorik und Dialektik) und dem Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) zusammensetzte. Vielmehr bestand es „vor allem in einer an Boethius und zunehmend auch Aristoteles orientierten Auseinandersetzung mit Grundfragen von Sprache und Philosophie“11. Aristoteles (384–322 v.Chr.) und seine Schriften wurden seit der Mitte des 12. Jahrhunderts auch im christlich-lateinischen Westen zusehends wiederentdeckt.12 Dies ist eine entscheidende Entwicklung für die Biographie des Thomas von Aquin, sollte doch Aristoteles in der Scholastik13 zur zentralen philosophischen Referenz avancieren und in dieser Funktion auch für das Denken sowie das Schrifttum des Aquinaten von zentraler Bedeutung

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Nach: Ebd. Zu den pueri oblati im Benediktinerorden sei verwiesen auf: Koller (2009), insbes. S. 104–118. Nach: Leppin (2009), S. 7. Nach: Ebd., S. 8. Nach: Ebd. Ebd. So ist es gerade auch die (Wieder-)Entdeckung des Aristoteles und seiner Schriften, aber auch seiner arabischen Interpretatoren, welche zusammen mit den Universitätsbildungen für den Wechsel von Früh- zu Hochscholastik charakteristische Funktion besitzen. Zusammen mit Aristoteles kommen dadurch sowohl muslimische wie auch jüdische Denker in den Blick. (Vgl.: Leinsle (1995), S. 126.) Nach: Leppin (2009), S. 9. Interessanterweise erfolgte sowohl die vormalig vorrangige Rezeption platonisch-neuplatonischer Philosophie als auch die nun neu einsetzende Verdrängung derselben durch die aristotelische Philosophie vermittels des Judentums. (Vgl.: Newman (1975), S. 125.) Zu den Auseinandersetzungen, welche die Frage nach Ablehnung oder Aufnahme des Aristoteles in der Theologie des 13. Jh. auslöste, s.: Leinsle (1995), S. 121–169. Für die Drucklegung wird auf eine eigene Darstellung der Scholastik verzichtet, sodass auch dies eine Kürzung darstellt. Einführend sei verwiesen auf: Leinsle (1995), wo sich auch Hinweise zu weiterführender Literatur finden.

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werden.14 Auch geographisch war es ein Glücksfall für Thomas von Aquin, im Herrschaftsbereich Kaiser Friedrichs ii. zu leben: „Da diese aristotelischen Schriften vor allem im arabischen Kulturraum tradiert worden waren, wurden die Schnittstellen zwischen christlicher und arabischer Kultur – insbesondere Spanien, aber auch das Sizilien Friedrichs – zu geistigen Umschlagstellen, die den geschätzten Logiker Aristoteles in ein neues, in vielen Augen gefährliches Licht tauchten.“15 Im Gegensatz etwa zu Paris, wo zusehends Verbote gegen Aristoteles ausgesprochen wurden, konnte Thomas von Aquin so in Neapel diesen Philosophen bereits in jungen Jahren relativ frei und ungestört kennenlernen.16 Zu dieser Zeit kam der Aquinate auch erstmals in Kontakt mit dem Predigerorden.17 Die Faszination für den Dominikanerorden lag für Thomas von Aquin, so Leppin, vermutlich insbesondere auch in deren Umgang mit Wissenschaft und Wissenserwerb, welcher daraus resultierte, dass ihnen „an der intellektuellen Durchdringung des Glaubens“18 gelegen war.19 1244 wollte sich Thomas diesem Orden anschließen, seine machtpolitisch denkende Familie war mit dem Gedanken, ihren Sohn an einen Bettelorden zu verlieren, allerdings nicht einverstanden und entführte ihn kurzerhand auf dem Weg nach Paris, woraufhin ihn ein einjähriger Hausarrest erwartete.20 1245

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Mit Pieper gilt es einen interessanten Umgang mit Aristoteles wie auch anderen Autoritäten festzuhalten: „Aristoteles also ist von Thomas nicht primär als historischer Autor gemeint, genauso wenig wie Augustinus oder Dionysius Areopagita. Sie sind gemeint als Zeugen der Wahrheit, die sich ihm selbst, Thomas, wie auch, nach seiner Absicht, dem Leser […] als sie selber zeigen und sich kraft ihrer eigenen Sach-Argumente als gültig erweisen lassen muss. […] Sofern es sich um Philosophieren handelt, interessiert nicht primär ein historischer Autor, und hieße er Aristoteles; primär interessiert die Wahrheit der Sachen. So blickt also Thomas zwar auf den aristotelischen Text, den er ja in riesigen Kommentarwerken zu interpretieren unternimmt; aber er blickt zugleich auf etwas, das jenseits des historischen Aristoteles liegt. Und genauso verfährt Thomas mit Augustinus. Es gibt nur einen einzigen Text, dem er auf andere Weise begegnet: die Heilige Schrift, die, als göttliche Rede, absolute Autorität besitzt und der denkbar höchste Ausdruck der Sach-Wahrheit selber ist. Was ‚hinter‛ Aristoteles und Augustin als das eigentlich Interessierende gesucht wird, die Wahrheit der Dinge, ebendies ist in der Heiligen Schrift selber eingekörpert“ (Pieper (2014), S. 60, Hervorhebung im Original.). Leppin (2009), S. 9. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Ebd., S. 10. Nach: Ebd. Nach: Ebd.; siehe hierzu auch etwa: Chenu (1960), S. 7.

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gelangte er schließlich nach Paris, wo er bis 1248 bleiben sollte.21 Hier lernte er Albertus Magnus kennen,22 welcher gerade auch für seinen Umgang mit Aristoteles prägend sein sollte. Gemeinsam verließen sie Paris 1248 in Richtung Köln, wo sie bis 1252 blieben.23 Der Wechsel nach Köln hatte, wenngleich es sich hier nicht mehr um eine angesehene Universität wie in Paris handelte, den Vorteil, dass hier die verbotsfreie Auseinandersetzung mit Aristoteles möglich war.24 So machte sich Albertus Magnus an die Kommentierung der aristotelischen  Schriften, lehrte auch zu Aristoteles, aber auch zu Dionysius Areopagita – Schriften, welche um 500 n.Chr. entstanden und neuplatonischmystischen Charakter besitzen –, sodass Thomas von Aquin nebst der aristotelischen Linie auch mit neuplatonischem Gedankengut vertraut wurde.25 So erhielt er „eine philosophische Ausbildung, wie sie in dieser Qualität und diesem Umfang wohl einzigartig in Europa war.“26 Mit Erlangung des Grades baccalaureus biblicus in Köln begann für ihn die Tätigkeit der Kommentierung biblischer Schriften.27 Bei seiner Rückkehr nach Paris wurde Thomas 1252 der nächste theologische Grad, der baccalaureus sententiarius, verliehen, sodass er nun eine Kommentierung der Sentenzen des Petrus Lombardus (1095–1160) vorzunehmen hatte.28 1256 schließlich erlangte er den Titel magister29 actu regens.30 Auch in Paris konnte Thomas von Aquin

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Nach: Chenu (1960), S. 27. Nach: Leppin (2009), S. 10f. Nach: Chenu (1960), S. 27. Nach: Leppin (2009), S. 11. Nach: Ebd., S. 11f. Ebd., S. 12. Nach: Ebd. Nach: Ebd. „Meister, magister, bezeichnet seit dem 12. Jahrhundert den Führer einer Gruppe von Wanderpredigern, einen Robert von Arbrissel, einen Norbert von Xanten und selbst einen Dominikus. Denn diese evangelischen Prediger lehnen den Namen ‚Abt‛ oder ‚Herr‛ (Dom) ab, weil er verknüpft ist mit zeitlicher Macht und zeitlichen Aufgaben. Der Titel magister bedeutet die ganzheitliche und fortschreitende Verarbeitung des Wortes Gottes in den drei miteinander verbundenen Tätigkeiten: Lesen (nämlich einen Text als Grundlage), Disputieren (nämlich eine quaestio [Frage], ein Problem), Predigen. Und in der Tat, es ist schwer, während der ersten zwei oder drei Generationen die literarische Gattung von Werken zu erkennen, wo die ‚Lesung‛ zugleich Unterricht und Predigt ist. Gerade innerhalb dieser apostolischen Verbindung treten die Funktionen des Magisters deutlich hervor als Tätigkeiten, die ganz normal einem gottbezogenen Leben entspringen: Das wahre magisterium in sacra pagina (Magisteramt in der H. Schrift), wie man damals sagte, begreift die Predigt in sich. Die Theologie des Wortes Gottes erfüllt sich nur in der

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nun endlich frei zu Aristoteles forschen, da ein entsprechendes Statut 1255 erlassen worden war.31 Nach zwei Jahren Lehrtätigkeit in Paris32 musste Thomas allerdings auf Anordnung seines Ordens Aufgaben in Italien erfüllen, zunächst in Orvieto, danach in Rom.33 „Für Thomas bestand die ihm übertragene Aufgabe in einer Verbesserung der Ausbildungssituation des Ordens in seiner italienischen Heimat.“34 Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Rom konnte der Aquinate schließlich wieder nach Paris zurückkehren.35 Die freie Forschung an Aristoteles, welche inzwischen in Paris möglich war, hatte aber auch ihre Kehrseite, wurde es doch so ersichtlich, dass dieser in einigen zentralen Themen wie der Seelenlehre Standpunkte vertrat, welche sich, wenn sie konsequent zu Ende gedacht werden, als mit der christlichen Lehre unvereinbar erwiesen.36 Thomas von Aquin trat für eine korrekte, mit dem christlichen Glauben vereinbare, und gegen eine „falsche“ Aristotelesinterpretation ein, welche der christlichen Lehre zuwiderläuft, wobei er die „falschen“ Ausleger des Averroismus, also der Verfälschung der Aussagen Aristoteles’ durch den muslimischen Interpretatoren, und damit der unangemessenen Interpretation bezichtigte.37 Diese Feindschaft ging so weit, dass auch die bisher verwendeten Übersetzungen in Zweifel gezogen wurden: Thomas „unterstützte die Neuübersetzung der Aristotelestexte aus

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Weitergabe der Botschaft. Exegese, Dogmatik und Seelsorge gehören zusammen für den, der das Evangelium verstehen will, denn dieses Verstehen verwirklicht sich vollgültig nur in einer Teilhabe an der gegenwärtigen Wirksamkeit des Wortes. Die Theologie wird geboren, entwickelt sich, vollendet sich im Innenraum dieses Wortes, das im Glauben aufgenommen wird. Der Magister Thomas doziert fortlaufend über den Text der Bibel, die das Grundbuch an der theologischen Fakultät ist. Man kann seine Summa weder begreifen noch überhaupt über das rein Technische des Textes hinaus lesen, es sei denn als lebendigen Niederschlag der pagina sacra.“ (Chenu (1960), S. 29, Hervorhebung im Original.) Nach: Leppin (2009), S. 13. Nach: Ebd. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Lehrtätigkeit in Paris nebst Fragen des Umgangs mit Aristoteles auch von weiteren Kontroversen geprägt war: So kam es etwa zwischen der Professorenschaft, welche aus den Mendikantenorden stammte, und den übrigen Professoren zu Auseinandersetzungen, nicht zuletzt auch darum, weil sich die Angehörigen der Mendikantenorden nicht am Universitätsstreik beteiligten und ihre Vorlesungen weiterhin abhielten. Zu den Auseinandersetzungen siehe z.B. die Kurzdarstellung in: Leinsle (1995), S. 114–117. Nach: Leppin (2009), S. 13–15. Ebd., S. 14. Nach: Ebd., S. 15. Nach: Ebd., S. 16–19. Nach: Ebd., S. 18f.

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dem Griechischen durch Wilhelm von Moerbeke (ca. 1215–1286) die [sic!, v.v.] die bisherigen Übersetzungen ablösen sollte, und machte so deutlich, dass eine genuine Kenntnis des Aristoteles vor den Irrtümern bewahren könne, die er bei seinen Widersachern identifizierte.“38 Thomas gestand der Philosophie keinen Eigenwert zu, sondern verstand sie als ancilla, als Magd der Theologie, welcher sie dienen sollte und der sie klar untergeordnet zu sein hatte.39 Somit ist nur eine Philosophie bzw. eine Interpretation zulässig, welche der Lehre des christlichen Glaubens zu Nutze gemacht werden kann, um die Wahrheit derselben denkerisch-logisch zu untermauern. Das schriftstellerische Schaffen des Thomas ist beeindruckend, insbesondere auch, wenn man sich vor Augen führt, wieviel er – zumindest während seiner Zeit in Paris – täglich verfasste: Er hat „täglich so viel geschrieben, wie auf zwölfeinhalb engbedruckte Din-A-4-Seiten passt, und dies alles neben der sonstigen Tätigkeit im akademischen Betrieb!“40 Doch fand diese beeindruckende Schaffenskraft am 6. Dezember 1273 – wohl aufgrund einer Vision während einer Messe – ihr abruptes Ende.41 „Die Begründung hierfür gab er selbst: Alles, was er geschrieben habe, erscheine ihm, verglichen mit dem, was er nun geschaut habe, wie Stroh.“42 Im Jahre 1274 verstarb Thomas von Aquin auf dem Weg zum Konzil von Lyon in der Zisterzienserabtei Fossanova.43 Post mortem wurden allerdings einige Lehrsätze des Thomas von Aquin im Jahre 1277 verurteilt.44 1323 wurde der Aquinate durch Papst Johannes xxii. heilig gesprochen und 1567 zum doctor ecclesiae, zum Kirchenlehrer, erklärt.45 Auch für den Dominikanerorden war Thomas eine zentrale Figur, nicht zuletzt auch dadurch, dass er die Lebensform dieses Ordens theoretisch in einer Schrift begründete und so rechtfertigte.46 Nach diesen biographischen Ausführungen, in welchen gerade auch mit Blick auf Aristoteles aber auch hinsichtlich der Verurteilung einiger Lehrsätze des Aquinaten die Bedeutung des Judentums aufgeschienen ist, bleibt Thomas’ Verhältnis zu demselben zu klären. 38 39 40 41 42 43 44

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Ebd., S. 19. Nach: Ebd., S. 20. Ebd.; bei dieser Angabe handelt es sich um den errechneten Durchschnittswert. Nach: Ebd., S. 21. Ebd. Nach: Ebd., S. 22. Nach: Ebd., S. 19. Wie Hasselhoff anführt, ist davon auszugehen, dass die Verurteilung von „219 Sätze[n] der ‚Philosophen’ als häretisch“ (Hasselhoff (2004), S. 188.) auch einige Aussagen Maimonides’ beinhaltete, wodurch sich die Maimonidesrezeption in der Folge veränderte, wenngleich sie auch nicht gänzlich abbrach. (Nach: Ebd., S. 188f.) Nach: Eardley/Still (2010), S. 5. Nach: Leppin (2009), S. 16.

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Thomas und das Judentum

In diesem Kapitel soll lediglich ein Überblick über Thomas’ Sicht auf das Judentum sowie auf seinen Umgang mit demselben geliefert werden.47 Dabei wird in einem ersten Schritt in Kürze dargestellt, wie Thomas die Juden in seinem Werk – insbes. in seinem Kommentar zum Römerbrief,48 der nach Lynch die extensivste Behandlung der Frage nach der Beziehung von Juden- und Christentum durch Thomas von Aquin darstellt,49 aber auch beispielsweise in der STh – sieht, um in einem zweiten Schritt endlich Thomas’ Umgang mit Maimonides zu behandeln. Damit zunächst zu Thomas’ Umgang mit dem Judentum.50

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Für Maimonides wurde das Thema der Behandlung bzw. des Umgangs mit der christlichen Religion nicht eigens thematisiert. Dies soll hier mit einem kurzen interessanten Hinweis nachgeholt werden: Der Rambam spricht davon, dass durchaus auch das Christentum sowie der Islam ihre eigenständige Berechtigung neben dem Judentum besitzen, um Gott in der Welt bekanntzumachen. Das Judentum selbst verfolgt keine aktive Missionstätigkeit. Christentum und Islam dagegen besitzen die Aufgabe, den Glauben an den einen Gott in der Welt zu verbreiten: die Christen nach Westen hin, die Muslime nach Osten. Christentum und Islam besitzen so ebenfalls eine besondere Aufgabe im Erlösungsplan Gottes. (Vgl. hierzu:. ‫יג‬-‫ פרק יא הלכה י‬,‫ הלכות מלכים ומלחמות‬,‫)משנה תורה‬ Diese Textpassage bei Maimonides war allerdings lange Zeit zensuriert und taucht erst in den neueren kritischen Ausgaben wieder auf. Zwar stellt das Christentum im Unterschied zum klar monotheistischen Islam für Maimonides eine götzendienerische Religion dar, da die Lehre von der Trinität das Konzept von Gottes Einheit aufbreche, doch ist das Verhältnis dennoch komplexer zu sehen, da das Christentum im Unterschied zum Islam die Heiligen Schriften des Judentums, die Hebräische Bibel, als Gottes Offenbarung akzeptiert. (Vgl.: Halbertal (2014), S. 53.) Die Trinititätslehre ist in mn i,50 erwähnt. Zu Maimonides’ Verhältnis zu Christentum und Islam s. auch: .(‫ לסקר )תשס"ט‬An dieser Stelle sei auch auf Jehuda haLevis Kusari verwiesen, wo dieser Paulus’ Gleichnis vom Ölbaum und den aufgepfropften Zweigen (Röm 11,13–24) aufnimmt. (Vgl.: Jehuda haLevi: Der Kusari iv,23.) Wie Boguslawski hervorhebt, ist der Römerbrief des Paulus nicht nur im Falle von Thomas’ Deutung des Judentums und seiner Rolle im Erlösungsgeschehen von zentraler Bedeutung, vielmehr kommt der exegetischen Auseinandersetzung mit diesem Brief in der gesamten christlichen Theologie in Bezug auf die Beurteilung des jüdischen Volkes eine zentrale Rolle zu. (Nach: Boguslawski (2008), S. xv.) Nach: Lynch (2008), S. xi. Hood beansprucht für sich, die erste Behandlung dieses Themas in Buchlänge zu liefern. (Nach: Hood (1995), S. x.) Einige kürzere Abhandlungen zu Thomas’ Haltung gegenüber dem Judentum finden sich als Reaktion auf die Affäre Dreyfus (zum Fall Dreyfus s. z.B.: Bergmann (2006), S. 55–57.) am Ende des 19. Jhd. Wie Hood festhält, befassten sich auch in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg nur wenige mit diesem Thema, obwohl der

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4.2.1 Thomas von Aquin und die Juden Die Beurteilung des Judentums durch den Aquinaten ist sehr interessant, zumal er dieses durchaus positiv51 bewertet52 und in der Berechtigung seiner weiteren Existenz neben dem Christentum anerkennt.53 Dabei sind für Thomas

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Frage nach dem christlichen Ursprung des modernen Antisemitismus nachgegangen wurde. (Nach: Hood (1995), S. x.) Doch genau dies könnte ja auch der Grund für diesen Umstand sein: Stimmt Boguslawskis Sicht, so vertrat Thomas von Aquin – so wird noch zu sehen sein – eine positive Beurteilung des Judentums, wodurch ja gerade die These der christlichen Wurzeln anhand dieses Theologen nicht hätte gestützt werden können. Eines der Pamphlete nach der Dreyfus-Affäre in Frankreich wirft Thomas von Aquin allerdings genau das Gegenteil vor und bezichtigt ihn gar des Antisemitismus (wenngleich dies mehr als nur ein Anachronismus ist. Nicht nur, dass man damals noch nicht von Antisemitismus sprach, es gab ihn auch gar nicht: Es handelte sich dabei, wennschon dennschon, um einen Antijudaismus. Zum Unterschied von Antisemitismus und Antijudaismus s. beispielsweise: Bergmann (2006); Angenendt (2009), S. 540–552, insbes. S. 540; Gaytraud (1896). Einige weitere ältere Schriften, welche sich mit dem Verhältnis des Aquinaten zum Judentum befassten, sind: Deploigne (1897; dies enstand als Reaktion auf das Pamphlet von Gaytraud); Guttmann (1891); Broadie (1976); Eckert (1968); Blumenkranz (1976); Liebeschütz (1961) sowie Torrell (1995,1), dessen Aufsatz im selben Jahr wie Hoods Werk erschien. Von für diese Arbeit großer Relevanz ist eine jüngere Dissertation, vorgelegt von Hammele (2012), dessen Ziel es ist, „eine dezidierte und fundierte Quellenstudie“ (Ebd., S. 17.) zu liefern, „bei der das Ergebnis nicht schon im Vorhinein feststeht, sondern die Position der einzelnen Schriften rekonstruiert wird, um auf dieser Grundlage tiefere Einsichten in den Standpunkt des Thomas und sein Bild der Juden zu gewinnen.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) Hammele zieht das Fazit, dass es nicht darum geht, Thomas eine judenfeindliche oder judenfreundliche Position zuzuschreiben, vielmehr sei es Thomas von Aquin daran gelegen gewesen, „eine Auslegung vorzulegen, die sich den Kriterien der Wissenschaftlichkeit verpflichtet“ (Hammele (2012), S. 391.) wisse. Die Adjektive negativ und positiv sind daher hinsichtlich Thomas’ Beurteilung der Juden mit Vorsicht zu genießen und evtl. nur in einem analogen Sinne, welcher sich aus dem schlussendlich vorliegenden Inhalt ergibt, zu gebrauchen, da der Aquinate gemäß Hammele nicht bestrebt war, eine konsistente judenfreundliche oder -feindliche Position zu entwickeln und vorzulegen. Diese positive Herangehensweise des Thomas von Aquin hängt auch mit der Christologie zusammen: Denn die Inkarnation, die Fleischwerdung Gottes, in den Juden Jesus macht deutlich, dass das Heil vom jüdischen Volk her bzw. korrekter aus ihm heraus kommt. (Nach: Boguslawski (2008) S. 37.) Im Zusammenhang mit Thomas’ positiver Bewertung der fortdauernden Bedeutung des Judentums ist mit Boguslawski auch darauf hinzuweisen, dass „the anti-Judaism characteristic of the High Middle Ages“ (Ebd., S. xv.) bei Thomas fehlt. (Nach: Ebd.) Natürlich muss im Rahmen einer Bewertung der Haltung des Thomas von Aquin zum Judentum auch der zeitgeschichtliche Kontext mitbedacht werden. Auf diesen wird

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von Aquin insbesondere die Kapitel 9–11 im Römerbrief des Apostels Paulus von Bedeutung – wobei Thomas von Aquin die Juden durchaus öfter nennt, als sie im Brief tatsächlich auftauchen –, die ihn eine positive Rolle des Judentums für Gegenwart und Zukunft erkennen lassen.54 Wie Boguslawski aufzeigt, verortet Thomas die fortdauernde Rolle des Judentums im Römerbriefkommentar wie auch in seiner Theologischen Summe in der Heilsgeschichte und zwar im Rahmen der Thematiken der göttlichen Vorsehung bzw. der konkreten Prädestination und Erwählung.55 Eine positive Herangehensweise war alles andere als selbstverständlich, hatte doch schließlich Papst Gregor ix. 1239 in einer Bulle angeordnet, alle Exemplare des Talmuds zu vernichten.56 Diesem Aufruf

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hier nicht eigens eingegangen, sondern auf weiterführende Literatur verwiesen: Toch (2013); ders., (1984); Chazan (2010); Stow (2010), S. 293–312; ders. (2007); Frassetto (2007); Steinberg (2008). Ebenso sollen einige Literaturhinweise zum Verhältnis von Juden- und Christentum im Mittelalter, inkl. den literarischen Dialogbeziehungen, gemacht werden: Lutz-Bachmann/Fidora (2012; zu Thomas von Aquin s. insbes. den darin enthaltenen Aufsatz von Lutz-Bachmann (2012)); Jung (2008, wovon S. 76–80 den Talmudkontroversen sowie Religionsgesprächen von Paris, Barcelona und Tortosa gewidmet sind); Kessler/ Pawlikowski/Banki (2002); Kessler, E. (2010, davon insbes. S. 102–123 zu mittelalterlichen Beziehungen); Schubert, K. (2003); Schoeps (1984). Hinsichtlich der Beziehungen des Dominikanerordens, welchem Thomas von Aquin bekanntlich angehörte, zum Judentum empfiehlt sich der neue Sammelband von Füllenbach/Miletto (2015; wobei hieraus hinsichtlich Thomas insbes. folgende beiden Aufsätze zu nennen sind: Emili (2015) sowie Rothschild (2015)). Nach: Lynch (2008), S. xii. Folgt man Hood, so lässt sich die positive Bewertung hinterfragen, betont dieser doch, dass darauf gezielt wird, die Wahrheit der christlichen Botschaft zu bekunden. (Nach: Hood (1995), S. 38.) Er weist auf, dass Thomas von Aquin die Geschichte der Juden in zwei grobe Epochen aufteilt: die Zeit unter dem Gesetz und die Zeit nach dem Gesetz mit dem wichtigen Angelpunkt der Zeit zwischen Christi öffentlichem Wirken und Auftreten und der Zerstörung des zweiten Tempels. (Nach: Ebd.) „In each period, Aquinas believed, the Jews were an instrument of God’s will and a means of his revelation. Under the Law, their life and worship was a sign of God’s righteousness and a symbol of what was to come, and their history set the stage for the Incarnation. Then, in rejecting and crucifying Jesus, the Jews inadvertently fulfilled the words of the prophets and effected the sacrifice which made possible the salvation of the Gentiles. Finally, their homelessness and misery after a.d. 70 – a divine punishment for their role in the Crucifixion – gives mute testimony to the justice of God and the truth of the Christian message.“ (Ebd.) Nach: Boguslawski (2008), S. xv. Zur Rolle der Juden im göttlichen Heilsplan s. auch: Dubois (1990). Nach: Hammele (2012), S. 146.

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kam Paris nach: Die Talmudverbrennungen ereigneten sich 1242, also kurz bevor Thomas von Aquin nach Paris kam.57 Es muss angenommen werden, dass dieser historische Umstand und die darin enthaltenen Repressalien Thomas von Aquin durchaus bekannt waren.58 Für die Theologische Summe ist die Unterscheidung verschiedener Gruppen von infideles, Ungläubigen, in STh ii–ii, q. 10 interessant. Es gibt demnach drei Typen von infidelitas, also Ungläubigkeit. Der Glaube seinerseits kann auf zwei unterschiedlichen Wegen abgelehnt werden: vor oder nachdem der Glaube angenommen war. Nach Annahme des Glaubens kann der Glaube wiederum zweifach abgelehnt werden – und dies ist die entscheidende Konkretisierung hinsichtlich der Beurteilung der Juden – und zwar einerseits in figura oder aber in der Offenbarung der Wahrheit. Dies ergibt die drei Kategorien des Unglaubens: 1. die Heiden, welche den Glauben gar nicht erst angenommen haben, 2. die Juden, welche den Glauben, den sie in figura empfangen haben, ablehnen und 3. – und zugleich die schlimmste Weise der Ungläubigkeit – die Häretiker, welche zwar den Glauben erhalten hatten, aber die Offenbarung der Wahrheit ablehnen.59 Thomas fällt das Urteil, dass diejenigen, welche den Glauben leugnen, nachdem sie ihn bereits angenommen hatten, mehr sündigten als jene, welche ihn niemals angenommen hatten, wodurch folgende Rangierung resultiert: Die schlimmste Sünde begehen folglich die Häretiker, danach kommen die Juden und zu guter Letzt die Heiden, welche die geringste Sünde in ihrer Ablehnung des Glaubens begehen, haben sie diesen doch von Anfang an abgelehnt und nicht zunächst noch Teile davon akzeptiert.60 Das Judentum ist also in einer Sandwichposition zwischen Glaube und Unglaube anzusiedeln: Sie sind „possessors of faith in figura; their resistance to the fullness of the Christian faith is attributable to wrongly (male) interpreting the Old Law. The Jews occupy an intermediate position between Christians and pagans precisely because they prefigure the truth.“61 Jüdische Gesetzesobservanz ist dabei nicht als Übel oder gar als Götzendienst misszuverstehen, sondern ganz im Gegenteil geht Thomas von Aquin davon aus, dass sowohl Juden als auch Christen Nutzen aus der andauernden Befolgung der göttlichen Weisungen durch die Juden ziehen können.62 Auch Augustinus hinterließ seine 57 58 59 60 61 62

Nach: Ebd., S. 147. Nach: Boguslawski (2008), S. 28. Diese Ansicht vertritt beispielsweise auch Hammele (2012), S. 149. Vgl.: Boguslawski (2008), S. 38f. Nach: STh ii–ii, q. 10, a. 6 resp. Boguslawski (2008), S. 39, Hervorhebung im Original. Nach: Ebd., S. 40.

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Spuren auf positive Weise bei Thomas von Aquin: Denn auch er sah durchaus noch etwas Gutes in der fortdauernden Existenz des Judentums auch angesichts Jesu Christi. Würde das Judentum nämlich nicht existieren, so könnten die Heiden den Christen vorwerfen, das Alte Testament mitsamt seinen Verheißungen und Prophezeiungen erfunden zu haben; die Juden aber seien der lebende Beweis für „the antiquity of the Hebrew scriptures“63 und somit auch für die Wahrheit und Echtheit der Prophezeiungen des Alten Testaments, so Augustinus.64 So bezeugen auch für Thomas die Juden durch die Ausübung ihrer Religion, welche auf das alttestamentliche Judentum verweist, letztlich „die Wahrheit des christlichen Glaubens.“65 Weiter ist der Aquinate auch gegen jegliche Zwangskonversion – ist doch erzwungener Glaube kein Glaube:66 Weder erwachsene Juden noch jüdische Kinder dürfen zwangsgetauft werden.67 So setzt er sich auch mit der Frage 63 64

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Hood (1995), S. 13. Nach: Ebd.; vgl.: Augustinus, De civ. Dei xviii,45. Dieser Gedanke findet sich auch bei Thomas von Aquin wieder, wenn er drei Bedeutungen der Aussage, dass das Heil von den Juden kommt, angibt und in seinem dritten Grund auf die Schrift verweist. Die drei Verstehensweisen des Heils aus den Juden, welche Thomas im Römerbrief-Kommentar schildert, sind: „Erstens weil durch das Verbrechen, welches sie mit der Tötung Christi begangen haben, das Heil der Heiden in der Erlösung durch Christi Blut verursacht wurde“, „[z]weitens kann es von dem Vergehen verstanden werden, womit sie die Lehre der Apostel zurückgewiesen haben, was zur Folge hatte, dass nun die Apostel den Heiden predigten“ sowie der in diesem Zusammenhang entscheidende Grund: „Drittens kann man es dahin verstehen, dass sie wegen ihrer Unbußfertigkeit unter alle Heiden zerstreut worden sind, und so Christus und die Kirche überall an den Büchern der Juden ein Zeugnis für den christlichen Glauben hatte, [sic!, v.v.] um die Heiden zu bekehren. Diese hätten ja bei den Prophezeiungen über Christus, die die Verkünder des Glaubens anführten, beargwöhnen können, sie seien erfunden, wenn sie nicht durch das Zeugnis der lebenden Juden unterstützt worden wären“. (cro xi,2.) Hammele (2012), S. 294; vgl. hierzu: STh ii–ii, q. 10, a. 11 resp. Vgl.: Hood (1995), S. 86. Vgl.: STh ii–ii, qq. 6–17. Bei Horst/Faes de Mottoni (1989) findet sich ein Überblick über die scholastische Debatte der Behandlung der Zwangstaufe jüdischer Kinder, wobei sich nebst Thomas von Aquin auch die weitere Entwicklung findet. (Vgl.: Ebd., S. 179–199.) Insbesondere kommt dort die folgenreiche Entwicklung, welche von Duns Scotus in Gang gesetzt wurde, hervor. Mit Blick auf Thomas von Aquin halten Horst/Faes de Mottoni den auffälligen Umstand fest, dieser hätte nie direkt auf eine päpstliche Verlautbarung zur Untermauerung seiner Ansicht hingewiesen. (Nach: Ebd., S. 175.) Als zentrales Argument schildern sie: „Dass der universale Taufbefehl und das sakramental vermittelte Heil das natürliche Recht des Menschen nicht außer Kraft setzen, ist für Thomas von Aquin das entscheidende Argument gegen die Zwangstaufe jüdischer Kinder.“ (Ebd.,

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auseinander, ob ein jüdisches Kind seinen Eltern weggenommen werden dürfe, um es zwangszutaufen und als Christ großzuziehen. Thomas von Aquin lehnt dies ab:68 „[T]his would doubly violate natural justice, according to Aquinas’ definition.“69 Ein weiteres positives Element lässt sich in seinem Kommentar zum Johannesevangelium im Umgang mit dem Motiv von synagoga und ecclesia, welches insbesondere Augustinus eine negative Konnotation der Synagoge zu verdanken hat, ausmachen: Thomas korrigierte diese Deutung, indem er aufwies, dass die leibliche die typologische Mutter ‚Synagoge’ repräsentiert und so „das im Mittelalter negativ besetzte Bild der Synagoge“70 zu einer positiveren Sichtweise zu führen versuchte.71 Mit Hammele kann das Fazit gezogen werden: „Die Auslegung des Thomas entbehrt also nicht nur jeglicher Polemik, sondern kann durchaus auch im Sinne einer Rehabilitation verstanden werden.“72 Hinsichtlich der Verantwortung für die Kreuzigung und den Tod Jesu geht Thomas von Aquin in seinem Johanneskommentar ebenfalls einen interessanten Weg: Er weist zwar inhaltlich die unterschiedlichen am Geschehen beteiligten Gruppen auf, doch formal spricht er dennoch vom Kollektiv, das Schuld trägt, und unterscheidet zwischen jüdischer und heidnischer Beteiligung, um dadurch aufzuzeigen, dass sowohl Juden als auch Heiden maßgeblich daran beteiligt waren und somit Schuld tragen – und dies aus soteriologischem

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S. 198.) Interessanter- bzw. tragischerweise wurde gerade Thomas von Aquin, der selbst gegen unter Zwang vorgenommene Taufaktionen plädierte, in der Folgezeit als Wegweiser und Vorreiter für die Praxis der Zwangstaufe interpretiert: „Als Beitrag des Thomas zu dieser neuen Missionsinitiative der Dominikaner wurde lange Zeit sein zweites großes systematisches Werk (nach der Summa theologiae) die Summa contra gentiles verstanden. Seit dem 16./17. und bis ins 20. Jahrhundert hinein galt sie als Handbuch zur Missionierung von Juden und Muslimen in Spanien, das Thomas auf Anfrage seines früheren Generalministers Raymund von Peñaforte verfasst haben soll. Nicht unwesentlich dazu beigetragen hat wohl der frühere Werktitel Liber de veritate catholicae fidei contra errores infidelium (Buch von der katholischen Wahrheit gegen die Irrtümer der Ungläubigen). Diese Deutung hat allerdings wenig mit der ursprünglichen Intention des Thomas zu tun, soweit sie sich aus dem Text erschließen lässt.“ (Hammele (2012), S. 150, Hervorhebung im Original.) Es handelt sich hierbei also um eine folgenreiche Fehlinterpretation in der Rezeptionsgeschichte. Vgl.: STh ii–ii, q. 10, a. 12 resp. Hood (1995), S. 90. Hammele (2012), S. 183. Zum Komplex des Motivs von synagoga und ecclesia bei Augustinus und Thomas von Aquin s.: Ebd., S. 178–183, wo sich auch Angaben zu den Originalstellen finden. Ebd., S. 183.

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Interesse heraus:73 Sowohl Juden als auch Heiden mussten am Tod Jesu beteiligt sein, da auch beiden das Heil, welches aus Christi Tod hervorgeht, offen steht; die beiden universalen Ansprüche (kollektive Sünde und universale Heilsbedeutung) entsprechen sich damit, wodurch das formale Element durchaus inhaltliche Gründe besitzt.74 Zur Frage der Erwählung streicht Thomas von Aquin heraus, dass Gott sich Menschen aus Heiden und Juden gleichermaßen erwählt.75 Nach Boguslawski egalisiert die göttliche Erwählung Juden und Heiden, wobei der Aquinate dabei aber zugleich an der besonderen Stellung und Würde des Judentums festhalte,76 bleibt doch das Bundesprivileg Israels als Gottes Volk durch die Zeit hindurch erhalten.77 Hood dagegen kommt zu einem anderen Fazit: Er hält fest, dass nicht die eigene Wahl, sondern die göttliche Vorsehung es war, welche einige Juden dazu veranlasste, Jesus als den Messias anzuerkennen.78 Jesus stellte sie gemäß Hood vor eine doppelte Wahl: Wer den Glauben an ihn annahm – was durch die göttliche Providenz erfolgt –, der wurde zu den Erwählten hinzugefügt, zum verus Israel, also zum wahren Israel; wer Jesus als den Messias aber ablehnte, sei nach Thomas von Aquin verdammt worden zu Heimatlosigkeit und darüber hinaus in diesem Leben degradiert und im kommenden verdammt.79 Kritik an den Juden findet sich bei Thomas von Aquin insbesondere hinsichtlich des Wuchers.80 Da Thomas von Aquin in der entsprechenden Schrift 73 74 75 76

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Zu den unterschiedlichen Gruppen und ihrer Beteiligung s.: Ebd., S. 216–270. Nach: Ebd., S. 270. Vgl.: cro ix,2.5 sowie xi,1. Nach: Boguslawski (2008), S. 65. Diese besondere Würde des Judentums, aber auch der Bund, welcher weiterhin besteht, wird von Thomas von Aquin etwa in cro ix,1 betont. Noch deutlicher zeigt sich dies – mitsamt der positiven Wirkung für die gesamte Welt – in folgender Aussage: „Wenn somit Gott zum Nutzen der ganzen Welt das Verbrechen und die Verringerung der Juden zuließ, um wieviel mehr wird er ihre Wiederaufrichtung zum Nutzen der ganzen Welt gestalten.“ (cro xi,2.) Vgl. auch cro xi,3, wo das Gleichnis vom Ölbaum, den Zweigen und der Wurzel ausgelegt wird. Weiter bezeugt Paulus gemäß Thomas’ Interpretation, „dass ganz Israel das Heil erlangen wird“ (cro xi,4). Vgl.: Boguslawski (2008), S. xv. Nach: Hood (1995), S. 65. Nach: Ebd. Auf die von Hood für Thomas von Aquin beanspruchte Zweiteilung der Geschichte der Juden mit dem entscheidenden Wendepunkt von 30–70 n.Chr. und die darauf folgende entscheidende Periode des Exils, welche dem Zweck dient, die Richtigkeit des christlichen Glaubens und Gottes Gerechtigkeit, der Frevel und Unglauben nicht ungestraft lässt, zu untermauern, wurde bereits hingewiesen. Vgl.: De reg. Iud. Mit Blick auf die Thematik des Wuchers sei insbes. verwiesen auf: Goff (2008).

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v.a. die zu seiner Zeit tatsächlich herrschenden Umstände der Lebenssituation, der ökonomischen, politischen aber auch sozialen Situation der Juden sowie die damals herrschende kirchenrechtliche Praxis wiedergibt, ist diese Schrift mit Hammele äußerst interessant, um zu sehen, wie Thomas von Aquin über die Situation der Juden seiner Zeit dachte.81 Doch bleibt Thomas interessanterweise im Rahmen der Wucherthematik nicht bei einer Kritik an den Juden stehen, sondern kritisiert vielmehr die herrschenden Zinspraktiken der Fürsten, welche die Juden in den Wucherhandel zwingen würden.82 „Da die Fürsten nicht aktiv gegen das Zins- und Kreditgeschäft vorgingen, sondern die Wuchergeschäfte durch ihre Wirtschaftspolitik, die die Juden geradezu in das Zinsgeschäft dränge, unterstützten, trügen sie auch die Verantwortung für die dadurch entstandenen wirtschaftlichen Schäden.“83 Die Fürsten sollten dagegen darum bemüht sein, den Juden zu erlauben, einer Arbeit nachzugehen und so ihren Lebensunterhalt zu verdienen.84 Damit äußert Thomas von Aquin eine erhebliche Gesellschafts- und Herrschaftskritik. Hinsichtlich des Vorwurfs der Teufelskindschaft der Juden in Joh 8,44 entschärft Thomas von Aquin diese Aussage, indem er diese Kindschaft in Form der Nachahmung (imitatio) der Werke des Teufels – und damit als Sünde – interpretiert, sie also an den freien Willen und nicht an eine Wesensbestimmung oder einen Wesenszug bindet.85 Mit dieser Deutung, welche einer Dämonisierung des jüdischen Volkes entgegenwirkt, hält Thomas von Aquin auch die Möglichkeit der Erlangung des Heils für die Juden offen, indem sie sich von dieser in ihren Werken eingeschlagenen Nachfolge abwenden können: „Allein aufgrund der Teufelskindschaft ist ihnen der Heilsweg nicht definitiv versperrt; wie allen Menschen versucht Thomas damit auch den Juden den Heilsweg (im Sinne der Möglichkeit einer erneuten Hinwendung zu Gott) konsequent offen zu halten.“86 Allerdings gilt es festzuhalten, dass sich bei Thomas durchaus auch negative Bemerkungen hinsichtlich des Judentums finden: So wird etwa die Schuld am Tod Christi auch der Nachfahren der damals lebenden Juden vehement 81 82 83 84 85

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Nach: Hammele (2012), S. 151f. Nach: Ebd., S. 153. Ebd. Nach: Ebd. Nach: Johanneskommentar c. viii, l. vi, i, 1240, wo Thomas denn auch schreibt: „[I]ta eadem est substantia et natura rei, sive sit bona, seu habeat in se defectum, quod est peccatum voluntatis. Non ergo Iudaei ut mali, dicuntur filii diaboli natura, sed imitatione.“ Vgl. auch: Hammele (2012), S. 191f. Hammele (2012), S. 192.

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verteidigt. Allerdings ist es nicht in dem Sinne zu verstehen, dass sich die Schuld schlechthin übertragen würde, sondern vielmehr laden die jeweiligen Generationen aktiv die Schuld am Tod Christi auf sich, indem sie ihn nicht verurteilen und sich dagegen stellen, sondern ihn gutheißen und so ihre Vorfahren, welche direkt beteiligt waren, nachahmen und ihnen in ihrer Schuld nachfolgen.87 Es ist also keine Schuld, welche im Sinne der Erbsünde übertragen würde, sondern es handelt sich – auch wenn sie nicht selbst beteiligt waren – um eine persönliche, aktuelle Schuld. Nach diesen kurzen Informationen zu Thomas’ Beurteilung des Judentums wenden wir uns nun seinem Verhältnis zu Maimonides zu,88 über den Hammele schreibt, dass lediglich hinsichtlich dieses einen Juden bezeugt sei, „dass Thomas ihn gut (wenn auch nicht persönlich) kannte, studierte und hochschätzte, da er ihn in zahlreichen seiner Werke würdigend erwähnt.“89 4.2.2 Thomas von Aquin und Rabbi Moyses Es ist zweifelsfrei bewiesen, dass Thomas von Aquin Maimonides bzw. dessen Schriften kannte.90 Allerdings waren ihm diese nur in Form von Übersetzungen zugänglich. Dies führt natürlich teils zu Schwierigkeiten: Gerade die zur damaligen Zeit im Umlauf befindliche lateinische Übersetzung des mn, mit 87 88

89 90

Nach: qdm q. 4, q. 8 ad 9. Die wichtige Gegenfigur auf christlicher Seite, Bonaventura (1221–1274), wird in dieser Arbeit dagegen außen vor gelassen. Zur Person Bonaventuras sei beispielhaft verwiesen auf: Schlosser (2000); Vanderheyden (1976). Mit Blick auf die Unterschiede bei Thomas und Bonaventura hinsichtlich der Behandlung des Bösen sei verwiesen auf: Hödl (1993), S. 145. Hammele (2012), S. 151. Die Literatur zu den Beziehungen zwischen Thomas von Aquin und Maimonides ist zahlreich. Es soll hier beispielhaft auf einige Werke verwiesen werden: Wohlman (1988); Ders. (1995); Hasselhoff (2005,2); Koplowitz (1935); Haberman (1979); Jansen (2004). Eine neuere Arbeit zu Thomas’ Umgang mit Maimonides mit Blick auf das Konzept der Möglichkeit der Gotteserkenntnis sowie der Prophetie sei ebenfalls erwähnt: Rubio (2006), davon insbes. S. 161–248. Dabei hebt Rubio hervor, dass Thomas Maimonides v.a. mit Blick auf die Thematik der Gotteserkenntnis zitiert und das Interesse an Maimonides bereits in den frühen Werken des Thomas spürbar ist. (Nach: Ebd., S. 245.) Zu Thomas von Aquin und Maimonides hinsichtlich ihres Konzepts der göttlichen Vorsehung s. z.B.: Koplowitz (1936); Yaffe (1979–1980); Dobbs-Weinstein (1987). Vergleiche zwischen den Positionen Maimonides’ und Thomas’ kennen eine lange Tradition: Sie begannen Ende des 19. Jahrhunderts mit Jacob Guttmann. (Vgl.: Leibowitz (1988), S. 10.) Viele der vergleichenden Texte – gerade auch in jüngerer Zeit – befassen sich insbesondere mit dem Themenkomplex der göttlichen Vorsehung. Untersuchungen, welche sich aber wie die vorliegende Arbeit ausschließlich der Thematik des Bösen – und damit verbunden auch der Providenz – widmen, sind rar wenn nicht gar ausständig. Hier gilt es also, eine Lücke

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der Thomas von Aquin arbeitete, basierte auf der schlechteren und ungenaueren hebräischen Wiedergabe durch al-Charizi. Dies ist im Folgenden von entscheidender Bedeutung, befinden sich doch Maimonides’ Ausführungen zum Bösen genau in dieser Schrift. Dabei handelte es sich um eine Gesamtübertragung des mn. Daneben kursierte auch eine Teilübersetzung einzelner Kapitel, bekannt unter dem Namen Liber de uno Deo benedicto, welches lediglich die den Gottesbeweisen gewidmeten Teile des mn enthält.91 Somit war der mn Thomas von Aquin sowohl in Teilen als auch in seiner Gänze bekannt, jedoch aufgrund der al-Charizi-Übersetzung in fehlerhafter lateinischer Übersetzung. Der Aquinate nimmt in seinen Werken des Öfteren Bezug auf den in der scholastischen Literatur als Rabbi Moyses92 bezeichneten jüdischen Gelehrten, wobei er diesen z.T. – so zeigt Hasselhoff auf – durchaus verzerrt wiedergibt und an einigen Stellen, wo er ihn positiv auf- und seine Position direkt übernimmt, nicht explizit nennt.93 Schwartz hebt hervor, dass Thomas von

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zu schließen und die Verfasserin hofft, mit der voliegenden Arbeit diesbezüglich einen entsprechenden fruchtbaren Beitrag liefern zu können. „In der arabischen und den beiden mittelalterlichen hebräischen Fassungen stehen dem zweiten Buch des More nevukhim 26 Prämissen voran. Die ersten 25 sind eine Zusammenfassung der aristotelischen und nacharistotelischen ‚Beweise’ der Existenz Gottes. Als sechsundzwanzigste Prämisse folgt der erste maimonidische ‚Beweis’ für die Existenz Gottes. Das erste Kapitel des zweiten Buches schließt an diesen ‚Beweis’ an und gibt drei weitere Gottesbeweise. (Die lateinischen Fassungen weichen hier in ihrer Kapitelzählung ab. Zum einen liegen diese beiden Kapitel in zwei Übersetzungen vor. Einmal wird der Text eigenständig als Liber de uno deo benedicto tradiert, zum anderen als Kapitel eins und zwei des lateinischen Dux neutrorum.) Auf die Gottesbeweise folgt eine Erklärung der Weltschöpfung und aller Elemente der geschaffenen Welt. In diesen Teil eingeschlossen ist eine Diskussion der Frage nach der Ewigkeit der Welt, die im Widerspruch zur biblischen Schöpfungslehre stehe.“ (Hasselhoff (2004), S. 32f., Hervorhebung im Original) Siehe hierzu insbes. das Grundlagenwerk von Hasselhoff, welches diesen Namen auch in seinem Titel verwendet: Hassehoff (2004). Hasselhoff verweist darauf, dass im christlichen Kontext der Name Maimonides erst viel späteren Datums ist als die Bezeichnung des Rambam als Rabbi Moyses: „Der Name Maimonides taucht m. W. erstmals in einer von Jacobus Mantinus in Bologna veranstalteten Druckausgabe von 1526 auf; weithin verwendet wird der Name erst seit der Buxtorf’schen Übertragung des More nevukhim (Basel 1629). Im Mittelalter firmiert Maimonides generell als (Rabbi) Moyses.“ (Ebd., fn 1 S. 9, Hervorhebung im Original.) Zu Thomas’ Verhältnis nicht nur zu Maimonides, sondern auch zu muslimischen Denkern wie etwa Ibn Sīnā (Avicenna) und Ibn Rushd (Averroës) s. z.B.: Burrell (1993). Im Unterschied zu Maimonides gilt es aber für Thomas von Aquin anzumerken, dass die Originalschriften aufgrund fehlender Arabischkenntnisse unzugänglich waren, und deshalb auf mehr oder weniger genaue Übersetzungen zurückgegriffen werden musste. (Vgl.: Koplowitz (1935), S. 34.) Vgl.: Hasselhoff (2004) S. 82, 87f., 164 sowie 321 u.a.

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Aquin durchaus auch negative Töne anschlägt, wenn er Zitate aus Maimonides’ mn anführt.94 „Diese Feststellung verringert in keinem Fall die Bedeutung des Führers der Unschlüssigen bei der Ausformung der Gedanken des Aquinaten.“95 Ob und welche Bedeutung Maimonides für Thomas von Aquin mit Blick auf die Ausformung seiner Gedanken zur Herkunft des Bösen hatte, wird weiter unten thematisiert. Wie Wohlman festhält, ist Maimonides als Rabbi Moyses spätestens 1230 belegt und zwar bei Roland von Crémone in Bezug auf die Frage nach der Schöpfung.96 Gerade auch mit Blick auf die Behandlung der Thematik der Schöpfung lässt sich – so Wohlman weiter – die Abhängigkeit des Aquinaten bzw. die Aufnahme von Maimonides in Thomas’ Philosophische Summe97 aufzeigen.98 Wohlman betont, dass Thomas’ Umgang mit Maimonides wesentlich von seinem eigenen Glauben bestimmt ist: „C’est en effet au nom de sa foi que Thomas se retourne vers Maïmonide et c’est au nom de sa manière de concevoir l’harmonie entre la raison et la foi qu’il accepte ou critique les positions de Maïmonide.“99 Thematisch ist festzuhalten dass der Aquinate von Maimonides wusste, dass er sich Gedanken über die Gottesbezeichnungen machte; dass er im Zusammenhang der Explikation seiner Gotteslehre die Gedanken von arabischen Denkern sowie der antiken Aristotelikern mitteilte; dass er eine stark akzentuierte negative Theologie betrieb, die ihre Zuspitzung in der Behauptung einer Unkörperlichkeit Gottes hatte; dass er eine profilierte Profetielehre verfasst hatte, deren Pointe in der These lag, dass Profetie ein visionäres, im engeren Sinne nicht reales Geschehen sei; und schließlich, dass er eine stark akzentuierte, rationale Bibelauslegung und Gesetzeserklärung gab.100 94 95 96 97

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Nach: Schwartz (2004), S. 174. Ebd., Hervorhebung im Original. Nach: Wohlman (1988), S. 18. Hinsichtlich des Begriffs philosophische Summe ist jedoch Zurückhaltung geboten, da diese eher als umgangssprachlich zu benennen und streng genommen keineswegs korrekt ist. (Vgl.: Schönberger (2015), S. 7.) Mit philosophisch wird die Methodik bezeichnet, da Thomas hier aufgrund des in den Blick genommenen Adressatenkreises nicht biblisch argumentieren kann, sondern sich auf den Vernunftweg beschränkt. Und diese Fokussierung auf die ratio im Argumentationsgang ist es, welche das Werk als philosophisch zu qualifizieren erlaubt. Dennoch handelt es sich vom Inhalt her gesehen selbstverständlich um ein theologisches Werk. Es wird versucht, den Glauben an Gott plausibel zu machen. Nach: Wohlman (1988), S. 26; wobei der Schöpfungsthematik S. 23–50 gewidmet sind. Ebd., S. 322. Hasselhoff (2004), S. 34.

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Thomas von Aquin greift bereits zu Beginn seines Schaffens auf Maimonides zurück,101 wobei dieser, so streicht Hasselhoff hervor, von Thomas wohl als jüdische Autorität verstanden wurde, weswegen der Aquinate ihn immer wieder mit Blick auf die „Erläuterung des Literalsinnes biblischer Texte“102 heranzieht.103 Zwar greift Thomas in seinem Frühwerk außergewöhnlich extensiv auf diese jüdische Persönlichkeit zurück, doch gibt er sie zuweilen nicht korrekt wieder.104 In der theologischen Summe führt Thomas von Aquin Maimonides sodann in den den biblischen Gesetzen gewidmeten Kapiteln STh i–ii, qq. 98–105 mehrfach an. Dabei fällt auf, dass der Rambam äußerst positiv rezipiert wird: „Mit einer Ausnahme wird Maimonides in diesem Teil der Summe in den Antworten auf die Eingangsargumente angeführt, d. h. durch die Stellung innerhalb der Questio [sic!, v.v.] kommt ihm eine die Argumentation (meist) stützende Funktion zu.“105 Mit Hasselhoff muss sodann ein zwiespältiges Bild für Thomas’ Umgang mit Maimonides konstatiert werden: Denn zwar kommt dem Rambam eine positive Bedeutung zu, doch ist diese insbesondere auf die Exegese bzw. insbesondere den Literalsinn biblischer Texte beschränkt.106 Auch finden sich zahlreiche anonyme Anführungen des Maimonides, indem dessen Gedanken zwar zitiert werden, auf eine explizite Nennung seines Namens aber verzichtet wird.107 Mit Blick auf die Rezeption des Maimonides – sowohl in inhaltlicher als auch zeitlicher Sicht – lässt sich eine Parallele zu Thomas’ Lehrmeister Albertus Magnus, durch den er den Rabbi Moyses wohl überhaupt erst kennengelernt hatte, aufzeigen: „Zudem fällt auf, dass sich wie auch bei Albertus Magnus die Nennungen des Maimonides im Werk des Aquinaten einerseits auf bestimmte Epochen in seinem Schaffen und andererseits auf bestimmte theologische und philosophische Fragestellungen in bestimmten Werken andererseits beschränken.“108 Neben der 101

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Thomas von Aquin fand auch diese Rezeption nebst jener des Aristoteles bei seinem Lehrer Albertus Magnus vor: „Den Anfang in der Geschichte der Verwendung des Dux neutrorum macht Albertus Magnus, der zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Übertragung als Baccelaureus in Paris lehrte. Ob und inwieweit er als Auftraggeber der Übertragung fungierte, muss offen bleiben.“ (Ebd., S. 129, Hervorhebung im Original.) Für Albertus Magnus s. dabei insbes.: Rigo (2001). Hasselhoff nimmt an, dass Thomas’ Kenntnis des Maimonides sodenn auch von seinem Lehrer herrührt. (Nach: Hasselhoff (2004), S. 163.) Hasselhoff (2004), S. 76. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 82. Ebd., Hervorhebung im Original. Nach: Ebd., S. 87. Nach: Ebd., 164. Ebd.

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positiven Rezeption findet sich bei Thomas aber, und dies darf nicht vergessen werden, auch ein negativer Umgang mit dem Juden109 Maimonides, welcher aufgrund seiner Religionszugehörigkeit einer „religiösen Vorstufe“110 zuzuordnen und damit in gewissem Sinne minderwertig oder zurückgeblieben ist.111 Auch sind die Anführungen mit Bedacht und Vorsicht zu genießen, da die der Argumentation dienlichen Argumente dem Kontext entrissen und dadurch in ihrem Aussagegehalt verfälscht und teilweise bis zur Unkenntlichkeit in ihr Gegenteil entstellt werden.112 Wie Hasselhoff aufzeigt, setzt sich Thomas insbesondere mit der Engel- sowie der Prophetielehre des Maimonides kritisch auseinander.113 Dennoch lässt sich mit Hasselhoff ein positives Fazit ziehen: „Trotz aller dargestellten Vorbehalte ist aber dennoch darauf hinzuweisen, dass die Ausführlichkeit, mit der Thomas Maimonides anführt, wohl beispiellos in der zeitgenössischen Literatur ist, soweit es sich an den bislang edierten Texten nachweisen lässt.“114 Jedoch bleibt die explizite Nennung des Rabbi Moyses im Werk des Aquinaten weit zurück hinter den Nennungen des Aristoteles. Hasselhoff führt auf, wie oft Maimonides genannt wird und wie sich diese Nennungen in den unterschiedlichen Schriften des Thomas verteilen. Diese Auflistung soll in der Folge in ihrer Gänze wiedergegeben werden: Überblicken wir die rein quantitative Verteilung der Zitate auf das Werk des Aquinaten, so lässt sich festhalten, dass es sich, auf das gesamte Oeuvre bezogen, um 81 Stellen zuzüglich einer Stelle, an der nur der ‚Rabbi’ (ohne Namen) genannt wird, handelt. Im Vergleich zu Aristoteles oder Averroes, die mehrere hundert Mal genannt werden, oder auch in Relation zur Wortmenge der thomasischen Werke sind das nicht viele Nennungen, die Zahl ist aber doch auffällig. Kategorisieren wir das Werk des Thomas nach seinen Genres, so lässt es sich grob in vier Bereiche einteilen. Eine erste Gruppe umfasst Werke, die im engeren Sinne dem akademischen Bereich entstammen. Hierzu gehören der Sentenzenkommentar und die Questiones [sic!, v.v.] disputatae. Zur zweiten Gruppe der 109

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Wobei es hier mit Hasselhoff festzuhalten gilt, dass Thomas von Aquin Maimonides in seinem gesamten schriftlichen Werk nur ein einziges Mal (in STh i, q. 50, a. 3 resp.) als Juden bezeichnet. (Nach: Ebd., S. 176.) Ebd., S. 87. Ebd. Nach: Ebd., S. 87f. sowie S. 321. Nach: Ebd., S. 187. Ebd., S. 88.

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thomasischen Werke gehören die umfangreichen Kommentarwerke zur Bibel und zu philosophischen Systemen. Die dritte Gruppe besteht aus Zusammenfassungen der Lehre in den beiden genannten Summen. Die vierte, hier jedoch zu vernachlässigende Gruppe umfasst schließlich die sonstige Literatur wie Briefe und Dichtungen. Wie sich schon in der temporalen Verteilung der Zitate angedeutet hat, so ist die Verteilung innerhalb dieser vier Werkgruppen noch weniger ausgeglichen: In den akademischen Werken wird der ‚Rabbi Moyses‛ 55-mal genannt, davon 28-mal im Sentenzenkommentar und 27-mal in den verschiedenen Questiones [sic!, v.v.], in den summarischen Werken geht die Zahl der Nennungen auf 23 zurück. Im recht umfangreichen Kommentarwerk zu biblischen wie auch theologischen und philosophischen Textkorpora wird dagegen nur viermal auf Maimonides Bezug genommen, und in den sonstigen Werken (einschließlich des Regimen Iudeorum) finden sich überhaupt keine Nennungen.115 Interessanterweise wird der vornehmlich als Philosoph vorgestellte Maimonides aber insbesondere dort namentlich erwähnt, wo Thomas von Aquin auf kritische Distanz zu ihm geht, wo er ihn dagegen positiv für seine Argumentation nutzbar macht, verzichtet er auf die Namensnennung, was Hasselhoff darauf zurückführt, dass Maimonides Jude war.116 Maimonides wird also durchaus einer Auseinandersetzung für würdig angesehen,117 allerdings hindert die Zugehörigkeit des Rambam zum Judentum den Christen Thomas Aquinas daran, offenkundig für die Position des jüdischen Gelehrten einzutreten, wohingegen eine Ablehnung namentlich genannt werden kann, wobei so nicht nur die genannte Position, sondern diese als jüdische als falsch aufgewiesen wird.118 In Thomas’ Schriften hinterließ Maimonides viele Spuren und

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Ebd., S. 165f., Hervorhebung im Original. Nach: Ebd., S. 188. „Dennoch ist das Jude-Sein des Maimonides für Thomas vordergründig kein Hinderungsgrund, diesen autoritativ anzuführen. Hierin unterscheidet er sich von seinen Zeitgenossen wie dem Pariser Bischof Wilhelm von Auvergne – falls dieser Maimonides gekannt haben sollte – oder, noch auffälliger, von dem zeitweiligen General des Franziskanerordens, Bonaventura. Uneingeschränkte Zustimmung erfährt Maimonides dagegen nur ungenannt.“ (Ebd.) Diese ernsthafte Auseinandersetzung mit der Meinung des Maimonides, ganz unabhängig davon, ob sie übernommen oder abgelehnt wurde, stellt für Feldmann denn auch ein typisches Phänomen nicht nur für Thomas von Aquin, sondern für die Scholastik insgesamt dar. (Nach: Feldman (1975), S. 58.) Nach: Hasselhoff (2004), S. 188; vgl. auch: Ebd., S. 322.

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zwar in den unterschiedlichsten Theorien,119 von welchen einige in der vorliegenden Arbeit gestreift werden. Es ist daher mehr als nur angemessen, diese beiden Positionen einander gegenüberzustellen, da sie philosophisch gleich ausgerichtet sind und die spätere um die frühere wusste und von ihr zehrte, sodass Unterschiede, welche ausgemacht werden können, noch interessanter, aber auch die Gemeinsamkeiten von großer Bedeutung sind. Nach diesen Ausführungen zu Thomas’ Verhältnis zum Judentum allgemein und zu Maimonides im Besonderen wird in der Folge der Behandlung des Bösen beim Aquinaten nachgegangen, wobei auch zu klären sein wird, auf welche thomasischen Schriften sich die Darstellung vornehmlich stützt. 4.3

Die Behandlung des Bösen bei Thomas von Aquin

Interessanterweise wählt Thomas einen diametral entgegengesetzten Entwurf zu dem, was wir in Teil A zur Theodizee-Debatte gesehen hatten, stellt doch für Thomas das Böse keine Herausforderung an Gott dar, indem seine Existenz zum einen Gottes Existenz selbst gefährden könnte bzw. zum anderen in die Erklärungsnot führen würde, wie Gott das Böse zulassen kann. Vielmehr betont Thomas – und dies klingt sehr provokativ –, dass die bloße Existenz des Bösen die Existenz Gottes sozusagen beweist: „Wenn es das Schlechte gibt, gibt es Gott.“120 Wie Thomas zu dieser Aussage gelangt und wie sie in seinem System zu verstehen ist, wird aufzuzeigen sein. Im Unterschied zu den Ausführungen des Rambam zum Bösen, welche sich gebündelt in seinem Moreh haNewuchim finden, behandelt Thomas von Aquin die Thematik des Bösen in unterschiedlichen Schriften. Eine Schrift ragt hierbei besonders heraus, da 119

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„In his [= Thomas von Aquin, v.v.] protest against the hypothesis of the eternity of the world, Aquinas copies word for word the arguments advanced by Maimonides. In his discussion of the attributes of God, his theories on Providence, Prophecy, God’s omniscience, the angels, the ceremonial laws of the Pentateuch, and his so-called ‚original principle of individuation,‛ the evidence of Jewish influence is unmistakably clear.“ (Newman (1975), S. 138.) scg iii,71. Damit dreht Thomas von Aquin Boëthius’ Aussage, in welcher er auf Epikur verweist, um. Dieser nämlich hält fest: „Wenn ein Gott ist, woher dann das Böse? Woher aber das Gute, wenn keiner ist?“ („Si quidem deus“, inquit, „est, unde mala? Bona vero unde, si non est?“ (Boethius, De philosophiae consolatione, 1. Buch, S. 32f.) Boëthius schloss noch von der Existenz des Guten auf Gott, Thomas dagegen integriert das Böse so existentiell in sein System, dass er (systemimmanent) von der Existenz des Bösen auf die Existenz Gottes schliessen kann. Somit stellt das Böse kein Problem mehr dar, welches gegen die Existenz Gottes ins Feld geführt werden könnte, sondern dient gar deren Aufweis.

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sich diese Schrift einzig mit dem Bösen befasst und „his most detailed and systematic treatment of this theme“121 darstellt.122 Bei besagter Schrift handelt es sich um die Streitschrift Quaestiones disputatae de malo123. Weiter sind auch die beiden großen Summen, die Summe wider die Heiden, die Summa contra gentiles124, sowie die Theologische Summe, die Summa theologiae bzw. theologica125, in der Darstellung zu berücksichtigen.126 Diese drei erwähnten Schriften, welche die Hauptreferenzpunkte für die Thematisierung des Bösen bilden, sollen kurz vorgestellt werden, bevor den darin entwickelten Inhalten nachgegeangen wird. 4.3.1 Die thomasischen Schriften zur Thematik des Bösen Bevor die drei erwähnten Schriften thematisiert werden, soll zunächst allgemein auf den Aufbau einer Quaestio eingegangen werden, da diese Form der Themendiskussion und letztlichen Antwortfindung grundlegend ist und sowohl die Theologische Summe – das wohl wichtigste Werk des Thomas von Aquin – als auch die Disputationsschrift über das Böse strukturiert. Die Form der Quaestio bestimmt die gesamte so genannte Quaestionenliteratur, welche Summen, quaestiones disputatae, quodlibeta und weitere Werkformen umfasst.127 121 122

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Reichberg (2002), S. 752. Allerdings kann mit Schäfer kritisch angemerkt werden, dass es „vielleicht eher eine Schwäche der Schrift De malo [ist], dass sie die ontologische Behandlung des Üblen zu schnell verlässt, um zügig zu moralischen Erwägungen fortzuschreiten.“ (Schäfer, C. (2013), S. 15, Hervorhebung im Original.) In der Folge wird auf diese Schrift rekurriert als De malo bzw. qdm. Im weiteren Verlauf abgekürzt als scg. Die scg setzt sich aus vier Büchern zusammen, welche in Kapitel unterteilt sind. Die römische Zahl vor dem Komma bezieht sich dabei auf die Angabe des Buches, die arabische Zahl nach dem Komma dagegen auf die Kapitelangabe. Abgekürzt als STh. STh i bezeichnet das erste Buch der Summe, die prima pars. Das zweite Buch seinerseits ist wiederum unterteilt in zwei Teile. STh i–ii bezeichnet dabei die prima secundae, STh ii–ii dagegen den zweiten Teil des zweiten Teils der Summe, die secunda secundae. STh iii bezeichnet das dritte Buch, Suppl. steht für das sog. Supplementum, welches nicht von Thomas selbst fertiggestellt wurde, sondern von seinen Schülern. Eine Übersicht über die einzelnen Schriften und Stellen im Werk des Thomas von Aquin, welche sich mit dem Bösen bzw. der Sünde als konkreter Aspekt des Bösen befassen, liefert Sentis (1992). Vgl.: Hammele (2012), S. 71. An erster Stelle steht zunächst die lectio, eine Textlesung, bei welcher es sich zu allererst um „die abschnittsweise Lesung und Kommentierung eines autoritativen Textes“ (Ebd., S. 66.) handelt und auf der nach Chenu „das ganze mittelalterliche Bildungswesen“ (Chenu (1982), S. 84.) gründete. Am Ende der lectio, welche sich aus

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Eine Quaestio, also eine Frage bzw. eine bestimmte Fragestellung, auf die es eine Antwort zu finden gilt, ist unterteilt in einen oder mehrere128 Artikel. Die Quaestio ist also gleichsam einer Überschrift zu verstehen, welche das in der Folge zu behandelnde Thema angibt, wobei dies tatsächlich in Form einer Frage geschieht. Im Artikel129 wird dann das Thema ausführlich behandelt und

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mehreren Schritten zusammensetzt, steht die dubia, also der Zweifel: Hier ist der Ort, um „im Anschluss an die eigentliche Auslegung des Textes […] offen gebliebene Fragen (oftmals systematischer Art) zu klären, die sich entweder direkt auf den Text beziehen oder thematisch aus diesem hervorgehen.“ (Hammele (2012), S. 68f.) So wandelt sich der Charakter der Veranstaltung an dieser Stelle von der lectio zur disputatio, zu einer Diskussion oder Disputation. (Nach: Rentsch (1990), S. 76.) Und an dieser Stelle liegt denn auch für Leinsle der Ursprung bzw. der Sitz im Leben der quaestio. (Nach: Leinsle (1995), S. 38.) Im Laufe der Zeit entwickelte sich die quaestio in Form der disputatio zu einer eigenen, von der lectio unabhängigen Unterrichtsform. (Nach: Hammele (2012), S. 69f.) Ordentliche und regelmäßig stattfindende Disputationen fallen unter den Begriff der qaestiones disputatae als ihrer (nachträglichen) Verschriftlichung. (Nach: Ebd., S. 70.) Diese sind unter ein vorgegebenes Thema bzw. eine vorgegebene Frage gestellt. Daneben gibt es aber auch noch die zweimal jährlich (vor Weihnachten und Ostern) stattfindenden „freien“ Disputationen, die disputationes de quodlibet, bei denen die zur Diskussion stehende Frage nicht vorgegeben ist, sondern unmittelbar von den Zuhörern vorgeschlagen wird, und welche sich schriftlich in Form der quodlibeta oder quaestiones quodlibetales niedergeschlagen haben. (Nach: Ebd.) Es wird ersichtlich, dass die mündliche Form die Urform darstellt und die Verschriftlichung erst in einem zweiten Schritt erfolgte, wobei Letztere nicht nur eine unmittelbare Übertragung in Textform darstellt, sondern vielmehr „Reflexion der kommunikativen, diskursiven Praxis“ (Rentsch (1990), S. 75.) ist. „Der Sitz im Leben der Textformen ist primär der Unterricht.“ (Ebd.) Die Disputationen waren zweiteilig: Am ersten Tag wurde die zur Debatte stehende Frage eingehend diskutiert. (Nach: Hammele (2012), S. 71.) „Der erarbeitete Stoff wurde am nächsten vorlesungsfähigen Tag vom amtierenden Magister aufgegriffen und als sog. Determinatio magistralis entschieden. Ihren Namen hat die als zweiter Akt nach der Disputation stattfindende determinatio dadurch erhalten, dass sie den exponierten Ort bildet, an dem die Lehrautorität des Magisters zur Geltung kommt, indem er die behandelten Fragen autoritativ und letztgültig entscheidet, d.h. sie determiniert. Die magistrale Determination bildet auch die Grundlage für die spätere literarische Umsetzung.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) „Das Zusammenführen mehrerer Artikel innerhalb einer quaestio ist sowohl in den quaestiones disputatae als auch in den quodlibeta üblich. Während hierbei die thematische Ähnlichkeit noch das ausschlaggebende Kriterium darstellt, ist der Sachverhalt bei den nicht unmittelbar aus dem Lehrbetrieb hervorgegangenen Werken wie z.B. der Summa theologiae des Thomas von Aquin ein anderer. Hier ist die Aufteilung in quaestiones und Artikel ein Element zur Gliederung des darzubietenden Stoffes.“ (Ebd., fn 198 S. 71, Hervorhebung im Original.) Ein Artikel kann als „kleinste Einheit eines Werkes der Quaestionenliteratur“ (Ebd., S. 71.), als „Miniatur-Disputation“ (Rentsch (1990), S. 77.) oder auch etwas umfassender als „die

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in mehreren klar definierten Schritten wird eine Antwort gefunden, denn ein Artikel ist klar strukturiert und folgt einem bestimmten Ablauf:130 Zu Beginn steht eine Frage (eingeleitet mit Quaeritur, utrum bzw. utrum an), danach folgen die Argumente (die sogenannten objectiones). Diese wiederum lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: pro (eingeleitet mit Videtur quod sic bzw. quod non) und contra (das sogenannte Sed contra, benannt nach den formelhaften Einleitungsworten). In einem nächsten Schritt folgt die Antwort (conclusio bzw. corpus articuli, eingeleitet mit respondeo), welche die autoritative Entscheidungskraft des Autors durchscheinen lässt.131 Am Schluss wendet sich der Verfasser nochmals den weiter oben vorgetragenen Argumenten zu und löst diese eines um das andere angesichts der von ihm gegebenen Antwort auf (solutio, welche eingeleitet wird mit Ad primum dicendum…, Ad secundum dicendum, etc.). Dabei werden die Argumente der Gegner allerdings nicht gänzlich verworfen, sondern sie werden auf ihren Teilgehalt an der vorgetragenen Wahrheit hin durchleuchtet, wodurch diesem Schritt eine große Bedeutung zukommt.132 Nachdem nun bekannt ist, wie eine Quaestio bzw. ein Artikel aufgebaut ist, wird als Erstes die Summa Theologiae kurz vorgestellt. 4.3.1.1 Die Theologische Summe Die Summa Theologiae wurde zwischen 1266 und 1273 verfasst.133 Aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit und des kurz darauf folgenden Todes des Aquinaten im darauffolgenden Jahr blieb die Summe unvollendet. Sie stellt den „erste[n] überzeugende[n] theologische[n] Gesamtentwurf als Kombination aus heilsgeschichtlicher und logischer Systematik“134 dar und war als

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auf ihre Grundelemente zurückgeführte und zum Gebrauch der Studenten schematisierte, durch In-Frage-Stellung, Diskussion und Lösung sich notwendig ergebende Durcharbeitung“ (Chenu (1982), S. 100.) des zu behandelnden Themas charakterisiert werden. Ausführungen zum Aufbau eines Artikels sind beispielsweise nachzulesen bei: Chenu (1982), S. 99–103; Rentsch (1990), S. 87–89; Dreyer (1999), Sp. 753f.; Leinsle (1995), S. 40f. Sowohl hier als auch bei der determinatio magistralis zeigt sich die „höchste Lehrautorität“ (Hammele (2012), S. 72.) des Magisters. Die definitive Entscheidung der Frage oblag allein dem Magister, wohingegen die eigentliche Diskussion der Frage sowie das Lösen der Einwände im letzten Schritt eines Artikels durchaus auch von den Assistenten, den Baccalaurei, wahrgenommen werden konnte. (Nach: Ebd., fn 200 S. 73.) Vgl.: Ebd., S. 73. Nach: Sentis (1992), S. 116. Bei Hammele findet sich 1265 als Jahr der Aufnahme des Schaffens an der STh. (Nach: Hammele (2012), S. 116.) Die STh stellt bis heute das bekannteste, meist studierte wie auch meist zitierte Werk Thomas’ dar. (Nach: Davies, B. (2014), S. xiii.) Hammele (2012), S. 74.

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„Handbuch für Anfänger“135 gedacht.136 Die erste Quaestio, welche sich aus zehn Artikeln137 zusammensetzt, dient dem Zwecke, den Wissenschaftscharakter der Theologie, welche er als sacra doctrina138 bezeichnet, herauszustreichen.139 Dabei hebt der Aquinate gleich zu Beginn hervor, dass die Philosophie alleine nicht genügt, um den Menschen zum Heil zu führen, sondern dass es hierzu einer anderen doctrina, also Lehre, bedarf – nämlich der sacra doctrina, der Theologie.140 Die Summe selbst, wie sie uns heute unvollendet vorliegt, besteht aus drei Teilen: Die prima pars und die secunda pars, welche ihrerseits wiederum in zwei Teile geteilt ist, die prima secundae (Ia IIae bzw. i–ii) sowie die secunda secundae (IIa IIae bzw. ii–ii), liegen vollendet vor. Die tertia pars dagegen konnte Thomas nicht mehr vollenden, stellvertretend wurde sie aber von seinen Schülern fertiggestellt (Supplementum). Die Aufteilung in die verschiedenen Teile ist auf inhaltliche Gründe zurückzuführen.141 So ist der erste Teil Gott gewidmet, der zweite der Bewegung der vernünftigen Natur hin zu Gott und der dritte Christus, der aufgrund der Inkarnation für uns Menschen der Weg zu Gott ist.142 Interessanterweise ist der vom Autor in den Blick genommene 135

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Ebd., S. 116, Hervorhebung im Original. Vgl. hierzu auch: STh, Prolog. Aus der angegebenen Textstelle wird ersichtlich, dass Thomas von Aquin unzufrieden war mit den bis dahin vorhandenen Lehrwerken, welche der Einführung dienten (so insbesondere die Sentenzen des Petrus Lombardus, zu denen Thomas von Aquin – wie es der Tradition entsprach – als Dissertation einen Kommentar verfasste. Zum Sitz im Leben der STh s. weiterführend auch: Torrell (1995,2), S. 160–162 sowie Boyle (1982), S. 9–12. Mit dieser Ausrichtung der STh als Anfängerlehrbuch verwendet Thomas das Genre der Summa wieder so, wie es im 12. Jh. der Fall war. (Nach: Leinsle (1995), S. 52f.) Zum Aufbau der STh s. u.a.: Berger, D. (2004); Metz, W. (1998); Torrell (1995,2), S. 168–170 sowie Speer (2005), S. 10–21. Die zehn Artikel der ersten Quaestio werden u.a. bei Torrell (1996) sowie Weisheipl (1974) analysiert und auf ihre innere Verwobenheit untereinander durchleuchtet. Zum schematischen Aufbau der ersten Quaestio s.: Hammele (2012), S. 118f. Obwohl der Terminus theologia bereits seit dem 12. Jh. verstärkt verwendet wurde, um die christliche Theologie zu kennzeichnen, geht Thomas von Aquin einen anderen Weg und wählt mit sacra doctrina eine der älteren Begrifflichkeiten (nebst der erwähnten sacra doctrina sind hier die Termini doctrina fidei sowie sacra pagina zu erwähnen), konnte sich doch der Begriff theologia erst im Spätmittelalter durchsetzen. (Nach: Wiedenhofer (2000), Sp. 1436.) Nach: Hammele (2012), S. 117. Nach: STh i, q. 1, a. 1 resp. Zur Debatte um den Aufbau der STh s. insbes.: Johnstone (2002), wo sich zahlreiche Literaturhinweise zur geführten Diskussion finden. Nach: STh i, q. 2, Prooemium.

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Idealadressat dieser höchst komplexen Schrift der Studienanfänger.143 Sein Interesse ist dabei weniger von den konkreten inhaltlichen Aussagen geleitet, zumal auch er zu weiten Teilen die Tradition wiedergibt, vielmehr besteht das Innovative seiner STh in ihrem Aufbau, indem Thomas eine sinnvolle Struktur und Ordnung in die Thematik bringen und so zur Hilfe der Studierenden einen systematischen Zugang erreichen will.144 Mit Blick auf die Frage nach der Herkunft des Bösen stechen insbesondere die Quaestiones 48 und 49 der Prima Pars ins Auge.145 In Quaestio 48 geht es dabei mehr um eine Wesensbestimmung des malum, Quaestio 49 dagegen ist seiner Ursache gewidmet. 4.3.1.2 Die Summe wider die Heiden Die Summa contra gentiles,146 kurz scg, entstand zwischen den Jahren 1258 und 1265.147 Begonnen hat Thomas die Arbeit an der Summe wider die Heiden damit noch während seiner Zeit in Paris, wobei ein Bezug zu seiner Lehrtätigkeit nicht auszumachen ist.148 „Sie geht also auf Thomas’ persönliche Initiative zurück.“149 Insgesamt umfasst die scg vier Bücher. Inhaltlich richtet sie sich – wie der Name schon sagt – an Nichtchristen. Dies erklärt auch die Form: Da Thomas nicht nur Christen in den Blick nimmt, kann er nicht mit dem Neuen Testament argumentieren; da aber auch nicht nur Juden im Blick sind, fällt weiter auch das Alte Testament als Argumentationsgrundlage weg; vielmehr werden auch Muslime (Mohammedaner) sowie Heiden, pagani, in den Blick genommen, weswegen eine nicht auf der Schrift basierende gemeinsame Grundlage gefunden werden musste.150 Diese fand Thomas sodann in 143 144

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Nach: STh Prooemium. Nach: STh Prooemium; vgl.: Torrell (2003), S. 54. Der Aufbau der STh aber kennt durchaus Parallelen in der arabischen Welt, wo dies ein verbreitetes Lehrschema darstellte. (Nach: Leinsle (1995), S. 11.) Dem Text der STh liegt in dieser Arbeit grundsätzlich die Deutsche Thomas-Ausgabe (DThA) zugrunde, wobei nur die Angaben der Theologischen Summe selbst (Buch, Quaestio, Art., etc.) erfolgen, nicht aber die Bandangabe in der DThA. Nebst Summa contra gentiles gibt es noch weitere Bezeichnungen in den Handschriften, so z.B.: Liber de veritate Catholicae Fidei contra errores infidelium (Buch über die Wahrheit des katholischen Glaubens gegen die Irrtümer der Ungläubigen). (Vgl.: Schönberger (2015), S. 10.) Der geläufige und sehr alte Titel scg ist jedoch nicht als authentisch anzunehmen. (Nach: Ebd.) Nach: Ebd., S. 8. Zur scg (Entstehung, Methodik, Aufbau, etc.) s. auch: Torrell (1995,2), S. 115–135. Nach: Schönberger (2015), S. 8. Ebd. Nach: scg i,2.

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der ratio, der Vernunft,151 welche grundsätzlich allen Menschen offen steht und die entsprechenden Argumente von allen verstanden werden können.152 Interessanterweise sind hier zugleich Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zu Maimonides auszumachen: Denn wie Maimonides sieht auch Thomas im Streben nach Weisheit das vollkommenste und beste Streben, dem ein Mensch nachgehen kann.153 Indem sich der Mensch nämlich, so Thomas weiter, dem Streben nach Weisheit widmet, erhält er bereits Anteil am Glück.154 Das letzte Glück, wonach wir streben, ist gemäß Thomas Gott selbst bzw. die visio beatifica, sodass also im Streben nach Weisheit bereits eine (eingeschränkte) Einigung mit Gott stattfindet: „Da nun die Ähnlichkeit Ursache der Liebe ist, verbindet das Streben nach Weisheit durch die Freundschaft in vorzüglicher Weise mit Gott.“155 Wie bei Maimonides kann also über den Intellekt eine Einigung mit Gott stattfinden. Doch betont Thomas, dass das Abstellen auf die Vernunft alleine nicht genügt, da diese – und hier unterscheidet er sich von Maimonides, da er sich gegen einen Elitärismus ausspricht – nur auf einige wenige Menschen beschränkt wäre, da nicht alle dieselben intellektuellen Fähigkeiten besitzen.156 Thomas dagegen streicht hervor, dass der Glaube grundsätzlich allen offen stehen muss und deshalb einige Dinge auch die menschliche Vernunft übersteigen. Zugleich weist der Aquinate aber auch darauf hin, dass das, was die Offenbarung und der Glaube lehren, demjenigen, was mit der Vernunft erkannt werden kann, nicht widerspricht, da beiden Wahrheit zukommt.157 Hierin also decken sich die Ansichten des Rambam und des Aquinaten wieder, wenn beide eine grundsätzliche Vereinbarkeit von auf der Vernunft basierenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem geoffenbarten Glauben annehmen.

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Vgl. hierzu etwa auch die Methode des Anselm von Canterbury in seinem Werk Cur Deus homo, welche sich aus demselben Adressatenkreis – Juden und Muslimen – ergab: Er versucht, mit der Vernunft zu argumentieren (sola ratione, cdh i,20.), wobei er im Gegensatz zu Thomas von Aquin durchaus innerhalb seines cdh den Schritt vom Apologeten zum Missionaren vollzieht. (Nach: Hammer (1967), S. 100 sowie Gauss (1975), S. 102.) Dieser Wechsel geht mit dem Übergang vom ersten zum zweiten Buch einher. (Nach: Steindl (1989), S. 196f.) Nach: scg i,2. Nach: scg i,2. Nach: scg i,2. scg i,2. Nach: scg i,4, wobei Thomas hier noch weitere Gründe anführt, weswegen die Vernunft alleine nicht hinreichend ist. Nach: scg i,7.

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Thomas’ Intention war es nicht, mittels dieser Schrift eine Anleitung zur Missionierung von Juden und Muslimen158 zu liefern,159 sondern ganz im Gegenteil handelt es sich bei diesem Werk um eine Apologie, eine Verteidigung des christlichen Glaubens bzw. dessen Vernünftigkeit, versucht doch Thomas von Aquin einzig und allein auf Vernunftbasis zu argumentieren und so seine (bzw. die katholische) Position einsichtig zu machen.160 Hieraus geht hervor, dass die scg „eine großangelegte Apologie [ist], in der der Theologe Thomas die Denkbarkeit des christlichen Glaubens gegen tatsächliche und mögliche

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Es sei auf Thomas’ De rationibus fidei verwiesen. In dieser Schrift, welche vermutlich in kurzem Abstand auf die Abfassung der scg folgte, setzt sich Thomas mit den Vorwürfen von Seiten des Islam auseinander, so z.B. hinsichtlich der Trinität und der Gottessohnschaft. Wie auch die scg geht diese Schrift intellektuell mit Vernunftargumenten vor, da keine gemeinsamen heiligen Texte mit dem Islam vorliegen. (Nach: De rat. fid., c. I.) Ausgelöst wurde die Verfassung durch eine Anfrage eines Cantor Antiochenus, an welchen diese Schrift gerichtet ist. Die inhaltlichen Anfragen des Cantor Antiochenus fasst Thomas zu Beginn seiner Schrift zusammen (vgl.: De rat. fid., c. I), um sich anschließend mit diesen auseinanderzusetzen. Die Schrift ist nicht nur missionarisch, sondern auch apologetisch ausgerichtet. Die zu Beginn der Schrift beschwörte „uneingeschränkte Bereitschaft, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach dem Grund des Glaubens fragt, deutet er [= Thomas von Aquin, v.v.] missionstheologisch aus, indem er diese Verantwortungsbereitschaft als stimulierendes Moment und innere Motivation auch auf die Auseinandersetzung mit Andersgläubigen überträgt.“ (Hagemann/Glei (1987), S. 51.) Denn im Mittelpunkt steht die Verteidigung des christlichen Glaubens gegenüber den Vorwürfen und Einwänden des Islam. (Nach: Ebd.) „Nahezu jede polemische Nuance ist ihr [= de rat. fid., v.v.] fremd. Dadurch hebt sie sich entscheidend aus der nahezu unüberschaubaren Fülle von Auseinandersetzungen mit dem Isalm sowohl byzantinischer wie lateinischer Provenienz ab, die uns aus dem Mittelalter und darüber hinaus überliefert sind.“ (Ebd.) Obwohl es sich als Reaktion auf eine ergangene Anfrage durch Cantor Antiochenus also um eine Gelegenheitsschrift handelt, liefert sie dennoch „in ihren präzisen theologischen Aussagen eine prägnante Zusammenfassung zentraler christlicher Glaubensmysterien in Auseinandersetzung mit islamischen Glaubenspositionen.“ (Ebd., S. 14.) Thomas hält fest, dass der Glaube den menschlichen Geist übersteigt, sodass er nicht durch die Vernunft voll eingefangen und bewiesen werden kann. (Nach: De rat. fid., c. 2.) Es geht also nicht um das Beweisen des Glaubens. Da die Wahrheit aber auch nicht in grundsätzlichem Widerspruch zur Vernunft stehen kann, kann der Glaube auch nicht durch Vernunftgründe widerlegt werden. (Nach: De rat. fid., c. 2.) Christen, welche über Glaubensartikel disputierten, sollten dies nicht mit der Intention tun, den Glauben zu beweisen (non ut fidem probet), sondern um ihn zu verteidigen (sed ut fidem defendat). (Nach: De rat. fid., c. 2.) Zu Entstehung, Intention, Wirkungsgeschichte etc. des Werkes s.: Hagemann/Glei (1987). Diese Ansicht wurde beispielsweise noch von Chenu vertreten: Chenu (1982), S. 325f. Nach: Eardley/Still (2010), S. 4.

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Einwände aus dem Hintergrund paganer Philosophie verteidigt“161. So ist Thomas’ Anliegen ein Doppeltes: „die Darstellung der Wahrheit und die Widerlegung des Irrtums.“162 Mit Blick auf die Frage nach dem Bösen ist es insbesondere das dritte Buch, welches von Interesse ist. 4.3.1.3 Die Disputationsschrift über das Böse Das Werk De malo ist vermutlich in schriftlicher Form 1270–71 in Paris entstanden.163 Zu dieser Zeit war der erste Teil der Theologischen Summe bereits vollendet.164 Wie Sentis unter Berufung auf Lottin aufzeigt, ist dies an der Mittlerstellung von De malo q. 6, a. 1 zwischen der prima secundae und der secunda secundae ersichtlich.165 Sentis weist darauf hin, dass De malo q. 1, a. 4 und q. 3 ihre (früher entstandene und daher weniger weit ausdifferenzierte) Parallelstelle in STh i, q. 48, a. 5 und q. 49 besitzen.166 Somit ist klar, dass die Abfassung von De malo nach jener der entsprechenden Quaestiones in der STh anzusetzen ist. Mit Blick auf die Quellenlage findet sich ein einheitliches Bild: Der Text liegt in der noch zu Thomas’ Lebzeiten erschienenen Universitätsedition, dem sog. exemplar, vor, von welchem alle weiteren Handschriften eindeutig abhängen.167 Eine deutsche Übersetzung dieser Schrift ließ lange auf sich warten und wurde erst vor kurzer Zeit in den Jahren 2009/2010 angefertigt. Die Schrift besteht insgesamt aus 16 Quaestiones bzw. 101 Artikeln, wobei insbesondere die sechste Quaestio theologiegeschichtlich von großer Bedeutung ist, war ihre Wirkung doch aufgrund des darin dargestellten Themas – die 161 162 163

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Leppin (2009), S. 95. Nach: Schönberger (2015), S. 10. Nach: Sentis (1992), S. 116. Abgehalten dagegen wurden sie bereits etwas früher, nämlich sehr wahrscheinlich „in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 13. Jahrhunderts“ (Schick (2009), S. 466.). Zur Veröffentlichung und möglichen Behandlung im Lehrbetrieb sei angemerkt: „Veröffentlicht wurden die Quaestionen 1–15 um 1270, die Frage 16 im Jahr 1272. Es ist möglich, dass Thomas diese Quaestionen in Paris während der Schuljahre 1269/70 lehrte.“ (Ebd.) Mit Blick auf die Datierungsfrage sei weiter verwiesen auf: Torrell (1995,2), S. 215–221, wobei sich das Bild ergibt, dass die Datierungsfrage von qdm umstritten und noch nicht abgeschlossen ist. Nach: Sentis (1992), S. 116. Nach: Ebd. Nach: Ebd. Nach: Schick (2009), S. 466. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass die letzte Quaestio der Schrift, q. 16, erst nach Erscheinen der Universitätsedition hinzugefügt wurde: „Ältere Handschriften enthalten sie nicht.“ (Ebd.) Bereits erwähnt wurde der mögliche Veröffentlichungszeitraum zwischen 1270 (qq. 1–15) und 1272 (q. 16), q. 16 kam also nur unwesentlich später hinzu, zu vergleichen einer überarbeiteten und ergänzten zweiten Auflage.

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Frage nach dem freien Willen – immens. Schäfer legt dar, dass diese Quaestio die Schrift denn auch gleichsam in zwei Teile unterteilt: [D]er erste, den sie abschließt, legt eine theoretische Behandlung des Phänomens des Üblen in verschiedenen Definitionen und Deutungen des moralisch Bösen, des ontologisch Schlechten und (wenn auch eher am Rande) des physisch Schlimmen vor – wobei sich alle Varianten der Erklärung freilich dem einen Grundmuster der ‚spezifizierten Privationstheorie‛ zuordnen lassen; der zweite, zu dem die Quaestio 6 überleitet, bietet eine Behandlung des Übels ganz anderer Art, denn in einem Durchgang durch die traditionellen Todsündenlisten stellt Thomas hier der lebensweltlichen Genese von moralisch falschem Verhalten, die er in Anlehnung an Aristoteles entwirft, eine ethische Askesis, also eine moraltheoretische Übungsanleitung entgegen, welche den Anspruch vertreten kann, anhand der theoretischen Einsichten in die Struktur des Bösen lebensanleitend für die praktische Vernunfttätigkeit zu sein.168 Für die hier vorliegende Betrachtung ist dagegen insbesondere Quaestio 1 von Bedeutung, da diese dem Übel als solchem nachgeht, wobei die Frage nach der Herkunft nicht als Erstes, sondern als Letztes behandelt wird: Dieser Frage gehen Überlegungen zum ontologischen Status des Bösen sowie seinem Wesen voraus, erst dann werden die Fragen nach Herkunft und Sinn des Bösen in den Blick genommen.169

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Schäfer, C. (2013), S. 23. Vgl.: Schick (2009), S. 468. Mit dieser Reihenfolge reiht sich Thomas von Aquin in eine bereits vorhandene Tradition ein, welche bereits von Plotin über Augustinus verbreitet war. (Vgl. hierzu: Schönberger (1998), S. 15. sowie Schick (2009), fn 5 S. 468.) So sagte schon Plotin, dass, wer der Frage nach der Herkunft des Bösen nachzugehen im Sinne hat, zunächst das Wesen des Bösen klären muss, „denn hiermit würde zugleich sich die Erkenntnis ergeben, woher es gekommen, wo es seinen Sitz hat, wem es anhaftet, und es käme zur Entscheidung, ob es überhaupt in der Wirklichkeit vorhanden ist.“ (Plotin, Enneaden i,8, 1.) Dabei gilt es hinsichtlich der Frage nach dem Woher des Bösen (πόϑεν τὰ κακά; pothén ta kaka) Folgendes zu beachten: „Plotin will die andere Seite der mesotesKoordinate zu Ende denken, das ‚Untermaß‛ sozusagen. Er stellt die Frage nach dem ‚Woher der Übel‛ prinzipiell. In vielen Darstellungen, so etwa in Schottländers Artikel ‚Malum‛ im ‚Historischen Wörterbuch der Philosophie‛ wird pothén ta kaka übersetzt: ‚Vom Ursprung der Übel‛. Die Substantivierung des Pothen zum ‚Ursprung‛ insinuiert freilich, wenn wir nicht achtgeben, eine problematische Substantialisierung. Plotins Antwort

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Es bleibt anzumerken, dass das eigentliche Ziel bzw. Interesse der für die vorliegende Untersuchung zentral behandelten Schrift De malo nicht darin bestand, eine Begründung des Bösen vorzulegen,170 sondern in „eine[r] strukturierte[n] Erklärung der formalen Gemeinsamkeiten in all dem, was man als Böses, Schlechtes und Übles identifizieren kann, ja eigentlicher noch: Um eine Erklärung, die eine solche Identifizierung erst vernünftig ermöglicht.“171 Nachdem nun die einzelnen Schriften, welche in der Folge beibezogen werden, um Thomas’ Standpunkt hinsichtlich des Bösen darzustellen, vorgestellt worden sind, wenden wir uns der Konzeption des Bösen, wie sie im Denksystem des Thomas von Aquin begegnet, zu. 4.3.2 Die Konzeption des Bösen bei Thomas von Aquin Als erstes gilt es, den Sprachgebrauch zu klären: Wenn nämlich Thomas von Aquin von malum spricht, so beinhaltet diese Rede mehr und anderes als das Böse. Wie Schäfer nachweist, wird insbesondere im philosophischen Bereich (und in diesem bewegen wir uns im Rahmen der folgenden Überlegungen) die Bedeutungsvielfalt des griechischen Terminus κακὸν (kakon) übernommen.172 Wenngleich die begriffliche Differenzierungsmöglichkeit in der deutschen Sprache positiv bewertet werden kann, so besitzt die lateinische Begrenzung auf einen einzigen Begriff, welcher alle diese Aspekte und Nuancierungen in sich vereint und umfasst, den entscheidenden Vorteil, dass dadurch ermöglicht wird, alle mit der Thematik des Bösen verbundenen Komplexe unter ein und demselben Begriff abzuhandeln.173

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heißt nämlich: Steresis, lat. Privatio. Die griechische grammatische Form der Substantivierung und auch die lateinische, sie zeigen noch die Tätigkeit, den Prozess vor. In steresis hören wir noch stereo und in privatio privo, die Verben mit. Das substantivierte Verb gibt die Form der gedachten Bewegung vor. Ein feiner aber gewichtiger Unterschied zur statischen Substanz. Wenn wir uns Mühe geben, können wir aber auch im deutschen ‚Ursprung‛ noch den Sprung heraushören, auf den es ankommt. Privatio ist keine Sache oder ein Ding, sondern eine Tätigkeit, Denk- und Begriffsarbeit an der Materie.“ (Nordhofen (1998), S. 73, Hervorhebung im Original.) Zu Plotins Sicht des Bösen s. z.B. auch: Simonis (2001), S. 100–114, insbes. S. 107–114. Hinsichtlich einer Zusammenstellung der parallelen Stellen in qdm und STh i sei verwiesen auf: Hödl (1993), S. 141. Nach: Schäfer, C. (2013), S. 17. Ebd. Nach: Ebd., S. 9f. Weiterführende Informationen zu den unterschiedlichen Bedeutungen und Nachweisen des Begriffs malum bzw. κακὸν sowie zu deren unzureichender Übersetzung ins Deutsche findet sich bei: Ders. (2002), S. 16–28. Vgl.: Ders. (2013), S. 10f.

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Das Böse selbst bzw. dessen „Existenz“174 stellt kein Problem für Thomas von Aquin dar, auch nicht in Bezug auf Gott als guter Schöpfer. Ganz im Gegenteil interpretiert Thomas von Aquin die Existenz des Bösen positiv, indem er – wie erwähnt – annimmt, dass aufgrund der bloßen Existenz des Bösen zweifellos auf die Existenz Gottes geschlossen werden kann.175 Diese Ansicht stellt sicherlich eine interessante und innovative Betrachtungs- sowie Herangehensweise an die Problematik, welche durch die Existenz des Bösen gemeinhin gegeben scheint, dar. Das Böse selbst wird bei Thomas von Aquin in gut augustinischer Tradition als Mangel verstanden und zwar als Mangel an Gutem.176 Allerdings stellt nicht jeder Mangel ein malum dar. Thomas von Aquin differenziert diesen Gedanken weiter, indem er festhält, dass von Bösem im Sinne eines Mangels nur dort gesprochen werden kann, wo eine (positive) Eigenschaft der Natur der Sache des betrachteten Gegenstandes nach vorhanden sein müsste, aber nicht da ist.177 174

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Existenz und Sein, etc. sind in Bezug auf das Böse in Anführungs- und Schlusszeichen zu setzen, da das Böse nach Thomas von Aquin gerade kein Sein besitzt und nicht existiert, sondern in einer Abwesenheit besteht. Dass das Böse selbst kein Sein besitzt, wird etwa auch in scg iii,7 ersichtlich: „Ein jedes Ding hat entsprechend seinem Wesen ein Sein. Insofern es aber ein Sein hat, hat es ein Gutes. Denn wenn das Gute das ist, wonach alles strebt, muss man gerade das ‚Sein‛ ein Gutes nennen, weil alles nach dem Sein strebt. Also ist ein jedes gut, insofern es ein Wesen hat. Gut und schlecht werden aber einander entgegengesetzt. Folglich ist nichts schlecht, insofern es ein Wesen hat. Also ist kein Wesen schlecht.“ Thomas unterscheidet in Anlehnung an Aristoteles’ Metaphysik zwei Arten des Redens von sein: „Auf die eine Weise bezeichnet es das Wesen eines Dinges und wird in zehn Kategorien eingeteilt: und auf diese Weise kann keine Privation seiend heißen. Auf die andere Weise bezeichnet es die Wahrheit eines bejahenden Urteils: und so heißen das Schlechte und die Privation seiend, insofern man unter Privation versteht, dass etwas gemindert sei.“ (scg iii,9.) Die Privation – also das malum – ist genauer gesagt ein Nichtseiendes, ein non ens. (Nach: scg iii,11.) Auch in seinem Römerbrief-Kommentar hält Thomas von Aquin den Gedanken des Bösen als Abwesenheit des Guten sowie als eigentliches Nicht-Sein fest. (Nach: cro xi,5.) Nach: scg iii,71. Vgl. z.B.: Augustinus, De civ. Dei xi,9, wo Augustinus betont, dass das Böse keine Natur oder Substanz ist (nulla natura est), sondern in einem Verlust des Guten (amissio boni) besteht. Vgl. scg iii,7 und 13: „privatio eius quod natus est et debet habere“, bzw. noch konkreter und unmissverständlicher: scg iii,7: „de ratione enim mali est privatio eius quod est alicui natum inesse et debitum ei. Malum igitur, cum sit eius quod est naturale privatio, non potest esse alicui naturale.“, oder auch qdm q. 1, a. 2 resp. Mit dieser Sichtweise steht Thomas von Aquin allerdings nicht alleine da: Die Meinung, das Übel bestehe in einem Mangel an einem gesollten Gut, wurde vor ihm bereits von Anselm von Canterbury

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Nur eine solche Abwesenheit, welche eine Privation darstellt, kann als malum im thomasischen Sinne definiert werden.178 Den Kern der Überlegungen bildet damit die Vorstellung der „parasitäre[n] Abhängigkeit des Üblen von einem logisch vorgängigen Guten,179 ähnlich wie Negationen nur als Bezugnahme auf bereits bestehendes Positives gedacht werden können, während das Positive als solches weder in Abhängigkeit noch überhaupt im Kontrast zu etwas anderem als solches konzipiert werden muss (oder kann).“180 Im Unterschied zu Maimonides nimmt Thomas von Aquin dabei keine dreigliedrige Einteilung

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vertreten. (Vgl.: Anselm von Canterbury, De conc. virg. V; siehe hierzu auch: Schönberger (1998), S. 31 sowie Schick (2009), fn 9 S. 469.) Dass ein Mensch also nicht fliegen kann, stellt keine Privation im Sinne eines Übels dar, da diese Fähigkeit nicht zur natürlichen Beschaffenheit der menschlichen Natur gehört, vielmehr handelt es sich lediglich um eine Negation. (Nach: scg iii,6; vgl. auch: qdm q. 1, a. 3 resp.; STh i, q. 48, a. 3 resp. Zur Unterscheidung von Privation und Negation bei Thomas von Aquin s. z.B.: Patt (2007), S. 69–83.) Die Unfähigkeit zu sehen dagegen stellt mit Blick auf den Menschen ein Übel in Form einer Privation im thomasischen Sinne dar. Siehe hierzu auch die Unterscheidung in privatio sensu stricto und sensu lato in STh i, q. 48, a. 3 bzw. scg iii, 6. Wobei auch das Nicht-Sehen sowohl als Negation als auch als Privation erscheinen kann, je nachdem, ob von Blindheit oder Nicht-Sehen-Können die Rede ist. (Vgl.: Wolfson (1975), S. 3.) Es ergibt sich damit die klare Definition einer Privation im Unterschied zu einer bloßen Abwesenheit: „Jede Privation ist, versteht man sie im eigentlichen und strengen Sinne, eine Privation dessen, auf dessen Besitz man von Natur aus angelegt ist und das man haben muss [eius quod quis natus est habere et debet habere, v.v.].“ (scg iii,6.) Im Verständnis des Bösen als eine Abwesenheit (bzw. darüber hinaus konkreter als eine Privation) stimmt Thomas mit Maimonides überein. Diese Verbindung des nichtseienden Bösen mit einem vorgängig seienden Guten, an dem es auftreten kann, zeigt sich auch bei Anselm von Canterbury: nihil esse meint nach Anselm dasselbe wie non aliquid esse, dasjenige, was nicht ist, wird also mit anderen Worten durch das bestimmt, an dem es auftritt – also ein Seiendes – und das es zerstört. (Nach: Anselm von Canterbury, de casu diaboli xi.) Noch weiter zurück geht diese Linie mit Augustinus: „Das bedeutet, dass niemals ein Böses da sein kann, wo nicht ein Gut ist.“ (Augustinus, Enchiridion iv,13; vgl. auch: Ebd. iv,14; ders., Conf. vii,12.) Schäfer, C. (2013), S. 13. So hält etwa auch Augustinus fest, dass das Böse zwar des Guten bedarf, nicht aber umgekehrt: „Obgleich dem Bösen sein Dasein gestattet wird, um zu zeigen, wie sich die alles voraussehende Gerechtigkeit [iustitia providentissima, v.v.] des Schöpfers sogar seiner zum Guten bedienen kann, wird es doch so weit vom Guten überragt, dass das Gute trotzdem ohne das Böse bestehen kann [bona tamen sine malis esse possint, v.v.], wie es sich zeigt im wahren und höchsten Gott [Deus verus et summus, v.v.] und in der ganzen unsichtbaren und sichtbaren himmlischen Schöpfung oberhalb unseres Dunstkreises. Das Böse aber kann nicht ohne das Gute sein [mala vero sine bonis esse non possint, v.v.], da ja die Naturen, an denen es haftet, in dem Maße sie Naturen sind, jedenfalls gut sind.“ (Augustnus, De civ. Dei xiv,11.)

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des Bösen vor, sondern eine zweiteilige: Mit Blick auf die vernünftige Natur nämlich lässt sich das Übel in Schuld und Strafe einteilen.181 Weiter betont der Aquinate, dass das Böse, da es dem Guten entgegengesetzt ist, entsprechend dem Guten einzuteilen sei.182 Da das Gute eine Art von Vollkommenheit bezeichne und es zwei Arten derselben gebe, sei auch hinsichtlich des Bösen eine zweifache Einteilung vorzunehmen:183 Daher findet sich umgekehrt auch ein zweifaches Übel: einmal nämlich beim Handelnden selbst, insofern er entweder der Form oder des Habitus oder was auch immer zum Tätigsein notwendig ist beraubt [sic!, v.v.] wird, wie die Blindheit oder die Verkrüppelung eines Beines eine Art von Übel ist. Das andere Übel besteht hingegen in den mangelhaften Handlungen selbst, zum Beispiel wenn wir sagen, dass das Hinken ein Übel ist.184 Für die vernünftige Natur bedeutet dies nun, dass, was immer in ihr aus einer ungeordneten Handlung des Willens resultiert, Schuld generiert bzw. „die Natur der Schuld hat.“185 Was aber in der vernunftbegabten Natur als Übel im Sinne „einer Beraubung der Form oder des Habitus oder irgendeines anderen, das zum guten Handeln notwendig sein kann“186, vorhanden ist, stellt nach Thomas – „[n]ach dem Urteil des katholischen Glaubens“187 – eine Strafe dar.188

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Nach: qdm q. 1, a. 4 resp.; STh i, q. 48, a. 5 resp. Die zweifache Einteilung des Übels in Schuld und Strafe entspricht den beiden diesen entgegengesetzten ursprünglichen Gütern: Die Schuld ist dem Lobenswerten entgegengesetzt und die Strafe dem Angenehmen. (Nach: qdm q. 1, a. 4 ad 12.) Weiter weist Thomas auf, dass in der Schuld das größere Übel besteht als in der Strafe. (Nach: qdm q. 1, a. 5 resp.; STh i, q. 48, a. 6 resp.) Hier seien nur zwei Gründe erwähnt, welche der Aquinate diesbezüglich nennt: Gott ist Urheber der Strafe, nicht aber der Schuld, daher ist die Schuld Gott fremder und folglich ein größeres Übel. Weiter wird Strafe auch dazu von Gott verhängt, Schuld zu vermeiden, also ist „die Schuld, zu deren Vermeidung die Strafe herbeigeführt wird, ein größeres Übel als die Strafe selbst“ (qdm q. 1, a. 5 resp.). Nach: qdm q. 1, a. 4 resp. Nach: qdm q. 1, a. 4 resp. qdm q. 1, a. 4 resp. qdm q. 1, a. 4 resp. qdm q. 1, a. 4 resp. qdm q. 1, a. 4 resp. Nach: qdm q. 1, a. 4 resp. Die Strafe ist in Verbindung zur providentia dei zu sehen: Durch die Strafe reguliert die göttliche Vorsehung die Schuld. (Nach: qdm q. 1, a. 4 resp.)

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Die Strafe wird durch drei Merkmale gekennzeichnet,189 deren augenscheinlichstes die Verbindung von Strafe zu zuvor zugezogener Schuld darstellt.190 Für die vernunftbegabte Natur hat dieser Bezug von Schuld und Strafe weitreichende Konsequenzen, stellt die Schuld doch damit die Grundbedingung für die Belegung der vernunftbegabten Natur mit Übeln als Strafe dar: „Die Tradition des Glaubens hält es auch für gewiss, dass die vernünftige Natur von keinem Übel hätte betroffen werden können, weder sofern es die Seele noch den Körper noch irgendwelche anderen äusseren Güter betrifft, ausser nach vorhergegangener Sünde, ob in der Person oder sogar in der Natur.“191 Die menschliche Natur als Teil der vernunftbegabten Natur wäre von keinen körperlichen Missbildungen oder geistigen Einschränkungen betroffen, wäre es nicht zum Sündenfall des Urelternpaares im Paradies gekommen, durch den sich auch alle folgenden Generationen mit der Last der Erbsünde192 beladen haben und dafür Strafe verdienen. Dadurch ist eine Ursache des Bösen als bereits geklärt zu erachten: Die durch die Erbsünde generierte Schuld zieht verdientermassen Strafe nach sich. Diese Strafe ist es denn auch, welche die Ursache für die physischen Übel193 ist. Das malum physicum resultiert also als direkte Straffolge aus der Erbsünde.194 Die Lehre von der Erbsünde stellt somit die Grundvoraussetzung für die Behandlung des Bösen bei Thomas dar. 189

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Nach: qdm q. 1, a. 4 resp. Diese drei Merkmale bestehen 1. in einem Bezug zur Schuld, 2. des Entgegengesetzt-Seins der Strafe zum Willen (und zwar auf dreifache Weise: entweder dem tatsächlichen Willen, dem habituellen Willen oder der natürlichen Neigung des Willens entgegengesetzt) sowie 3. ein Leiden, das aus der Strafe folgt. (Nach: qdm q. 1, a. 4 resp.) Nach: qdm q. 1, a. 4 resp. qdm q. 1, a. 4 resp. Zur Lehre von der Erbsünde siehe die diesbezüglichen Ausführungen im biblischen Teil der vorliegenden Arbeit. Da allerdings auch der Wille als Folge der Erbsünde durch diese geschwächt ist, gilt diese Ursächlichkeit der Erbsünde auch hinsichtlich des moralischen Bösen. Sünde nämlich ist nichts anderes als die Folge von Strafe für Schuld, indem sie aus der Beraubung der Gnade – und diese Beraubung ist Strafe für Schuld – resultiert. (Nach: qdm q. 1, a. 4 ad 5.) Mit Blick auf das Phänomen der Erbsünde lässt sich so auch Thomas von Aquin in die Tradition Augustins eingliedern und mit folgender Aussage beurteilen: „Bis in die europäische Neuzeit hinein erfüllte beinahe unumstritten die Erbsündenlehre Augustins die Funktion einer Theodizee. Sie verortet Ursprung und Kontinuität des Bösen beim Menschen, während die Übel als gerechte Strafe Gottes für dieses Böse gelten können, eines Gottes, der zudem auch als in Christus gnädiger Welterlöser gerechtfertigt wird. Denn die Lehre vom peccatum originale gehört in den Rahmen von Augustins übergreifender Geschichtstheologie, in der Gott nicht bloß als guter Weltschöpfer, sondern in Christus ebenso als gütiger Welterlöser gerechtfertigt wird.“ (Schulte, C. (1988), S. 123,

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In diesen einleitenden Ausführungen wurden bereits viele wesentliche Elemente der thomasischen Behandlung des Bösen erwähnt. Einer dieser Aspekte, der Aspekt der parasitären Wirklichkeit des Bösen, soll im Weiteren anhand Thomas’ Argumentation breiter entfaltet werden. 4.3.2.1 Das Böse als Privation Um die Verschiedenheit des Bösen von einer positiven Existenzweise zu begründen und so dessen parasitären Charakter einsichtig zu machen, verweist Thomas von Aquin auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik: Demgemäß ist das Gute dasjenige, nach dem alles strebt.195 Nach Thomas ist das Gute genau aufgrund dieser Tatsache, dass es also erstrebenswert ist, ein Etwas, also etwas mit Sein.196 „Als Übel wird aber das bezeichnet, was dem Guten entgegengesetzt

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Hervorhebung im Original.) Allerdings gilt es auch hierbei anzumerken, dass Thomas von Aquin die Erbsünde in Einklang mit seinen Ausführungen zur Herkunft des Bösen bestimmt: Denn auch die Erbsünde selbst ist wesentlich als Privation bestimmt und zwar als Privation an der ursprünglichen Gerechtigkeit, an der iustitia originalis: „So ist also die Ermangelung [privatio, v.v.] der ursprünglichen Gerechtigkeit, kraft deren der Wille Gott unterworfen war, das Wesensbestimmende [formale, v.v.] in der Ursprungssünde [peccatum originale, v.v.]“ (STh i–ii, q. 82, a. 3 resp.). Nach: Aristoteles, en i,1; 1094a. Zu Thomas’ Verhältnis zu Aristoteles s. z.B.: Owens (1993) sowie Doig (2012). Zu Beginn der STh streicht Thomas hervor, dass alles das gut ist, was erstrebenswert ist. (Nach: STh i, q. 5, a. 1 resp.) Weiter streicht er heraus, dass das Gute zu erstreben (appetere bonum) dasselbe sei, wie vor dem Bösen zu fliehen (malum fugere; vgl. hierzu auch das fundamentale Prinzip aller anderen Vorschriften des Naturgesetzes, dass nämlich das Gute zu tun, das Böse aber zu meiden ist: „bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum“ (STh i–ii, q. 94, a. 2 resp.), vgl. hierzu: Am 5,15.) und doppelt nach, „dass alles vor dem Schlechten flieht.“ (scg iii,3.) Bereits Pseudo-Dionysius hielt fest, dass das Gute das ist, wonach alles strebt. (Nach: Dionysius Areopagita, de div. nom. iv § 4.700 B.) Alles Geschaffene strebt nach dem Guten und damit letztlich nach Gott, aber in unterschiedlicher Weise, analog zu den unterschiedlichen Stufungen des Seins. (Nach: qdv, q. 22, a. 2 resp.) Zum Stichwort Naturgesetz, welches hier mit Blick auf das fundamentale ethische Prinzip angeschnitten wurde, sei darauf hingewiesen, dass es diesbezüglich einen entscheidenden Unterschied zwischen Juden- und Christentum auszumachen gilt, hat doch das Judentum niemals eine Naturrechtslehre entwickelt. (Nach: Fox (1975), S. 76.) Selbst Maimonides weitet sein Intellekt-Konzept niemals auf den moralischen Bereich aus, wie Fox weiter festhält. (Nach: Ebd., S. 82.) In religiöser Hinsicht bleiben für Maimonides auch alle moralischen Übel Verletzungen der göttlichen Ge- und Verbote. (Nach: Ebd., S. 86.) Nach: qdm q. 1, a. 1 resp.; vgl.: scg iii,3. Die Gleichsetzung von seiend und gut findet sich beispielsweise auch in STh i, q. 5, a. 1 sowie scg iii,7. Aus dieser Identifikation folgt, dass kein Wesen als Wesen schlecht ist. (Vgl.: Thomas von Aquin, Johanneskommentar, c. viii, l. vi, iv, 1246: Selbst der Teufel ist als Wesen gut! Vgl. hierzu: Augustinus, De civ. Dei xii,3.)

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ist. Daher muss das Übel das sein, was dem Erstrebenswerten als solchem entgegengesetzt ist.[197] Für dieses [= das Übel, v.v.] aber ist es unmöglich, dass es ein Etwas ist.“198 Als Gegenteil des Guten ist das Böse dem Erstrebenswerten

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Bereits Augustinus betonte, dass der Mensch als Mensch gut ist, dass der Ausdruck „ein böser Mensch“ dagegen nicht ihn als Menschen bezeichnet, sondern ausdrückt, dass er ungerecht ist, also eine Aussage über seinen Charakter, nicht über sein Sein macht. (Nach: Augustinus, Enchiridion iv,13.) Dies wurde auch vom vierten Laterankonzil 1215 betont, wenn festgehalten wurde, dass Teufel und Dämonen ihrer Natur nach von Gott gut geschaffen, aber durch sich selbst böse wurden. (Nach: dh 800.) Auch das Konzil von Florenz bestätigte dies 1442 in Cantate domino und wiederholte abermals, dass die Geschöpfe von Gott gut geschaffen wurden, da sie aber aus dem Nichts geschaffen wurden, seien sie veränderlich, doch eine Natur des Bösen könne es nicht geben, da die Natur als Natur gut sei. (Nach: dh 1333.) Daran wird augenscheinlich, dass in diesem Zusammenhang der Teufel nicht als Ursache des Bösen behandelt wird. Auch die Synode von Braga im Jahre 561 hielt im sechsten Kanon fest, dass der Teufel nicht das Prinzip des Bösen sei. (Vgl.: dh 457.) Mit Blick auf den erwähnten Augustinus ist allerdings zu erwähnen, dass dieser den Anfang des Bösen durchaus im Fall des Lichtträgers unter den Engeln, Lucifer, verortet (nach: Augustinus, De civ. Dei xi,15 sowie xii,6.) und diese erste Sünde der superbia, der Überheblichkeit, des Sich-selbst-über-Gott-Stellens, dahingehend deutet, dass er nicht nur falsus, also falsch, irrend oder fehlerhaft, sondern auch fallax, also fehlerverbreitend, irreführend bzw. andere zu Fall bringend ist (nach: Augustinus, De civ. Dei xi,13.), sodass hier „der Beginn einer ‚Geschichte‛ oder einer ‚Karriere‛ des Bösen war.“ (Schäfer, C. (2002), S. 301.) Der Aspekt des Andere-zu-Fall-Bringens ist aber nicht so zu verstehen, dass er sie infiziert oder zwingt, sondern vielmehr wird darin ein bestimmtes Muster eingeführt, welches von anderen eigenverantwortlich imitiert wird. (Nach: Ebd., fn 304 S. 304f.) Natürlich wäre auch der Aspekt des Satans ein interessantes Forschungsgebiet, doch da es der vorliegenden Arbeit um die metaphysisch-philosophische Fragestellung geht, woher das Böse überhaupt kommt, fällt der Teufel als Träger des Bösen, aber nicht als Ursache der „Existenz“ des Bösen überhaupt als Letztbegründung der Herkunftsfrage weg. Dennoch sei an dieser Stelle auf einige beispielhafte Literatur zum Teufel im Hinblick auf die Fragestellung nach dem Bösen verwiesen: Tilly/Morgenstern/Drecoll (2016); Russell (1992); Frohlich/ Koskenniemi (2013). Einen Abriss über den Wandel des Bildes vom Satan im Verlaufe der Geschichte liefern beispielsweise: Flasch (2015); Dochhorn/Rudnig-Zelt/Wold (2014). Wenn das Gute als dasjenige bestimmt wird, nachdem alles strebt, so ist logischerweise das Böse, welches dem Guten entgegengesetzt ist, konsequenterweise als dasjenige zu bestimmen, welches alles flieht. (Vgl. z.B.: STh i–ii, q. 23, a. 2 resp.) qdm q. 1, a. 1 resp.; vgl. auch: STh i, q. 48, a. 1 resp., wo vom Schlechten als absentia boni die Rede ist. Interessanterweise führt Thomas hier – ähnlich wie wir es bei Maimonides gesehen hatten – als Beispiel die Finsternis an, welche nur durch das Licht erkannt werden kann.

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entgegengesetzt,199 weswegen es kein Etwas ist.200 Dass alles nach dem Guten strebt, hat die Konsequenz, dass nach Thomas von Aquin das Schlechte in den Dingen nicht durch Absicht vom Tätigen verursacht wird, da dieses ja durch seine Tätigkeit ein Ziel (und damit eigentlich ein Gutes) erstrebt, sondern nur von einem zufälligen Streben (per accidens) gesprochen werden kann.201 Wie Thomas weiter sagt, ist alles, was nach einem Ziel strebt, unperfekt, alles Unperfekte also strebt nach Perfektion, was mit anderen Worten bedeutet, dass das Ziel, nach dem man strebt, also das Gute, dasjenige ist, welches perfektioniert, vollendet und erfüllt.202 Weiter ist auch die platonische Vorstellung von der Emanation von Bedeutung für die Argumentation: Alles Gute verdankt sich dem vollkommenen Guten – was gleichzusetzen ist mit Gott203 – und zwar in partikularer bzw. gradueller Weise: Es gibt nur ein umfassendes Gutes, alles andere hängt von diesem ab und strömt in unterschiedlichen Abstufungen – was aber eben selbst immer noch etwas Gutes ist, auch wenn es auf der untersten Stufe der Abstufungen steht – aus dem vollkommenen Guten hervor.204 Thomas betont, dass in gleicher Weise alles, das sich der umfassenden 199

200

201 202 203 204

Wobei es hier zu bedenken gilt, dass – wenngleich auch hier von Gegensatz gesprochen wird – gut und böse keinen konträren Gegensatz (also innerhalb derselben Skala, aber als äußerste Eckpunkte bzw. Extreme und entgegengesetzte Pole in ein und derselben Skala) bilden, sondern es sich hierbei um einen kontradiktorischen Gegensatz handelt, der die Wirklichkeit schlichtweg teilt. (Vgl. hierzu: qdm q. 1, a. 1; Schäfer, C. (2013), S. 78.) Interessanterweise erlangte Thomas diese Sichtweise erst mit der Zeit. So weist Sentis auf, dass der Aquinate im Sentenzenkommentar Dionysius’ Sichtweise, das Böse sei weder existierend noch gut, noch abgelehnt hatte. (Nach: Sentis (1992), S. 153.) Hermanni weist darauf hin, dass die gesamte Seinskomposition aus Zirkelschlüssen besteht. (Hermanni (2002), S. 90, ebd., fn 37 S. 90, ebd., S. 94.; vgl. auch: Stosch (2006), S. 194.) „Der Sache nach ist die Lehre vom Malum die Wurzel der thomasischen Onto-Theologie, auch wenn Thomas selbst das Gegenteil annimmt.“ (Hermanni (2002), S. 94.) Nach: scg iii,4.; vgl. auch scg iii,16. Nach: STh i–ii, q. 16, a. 4 resp.; vgl.: McInerny (1997), S. 42. Vgl. z.B.: scg i,41. Hier spielt auch der Gedanke der Ähnlichkeit hinein: Ein Gutes bewirkt nur Gutes. Gott als das absolut Gute bewirkt somit nur gutes Seiendes, weswegen gefolgert werden kann, dass alles Seiende gut ist. (Nach: scg iii,7 mit Verweis auf Gen 1,31; Koh 3,11; 1 Tim 4,4.) Der Gedanke der Emanation aus dem summum bonum kann selbstverständlich auch in die andere Richtung gelesen werden, dass nämlich in anderen Worten auch Gott in der Schönheit der einzelnen Dinge, welche aus ihm hervorströmen, aufleuchtet. (Vgl.: Wiegand (1967), S. 92.) McCabe, dessen Ansatz einerseits nach Eagleton aufgrund der Lokalisierung des Bösen mehr als sprachliches Problem denn als Problem über Gott (nach: Eagleton (2010,1), S. ix.), andererseits mit Davies trotz seiner originellen Zugangsweise als klassische Wiedergabe der Sichtweise des Aquinaten qualifiziert werden kann

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Seinsursache – was ebenfalls mit Gott gleichzusetzen ist –, also der ersten Ursache, verdankt, partikular Seiendes sei.205 Das vollkommene Gute sowie

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(nach: Davies, B. (2010), S. xvi f.), hält diesen Gedanken auf sehr schöne Art und Weise fest, wobei es ihm damit zugleich gelingt, klar und deutlich herauszustreichen, weswegen das Gute beschränkt – und zwar durch das Böse – sein muss und nicht einfach nur gut sein kann: „Now it is not impossible to create a world that does not contain evil might be argued as follows: Evil is the opposite of good. Where there is evil there is not good, and where there is not evil there is good. Hence it is evil that formally sets a limit to good. To say that there is not evil is to say that good is unlimited. Now if the world were such that it contained no evil it would be unlimitedly or infinitely good and would thus be in no way different from God. But just as it is impossible for God to create himself, so it is impossible for him to create something in no way different from himself. Hence what he creates has to be less than infinitely good. Its goodness must be limited by some evil.“ (McCabe (2010), S. 4.) Diese Position wurde auch von der Verfasserin mit Blick auf die Aktualisierung des maimonidischen Materieverständnisses eingenommen, wobei nun aufscheint, dass dies in der Tat legitim ist. Der Emanationsgedanke findet sich bereits bei Augustinus, wobei auch dieser die Verbindung zum Bösen als parasitäre Wirklichkeit am partikular Guten zieht und hervorstreicht, dass das Gute niemals ganz vom Bösen korrumpiert werden kann, ohne durch die völlige Korruption gänzlich zu verschwinden und zu sein aufzuhören, wodurch die Existenz eines summum malum als logisch widersinnig herausgestrichen wird. (Nach: Augustinus, Enchiridion iv,12; vgl.: Ders., Conf. vii,12; ders., de civ. Dei xii,3; vgl. hierzu auch: Dionsysius Areopagita, De div. nom. iv § 19.716 C.) Zur Unmöglichkeit eines summum malum bei Thomas von Aquin s. z.B.: STh i. q. 49, a. 3 resp. Diese Unmöglichkeit führt in logischer Konsequenz dazu, dass an irgendeinem Punkt ein Gutes für das Ingangsetzen der Ursachenkette des Bösen per accidens angenommen werden muss. (Nach: STh i. q. 49, a. 3 ad 6.) Dadurch ist aber auch jedem dualistischen System ein Riegel vorgeschoben, insofern es ein höchstes, vollkommenes Böses, von dem aus alles Böse käme, nicht geben kann. Nach: qdm q. 1, a. 1 resp. Das umfassende Gute erscheint dort als allgemeines Gutes, das partikulare dagegen als besonderes Gutes: In diesem Zusammenhang sei auch auf STh i, q. 2, a. 3 verwiesen, wo Thomas die fünf Wege behandelt. In De malo parallelisiert Thomas die Gedankengänge des zweiten und fünften Weges mit der Frage nach dem Guten und Erstrebenswerten (nach: Schäfer, C. (2013), S. 41f.): „Wie man bei den Wirkursachen für die Veränderungsbewegungen in der Welt erklärend immer weiter auf eine umfassendere oder grundlegendere weiterverweisen kann als die, welche man unmittelbar vorher angeben konnte, bis man schließlich zu der umfassendsten oder grundlegendsten gelangen muss, die alle anderen erklärt, ohne selbst noch erklärungsbedürftig zu sein, so auch beim Erstrebenswerten, das heißt dem Guten als der Zielursache von solchen Bewegungen“. (Ebd.) Es sei hierbei auch auf einen schöpfungstheologischen Zusammenhang hingewiesen: Gott ist Sein, alles Geschaffene dagegen Seiendes, welches Anteil am Sein hat. Grundlegend ist hierfür auch Ex 3,14 (in der Vulgata: ego sum qui sum bzw. qui est, misit me ad vos), sodass Gott wesentlich als der ist, also als Seinsaussage, erscheint. In Gottes

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die umfassende Wirkursache206 sind identisch: Wirk- und Finalursache sind in ein und demselben Prinzip zu suchen, nämlich Gott: Gott ist die Wirkursache von allem207 und setzt alles in Bewegung, zugleich ist er als das absolut Gute auch das letzte Ziel einer jeden Strebensbewegung,208 da alles zum Guten strebt und somit letztlich das vollkommen Gute anstrebt,209 also jede

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Intellekt sind bereits alle Dinge ihrer Ursache nach vorhanden. Dies bedeutet, dass die Schöpfung nichts Neues ist, sondern nur die Setzung in die Aktualität von Dingen, welche ihrer Potenz nach in Gottes Intellekt bereits vorhanden sind. Gott kann sie in die Existenz rufen, da sie ihrer Ursache nach in Gottes Intellekt bereits existieren. (Nach: STh i, q. 4, a. 2 resp.; vgl. STh i, q. 14, aa. 5f.; vgl. auch: STh i, q. 14, a. 11: Da die Vollkommenheiten in den Geschöpfen in Gott bereits vorhanden sind, weiß er auch um die Einzeldinge, was Konsequenzen für die göttliche Vorsehung hat.) „Da Gott reines Sein (actus purus) ist und bei der Schöpfung keine neuen Realitäten ins Sein gerufen werden, sind alle Realitäten in ihm als in ihrer Ursache (d. h. in causa) enthalten. Die Konsequenz davon […] ist, dass Schöpfung freiwillig und nicht aus Notwendigkeit heraus geschieht.“ (Nwigwe (1985), S. 77.) Hier macht sich der Graben zur Ideenlehre und damit zum Universalienstreit auf. Zum Universalienstreit sei weiterführend verwiesen auf: Libera (2005). Hinsichtlich des Bösen spricht Thomas von Aquin denn auch nicht von einer Wirkursache (causa efficiens), sondern von einer Mangelursache (causa deficiens). (Vgl.: scg iii,10.) Dabei muss aber klar sein, dass Gott direkt nur das Gute will. Wie Sentis ergänzt – und hier begegnet erneut eine Parallele zu Maimonides –, will Gott damit aber indirekt auch das Böse als Privation des Guten, bzw., wie Sentis sagt, das physische Übel. (Nach: Sentis (1992), S. 134.) Vgl. scg iii,17: „Alles also ist auf das höchste Gut, das Gott ist, als sein Ziel hingeordnet.“ Im lateinischen Original steht hier allerdings nicht wie in der deutschen Übersetzung ‚das höchste Gut‛, summum bonum, sondern unum bonum, also auf das eine Gut, das Gott ist. In den Sätzen zuvor (sowie auch in den darauf folgenden Sätzen und Abschnitten), welche deutlich machen, dass es hier um das höchste Gut geht, ist von summum bonum die Rede, was auch im eben zitierten Satz den Interpretationshorizont absteckt und deutlich macht, dass mit diesem einen Gut das höchste Gut gemeint ist. Weiter unten schreibt Thomas denn auch, dass Gott maxime, auf maximale Weise, das Ziel aller Dinge ist. (Vgl. scg iii,17.) Thomas betont, dass kein geschaffenes Gutes das letzte Ziel des Menschen sein kann, da alles Geschaffene nur teilhat am Guten, nur in Gott allein ist das universale Gute; die Glückseligkeit ist das vollendete Gute („[b]eatitudo enim est bonum perfectum“) und ist daher in keinem geschaffenen Gut, sondern einzig in Gott allein zu finden. (Nach: STh i–ii, q. 2, a. 8 resp.) So streicht Thomas die visio beatifica als das letzte Ziel des Menschen heraus und weist damit darauf hin, dass dieses letzte Ziel erst in der kommenden Welt zu erlangen ist, nicht aber in dieser Welt Erfüllung finden kann. Zum Komplex, dass jede menschliche Handlung letztlich hinsichtlich eines letzten Ziels – sei es direkt oder indirekt – angestrebt wird, s. auch: STh i–ii, q. 1, aa. 4–7. Bezüglich dieses letzten Zieles lässt sich Folgendes sagen: „The ultimate end must be perfectly good; only what is perfect in every respect will satisfy completely the human desire for the

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seiner strebenden Bewegungen letztlich (sei es bewusst oder unbewusst) auf dieses finale Ziel hingeordnet und ausgerichtet ist.210 „Das erste Bewegende setzt unbewegt alles andere dadurch in Bewegung, dass es von allen anderen angestrebt wird.“211 Somit ist Thomas’ System letztlich streng final-teleologisch ausgerichtet, indem die Überlegungen von Gott nicht nur als dem (emanatorischen) Ursprung, sondern gerade auch als dem telos alles Seienden ausgehen. Weiter gelangt Thomas von Aquin mittels der Differenzierung der geschaffenen Dinge sowie der Schöpfungsordnung als Ganzer zu einer interessanten Auslegung der aus Gen 1 bekannten Aussage ‫( כי טוב‬ki tov, dass es gut war) und der finalen Klimax ‫( טוב מאוד‬tov me’ód, es war sehr gut): An der göttlichen Gutheit haben die Dinge aber teil [sic!] auf die Weise der Ähnlichkeit, insofern sie selbst gut sind. Das aber, was im höchsten Maße in den verursachten Dingen gut ist, ist das Gute der Ordnung des Alls, das im höchsten Maße Vollkommene, wie Aristoteles[212] sagt: damit stimmt die Heilige Schrift überein, wenn es Gen 1, 31 heißt: ‚Gott sah alles, was er gemacht hatte, und es war sehr gut‛, obwohl er von den einzelnen Werken einfach (nur) gesagt hatte, dass es ‚gut war‛. Also ist das Gute der (gesamten) Ordnung der von Gott verursachten Dinge das, was Gott besonders gewollt und verursacht hat. Nichts anderes aber heißt, etwas lenken, als seine Ordnung einsetzen. Also lenkt[213] Gott alles mit seinem Verstand und seinem Willen.214

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good“ (McCluskey, Happiness, S. 72.) Das letzte und vollkommene Gut ist das Glück bzw. die Glückseligkeit. (Vgl.: STh i–ii, q. 82, a. 1; q. 10, a. 2 und qdm q. 6 a. 1.) Es muss eine Linie von diesem Gut zu Gott gezogen werden, da Gott ja vollkommen und vollkommen gut ist, sodass die visio beatifica als das letzte Ziel ausgewiesen wird. (Vgl. hierzu: STh i–ii, q. 3, a. 8 resp.) Vgl.: Schäfer, C. (2013), S. 42–44. Dass das Seiende nach dem Guten und damit nach Gott als dem Prinzip des Guten strebt, findet sich beispielsweise auch in De veritate. (Vgl.: qdv q. 22, aa. 1f.) Zu Gott als finis ultimus, dem letzten Ziel, s. auch: STh i–ii, qq. 1–5. Wie Jorissen betont, stellt bei Thomas von Aquin die Finalursache den eigentlichen Ausgangspunkt aller Überlegungen dar. (Nach: Jorissen (1988), S. 96.) Bereits zu Beginn der scg hält Thomas fest, dass das Ziel es ist, welches den Maßstab des Lenkens desjenigen bildet, welches zu diesem Ziel unterwegs ist. (Nach: scg i,1.) Gott als das Ziel hat somit alles auf sich hingeordnet. Schäfer, C. (2013), S. 42. Vgl.: Aristoteles, Metaph. xii,10; 1075a. Der Aspekt der Lenkung des Alls durch Gott steht in Verbindung zur Providenz (providentia), der göttlichen Vorsehung. (Vgl.: scg iii,64.) scg iii,64.

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Aus den bisherigen Aussagen ergibt sich hinsichtlich des Bösen folgende Schlussfolgerung, welche ihrerseits wiederum das Nicht-Sein des Bösen einsichtig macht: „Bei allem daher, was in den Dingen ein Etwas ist, ist es notwendig, dass es ein besonderes Gut ist.215 Daher kann es, insofern es ist, dem Guten nicht entgegengesetzt sein. Daher bleibt übrig, dass das Übel, insofern es ein Übel ist, kein Etwas in den Dingen ist, sondern die Beraubung eines besonderen Guts, die einem besonderen Gut innewohnt.“216 Weiter bedeutet dies folglich, dass das Böse selbst zwar kein Etwas ist, aber immer nur an einem Etwas auftreten kann, da es als Parasit (um in der Metapher der parasitären Wirklichkeit bzw. Eigenschaft des Bösen zu verweilen) einen Wirt braucht.217 Dies macht Thomas am Beispiel der Blindheit als malum fest: „Daher sage ich, dass das Übel kein Etwas ist.218 Hingegen ist dasjenige, dem es widerfährt, schlecht zu sein, ein Etwas, insofern das Übel nur ein besonderes Gut entzieht, wie auch die Blindheit selbst kein Etwas ist. Dasjenige hingegen, dem 215

216 217

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Mathewes bezeichnet das Phänomen, dass das Böse bloßer Mangel, alles Seiende als Seiendes dagegen gut ist, im Anschluss an MacDonald als Universalitätsthese (universality thesis). (Nach: Mathewes (2001), S. 76f.) Weiter umschreibt er diese These inhaltlich wie folgt: „[A]ll things, insofar as they exist, are good, and they exist insofar as they realize their natures in participation in God’s beneficent plan for all creation“ (Ebd., S. 77.). qdm q. 1, a. 1 resp. Siehe hierzu z.B. scg iii,11. Vgl. mit Blick auf den Teufel: Johanneskommentar, c. viii, l. vi, iv, 1246. Der Teufel ist als Seiendes gut, was aber nichts über seine Qualitäten aussagt, denn obwohl er als Seiendes gut ist, kann er selbst schlecht sein. Mit Blick auf den Menschen vgl.: qdm q. 1, a. 2 resp. Hier beruft sich Thomas auf Aristoteles, demgemäß es die Tugend ist, welche einen Träger gut macht. (Vgl.: Aristoteles, en ii,5; 1106a.) Gut ist also ein Seiendes, wenn ihm seine ihm eigentümliche Vollkommenheit zukommt. (Nach: qdm q. 1, a. 2 resp.) Dies bedeutet, dass ein Stein gut ist, wenn er so ist, wie ein Stein sein soll, ein Auge ist gut, wenn es seine Vollkommenheit im Sinne des Scharf-Sehen-Könnens besitzt und ein Mensch ist gut, wenn er gemäß seiner Bestimmung handelt. Aufgrund des defizitären Charakters des Bösen begegnet im Johanneskommentar denn auch das Gegensatzpaar gut (bona) und defizient bzw. defekt (defectum) anstelle von gut und böse. (Nach: Hammele (2012), S. 191.) Substanz (substantia) und Natur (natura) der Dinge sind gut, aber sie tragen in sich einen Defekt (defectum), einen Mangel, den Thomas als peccatum voluntatis, als Sünde des Willens identifiziert. (Vgl. Johanneskommentar, c. viii, l. vi, i, 1240.) S. hierzu z.B. auch scg iii,7, wo Thomas in Anlehnung an Aristoteles schreibt, die Privation sei kein Wesen sondern „negatio in substantia“. Aristoteles definiert die Privation in Unterscheidung zur Negation wie folgt: „[D]enn die Negation ist Abwesenheit des Negierten. Bei der Privation tritt auch ein bestimmtes Wesen auf, von welcher die Privation ausgesagt wird“ (Aristoteles, Metaph. iv,2; 1004a).

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das Blindsein widerfährt, ist ein Etwas.“219 Damit wird deutlich, dass das Böse nicht in rebus ist,220 sondern lediglich eine Privation, welche an solchen Dingen auftritt, darstellt. Der Aquinate unterscheidet damit eine zweifache Weise des Übels: „Auf ähnliche Weise kann unter dem Übel der Träger des Übels verstanden werden, und dieser ist ein Etwas. Auf andere Weise kann das Übel selbst gedacht werden, und dieses ist kein Etwas, sondern es ist die Beraubung eines besonderen Gutes.“221 Der Träger des Übels, der selbst ein Etwas ist, ist als seiend gut. Thomas führt hierbei aus, dass es folglich drei unterschiedliche Weisen von gut gibt: 1. den Träger als Seiendes, 2. die Vollkommenheit und 3. das Ding, das die ihm eigene Vollkommenheit besitzt.222 Ein summum malum kann es nicht geben:223 Es wäre absoluter Mangel und damit nichts.224 Wo nur noch Böses wäre, höbe es sich gleichsam selbst auf, da es selbst kein Sein besitzt. Böses kann nur an Gutem auftreten, sodass das Sein selbst genichtet würde, wäre nur noch Böses da – und so wäre nichts mehr da, an dem das Böse 219 220 221

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qdm q. 1, a. 1 resp. scg iii,7. qdm q. 1, a. 1 resp.; vgl.: scg iii, 9. Die Privation richtet sich nach dem „artgemäß vollendeten Guten“ (Schäfer, C. (2013), S. 62.) und nicht nach dem Fehlen irgendwelcher artfremder Eigenschaften, Fähigkeiten oder Möglichkeiten. Je vollkommener dieses Seiende sein könnte, desto gravierender sind auch die Konsequenzen hinsichtlich des auf den Träger bezogenen malum, sodass „folglich dasjenige natürliche Wesen, das seinem Vermögen nach das vollkommenste sein könnte – und das ist für ihn der Mensch –, im Falle der fehlenden Verwirklichung seines positiven Potentials gemäß der Trägerauffassung des Übels das Subjekt größten Übels sein wird. Wesen dagegen, die ihrer natürlichen Aufmachung nach in ihrem Vermögen beschränkt sind (und das heißt: so, wie sie jetzt sind, bereits zu hohem Grade verwirklicht und kaum mehr perfektionierbar sind), kommen als Träger größter Übel kaum in Betracht.“ (Ebd., S. 63.) Vgl. hierzu: qdm q. 1, a. 2 ad 10: „[J]e mehr etwas in Möglichkeit für das Gute ist und in je höherem Grade etwas dazu geeignet ist, um so [sic!] schlimmer ist es, dass es des Guten beraubt ist. Das Gute, das Träger des Übels ist, ist allerdings Möglichkeit. Somit ist auf eine gewisse Weise das Übel um so [sic!] größer, je größer das Gute ist, das Träger des Übels ist.“ Nach: qdm q. 1, a. 2 resp. Vgl.: scg iii,15. Vgl.: Schäfer, C. (2013), S. 45. Dieser Gedanke begegnet bereits bei Augustinus: Auch er betont, dass es am höchsten Gut keine Mängel geben kann, dass das Böse aber nur an Gutem existieren kann, also keine unabhängige, sondern nur eine parasitäre Existenz besitzt, und auch er betont, dass es im Unterschied zum höchsten Gut kein völlig Schlechtes geben kann, da das Schlechte nur an Gutem auftreten kann, es kann nämlich nur dort etwas weggenommen werden, wo etwas Gutes bzw. Schönes da ist, das gemindert werden kann. (Nach: Augustinus, De civ. Dei xii,3; vgl.: Ders., Conf. vii,12.)

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auftreten könnte. Gerade mit Blick auf die theologische Anthropologie hat diese Einsicht mit Blick auf die Erbsündenlehre erhebliche Konsequenzen. Denn auch die Fähigkeiten des Trägers, auf welche er von Natur aus angelegt ist, sind selbst angesichts des Bösen nicht vollends korrumpierbar: So kann nämlich „der Mensch seine Fähigkeit zum Guten, da sie im Wesen des Willens wurzelt, durch die Erbsünde nicht völlig verlieren“225. Da das Wirkliche und das Gute identisch sind, ist das Böse somit eine Privation am Guten, nicht nur eine absentia boni, eine Abwesenheit des Guten, wie noch bei Augustinus,226 sondern eine privatio boni.227 Bleibt anzumerken, 225 226

Hermanni (2002), S. 100. Allerdings muss hier angemerkt werden, dass auch Augustinus terminologisch nebst vielen weiteren Ausdrücken durchaus von privatio boni redet, so z.B. in Conf. iii,7; Enchiridion iii,11. Allerdings wird hier die systematische Abgrenzung, welche von Thomas von Aquin gegenüber der einfachen (artfremden) Negation vollzogen wird, noch nicht vollzogen. Die angeführte Stelle in den Bekenntnissen lässt das Böse lediglich als absentia erscheinen, eine einfache Abwesenheit, ohne dabei urteilen zu können, ob von einer privatio oder einer negatio die Rede ist, vielmehr fänden in dieser Definition durchaus noch beide Formen Platz. Inhaltlich ist jedoch auch bei Augustinus zumindest im Rahmen der erwähnten Stelle im Enchiridion von einer privatio im thomasischen Sinne auszugehen, definiert er die Übel dort doch näherhin als Mangel an natürlichen Gütern, also Gütern, die einem Sein natürlicherweise zukommen. (Nach: Augustinus, Enchiridion iii,11, vgl. auch: Ebd. iv,12.) Die geläufige Aussage, dass Augustinus eine einfache absentia boni vertritt und erst Thomas von Aquin dies inhaltlich konkreter fasst, indem er die einfache negatio von einer privatio boni unterscheidet, stimmt damit nur bedingt, wenn die Systematisierung betrachtet wird, inhaltlich gesehen ist dieser Vorwurf dagegen nach Sicht der Verfasserin zumindest mit Blick auf das Enchridion unhaltbar. Auch Augustinus bestimmt das Böse als privatio boni und zwar nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich, indem er es als privatio eines Gutes, welches einem konkreten Sein natürlicherweise zukommt, definiert. Dass ein Mensch nicht fliegen kann, wäre also auch für Augustinus noch keine privatio boni, dass er nicht sehen kann dagegen schon. (Vgl. auch: Schäfer, C. (2002), S. 229.) Die Gegenüberstellung von einfacher absentia und wirklicher privatio in einem systematischen, sprachlich differenzierten System kommt dagegen in der Tat erst bei Thomas von Aquin ins Spiel, vorbereitet durch die Konkretisierung bei Anselm von Canterbury durch debere. Doch schon Pseudo-Dionysius unterscheidet einfache Abwesenheit von der Abwesenheit solcher Eigenschaften, welche der Natur eines Dinges entsprechen und hält fest, dass nur Letztere – also echte Privationen – im Sinne des Bösen zu verstehen sind. (Nach: Dionysius Areopagita, De div. nom. iv § 26.728 C.) Dionysius macht ebenfalls den privativen wie parasitären Charakter des Bösen aus. (Nach: Dionysius Areopagita, de div. nom. iv § 19.716 C-D.) Weiter findet sich auch bei Dionysius die Vorstellung, dass beschädigtes Gutes die Ursache für den Hervorgang weiterer (beschädigter) Dinge ist und so das Gute selbst (per accidens) zum Verursacher von weiterem Bösem wird. (Nach: Ebd. iv § 19.717 A und B sowie § 20.717 C.) Für Thomas wird dieser Gedanke noch nachgewiesen werden, wenn die Ursachen des Bösen in den Blick genommen werden.

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dass es am absolut Guten – also Gott – keine Privation geben kann,228 Böses kann nur dort auftreten, wo ein Seiendes mit Möglichkeiten – also veränderund damit auch perfektionier-, aber eben auch korrumpierbar – vorhanden ist. Gott ist als actus purus aber bereits vollkommenes Sein ohne ergänzbare Möglichkeiten, daher auch kann an ihm kein Böses auftreten.229 Auch an einem „gewöhnlichen“ Ding, welches, wie schon erwähnt, ein partikulares Gutes darstellt, kann kein absoluter Raub bzw. Mangel an diesem Ding existieren, vielmehr ist die „Totalberaubung einer Substanz“230 unmöglich: „Eine gänzliche Beraubung an allem Positiven käme […] einem totalen Seinsverlust gleich. Das wäre strenggenommen, wie die scholastische Terminologie es für gewöhnlich ausdrückt, keine Beraubung mehr, sondern eine Vernichtung, keine privatio, sondern eine corruptio (totalis).“231 Damit ist nun der Bereich des Bösen, das an (gut) Seiendem auftaucht, abgehandelt. Bisher war damit insbesondere vom natürlichen Übel die Rede. Doch wie steht es mit dem moralisch Bösen?232 Kann hier auch von einer 227

228 229 230 231 232

Aus der Bestimmung des Übels als Privation des Guten folgt nach Thomas von Aquin auch das Wissen Gottes um die Übel, denn insofern er alles Seiende (= Gute) vollkommen erkennt, hat er auch Kenntnis von der Privation desselben. (Nach: STh i, q. 14, a. 10 resp.) Dies auch ist der Grund, weswegen es vom Übel im Unterschied zu allem Seienden in Gott keine Idee gibt, da das Übel nicht selbst, sondern in seinem Bezug zum Guten erkannt wird. (Nach: STh i, q. 15, a. 3 ad 1.) Es soll nochmals auf den philosophischen Teil verwiesen werden, indem erneut auf die Verkehrung dieser Theorie in die Rede vom Guten als privatio mali bei Schopenhauer hingewiesen wird. Kreiner betont, dass eine solche Negativdefinition des Guten über das Böse als sein Gegensatz genau so legitim sei wie die Negativdefinition des Bösen über das Gute, da sich Gegensätze diesbezüglich beliebig gegeneinander austauschen ließen. (Nach: Kreiner (2005), S. 132f.) „Für welche Alternative man sich entscheidet, scheint lediglich von der Wahl des Ausgangspunktes abzuhängen, möglicherweise auch nur von der Stimmung. Wer sich angesichts dieses Einwands auf das Argument kapriziert, dass die Welt deshalb vollkommen gut sei, weil sie von Gott erschaffen wurde, argumentiert offenkundig zirkulär. Er setzt von vornherein schon die Existenz Gottes voraus und deduziert dann daraus die Güte der Schöpfung. In diesem Fall wird das zu Begründende, nämlich die Güte Gottes, bereits vorausgesetzt, so dass sich keine Antwort auf die Herausforderungen ergibt, die aus dem Theodizee-Problem folgen.“ (Ebd., S.133.) Nach: qdm q. 1, a. 2 resp. sowie scg i,39. Nach: qdm q. 1, a. 2 resp. Schäfer, C. (2013), S. 45. Ebd., Hervorhebung im Original. Zur Behandlung des moralischen Bösen bei Thomas s. insbes.: qdm qq. 2 und 3, wovon v.a. letztere Quaestio interessant ist, da hier die Ursache der Sünde abgehandelt wird. In den Quaestiones 4 und 5 befasst sich Thomas mit der Erbsünde, wie bereits anhand der

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Privation gesprochen werden und wenn ja, worin besteht bzw. woran taucht dieser Mangel auf? Es genügt nämlich nicht, nur nach dem Bösen, welches an der Substanz eines Etwas auftritt, zu fragen, sondern es gibt an diesem Etwas einen weiteren Ort, an dem Böses auftreten kann: in der Tätigkeit dieses Seienden.233 Gemäß Thomas von Aquin ist in der Tat auch hinsichtlich von moralisch Bösem von einer Privation zu sprechen: Es mangelt an Eigenschaften wie „Verantwortung, Einsicht, Liebe“234. Beim moralisch Bösen handelt es sich also um einen Mangel an der Realisierung bestimmter möglicher (guter) Wesenseigenschaften: „nämlich der wesenhaft aufeinander abgestimmten Verstandesund Willenstätigkeit.“235 Im Zusammenhang mit den Überlegungen zum Bösen muss auch dem Phänomen des simpliciter malum,236 des schlechthin Bösen, nachgegangen werden. Ein solches Übel ist zwar nicht naturhaftes Böses, kein naturaliter malum also. Dennoch ist es unabhängig von den einzelnen Umständen in sich schlecht, ohne dass die Relation zu anderen Koordinaten wie etwa Absicht, etc. etwas daran ändern würden. 4.3.2.2 Das simpliciter malum Mit Schäfer lässt sich das malum simpliciter treffend wie folgt definieren: Ein ‚schlechtweg‛ Übles ist also etwas, das nicht wesensgemäß [naturaliter, v.v.] Übel ist, aber doch ein solches Übel, das auch dann noch ein solches bleibt, wenn man die Umstände oder den Bezugspunkt oder auch die Absichten dahinter ändern würde, ein Übel, das sich weder durch

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entsprechenden Ausführungen im biblischen Teil ersichtlich wurde. In den Quaestiones 7–15 thematisiert Thomas sodann die lässlichen (q. 7) sowie die Todsünden (q. 8) und stellt die einzelnen Todsünden bzw. Hauptlaster genauer dar (qq. 9–15). Der Aquinate betont, dass eine ungeordnete Handlung bzw. eine Fehlhandlung nur dann Schuld generiert, wenn sie willentlich erfolgt. (Nach: qdm q. 2, a. 2 resp.) Diese Unterscheidung nimmt er selbst im Gegensatz zum klassischen Gebrauch der Theologen vor, wie er selbst hervorhebt. (Nach: qdm q. 2, a. 2 resp.) Nach: scg iii,6. In scg iii,10 streicht Thomas weiter heraus, dass das sittlich Böse einzig und allein aus dem Handelnden folgt und sich nicht etwa „an Materie oder Form der Wirkung“ (scg iii,10.) zeigt. Schäfer, C. (2013), S. 160. Ebd. Das simpliciter malum existiert nur im moralischen Bereich, nicht jedoch in den Naturdingen, wie Schäfer darlegt. (Nach: Ebd., S. 277.) Obwohl es sich in der vorliegenden Arbeit nicht um eine moralisch-ethische Betrachtung des Bösen handelt, soll das Phänomen des simpliciter malum dennoch in gebotener Kürze thematisiert werden.

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Erklärung seiner Ziele noch durch Anführung von Umständen noch durch Hinweis auf die Beteiligten als Gutes deuten ließe. Das qualitative Adjektiv ‚schlechtweg‛ als ‚unbezüglich‛ oder ‚nicht relativ zu anderem‛ erläutert daher, dass es sich um ein Übel handelt, dessen verschiedene Bezüglichkeiten irrelevant für seine unzweifelhafte Bestimmung als Übles sind.237 Mit Spaemann lässt sich diesbezüglich ein gravierender Unterschied zwischen ihrer Natur nach guten und intrinsisch schlechten Handlungen feststellen: Werden nämlich Handlungen ihrer Natur nach betrachtet, so gibt es gute und böse Handlungen, wobei Letztere, also ein actus intrinsice mali, weder durch gute Absichten, noch durch gute Umstände zu guten Handlungen werden können; umgekehrt jedoch sind ihrer Natur nach gute Handlungen durchaus veränderbar, indem Umstände, aber auch schlechte Absichten sie zu schlechten Handlungen verderben können.238 In De malo q. 16, a. 2 führt Thomas indes aus, dass es ein wesensgemäß Böses gar nicht geben kann: Das Böse ist ja gerade kein Etwas, das Wesen von Etwas kann also an sich nicht böse sein. Dagegen ist das Böse nur ein Fehlen an etwas Gutem in etwas wesentlich Gutem. Ein simpliciter malum besteht beispielsweise im Ehebruch:239 Dieser ist

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Ebd., S. 87. Nach: Spaemann (1990), S. xiii; vgl. hierzu: STh i–ii, q. 18, a. 4 ad 3, wo der Aquinate herausstreicht, dass eine Handlung in allen Aspekten gut sein muss, um gut sein zu können, fehlt nur schon einer dieser geforderten guten Tatbestände (Absicht, Umstand, etc.) bzw. ist einer von ihnen schlecht, so wird die gesamte Handlung schlecht. Eine Handlung im Sinne eines simpliciter bonum ist folglich in der Konsequenz ausgeschlossen. Thomas führt in diesem Zusammenhang auch immer wieder das Beispiel der Almosen an, indem er festhält, dass das Geben von Almosen selbst zwar eine gute Tat ist, wenn allerdings die Absicht des Gebenden eine schlechte ist, wenn er also z.B. nach eigener Anerkennung strebt, so wird die Tat schlecht. (So z.B.: STh i–ii, q. 19, a. 6 ad 3.) Es wird weiter ersichtlich, dass von moralisch Gutem bzw. Schlechtem nur im Bereich der Willenshandlungen zu sprechen ist. (Vgl.: STh i–ii, q. 19, a. 6 resp.) Zu diesem Bereich s. beispielsweise auch Dougherty (2011), welcher sich auf den Seiten 117–132 mit Dilemmata bei Thomas von Aquin befasst und davon die Seiten 125f. den Dilemmata, welche aus einer bösen Absicht des Handelnden resultieren, widmet. Zum Dilemma der Almosen siehe dabei: Ebd., S. 126. Zur Verpflichtung der Almosen s.: STh ii–ii, q. 32, a. 5 resp. Ein Ehebruch ist gemäß Thomas von Aquin „mit der Privation eines seinem Wesensgrunde nach Guten verbunden“ (scg iii,6.), denn der Akt selbst – in geordneten Bahnen, sprich innerhalb der Ehe – ist ein Gut und auch der entsprechende sinnliche Genuss ist unter denselben Umständen ein Gut; doch im Ehebruch verkümmert dieses Gute, indem es seines Guten beraubt wird. Ehebruch ist auf der einen Seite zwar mit einer Freude

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immer – unabhängig von den Absichten oder den Umständen, welche dazu führten, schlecht. Ein solches schlechthinnig Böses stellen aber auch beispielsweise Mord und Diebstahl240 dar.241 Weiter ist zu sagen, dass das Böse dennoch willentlich zu nennen ist, wenn auch nur in akzidentellem Sinne (per accidens): So strebt auch der Ehebrecher nach einem sinnlichen Guten, doch ist dieses Streben mit einer der Handlungen verbunden, welche der Schöpfungsordnung zuwiderlaufen; er will also zwar nicht die daraus resultierende

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(dem sinnlichen Genuss) verbunden, zugleich beinhaltet er aber immer auch ein Übel (den Raub an der Ordnung der Gerechtigkeit, privatio ordinis iustitiae). (Nach. qdm q. 1, a. 3 ad 15.) Dies bedeutet, dass der Ehebrecher „ein Gut anstrebt, mit dem immer ein Übel verknüpft ist“ (qdm q. 1, a. 3 ad 17). Nebst Ehebruch sind auch Mord und Diebstahl zu nennen. (Vgl. qdm q. 2, a. 3 resp.) Solche Handlungen sind erstursprünglich in der Handlung selbst als Sünde anzusehen, die Natur der Schuld ergibt sich allerdings auch bei diesen vollends erst aufgrund der Zustimmung durch den Willen. (Nach: qdm q. 2, a. 3 resp.) Wobei sich gerade beim Diebstahl aus ethischer Sicht durchaus fragen lässt, ob dieser tatsächlich in jeder Situation schlecht ist. Stiehlt nämlich ein Elternteil für seine Kinder Essen, weil er kein Geld hat und die Kinder sonst verhungern würden, oder jemand stiehlt ein Medikament, das ein naher Angehöriger dringend zum Überleben braucht, aber sich finanziell nicht leisten kann und es gibt keine andere Alternative, so kann dies in beiden Fällen schwerlich als schlecht bewertet werden, sondern die Strukturen, welche zu diesen Diebstählen zwingen, sind zu kritisieren und als schlecht zu qualifizieren. Doch vielleicht könnte man hier doch insoweit mit Thomas übereinstimmen, als man – wie im Falle des Tyrannenmords – dies zwar durchaus als schlecht, aber unter den gegebenen Umständen als erlaubt qualifizieren könnte. Doch spricht Thomas von Aquin nicht nur in Bezug auf Taten von simpliciter malum: Vielmehr betont er, dass eine Privation dann ein schlechthinniges Böses, ein malum simpliciter ist, „wenn sie in bezug [sic!, v.v.] auf den Träger, an dem sie ist, ein Schlechtes ist […]. Dass ein Mensch also seiner Hand beraubt ist, ist ein schlechthin Schlechtes“ (scg iii,6.). Somit ist jedes an einem Ding vorkommende malum, da es Privation ist – denn so wurde ja das Böse als Privation wesentlich definiert: dass es ein Fehlen von etwas Wesensgemäßem ist, von etwas, das von der Natur des Dinges her da sein müsste, aber nicht da ist –, ein malum simpliciter. Der Unterschied zwischen einem malum an einem Etwas und einem malum, welches durch ein Etwas bewirkt wird, besteht also darin, dass bei der zweiten Kategorie, den Handlungen, nicht automatisch der Tatbestand eines malum simpliciter gegeben ist, sondern nur bei gewissen – näherhin von Absichten, Umständen, etc. unabhängigen – Handlungen. Das Gros der Handlungen dagegen ist unter gewissen Umständen ein malum, unter anderen dagegen nicht. Dabei ergibt sich „der Grad der Güte und Schlechtigkeit bei moralischen Handlungen“ (qdm q. 2, a. 4 ad 11.) auf dreifache Weise: Zum einen aufgrund des Gegenstands (ad obiectum) bzw. der Materie (ad materiam), zum anderen aus den Umständen (ex circumstantia) oder aber durch den eine Handlung gestaltenden Habitus (ex habitu). (Nach: qdm q. 2, a. 4 ad 11.)

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Störung der Ordnung, sondern er will sie indirekt, indem er das entsprechende sinnliche Gute will, welches mit dieser Ordnungsstörung verbunden ist bzw. diese bewirkt.242 Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass das Böse keineswegs als Böses, sondern nur unter dem Gesichtspunkte eines anderen Gutes angestrebt wird, welches mit diesem verbunden ist: das Gut (sinnlicher Genuss) wird somit in höherem Maße angestrebt als das Üble (Ehebruch), sodass das Üble ohne dieses mit ihm verbundene Gut nicht erstrebt würde.243 Aus diesem Grunde nennt Thomas von Aquin diese Art von Bosheit (malitia) bzw. die Sünde (peccatum) nur per accidens willentlich.244 Ein Böses, das im Unterschied zum malum simpliciter oder einem intrinsece malum tatsächlich von Umständen und Beteiligten von Fall zu Fall böse sein kann oder nicht, ist ein malum secundum quid.245 „Es handelt sich dann um solches, was sich im relativen Ausschlag als von Übel erweist, für sich betrachtet oder für andere Beteiligte jedoch keineswegs oder zumindest keineswegs zwingend.“246 Als Beispiel hierfür kann auf Wolf und Schaf verwiesen werden:247 Für sich betrachtet, ist der Wolf kein Übel, für das Schaf stellt er allerdings durchaus eines dar. Das Reißen des Schafes wiederum stellt für den Wolf kein Übel dar, für das Schaf als sein Opfer jedoch ist es unzweifelhaft ein – ultimatives, da das Leben beendendes – Übel. Als weiteres thomasisches Beispiel ist die gerecht verhängte Strafe zu nennen, welche für den Bestraften durchaus Übel mit sich bringt. Weiter spricht der Aquinate auch von einem malum in actione, womit der Bereich des moralischen Bösen248 angesprochen ist. In De malo streicht 242 243 244 245 246 247 248

Nach: scg iii,6. Nach: STh i, q. 19, a. 9 resp. Nach: scg iii,6. Zum malum secundum quid s. ferner: Reichberg (2002). Zur Unterscheidung von simpliciter und secundum quid mit Blick auf das malum bei Thomas von Aquin s.: qdm q. 1, a. 1 ad 1. Schäfer, C. (2013), S. 224. Vgl. z.B.: qdm q. 16, a. 2 resp. Zum moralischen Bösen bei Thomas von Aquin s. beispielsweise scg iii,10. McInerny etwa definiert das moralische Böse wie folgt: „Moral evil is a privation, a lack of order. […] Sin consists in choosing a good in such a way that it is not ordered to other goods in an appropriate way.“ (McInerny (1997), S. 69.) Es bleibt anzumerken, dass im Rahmen der Privationstheorie die Wirklichkeit der Sünde gerade nicht geleugnet wird. Ebenfalls ist mit dem Verweis, dass der ontologische Status des Bösen in einer Privation zu sehen ist, nicht etwa eine Leugnung des Vorhandenseins des Bösen überhaupt gemeint, die Privationstheorien leugnen die „Existenz“ des Bösen nicht. Bereits Augustinus widmete sich dem Gedanken, ob wir uns denn vor dem Bösen fürchten könnten, existierte es gar nicht – existierte das Böse nicht, so wäre unsere Furcht grundlos, sodass diese Furcht selbst ein Übel wäre. (Nach: Augustinus, Conf. vii,5.) Mit Blick auf die Sünde betonte Anselm von

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Thomas im dritten Artikel der dritten Quaestio hervor, dass der Wille sich selbst in Bewegung resp. Tätigkeit versetzen kann.249 Aus diesem Grunde auch kann weder der Teufel noch sonst jemand anderes Ursache schuldigen Handelns sein.250 Da diese Handlungen nämlich als Willensakte zu verstehen sind, können sie nicht von einem Äußeren in Bewegung gesetzt werden, sondern nur vom Willen allein.251 Der Teufel kann so nicht Ursache sein, wohl aber kann er dazu verführen. Doch selbst dann ist es noch immer das Wollen des Willens selbst, der die Handlung initiiert. Es bedarf also der willentlichen Zustimmung des handelnden Subjekts. Interessanterweise befindet sich ein Mensch, wenn er nur die Wahl zwischen zwei schlechthinnigen Übeln hat, nicht mehr im Bereich des Moralischen: Denn für Thomas von Aquin ist es für moralisches Handeln zentral, dass das Gute zu tun und das Böse zu meiden ist.252 Wo aber von vornherein klar ist, dass es keine gute Wahl, sondern nur eine schlechte und eine noch schlechtere gibt, kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass ein Gut oder ein vermeintliches Gut angestrebt wird.253 Die aus einer solchen Wahl heraus resultierende „Handlung wäre kein actus humanus mehr.“254 In diesem Hinblick ist auch ein Blick in Quaestio 8 von De malo wichtig: Hier werden die Laster bzw. die Hauptlaster behandelt. Die Gefahr der Laster ist darin zu sehen, dass ein durchaus Gutes, das seinerseits allerdings dazu da ist, anderen Gütern zu dienen, selbst zu einem solchen endgültigen Gut erkoren wird, dem alles andere untergeordnet wird bzw. dem alles andere dienen soll und zu dem hin alles strebt; das letzte Lebensziel wird hier also verkehrt in einen Wert, der seinerseits dazu dienen sollte, – in gesundem Maße

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Canterbury, dass Sünde nicht einfach nichts sein kann, da Gott uns ansonsten für nichts (pro nihilo) bestrafte, Gott aber bestraft uns gerecht, Sünde ist also mehr als einfach ein Nichts, es ist eben doch in einem gewissen Sinne ein Etwas. (Nach: Anselm von Canterbury, de conc. virg. vi.) Wenngleich das Böse in all seinen Facetten als Privation vorgestellt wird, so muss es innerhalb des Wirklichkeitsbegriffs selbst eine Differenzierung geben, welche es ermöglicht, zugleich das Böse als Nichtigkeit zu fassen, ohne dass diese Nichtigkeit Nichtexistenz besagen würde. (Nach: Schönberger (1998), S. 25.) Ricoeur etwa veranschlagt nicht nur, dass Sünde, wie oben dargestellt, tatsächlich etwas ist, sondern spricht sich darüber hinaus auch ganz dezidiert gegen eine Identifikation des Bösen mit einer bloßen Privation aus. (Nach: Ricoeur (2009), S. 179.) Nach: qdm q. 3, a. 3. Zur Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin s.: Kim (2007). Nach: qdm q. 3, aa. 3f. Nach: Schäfer, C. (2013), S. 103. Nach: STh i–ii, q. 94, a. 2 resp. Vgl. hierzu: Schäfer, C. (2013), S. 263. Ebd., S. 264.

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gebraucht  –  das wahre Lebensziel zu erreichen.255 Hier begegnet somit ein neuer Aspekt des Bösen: Es besteht in einem Zuviel an Gutem, bzw. in der Maßlosigkeit an einem einzelnen Gut.256 Diese (eigentlich gute) Struktur ist es, welche die Laster zu einer solch großen Gefahr werden lässt: „Man muss die so gefasste natürliche Antriebsstruktur des Menschen ja vernünftigerweise gutheißen.“257 So, wie auch der Übeltäter selbst kein Übel, sondern ein Gut ist, sind auch die Triebe, welche den Lastern zugrunde liegen, keine Übel, sondern gut.258 Damit basieren alle Laster auf an sich guten Trieben, da sie im gesunden Maße und der richtigen Ordnung das Gelingen menschlichen Lebens grundsätzlich ermöglichen, allerdings liegt die Gefahr darin begründet, dass dasjenige, nach dem sich das Streben dieser Triebe richtet, wertmäßig höher gewichtet wird, als es der eigentlichen Ordnung entspricht, sodass ihm alle anderen Güter untergeordnet werden, wodurch mit den Lastern eigentlich lebensförderliche Triebe verabsolutiert werden und das gesamte Streben nur noch auf die Erfüllung derselben gerichtet wird.259 Da es sich aber um grundsätzlich positive Impulse handelt, ist es schwierig, zu erkennen, wo sie noch lebensdienlich sind und wann sie in Laster umschlagen, wobei genau dieser fließende Übergang ihre Gefahr ausmacht.260 Die Impulse, auf denen die Laster basieren, sind somit gut. Die Laster dagegen sind aufgrund ihrer Maßlosigkeit an diesen Impulsen schlecht. So sind die den Lastern zugrundeliegenden Triebe also nicht als simpliciter malum, sondern als malum secundum quid zu qualifizieren. Das Böse macht sich das Gute, die positiven Kräfte, zunutze, indem es sie pervertiert und so (fast unmerklich, da die Masslosigkeit meist erst dann bemerkbar wird, wenn die Grenze bereits überschritten ist) zu etwas Bösem „werden“ lässt. Darin deckt sich auch diese Art des Bösen mit der Sichtweise des Bösen als Privation und unterstreicht, was Thomas bereits zu Beginn von De malo betonte261 und was sich mit Schäfer wie folgt treffend wiedergeben lässt: „Böses oder Übles nämlich ist von streng sekundärem Charakter, es setzt

255

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Nach: Ebd., S. 174. Vgl. hierzu auch: Augustinus, De civ. Dei xii,8, wo darauf hingewiesen wird, dass der böse Wille nicht etwa deshalb böse ist, weil er auf Böses bezogen ist, sondern weil er sich zwar auf Gutes richtet, aber eben nicht entsprechend der richtigen Ordnung. Da ein Gutes einem übergeordneten Guten vorgezogen wird, ist diese Tat, obwohl es selbst ein Gut ist, dennoch schlecht zu nennen. Vgl. hierzu: qdm q. 15, a. 1 sowie a. 2 ad 12. Schäfer, C. (2013), S. 175. Vgl.: qdm q. 12, a. 1 resp. Nach: Schäfer, C. (2013), S. 207f. Vgl.: Ebd. Vgl.: qdm q. 1, a. 2 resp.

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Gutes voraus und besteht überhaupt nur insofern, als es das Gute schwächt, pervertiert oder beraubt“262. Wir haben nun unterschiedliche Formen des Bösen betrachtet und das Böse selbst als Privation – des Guten, der Ordnung, des Maßes, etc. – bestimmt. Bleibt aber noch zu klären, woher das Böse kommt bzw. wie es also überhaupt Privationen geben kann. 4.3.3 Die Herkunft des Bösen nach Thomas von Aquin Das als Privation verstandene Böse, welches sich immer an etwas Gutes „heftet“,263 besitzt – in augustinischer Tradition – keine Wirkursache, causa efficiens, sondern eine causa deficiens, eine Mangelursache.264 Wie auch schon hinsichtlich des Trägers des Bösen ist auch mit Blick auf seine Ursache zunächst das Gute zu betrachten. 4.3.3.1 Das Gute als Ursache des Bösen per accidens In Quaestio 1 von De malo hält Thomas von Aquin in Artikel 3 fest, dass das Böse als Ursache – sofern denn von einer Ursache gesprochen werden kann – nur das Gute haben kann.265 Somit ist das Gute nicht nur Träger des Bösen, sondern auch dessen Ursache, wobei zugleich betont werden muss, „dass das Üble keine Ursache an und für sich [causa per se, v.v.] haben kann.“266 Dies klingt zunächst widersprüchlich und bedarf daher weiterer Klärung. Thomas von Aquin nennt drei Gründe, aufgrund derer hinsichtlich des Bösen nicht von 262

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Schäfer, C. (2013), S. 222. Dieser sekundäre Charakter des Bösen also besagt demnach nichts anderes, als dass das Gute das Primäre und Ursprüngliche ist, das Böse dagegen besitzt lediglich nachfolgenden Charakter, egal wie bestimmend es auch scheinen mag, es kann niemals Urgrund und ursprünglich sein. (Vgl.: Ricoeur (2009), S. 181.) Interessanterweise wird das Verhältnis im individuellen Leben mittels der Erbsündenlehre – wenn auch nur auf der temporalen Ebene – umgedreht, indem das neue Menschenleben von Anfang an immer schon von diesem nachfolgenden Übel betroffen ist. (Vgl.: Vetö (1988), S. 698.) Vgl. beispielsweise: qdm q. 1, a. 2 resp: „[M]alum non potest esse nisi in bono.“ Zum Guten als Ursache des Bösen vgl. z.B. auch: scg iii,10. Nach: scg iii,10; vgl. hierzu: STh i, q. 49, a. 1 ad 3. Hierin besteht eine Übereinstimmung zu Leibniz, welcher diese Sichtweise übernehmen wird. (Vgl. z.B.: Leibniz, Theodicee ii, § 20.) Nach: qdm q. 1, a. 3 resp. Hierbei sei auch auf die beiden von Thomas angeführten Stellen bei Augustinus sowie Dionysius (qdm q. 1, a. 3 sed contra 1 und 2) verwiesen: Augustinus spricht davon, dass das Schlechte nur aus Gutem entstehen kann (vgl.: Augustinus, Enchiridion iv,14); nach Dionysius fungiert das Gute sowohl als Anfang als auch als Ziel allen Übels (vgl.: Dionysius Areopagita, De divinis nominibus iv § 31.732 B.). qdm q. 1, a. 3 resp. „Vnde relinquitur quod malum non habeat causam per se.“ (qdm q. 1, a. 3 resp.)

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einer eigentlichen Ursache im üblichen Sinne gesprochen werden kann:267 Ein gewichtiger Grund ist darin zu sehen, dass die Ursache das von ihr Verursachte anstrebt.268 Da aber nur Gutes angestrebt wird,269 kann auch das Böse nicht als Böses angestrebt werden, ja mehr noch: Es wird auch nicht gewollt oder begehrt.270 Das Böse wird vielmehr – wie bereits mit Blick auf den Ehebruch angedeutet wurde – als Quasi-Gutes angestrebt, als etwas, das fälschlicherweise für etwas Gutes gehalten wird. So hält Thomas fest: „Daher sehen wir, dass keiner etwas Schlechtes tut, außer er erstrebt etwas, das ihm als Gut erscheint.“271 Dieses fehlerhafte Für-Gut-Halten ist aber nicht die einzige Form, in welcher der Wille fehlgehen kann. Vielmehr erklärt sich so auch, weswegen 267 268 269

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Vgl.: qdm q. 1, a. 3 resp. Nach: qdm q. 1, a. 3 resp. Dabei gibt es in Anlehnung an Augustinus (De Trinitate xiii, 17) sowie Boëthius (De consolatione philosophiae, 3. Buch, S. 113.) ein Gutes, nach dem der Wille aus Notwendigkeit strebt, ein Gut also, das der Wille in jedem Moment als Gutes – und damit Erstrebenswertes – erkennt und daher auf es hin in Bewegung gesetzt wird. Dieses Gute ist das Glück bzw. die Glückseligkeit (beatitudo). (Vgl. z.B.: qdm q. 6 a. 1.) Die beatitudo ist die ultima hominis perfectio, die letzte Vollendung des Menschen, wie Thomas in STh i–ii, q. 3, a. 2 resp. ausführt. Die Notwendigkeit, welche im Willen hinsichtlich des Erstrebens des Glücks besteht, lässt sich mit Schäfer wie folgt ausdrücken: „Diese Eigenart des Glücks, die volle Palette alles unter allen Umständen Guten zu bieten, macht es also aus, dass das Glück den Willen unausweichlich bewegt, denn es kann dann keine dem Glück entgegenstehende Einzelentscheidung geben – ganz anders als bei Speise und anderen Gütern im Einzelnen eben. Unter diesem Aspekt ist das Glück also ein (wohlgemerkt letzter, letztbedeutender!) Ausrichtungsgegenstand, dem gegenüber als Ausrichtungsgegenstand sich der Wille unfrei verhält: Er kann gar nicht anders, als ihn anzustreben, als sich auf ihn hin in Bewegung zu versetzen. Hier also steht der Wille tatsächlich unter einer Notwendigkeit.“ (Schäfer, C. (2013), S. 147f.) Vgl.: „Das Übel als solches kann nicht beabsichtigt sein, noch auf irgendeine Weise gewollt oder ersehnt. Denn das Sein des Erstrebenswerten hat die Natur des Guten, dem das Übel als solches entgegengesetzt ist.“ (qdm q. 1, a. 3 resp.) qdm q. 1, a. 3 resp. Diese Erklärung, dass etwas Schlechtes fälschlicherweise für etwas Gutes gehalten und dann unter diesem irrtümlichen Aspekt des vermeintlich Guten angestrebt wird, findet sich bereits bei Sokrates bzw. beim durch Platon überlieferten Sokrates, da von ihm keine eigenen Schriften überliefert sind: „Offenbar also begehren jene, welche es nicht erkennen, schon nicht mehr das Böse; sondern das vielmehr, was sie für gut halten, es ist aber eben böse, so dass die, welche das Böse nicht erkennen, sondern glauben, es sei Gutes, offenbar das Gute begehren. Oder nicht?“ (Platon, Menon 77e.) Zum Komplex des Bösen als vermeintlich Gutem im Menon siehe insbes.: Ebd. 77de sowie 78ab. Weiter sei auf Platons Protagoras verwiesen, wo das Angenehme mit dem Guten und das Unangenehme bzw. Peinliche mit dem Bösen bzw. Üblen identifiziert wird (vgl.: Ders., Protagoras 358a.) und Übel nur aus Unwissenheit bzw., weil man zu schwach gegen sich selbst ist, gewählt wird, nicht aber aus freier Wahl, da es nicht der

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ein geringeres Gut einem höheren vorgezogen werden kann: Das geringere Gut wird aus einem Fehler heraus bevorzugt.272 Damit lässt sich das Böse bei Thomas von Aquin als gnoseologisches Übel bestimmen.273 Der Wille entscheidet sich nicht zielgerichtet und bewusst für ein geringeres Gut oder gar für ein Übel, sondern diese Wahl beruht immer auf einem Fehler, indem das Geringere oder Üble nicht als solches erkannt wird. Eine strikte Entscheidung gegen das Gute kann es so innerhalb des Aquin’schen Denksystems gar nicht geben.274 Der Aquinate spricht indes nur von einer akzidentellen Ursache

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Natur des Menschen entspricht, anstelle des Guten dem für übel Gehaltenen nachgehen zu wollen. (Nach: Ebd. 358cd.) Weitere Belegstellen aus dem platonischen Werk finden sich beispielsweise bei: Platons Hippias Minor, S. 68–73. Dort wird auch der aristotelische Umgang mit der sokratisch-platonischen These geschildert. (Nach: Ebd., S. 73–79.) Vgl.: Schäfer, C. (2013), S. 151 sowie Konyndyk/McCluskey/Van Dyke (2009), S. 104–106. Das gnoseologische – also die Erkenntnis betreffende – Übel begegnet auch bei Leibniz: Auch dieser geht davon aus, dass der Wille sich stets am Besten ausrichtet, das Böse nicht als Böses, sondern als scheinbar Gutes erstrebt, sodass ein Verstandesdefizit zugrunde liegt. (Nach: Hermanni (1998), S. 51.) Vgl.: Schäfer, C. (2013), S. 151. Hierbei besteht ein Verknüpfungspunkt zur Tatsache, dass das Glück als letzte Vollendung aus Notwendigkeit heraus angestrebt wird: „Sich willentlich und wissentlich auf das Nicht-Gute als nicht Gutes zu verlegen, würde den unmöglichen Zustand unterstellen, sein eigenes Unglück wollen zu können.“ (Ebd., S. 152; vgl. auch: McCluskey (2000).) Wiegand unterscheidet grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie das Böse (allerdings mit Blick auf die Kunst) mit dem Aspekt des Schönen verbunden sein kann, wobei die erste Möglichkeit davon identisch ist mit dem uns hier bei Thomas von Aquin begegnenden Moment: die auf Täuschung beruhende (nur scheinbare) Schönheit des Bösen. (Nach: Wiegand (1967), S. 20.) Diese Art basiert wesentlich „auf einer Diskrepanz zwischen Schein und Sein“ (Ebd.) und verliert dementsprechend in dem Moment, in welchem es als ein in Wahrheit Böses erkannt wird, seine Faszination bzw. seine Schönheit. (Nach: Ebd.) Nebst diesem „Schön-obwohl-böse“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) gibt es eine zweite Kategorie der Schönheit des Bösen, welche gerade nicht auf einer Verwechslung beruht, „sondern das Böse ist durchaus als böse erkannt und gewinnt gerade dadurch an Faszination; es ist schön-weil-böse. […] Das Böse wird an die Stelle des Guten innerhalb einer pervertierten Ordnung gesetzt. Damit ist es noch nicht schön. Ein ursprünglich Schönes müsste sich in pervertierter Weise mit ihm verbinden.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.) Dabei streicht Wiegand heraus, dass diese zweite Form, das Schön-weil-böse, welches bei Thomas von Aquin noch eine absolute Unmöglichkeit darstellte, historisch später hervorgegangen ist als das auch bei Thomas erwähnte Schön-obwohl-böse. (Nach: Ebd.) Auch Bernhard Welte (1906–1983) stand in der traditionellen Sichtweise des Bösen, welches nur als Quasi-Gutes angestrebt werden kann. (Vgl.: Welte (1959), S. 9.) Den ermöglichenden Grund des Bösen sieht Welte im endlich-unendlichen Willen des Menschen. (Nach: Ebd., S. 22f.) Dagegen hält Augustinus im berühmten Birnendiebstahl fest, dass er diesen nicht um eines höheren Ziels wegen begangen hat, sondern nur um des Diebstahls willen, aus

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(causa per accidens, also gewissermaßen als Unfall oder Kollateralschaden275) des Bösen.276 Das Gute ist folglich nicht schlechthin die Ursache des Bösen,

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einem bösen Willen heraus. (Nach: Augustinus, Conf. ii,6.) Doch lässt sich hier fragen, ob dem wirklich so ist oder ob er nicht doch vielmehr ein Gut angestrebt hat: das Gut, dazuzugehören, bzw. die Anerkennung durch andere. So gibt Augustinus denn auch zu, dass es doch nicht der Diebstahl alleine war, der ihn reizte und zu seinem Tun veranlasste, sondern die Gesellschaft seiner „Freunde“, denn alleine hätte er den Diebstahl nicht begangen. (Nach: Ebd. ii,8f.) Und auch der Kitzel, welcher im Begehen des Diebstahls liegt, ist an sich natürlich ein positives Gefühl, welches angestrebt wird, allerdings unter schlechten Voraussetzungen. (Dagegen: Schäfer, C. (2002), S. 277–282 sowie insbes. 290f.) In der Neuzeit dagegen sollte Kant, so Formosa, die Meinung vertreten, dass das Böse tatsächlich qua Böses gewählt werden könnte. (Nach: Formosa (2009), insbes. S. 194–198.) Diese Begrifflichkeit des „Kollateralschadens“ findet sich etwas bei Schäfer, C. (2013), S. 75. Nach: qdm q. 1, a. 3 resp. Nur das Gute hat eine Ursache per se und es kann auch nur die Ursache des Guten sein, da die Ursache nur ihr Ähnliches verursacht, daher kann das Gute nur per accidens Ursache des Bösen genannt werden: „Omne autem quod est per accidens, reducitur ad id quod est per se; si autem malum non habet causam per se, ut ostensum est, relinquitur quod solum bonum habet causam per se. Nec potest per se causa boni esse nisi bonum, cum causa per se causet sibi simile. Relinquitur ergo quod cuiuslibet mali bonum sit causa per accidens.“ (qdm q. 1, a. 3 resp.) Der Aquinate bezeichnet das Gute weiter auch als Materialursache (causa materialis) des Bösen; eine Formursache (causa formalis) gebe es beim Bösen dagegen nicht, da es ja gerade eine Privation der Form (privatio formae) darstellt, ebenso besitze es auch keine Zielursache (causa finalis), indem es von der Ausrichtung auf das gesollte Ziel privatiert. (Nach: STh i, q. 49, a. 1 resp.) „Eine Ursache aber nach Weise des Wirkenden [causa per modum agentis, v.v.] hat das Schlechte, nicht zwar an sich [per se, v.v.], vielmehr beiläufig [per accidens, v.v.]“ (STh i, q. 49, a. 1 resp.). Weswegen im Fall des Bösen nur von einer Ursache per accidens und nicht per se gesprochen werden kann, lässt sich mit Schäfer wie folgt einsichtig machen: „In allem, was die Ursache formal ist, nämlich wirklich und bewirkend, hat sie keine Ähnlichkeit mit dem Schlechten oder Üblen. Eine solche Ähnlichkeit aber ist Voraussetzung, dass man von einer Verursachung per se ausgehen kann, sei sie univok oder äquivok. Wenn daher zwischen Verursachtem und Ursache keine solche Ähnlichkeit besteht, so kann auch nicht von einer Verursachung per se ausgegangen werden – also einer Verursachungsraison, die nur auf dieses Verursachte zutrifft und ‚für es’ da ist. Wenn man trotzdem davon ausgehen will, dass es ein Verursachungsverhältnis gibt, so darf es nicht ein solches der Verursachung per se sein, sondern es muss eine Verursachung per accidens gemäß dem Schema des Kollateralschadens angenommen werden“ (Schäfer, C. (2013), S. 75.). Vgl. hierzu auch: scg iii,10: „Das Schlechte ist also nicht an sich Ursache von etwas, sondern nur akzidentell [per accidens, v.v.]. Jede akzidentelle Ursache [causa per accidens, v.v.] aber wird auf eine Ursache an sich [causa per se, v.v.] zurückgeführt. Nur das Gute aber kann Ursache an sich sein, das Schlechte dagegen kann nicht Ursache an sich sein. Also ist das Schlechte vom Guten verursacht.“ Weiter auch etwa scg iii,11: „[D]enn was akzidentell

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sondern lediglich dessen akzidentelle Ursache. Diese akzidentelle Ursächlichkeit des Guten für das Zustandekommen von Bösem ist selbst dort anzunehmen, wo das auftretende Böse auf ein seinerseits bereits Böses (und damit korrumpiertes Gutes) rückführbar ist.277 Damit weist Thomas zwei Arten der Ursächlichkeit des Guten hinsichtlich des Zustandekommens von Bösem nach: Zum einen ist das Gute „Ursache des Übels, insofern es mangelhaft [deficiens, v.v.]278 ist, auf andere Weise, insofern es unbeabsichtigt [per accidens, v.v.] wirkt.“279 Für Thomas von Aquin ist hinsichtlich der Bestimmung des Bösen die aristotelische Unterscheidung in Akt und Potenz280 von eminenter Bedeutung: „Jedes Tätige ist tätig, insofern es aktuell ist. Durch das Tätigsein strebt [tendere, also tendieren, v.v.] es aber nach einem ihm Ähnlichen [simile, v.v.]. Also strebt es zur Aktualität. Jede Aktualität ist aber im Grunde ein Gutes; denn das Schlechte kommt nur in der Potentialität vor, die die Aktualität verfehlt [nam malum non invenitur nisi in potentia deficiente ab actu, v.v.]. Also findet jede Tätigkeit um eines Guten willen statt.“281 Die Existenz des Bösen ist somit aufs Engste mit der Potenz verbunden. Diesem Zusammenhang soll nun nachgegangen werden. 4.3.3.2 Die Potenz als Ursache des Bösen Findet eine Potenz nicht ihrer ganzen möglichen Potenz nach in den Akt, sondern bleibt defizitär hinter ihren potentiellen Möglichkeiten zurück, so bringt sie hierdurch Böses hervor.282 Je mehr aktualisierfähige Potenz etwas besitzt,

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[per accidens, v.v.] ist, gründet auf dem, was an sich [per se, v.v.] ist.“ Bereits Augustinus hielt fest, dass das Böse akzidentell am Guten haftet. (Nach: Augustinus, Enchiridion iii,11.) Nach: qdm q. 1, a. 3 resp. Vgl. hierzu nebst qdm q. 1, a. 3 resp. auch beispielsweise scg iii,4. Wie Thomas von Aquin annahm, besteht ein solches fehlerhaftes Gutes beispielsweise in einem mangelhaften männlichen Samen, was für den daraus entstehenden Embryo Missbildungen zur Folge hat. (Dieses Beispiel taucht immer wieder auf, z.B. in: qdm q. 1, a. 1 ad 8; q. 1, a. 3 resp.) Das Übel ist somit letztlich nicht auf ein anderes Übel zurückzuführen, sondern auf ein Gut, welches seinerseits aber an einem Mangel leidet. Der eigentliche Agent, welcher hinsichtlich des folgenden Übels tätig wird, ist somit nicht eigentlich die Beschädigung, sondern der Same, also nicht der Mangel am Gut, sondern das Gut selbst. (Vgl.: Schäfer, C. (2013), S. 80f.) qdm q. 1, a. 3 resp.; vgl. beispielsweise auch: qdm q. 1, a. 3 ad 6 und ad 7. Zum Verständnis der Begriffe Akt und Potenz siehe beispielsweise: Vries (1980), S. 11–21. scg iii,3. Vgl. hierzu: scg iii,4: „Ein Gutes liegt aber vor, wenn die Materie durch die Form und die Potentialität durch die ihr entsprechende Aktualität vervollkommnet ist; ein Schlechtes, wenn sie [die Materie bzw. die Potentialität] der erforderlichen Aktualität ledig ist.“

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desto anfälliger ist es für umso größere Übel.283 Was zu seiner Perfektionierung noch vieles Potente realisieren muss, ist der Träger der größten Übel. Was dagegen bereits beinahe perfekt ist, kann nur wenige und kleine Übel hervorbringen. Es bleibt anzumerken, dass die Potenz selbst nichts Schlechtes, sondern ganz im Gegenteil ebenso wie der Akt ein Gut ist:284 Denn das Streben bzw. die Bewegung von der Potenz zum Akt ist ein Streben nach Vollkommenheit und Gutem.285 Das Böse in der Potenz ist daher nur akzidentell (per accidens) zu nennen.286 Wäre alles bereits Akt, so könnte nichts vollendet werden. Es ist die Potenz, welche in den Akt übergeführt wird, wodurch ein Sein vollendet werden kann. Sie macht es möglich, perfektioniert zu werden. Aber genau hier ist es, wo etwas statt vollendet, korrumpiert werden kann. Je mehr etwas vollendet werden kann – und dies ist sehr gut –, desto mehr ist auch die Möglichkeit der Korruption gegeben. Die Potenz selbst ist aber gut und wünschenswert, da sie in Form des Aktes die Bewegung der Vollendung in Gang setzen kann – was aber auch schiefgehen kann. Nur so ist aber Entwicklung möglich. Wäre alles bereits Akt – also realisiert – so gäbe es keine Entwicklung, was als positive Wirkung hätte, dass es zwar auch keinen Rückschritt, eine Entwicklung nach unten, geben könnte, doch bedeutete dies zugleich auch, dass eine nach oben gerichtete Weiterentwicklung und Veränderung überhaupt ausgeschlossen wäre. Bleibt jedoch hinzuzufügen, dass dies für das Geschaffene gar nicht sein kann: Das Einzige nämlich, das in all seinen Möglichkeiten vollendet und 283 284

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Vgl.: qdm q. 1, a. 2 ad 10. Siehe hierzu z.B.: „Auch alles, was in Möglichkeit zum Guten ist, hat genau deshalb, weil es in Möglichkeit zum Guten ist, eine Hinordnung auf das Gute. Denn in Möglichkeit zu sein, ist nichts anderes, als auf die Wirklichkeit bezogen zu sein. Es ist also offensichtlich, dass das, was in Möglichkeit ist, genau deshalb, weil es in Möglichkeit ist, die Natur des Guten hat.“ (qdm q. 1, a. 2 resp.) Diese Gutheit der Potenz gilt auch mit Blick auf die Materie, wie Thomas fortfährt: „Jeder Träger – auch die erste Materie – hat daher, insofern er in Bezug auf eine Vollkommenheit in Möglichkeit ist, gerade eben deshalb weil er in Möglichkeit ist, die Natur des Guten. […] Denn die erste Materie wird nur als in Möglichkeit seiend bezeichnet, und schlechthin seiend ist sie durch die Form. Aber die Möglichkeit hat sie durch sich selbst. Da die Möglichkeit zur Natur des Guten gehört, wie ausgeführt worden ist, folgt, dass das Gute ihr durch sich selbst zukommt.“ (qdm q. 1, a. 2 resp.) Nach: scg iii,3. Vgl. scg iii,7: „Das Seiende lässt sich in Aktualität und Potentialität einteilen. Die Aktualität als solche ist ein Gutes. Denn insofern etwas aktuell ist, ist es vollkommen. Auch die Potentialität ist ein Gutes. Denn sie strebt zur Aktualität, wie sich in jeder Bewegung zeigt. Sie entspricht sogar der Aktualität, ist ihr nicht entgegengesetzt. Sie fällt mit der Aktualität unter dieselbe Gattung. Privation kommt ihr nur akzidentell zu. Also ist alles, was ist, wie auch immer es sein mag, insofern es ein Seiendes ist, gut. Das Schlechte hat also kein Wesen.“

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somit reiner Akt (actus purus) ist, ist Gott selbst. Somit schließt alles Geschaffene und so von Gott als seinem Schöpfer Verschiedene immer schon Potenz (zwar in unterschiedlichen Abstufungen) in sich, sodass alles vervollkommnet werden kann und muss und somit zugleich auch immer mehr oder weniger für das Böse anfällig ist. Akt und Potenz – also das Seiende, welches sich aus diesen beiden zusammensetzt – sind gut. Dies alles bedeutet, dass Thomas von Aquin das Ziel verfolgt, darzulegen, dass Böses, Schlechtes oder Mangelhaftes „nur virtute boni, das heißt dank der Kraft des Guten, zustande kommen“287 kann. Weiter streicht Thomas hervor, dass der Wille seinerseits in beiden angesprochenen Weisen Ursache des Bösen ist, denn dieser ist es, der sich ablehnend oder annehmend dem in Bewegung setzenden Reiz gegenüber verhält.288 Gemäß Thomas von Aquin gibt es zwei Agenten: einerseits die Natur, andererseits den Willen der tätigen Person.289 Wie Schönberger aufzeigt, wurde diese Unterscheidung eigens von Thomas von Aquin in die scholastische Diskussion um die Privationstheorie eingeführt.290 Dass nun aber das Böse akzidentell ist, ist von entscheidender Bedeutung: Erst die Qualifizierung als accidit, „womit eben das Akzidentelle, also Nichtnotwendige des Zustandekommens mitausgesagt ist“291, hebt das Böse in den Bereich des moralisch Relevanten. So ist ein Wolf, der ein Schaf reißt, nicht als böse zu qualifizieren, da dies zu seiner Natur gehört und daher ethisch-moralisch nicht verwerflich ist.292 Erst dort, wo keine Notwendigkeit besteht, sondern die Tat auf einen bewussten Entscheid des Willens rückführbar ist, der sich positiv, aber eben auch negativ zu einer konkreten Tat bzw. einem konkreten Reiz verhalten kann, betreten wir den Bereich der Moral.293 Auf das Beispiel des Ehebruchs gemünzt, bedeutet dies somit: „Ehebruch kann überhaupt nur als etwas moralisch Schlechtes (malum morale) angesehen werden, weil es ja nicht dazu kommen musste.“294 287 288 289 290 291 292 293 294

Schäfer, C. (2013) S. 80. Nach: qdm q. 1, a. 3 resp: „Vnde mali quod accidit ex hoc quod recipit, non est causa ipsum delectabile movens, sed magis ipsa voluntas.“ Nach: Schäfer, C. (2013), S. 81. Nach: Schönberger (2015), S. 127. Schäfer, C. (2013), S. 86. Nach: Ebd., S. 85. Nach: Ebd., S. 85f. Ebd., S. 85, Hervorhebung im Original. Allerdings kennt Thomas von Aquin eine Ausnahme: Wenn ein Mann nachts eine Frau fälschlicherweise für seine eigene hält und in dieser Überzeugung mit ihr verkehrt, begeht er nicht willentlich eine Sünde und lädt somit keine Schuld auf sich, wenngleich er auch zweifelsfrei Ehebruch begeht. (Vgl. hierzu qdm q. 2, a. 6 ad 11 (mit Verweis auf Rachel und Lea, wobei Thomas hier nicht nur von

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Schuldlosigkeit spricht, sondern sogar davon, dass er ohne Sünde ist); q. 3, a. 8 resp.; vgl. hinsichtlich der ungültigen Eheschließung aufgrund eines Irrtums in der Person (die rechtliche Fassung des biblischen Beispiels von Rahel und Lea) can. 1097 § 1 cic 1983.) Dass man allerdings einen anderen Menschen für seinen Ehepartner hält, ist unwahrscheinlich. Das Beispiel des verbotenen Inzests dagegen wäre für den angezielten Aussagegehalt treffender: Wenn Ödipus seine Mutter heiratet ohne zu wissen, dass sie seine Mutter ist, so begeht er zwar ein unnatürliches Verbrechen gegen die Gesetze und Ordnung Gottes, doch kann nicht im eigentlichen Sinne von einer Schuld generierenden Sünde gesprochen werden, wenngleich er auch zweifelsfrei (unwissentlich) gesündigt hat. Noch unannehmbarer wird Thomas’ Stellung zum Ehebruch, wenn man sich qdm q. 13, a. 4 vor Augen hält, wobei hier Bezug genommen wird auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles (vgl.: Aristoteles, en v,10; 1134a): Thomas behauptet, dass, angenommen jemand begeht nur Ehebruch, um einen Diebstahl begehen zu können, dieser kein Ehebrecher, sondern lediglich ein Dieb sei – und dies selbst dann, wenn es ihm nicht gelang, den Diebstahl auszuführen. Vgl.: qdm q. 2, a. 6. resp., wo Thomas, ebenfalls mit Verweis auf Ehebruch und Diebstahl, ausführt, dass, wenn ein hinzukommender Umstand von gänzlich anderer Art ist als die Art des ersten Umstands und diese nicht in dieselbe Gattung von Sünde fallen, der erste Umstand durch den zweiten verändert wird und neu unter die Gattung von Sünde des hinzugekommenen fällt. Ehebruch würde demnach nicht mehr unter die Gattung Unzucht fallen, sondern als Diebstahl abgehandelt, dem er als Zweck diente. Jedoch wird andernorts Ehebruch als simpliciter malum bezeichnet. Ebenso gilt es kritisch anzufragen, ob Ehebruch und Diebstahl – sollte die Art tatsächlich durch die zweite verändert werden, obwohl Thomas durchaus auch festhält, dass eine Handlung unter unterschiedliche Sünden fallen kann (vgl.: qdm q. 2, a. 6 ad 3.) – tatsächlich zu unterschiedlichen Gattungen gehören: Denn Ehebruch ist letztlich nicht nur Unzucht, sondern er fällt durchaus auch unter die Gattung Diebstahl: der Diebstahl am Gut eines anderen, ebenso wie auch Mord letztlich unter die Kategorie Diebstahl gezählt werden kann: der Raub am Gut eines anderen Menschen, am Gut Leben. Thomas schreibt, dass ein Umstand nur unter der Bedingung, dass eine neue Abscheulichkeit hinzugefügt wird, eine neue Art von Sünde generiert, sodass der Ehebruch zusätzlich noch die Abscheulichkeit der Ungerechtigkeit hinzufüge, wenn er mit einer verheirateten Frau begangen werde, wobei er hinzufügt: „Wenn also der hinzugefügte Umstand eine Missgestalt von der Art hinzufügt, die gegen das Gebot Gottes verstößt, dann wird aus dem, was auf Grund seiner Gattung lässlich ist, eine Todsünde. Das also, was auf Grund seiner Gattung eine lässliche Sünde ist, kann durch einen Umstand, der weiterhin die Natur eines Umstandes behält, keine Todsünde werden, sondern nur durch jenen Umstand, der eine andere Art von Sünde konstituiert.“ (qdm q. 7, a. 4 resp.) Es scheint, als ob Ehebruch in Form des Betrugs an der eigenen Frau nicht als Verstoß an einem göttlichen Gebot angesehen würde, sondern der Tatbestand des „Du sollst nicht Ehe brechen“ erst dadurch gegeben wäre, wenn die Frau, mit der Ehebruch begangen wird, selbst verheiratet ist. Für den Entstehungskontext des Gebots stimmt dies in der Tat: Ehebruch wurde mit Blick auf einen Mann verstanden als „die Ehe eines anderen brechen“, ein Mann konnte nur eine fremde Ehe brechen, eine Frau dagegen nur ihr eigene. Im Falle eines monogamen Systems ist aber auch der von einem verheirateten Mann mit einer unverheirateten Frau vollzogene sexuelle Verkehr Ehebruch. Da es sich beim Ehebruch in Thomas’ Sicht aber um ein

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Doch auch der Wille, der selbst gut ist, kann in einem zweifachen Sinne für das Zustandekommen des Bösen verantwortlich sein: per accidens oder im Sinne eines schadhaften Guten.295 Der Fehler, der im Willen angesichts des ausgeführten Ehebruchs auftritt, ist „in der Missachtung, dem Nichtinbetrachtziehen oder dem Übergehen der Richtlinie, welche die Vernunft und das göttliche Gesetz vorgeben“296, zu verorten. Der Wille, der hier die Wahl trifft, ist an sich bereits fehlerhaft, da er das göttliche Gesetz außen vor lässt. So hatte bereits Augustinus in De civitate Dei darauf hingewiesen, dass es zwar der Wille ist, der Verursacher sündigen Handelns ist, doch nur, weil eben dieser ursächliche Wille selbst bereits von einem Fehler betroffen ist, dass also auch die fehlerhafte Entscheidung oder Wahl des Willens bereits eine Ursache hat, nämlich die Fehlerhaftigkeit des Willens, der diese Wahl traf.297 Bevor wir uns der Thematik des freien Willens zuwenden, sollen aber nochmals einige Bemerkungen zum physischen Übel angeführt werden. 4.3.3.3 Die Herkunft des malum physicum Auch physische Übel wie etwa Missbildungen resultieren aus einem Gut, allerdings einem seinerseits beschädigten, defekten, korrumpierten Gut – im Falle einer Missbildung dem defekten Samen.298 Wie in den einleitenden Bemerkungen erwähnt, erklärt Thomas von Aquin die physischen Übel wie Krankheiten mit den Kategorien Sünde und Strafe, wobei insbesondere auch die Erbsünde als Erklärung hinzugezogen wird.299 Ebenso wird auch das metaphysische Übel des Todes erklärt. Durch die Erbsünde ist die menschliche Natur korrumpiert und deshalb mit Mängeln wie Tod und Krankheit behaftet. Dabei ist die Beschaffenheit der menschlichen Natur aber nicht so durch Strafe verändert, dass nach dem Sündenfall alle Übel, welche dieser Kondition entspringen, natürlich

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intrinsice malum, handelt, stellt er immer schon einen Verstoß gegen das göttliche Gebot dar. Der von ihm geschilderte Umstand macht nicht aus einer lässlichen eine Todsünde. Entweder ist das angeführte Beispiel des Ehebruchs als für den Sachverhalt der zusätzlichen Abscheulichkeit inadäquat zu qualifizieren oder es muss ein Widerspruch in Thomas’ Sichtweise des Ehebruchs selbst festgestellt werden. Vgl.: Schäfer, C. (2013), S. 86f. Ebd., S. 89. Nach: Augustinus, De civ. Dei xii, 6. Augustinus betont weiter, dass dies aufgrund der Erschaffung aus dem Nichts möglich ist. Der böse Wille besitzt daher auch keine causa efficiens, also eine Wirkursache, sondern eine causa deficiens. (Nach: Ebd. xii,7.) Vgl. z.B.: scg iii,4. Wie zuvor gesehen, liegt ein Defekt dort vor, wo ein Sein in seiner Aktualisierung hinter dem ihm Möglichen zurückbleibt, wo also die Potenz nicht vollumfänglich in Akt überführt wird. (Vgl. z.B. auch: Kretzmann (2000,1), S. 129.) Vgl: qdm q. 1, a. 4.

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wären. Vielmehr betont Thomas in De malo, dass sowohl der Tod als auch alle Mängel in diesem Leben in der Tat allesamt ohne jeglichen Zweifel Strafe für die Erbsünde sind.300 Dies ist sehr interessant, zumal die Kenntnis des metaphysischen Übels als Übel – bzw. Strafe – keinesfalls zwingend aus Thomas’ System folgen muss: Vielmehr könnte er – im Unterschied zum physischen sowie moralischen Übel – das metaphysische Übel des Todes durchaus als normalen Bestandteil zur geschaffenen Wirklichkeit, welche ja unterschieden ist von Gott, dem allein Perfektion, Unwandelbarkeit, etc. zukommen, zählen und nicht zur Kategorie des malum im Sinne von poena. Die natürliche Beschaffenheit einer Natur stellt dabei kein Übel dar, sondern ein Gut, ein geringeres Gut. Diese natürliche Beschaffenheit des Geschaffenen mit der Korrumpierbarkeit, Vergänglichkeit, etc. wäre es dann aber, welche Anknüpfungspunkt für die beiden systemimmanenten „tatsächlichen“ Übel – physisches und moralisches – bieten würde.301 Die thomasische Sicht macht aber durchaus Sinn, wenn man sich die Unterscheidung in Sterblichkeit und Tod in Erinnerung ruft: So gehört die Sterblichkeit tatsächlich von Anfang an zur menschlichen Natur und der Genuss vom Baum des Lebens hätte dem Menschen die notwendige Energie gegeben, den Tod nicht zu erleiden, bis der Mensch in die Ewigkeit vollendet würde.302 Der Tod dagegen, dass also die Sterblichkeit tatsächlich in den Tod mündet, ist nach Thomas von Aquin in der Tat Folge der – und Strafe für die – Sünde. Es ist also die Sterblichkeit der menschlichen Natur, in Bezug derer nicht von einem (metaphysischen) Übel gesprochen werden kann, sondern welche der Geschöpflichkeit und damit Endlichkeit des Menschen geschuldet ist. Der Tod dagegen stellt eine Sündenstrafe und damit ein Übel, etwas nicht notwendigerweise zur Natur des Menschen Gehörendes, dar. Nichts ist somit der natürlichen Beschaffenheit nach dem Sündenfall, welche selbst Strafe ist, natürlich anzurechnen. Vielmehr ist alles als Strafe für Sünde zu verstehen. Auch die nachfolgenden Generationen werden in Form der korrumpierten Natur je neu für die Erbsünde bestraft. Die Veränderung der natürlichen Kondition des Menschen von der praelapsarischen hin zur postlapsarischen conditio humana – wobei die praelapsarische Beschaffenheit nicht völlig korrumpiert wurde, sondern die Fähigkeit zum Guten beispielsweise grundsätzlich noch 300 301

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Nach: qdm q. 5, a. 4 resp. Vgl. zu dieser möglichen Betrachtungsweise des metaphysischen Übels als kein Übel z.B. Hick: „It is often denied by Augustinian theodicists, however, that the unavoidable imperfection of created things is to be regarded as an evil; for finitude implying limitation, implying imperfection, is inevitable if there is to be a creaturely realm at all.“ (Hick (1977), S. 13f.) Nach: qdm q. 5, a. 5 ad 9.

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immer vorhanden ist – stellt selbst eine Strafe dar, sodass dieser Zustand insgesamt als Strafe und nicht als natürlich zu verstehen ist. Da aber alle Menschen solidarisch in dieser Sünden- und Schuldgemeinschaft verbunden sind, wird nicht nur die Ursünde selbst jedem als persönliche angerechnet, sondern auch die damit einhergehende Strafe für die persönliche Schuld ist als persönlich verdient anzusehen. Hinsichtlich des Guten als Träger des Bösen gilt es zweierlei Träger zu unterscheiden: einerseits den Träger des sittlich Bösen, andererseits jenen des natürlich Üblen.303 Thomas hebt hervor, dass der Träger des sittlich Bösen das Naturgute sei, derjenige des natürlich Üblen dagegen die Materie, an der das natürliche Böse als Privation der Form auftauche; die Materie selbst dagegen sei als potentiell Seiendes gut.304 Dies bedeutet, dass hinsichtlich des Ursprungs des Bösen nicht nur die aristotelische Unterscheidung in Akt und Potenz, sondern auch jene in Form305 und Materie306 von größter Bedeutung ist.307 303

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Nach: scg iii,11. Dobbs-Weinstein hebt hervor, dass sich Thomas von Aquin insbesondere „in his teachings about matter in general, and about the material substratum of human existence in particular“ (Dobbs-Weinstein (1992), S. 227.) von Maimonides unterscheidet. Der Aquinate, so Dobbs-Weinstein weiter, „rejects the Neoplatonic interpretation of matter as ‚non-being because joined to privation‘ in favor of an Aristotelian explanation, distinguishing matter from privation, and posits the latter as joined to matter per accidens.“ (Ebd., S. 229, Hervorhebung im Original.) Für die Differenz zwischen Maimonides und Thomas von Aquin bedeutet dies: „For Aquinas, prime matter is one of the necessary causes for the actual perfection of all created beings; privation, the cause of its hindrance. Thus the main difference between Maimonides’ and Aquinas’ accounts of prime matter is not in their conception of prime matter as the substratum of natural existence, but rather in their understandings of (1) the moral categories and their relation to ontological categories and (2) the scope of human knowledge of causality.“ (Ebd.) Nach: scg iii,11. Zum Formverständnis siehe z.B.: Vries (1980), S. 41–48. Zur Materie siehe z.B.: Ebd., S. 63–67. Ausführungen zu Thomas’ Verständnis von Form und Materie finden sich beispielsweise auch bei: Patt (2007), S. 168–188, wobei die Seiten 187f. der materia prima gewidmet sind. Zur materia prima s. auch: Wippel (2000), S. 312–327. Zur Unterscheidung von Form und Materie s. auch: Ebd., S. 296–312. Diese Konsequenz folgt nur schon deshalb logischerweise und eigentlich sogar zwingend, definiert doch Thomas von Aquin die Materie näher als potentiell Seiendes (also alleine ohne Vermischung mit Form sich auf der Stufe der Potenz befindend) und Form als Aktualität. (Vgl.: scg iii,69.) Erst in diesem Zusammenspiel bzw. in der Vermischung von Materie und Form und damit im Übergang von Potenz in Aktualität wird etwas seiend. Gott seinerseits ist absolute Aktualität. (Vgl.: scg iii,69.) Die materia prima, die erste Materie, dagegen ist reine Potentialität – sie ist sozusagen der ungeformte Stoff, aus dem Gott die Welt erschaffen konnte, sie ist erst potentiell und daher auch noch nicht seiend,

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4.3.3.4 Die Materie als Ursprungsort des Bösen Das Böse ist nicht direkt mit der Materie verbunden, sondern nur indirekt über die Form, an der eine Privation auftreten kann, welche sodann die Materie schädigt bzw. an dieser augenscheinlich wird. Die Materie selbst ist nicht fertig definiert, sondern ist potentiell und wird erst durch die Form geformt. Die Potenz der Materie ist es, welche Privation möglich macht, aber es ist die Form, an der sie auftreten kann.308 Hierzu ein etwas längeres Zitat von Thomas, welches die Beziehung zwischen Materie, Form und Privation deutlich macht: Die Form einiger hingegen erfüllt nicht die ganze Potentialität der Materie: daher verbleibt in der Materie noch Potentialität zu einer anderen Form; und in einem anderen Teil Materie verbleibt Potentialität zu dieser Form; so ist es offensichtlich bei den Elementen und dem aus den Elementen Gebildeten. Weil aber die Privation [als nichterfüllte Potentialität] eine Verneinung dessen in der Substanz ist, was der Substanz innewohnen kann [und nicht verneint, was ohnehin nicht angelegt ist], so ist offenkundig, dass mit der Form, die nicht die ganze Potentialität der Materie erfüllt, die Privation einer (anderen) Form verbunden ist: mit einer Substanz, deren Form die ganze Potentialität der Materie erfüllt, kann hingegen keine (Privation) verbunden sein; dies gilt auch für jene Substanz, welche durch ihr Wesen Form ist, und erst recht für jene, deren Wesen ihr Sein selbst ist.309 Weiter hält der Aquinate mit Aristoteles310 fest, dass die Potentialität gegeben sein muss, um Bewegung überhaupt erst möglich zu machen, da Bewegung mit Aristoteles die Aktualisierung dessen ist, was potentiell existiert.311 Erneut wird deutlich, dass Potenz selbst etwas Gutes ist, ebenso wie Form und Materie. In der Potenz zeigt sich auch das natürliche Streben nach dem Guten, da

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kann aber im Übergang zum Akt alles werden, so wie die Stammzellen, welche in sich noch die Möglichkeit besitzen, sich zu jedem Körperteil oder Organ zu entwickeln – und daher am Weitesten von Gott entfernt. (Vgl.: scg iii,69.) Wohl spielt hier aber auch die Lehre von der creatio ex nihilo mit. Der Gedanke, dass die Materie von der Privation getroffen werden kann, hängt nämlich auch damit zusammen, dass sie aus dem Nichts geschaffen ist. Was aber vom Nichts kommt, tendiert auch zum Nichts, wie Thomas in De veritate festhält. (Nach: qdv, q. 5, a. 2 ad 6.) Da die Privation selbst kein Sein besitzt, sondern Sein raubt bzw. mindert, folgt, dass die Materie zur Privation neigt. scg iii,20. Vgl.: Aristoteles, Phys. iii,1; 201a. Nach: scg iii,20.

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die Materie noch nicht vollends bestimmt und so zur Perfektion und Vollendung offen ist und zur Aktualisierung strebt. Die Form selbst ist nicht privatiert: Vielmehr ist die Privation so zu verstehen, dass eine entgegengesetzte Potenz eine Potenz daran hindert, in die Aktualität der Form überzugehen.312 Wenn also eine Materie die Potentialität zum Feuer hat, so ist es die Form, welche es Feuer sein lässt. An dieser Form kann nun aber in diesem Sinne eine Privation auftreten, indem zwar nicht die Form dieses Feuers – also z.B. eine bestimmte Temperatur, die es benötigt, um Feuer entstehen zu lassen – privatiert wird, sondern dass eine entgegengesetzte Form bzw. die entsprechende Form nur unvollständig realisiert wird – also eine zu tiefe Temperatur, sodass die Form mangelhaft ist, weswegen aus der potentiell zu Feuer fähigen Materie kein Feuer werden kann. Ebenso wirkt sich die Realisierung des Feuers privativ auf andere Potentialitäten aus: So vernichtet das Feuer die Luft um sich herum, welche es zum Brennen benötigt. Thomas von Aquin nimmt eine Unterscheidung unterschiedlicher Stufen der Gutheit vor, indem er aufweist, dass einige Substanzen aus Form und Aktualität zusammengesetzt sind, andere dagegen aus Materie und Form, wobei Letztere auf einer niedrigeren Stufe anzusiedeln sind als Erstere.313 Die aus Materie und Form zusammengesetzten Substanzen ihrerseits unterscheiden sich wiederum hinsichtlich ihres Grades an Aktualität und Potentialität. Dieser unterschiedliche Grad an Sein korreliert auch mit einem unterschiedlichen Grad an Gutheit, wobei Thomas von Aquin festhält, dass das Gute als umfassender anzusehen ist als das Seiende:314 Mit Rückgriff auf Dionysius Areopagita315 betont er, dass sich das Gute nicht nur auf den Bereich des Existierenden, 312

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Vgl.: scg iii,12. Es geht im Zusammenhang von Form und Sein also darum, dass Potenz in Aktualität übergeht und so eine Materie Form erhält, die Form selbst aber hat kein Sein, vielmehr ist das Sein aus Form und Materie zusammengesetzt. (Nach: scg iii,69.) „Matter as Aquinas conceives it is completely passive, the fundamental patient, the paradigm of what is always and essentially movable and never itself a mover of anything. And, as we’ve seen, his explanation of generation/corruption is in terms of matter’s potentialities being actualized in the possession/privation of various forms.“ (Kretzmann (2000,1), S. 132.) Vgl.: scg iii,2. Nach: scg iii,20. Dionysius Areopagita, De div. nom. iv § 1.693 B; § 3.697 A. Zu Pseudo-Dionysius, welcher das Böse im vierten Teil über die göttlichen Namen behandelt, siehe z.B.: Schäfer, C. (2002), S. 380–472, davon zum Bösen insbes. S. 419–469, weiter auch Jones, J. (1980), S. 73–88. Jones streicht dabei hervor, dass das Problem des Bösen das zentrale Problem für Pseudo-Dionysius darstellt und ihn dieses mehr als alles andere beschäftigt. (Nach: Ebd., fn 5 S. 17.)

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sondern auch auf jenen des Nichtexistierenden erstreckt. Dies ist in Thomas’ Worten wie folgt zu verstehen: „Denn auch das Nichtexistierende, nämlich die Materie, insofern man sie als der Privation unterworfen versteht, begehrt das Gute, nämlich das Sein. Daher ist es offenbar, dass auch sie gut ist: denn nur das Gute strebt nach dem Guten.“316 Nur bei Gott also – und damit im Gegensatz zum Geschaffenen – sind, da er ja auch einzig bzw. einfach (im Sinne von nicht zusammengesetzt) ist, Sein und Gutsein identisch, nur er ist schlechthin gut.317 Die Rangordnung hängt auch mit der unterschiedlichen Stufung von Seelenkräften zusammen: Das Streben der Materie nach Form richtet sich nach der jeweils höchsten Aktualität; zunächst steht die Materie in Potentialität zur belebenden oder vegetativen Pflanzenseele, diese wiederum steht – im strengen Sinne allerdings nicht bei den Pflanzen selbst – in Potentialität zur sinnlich wahrnehmenden oder strebenden Tierseele und diese – jedoch nur beim Menschen – zur vernunftbegabten oder vernünftigen Seele des Menschen, was 316

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scg iii,20; vgl.: „Auch unter den Teilen dieser aus Materie und Form zusammengesetzten Substanz findet sich eine Reihenfolge der Gutheit. Da nämlich die Materie, an sich betrachtet, ein potentiell Seiendes ist, die Form aber dessen Aktualität und die zusammengesetzte Substanz durch die Form aktuell existiert: so ist die Form wohl gut an sich; die zusammengesetzte Substanz (ist gut), insofern sie aktuell Form hat; die Materie aber (ist gut), insofern sie in der Potentialität zur Form (des Guten) steht. Und wenn auch ein jedes Ding gut ist, insofern es ein Seiendes ist, so muss doch die Materie, die nur ein potentiell Seiendes ist, nicht nur potentiell gut sein. Denn ‚seiend‛ wird nur schlechthin zugesprochen, ‚gut‛ aber steht auch in einer Rangfolge: denn es wird etwas nicht nur gut genannt, weil es Ziel ist oder weil es ein Ziel innehat, sondern es wird auch dann gut genannt, wenn es das Ziel noch nicht erreicht hat, solange es nur auf ein Ziel hingeordnet ist. Die Materie kann also deshalb nicht Seiendes schlechthin genannt werden, weil sie potentiell Seiendes ist, worin eine Hinordnung auf das Sein einbegriffen ist: sie kann aber daher eben wegen dieser Hinordnung gut schlechthin genannt werden.“ (scg iii,20.) Wie Plotin (vgl.: Plotin, Enneaden i,8) charakterisiert Thomas die Materie so als Nicht-Sein, doch ist sie nicht böse, sondern gut. Jedoch ist sie der Ort, an dem Privation aufgrund der Unbestimmtheit auftreten kann. Thomas von Aquin vermischt somit aristotelische und neuplatonische Gedanken, wobei bei ihm die aristotelische Unterscheidung von Akt und Potenz jedoch viel prägender ist für seine Überlegungen als die neuplatonische Materiebestimmung. Nach: scg iii,20. In den Aktivitäten Gottes kommt es denn auch nicht per accidens zu einem Schaden, sowohl Gott als auch seine Taten sind vollkommen. Für die Zweitursachen dagegen gilt dies nicht: „Also kommt es bei dem, was von Gott bewirkt und gelenkt wird, wegen eines Mangels der Zweitursachen vor, dass sich ein Mangel [defectum, v.v.] und etwas Schlechtes [malum, v.v.] findet, obwohl in Gott selbst kein Mangel ist.“ (scg iii,71.) Defekte werden somit nicht vom vollkommenen Gott, sondern von den für Defekte anfälligen Zweitursachen per accidens verursacht.

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für Thomas bedeutet, dass Pflanzen um der Tiere und Tiere um des Menschen willen da sind – der Mensch erweist sich somit als Ziel der Zeugungskette.318 Nach diesen Ausführungen zur Herkunft des Bösen insbesondere in Form der Potenz wenden wir uns nochmals der menschlichen Willensfreiheit zu. 4.3.3.5

Die Wahlfreiheit des Willens, der freie Wille und das malum morale Mit der Wahlfreiheit, electio, sowie dem freien Willen, liberum arbitrium, befasst sich Thomas von Aquin in Quaestio 6 von De malo, wobei der Hauptaspekt des genannten Artikels auf der electio liegt und der zweitgenannte Begriff insbesondere in den Antworten des Thomas zur gegebenen Fragestellung des Artikels vermieden wird, wie Schäfer festhält.319 Der Wille ist selbstursächlich resp. er setzt sich selbst in Bewegung. Doch ist auch diese Bewegung letztlich auf Gott rückführbar, denn der Wille ist „nach dem Willen Gottes in Erstbewegung gesetzt, bewegt sich aber eigenständig und seiner eigenen Verfasstheit gemäß nach eigener Überlegung und eigenem Willensentschluss.“320 318

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Nach: scg iii,22. Eine Zusammenstellung einiger Textstellen im Werk des Thomas von Aquin zur Sukzessivbeseelung findet sich z.B. bei: Vonarburg, M. (2012), S. 62f. Im erwähnten Buch findet sich auch die Seelenlehre des Thomas näher ausgeführt. Dabei ist insbesondere folgende Stelle für den hier erwähnten Kontext hervorzuheben: „Da mit dem Enstehen des einen immer das Vergehen [corruptio, v.v.] des andern gegeben ist, muss man sagen, dass sowohl beim Menschen wie auch bei den andern Sinnenwesen mit dem Kommen der vollkommeneren Form das Vergehen der früheren gegeben ist, derart jedoch, dass die nachfolgende Form all das besitzt, was auch die frühere hatte, und darüber hinaus noch mehr. […] In diesem Sinne muss man also sagen, die Vernunftseele [anima intellectiva, v.v.], die zugleich Sinnen- [anima sensitiva, v.v.] und Wachstumsseele [anima nutritiva, v.v.] ist, werde von Gott als Abschluss der menschlichen Zeugung geschaffen, wobei die früheren Formen zugrunde gehen [corruptis formis praeexistentibus, v.v.].“ (STh i, q. 118, a. 2 ad 2.) Zu den drei Seelenkräften der vegetativen, sensitiven und intellektuellen Seele s.: Aristoteles, De anima, ii,4; 416a-II,7; 431b. Nach: Schäfer, C. (2013), S. 122; vgl.: Westberg (1994), S. 89f. Zur Thematik der Wahlfreiheit und des Willens bei Thomas von Aquin unter dem Aspekt des Umgangs mit Aristoteles’ Nikomachischer Ethik s. beispielsweise: Perkams (2013), wobei dieser auch unterschiedliche in der Debatte vertretene Thesen vorstellt, sowie Kent (2013). Hier wird in Bezug auf qdm q. 6 festgehalten, dass Thomas die Meinung vertritt, der menschliche Wille werde nicht notwendigerweise zu wählen bewegt, sondern bewege sich (wie auch die anderen Kräfte, welche zur Ausführung einer Handlung vonnöten sind) vielmehr selbst. (Nach: Ebd., S. 99.) Schäfer, C. (2013), S. 145f. Schäfer zeigt dabei auf, dass Thomas’ Argumentation diesbezüglich ähnlich verläuft wie später bei Descartes, indem diese erste Ursache – Gott – beschrieben wird als eine, „in der selber nicht nur gleichviel, sondern mehr enthalten ist als

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Hinsichtlich einer sittlichen Handlung gibt es gemäß Thomas von Aquin vier tätige Prinzipien, wovon der Wille aber nur eines ist: Das erste Prinzip ist die ausführende Kraft, nämlich die Bewegkraft, durch die die Glieder bewegt werden, den Befehl des Willens auszuführen. Daher wird diese Kraft vom Willen bewegt, der das zweite Prinzip ist. Der Wille aber wird vom Urteil der erkennenden Kraft bewegt, die darüber urteilt, dass der konkrete Sachverhalt gut oder böse sei; dies sind die Gegenstände des Willens: das eine bewegt (ihn) dazu, es zu verfolgen, das andere, zu fliehen. Die Erkenntniskraft selbst aber wird vom erkannten Ding bewegt. Das erste tätige Prinzip bei den sittlichen Tätigkeiten ist also das erkannte Ding; das zweite die Erkenntniskraft; das dritte der Wille; das vierte die Bewegkraft, die den Befehl der Vernunft ausführt.321 Entscheidend ist, dass ein Mangel hinsichtlich dieser Prinzipienkette, welcher zur Unsittlichkeit der Handlung führt, nur im Willen auftreten kann.322 Der Grund für sittliches bzw. moralisches Böses ist nach Thomas von Aquin damit im Willen zu verorten. Der Wille ist hinsichtlich des moralischen Bösen folglich als alleiniger Ursprung des Bösen auszumachen.323 Die erkennende Kraft

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im Verursachten.“ (Ebd., S. 144.) Vgl. hierzu: Descartes, Meditationen iii, 40,21: „Aber es ist durch das Natürliche Licht offenkundig, dass in einer bewirkenden und hinreichenden Ursache zumindest ebensoviel enthalten sein muss wie in der Wirkung ebenderselben Ursache. […] Daraus aber folgt, dass weder aus dem Nichts irgendetwas entstehen kann, noch dass das, was vollkommener ist, das heißt: was mehr Realität in sich enthält, durch etwas entstehen kann, das weniger Realität in sich enthält.“ Und weiter: „Solange ich also die Schärfe des Geistes auf mich selbst ausrichte, sehe ich nicht nur ein, dass ich ein unvollständiges und von einem anderen abhängiges Ding bin, und zwar ein Ding, das unbegrenzt zu immer Größerem und noch Größerem, bzw. Besserem zu gelangen versucht; sondern ich sehe zugleich auch ein, dass der, von dem ich abhänge, alles dies Größere nicht nur unbegrenzt und der Möglichkeit nach, sondern tatsächlich unendlich in sich hat, und demnach Gott ist.“ (Ebd., 51,15.) scg iii,10. So hält Thomas fest: „Übrig bleibt also, dass sich der sittliche Fehler allein in der Tätigkeit des Willens zuerst und hauptsächlich findet: und vernünftigerweise heißt eine Tätigkeit auch darum sittlich, weil sie willentlich ist. In der Tätigkeit des Willens also sind Wurzeln und Ursprung der sittlichen Verfehlung [der Sünde] zu suchen.“ (scg iii,10.) Dobbs-Weinstein betont, dass auch die Unterscheidung von Gut und Böse einzig im Willen, dessen eigentliches Objekt das Gute ist, zu finden sei. (Nach: Dobbs-Weinstein (1992), S. 230.) „Consequently, only an intellectual being can choose evil; that is, only an active principle of the natural universe can choose to act contrary to nature.“ (Ebd., S. 231.) Auch Anselm von Canterbury hatte sich mit den beiden Aspekten Wille und Böses befasst: Der

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nämlich erkennt ein Ding und innerhalb dieses Prozesses ergibt sich die Beurteilung dieses erkannten Dinges als gut oder böse. Der Wille ist es, der eine Entscheidung hinsichtlich dieses erkannten und als gut oder böse bewerteten Dinges fällt und die ausführende Kraft – und damit die Handlung – durch einen Befehl in Bewegung setzt. Der Aquinate betont, dass die Sittlichkeit sich einzig aus der Willentlichkeit ergibt: Ist nämlich die Willenstätigkeit gut, so sei es auch die Handlung,324 sei diese äußere Tätigkeit dagegen mangelhaft durch

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Wille – sowohl der gute als auch der böse – ist als Wille ein Etwas: Der gute Wille ist nämlich in gleichem Maße gut, wie der böse Wille böse ist. Wäre nun aber der böse Wille mit dem Bösen identisch, so träfe ihn auch die Nichtigkeit des Bösen, was wiederum für den guten Willen – da Anselm für beide Willen denselben ontologischen Status behauptet – bedeutete, dass die Nichtigkeit auch von diesem gälte. Es bleibt für Anselm also nur der Schluss zulässig, dass der böse Wille nicht selbst das Böse ist, von dessen Nichtigkeit er zwar bestimmt ist, die er aber nicht selbst ist. Der Böse Wille ist nicht selbst das Böse, welches den Menschen böse macht, er ist nur von diesem betroffen, bestimmt und infolgedessen gemindert. (Nach: Anselm, De casu diaboli viii.) „Anselm denkt den bösen Willen als Abfall vom Guten. Damit bringt er sowohl den zeitlich wie ontologisch sekundären Charakter des Bösen zum Ausdruck. Der ursprüngliche Wille will das, was er soll. Was er soll, ist die Hinwendung zu seinem Ursprung, zu seinem Geber (dator).“ (Schönberger (1998), S. 32.) Schon Augustinus machte sich Gedanken dazu, wie ein Wille böse werden und wie es sein kann, dass von zwei Menschen, welche mit absolut denselben Fähigkeiten und Erkenntnisvermögen ausgestattet sind, in derselben Situation einer sündig wird, der andere aber im Guten verharrt. (Nach: Augustinus, De civ. Dei xii,6.) Da Gutes nicht Böses wirken, also nicht streng genommen Ursache des Bösen sein könne, gelangte Augustinus zum Schluss, dass der böse Wille nicht von der Natur herrührt, sondern dass die Tatsache, dass diese Natur aus dem Nichts erschaffen wurde, als Ursache anzusehen ist. (Nach: Ebd.) Dies bedeutet, dass eine Verbindung vom Nichts zum Phänomen des Bösen gezogen wird; das Böse erscheint so in gewisser Weise als „Rückfall“ in dieses Nichts. Mit Schäfer ist kritisch anzumerken, dass das Nichts nicht in jeder Hinsicht immer schon Böses verursacht, dass es also besser wäre, in diesem Zusammenhang über das Nichts hinaus von Nichtigkeit zu sprechen: Das Nichtige wird dem wahren Ziel vorgezogen, wodurch eine Sinnleere entsteht. (Nach: Schäfer, C. (2002), S. 343.) Zum Verhältnis von Sünde und freiem Willen s. z.B. auch: Sanford (2013). Eine gute Handlung wird dabei wie folgt bestimmt: Stimmt die Handlung mit der Natur des Handelnden überein, so ist sie gut, andernfalls ist sie schlecht. (Nach: qdm q. 2 a. 4 resp.) Eigentümlich für den Menschen qua Mensch ist gemäß Thomas die Vernunft, was bedeutet, dass die Qualität einer menschlichen Handlung von dieser her zu beurteilen ist: „Daher wird das Gute und das Schlechte bei den menschlichen Handlungen betrachtet, insofern die Handlung mit der entweder auf natürliche Weise oder durch Unterricht oder durch Eingebung vom göttlichen Gesetz unterrichteten Vernunft übereinstimmt.“ (qdm q. 2, a. 4 resp.) Handlungen dagegen, welche keine Verbindung zur Vernunft ausweisen (z.B. das Kratzen des Kinns oder des Bartes) sind daher weder gut noch böse, sondern unbestimmt. (Nach: qdm q. 2, a. 4 resp.) Vgl. hierzu auch STh i–ii, q. 1., a. 1 resp., wo Thomas

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einen nicht auf den Willen zurückführbaren Mangel, so werde die Tätigkeit durch diesen Mangel nicht sittlich schlecht. Wenn also der Wille befiehlt, zu gehen, man aber ein längeres und ein kürzeres Bein hat und daher hinkt, so ist dieses Hinken nicht als sittliches Böses zu beurteilen, da es nicht willentlich, sondern im Bereich des physischen Übels anzusiedeln ist.325 Und wenn die Erkenntniskraft aus einem Mangel an Wissen heraus die Beurteilung des erkannten Dinges als gut oder böse verfehlt und so ein Ding aus Unwissenheit heraus fälschlicherweise als etwas Gutes beurteilt, obwohl es in Tat und Wahrheit etwas Böses ist, so sei auch dieser Mangel entschuldigend bzw. mildernd und der daraus resultierende Fehler nicht eigentlich willentlich zu nennen.326 Nur im tätigen Prinzip des Willens kann eine Tätigkeit sittlich bzw. unsittlich sein, da sie nur hier willentlich ist.327 Allerdings ergibt sich folgendes Problem: Eigentlich strebt ja alles zum Guten, sodass eigentlich auch alles um eines (vermeintlich) Guten willen getätigt wird.328 Also würde jeglichem Fehlurteil

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eigentlich menschliche Handlungen (actiones humanae), welche von der Vernunft geleitet sind und über die er also voll Herr ist, von solchen, welche ihm einfach als Mensch zukommen (hominis actiones), die aber nicht der Vernunft unterstehen und über die er somit nicht im vollen Sinne Herr ist, sondern sie vielmehr automatisch vollzieht (wie das Kratzen am Bart), unterscheidet. Eine schlechte Handlung kann nicht gut werden, eine gute dagegen kann schlecht werden (wenn z.B. die Absicht hinter dem Almosen-Geben, welches an sich eine gute Handlung darstellt, die Gier nach Anerkennung und Selbstdarstellung ist, so ist sie nicht mehr gut). (Nach: qdm q. 2, a. 4 ad 2.) Nach: scg iii,10. Nach: scg iii,10. Nach: scg iii,10. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass auch der Wille selbst seiner Natur nach gut ist, ebenso wie auch seine natürliche Tätigkeit. (Nach: qdm q. 2, a. 3 ad 2.) „Aber wenn wir vom sittlich Guten sprechen, so ist der Wille an sich betrachtet weder gut noch schlecht, sondern befindet sich in Möglichkeit [potentia, v.v.] zum Guten oder Schlechten.“ (qdm q. 2, a. 3 ad 2.) Wenn es also um den sittlichen Bereich geht, ist der Wille weder gut noch böse, sondern er kann sich in beide Richtungen wenden, je nachdem, was konkret gewählt wird. Seiner Natur nach ist er folglich gut, sittlich dagegen ist er weder gut noch böse vorveranlagt, sondern beinhaltet die Möglichkeit zu beidem. Diese Veranlagung verändert sich im Falle eines Habitus, indem eine bestimmte Handlungsweise antrainiert und zur zweiten Natur wird, wodurch der Wille in diesem Moment nicht mehr wirklich frei zur Möglichkeit zum Guten und zum Bösen ist, wenngleich dieser Habitus wieder abgewöhnt werden kann durch bewusste Entscheidung. Die Freiheit des Willens bleibt demnach trotzdem weiterhin bestehen, indem dem Habitus je neu zugestimmt wird oder eben nicht. Und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, so wäre dennoch das Zustandekommen dieses Habitus und die damit einhergehende Aufgabe der Willensfreiheit willentlich, da ihr durch immer wieder erfolgende Wiederholung willentlich zugestimmt wurde, bis der Habitus als zweite Natur da war.

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ein Mangel in der Erkenntniskraft zugrunde liegen, der ja bekanntlich gerade entschuldigend wirkt und die daraus resultierende Tätigkeit dadurch nicht unsittlich wird. Dass der Wille willentlich ein Böses um seiner Bosheit willen wählt, obwohl er diese Bosheit in der Erkenntniskraft erkannt hat, ist im thomasischen System eigentlich unmöglich. Es kommt nur im Rahmen des simpliciter malum zum Zuge, wo die gewählte Handlung unabhängig von Motiven, Umständen, etc. böse und sittlich schlecht ist. Doch ist hierfür gerade nicht der tätige Wille verantwortlich, sondern die Art des malum simpliciter selbst: Es raubt einem an sich Guten diese Gutheit, indem es in gestörter Ordnung gewählt wird. Ob der Ehebrecher in diesem Moment weiß, dass das Gut – der sinnliche Genuss –, das er erstrebt, eigentlich etwas Böses und nicht etwas Gutes ist, ist für die Unsittlichkeit der Handlung unerheblich. Selbst wenn sie aus einem Mangel in der Erkenntniskraft resultiert, ist die Tat des Ehebruchs sittlich schlecht. Nur, wenn eine Person weiß, dass sie etwas Schlechtes als etwas Schlechtes wählt, weil sie sich daraus etwas Gutes erhofft (sie wählt also den Ehebruch im Wissen darum, dass dies etwas Schlechtes ist, nur weil sie sich dadurch unmittelbar das Gut des sinnlichen Genusses verschaffen will), ist diese Wahl willentlich und auf einen Fehler dieses Willens zurückzuführen. Doch wenn der Wille Kraft der tätigen Erkenntnis bereits weiß, dass das erkannte Ding schlecht ist, so dürfte er es eigentlich gar nicht wählen wollen, da er so nach etwas offensichtlich Schlechtem und nicht mehr nach einem vermeintlichen Gut streben würde, doch ist das Streben nach dem Schlechten als Schlechtes unmöglich. Es müsste hier also eigentlich genauso von einem Mangel im Willen ausgegangen werden, wie es hinsichtlich eines vermeintlichen Gutes von einem Mangel in der Erkenntniskraft der Fall ist. Ein solcher mangelhafter Wille aber müsste doch genauso mildernd oder entschuldigend wirken, wie es hinsichtlich der Erkenntniskraft, welcher es an Wissen mangelt, veranschlagt wird. Als Beispiel hierfür kann auf Menschen verwiesen werden, welche Lust daran finden, andere Menschen umzubringen:329 Zwar wissen sie, dass es schlecht ist, jemanden umzubringen, doch sie streben danach, durch dieses Übel das Gut der Befriedigung ihrer (kranken) Lust zu erreichen. In einem solchen Fall kann nur davon die Rede sein, dass ein solcher Wille krank ist, es muss einen Fehler in diesem Willen geben, dass er ein (eigensüchtiges und andere schädigendes) Gut höher bewertet als es für ein wahrhaftes Übel der Fall sein dürfte. Wie sehr hier im Rahmen von einer echten Krankheit und psychischen Störung von Willentlichkeit gesprochen werden kann, bleibt dahingestellt. Es wird vielmehr ersichtlich, dass sittliches Übel zu kurz greift, 329

Es muss darauf verwiesen werden, dass das hier gewählte Beispiel als Mord bereits in den thomasischen Bereich des simpliciter malum fällt. Ob es also willentlich ist oder nicht, ist für die Beurteilung als böse unerheblich.

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wird es alleine in den Willen verlegt, ohne zu bedenken, dass auch dieser mangelhaft sein kann. Ein sittliches Übel ist auch dann noch übel, wenn es nicht eigentlich willentlich begangen wird – doch wird gerade dieser Umstand im thomasischen System nur vom Bereich des malum simpliciter abgedeckt. Außer es würde veranschlagt, dass jedes sittliche Übel ein malum simpliciter ist, dann wiederum würde aber Thomas’ Notwendigkeit der Verortung der Sittlichkeit in der Willentlichkeit und damit im Willen allein überflüssig. Thomas selbst erwähnt durchaus auch einen Mangel im Willen, doch betont er, dass dieser selbst willentlich sein müsse.330 Wenn aber eine Krankheit bzw. eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, fragt sich, in wieweit dieser Willensmangel willentlich genannt werden kann. Thomas begründet seine Ansicht damit, dass, wäre ein Mangel im Willen natürlich, dieser Wille immer fehlgehen müsste.331 Doch muss mit den heutigen Erkenntnissen klar sein, dass ein Psychopath durchaus auch zu normalen Willenshandlungen fähig ist, dieser Mangel bzw. diese Krankheit sich also durchaus nur auf bestimmte Dinge und auch hinsichtlich dieser Dinge nicht permanent in jeder Situation auswirken kann. So muss ein Massenmörder nicht in jeder sittlich relevanten Situation das falsche Willensurteil fällen; und er kann durchaus zwischen einzelnen Morden eine gewisse Zeitspanne vergehen lassen ohne zu morden, um dann irgendwann doch erneut zu morden. Thomas’ Begründung, dass „der Mangel, der im Willen vorweg besteht, kein natürlicher sein kann, damit nicht folgt, der Wille gehe in jeder beliebigen Tätigkeit fehl“332, muss damit falsch sein. Bliebe die Argumentation an dieser Stelle stehen, müsste sie fehlgehen und abgelehnt werden, da sie zu kurz greift. Doch differenziert Thomas von Aquin weiter: Wiederum, da die Vernunft viele Güter und viele Ziele erkennen kann, ein jedes (Seiende) aber sein eigenes Ziel hat: so wird auch der Wille nicht jedes beliebige Gute als Ziel und erstes Bewegungsprinzip haben, sondern ein jeweils bestimmtes Gutes. Wenn also der Wille, bewegt von der Erkenntnis der Vernunft, die ihm das ihm eigene Gute vorstellt, zur Aktivität strebt, so folgt die rechte Tätigkeit [Handlung]. Wenn sich aber der Wille zu einer Tätigkeit durch die (bloße) Erkenntnis der sinnlichen Erkenntniskraft oder der Vernunft, die ein anderes Gutes, das von dem ihm eigenen Guten verschieden ist, vorstellt, vorschnell verleiten lässt, so folgt in der Tätigkeit des Willens eine sittliche Verfehlung.333 330 331 332 333

Nach: scg iii,10. Nach: scg iii,10. scg iii,10. scg iii.10.

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Der Wille kann sich also vorschnell verleiten lassen zu einer falschen Tätigkeit. Ein solcher „Mangel der Hinordnung auf die Vernunft und auf das ihm [= Wille, v.v.] eigene Ziel“334 geht gemäß Thomas einer Verfehlung des Willens voraus, was beispielsweise nach einer plötzlichen Sinneswahrnehmung darin resultiert, dass der Wille „nach einem sinnlich lustvollen Guten strebt.“335 Diese Erklärung befriedigt die Einwände durchaus besser, da damit auch geklärt werden kann, weswegen ein Triebtäter nicht in jeder Situation dem Trieb folgt: In manchen Fällen wehrt er sich gegen den Mangel in sich selbst, in manchen aber gibt er vorschnell dem sinnlichen Reiz nach und lässt sich verleiten zu etwas, das er ablehnen könnte, wenn er sich genügend Zeit ließe, das Urteil abzuwägen und dem Reiz nicht vorschnell nachzugeben.336 Thomas von Aquin qualifiziert den beschriebenen Umstand der mangelnden Hinordnung auf die Vernunft oder das dem Willen eigene Ziel wiederum als willentlich und erklärt nochmals, weswegen es erst durch den Willen zum sittlichen Bösen in der Handlung kommt: Dieser Mangel an Hinordnung aber ist willentlich [voluntarius, v.v.]: denn in der Macht des Willens stehen Wollen und Nichtwollen. Ebenso steht in seiner Macht, ob die Vernunft aktuell überlegt oder von der Überlegung ablässt oder ob sie dies bzw. jenes überlegt. Trotzdem ist dieser Mangel nicht ein sittlich Böses: ob die Vernunft nämlich nichts überlegte oder welches Gute auch immer bedächte, ist noch nicht Verfehlung, bis

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scg iii,10. scg iii,10. Doch bleibt die Frage nach Trieben und Veranlagungen in den Hirnstrukturen oder einer krankhaften Persönlichkeit für moderne Denker natürlich ein gravierendes Problem, welches sich in diesem Problembewusstsein dem mittelalterlichen Denken wohl noch nicht stellte bzw. stellen konnte. Daher müssten natürlich zur Ergründung dieses Bereichs auch Untersuchungen zu Neuropsychologie, etc. herangezogen werden und Ansätze aus Biologie, Neurologie, Neuropsychologie und Psychologie, welche sich mit der Thematik des freien Willens – und der damit verbundenen Frage nach Gut und Böse – auseinandersetzen. Da es sich hier allerdings um eine theologische Arbeit handelt, wird dieser interessante Bereich außen vor gelassen. Es sei aber auf einige einführende Literatur verwiesen, welche teils durchaus auch die Sichtweise von Theologie bzw. Ethik und Philosophie zu Worte kommen lässt: Fink/Rosenzweig (2006); Seidel (2009); Reichertz/Zaboura (2006); Schwarz (2012), davon insbes. S. 282–285; Gazzaniga (2012); Walter (1999). Zum freien Willen siehe weiter: Waddell-Ekstrom (2000); Dilham (1999); Balaguer (2014); Timpe (2013); Campbell (2011); Ders./O’Rourke/Shier (2004); Kane (2002); Ders. (1996); Berofski (2012); Honderich (2002); Trinkaus Zagzebski (2002); Fischer/Kane/Pereboom/Vargas (2007); Rescher (2009); Pereboom (2014); Russell/Deery (2013); Mawson (2011).

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der Wille nach dem unrechten Ziel strebt. Das aber ist bereits eine Aktualisierung des Willens.337 Thomas gelangt zum Schluss, dass auch im Bereich des sittlichen Übels genauso wie im Falle des natürlichen Übels das Üble nicht direkt vom Guten verursacht wird, sondern nur akzidentell (per accidens). Wenden wir uns nach diesen Ausführungen zum Willen nochmals dem Erfassungsvermögen zu. In Quaestio 16 hält Thomas von Aquin fest, dass es auf zweifache Weise im Streben des Menschen zu Bösem kommen kann: „Das sinnliche Erkennen nämlich bedarf der Anleitung durch die Vernunft, die Vernunfterkenntnis ihrerseits aber der durch die göttliche Weisheit oder das göttliche Gesetz.“338 Die erste Weise ergibt sich also daraus, dass das Erfassen nicht durch die Vernunft geleitet wird und sich das Verhalten so gegen die Vernunft richtet. Die Vernunft ihrerseits hat sich nach den göttlichen Gesetzen zu richten, sodass die zweite Weise in der Übertretung der göttlichen Gebote besteht. Das sittlich Böse im Willen ist dabei wie folgt zu verstehen: „Und daher bedeutet das Böse, insofern es Artunterschied in der Gattung des Sittlichen ist, nicht etwas, das seinem Wesen nach böse wäre: sondern etwas, das an sich gut ist, böse aber für den Menschen, insofern es die Vernunftordnung verneint, die das Gute des Menschen ausmacht.“339 So ist ein sinnlicher Genuss selbst etwas Angenehmes und an sich eigentlich auch etwas Gutes, doch wenn er der Vernunft und der göttlichen Weisheit entgegensteht und widerspricht, so ist er für den Menschen nicht mehr gut, sondern böse: Wenn also ein Mensch maßlos ist hinsichtlich eines sinnlichen Genusses, so ist dieser sinnliche Genuss, der an sich etwas Gutes ist, böse zu nennen. Der Genuss einer Schokolade ist etwas Gutes, wird er aber übermäßig, ist er ein malum. Der Wille verfolgt hier ein falsches Ziel bzw. ein richtiges Ziel im falschen Maß. Hierin zeigt sich also das, was mit Blick auf die Laster bereits ausgeführt wurde. Auch in seinem Kommentar zum Johannesevangelium hält Thomas von Aquin fest, dass es erst der Wille (bzw. der freie Wille) ist, der Sünde ermöglicht und folglich als Ursache des Bösen anzusehen ist.340 Ursprung der Sünde und damit des moralischen Bösen muss der freie Wille sein, die Natur eines Dinges nämlich kann keineswegs als deren Ursprung angesehen werden: Was der Natur gemäß geschieht, ist nicht Sünde, da die Natur an sich gut ist.341 337 338 339 340 341

scg iii,10. qdm q. 16, a. 2 resp. scg iii,9. Nach: Johanneskommentar, c. viii, l. vi, i, 1240. Zum Zusammenhang von freiem Willen und Ursprung des Bösen s. vertiefend z.B.: Renick (2008), S. 41–60. Vgl.: Johanneskommentar, c. viii, l. vi, i, 1246.

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Angesichts der Rolle, welche der Wille hinsichtlich des Zustandekommens des (moralischen) Bösen spielt, muss auch der Frage nach der Allmacht Gottes nachgegangen werden, wobei es gleich vorweg festzuhalten gilt, dass die Theodizee-Thematik in De malo „eine eher beigeordnete, wo nicht gänzlich untergeordnete Rolle spielt“342. Es geht um das Verhältnis von Erst- und Zweitursache.343 Der Wille ist lediglich die – wenn auch unmittelbare – Zweitursache, Gott dagegen ist als – mittelbare – Erstursache zu bestimmen.344 Thomas geht es in diesem Zusammenhang um den Aufweis, „dass die Wahlfreiheit des Willens und die Allmacht Gottes auch angesichts des Bösen bei richtiger Differenzierung des Ursachebegriffs zusammengedacht werden können.“345 4.3.3.6 Die Frage nach der Erstursache: Eine Theodizee Mit Blick auf die Frage nach der Erstursache muss auch die Frage nach Thomas’ Umgang mit der bereits bekannten Stelle aus Jes 45 aufgeworfen werden: Wie deutet er die Aussage, dass Gott nicht nur das Gute, sondern auch das Böse schafft? Hierzu ist zunächst zu bedenken, dass der Aquinate hinsichtlich des malum eine zweifache Unterscheidung vornimmt: Zum einen kann es schlechthin böse sein, zum anderen aber in gewisser Hinsicht. Das Übel schlechthin bezeichnet nach Thomas ein Übel, „das gemäß seiner selbst ein Übel ist. Dies besteht darin, dass ein Ding eines besonderen Guts beraubt wird, das für seine Vollkommenheit notwendig ist.“346 Als Beispiel hierfür nennt er Krankheiten. Als Übel in gewisser Hinsicht wird dagegen ein Übel bezeichnet, welches nicht an sich schlecht ist, bzw. ein Übel, welches im Gegensatz zum Übel an sich nicht ein Gut raubt, welches für die Vollkommenheit eines Dinges notwendig ist, sondern ein Gut, welches hinsichtlich der Vollkommenheit eines anderen Dinges als notwendig zu erachten ist.347 Diesen Umstand vergleicht er mit göttlichen Strafen: Die Strafe selbst nämlich stellt nach Thomas kein Übel an sich dar – verfolgt sie doch das Ziel der Gerechtigkeit und der 342 343

344

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Schäfer, C. (2013), S. 111. S. hierzu auch: STh i, q. 105, a. 5 resp. Auch z.B. Stosch hält den Gedanken fest, dass jede Tätigkeit als Zusammenspiel von Erst- und Zweitursache zu verstehen ist. (Stosch (2006), S. 62.) Nach: Schäfer, C. (2013), S. 110f. Wie bei Aristoteles ist dasjenige, was der Erkenntnis nach das Erste ist, der Natur nach das Letzte, dasjenige dagegen, welches der Natur nach das Erste ist, ist für die Erkenntnis das Letzte. Genauso verhält es sich mit Gott als mittelbare (da nicht direkt erkennbare) Erst- und dem Willen als unmittelbare (da direkt erkennbare) Zweitursache. (Vgl.: qdm q. 3, a. 3 resp.) Schäfer, C. (2013), S. 111. qdm q. 1, a. 1 ad 1. Nach: qdm q. 1, a. 1 ad 1.

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Wiederherstellung der Ordnung; sie raubt also kein Gut, ganz im Gegenteil dient sie einem Gut bzw. stellt darüber hinaus selbst ein Gut an sich dar –, sondern nur ein Übel in gewisser Hinsicht, nämlich hinsichtlich des Sünders, der bestraft wird; für diesen stellt die Strafe nämlich sehr wohl ein Übel dar.348 Mit diesem Übel aber wirkt Gott Frieden, indem er es schafft.349 Und hierin sieht Thomas denn auch die Erklärung für die geheimnisvolle Rede in Jes 45,6–7: Das in diesen Versen angesprochene Übel ist analog der Strafe zu verstehen. In anderen Worten ausgedrückt, wird also das Böse, welches Gott schafft, nicht in dem Sinne von Gott als geschaffen angesehen, als es ein malum ist; vielmehr kann hinsichtlich des Bösen nur insofern davon gesprochen werden, dass Gott es schafft bzw. es von Gott geschaffen ist, als es zunächst ein schlechthin Gutes und erst dann und eben nur in gewisser Hinsicht auch ein Übel ist.350 Das von Gott „geschaffene“ Böse ist damit kein malum per se, sondern nur secundum aliquid, also in gewisser Hinsicht für jemanden, nämlich für die von ihm Betroffenen. Auch Thomas widmet sich so der mysteriösen Ansicht des Bösen als von Gott Geschaffenem, deutet dieses Erschaffensein von Gott allerdings gänzlich anders als Maimonides. Das Böse kommt hier nicht als automatisches Beiprodukt im Sinne von Licht und Schatten – und damit unter dem Vorzeichen der Erschaffung aus dem Nichts – in den Blick, sondern es wird selbst unter der Prämisse eines Guten in den Blick genommen. Nach Thomas bezieht sich folglich die Stelle in Jes 45,6–7 nicht auf alles Böse, zumal das malum als ein an sich Übles außen vor gelassen wird und nur das malum als ein Übles in gewisser Hinsicht in die Deutung aufgenommen wird. Nur über dieses Böse wird die göttliche Erschaffung in Jes 45,6–7 ausgesagt. Weiter betont Thomas mit Blick auf diese sowie eine weitere Stelle (Am 3,6), dass das Gute Ursache des Bösen ist und zwar nicht nur als mangelhaftes Gutes, welches eine der beiden Formen der Ursachen des Bösen hinsichtlich des Guten ist, sondern das Übel kann auch von einem nicht mangelhaften Guten akzidentell bzw. unfallartig bewirkt werden; daher auch kann Gott, obwohl er keinen Mangel leiden und deshalb kein mangelhaftes Gut sein kann, nichtsdestotrotz akzidentelle Ursache des Bösen sein.351 Mit Blick auf die Strafe erweist sich die unfallartige 348 349 350 351

Nach: qdm q. 1, a. 1 ad 1. Nach: qdm q. 1, a. 1 ad 1; vgl.: STh i, q. 19, a. 9 resp. Nach: qdm q. 1, a. 1 ad 1. Nach: qdm q. 1, a. 3 ad 10. Maritain etwa, der zuweilen immer wieder Thomas von Aquins STh anführt, hält dagegen unmissverständlich fest, dass Gott auf keinen Fall Ursache des Bösen sein könne, weder direkt noch indirekt. (Nach: Maritain (1963), S. 17f.) Dies mag zwar für das moralische Übel durchaus zutreffen, welches einzig auf den Menschen zurückuführen ist (vgl. z.B.: STh i–ii, q. 79, a. 1 resp. sowie STh i–ii q. 112, a. 3 ad 2.), nicht aber

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Verursachung des Bösen wie folgt: Gott „erstrebt bei der Bestrafung nicht das Übel des Bestraften, sondern er strebt danach, den Dingen die Ordnung seiner Gerechtigkeit einzuprägen. Darauf folgt das Übel des Bestraften“352. Gott schafft also das Böse indirekt im Sinne eines Kollateralschadens, indem er damit etwas Gutes verfolgt, welches mit diesem Üblen zusammenhängt und dieses – für einige in gewisser Hinsicht Üble – automatisch mit sich bringt. Wobei im Zusammenhang mit Gott schwerlich von einem Kollateralschaden gesprochen werden kann, da es nicht unbeabsichtigt zum Übel der Strafe kommt, sondern diese bewusst und beabsichtigt zur Durchsetzung der Gerechtigkeit gewählt

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für das Böse als solches. Diese Ursache per accidens für die anderen Formen des Übels gesteht Maritain denn auch gegen Ende seiner Ausführungen ein. (Nach: Maritain (1963), S. 95.) Überhaupt spricht Maritain bis zu diesem Zeitpunkt beinahe ausschließlich vom moralischen Bösen, ohne die anderen Formen in den Blick zu nehmen. Vielmehr geht er gar so weit, zu behaupten, es sei ja allenthalben bekannt, dass für Thomas von Aquin alles Übel moralisch sei. (Nach: Ebd., S. 48.) Thomas von Aquin führt Jes 45,7 sowie Am 3,6 auch in STh i, q. 49, a. 2 an und folgert in seiner Antwort: „Das Schlechte aber, das in der Verderbnis mancher Dinge besteht, wird auf Gott zurückgeführt als auf die Ursache. Das ist offensichtlich sowohl im Bereich der Naturdinge wie auch im Bereich der willentlichen Handlungen. Es ist schon (Art. 1) gesagt worden, dass eine Ursache dadurch, dass sie in ihrer Kraft eine Form hervorbringt, auf welche Zerstörung [corruptio, v.v.] und Mangel [defectus, v.v.] folgt, in ihrer Kraft diese Zerstörung und diesen Mangel wirkt. Nun ist es offensichtlich, dass die Form, die Gott vor allem in den geschaffenen Dingen beabsichtigt, das Gut der Ordnung des Weltalls ist. Die Ordnung des Weltalls aber erfordert, dass es Dinge gibt, die versagen können und auch zuweilen versagen […]. Und so verursacht Gott dadurch, dass Er in den Dingen das Gut der Ordnung des Weltalls wirkt, folgerichtig und gleichsam beiläufig [quasi per accidens, v.v.] die Zerstörung der Dinge“ (STh i, q. 49, a. 2 resp.). Aus dieser Ordnung folgt weiter, dass Gott Urheber der Strafe, nicht aber der Schuld ist, da die Ordnung der Gerechtigkeit Strafe für Sünde verlangt. (Nach. STh i, q. 49, a. 2 resp.) qdm q. 1, a. 3 ad 10. Das Böse kommt hierbei also insbesondere im Sinne einer Strafe für eine selbst zugezogene Schuld durch moralisches Übel in den Blick. „Gott ist zwar die Letztursache eines Übels, aber immer aufgrund einer vorgängigen menschlichen Schuld, die bestraft werden soll. Von Gott als Verursacher des Übels kann also nur im Blick auf seine Gerechtigkeit in der Vergeltung einer menschlichen Schuld gesprochen werden, nicht aber im Blick auf eine mögliche Schuld Gottes. […] [S]eltsamerweise kommt es Thomas an dieser Stelle nicht in den Sinn, die Frage zu behandeln, die ja Grundlage des gesamten Hiobbuches ist: Wie kann demjenigen Menschen Übles zustoßen, der unschuldig ist?“ (Gross/ Kuschel (1992), S. 82, Hervorhebung im Original.) Allerdings ist dieser Einwand insofern im Rahmen des thomasischen Systems aufzulösen, als es für ihn gerade keinen wirklich unschuldigen Menschen (Christus und Maria ausgenommen) gibt, da alle mindestens die Schuld der Erbsünde tragen und so auch dann strafwürdig sind, wenn sie selbst keine aktuelle Tatsünde begangen haben.

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wird. Der Vergleich hinkt also etwas. Das Böse kommt nicht nur durch seine privative Verbindung zur Materie automatisch als Nebenprodukt in die Schöpfung. Vielmehr will Gott im Erschaffen der gerechten Ordnung auch die Strafe für den Fall, dass dieser Gerechtigkeit zuwidergehandelt wird. Im Konkreten ist aber nicht Gott für das Inkrafttreten der Strafe verantwortlich, sondern die Bestraften selbst sind es, welche die Verantwortung in concreto tragen, indem sie gesündigt und so die gerechte Ordnung gestört haben. Da Ordnung und Gerechtigkeit aber dennoch Recht widerfahren und sie durchgesetzt werden sollen, wird Strafe verhängt. Erst die Sünder also sind es, welche zur Aktualisierung der möglichen Strafe aufrufen. Gott bringt damit nicht das moralisch Böse in die Welt. Vielmehr ist er nur für das der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfende rächende Böse verantwortlich. Jes 45 und Am 3 sprechen gemäß Thomas also nicht vom Übel der Schuld (malum culpae), sondern nur vom Übel der Strafe (malum poenae), sodass Gott nur mit Blick auf dieses Ursache ist,353 aber auch hier nur indirekte Ursache per accidens. Würde nicht gesündigt (malum culpae bzw. malum morale), so würde auch die dem System für Sünde immanente Strafe nicht realisiert. Das Böse wurde nun vornehmlich unter dem Aspekt des Sittlichen und damit verbunden als Schuld und Strafe in den Blick genommen. Dies führt zur Frage nach dem Leiden der Gerechten und der göttlichen Vorsehung. Diese Thematik soll in der Folge dargelegt werden, wobei zunächst die Providenz behandelt und erst anschließend die thomasische Hiob-Interpretation vorgestellt werden wird. 4.3.4 Die göttliche Vorsehung Wie bereits anhand der Auseinandersetzung mit Maimonides ersichtlich wurde, stellt auch die Thematik der göttlichen Vorsehung354 einen jener Bereiche 353 354

Nach: STh i, q. 49, a. 2 ad 1. Die providentia bzw. griech. πρόνοια (pronoia) bezeichnet „die vorausschauende Sorge der Gottheit für die Welt und den Menschen“ (Zierl (2002), S. 374 Sp. 1.). Erstmals begegnet der Begriff bei Herodot. (Nach: Schmidbaur (2003), S. 591.) Der Begriff selbst steht in Verbindung mit νοῦς (nous, sprich: nūs), was so viel wie Geist/Verstand bedeutet. Zu nous siehe z.B.: Buddensiek/Horn (2002). Gemäß Platon geht die Ordnung der Welt auf die pronoia zurück. (Vgl.: Platon, Timaios 29d-30c; der Begriff pronoia begegnet dabei z.B. in Timaios 30c sowie 44c.) Doch insbes. Aristoteles wurde für die weitere Entwicklung der Vorsehungslehre maßgeblich, obwohl er sich selbst nicht eigens mit der Vorsehung befasste. (Vgl.: Nwigwe (1985), S. 36.) Prägend für die Lehre vom Vorherwissen des kontingent künftig Geschehenden sollte der der athenischen Schule des Neuplatonismus angehörende Proklos werden, welcher aufgrund von Gottes Überzeitlichkeit dessen Vorherwissen auch der futura contingentia bei gleichzeitiger Proklamierung der absoluten

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dar, welche von dem Phänomen der Existenz des Bösen betroffen sind bzw. deren Zusammendenken unsere theologischen Vorstellungen herausfordern.355 Es ist daher alles andere als überraschend, dass sich nicht nur der Rambam, sondern auch Thomas von Aquin356 mit diesem Thema beschäftigt. Wie Sentis aufzeigt, fungieren dabei insbesondere Augustinus sowie Dionysius – „les deux auteurs qui, sur ces questions du mal et de la providence, dominent les traditions théologiques d’Occident et d’Orient“357 – als grundlegende theologische Quellen des Aquinaten.358 Die beiden genannten christlichen Theologen der Antike sind beide wesentlich durch den Neuplatonismus beeinflusst – Augustinus durch Plotin und dessen Enneaden, Dionysius dagegen durch Proklos.359

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356

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Kontingenz dieser Dinge vertrat und so Indeterminiertheit und Vorherwissen miteinander verband. (Nach: Schmidbaur (2003), S. 608f.) Von großer Bedeutung ist auch Boëthius’ (zwischen 476 und 480 n.Chr. – 524 n. Chr.) Vorsehungsverständnis. Er entwickelt eine Vorsehungslehre, welche „für das gesamte Mittelalter und darüber hinaus von absolut prägender Bedeutung werden sollte.“ (Ebd., S. 612.) Sie findet sich in seinem „Abschiedswerk“ (Grasmück (1997), S. iii.) De Consolatione Philosophiae, Vom Trost der Philosophie. Insbes. Boëthius’ Unterscheidung der Vorsehung in den Plan und die Ausführung (executio) sollte Thomas von Aquin und die Scholastik insgesamt hinsichtlich der Behandlung der Vorsehung prägen. (Nach: Schmidbauer (2003), S. 618.) Boëthius’ Schrift Vom Trost der Philosophie ist als Dialog mit der personifizierten Philosophie gestaltet. Sie vollbringt die Aufgabe, den Menschen stufenweise zu Gott zu führen – ähnlich, wie wir dies bei Maimonides gesehen hatten. Die Philosophie ist es, welche den Menschen weg von den irdischen, vergänglichen Gütern zurück zu seiner wahren Heimat führt, welche in der Rückkehr zu Gott besteht. (Vgl.: Grasmück (1997), S. xxix.) Der Geist kehrt zu Gott zurück. Es sei die Frage aufgeworfen, inwiefern hier wohl wie auch bei Maimonides die Vereinigung mit dem aktiven Intellekt hinter diesem Konzept steht. Wie bei Maimonides scheint bereits bei Boëthius die Vorstellung einer Verbindung von Intellektstufe und Anfälligkeit für irdische Leiden zumindest anzuklingen. So stellt die Figur der personifizierten Philosophie die Frage: „Und hatte ich dir nicht Waffen zur Verfügung gestellt, die dich mit ihrer unüberwundenen Stärke beschützt hätten, wenn du sie nicht vorher weggeworfen hättest?“ (Boethius, De Consolatione Philosophiae, 1. Buch, S. 17.) Bzw. ist die Vorstellung der vorseherischen Lenkung Gottes mit Geach gesprochen gerade der Ort, an welchem sich die Problematik der Existenz des Bösen aufdrängt. (Nach: Geach (1977), S. 1.) Gemäß Stump handelt es sich bei Thomas’ Ausführungen zur Providenz sowohl aus philosophischer als auch aus theologischer Perspektive um „eine der reizvollsten“ (Stump (1989), S. 7). (Nach: Ebd.) Sentis (1992), S. 23. Nach: Ebd. Nach: Ebd, S. 24. Mit Blick auf Proklos sei verwiesen auf: Chlup (2012), wobei das siebte Kapitel der Behandlung des Bösen und der Theodizee bei Proklos gewidmet ist.

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So hatte – wie Sentis aufweist – bereits Plotin in seinen Enneaden360 in Anlehnung an Aristoteles361 die Ansicht vertreten, dass die Materie das Prinzip des Bösen sei.362 Proklos363– so erläutert Sentis – nimmt eine Nuancierung in Plotins Sicht vor, indem er betont, dass die Materie ihrerseits weder gut noch böse sei, sondern schlichtweg „nécessaire pour l’achèvement de l’univers.“364 Sentis streicht heraus, dass für die christliche Theologie das moralische Übel außerhalb der göttlichen Vorsehung bzw. der „gouvernement providentiel de Dieu“365, der vorseherischen Führung Gottes, anzusiedeln sei, da Sünde sich immer gegen Gott richte.366 Dies interessanterweise im Unterschied zur neuplatonischen Sichtweise: Dort erscheinen gemäß Sentis sowohl das physische als auch das moralische Übel als besondere (oder Einzel-) Defekte, welche aber der universellen Vorsehung unterstellt sind und zur Schönheit des Ganzen beitragen.367 Aufgrund der thomasischen Teleologie, dergemäß Gott nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ziel der Schöpfung darstellt, erscheint die Vorsehung bei Thomas gemäß Schmidbaur als Eigenschaft Gottes.368 Die Providenz geht dabei der Schöpfung voraus, da Gott immer zielgerichtet handelt, sodass die Providenz unabhängig vom Faktum einer Schöpfung in Gottes Intellekt existiert.369 Der Aquinate spricht von einem Plan (ratio) sowie von der Sorge (cura) um die Geschöpfe, wobei es wiederum den (ewigen) Plan der Hinordnung (ratio ordinis), welcher die Begriffe providentia (Vorsehung) und dispositio (Anordnung) umfasst, sowie die (zeitliche) Ausführung dieser Hinordnung 360 361 362

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Vgl.: Plotin, Enneaden, i,8, 3. Vgl.: Aristoteles, Phys. i,9; 192a-II,1; 193a. Allerdings ist dies nicht dualistisch misszuverstehen, als gäbe es eine Kraft des Bösen und eine des Guten: „Mais Plotin comprend la matière à partir d’Aristote. À ses yeux, la matière est sans force, elle est pure passivité, elle est en chaque chose principe d’instabilité, de devenir, d’affaiblissement plus proche du non-étant que de l’étant. Toute réalité corporelle est donc un mélange d’étant et de non-étant, de bien et de mal.“ (Sentis (1992), S. 28.) Die Sicht des Proklos, dass das Wissen um zukünftige Dinge diese keineswegs determiniert, sondern sie vielmehr weiterhin freiwillig geschehen, stellt den Kern der Argumentation der thomasischen Providenzlehre dar. (Nach: Schmiedbaur (2003), S. 609.) Auch Thomas von Aquin betont Gottes Kenntnis der futura contingentia. (Vgl.: STh i, q. 14, a. 13 resp.) Sentis (1992), S. 28. Ebd., S. 35. Nach: Ebd. Nach: Ebd., S. 140. Nach: Schmidbaur (2003), S. 675. Vgl.: STh i, q. 22, a. 1 resp.

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(executio ordinis), welche mit dem Begriff gubernatio (Regierung) ausgedrückt wird, zu unterscheiden gilt.370 Von Anfang an besteht der Plan zur Vollendung und Erlösung der Schöpfung, welche dann zeitlich im Christusgeschehen ausgeführt wird.371 Dies bedeutet, dass die Vorsehung gemäß Thomas von Aquin letztlich in der Hinführung der Schöpfung zu ihrem letzten Ziel, Gott bzw. der visio beatifica, besteht und Schöpfung daher nicht nur als creatio continua zu verstehen ist, sondern dass ihr von Anfang an als Ziel das Moment der perfectio, der Vollendung zukommt.372 Da das ultimative Ziel der Schöpfung Gott selbst ist, sind Schöpfung und Vorsehung von Anfang an dialogisch als Selbstmitteilung Gottes angelegt, sodass der Sohn als das Wort Gottes auch ohne Sünde Mensch geworden wäre.373 „Der ewige Plan der göttlichen Vorsehung ist deshalb von Anfang an Heilsplan, ausgerichtet auf gnadenhafte Selbstoffenbarung und Selbsterschließung an und für das Geschöpf. Wenn dies so ist, dann ist diese gnadenhaft-teilgebende Liebe auch der letzte Grund und die Ursache der Schöpfung.“374 Zwar ist anzumerken, dass Gott aufgrund seines präsentischen Wissens der Sündenfall von Anfang an vor Augen stand und ihm nicht verborgen war, sodass dies nur eine theoretische Überlegung darstellt, welche aber dennoch von hoher (praktischer) Bedeutung ist, da so als Grund und Motiv für die Inkarnation nicht die Sünde des Menschen, also eine „nachträgliche“, Gott gewissermaßen aufgezwungene Entscheidung zur Erreichung seines Ziels der Vollendung, anzusehen ist, sondern die in Gott angelegte liebende Selbstmitteilung seines Wesens, also ein primärer, ausschließlich von Gott kommender und verursachter, in jeder Hinsicht (auch trotz der Sünde) freiwilliger Entschluss. Diese Konsequenzen des thomasischen Systems sind in der Tat nicht zu unterschätzen in ihrer Bedeutung, stellt dies doch auch einen gewichtigen Gegenpunkt zu Anselms Satisfaktionslehre dar: Anselm nämlich sieht als Grund der Inkarnation die Sünde des Menschen an, wenngleich auch hier als Motiv die Liebe375 Gottes dahintersteht. So gibt es bei Anselm Inkarnation letztlich nur aufgrund der Sünde, Thomas dagegen betont, dass Gott 370

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Nach: STh i, q. 22, a. 1 ad 2. Diese ausdifferenzierte Begrifflichkeit konnte Thomas von Boëthius übernehmen. Mit Blick auf Boëthius fällt auf, dass der Mensch immer nur die Ebene der executio bzw. des fatum erkennen kann, welche sich in der Zeit abspielt, der überzeitliche Teil der gubernatio, die providentia im engeren Sinne, dagegen bleibt ihm verborgen. Nach: Schmidbaur (2003), S. 677. Vgl.: Ebd., S. 685. Nach: Ebd., S. 683f. Ebd., S. 684. Vgl. hierzu die nicht publizierte Masterarbeit der Verfasserin: Vonarburg, V. (2011).

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sich in jedem Falle inkarniert hätte, da sein Wesen auf diese liebende Selbstmitteilung seiner selbst in die Schöpfung hinein ausgerichtet ist. Auch zu Augustinus besteht ein Unterschied, denn zwar betont auch dieser, dass Gott in seinem ewigen Ratschluss von Anfang an das Heilsgeschehen vor Augen hatte, um die Menschen von der Sünde zu erlösen, dass aber auch hier bereits der Sündenfall des Menschen vor Augen stand, aufgrund dessen die Inkarnation notwendiger Teil zur Erlangung dieses Heils ist.376 Für Thomas dagegen ist der Grund für die Inkarnation Gottes trinitarisches Wesen selbst. Das Heilswerk in Form der liebenden Selbstmitteilung ist von Anfang an Teil der ratio providentia, auch ohne zeitlichen Sündenfall. Dass die Schöpfung ganz auf Gott als ihr letztes Ziel ausgerichtet ist, hat auch Konsequenzen für die Geschöpfe selbst: Natur ist als Kreatur ganz von einem finis her gedacht, auf den sie hingeordnet ist, weil sie sich ihm ganz verdankt. […] Das Eigene der Kreatur aber ist gerade bestimmt durch ihren Gott-Bezug. Sie ist deshalb in dem Maße ‚bei sich selbst‛, als sie sich (bezüglich der rationalen Kreatur) erkennend und liebend auf Gott hin übersteigt. Sie ist von ihrem geschaffenen Wesen her Selbsttranszendenz auf Gott als ihren Seins- und Bestimmungsgrund.377 Damit besteht ein grundlegender Bezug zwischen Teleologie und Providenz: Weil Gott gut ist, tut er, was für seine Geschöpfe gut ist. Im Umgang mit den Menschen besteht daher Gottes oberstes Ziel, also jenes, das allen anderen vorgeordnet ist, darin, sie wieder zu sich selbst zurückzubringen, sie im Himmel mit sich zu vereinigen. Unter göttlicher Vorsehung wird der Plan verstanden, nach dem Gott, um dieses Ziel zu erreichen, das Leben der Menschen lenkt, ihr Wesen beeinflusst und, was ihnen in ihrem Leben widerfährt, einrichtet. Und unter göttlicher Lenkung wird die jeweilige Ausführung dieses Planes verstanden.378 Diese Sicht ist aber auch von entscheidender Bedeutung für die Frage nach dem Bösen, denn hier öffnet sich ein zentrales Problem: Nach Thomas geht nämlich Gottes Wille immer in Erfüllung379 und Gott lenkt alles zu sich hin380. 376 377 378 379 380

Vgl.: Augustinus, De civ. Dei xii,23. Jorissen (1988), S. 97. Stump (1989), S. 9. Nach: STh i, q. 19, a. 6 resp. Nach: STh i, q. 103, a. 4 resp.

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Die Konsequenz dieser Sichtweise ist weitreichend: „Thomas ist der Überzeugung, dass sich alles, was geschieht, unter der Herrschaft Gottes ereignet; und dass von Gott alles deswegen ausgewählt oder zugelassen wird, weil es zum Besten der Geschöpfe beiträgt; denn er zieht sie damit zu sich selbst zurück.“381 Für das Böse bedeutet dies in letzter Konsequenz, dass es zugelassen wird, da es im Gesamt betrachtet ebenfalls dazu beiträgt, die Geschöpfe zu Gott zurückzuführen. Thomas von Aquin geht davon aus, dass Gottes Allwissenheit wirklich alles umfasst, auch die einzelnen Entscheidungen jedes Einzelnen. Doch ist dies keineswegs gleichbedeutend damit, dass diese Entscheidungen damit im Voraus bereits determiniert – und damit gar nicht mehr frei – wären: Vielmehr gibt es in Gott keine Zeit, er liegt außerhalb der Zeit (hat er sie doch schließlich auch geschaffen), weswegen es bei ihm auch keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft gibt, sondern alles gleichzeitig ist. So liegen unsere künftigen Entscheidungen bei Gott nicht in der Zukunft, sondern sind präsentisch. Die Wahl ist damit nach Thomas von Aquin selbst angesichts des unfehlbaren Vorherwissens Gottes dennoch komplett frei und müsste nicht geschehen, würden wir uns nicht dafür entscheiden; die Rede von den futura contingentia wird damit aufrechterhalten.382 Gott kennt die künftigen Ereignisse nicht deswegen, weil sie notwendig geschehen, und auch aufgrund der Tatsache, dass Gott um das Eintreffen derselben weiß, werden sie nicht determiniert; vielmehr weiß Gott um die futura contingentia, da sie in Gottes Ewigkeit „gleichzeitig“ geschehen, er sie also zur selben Zeit vor Augen hat, wenngleich sie auch nach irdischen, zeitlichen Maßstäben nicht gleichzeitig geschehen und das eine bereits vergangen ist, während das andere noch in der Zukunft liegt.383 Im Falle einer Sünde weiß Gott bereits, dass wir uns für diese 381 382

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Stump (1989), S. 9. Gottes Vorherwissen und seine gleichzeitige Lenkung der Ereignisse selbst angesichts der freien Wahl des Menschen lassen sich mit Geach mit einem Schachspiel bzw. Gott als Schachmeister vergleichen: „There is no question of seeing the future. God does not see the future; he knows it by controlling it. Men are allowed a measure of control over the future; but God, like a chess Grand Master, is bound to win even if men play against him, and can say in advance how he is going to win.“ (Geach (1977), S. xi, Hervorhebung im Original.) Nach: STh i, q. 14, a. 13 resp.; vgl.: STh i, q. 14, a. 9 resp. sowie qdv q. 2, a. 12 resp. Diese Sicht, dass in Gott alles präsentisch ist und er daher auch künftige Dinge mit Sicherheit weiß, ohne sie dadurch zu determinieren, er also Kenntnis der futura contingentia hat, vertrat – nebst Proklos – bereits Boëthius. (Nach: Boethius, De Consolatione Philosophiae, 5. Buch, S. 315.) Boëthius ist es gelungen, menschliche Willensfreiheit, Kontingenz des Zukünftigen und Gottes „Vorherwissen“ oder besser Vorsehung aller künftigen Ereignisse

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entscheiden, doch will er die Sünde nicht, sondern lässt sie lediglich zu.384 Der Aquinate macht unmissverständlich klar, dass Gott das moralische Böse

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widerspruchslos in einem System zu vereinen. Zu Thomas’ Ausführungen vgl. auch:Wippel (1985), S. 215. Mit Blick auf Augustinus ist insbes. auf die Frage nach der Prädestination einzugehen: Gott verdammt Menschen nicht etwa aus einem Willkürakt heraus, sondern aufgrund ihrer Taten, da er präsentisch auch vom künftig Bevorstehenden weiß. (Vgl.: Schmidbauer (2003), S. 661.) Nicht genug betont werden kann, „dass es bei Augustinus keine innerweltlich-futurische Prädestination gibt, sondern nur eine zeitlos-ewige.“ (Ebd., S. 665.) Die Synode von Valence im Jahre 855 bestätigte diese Sichtweise, indem auch sie betonte, dass die Menschen nicht vorverurteilt sind, sondern sich selbst durch ihre Taten, welche Gott bereits kennt, verurteilen, dass Gottes Vorherwissen dieselben also nicht determiniert, sondern sie ganz und gar dem Menschen bzw. der menschlichen Freiheit entstammen, sodass die scheinbar vorgängige Verurteilung aufgrund des göttlichen Vorherwissens dennoch nachträglich zu diesen Taten bzw. um dieser (für den menschlichen Blickwinkel in der Zukunft liegenden) Taten willen erfolgt. (Vgl.: dh 627f.; vgl. hierzu auch die Synode von Quiercy, welche im Jahre 853 formulierte, Gott wolle die Rettung aller Menschen, die Rettung einiger sei dabei ganz göttliches Geschenk, jene dagegen, welche zugrunde gingen, seien selbst für ihr Zugrundegehen – und damit für das Ausbleiben des Heils, welches Gott ja eigentlich für alle Menschen möchte – verantwortlich (Nach: dh 623).) „Damit ist schon früh klar, dass nach kirchlicher Auffassung der Mensch allein die Quelle und Ursache des moralischen Übels ist und somit alle Schuld an der Existenz dieses Übels trägt. Gottes Vorherwissen des Übels ist eben keine Determination Gottes zum Übel. Die Faktizität des Übels hängt an der Faktizität der menschlichen Freiheit.“ (Kuschel (1996), S. 235, Hervorhebung im Original.) Wenn aber in Gott alles gleichzeitig ist und er die futura contingentia weiß, ergibt sich das Problem, dass Gott in der Gleichzeitigkeit in ihm selbst bereits um die für die Menschen in der Zukunft liegenden Gräuel der Nazis wusste. Dennoch ließ er sie zu und ist so in gewisser Weise verantwortlich zu nennen für dieselben, da er sie nicht verhinderte. Es bleibt allerdings darauf hinzuweisen, dass nach Thomas zwar für die Beschaffenheit der materiellen Welt und somit ihrer Anfälligkeit für Korruption von einer (indirekten) Verantwortung Gottes zu sprechen ist, da er diese Korruption als per accidens-Effekt in Kauf nahm, um die materielle Welt und so die Einzeldinge ins Sein zu bringen. Diese Art des Bösen aber dient einem größeren Ganzen. Hinsichtlich des moralischen Bösen ist noch nicht einmal von einer per accidens-Verantwortlichkeit Gottes zu sprechen. (Vgl.: STh i, q. 19, a. 9 resp. sowie McCabe (2010), S. 124f.) Verantwortlich für dieses ist einzig der Mensch. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob das höchste, beste und allmächtige Wesen nicht in der Pflicht steht, solche abgrundtiefen Übel zu verhindern, auch wenn es in keiner Weise für diese verantwortlich ist. Die Verantwortlichkeit besteht darin, es zuzulassen oder zu verhindern. Thomas dagegen meint: „Gott also will weder dass [sic!, v.v.] Übel geschehen, noch will Er, dass Übel nicht geschehen. Aber Er will erlauben, dass Übel geschehen. Und das ist ein Gut.“ (STh i, q. 19, a. 9 ad 3.) Nach: Sentis (1992), S. 51. Die Unterscheidung in Bewirkung und bloße Zulassung bzw., dass Gott die bösen Taten gerade nicht bewirkt, sondern lediglich zulässt, wurde vom Konzil

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weder will noch verursacht – weder direkt noch indirekt.385 In gut christlicher Tradition – und damit unterschieden vom Neuplatonismus – steht für Thomas das moralische Böse außerhalb des „gouvernement providentiel.“386 Gott selbst macht immer das Beste, doch im Hinblick auf das Ganze und nicht, sofern es die einzelnen Teile betrifft.387 Die göttliche Vorsehung hält in der

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von Trient (nach Gross/Kuschel wohl in Auseinandersetzung mit Calvin (nach: Gross/ Kuschel (1992), S. 68.)) lehramtlich bestätigt, indem im Rechtfertigungsdekret von 1557 jene, welche auch die bösen Taten der Bewirkung Gottes zuschreiben, mit dem Anathema zu belegen sind. (Nach: dh 1556.) Auch 1888 wurde das Zulassen der Übel von Seiten Gottes durch Papst Leo xiii. in der Enzyklika Libertas praestantissimum lehramtlich bestätigt: So wird das Übel von Gott zu zwei Zwecken zugelassen, einerseits nämlich, um größere Übel zu verhindern, andererseits aber auch, um höhere Güter nicht zu behindern, wobei auch explizit STh i, q. 19, a. 9 ad 3 im weiteren Verlauf zitiert wird. (Nach: dh 3251.) Hierin besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen Thomas von Aquin und Augustinus: „Der Begriff der ‚Zulassung‛ (permissio) soll diese Differenz von Nichtwollen und doch Vorhandensein des Übels zum Ausdruck bringen. Thomas bejaht Gott als Letztursache auch des Übels, ohne dass Gott zum willentlichen Anstifter des Übels würde. Das Übel ist also nicht von vornherein wie bei Augustin auf ein Gutes hingeordnet, sondern von Gott bestenfalls zugelassen, allenfalls geduldet.“ (Gross/Kuschel (1992), S. 84, Hervorhebung im Original.) Nach: STh i, q. 19, a. 9. Die Initiative liegt ausschließlich beim Geschöpf. (Nach: STh i–ii, q. 79, aa. 1–3.) Doch lässt Gott es zu, um daraus Besseres hervorgehen zu lassen. (Vgl.: STh iii, q. 1, a. 3 ad 3.) Diesen Gedanken hält auch der Katechismus der Katholischen Kirche fest, indem betont wird, dass das moralische Übel, welches ungleich schlimmer als das physische sei, durch den Menschen in die Welt gekommen sei. (Nach: kkk 311.) „Gott ist auf keine Weise, weder direkt noch indirekt, die Ursache des moralischen Übels. Er lässt es jedoch zu, da er die Freiheit seines Geschöpfes achtet, und er weiß auf geheimnisvolle Weise Gutes daraus zu ziehen“ (kkk 311.). Nach: Sentis (1992), S. 140. Nach: Ebd., S. 153. Thomas von Aquin hält denn auch fest, dass Gott durchaus bessere Dinge machen und hinzufügen könnte, was gemäß dem Aquinaten ein besseres Weltall zur Folge hätte. (Nach: STh i, q. 25, a. 6 resp., ad 1 und ad 3.) Doch könnte Gott das, was er geschaffen hat, nicht besser schaffen, d.h. die geschaffenen Dinge könnten ihrer Natur nach nicht besser sein. (Nach: STh i, q. 25, a. 6 resp., ad 1 sowie ad 3.) Auch würde die Gesamtordnung und die Harmonie, welche nicht besser sein könnten als aktuell, gestört, wenn auch nur ein Einzelding im Universum zum Besseren hin verändert würde, sodass die Gesamtheit darunter litte und effektiv weniger schön als zuvor wäre. (Nach: STh i, q. 25, a. 6 ad 3.) Gemäß Thomas hätte Gott also durchaus bessere Einzeldinge erschaffen können, als diese in der aktuellen Welt tatsächlich existieren, jedoch wäre diese mit Blick auf das Gesamt gesehen weniger gut: Die Welt in ihrer Gesamtheit könnte nicht schöner sein, als sie es ist. Diese Welt ist also in Anbetracht dessen, was sich in ihr befindet, die bestmögliche Realisierung aller in ihr enthaltenen Geschöpfe. Doch nicht nur mit Blick auf die Natur der Einzeldinge, sondern auch mit Blick auf das Gesamt ist diese Welt die

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Sichtweise des Aquinaten das Schlechte keinesfalls ganz von den Dingen fern, da die stufenweise Ordnung388 – hier sei an den platonischen Emanationsgedanken

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bestmögliche. Damit nimmt Thomas mit Maimonides, aber auch mit Leibniz, an, dass es sich bei dieser Welt um die beste aller möglichen Welten handelt. Interessanterweise wurde die Beeinflussung Leibnizens durch den Aquinaten auf christlich-philosophischer Seite schon früh wahrgenommen (vgl. z.B.: Koppehl (2015), z.B. S. 8–13, wobei dieser die Rede einer unmittelbaren Abhängigkeit Leibnizens von Thomas ablehnt und betont, Leibniz hätte nur dasjenige, was ihm an Thomas’ Theorie gefiel, übernommen, ohne dabei blind für einen kritischen Blick auf die Theorie zu werden, sodass er die Mängel durchaus erkannt und von einer Übernahme abgesehen hätte. (Nach: Ebd., S. 12.)), jedoch fehlen dabei – wie auch heute größtenteils noch – Hinweise auf den früheren, jüdischen Vertreter dieser These. Der Sicht der insgesamt besten Welt widerspricht der Katechismus der Katholischen Kirche scheinbar: „In seiner unendlichen Macht könnte Gott stets etwas Besseres schaffen. In seiner unendlichen Weisheit und Güte jedoch wollte Gott aus freiem Entschluss eine Welt erschaffen, die ‚auf dem Weg‛ zu ihrer letzten Vollkommenheit ist.“ (kkk 310.) Im Unterschied zu Thomas hätte Gott dieser Sicht nach also durchaus eine bessere Welt erschaffen können, welche sich bereits im Zustand der Vollendung befindet. So ist gemäß dem Katechismus die Hinfälligkeit des Geschaffenen nicht automatisch mit dem Faktum des Erschaffen-Seins gegeben. Thomas von Aquin überträgt die graduelle Stufung des Guten selbst noch in den Zustand der Seligkeit hinein, indem auch dort nicht allen Menschen derselbe Grad an Seligkeit und Vollkommenheit zukomme, ganz nach dem Motto: „Es gibt viele Wohnungen im Hause des Herrn.“ (Vgl.: Joh 14,2.) Die Vielzahl wird damit nicht numerisch verstanden in dem Sinne, dass es für viele Menschen einen Platz im Himmel gibt, sondern sie wird qualitativ auf die Wohnungen bezogen, indem es unterschiedliche Wohnungen gibt: Es gibt nicht nur alles identische Einzimmer-Wohnungen, sondern es gibt EinzimmerWohnungen, Vierzimmerwohnungen, halbe Villen, Wohnungen mit öder Aussicht, Wohnungen an Toplage, etc. Thomas sagt hierzu: „Weil das Ziel dem, was auf ein Ziel bezogen ist, entsprechend gegenübersteht, hat notwendig etwas in so verschiedener Weise am Ziel teil, wie es in verschiedener Weise darauf vorbereitet ist. Die Schau der göttlichen Substanz ist aber das letzte Ziel jeder geistigen Substanz, wie aus dem bisher Gesagten (iii 50) ersichtlich ist. Die geistigen Substanzen werden aber nicht alle in gleicher Weise auf das Ziel vorbereitet: denn einige haben größere und einige geringere Kraft; die (Tugend-)Kraft ist aber der Weg zur Glückseligkeit. Also gibt es notwendig bei der göttlichen Schau eine Verschiedenheit [diversitas, v.v.], weil einige vollkommener [perfectius, v.v.] und einige weniger vollkommen [minus perfecte, v.v.] die göttliche Substanz schauen. […] Wie aber aus der Weise der Schau [ex modo visionis, v.v.] der unterschiedliche Rang der Herrlichkeit bei den Seligen [diversus gradus gloriae in Beatis, v.v.] offenbar ist, so ist (zugleich) aus dem, was geschaut wird, offenbar, dass es dieselbe Herrlichkeit [gloria eadem, v.v.] ist: denn die Glückseligkeit [felicitas, v.v.] eines jeden kommt daher, dass er die Substanz Gottes schaut, wie erwiesen worden ist. Es ist also ein und dasselbe, was alle zu Seligen macht: aber nicht alle empfangen von ihm in gleicher Weise [aequaliter, v.v.] die Seligkeit [beatitudo, v.v.].

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erinnert – der Vollkommenheit und Vielfalt der einzelnen Dinge dient und somit mit den unterschiedlichen bzw. allen möglichen Stufen der Gutheit (omnes gradus possibiles bonitatis) zugleich auch das Abweichen davon gegeben ist. Einige Stufen können beinahe nicht von der Gutheit abweichen, andere dagegen schon. Erst das Vorhandensein beider Stufen führt zur Vollkommenheit des Ganzen. Dies führt uns zu einer weiteren Begründung des Bösen. 4.3.4.1 Die ästhetische Begründung des Bösen Indem er die vollkommene Gutheit will, lässt Gott auch die Möglichkeit zum Abweichen von derselben zu, um – und dies klingt auf den ersten Blick paradox – die Vollkommenheit nicht zu mindern; würde es nämlich diese Stufung der Gutheit – und damit auch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit – nicht geben, würde die Vollkommenheit der Geschöpfe eingeschränkt, denn erst die unterschiedlichen Stufen führen zur Vollkommenheit des Ganzen.389 Um

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Daher steht dem bisher Gesagten nicht entgegen, dass der Herr Mt 20,10 lehrt, allen Arbeitern im Weinberg, auch wenn sie nicht in gleicher Weise gearbeitet haben, sei derselbe Lohn gegeben worden, nämlich ‚ein Denar‛: denn es ist dasselbe, was allen als Lohn [praemium, v.v.] zum Schauen [videndum, v.v.] und Genießen [fruendum, v.v.] gegeben wird, nämlich Gott.“ (scg iii,58.) Nach: scg iii,71: „Die vollkommene Gutheit fände man in den geschaffenen Dingen nicht, wenn nicht die Ordnung der Gutheit in ihnen wäre, dass nämlich einiges besser als anderes ist: denn sonst würden nicht alle möglichen Stufen der Gutheit erfüllt; auch wäre dann kein Geschöpf Gott ähnlich, insofern es ein anderes überragte. Den Dingen würde auch die höchste Schönheit genommen, wenn ihnen die Ordnung der unterschiedenen und ungleichen (Stufen) genommen würde. Und weiterhin würde den Dingen ihre Vielfalt genommen, wenn (ihnen) die Ungleichheit an Gutheit genommen wäre: denn (nur) durch die Unterschiede, durch welche die Dinge voneinander verschieden sind, ist eines besser als ein anderes; so (ist) z. B. das Beseelte vom Unbeseelten und das Vernünftige vom Unvernünftigen (verschieden). Und so gäbe es, wenn eine allseitige Gleichheit in den Dingen herrschte, nur ein einziges geschaffenes Gutes: dies beschränkt offensichtlich die Vollkommenheit des Geschöpfs. Es gibt aber eine höhere Stufe der Gutheit, damit es ein Gutes gebe, das von der Gutheit nicht abweichen kann: eine niedrigere (Stufe kommt) dadurch (zustande), dass sie von der Gutheit abweichen kann. Vollkommenheit des Ganzen erfordert also beide Stufen der Gutheit. Es gehört aber zur Vorsehung des Lenkers, dass er die Vollkommenheit in den gelenkten Dingen erhalte und sie nicht mindere. Also gehört es nicht zur göttlichen Vorsehung, die Potenz, vom Guten abzuweichen, ganz von den Dingen auszuschließen. Aus dieser Potentialität aber ergibt sich das Schlechte: denn was abweichen kann, das weicht irgendwann einmal ab. […] Also gehört es nicht zur göttlichen Vorsehung, das Schlechte ganz von den Dingen fernzuhalten.“ Zur Vollkommenheit durch das gesamte Spektrum an Seinsstufen vgl. auch: STh i, q. 47, a. 2 resp. sowie STh i, q. 48, a. 2 resp. Entscheidend ist auch die natürliche Verfasstheit der Seinsstufen, was besonders am moralischen Bösen aufgezeigt werden kann: „Einer der

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der Vollkommenheit des Ganzen willen also lässt Gott das malum als Abweichen vom Guten zu.390 In diesem Zusammenhang ist folglich die Gesamtordnung, der universal-kosmische Blick, wichtiger als das konkrete Einzelwohl der Einzeldinge, oder wie Thomas sagt: „Bonum totius praeminet [bzw. praeeminet,

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bevorzugten Grundsätze des Thomas lautet: Gott zerstört nicht die Natur von etwas, das er schuf. Würde Gott es dem Menschen gänzlich unmöglich machen, Böses zu tun, würde er damit die menschliche Natur zerstören; denn er hat dem Menschen eine Natur gegeben, aufgrund deren [sic!, v.v.] dieser in entscheidenden Dingen die Wahl selbst treffen kann. Folgerichtig will Gott weder, dass es zu sittlich Bösem kommt, noch will er, dass es nicht dazu kommt. Eher will er bisweilen zulassen, dass es zu sittlich Bösem kommt; nämlich dann, wenn jemand die Wahl getroffen hat, Böses zu tun.“ (Stump (1989), S. 14.) Und so integriert Thomas von Aquin das Böse in seine Providenzlehre, indem auch dieses Teil derselben ist, da ohne das Böse auch auf viel Gutes verzichtet werden müsste. „Da nämlich Gottes Vorsehung auf die Gesamtheit des Seienden sich ausdehnt, so kann sie ganz wohl in diesem und jenem Seienden einen Mangel zulassen, der die Vollkommenheit des gesamten Seins ermöglicht und fördert. Gäbe es gar keine Übel in der Welt, dann wäre auch viel Gutes gehindert. Es wäre das Leben des Löwen unmöglich ohne den Tod anderer Tiere und es hätte auch der Tugendheroismus der Martyrer [sic!, v.v.] nicht geleuchtet ohne die Wut der Verfolgung.“ (Grabmann (1912), S. 101.) Gerade auch mit Blick auf die Erwähnung der Tugend der Tapferkeit sei an dieser Stelle an die im philosophischen Teil unter den moderneren philosophischen Ansätzen vorgestellte Sichtweise Swinburnes erinnert, welcher seine Theodizee über die Existenz von Gütern zweiter und dritter Ordnung, also Gütern wie Mitleid, Tapferkeit, etc., vornimmt. Dieser Gedanke begegnet bereits bei Plotin: „Folgt aber nun wirklich jedwedes Geschehen aus Notwendigkeit und Folgewirkung der Natur und ist gut eben nur, soweit diese es zulassen – oder steht es nicht so, sondern der Weltplan bewirkt all dies als Grundursache, er will es so haben, er selber bewirkt nach seinem eigenen Gesetz die sogenannten Übel, da er nicht will, dass alles nur gut sei [καὶ τὰ λεγόµενα κακὰ αὐτὸς κατὰ λόγον ποιεῖ οὐ βουλόµενος πάντα ἀγαϑὰ εἶναι, v.v.]; so wie ein Künstler, der ein Tier malt, nicht alle seine Glieder nur als Augen malen wird, so hat auch der Weltplan nicht alle Wesen zu Göttern gemacht, sondern einige zu Göttern, andere zu Dämonen, zu Wesen des zweiten Ranges, dann weiter Menschen und Tiere; nicht aus missgünstigem Vorenthalten, sondern vermöge des formenden Gesetzes, das diese differenzierende Abstufung als geistige in sich enthält; wir aber verhalten uns wie die, die nichts von der Kunst der Malerei verstehen und schelten, dass die Farben nicht an jeder Stelle schön sind, während der Maler doch gerade jeder Stelle die ihr zukommende Farbe erteilt hat; […] – kurz, wenn also der Weltplan von sich aus die Dinge dieser Welt erwirkt hat, indem er sich selbst in die Materie einspannt, er, der das ist, was seiner Beschaffenheit entspricht, nämlich ungleichmässig an seinen Teilen, und diese Beschaffenheit bereits von der höheren Stufe mitbringt: so ist auch diese Welt, eben weil sie so entstanden ist, so schön, dass es keine andere gibt, die schöner wäre als sie.“ (Plotin, Enneaden iii,2, 11–12.) Weiter klingt hier selbstverständlich auch Leibniz’ (sowie daher natürlich auch Maimonides’ und Thomas’) Vorstellung der besten aller möglichen Welten an.

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v.v.] bono partis“, „[d]as Gute des Ganzen geht dem Guten eines Teils vor.“391 Um der Schönheit des Ganzen willen benötigt es alle möglichen Seinsstufen, auch jene, welche vom Guten abfallen können. Je komplexer aber etwas ist, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass es hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.392 Um alle Seinsstufen zu realisieren, auch jene, welche am meisten abweichen können, wird dieser Abfall in Kauf genommen. Das InKauf-Nehmen des Bösen ist aber gut, da so das Gesamt schöner ist. Bleibt anzumerken, dass nicht Gott für den effektiven Abfall von der Gutheit verantwortlich ist. Verzichtete Gott dagegen auf die Erschaffung jener Stufen, welche für den Abfall vom Guten am Anfälligsten sind, so müsste damit auch auf viel Gutes verzichtet werden.393 Darüber hinaus lässt das Böse das Gute durch die Gegensätzlichkeit in noch hellerem Licht erstrahlen und wertet es auf:394 Durch 391

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scg iii,71. Daran schließt sich folgende Ausführung an: „Zu einem vorsorglichen Lenker gehört es also, eine Abweichung der Gutheit in einem Teil zu vernachlässigen, damit eine Vermehrung der Gutheit im Ganzen zustande komme […]. Wenn aber bestimmten Teilen des Universums das Schlechte entzogen würde, so ginge vieles von der Vollkommenheit des Universums verloren, dessen Schönheit aus der geordneten Vereinigung von Schlechtem und Gutem entsteht, solange das Schlechte aus mangelhaftem Guten hervorgeht und daraus dennoch nach der lenkenden Vorsehung Gottes Gutes folgt“ (scg iii,71.). Koppehl weist darauf hin, dass Thomas’ Erklärung der Übel als notwendiger Beitrag zur Schönheit des Ganzen in stoisch-neuplatonischen Bahnen verweilt. (Vgl.: Koppehl (2015), S. 3–6.) Vgl.: qdm q. 1, a. 2 ad 10. Vgl.: scg iii,71. Nach: qdm q. 1, a. 1 ad 14. Die Gegensätzlicheit des Bösen zum Guten ist es auch, welche für Birnbaum den Grund dafür darstellt, dass Gott (indirekt) das Böse schafft bzw. letztlich (indirekt) für dessen Existenz verantwortlich ist: „Good only exists with its duality, evil. In order to create potential for good, potential for evil was, by definition, created.“ (Birnbaum (1989), S. 95.) Streminger zeigt die negativen Konsequenzen dieser Sichtweise auf und spricht sich gegen sie aus, indem er sie ad absurdum führt: „Indem Menschen handeln, schaffen sie unseren Vorstellungen zufolge gelegentlich etwas Gutes, aber werden dadurch Kontraste verringert, so schaffen sie der Brückenannahme B [= göttliches Gesamtkunstwerk, v.v.] zufolge ein Übel, weil die Welt nun nicht mehr in so beeindruckender Weise Gottes Güte widerspiegelt. […] Wenn jedoch wegen des größeren Kontrastreichtums diejenige Zeit, als beispielsweise noch Pestepidemien drohten, mit der Güte Gottes besser korrespondierte, dann wäre die Abschaffung von moderner Krankenhilfe ein gottgefälliges Werk, da auf diese Weise SEINE Güte endlich wieder sichtbarer würde. Sollte jemand, der diese Brückenannahme akzeptiert, sich dennoch für Krankenhilfe einsetzen, so packte ihn zurecht permanent ein schlechtes Gewissen.“ (Streminger (1992), S. 91f.) Allerdings vergisst Streminger hierbei, dass es bei der angesprochenen Vorstellung gerade nicht darum geht, jedes einzelne, konkrete Übel zu rechtfertigen, sondern der Aufweis der größeren Schönheit des Ganzen durch den Kontrast (und eben nicht Kontrastreichtum) bezieht sich auf die Faktizität des Bösen überhaupt. Ein konkretes

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das Nebeneinanderstellen der beiden Gegensätze treten diese noch klarer zutage und unsere Bewunderung für das Gute wird durch das Böse gesteigert.395 Hierin klingt unzweifelhaft ein ästhetisches396 Moment zur Begründung und

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Übel kann daher durchaus ausgemerzt werden, wobei der Kontrast dennoch vorhanden und die größere Leuchtkraft des Guten bestehen bleibt, da das Böse an anderen Stellen immer noch vorhanden ist und so das Gute in noch hellerem Lichte erstrahlen lässt. Allerdings ergäbe sich in der Tat ein Problem für diese Sichtweise, gelänge es dem Menschen – sollte dies denn in dieser Welt und vor allem aus eigener Kraft überhaupt möglich sein –, das Böse endgültig zu überwinden, denn in diesem Falle bestünde der Kontrast zum Bösen, welcher das Gute aufleuchten lässt, nicht mehr. Doch gilt es hierbei anzumerken, dass, selbst wenn das moralische Böse überwunden wird, so dennoch das natürliche Böse in Form von Naturkatastrophen vom Menschen nicht vollends in den Griff gebracht werden könnte. Das definitive Aufheben des Kontrasts – bei trotzdem noch hellerem Erleuchten und Aufstrahlen des Guten – kann nur von Gott am Ende der Zeiten bewerkstelligt werden, indem er selbst dieses strahlende Licht und leuchtende Gute ist, welches in der visio beatifica durch Gottes Gnade geschaut wird. Bei Thomas von Aquin dagegen bleibt die Kontrastfunktion des Bösen noch in der Seligkeit erhalten, indem – so ergänzten seine Schüler nach seinem Tod – die Seligen die Strafen der Menschen in der Hölle voll schauen, um sich noch mehr ihrer Seligkeit erfreuen zu können. (Vgl.: STh, Suppl., q. 94, a. 1 resp.) Wie Streminger hervorhebt, lässt dies die Seligen selbst in einem dämonischen Lichte erscheinen, da sie sich in Schadenfreude laben – und so wären sie streng genommen der Seligkeit ja gerade unwürdig. (Nach: Streminger (1991), S. 214.) Doch auch die These, dass im Jenseits Gutes ohne Leid und Übel existiert, verwirft Streminger: Es „wird offenbar doch vorausgesetzt, dass Menschen Freude ohne Leid empfinden können. Dies widerspricht jedoch nicht nur der Brückenannahme, sondern es stellt sich mit Nachdruck die Frage, warum ein gütiger Gott eine solche Welt erst im Jenseits verwirklichen sollte.“ (Ebd.) Nach: qdm q. 1, a. 1 arg. 14, wobei Thomas u.a. auf Augustinus (Enchiridion iii,11.) verweist. Wenn allerdings von der geschöpflichen Freiheit ausgegangen wird, so müssen sich diese Geschöpfe zuerst in freier Entscheidung dieser anderen Welt für würdig erweisen. Gott hat nicht willenlose Geschöpfe erschaffen, welche mit ihm in Gemeinschaft leben, da sie keine andere Wahl haben. Er als die Liebe ermöglicht wahre Gemeinschaft und echte Liebe gibt es bekanntlich nur in Freiheit, wo sich das Geschöpf freiwillig liebend seinem Schöpfer nähern will und so liebend auf das Angebot und die Anfrage des liebenden Gottes antwortet. Schneider geht in seinen Ausführungen zu Thomas’ Ästhetik auf das Phänomen des Bösen allerdings nicht ein, sondern spricht einseitig vom Guten und Schönen. (Nach: Schneider, J. (2012).) Diese Engführung, welche inhaltlich natürlich durchaus berechtigt ist, wird nur dort für einen Moment aufgebrochen, wo darauf verwiesen wird, dass die Schönheit eines Bildes nicht vom abgebildeten Gegenstand selbst abhängt – dieser kann durchaus hässlich sein –, sondern dass der Gegenstand auf vollkommene Weise abgebildet wird; dieses Moment der vollkommenen Abbildung ist es, welches über Schönheit entscheidet. (Nach: Ebd., S. 873; vgl.: STh i, q. 39, a. 8 resp.)

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Rechtfertigung der Existenz des Bösen an. Gottes Vorsehung hält um der Vollkommenheit des Ganzen willen nicht alles Übel von den Dingen fern. Die göttliche Vorsehung ist also differenzierter zu verstehen, als dass sie alles Übel in jedem Fall abhalten würde, indem es bereits in der Möglichkeit ausgeschlossen wäre. Die Möglichkeit dazu ist von Gott nicht nur zugelassen, sondern gewollt, um so den höchsten Grad an Vollkommenheit des Ganzen zu erreichen.397 Dass diese Möglichkeit aber tatsächlich realisiert wird, liegt nicht in Gottes Verantwortung. In den Teilen nämlich muss das Verhältnis von Ursache und Wirkung genauer bedacht werden: Die Erstursache – also Gott – ist nicht für die Realisierung des potentiell möglichen Abfalls vom Guten verantwortlich, da dieser durch die Zweitursachen realisiert wird.398 Thomas von Aquin vergleicht dies mit einem Handwerker, um seine Position zu verdeutlichen: 397

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Gott will das Übel der Schuld (malum culpae) in keinster Weise, das malum naturalis defectus, also das Übel des natürlichen Mangels sowie auch das Übel der Strafe (malum poenae) will er dagegen, da er mit diesen ein Gut erstrebt: im einen Falle das Gut der Gerechtigkeit (Strafe für Schuld), im anderen Falle den natürlichen Gang von Werden und Vergehen, welcher mit endlichem Sein gegeben ist, zur Erhaltung der Ordnung (nach: STh i, q. 19, a. 9 resp.) bzw. wie erwähnt zur Verwirklichung des gesamten möglichen Spektrums an geschaffenem Sein. Mit Blick auf die Providenz gilt es für das „Zusammenspiel“ von Erst- und Zweitursachen zu betonen, dass nach Thomas, so Schmidbaur, Gott die Geschöpfe selbst als Zweitursachen walten lässt, wo sie seinem Willen entsprechen, wo dies aber nicht der Fall ist, greift er direkt erstursächlich ein. (Nach: Schmidbaur (2003), S. 702.) Dass diese Sichtweise gravierende Probleme mit Blick auf die Shoah nach sich zieht, muss nicht weiter ausgeführt werden, sondern erhellt sich von selbst. Denn wenn Gott nicht als Erstursache direkt in das Geschehen eingegriffen hat, so bedeutet dies, dass das Geschehene mit Gottes Willen übereinstimmte, bzw. dass die Geschöpfe so auf ihr Ziel hinführend wirkten, und Gott daher die Geschöpfe als Zweitursachen selbst hat walten lassen. Hat er aber übernatürlich eingegriffen, so bedeutete dies, dass die Shoah direktes Ergebnis seines Waltens war. So oder so erschiene Gott als derjenige, der dies wollte, was obsolet ist. Wichtig hervorzustreichen ist dagegen die Tatsache, dass Gott in der Welt nicht ausschließlich durch Zweitursachen wirkt, wie vielerorts auch heute noch mit dem Sprichwort „Gott hat keine Hände außer unsere Hände“ behauptet wird (auf diese Fehlentwicklung weist auch Schulte hin: „Aus dem (in der entsprechenden Metaphysik) berechtigten und allgemein akzeptierten Satz: Alles ursächliche Wirken endlicher Seiender kann nur geschehen aufgrund erstursächlichen Wirkens Gottes (insofern Gott als Erstursache begriffen wird!) und ist daher prinzipiell als zweitursächlich zu definieren, wurde der Satz gebildet: Alles Wirken Gottes ist immer und in jedem Fall erstursächliches Wirken und bedarf daher zum eigenen göttlichen Wirken in der Welt immer und notwendig des entsprechenden zweitursächlich Wirkenden. Gott sei daher nie im Reigen der in der Welt wirkenden Wirksamkeiten vorfindlich, da er dann notwendig selbst Zweitursache wäre, was aber als widersinnig zu gelten habe.“ (Schulte, R. (1988), S. 122, Hervorhebung im Original.)), sondern dass er selbst als

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Es kommt aber vor, dass ein Mangel in der Wirkung wegen des Mangels einer nachgeordneten Wirkursache auftritt, ohne dass in der Erstursache ein Mangel ist: so kommt in der Wirkung eines Handwerkers, der seine Kunst vollkommen beherrscht, ein Mangel wegen des mangelhaften Werkzeugs zustande; und so kommt es vor, dass ein Mann, dessen Bewegkraft stark ist, doch hinkt: nicht wegen eines Mangels der Bewegkraft, sondern wegen einer Verkrümmung des Schienbeins. Also kommt es bei dem, was von Gott bewirkt und gelenkt wird, wegen eines Mangels der Zweitursachen vor, dass sich ein Mangel und etwas Schlechtes findet, obwohl in Gott selbst kein Mangel ist.399 Viel Gutes könnte es nicht geben, würde es das Schlechte nicht geben.400 Außerdem wird das Gute zuweilen erst im Vergleich mit Bösem als Gutes erkannt, wie etwa die Gesundheit erst geschätzt werde, wenn man krank sei.401 Weiter

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Erstursache direkt in das Weltgeschehen eingreifen kann und dies zuweilen auch tut, auch wenn es unser Verstehen übersteigt, wann und warum dies geschieht oder nicht geschieht. Im Rahmen der ratio providentiae, also im ewigen, überzeitlichen Plan, ist es Gott selbst, welcher alleine und erstursächlich tätig ist. (Nach: Jorissen (1988), S. 101.) Dies gilt aber nicht für die gubernatio mundi, die Weltregierung, in der executio providentiae, also in der zeitlichen Ausführung, denn hier ist Gott gerade nicht alleine tätig, sondern bedient sich der Zweitursachen, welche er aber insofern lenkt, als sie natürlicherweise auf ein Ziel hinstreben. (Nach: Ebd.) Das göttliche Leiten der „Kreatur durch die ihr eingeschaffene Eigentätigkeit auf ihr Ziel hin“ (Ebd.) geschieht „in der jeder Kreatur natureigenen Weise“ (Ebd.). Für das freie Geschöpf, wie es der Mensch ist, bedeutet dies, dass es gottgelenkt eigentätig ist, wenn es frei handelt. (Nach: Ebd., S. 102.) So bezieht Thomas von Aquin gerade auch die freiheitlichen Akte – als tatsächlich freie Akte – der freien Geschöpfe in die letztlich von Gott geleitete Ausführung des Planes mit ein. Freie Akte implizieren aber auch, dass das Geschöpf in seinem Streben auf Gott als dem letzten Ziel fehlgehen kann und nach vermeintlichen anderen Zielen strebt. Gott kann zwar von Zweitursachen Gebrauch machen und so indirekt wirken, er muss es aber nicht. Gott lässt auch die Geschöpfe als Mittel der göttlichen Providenz erstrahlen, weil er ihnen in seiner überschwenglichen Güte Anteil an der Würde, selbst ursächlich sein zu dürfen, geben will. (Nach: STh i, q. 22, a. 3 resp.) So verleiht Gott den Geschöpfen durch ihre Zweitursächlichkeit eine besondere Würde. „Göttliche und geschöpfliche Verursachung können so ineinander greifen. Die Geschöpfe wirken dialogisch zusammen mit Gott, der ihnen transzendental zugrunde liegt als Erstursache, die zugleich als personal sich zuwendende Liebe zu verstehen ist, welche in ihrer Zuwendung zur Erwiderung der Zuwendung befähigt.“ (Büchner (2010), S. 239.) scg iii,71. Nach: scg iii,71. Nach: scg iii,71. Siehe in diesem Zusammenhang auch qdm q. 1, a. 1 arg. 14, wo u.a. auf Augustinus verwiesen wird: So hält Augustinus fest, dass durch das Böse die Bewunderung

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geht das Schlechte nicht nur aus (defizitärem) Gutem hervor, sondern die lenkende Vorsehung (providentia gubernantis)402 sorgt dafür, dass daraus sogar noch Gutes resultiert.403 Zwar lässt die göttliche Vorsehung Übles zu, doch

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403

des Guten gesteigert wird, wenn es geregelt und an den ihm zugedachten Platz gestellt wird. (Nach: Augustinus, Enchiridion iii,11.) In der thomasischen Providenzlehre gilt es, wie gesehen, die beiden Elemente providentia und gubernatio zu unterscheiden, Vorsehung und Lenkung. „Unter der göttlichen Vorsehung versteht der hl. Thomas den ewigen im göttlichen Intellekt vorhandenen Plan über die Hinordnung der Weltdinge zu ihrem Ziel. Die zeitliche Verwirklichung dieses ewigen Planes ist die göttliche Weltregierung.“ (Grabmann (1912), S. 100.) Die Providenz stellt somit den allgemeinen Aspekt der Vorsehung dar, die Lenkung dagegen die konkrete Ausführung zur Erfüllung derselben in dieser Welt. Nach: scg iii,71; vgl.: STh i, q. 48, a. 2 ad 3. Auch das Zulassen der Sünde begründet Thomas auf diese Weise, dass Gott selbst aus ihr Gutes entstehen lassen kann, wobei er auf die felix culpa, die glückliche Schuld, und damit auf das Christusereignis verweist. (Nach: STh iii, q. 1, a. 3 ad 3.) Damit hängt das Zulassen des Bösen im Einzelfall mit der göttlichen Vorsehung zusammen: „Gott dagegen lässt etwas Böses genau dann zu, wenn er weiß, dass er aufgrund seiner Vorsehung den Lauf der Dinge so einrichten kann, dass Böses zuzulassen für den, dem es widerfährt, besser ist als es zu verhindern. Nach Thomas bewirkt Gott auch auf diese Weise Gutes. Indem er Böses zulässt, dem er trotzdem gute Auswirkungen folgen lassen kann, bewirkt er Gutes, ohne Böses zu tun.“ (Stump (1989), S. 17.) Das Böse, welches von Gott als Strafe kommt oder von ihm zugelassen wird, steht immer in Bezug zu einem Guten, welches aus dem Bösen folgt, jedoch ist dieses Gute nicht immer auf diejenigen ausgerichtet, denen Böses widerfährt, sondern zielt manchmal auch auf das Gute anderer oder des Kosmos. (Nach: STh i–ii, q. 79, a. 4 ad 1.) Die Ansicht, dass Gott selbst aus Bösem Gutes folgen lassen kann, vertrat bereits Augustinus im Enchiridion, (nach: Augustinus, Enchiridion iii,11.) ja mehr noch betont er, dass es dem Bösen nur aus diesem Grunde gestattet ist, zu existieren. (Nach: Ders., De civ. Dei xiv,11.) „Er [= Gott, v.v.] hält es nämlich für besser, aus Bösem Gutes zu schaffen, als das Böse überhaupt nicht zuzulassen.“ (Ders., Enchiridion viii,27.) Der Gedanke, dass Gott aus Bösem Gutes entstehen lassen kann, findet sich auch bei Anselm von Canterbury. (Nach: Anselm von Canterbury, cdh i,15.) Doch ist mit Eagleton kritisch anzumerken, dass, obwohl zwar im Einzelnen manchmal in der Tat aus Bösem Gutes entstehen kann, dies nicht bedeutet, dass Gutes immer aus Bösem hervorgehen würde (nach: Eagleton (2010,2), S. 134) „and even when it does, this is scarcely enough to justify it.“ (Ebd.) Gerade mit Blick auf die Shoah spitzt sich die Frage zu: Wie kann hier davon gesprochen werden, dass daraus Gutes resultiert und selbst wenn die eine oder andere Lebensgeschichte das widerfahrene Leid im Nachhinein als etwas zu deuten vermochte, aus dem Gutes entstand, so bleibt doch die Frage, wie dies dieses unermessliche Leiden so unzähliger Menschen zu rechtfertigen vermag. Diese Begründung erschiene als Hohn. Doch bleibt Thomas von Aquin nicht auf dieser Stufe stehen, sondern liefert weitere und andere, weniger anstößige Gründe für das Böse.

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wird es nicht dabei belassen, sondern sie lenkt zugleich in der Weise, dass am Ende doch Gutes bzw. das Gute steht. Es begegnen wichtige neue Punkte hinsichtlich der Erklärung des Vorhandenseins von Übeln und es wird erläutert, wie die „Existenz“ des Bösen zugleich widerspruchslos mit Gott, dessen Vorsehung und Lenkung und seinem Sein als absolut Gutes zusammengedacht werden kann. Diese Begründungen sind es, welche für Thomas hinsichtlich der göttlichen Urheberschaft des Bösen schwierige Bibeltexte versteh- und annehmbar machen. So kann er in diesem Zusammenhang auf den bereits bekannten Text aus Jes 45,7 („Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil.“) als auch auf Am 3,6b („Geschieht ein Unglück in einer Stadt, ohne dass der Herr es bewirkt hat?“) verweisen: Gott ist in dem Sinne als Urheber des Bösen zu sehen, als er die Möglichkeit des Abfallens vom Guten zur größeren Vollkommenheit des Ganzen zulässt, indem so alle Stufen der Gutheit vorhanden sind; für die Realisierung dieses Bösen dagegen ist er nicht verantwortlich, sondern allein die Zweitursachen sind als die eigentlichen Ursachen zu betrachten. Weiter würden bei einem Ausschluss der Möglichkeit zu Üblem bzw. bei einem Fehlen der Übel auch viele Güter wegfallen. Und zu guter Letzt können viele Güter erst in Abgrenzung bzw. im Vergleich zu Übeln erkannt werden; gäbe es diese Erfahrung des Vergleichs nicht, so würden die betroffenen Güter nicht nur nicht erkannt werden, sondern auch das Verlangen nach diesen hätte darunter zu leiden und würde gemindert, die Güter würden also auf doppelte Weise gemindert.404 Thomas von Aquin fasst die Urheberschaft weiter auf, indem dem Bösen ein positiver Sinn im Gesamt der Schöpfungsordnung zukommt, da so die größere Vollkommenheit erreicht werden konnte, mehr Güter da sind und auch mehr Güter als solche erkannt und erstrebt werden.405 Dies bedeutet aber, dass – in Absehung von dem mit der Materie gegebenen Bösen – eine Erschaffung der Welt ganz unter Ausschluss des (moralischen) Bösen theoretisch möglich gewesen wäre, diese Welt aber weniger Güter insgesamt beinhaltet hätte; Einzeldinge hätten dabei also im Vergleich zu heute eine höhere Summe an Einzelgütern aufweisen können, das Ganze aber wäre mit weniger Gütern ausgestattet gewesen – doch ist gemäß Thomas406 das Gute des Ganzen wichtiger als jenes der Teile. Die Argumentation mündet in 404 405

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Nach: scg iii,71. Es geht also um eine Güter-Nutzen-Abwägung. Ebenso wird der freie Wille – bzw. die Stufe der mit freiem Willen begabten Wesen – hier, wie wir es im philosophischen Teil für die Free-Will-Defense gesehen hatten, als ein so gutes Gut angesehen, dass das Zulassen des Bösen um dieser Stufe willen gerechtfertigt ist. Vgl.: scg iii,71.

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den interessanten Schluss vom Bösen auf Gott: „Si malum est, Deus est.“407 Die Schlussfolgerung etwas umfassender auf Deutsch wiedergebend: „Man müsste aber umgekehrt darlegen: Wenn es das Schlechte gibt, gibt es Gott. Denn es gäbe das Schlechte nicht, wenn die Ordnung des Guten, dessen Privation das Schlechte ist, beseitigt würde. Diese Ordnung aber wäre nicht, wenn Gott nicht wäre.“408 Das Üble also gäbe es nur dann nicht, wenn es auch die (stufenweise) Ordnung des Guten nicht geben würde; diese aber kommt von Gott und so ist das Vorhandensein des Bösen der Beweis für die Existenz Gottes, da dieser alles in der vollkommenen Ordnung eingerichtet hat – eine Ordnung, welche das Böse um der Vollkommenheit des Ganzen willen einschließt. Das Böse führt damit nicht in eine Glaubenskrise, sondern dient für Thomas sogar der Stärkung des Bewusstseins, dass Gott existiert.409 Thomas unternimmt mit seinem Entwurf nicht nur, Gott und das Böse gleichzeitig denken zu können, sondern stellt darüber hinaus die zentral monotheistische Fokussierung auf Gott zweifach heraus, indem er aufweist, dass das Böse nicht nur keinem anderen Prinzip als Erstursache zugeschrieben werden kann als Gott, sondern dass es auch einzig und allein unter die Vorsehung des guten Gottes (sub providentia boni Dei) fällt.410 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Seiende in unterschiedlichen Stufen aus Gott emaniert und so auch in unterschiedlichen Abstufungen gut ist. Die graduelle Stufung des Seienden beinhaltet, dass es auch solche Stufen gibt, welche zuweilen vom Guten abfallen. Ebenso beinhaltet die Materie die Möglichkeit zum Bösen. Die der vollkommeneren Seinsstufe fähigen Dinge sind gerade auch aufgrund der perfektionierbaren Potenz besonders anfällig für das Böse. Interessanterweise sind es so gerade jene Seinsstufen, welche Gott am Nächsten stehen, die am Anfälligsten für das Böse sind. Insbesondere die freien Geschöpfe sind somit besonders für den Abfall gefährdet. Es stellt sich die Frage, ob freier Wille angesichts der Providenz überhaupt möglich ist. Thomas bejaht diese Frage eindeutig:411 Die lenkende Vorsehung ist nämlich so zu verstehen, dass Freiheit insofern ermöglicht wird, als sie darauf zielt, „die Vollkommenheit der gelenkten Dinge entweder zu erlangen oder zu vermehren oder zu erhalten.“412 Einer der Gründe, welcher die Willensfreiheit und die göttliche Vorsehung in Einklang zu bringen versucht, 407 408 409

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scg iii,71. scg iii,71. Die gegenteilige Argumentation, dass nämlich die Existenz des Bösen gerade das unumstößliche Argument gegen die Existenz Gottes darstellt, erwähnt Thomas ebenfalls, so z.B.: STh i, q. 2, a. 3 arg. 1 sowie scg iii,71. Nach: scg iii,71. Vgl.: scg iii,73. scg iii,73.

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lautet wie folgt: Mit der Lenkung wird dafür gesorgt, dass das unter der lenkenden Fürsorge stehende Ding einem ihm angemessenen Ziel zugeführt wird.413 „Das letzte Ziel jedes Geschöpfs ist aber, göttliche Ähnlichkeit zu erreichen“414. Die Gottähnlichkeit in den mit Willen ausgestatteten Geschöpfen liegt aber gerade in dieser Fähigkeit, sodass sie durch die Ausübung des freien Willens die größte für sie mögliche Gottähnlichkeit erlangen,415 liegt doch in Gott selbst das Vermögen zur freien Entscheidung vor.416 Wenngleich Gott mit seiner Vorsehung lenkt, wird der freie Wille des Menschen dadurch dennoch nicht eingeschränkt, sondern voll respektiert. Weiter hält der Aquinate fest, dass trotz göttlicher Providenz auch für Glück (fortuna) und Zufall (casus) durchaus weiterhin Platz ist.417 Ausführer der Providenz schließlich sind die Zweitursachen418 – näherhin insbesondere durch die vernunftbegabten bzw. geistigen Geschöpfe: Die also in größerem Maße an der Kraft der göttlichen Vorsehung teilhaben, sind bei denjenigen, die weniger teilhaben, Ausführende der göttlichen Vorsehung. Nun haben die geistigen Geschöpfe mehr als die anderen an ihr teil: denn da zur Vorsehung sowohl der Plan der Ordnung erfordert wird, der durch die Erkenntniskraft entsteht, als auch die Ausführung, die durch die tätige (Kraft) zustande kommt, so haben die vernünftigen Geschöpfe an beiden Kräften teil, die übrigen Geschöpfe aber nur an der tätigen Kraft. Also werden durch die vernünftigen Geschöpfe alle anderen Geschöpfe unter der göttlichen Vorsehung gelenkt.419 In der Folge gilt es zu klären, über welche Bereiche sich die göttliche Vorsehung erstreckt. Hierbei wird auch die Providenz-Vorstellung des Maimonides nochmals angesprochen, um so die Unterschiede herausarbeiten zu können. 4.3.4.2 Der Wirkbereich der providentia dei Den Bereich der göttlichen Allmacht420 weitet Thomas nicht nur auf die Allwissenheit aus, sondern auch auf die Providenz:421 Auch diese umfasst alle 413 414 415 416 417 418 419 420 421

Nach: scg iii,73. scg iii,73; vgl.: scg iii,19. Nach: scg iii,73. Vgl.: scg i,88. Nach: scg iii,74. Nach: scg iii,77. scg iii,78. Zur göttlichen Omnipotenz bei Thomas von Aquin s. z.B.: STh i, q. 25, a. 3 resp.; scg ii,25. Dass Providenz sowohl Omnipotenz als auch Allwissenheit umfasst, stellt nach Geach die traditionelle Sichtweise dar. (Nach: Geach (1977), S. 1.)

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Einzeldinge422 – kennt Gott doch schließlich auch diese.423 Es ist denn auch die göttliche Vorsehung, durch welche die geschaffenen Dinge an Gottes Gutheit teilhaben.424 Hierin besteht ein gewichtiger Unterschied zum Rambam.425 Gemäß dem Aristotelismus umfasst die Providenz nur in den höheren Sphären auch die Einzeldinge. Im Bereich der sublunaren Sphäre (und damit die Welt mitsamt dem Menschen) umfasst die göttliche Vorsehung dagegen nur die Gattungen, nicht aber die einzelnen Vertreter derselben.426 Maimonides widerspricht dieser Ansicht teilweise, wenn er die Providenz in der sublunaren Sphäre in zwei Bereiche aufteilt. Es sei – nach Ansicht des Rambam427 – für 422 423 424 425 426

427

Vgl.: scg iii,75. Vgl.: scg i,65; qdv q. 2, a. 12 resp. Nach: scg iii,75. Zu den beiden Providenzkonzepten von Thomas von Aquin sowie von Maimonides mit Blick auch auf die Hiob-Thematik s. insbes.: Dobbs-Weinstein (1987). So wird Aristoteles von Maimonides in mn iii,17 wiedergegeben. Wie Schmidbaur ausführt, spricht die Tatsache, dass „Partikularisierung dem Wesen des Absoluten widerspricht“ (Schmidbaur (2003), S. 594.), für Aristoteles gegen die Annahme, die göttliche Providenz könnte sich auf Einzeldinge erstrecken. Wie wir im Rahmen der Behandlung der Position des Rambam gesehen hatten, stellt dieser in mn iii,17 (bzw. in der lateinischen Übersetzung mn iii,18) insgesamt fünf unterschiedliche Ansichten zur Thematik der Providenz vor: 1. Alles ist Zufall (Epikur); 2. Die Vorsehung gilt für einen bestimmten Bereich, ein anderer dagegen ist, was die Individuen anbelangt, dem Zufall überlassen, Vorsehung gibt es hier nur für die Gattungen (Aristoteles); 3. Nichts ist Zufall (Ashariten); 4. Der Mensch besitzt einen freien Willen und erhält daher von Gott Lohn bzw. Strafe für seine Taten (Mutaziliten). Der Rambam verurteilt keine der Positionen 2–4. Als fünfte Position stellt Maimonides die Position des jüdischen Gesetzes vor, welche er als die unserer Thorah qualifiziert. Hierbei hält er fest, dass bei den Menschen alles nach Gottes Willen und Gerechtigkeit geschieht und nur jene hier auf Erden bestraft werden, die es verdient haben. Für Tiere und Pflanzen lehnt er dagegen eine Providenz der Individuen ab. Zum Einfluss vom Werk über die Vorsehung von Alexander von Aphrodisias sowie zu Maimonides’ Umgang mit demselben hinsichtlich seiner Darstellung der unterschiedlichen Positionen zur Vorsehung s.: Pines (1974), S. lxv–lxvii. Mit Blick auf Maimonides’ Position zur Vorsehung (hebr.: ‫השגחה‬, Hashgacháh) ist auch der Begriff der ‫( הנהגה‬Hanhagáh; Leitung, Führung) zu bedenken, da Maimonides beide Termini im Rahmen der Behandlung der Thematik der göttlichen Vorsehung verwendet. (.346–347 '‫ עמ‬,(‫ נוריאל )תש"ם‬:‫ )לפי‬Hier besteht eine Parallele zur lateinischen Unterscheidung in providentia und gubernatio. ‫ השגחה‬begegnet dabei einerseits als Allgemeinbegriff, der die Weisen der Beziehung von Gott zur Welt ausdrückt – und in diesem Zusammenhang beinhaltet der Begriff auch die göttliche Lenkung, die ‫הנהגה‬. (.348 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Als Beispiel hierfür führt Nuri’el mn iii,54 an. (.‫ שם‬:‫ )לפי‬In den Bereich der göttlichen Lenkung fallen ‫( חסד‬Chessed; Gnade, Gunst), ‫( צדקה‬Ze dakáh; Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit) sowie ‫( משפט‬Mishpát; Recht, Gericht) als zentrale Termini, ebenso ist hier auch das

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die Tierwelt und alles Nicht-Menschliche in der Tat so, dass die Providenz nur das Ganze umfasse, für den Menschen gelte dies aber nicht in gleicher Weise: Hier umfasst die göttliche Vorsehung nach Maimonides nämlich tatsächlich auch die Einzeldinge, also die einzelnen Menschen und nicht nur die Gattung Mensch als Ganze.428 Maimonides versucht damit in gewisser Weise, eine Synthese zwischen der Meinung Aristoteles’ auf der einen sowie der Meinung der Thorah auf der anderen Seite herzustellen.429 Der Rambam beginnt seine Betrachtungen bereits im 16. Kapitel, wenn er der Frage nach der Verbindung von göttlicher Vorsehung und göttlichem Wissen nachgeht.430 Er betont, dass der Umstand, dass sich die göttliche Vorsehung hinsichtlich der Individuen auf der irdischen Sphäre nur auf die Menschen, nicht aber auf Tiere und Pflanzen erstreckt, keineswegs eine Ohnmacht oder ein Unwissen in Gott besagt: Vielmehr verbindet Maimonides das Phänomen der Providenz für die Einzeldinge mit der Vernunft und somit auch mit der Vorstellung von der Emanation dieser Vernunft. Nur wer Anteil an der Vernunft hat, nur die vernunftbegabten Wesen also, steht auch als Individuum unter der Vorsehung Gottes, alle anderen dagegen nur als Gattung, wobei sich diese Verbindung ziehen lässt, da die Providenz vom Wesen mit der vollkommensten Vernunft ausgeht.431 „Dieser

428

429 430 431

Phänomen der Strafe für Verfehlungen sowie Lohn und Strafe für Gutes und Böses anzusiedeln, wobei es sich dabei nur um relatives, nicht absolutes Gutes und Böses handelt. (.350–352 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Weiter kann der Terminus aber auch als Eigenwort verstanden werden, durch welches auf eine besondere Art der Beziehung verwiesen wird – und in diesem Falle ist die ‫ הנהגה‬nicht Teil der ‫השגחה‬, wobei Nuri’el hier als Beispiel auf mn i,31 verweist. (.348 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Nur, wer des ewigen Lebens würdig ist, steht unter der göttlichen Vorsehung, wer dagegen in dieser Welt als Resultat seiner guten Taten gut lebt (also der Bereich von Lohn und Strafe), befindet sich im Bereich der göttlichen Lenkung und nicht der göttlichen Vorsehung im engeren Sinne. (.355 '‫ עמ‬,‫ שם‬:‫ )לפי‬Zu Nuri’els Auslegung siehe z.B. auch: 69 '‫ במיוחד עמ‬,(‫הרוי )תשנ"ד‬. Zur Bedeutung der Begriffe der Vorsehung sowie der Lenkung in Maimonides’ Vokabular s. auch: Raffel (1983), S. 41–62, davon insbes. S. 44–60. Es bleibt anzumerken, dass al-Charizi im Unterschied zum Tibboniden nicht von ‫השגחה‬, sondern von ‫( שמירה‬Shemiráh; Bewahrung, Behüten) spricht. Den zweiten Aspekt, die ‫ הנהגה‬dagegen teilt er mit Ibn Tibbon. Die lateinische Übersetzung (mn iii,24) verwendet, wie auch Thomas in seinem Hiobkommentar (z.B.: Exp. sup. Iob, c. 11, l. 1.), regimen für Lenkung anstelle des heute gängigen Fachterminus gubernatio. Vgl.: mn iii,17f. Goodman beispielswiese macht diese Unterscheidung des sublunaren Bereichs in einen Teil, welcher auch in den Einzeldingen unter Gottes Providenz steht, und einen Teil, in welchem Gottes Vorsehung nur die Gattungen betrifft, nicht, sondern hält nur fest, dass Gott auch die Einzeldinge lenkt. (Nach: Goodman (1992), S. 162.) .85 '‫ עמ‬,(‫ ישפה )תשס"ג‬:‫לפי‬ Vgl.: mn iii,16. Nach: mn iii,17.

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uns schirmende und mit uns verbundene König ist die auf uns emanierende Vernunft, die das Bindemittel ist zwischen uns und Gott.“432 So wird auch ersichtlich, weshalb sich die Größe an Vorsehung, welche einem einzelnen Menschen zukommt, nach dem Grad seiner Vernunft bemisst. Dass Intellekt und Vorsehung zusammenhängen,433 bedeutet, dass nicht jeder Mensch dasselbe Maß an Vorsehung erfährt, sondern dass der Grad an Vorsehung vom intellektuellen Stand einer Person abhängt.434 Mit seiner Zweiteilung der sublunaren 432 433 434

mn iii,52. Vgl.: Wohlman (1988), S. 236; Koplowitz (1935), S. 69f. Nach: mn iii,18. In der Übersetzung von Pines kommt der Aspekt des von-oben-Wachens deutlich zum Tragen, dasselbe gilt auch von den unterschiedlichen Graden: „Accordingly divine providence does not watch in an equal manner over all the individuals of the human species, but providence is graded as their human perfection is graded.“ (mn iii,18.) Mit Blick auf Aristoteles und Maimonides wäre auch für das Thema der Providenz ein Blick auf die muslimischen Aristoteliker, welche starken Einfluss auf Maimonides ausübten, interessant. Es sei hier beispielhaft auf einige Literatur zu al-Fārābī, Ibn Sīnā sowie Ibn Bajja verwiesen: Marmura (1985); Kogan (1985). Auch al-Fārābī hielt an der Kontingenz der von Gott vorhergewussten und sich in der Schöpfung ereignenden Ereignisse fest. (Nach: Marmura (1985), S. 86.) Auch bei Ibn Sīnā begegnet bereits Bekanntes, so etwa die Zeitvorstellung, wie sie für Thomas von Aquin aufgezeigt wurde: „God’s knowledge is eternal and changeless and the events we designate from our standpoint as past, present and future, are all present to him in an eternal, timeless, now.“ (Ebd., S. 89.) Dass Gott vorherweiß, begründet Ibn Sīnā mit Gottes Erstursächlichkeit, als Ursache von allem weiß er um die von dieser Ursache ausgehenden Wirkungen. (Nach: Ebd.) Wie Marmura aufzeigt, scheiden sich die Geister der Ausleger Ibn Sīnās darin, ob Gott um alle Einzeldinge auf beiden Sphären, der himmlischen wie der irdischen, weiß oder nicht. (Nach: Ebd., S. 89f.) Mit Blick auf die Frage nach Determination oder Kontingenz ergibt sich eine schwerwiegende Konsequenz: „God knows and the existent comes into being as the necessary consequence of this knowledge.“ (Ebd., 90.) Marmura wendet sich vehement gegen diese Interpretation Ibn Sīnās und vertritt den Standpunkt, Ibn Sīnā proklamiere für den irdischen Bereich nur das Wissen um die Gattungen, nicht aber um die Einzeldinge derselben, da diese mehr als ein einziges Individuum umfassen, für die himmlische bzw. supralunare Sphäre dagegen sei das Wissen um die Einzeldinge anzunehmen, da die Gattungen dort je von nur einem Individuum gebildet werden und so Wissen um die Gattung und Wissen um das Individuum, also die Einzeldinge, in eins fallen. (Nach: Ebd., S. 90f.) Gemäß dieser Interpretation bleibt Ibn Sīnā der Position Aristoteles’ treu, indem das Wissen um die Einzeldinge nur für den supralunaren Bereich geltend gemacht wird, nicht aber für den sublunaren. Damit geht Maimonides mit seiner Konzeption der göttlichen Vorsehung nicht nur über Aristoteles, sondern auch über arabische Aristoteliker seiner Zeit hinaus. Wobei Pines festhält, dass Maimonides’ Weiterentwicklung als Konglomerat der Position Aristoteles’ sowie Alexanders von Aphrodisias Schilderung derselben angesehen werden könnte. (Nach: Pines (1974), S. lxvii.)

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Sphäre geht Maimonides bereits einen Schritt über die aristotelische Sichtweise der Providenz hinaus.435 Der Aquinate geht nochmals einen Schritt weiter, indem er die göttliche Vorsehung hinsichtlich der Einzeldinge im Gegensatz zu Maimonides nicht nur auf den Menschen, sondern auf alle Geschöpfe bzw. auf alles in der sublunaren Sphäre ausweitet.436 Diese Ausweitung ergibt sich bei Thomas daraus, dass er den Bereich der Providenz mit dem Gedanken von Ursache und Ziel verbindet: Jede Ursache wirkt mit Blick auf einen Zweck hin; da Gott sowohl die erste Ursache als auch das finale Ziel von allem ist, erstreckt sich auch die göttliche Providenz, welche ja das von Gott Verursachte zu seinem Ziel führen will, auf alles Einzelne.437 Der eigentliche Ausgangspunkt der Überlegungen in Thomas’ System liegt in Gott als dem telos, sodass das Ende den Anfang für die Überlegungen bildet. Aus der Verbindung zur Ursächlichkeit, aber auch Finalität muss wiederum ein Vorbehalt bezüglich des Bösen zur Kenntnis genommen werden, da dieses ja gerade kein Sein hat. Teil der göttlichen Providenz ist es nur insofern, als es immer an Seiendem auftritt und somit über dieses Seiende in den Bereich der göttlichen Providenz fällt. Gott bewirkt das Böse nicht nur per accidens, sondern auch seine Lenkung desselben im Rahmen der göttlichen Providenz scheint nur eine indirekte zu sein, indem Böses per accidens verursacht wird und so an einem Seienden auftritt, welches unter die göttliche providentia sowie gubernatio fällt, sodass indirekt nun auch dieser Mangel, welcher an dem betreffenden Seienden auftritt – und so im Bereich des Seienden, selbst aber kein Sein habend, liegt –, (quasi per accidens) unter den Wirkbereich von gubernatio und providentia fällt, zumindest solange, wie dieses Böse als Mangel am erwähnten Seienden haftet. In dem Moment aber, in welchem das Seiende von diesem Mangel befreit, also z.B. von einer Krankheit geheilt wird, und sich dieses malum somit nicht mehr länger im bzw. an einem Seienden befindet und dadurch keinerlei Verbindung mehr zum Seienden besitzt, fällt es zugleich auch aus dem Bereich der göttlichen 435

436

437

Den Umstand der Ausweitung bei Rabbi Moyses auf die Menschen als Einzelne erwähnt auch Thomas von Aquin. (Vgl.: STh i, q. 22, a. 2 resp.) Zu den Schilderungen der Providenz bei Maimonides vgl. auch: Wohlman (1988), S. 234. Vgl: STh i, q. 22, a. 2 resp. Biblisch begründet er dies, wie Harasta aufweist, insbesondere mit Rückgriff auf das nt, so beispielsweise Mt 6,26–30, wo von Gottes Fürsorge für die Vögel und die Lilien die Rede ist und betont wird, um wieviel mehr dann erst der Mensch dieser Fürsorge untersteht. (Nach: Harasta (1975), S. 274.) Interessanterweise liegen diesem gewichtigen Unterschied zwischen den beiden Positionen nebst dem at also insbes. Texte zugrunde, welche von Maimonides nicht als normativ geteilt werden. Nach: STh i, q. 22, a. 2 resp. In der ratio hat Gott für jedes Einzelding unmittelbare Vorsehung, mit Blick auf die executio dagegen ist die Vorsehung indirekt, indem er sich der Zweitursachen als Mittel bedient. (Nach: STh i, q. 22, a. 3 resp.)

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Vorsehung heraus und ist nicht mehr länger akzidentelles „Objekt“ derselben. Der Umstand, dass Tiere, Pflanzen, etc., nicht der individuellen Vorsehung unterliegen, wäre für Thomas als Imperfektion Gottes438 anzusehen. Aus diesem Grund will er den Bereich der individuellen Providenz auch auf die Tier- sowie Pflanzenwelt und nicht wie Maimonides nur auf den Menschen ausgeweitet sehen. So lässt sich mit Wohlman in Bezug auf Thomas’ Reaktion auf die Beschränkung der Vorsehung mit Blick auf die Einzeldinge bei Maimonides sagen: „Dire que les animaux, les plantes et les réalités de la nature ne relèvent pas individuellement du gouvernement du Créator, c’est poser, à ses yeux, une grave imperfection en Dieu. Thomas condamne sur ce point la position de Maïmonide qu’il considère comme une erreur.“439 So oder so führt die Sichtweise, dass jeder einzelne Mensch – und nicht nur das Schicksal der Gattung440 als Ganze, unabhängig vom Einzelschicksal eines jeden Individuums –, aber auch alle anderen Individuen unter der göttlichen Vorsehung stehen, zu Problemen hinsichtlich der Thematik des Bösen: Die Theodizee-Frage wird so noch dramatischer zugespitzt: Wie kann es sein, dass einem Einzelnen – insbesondere 438 439

440

So hält er in qdv q. 5, a. 6 resp. fest: „Sed hic error maximam imperfectionem Deo attribuit“. Wohlman (1995), S. 84; vgl.: qdv q. 5, a. 6 resp., wo Thomas betont, dass es sich um einen großen Irrtum handelt, die Providenz der Individuen für Tiere zu leugnen. Dabei hält Thomas von Aquin weiter fest, dass die Providenz nur für die rationalen Wesen – solche mit einem freien Willen (liberum arbitrium) – für sie selbst als Lohn (praemium) und Strafe (poena) gilt, bei den Tieren dagegen ist es auf die anderen gerichtet: Der Tod eines Esels etwa muss als das Gute eines anderen, eines Wolfes oder eines Löwen, gesehen werden. (Nach: qdv, q. 5, a. 6 resp.) Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Providenzlehren des Aquinaten sowie des Rambam s. auch: Guttmann (1975), S. 230–234. Wie Kretzmann herausstreicht, unterliegt gemäß Thomas alles Gottes Kontrolle, da er auch alles alleine, ohne Zuwirken und Mithilfe von anderem (dies äußert sich auch in der creatio ex nihilo), geschaffen hat, wobei Kretzmann kritisch anmerkt, dass indes aus diesem Verweis nicht ohne Weiteres klar wird, weswegen dieser Umstand dem Schöpfer absolute Kontrolle über seine Geschöpfe verleihen soll. (Nach: Kretzmann (2000,2), S. 98f.) In diesem Zusammenhang sei auf den Universalienstreit verwiesen: Es stellt sich nämlich die Frage, ob es so etwas Abstraktes wie eine Gattung (als Sammelbegriff einzelner Vertreter derselben, welche sich durch bestimmte gemeinsame Merkmale auszeichnen) tatsächlich gibt oder ob dies nur einen Begriff darstellt, jedoch nur das je Individuelle, Konkrete tatsächlich existiert. Es geht also um die beiden gegensätzlichen Positionen Nominalismus und semantischer Realismus. Vereinfacht gesagt ließe sich die Debatte evtl. so umschreiben, dass es sich um die semantisch gewendete Frage nach den platonischen Ideen hält. Es wird gefragt, ob ein Begriff nur ein Begriff ist und etwas Seiendes bezeichnet, oder ob er auch selbst als Begriff ein Sein hat. Mit Blick auf den Universalienstreit wurde bereits verwiesen auf: Libera (2005).

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einem gerechten, unschuldigen und rechtschaffenen Menschen – Böses widerfährt und er so viel leiden muss? Im folgenden Unterkapitel wollen wir uns daher der Hiobinterpretation des Thomas von Aquin widmen und diese mit der bereits im letzten Kapitel erarbeiteten Sichtweise des Maimonides vergleichen. Doch zuvor soll ein Schematisierungsversuch der unterschiedlichen Providenz-Modelle bei Aristoteles, Maimonides und Thomas vorgenommen werden, um das Gesagte auch bildlich zu verdeutlichen. Providenz-Modelle Aristoteles

Maimonides

Thomas von Aquin

supralunar Einzeldinge

Einzeldinge

Einzeldinge

Mensch sublunar (irdischer Bereich)

Einzeldinge Einzeldinge

Gattungen Gattungen Pf lanzen und Tiere

Ausweitung des Bereichs der Providenz for Einzeldinge

4.3.4.3 Thomas’ Hiobinterpretation Bevor der Hiobkommentar des Aquinaten vorgestellt wird, sollen einige grundlegende Unterschiede zur maimonidischen Interpretation bereits vorab angemerkt werden. Im Gegensatz zu Maimonides betrachtet Thomas von Aquin Hiob als historische Figur.441 Auch differiert er von Maimonides hinsichtlich der Deutung für den Grund von Hiobs Leiden, denn Hiob erfährt gemäß Thomas von Aquin keine Strafe, welche mit Maimonides gesprochen darin bestand, dass er seinen Intellekt nicht genügend geschult hatte. „Pour 441

Nach: Exp sup. Iob, Prolog; vgl.: Wohlman (1988), S. 258. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Maimonides’ und Thomas’ Hiobdarstellung siehe ebenfalls: Ders. (1995), S. 84. Yaffe vertritt die Ansicht, dass der Hiobkommentar für weise Studenten, denen aber die Praxis fehlt, verfasst wurde. (Nach: Yaffe (1979–1980), S. 66.) Dobbs-Weinstein dagegen spricht sich entschieden gegen diese Sichtweise aus. (Nach: Dobbs-Weinstein (1987), S. 101.)

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lui, le motif de ces tribulations est beaucoup plus élevé car il s’agit de montrer la transcendance des biens célestes par rapport aux biens qui passent.“442 Damit tritt der Aquinate hinsichtlich des Leidens der Gerechten die Flucht ins Jenseits an. Zwar gibt es in diesem irdischen Leben ungerechtfertigtes Leid, allerdings kann auf die Hoffnung gebaut werden, dass uns im künftigen Leben Genugtuung erwarten wird; das Unrecht dieser Welt wird in der kommenden Welt wiedergutgemacht.443 Im Unterschied zum Rambam kennt Thomas von Aquin also das Phänomen, dass nicht nur gerechte Strafe in dem Verhältnis, wie der Mensch es verdient, über ihn verhängt wird. Wohl problematisiert und verschärft er damit das Problem, allerdings verharmlost er das Ganze gewissermaßen auch wieder, indem er auf das Jenseits verweist – auf einen Bereich also, welcher von unserem Erfahrungshorizont aus weder belegt noch widerlegt werden kann. Im Gegensatz zu Maimonides, welcher der Hiobinterpretation zwei Kapitel im mn widmete, legt Thomas eine Analyse des gesamten Hiobbuches vor. In seiner Darstellung lässt der Aquinate auch immer 442 443 444

Wohlman (1988), S. 259. Nach: Ebd. Es sei hier nur eine Passage mit Blick auf Hiobs Kindersegen wiedergegeben: „Therefore, Job’s prosperity is first described in terms of the fertility of his children when the text says, ‚There were born to him seven sons and three daughters.‛ The number of the men is fittingly greater than the number of women because parents usually have more affection for sons than for daughters. This is both because what is more perfect is more desirable (men are compared to women as prefect to imperfect) and because those born males are usually of more help in managing business than those born females.“ (Exp. sup. Iob i,1.) Solche die Frauen als minderwertig und weniger vollkommen abwertende Tendenzen finden sich aber auch bei Maimonides (z.B.: mn iii,8, wo Maimonides darauf verweist, dass das Ziel des Menschen sein müsse, Mensch zu sein, was bedeute, dass das Verlangen nach sinnlichen Bedürfnissen wie Essen, Trinken und Sexualität auf ein Minimum zu reduzieren sei. Die große Masse der Toren dagegen fröne genau diesen zu kontrollierenden Trieben in exzessiven Maßen, sodass – als schlimmste Strafe – Frauen über sie herrschen, ganz im Gegensatz, so Maimonides, zu der zu Beginn der Schöpfung gegeben Ordnung, wo es heiße, dass die Frau nach dem Manne verlange und er über sie herrsche. Allerdings verschweigt Maimonides hier, dass diese Ordnung eine Strafe für die Verbotsübertretung darstellt und daher gar nicht als ursprünglich anzusehen ist.). Bei beiden ist diese Abwertung des weiblichen Geschlechts wohl auf ihre gemeinsame aristotelische Basis zurückzuführen. (Vgl. z.B. Aristoteles, Politik, i,6; 1254b: „Endlich verhält sich Männliches und Weibliches von Natur so zueinander, dass das eine das Bessere, das andere das Schlechtere und das eine das Herrschende und das andere das Dienende ist.“ Weiter: Ders., H. Phys. i,9; 192a, wo gesagt wird, dass die Materie bzw. der Stoff nach der vollendeten Form strebt und dies zu vergleichen sei mit dem Hässlichen, welches nach dem Schönen, und der Frau, die nach dem Manne strebe, wobei hier das Streben nach dem Manne nicht etwa

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wieder frauenfeindliche Tendenzen erkennen.444 Nach diesem kurzen ersten Überblick über einige Grundlinien, soll in der Folge der Hiobkommentar445 selbst vorgestellt werden. Interessant ist, dass auch Thomas von Aquin wie schon Maimonides – wenngleich auch in einem anderen Zusammenhang – auf den Intellekt und unterschiedliche Stufen der Erkenntnis verweist und zwar ganz zu Beginn seines Hiobkommentars, wenn er festhält, dass in früheren Zeiten die göttliche Vorsehung ausgeschlossen und alles allein dem Zufall sowie dem Schicksal

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sexuell zu verstehen ist, sondern so gemeint ist, dass das Weibliche als Minderwertiges nach dem Männlichen als Vollkommenes strebt, um so auf eine höhere, vollkommenere Stufe zu kommen.) Der Gedanke vom Männlichen und Weiblichen begegnet bei Thomas beispielsweise auch in De malo in Bezug auf die Überlegungen zur Übertragung der Erbsünde: Die Materie (also das Weibliche) bewegt nicht, sondern wird bewegt; diese bewegende und hervorbringende Kraft identifiziert der Aquinate mit Verweis auf Aristoteles (Über das Entstehen und Vergehen) mit dem männlichen Samen, sodass, wenn nur Eva gesündigt hätte, die Erbsünde nicht auf die Nachkommenschaft übertragen worden wäre. (Nach: qdm q. 4, a. 7 resp. und ad 4 und 5.) Auch Maimonides nimmt diesen Gedanken auf, wobei er ihn in gewisser Art und Weise sexuell mit Blick auf die Untreue und dem Streben nach immer anderem deutet, um mittels dieser Allegorie das Verhältnis von Materie und Form klären zu können. Es geht ihm dabei also nicht in erster Linie um das männliche und weibliche Prinzip, sondern er dreht die Richtung genau um: „Und wie wunderbar weise ist der Ausspruch Salomos, in welchem er die Materie mit einer ehebrecherischen Buhlerin vergleicht Denn [sic!, v.v.] es existiert schlechthin keine Materie ohne Form. Somit ist sie immer verheiratet, sie ist ohne den Mann undenkbar und existiert schlechterdings niemals ledig. Obgleich sie aber das Weib eines Mannes ist, sucht sie immer einen anderen Mann, mit dem sie ihren Gatten vertauschen kann, den sie verführt und in jeder Weise an sich zieht, bis er von ihr erreicht, was ihr Gatte erreicht hat. Dies ist also der Zustand der Materie. Er besteht darin, dass die Form, mag welche Form immer in ihr sein, sie vorbereitet, eine andere Form anzunehmen und dass sie sich unaufhörlich bewegt, jede Form, die bei ihr ist, abzulegen und eine andere herbeizuschaffen, und genau in derselben Weise verfährt sie, nachdem die andere Form in sie gelangt ist. Es ist also klar, dass alle Vernichtung, alles Vergehen und alle Mangelhaftigkeit tatsächlich nur infolge der Materie stattfinden“ (mn iii,8.). Auf diesen Zusammenhang verweist der Rambam bereits zu Beginn seines Werkes in mn, Einleitung zum ersten Buch. Die Angaben im Hiobkommentar erfolgen mit Kapiteln in römischen sowie Lektionen in arabischen Zahlen, es wird also der Einfachheit halber nicht Exp. sup. Iob, c. 1, l. 4 geschrieben, wenn beispielsweise von der vierten Lektion im ersten Kapitel die Rede ist, sondern Exp. sup. Iob i,4. Die Angaben der Lektionen richtet sich nach der Einteilung in der englischen Übersetzung von Mulladay, herausgegeben von Kenny. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Auch für Thomas von Aquin handelt es sich beim Hiobbuch um ein philosophisches Lehrstück, doch ist bei ihm nicht wie bei Maimonides Elihu die Lehrergestalt, sondern Hiob selbst. (Vgl.: Larrimore (2013), S. 95.)

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bzw. dem Los oder dem Geschick ( fortuna) zugeschrieben wurde.446 Auch Maimonides vertrat diese Sicht, indem er die echte Position zur Providenz Elihu, und damit dem jüngsten Gesprächspartner, zuschrieb.447 Wie Thomas von Aquin weiter festhält, ergab sich in einem weiteren Schritt die Frage, wie es mit den Angelegenheiten der Menschen bezüglich der göttlichen Providenz stehe, da die alltägliche Erfahrung einer solchen Lenkung zuwiderzulaufen schien: Gut und Böse treffen sowohl die Guten als auch die Schlechten scheinbar wahllos.448 Der Aquinate gibt an, dass das Ziel seiner Schrift die Darlegung der Tatsache, dass die natürlichen Dinge durch die göttliche Vorsehung gelenkt werden (quod res naturales divina providentia gubernentur), ist, wobei dies auf den ersten Blick durchaus irrational erscheine und die Tatsache, dass bösen Menschen zuweilen Gutes widerfahre, durchaus in Gegensatz zur Vorsehung zu stehen scheine, doch könne dieser Umstand, so Thomas weiter, durchaus aus Gottes Mitleid heraus (ex miseratione divina) erklärt werden.449 Aber noch gravierender sei das Leiden der Gerechten, ein Thema, das in der Person des Hiob veranschaulicht werde.450 Wie Maimonides widmet sich auch Thomas von Aquin zu Beginn seines Kommentars der Frage nach der Historizität der Figur des Hiob: Thomas hält fest, dass zuweilen die Meinung vertreten werde, bei Hiob handle es sich nur um eine Parabel (parabola), um die Thematik der göttlichen Vorsehung verhandeln zu können.451 Wie der Aquinate herausstreicht, spielt die Frage nach der Historizität mit Blick für die Intention des Buches Hiob keine Rolle, für die Wahrheit selbst dagegen schon.452 Dabei verweist Thomas von Aquin auf Ez 14,14, wo Hiob nebst Noach und Daniel erwähnt wird, was für Thomas nur den Schluss zulässt, auch Hiob sei eine historische Figur, zumal die beiden anderen, mit denen er genannt wird, seiner Meinung nach unzweifelhaft wirklich gelebt haben.453 Weiter weist er mit Blick auf Jak 5,11 darauf hin, dass es der Autorität der Hl. Schrift widerspräche, hätte Hiob niemals gelebt.454 Daher ist für Thomas – im Unterschied zur Position des Maimonides – nur ein Schluss zulässig: Hiob hat tatsächlich gelebt

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In dieser Beurteilung der Position Elihus wird Thomas jedoch von Maimonides abweichen. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Nach: Exp. sup. Iob, Prolog. Exp. sup. Iob, Prolog.

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oder in den Worten des Aquinaten: „Sic igitur credendum est Iob hominem in rerum natura fuisse.“455 Spannenderweise verweist Thomas gleich zu Beginn seiner Interpretation des Buches Hiob auf drei Weisen des Sündigens: Sünden gegen Gott, gegen den Nächsten bzw. die Nächste sowie gegen sich selbst.456 Thomas kennt also nicht drei Formen des Bösen, wohl aber der Sünde. Wie Thomas von Aquin weiter darstellt, hat sich Hiob keine der drei Formen des Sündigens zuschulden kommen lassen.457 Thomas von Aquin gibt zu bedenken, dass die göttliche Providenz die Dinge derart lenkt, dass die entstandenen und korrumpierten Körper der Bewegung durch die himmlischen Körper unterstehen, und die vernunftbegabten Geister in sterblichen Körpern von den höheren, körperlosen Geistern gelenkt werden458 – handelt es sich um gute Geister, so werden sie der Tradition nach Engel (angeli) oder Gottessöhne (filii Dei) genannt, handelt es sich dagegen um böse Geister, so der Aquinate weiter, bezeichnet man sie als Dämonen, deren Erster (primus) der Teufel (diabolus) bzw. der Satan ist, wobei nicht beide in derselben Art und Weise handeln, da sie im einen Fall in Einklang mit Gottes Willen handeln, sich im anderen aber von ihrer Intention her Gottes 456

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Nach: Exp. sup. Iob i,1. In diesem Zusammenhang sei auf Maimonides’ (sonst bei Thomas nicht erwähnte) Dreiteilung des Bösen verwiesen. Dieser redet, wie wir gesehen haben, ebenfalls von Übeln, welche sich die Menschen gegenseitig zufügen, sowie von Übeln, welche das Individuum über sich selbst bringt. Die dritte Kategorie dagegen beinhaltet Übel, welche mit seinen natürlichen Konstitutionen zusammenhängen, so etwa der Tod als metaphysisches Übel. Da gemäß der klassischen Erbsündenlehre der Tod durch die Erbsünde, welche durch eine Erhebung gegen das göttliche Verbot auftrat, in die Welt kam, kann dieses Übel des Todes aber durchaus auch mit der bei Thomas erwähnten Versündigung gegen Gott in Verbindung gebracht werden, sodass hier in einem gewissen Grade evtl. die maimonidische Dreiteilung des Übels hinter der dreifachen Einteilung des Sündigens stehen könnte. Exp. sup. Iob i,1. Sprachlich sei mit Blick auf Hiobs Opferdarbringungen eine Auffälligkeit erwähnt, welche bereits im Rahmen der Theodizeen nach Auschwitz erläutert wurde: Der Begriff, auf welchen die Bezeichnung Holocaust zurückzuführen ist, wird bei Thomas erwähnt: Der für das Ganzopfer gebräuchliche lateinische Terminus holocaustum, der das griechische holocauston (vollständig verbrannt) wiedergibt, wird für die von Hiob dargebrachten Opfer zur vorsorglichen Aussöhnung seiner Kinder, sollte sich eines von ihnen die Sünde der Blasphemie, also der Gotteslästerung, zuschulden kommen lassen haben, verwendet. (Vgl.: Exp. sup. Iob i,1.) Vgl. hierzu bei Maimonides: mn ii,11. Nach: Exp. sup. Iob i,2. „[T]am bona quam mala quae homines agunt divino iudicio subsunt“ (Exp. sup. Iob i,2.). Interessanterweise verwendet Thomas von Aquin hier also nicht den Begriff der divina iustitia.

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Willen entgegensetzen.459 Sowohl das Gute, als auch das Schlechte, das Menschen tun, untersteht indes der göttlichen Gerechtigkeit.460 Thomas deutet den Auftritt Satans inmitten der Gottessöhne so, dass zum einen zwar seine Gleichheit in der Natur mit den anderen Engeln ausgesagt ist, zum anderen aber zugleich auch der Unterschied betont wird, indem herausgestrichen wird, dass die Übel nicht aus einer prinzipiellen Intention über die Guten kommen, sondern quasi akzidentell, unfallartig (quasi per accidens)461 – eine Formulierung also, welche bereits im Rahmen der thomasischen Ausführungen zum Bösen begegnete und seine Werke hinsichtlich der Lehre vom Bösen als in sich kohärent aufweist. Thomas nimmt im weiteren Verlauf eine äußerst interessante Position ein, welche stark an Maimonides anklingt: One should know however that although the devil uses the study of his craftiness against everyone, good and wicked alike, the effect of his cunning takes place only in the wicked who are rightly called ‚the earth‛. For since man is composed of spiritual nature and earthly flesh, man’s evil consists in the fact that after he has abandoned the spiritual goods to which he is ordered according to a mind endowed with reason, he clings to earthly goods which befit him according to his earthly flesh. Therefore wicked men are correctly called ‚earth‛ inasmuch as they follow earthly nature. Satan then not only prowls about but also runs through ‚earth‛ of this kind because he completes in them the effect of his malice. For the completion of his progress is designated in his running through them, just as God on the contrary is said to run through just men.462 Auch hier wird hervorgehoben, dass der Mensch nach dem vernunftbegabten Verstand streben muss und sich nicht an irdischen Gütern festhalten soll – so wie auch Maimonides schreibt, es genüge nicht, dass der Mensch gerecht sei, sondern darüber hinaus müsse er seinen Intellekt bilden. Mit den irdischen Gütern hält sich der Mensch an seinen niederen Kräften fest, seiner tierischen Natur. Und weiter streicht der Aquinate wie auch Maimonides hervor, dass das 461 462 463

Nach: Exp. sup. Iob i,2. Exp. sup. Iob i,2. Nach: Exp. sup. Iob i,2. Ebenso verweist Thomas dabei auf die Hölle als Wirkgebiet des Teufels, wobei er dort nicht umherzustreunen und durch sie durchzurennen brauche, da dort bereits alle Objekte seiner Bosheit seien, auf der Erde dagegen versuche er, einige auf die Seite seiner Bosheit zu ziehen (ad suam malitiam trahit). (Nach: Exp. sup Iob i,2.) Wie Dobbs-Weinstein betont, konstruieren sowohl Thomas von Aquin als auch Maimonides ihre Hiob-Interpretationen wesentlich um die Figur des Satan sowie dessen Einfluss

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Wirkungsgebiet des Teufels auf der Erde liegt und er im Himmel nichts auszurichten hat.463 Wie Thomas weiter anhand der Rede Satans bezüglich Hiobs Gottesfürchtigkeit nur aus Eigennutz aufzeigt, geht es bei guten Taten, welche wir tun, nicht darum, irdischen Reichtum als Lohn zu erhalten, da ansonsten der Vorwurf des Satans unsinnig wäre; zugleich sei aber auch zeitliches Elend (adversitas temporalis) nicht die richtige Strafe für Sünden (non est propria poena peccatorum) – und genau diese Frage werde im gesamten Buch behandelt.464 Dies stellt für Thomas die Grundfrage und ihre Klärung das Hauptanliegen des Buches Hiob dar: Es geht somit nicht eigentlich um die Klärung der Frage nach dem unverdienten Leiden der Gerechten, sondern um die Frage nach dem Leiden und den gerechten Sündenstrafen. Wie Thomas festhält, ließ sich Gott aus dem Grunde dazu bewegen, dass der Satan den Besitz Hiobs antaste, um die Rechtschaffenheit Hiobs aller Welt kundzumachen.465 Gott erlaubt es Satan, Hiobs Besitz anzutasten, da er im Unterschied zu den schlechten Menschen, welche er durch gute wie böse Engel gleichermaßen straft, über die tadellosen nur durch schlechte Engel Leid kommen lässt.466 Weiter hat der Satan nicht freie Handlungsmacht, sondern kann den Gerechten nur insoweit Schaden zufügen, als Gott es erlaubt.467 Gott verursacht also das Leiden nicht, sondern lässt es lediglich zu. Damit begegnet ein weiterer Punkt aus der bisher behandelten thomasischen Konzeption zum Bösen. Weiter ist er es, der die Grenzen festlegt, wodurch Satan als Gott zweifelsfrei untergeordnet aufgewiesen wird. Das Festlegen der Grenzen war dabei auch ein bestimmendes Merkmal der Analyse zum Hiobbuch, welche im biblischen Teil vorgenommen wurde: Gott ist es, der die Chaosmächte einschränkt. Gemäß Thomas’ Deutung bekennt sich Hiob mit seinem Ausspruch, er habe diese Erde nackt betreten und werde sie auch wieder so verlassen, dazu, dass äußere Güter den Menschen nicht von Natur aus (non connaturalia) zukommen, sondern nur akzidentell (accidentaliter), sodass sie durch den Verlust derselben dennoch nicht von der Traurigkeit übermannt werden sollten.468 Hierin zeigt sich bereits ein wesentliches Element der thomasischen Hiobinterpretation: Verlust oder Erwerb irdischer Güter stellen nicht das Zentrale dar; vielmehr

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auf die menschliche Seele herum. (Nach: Dobbs-Weinstein (1987), S. 246.) Zu den Unterschieden der beiden Positionen hinsichtlich des Einflusses Satans auf die Seele s.: Ebd., S. 347–353. Nach: Exp. sup. Iob i,2. Nach: Exp. sup. Iob i,2. Nach: Exp. sup. Iob i,2. Nach: Exp. sup. Iob i,2. Nach: Exp. sup. Iob i,4.

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gibt es wesentlichere Dinge, auf die es ankommt und deren Verlust alleine es ist, der wahrhaft übel ist. Ebenso sei sich Hiob mit dem Ausspruch, der Herr habe gegeben und wieder genommen, bewusst, dass der Mensch aufgrund des Verlusts von zeitlichen Gütern keinen Grund habe, sich vor Gott zu beschweren, da irdisches Leiden durch das Urteil der göttlichen Vorsehung über den Menschen komme.469 Wiederum wird ersichtlich, dass die irdischen Güter das Schicksal eines Menschen nicht wirklich bestimmen. Weiter entspreche es auch Gottes Willen, da Gott keinesfalls jemanden leiden lassen würde, wenn er nicht wollte, dass etwas Gutes davon komme, daher müsste man sich sogar daran erfreuen und jubeln.470 Gott lässt also das Leiden nur deshalb zu, weil er daraus sogar Gutes entstehen lässt. Würde kein Gutes daraus resultieren, ließe er das Böse nicht zu. Auch diese Sicht deckt sich mit den bisherigen Ausführungen zum Bösen bei Thomas. Gottes Name werde durch den Menschen aber insoweit gepriesen, „inasmuch as they have knowledge of his goodness, namely that he distributes all things well and does nothing unjustly.“471 Thomas schließt diese Lektion damit, dass er festhält, Hiob habe Gott hinsichtlich der göttlichen Vorsehung nicht gelästert und hält fest, dass Weisheit die Kenntnis der göttlichen Dinge sei.472 So wird also der Hiob des Thomas im Unterschied zum Hiob des Maimonides als weise charakterisiert. Damit fällt die maimonidische Interpretation als mögliche Lösung des Problems weg. Der Aquinate streicht weiter hervor, dass Eliphas, Bidlad und Zophar in gewisser Weise gleicher Meinung seien wie Hiob, da sie ansonsten nicht als Freunde qualifiziert würden; zugleich differierten sie aber auch von Hiob, stimmten aber unterereinander in dieser von Hiob unterschiedenen Meinung überein, da sie zusammen in Abgrenzung von Hiob aufgezählt und in die Geschichte eingeführt werden.473 Die drei Freunde stimmen mit Hiob darin überein, dass nicht nur die natürlichen Dinge, sondern auch die menschlichen Angelegenheiten der göttlichen Providenz unterliegen.474 Sie differieren von ihm aber darin, dass sie zeitliche Güter als Lohn für gute Taten, zeitliches Leid dagegen als Sündenstrafe ansehen.475 So sind die drei Freunde ganz in einem diesseitigen 469 470 471 472 473 474 475 476

Nach: Exp. sup. Iob i,4. Nach: Exp. sup. Iob i,4. Exp. sup. Iob i,4. Nach: Exp. sup. Iob i,4. Nach: Exp. sup. Iob ii,2. Nach: Exp. sup. Iob ii,2. Nach: Exp. sup. Iob ii,2. In dieser Positionierung der Freunde deutet sich bereits an, welchen Weg Hiob gemäß Thomas einschlagen wird: Hiob sieht den wahren Ort für Lohn und Strafe nicht im

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Schema von Lohn und Strafe verhaftet – ein Schema also, welches bereits hier auf Erden Gerechtigkeit für die Guten wie für die Schlechten verheißt.476 Die Verteidigung dieser allen drei gemeinsamen Vorstellung verfolgt allerdings jeder der drei Freunde auf einem anderen Weg.477 Hiob dagegen verwehrt sich dieser Ansicht und nimmt eine andere Position ein: Er fokussiert nicht auf das Diesseits, sondern verortet die Gerechtigkeit in der kommenden Welt.478 Wie Thomas weiter ausführt, flucht jedermann bereits in dem Moment, in dem er Schlechtes spricht479 – eine Erklärung, die nur im lateinischen Original verständlich wird: maledicere (fluchen), welches sich aus malum (schlecht oder böse) und dicere (sagen) zusammensetzt. Die Verfluchung seiner Empfängnis wie seiner Geburt ist für Thomas von Aquin darauf zurückzuführen, dass Hiob im niederen Teil seiner Seele, welcher von Kummer und Leid beeinflusst war, das Leid als Leid ablehnte: Die sinnliche Wahrnehmung erkennt das Leid einzig und allein als etwas Böses, der vernünftige Teil in Hiob dagegen war in der Lage zu erkennen, dass das Leiden einen Zweck hat und letzten Endes nützlich ist zu etwas, dass also das Leiden einen tieferen Sinn hat und zu etwas Gutem führt.480 Die Verfluchung erfolgt also nur aus dem Blickwinkel der Sinne bzw. dem sinnlichen Teil der Seele. Hiob anerkennt zwar das Leben selbst als begehrenswert, doch nicht das Leben in Leiden.481 Thomas behauptet, Hiob nenne den Tod Schlaf, weil er auf die Auferstehung der Toten hoffe und fügt an, dass Hiob dies später noch expliziter sagen werde.482 Hiob – so anerkennt Thomas von Aquin – leidet nicht, weil er es verdient hat und es seine eigene Schuld ist, ganz im Gegenteil leidet der unschuldige Hiob, weil Gott ihn strafen will, wodurch Hiob nach Thomas von Aquin wiederum anerkennt, dass das Leiden in dieser Welt nicht ohne göttlichen Befehl geschieht.483 Allerdings verwirrt hierbei, wie davon die Rede sein kann, dass Gott Hiob strafen will, wenn er es ja gerade nicht verdient hat. Ein solcher Gott scheint nicht gerecht zu sein. Es

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Diesseits gegeben, sondern erst im Jenseits. Für Thomas’ Hiobinterpretation ist damit die der Erzählung selbst fremde Vorstellung des Lebens nach dem Tod und der Unsterblichkeit der Seele von zentraler Bedeutung. Nach: Exp. sup. Iob ii,2. Nach: Exp. sup. Iob ii,2. Nach: Exp. sup. Iob iii,1. Nach: Exp. sup. Iob iii,1. Zur Veranschaulichung seiner Deutung führt Thomas von Aquin das Beispiel einer übelschmeckenden Medizin an, welche die Sinneswahrnehmung als schlecht beurteilt, die Vernunft dagegen als gut, da sie weiß, dass diese Medizin nützlich ist und den Menschen wieder gesund macht. (Nach: Exp. sup. Iob iii,1.) Nach: Exp. sup. Iob ii,1. Nach: Exp. sup. Iob ii,2. Nach: Exp. sup. Iob ii,3.

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muss mitbedacht werden, dass aufgrund der Erbsünde prinzipiell jeder strafwürdig ist. Als erstes versucht Eliphas, Hiobs Unschuld sowie die seiner Familie zu widerlegen, da seiner Meinung nach der Verlust zeitlicher Güter sowie zeitliches Leiden nur die gerechte Strafe für Sünden sein können.484 Würde jemand bestraft, ohne dass er dies verdient hat, so wäre er reiner als Gott, der in dieser Strafe etwas Unrechtes begehen würde.485 Eliphas nimmt weiter an, dass alles auf ein Ziel gerichtet ist und der Lenkung durch die göttliche Vorsehung unterliegt.486 Er glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod, so Thomas weiter, weswegen Befreiung in diesem Leben zu erfolgen hat.487 Thomas selbst schließt sich dieser Meinung nicht an, sondern hebt hervor, dass die perfektesten Menschen mitunter auch großes Leid ertragen müssen.488 In seiner Antwort verweist Hiob darauf, dass sein Leiden und seine Sünden – sollte er denn doch welche in sich haben – in keinem Verhältnis zueinander stünden, sodass dies Eliphas’ These widerlegt: Hätte Eliphas nämlich recht, so Aquinas, müssten Sünde und Strafe einander in Größe und Schwere entsprechen, also schweres Leid für schwere Sünden, kleines Leid für leichte Sünden.489 Mit einem Vergleich aus Kriegszeiten deutet Thomas Hiobs Ansicht dahingehend, dass dieser die göttliche Vorsehung nicht so verstehe, dass die Guten von Leiden gänzlich befreit seien; vielmehr belohne sie Gott erst am Ende und nicht schon jetzt, ganz so wie auch die Krieger den größten Gefahren ausgesetzt seien, aber am Ende, wenn sie diese gemeistert haben, mit Auszeichnungen geehrt werden.490 Das Ziel, auf welches der Mensch gerichtet ist, liegt also nicht bereits hier auf Erden, wie dies Eliphas beteuert, sondern erst danach.491 Das vollendete Gute – was nichts anderes ist als Gott selbst – ist das eigentliche Ziel des Menschen.492 Der Aquinate hält fest, dass Gottes Vorsehung hinsichtlich rationalen und nicht mit Vernunft begabten Kreaturen anders verläuft: Die rationalen Kreaturen werden nach Lohn und Strafe behandelt, die anderen dagegen können aufgrund des fehlenden freien Willens nicht sündigen und so auch nicht Subjekte von Strafe und Belohnung 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493

Nach: Exp. sup. Iob iv,2f. sowie v,1. Nach: Exp. sup. Iob iv,3. Nach: Exp. sup. Iob v,2. Nach: Exp. sup. Iob v,3. Nach: Exp. sup. Iob v,3. Nach: Exp. sup. Iob vi,1. Nach: Exp. sup. Iob vii,1. Nach: Exp. sup. Iob vii,1. „[P]erfectum enim bonum est hominis finis“ (Exp. sup. Iob vii,1.). Nach: Exp. sup. Iob vii,3; vgl.: qdv, q. 5, a. 6 resp., was Thomas in Exp. sup. Iob vii,4 wieder aufnimmt. Weiter klingt auch das aus den bisherigen Ausführungen bekannte ästhetische

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werden, sodass Gott an ihnen aufgrund des Guten für das Universum mehrend bzw. begrenzend handelt.493 Hiob – so Thomas weiter – fragt sich, ob auch seine Leiden so erklärbar sind, dass dadurch ein größerer Nutzen für andere resultiert, dass er also nicht wegen Sündenstrafen leidet, sondern um des Wohls des Universums willen.494 Für den Menschen gibt es nach Hiob – so Thomas – grundsätzlich drei Gründe, weswegen jemand in diesem Leben von Gott gequält wird: 1. Um seine Bosheit einzugrenzen, damit er anderen nicht schaden kann; 2. um in der Prüfung die Tugendhaftigkeit der entsprechenden Person zu manifestieren; 3. um die Sünder zu bestrafen.495 Die Bestrafung der Sünde stellt damit gemäß dem Hiobkommentar des Aquinaten nur eine Form des Bösen dar, daneben kann das Böse aber auch einen pädagogischen oder aber auch einen verherrlichenden Aspekt verfolgen. Wobei ein Gott, der durch das Leiden die Rechtschaffenheit einer Person vor Welt und Mitmenschen manifestieren will, gleichsam in ein dämonisches Licht gerückt wird. Diese Nuancierungen sind allerdings mit Blick auf die bisherigen Ausführungen in den übrigen behandelten Schriften interessant, zumal dort jedes physische Übel als Strafe erklärt wurde. Mit den drei hier erwähnten Möglichkeiten ist zum einen die Meinung der Freunde Hiobs aufgegriffen, welche für den TunErgehen-Zusammenhang plädieren und so Hiobs Sünd- und Schuldhaftigkeit betonen, zum anderen wird aber auch das Exposé der Geschichte aufgegriffen, indem die Prüfung dem Erweis der Tugendhaftigkeit – und genau darum geht es bei der „Wette“ zwischen Satan und Gott – dienen soll. Welche der drei Formen allerdings im Einzelnen vorliegt, ist von Außen nur schwerlich beurteilbar. Wichtig ist jedenfalls die Feststellung, dass jemand leiden kann, ohne dass er bestraft wird – wobei gerade diese Sichtweise den übrigen Ausführungen zum physischen Übel zu widersprechen scheint. Thomas vertritt den Standpunkt, dass Hiobs Worte falsch aufgefasst werden von Bildad, welcher das Gespräch nun aufnimmt und seinen Einwand macht: Denn Bildad wusste nichts vom Leben im Jenseits, weswegen er Hiob missverstand und glaubte, dieser behaupte, Gott strafe weder für Sünden noch belohne er für gute Taten.496 Hier ist also Thomas’ eigentliche Interpretation der Aussageabsicht der Hioberzählung angetönt: Es geht um die Lehre vom Leben nach dem Tod. Bildad betont, dass die Kinder Hiobs für ihre eigenen Sünden

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Motiv für die Erklärung des Bösen an, dass nämlich das Ganze größer ist als seine Teile. Noch expliziter äußert Thomas diesen Gedanken in der folgenden Lektion. (Nach: Exp. sup. Iob vii,4.) Nach: Exp. sup. Iob vii,3. Nach: Exp. sup. Iob vii,4 Nach: Exp. sup. Iob viii,1. Nach: Exp. sup. Iob viii,1.

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bestraft wurden, sodass seine Umkehr an ihrem Schicksal nichts ändern würde und dies auch nicht könnte.497 Der Tod wird damit zur äußersten Sündenstrafe erklärt.498 Da Bildad das Konzept von einem Leben nach dem Tod nicht kennt, behauptet er, dass Hiob sogar noch mehr erhalten werde, als er zuvor hatte, sodass er auch für die kurze Zeitspanne, in welcher er dies alles wird geniessen können, entschädigt werde.499 Alles, wozu es hierzu bedarf, ist die umgehende Umkehr.500 Thomas konstatiert einen gravierenden Fehler in Bildads Vorstellung: Denn dieser behauptet, dass, jemehr ein Mensch Gott anhängt, er desto reicher ist; da Hiob aber Gott nicht genug angehangen habe, habe er als logische Konsequenz seinen irdischen Reichtum verloren.501 Doch genau hier widerstreitet Thomas der geschilderten Ansicht, indem er festhält, dass dies nicht für irdische Güter gelte, sondern nur für die geistige Freude, welche das wahre Gut des Menschen darstellt, die irdischen Güter dagegen gehören zu den am wenigsten wichtigen Gütern („quod quidem verum est de felicitate spirituali quae est verum hominis bonum, non autem de prosperitate terrena quae inter minima bona computatur utpote organice deserviens ad veram hominis felicitatem“502).503 Hiob bekennt sich gemäss Thomas zu Gottes Gerechtigkeit (iustitia divina), welche im Unterschied zur endlichen ( finita) menschlichen Gerechtigkeit (iustitia humana) unendlich (infinita) ist und diese unendlich übersteigt.504 Die folgenden Überlegungen widmet Hiob ganz der Macht505 sowie der Weisheit506 Gottes. Er erweist dabei Gottes Macht und Weisheit als so gross, dass er nicht mit diesem streiten will, da er zu gering ist, um Gott Rede und Antwort stehen und argumentieren zu können.507 Hiob betont, dass der Tod nicht nur als Strafe über die Sünder kommt, sondern auch die Unschuldigen gleichermassen trifft und diese in diesem Leben von zahlreichen Anfechtungen betroffen sind, wofür Hiob in der Folge den Grund zu eruieren sucht.508 Denn diese Anfechtungen sind es, für welche es hinsichtlich der Unschuldigen 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509

Nach: Exp. sup. Iob viii,1. Nach: Exp. sup. Iob viii,1. Nach: Exp. sup. Iob viii,1. Nach: Exp. sup. Iob viii,2. Exp. sup. Iob viii,2. Nach: Exp. sup. Iob viii,2. Nach: Exp. sup. Iob ix,1. Vgl.: Exp. sup. Iob ix,1. Vgl.: Exp. sup. Iob ix,2f. Nach: Exp. sup. Iob ix,3. Nach: Exp. sup. Iob ix,4. Nach: Exp. sup. Iob ix,4.

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anscheinend keinen Grund gibt – ganz im Gegensatz zum Tod, welcher die Strafe für die Erbsünde (peccato communi) darstellt.509 Es kommen auf den ersten Blick zwei gleichermassen obsolete Lösungen infrage: Entweder findet Gott Gefallen daran, die Unschuldigen grundlos zu quälen, was mit seiner Gerechtigkeit nicht zusammengeht, oder aber diese Übel kommen nicht von Gottes Urteil über die Menschen, sondern werden von einem bösen Herrn, welcher Macht auf Erden hat und die Gerechten straft und quält, aus purer Bosheit verübt.510 Doch hat Satan, so hält Thomas von Aquin fest, nicht einfach freie Hand über die Welt, sondern alles, was er in dieser Welt zu tun fähig ist, ist ihm zuerst von Gottes Weisheit (sapientia dei) erlaubt worden.511 Somit schlägt auch diese zweite Lösung wieder auf Gott zurück, indem nach einer vernünftigen Erklärung zu suchen ist, weswegen Gott dies erlaubt.512 Der Aquinate streicht hervor, dass es unterschiedliche Gruppen von Leuten gibt: Zum einen nennt er die Gruppe jener, für welche der irdische Besitz mehr als alles andere zählt.513 Diese Gruppe identifiziert Thomas mit denjengen, welche die Meinung vertreten, dass Lohn und Strafe allein in diesem Leben stattfinden.514 All ihr Streben ist somit einzig auf dieses Leben ausgerichtet. Zu dieser Gruppe zählen auch die drei Freunde Hiobs, welche das diesseitige Lohn-Strafe-System verteidigen.515 Daneben gibt es aber eine zweite Gruppe: die Gruppe jener, für welche irdischer Besitz nicht alles ist und die ihr letztes Ziel folglich an einem anderen Ort als im irdischen Besitz und im irdischen Leben suchen.516 Zu dieser Gruppe gehört auch Hiob. Kennzeichnend für diese Sicht ist, dass es unmöglich ist, dass Gott die Menschen, die er sowohl ihrem Leibe als auch ihrer Seele nach erschaffen hat, einfach zerstört; ebenso ist es nicht möglich, dass Gott aus Unwissenheit einem Fehlurteil unterliegt und die Unschuldigen als vermeintlich Schuldige bestraft.517 Hiobs Unschuld wird dadurch aufgewiesen, dass er zu Zeiten seines Reichtums und Wohlergehens seinen Lebensstil nicht verändert hat, da aber Lohn und Strafe nur in diesem Leben erfolgen, müssten sie unmittelbar auf die Sünde folgen, sodass Hiob bereits viel früher hätte 510 511 512 513 514 515 516 517 518

Nach: Exp. sup. Iob ix,4. Nach: Exp. sup. Iob ix,4. Nach: Exp. sup. Iob ix,4. Nach: Exp. sup. Iob ix,4. Nach: Exp. sup. Iob ix,4. So versuchen Eliphas, Bildad und Zophar denn auch aufzuzeigen, dass Hiob aufgrund seiner Sünden bestraft wurde. (Nach: Exp. sup. Iob xvi,1.) Nach: Exp. sup. Iob ix,4. Nach: Exp. sup. Iob x,1. Nach: Exp. sup. Iob x,2.

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bestraft werden müssen, da er, wenn er jetzt für eine Sünde bestraft wird, auch früher schon in gleicher Weise gesündigt hätte.518 Nochmals betont Hiob, dass Leid, so die Erfahrung, gerade auch Unschuldige in diesem Leben trifft.519 Hiob weist auf, dass seine Übel weder daher gründen, dass die Welt in die Hände eines bösen Herrn gegeben ist, noch in einem Fehlurteil Gottes, noch dadurch, dass Gott Gefallen daran hätte, ihn zu quälen, noch um Hiobs scheinbare Sünden zu bestrafen.520 Somit weist Hiob gemäß Thomas sämtliche Möglichkeiten, das Leiden der Gerechten einzig aufgrund dieses Lebens rechtfertigen zu können, zurück, um so die Freunde dahin zu führen, dass wahrer Lohn und wahre Strafe im Jenseits erfolgen, da nur so das aktuelle Leid der Gerechten, welches unzweifelhaft existiert, erklärt werden kann.521 In Thomas’ Interpretation versucht Hiob, die Freunde mittels der Unzulänglichkeit ihrer auf das Diesseits verengten Erklärungsversuche auf die Annahme des Glaubens an ein Leben nach dem Tod vorzubereiten, sodass diese selbst aufgrund der Mängel ihrer Theorien dahin gelangen, dass eine befriedigende Lösung, welche auch das Leiden der Gerechten anerkennt, nur in der Verschiebung des tatsächlichen Schicksals (Lohn oder Strafe) auf das Jenseits hin gefunden werden kann und sie so zu dieser Lehre, welche ihnen bis dato noch unbekannt ist, finden. Es geht in des Aquinaten Bewältigung des Problems des Leidens der Gerechten also insbesondere um die Möglichkeit der Vereinigung bzw. des In-liebendeBeziehung-Tretens mit Gott in Form der visio beatifica im Leben nach dem Tod.522 Dieses Ziel zu erreichen ist ein höheres Gut als das Abwenden von (irdischen und damit begrenzten) Übeln, ja mehr noch: Das Leiden zeigt eine gute Wirkung bei denjenigen, die leiden, indem sie dafür eine höhere Stufe in der ewigen Vereinigung mit Gott erhalten.523 Wie bei Maimonides’ Hiobinterpretation hält auch Thomas von Aquin fest, dass es im Rahmen der Überlegungen zur göttlichen Providenz die Unterschiedenheit der menschlichen Lenkung von der göttlichen zu bedenken gilt.524 Auch er spricht sich damit für einen differenzierten Gebrauch des Begriffes aus. Das Leben nach dem Tod wird von Hiob in Kapitel 14 weiter angesprochen.525 In Lektion 4 stellt Thomas dabei Hiobs Vorstellung der Auferstehung

519 520 521 522 523 524 525

Nach: Exp. sup. Iob x,2. Nach: Exp. sup. Iob x,3. Nach: Exp. sup. Iob x,3. Vgl.: Stump (2012), S. 404. Nach: Ebd., S. 405. Nach: Exp. sup. Iob xi,1. Nach: Exp. sup. Iob xiv,2; vgl.: Exp. sup. Iob xvi,2.

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der Toten vor. Ganz wie Maimonides hält Thomas von Aquin die Verbindung von Intellekt und ewigem Leben fest: „[H]omo per intellectum capit aeternum bonum, unde et naturaliter ipsum desiderat“,526 der Mensch erreicht das ewige Gut, nach dem er sich natürlicherweise sehnt, mittels seines Intellekts. Wie bei Maimonides der Mensch über den Intellekt mit dem aktiven Intellekt geeint wird, gelangt auch bei Thomas von Aquin der Mensch wesentlich durch den Intellekt im Jenseits zum erstrebten Gut, welches in der visio beatifica besteht. Denn nichts ist passender, als dass der Mensch mit dem Intellekt, welcher seine Natur auszeichnet, sein höchstes Gut erkennt.527 Bei Maimonides jedoch geht der Mensch in einen überindividuellen Zustand über, bei Thomas hingegen ist diese intensivste Gottesnähe individuell-personal verstanden. Den uns von Maimonides bereits bekannten Gedanken der Verbindung von Intellekt, Gotteserkenntnis und Enthobenheit von den Leiden führt der Aquinate indes in Kapitel 17 explizit aus: [H]e who is placed close to God, be freed from evil. Man is placed near to God insofar as he approaches him with his mind through knowledge and love, but this happens imperfectly in the state of a sojourner on earth in which man suffers attacks. Because he is placed near to God, however, he is not be overcome by them. Man is perfectly placed near to God in 526

527 528

Exp. sup. Iob xiv,4. Weiter weist auch Thomas wie Maimonides darauf hin, dass es viele Wiederholungen gibt und von den Freunden letztlich immer wieder dasselbe ausgesagt wird. (Nach: Exp. sup. Iob xvi,1) Vgl. z.B.: scg iii,25. Exp. sup. Iob xvii,1. Alles strebt nach Gott als dem letzten Ziel und zwar auf die der jeweiligen Natur eigene Weise – es ist also nichts natürlicher, als dass die vernünftige Natur auf dem Wege des Intellekts zu Gott gelangt, indem sie diesen erkennt (intelligere Deum). (Nach: scg iii,25.) Sowohl Thomas von Aquin als auch Maimonides betonen damit den Intellekt mit Blick auf die Vervollkommnung des Menschen und identifizieren diesen Zustand letzter Vollkommenheit und das eigentliche Ziel der menschlichen Natur mit der wahren Gotteserkenntnis. „Das letzte Ziel [  finis ultimus, v.v.] des Menschen und jeder geistigen Substanz wird ‚Glückseligkeit‛ [  felicitas, v.v.] oder ‚Seligkeit‛ [beatitudo, v.v.] genannt: denn dies ist es, wonach jede geistige Substanz als dem letzten Ziel und nur um seiner selbst willen verlangt. Letzte Seligkeit und Glückseligkeit jeder geistigen Substanz ist es also, Gott zu erkennen [cognoscere Deum, v.v.].“ (scg iii,25.) Doch wie ist diese Gotteserkenntnis nach Thomas zu verstehen? Zur Beantwortung dieser Frage sei auf scg iii,37–63 verwiesen. Für die wahre Gotteserkenntnis gilt es zu beachten, dass die Glückseligkeit des Menschen in der „vollkommene[n] Tätigkeit [operatio perfecta, v.v.] des Verstandes“ (scg iii,40.) besteht. Die wahre Gotteserkenntnis als das letzte Ziel, welche in derselben Weise erfolgt, wie Gott von den getrennten Substanzen erkannt wird, kann der menschliche Geist erst nach diesem Leben erlangen. (Nach: scg iii,48.)

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his mind in the state of ultimate happiness in which he cannot suffer attacks.528 Thomas hält fest, dass die wahre Gotteserkenntnis hier auf Erden nur unvollständig erreicht werden kann, dass also der Mensch auf Erden bis zu einem gewissen Grade Subjekt der Übel bleibt, erst im Jenseits erwartet ihn aufgrund der visio beatifica die vollständige Befreiung von allen Übeln.529 Auch beim

529

Ermöglichungsgrund für die visio beatifica ist aber ein übernatürlicher, nämlich Gott selbst, der den Verstand das göttliche Wesen durch dieses selbst sehen lässt. (Nach: scg iii,51f.) Thomas folgert, dass das ewige Leben, welches identisch ist mit der Glückseligkeit in Form der Gottesschau, „allein durch Gnade Gottes“ (scg iii,52.) erreicht werden kann. (Nach: scg iii,52.) Wenngleich auf den ersten Blick sowohl Maimonides als auch Thomas von Aquin die Bedeutung des Intellekts für die wahre Gotteserkenntnis hervorheben, so unterscheidet sich ihr Konzept dennoch grundlegend, denn gemäß dem Aquinaten kann der Mensch zwar eine gewisse Gotteserkenntnis von sich aus erreichen, die wahre Gotteserkenntnis in der glückseligen Gottesschau dagegen wird ihm von Gott gnadenhaft geschenkt. In Maimonides’ Konzept dagegen hängt die wahre Gotteserkenntnis einzig am Intellekt, was zur Folge hat, dass derjenige, welcher die irdischen Belange gänzlich hinter sich zu lassen vermag und seinen intellektuellen Zustand so vervollkommnet, dass er sich ausschließlich auf Gott richtet, mit dem aktiven Intellekt geeint wird. Die Bedeutung des Intellekts ist somit bei genauer Betrachtung bei Maimonides ungemein größer als in Thomas’ System. Maimonides geht von der Einigung mit dem aktiven Intellekt – und somit etwas Überindividuellem – aus, sodass das Individuum letztlich in diesem aufgeht. Thomas dagegen stellt sich explizit gegen eine solche Einigung und ein solches Aufgehen im aktiven Intellekt. (Vgl.: scg iii,54.) Es lässt sich aber ein gewisser Elitärismus (dies eine Parallele zu Maimonides) festmachen, indem Thomas betont, dass es durchaus möglich ist, dass nicht alle Gott gleich erkennen können, selbst wenn Gott ihnen das gnadenhafte Licht zu dieser Erkenntnis geschenkt hat. (Nach: scg iii,58.) In diesem Konzept der Erlösung besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen Maimonides und Thomas von Aquin, welcher sich mit Fox wie folgt ausdrücken lässt: „For Aquinas, the Christian, salvation is neither by works alone, nor by rational knowledge, but by grace. Natural law tells men how to behave, but it cannot lead them to their final and true fulfillment. For Maimonides, the Jew, salvation depends on good works, leading to rational apprehension of the highest truth. There is no natural moral law, only the law of God, which teaches us to live our lives in such way that we are worthy of our claim to have been created in His image. This, in turn, creates the circumstances under which we can develop our intellect in such way as to become as nearly divine as finite men can ever be.“ (Fox (1975), S. 106.) Zur wahren Gotteserkenntnis erst nach dem Tod s. auch: scg iii,48. Dies in Entsprechung zu Maimonides, welcher ebenfalls festhält, dass der Mensch hier auf Erden immer wieder Zustände erlebt, in denen er von der Einigung mit Gott getrennt wird und die wahre Einigung mit dem aktiven Intellekt erst nach dem Tod erfolgt, wenn der Mensch definitiv dem Materiellen enthoben wird.

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Aquinaten hängt es somit vom Intellekt und der damit gegebenen Erkenntnis Gottes und Nähe zu Gott ab, wie stark und ob wir überhaupt von Übeln getroffen werden können. Dennoch gilt es, einen gravierenden Unterschied zwischen den Konzepten des Rambam sowie des Aquinaten festzuhalten: Denn obwohl Thomas für Hiob Verstand veranschlagt, für seine Freunde aber Unverständigkeit, sind diese nicht von Leiden betroffen, sondern nur der sich durch seinen Intellekt in der (zwar noch nicht vollständigen) Nähe Gottes wissende Hiob. Das ganze Konzept der Verbindung von Intellekt, Gotteserkenntnis und Schutz vor Übeln wird von Thomas damit einseitig ins Jenseits verschoben. Thomas hat einen zentralen Aspekt von Maimonides aufgenommen, hat diesen aber entweder nicht in seiner ganzen Tiefe und Komplexität verstanden oder schlichtweg nicht konsequent durchgeführt, sprich unter Weglassung der Effekte auch für das irdische Leben, welche sich aufgrund der maimonidischen Providenzlehre ergeben. Er hat das Konzept aber doch insoweit aufgegriffen, als er festhält, dass Hiob aufgrund seines Wissens um die Nähe zu Gott nicht ganz vernichtet werden kann von seinen Übeln. Somit klingt auch hier bereits für dieses Leben der maimonidische Gedanke an, dass der im Intellekt Geschulte zwar nicht ganz von Übeln befreit ist, diese ihm aber nichts mehr anhaben können. Für Bildad greift Thomas den maimonidischen Gedanken explizit auf, wenn er festhält, dass dieser davon überzeugt ist, dass, wer das Licht der Weisheit verliert, auch den Schutz der göttlichen Providenz verliert.530 Doch handelt es sich bei Bildad um eine jener Positionen, die Thomas als falsch aufweisen will, sodass er damit letztlich Maimonides’ Vorsehungskonzept ablehnt. Im weiteren Verlauf behauptet Thomas von Aquin, dass Hiob bereits um die Erlösung durch Jesus Christus gewusst habe und darin seine Hoffnung auf Auferstehung ruhe.531 Thomas von Aquin praktiziert eine christologische Schriftlektüre. Nochmals wird betont, dass Lohn und Strafe den Menschen auch nach dem Tod treffen, dass also die Ungerechten, denen es hier gut geht, ihre Strafe nach dem Tod erhalten werden, die unschuldig Leidenden dagegen werden ihren Lohn erhalten.532 Thomas verschiebt damit das Tun-Ergehen-Modell ins Jenseits, im Diesseits dagegen kommt es nicht voll zum Tragen. Wie er festhält, hat Zophar Hiobs Ansicht inzwischen teilweise verstanden, sodass er zwar annimmt, dass der Mensch tatsächlich in Zukunft Lohn und Strafe erhält, zugleich hält er aber dennoch weiterhin daran fest, dass das, was uns in diesem 530 531 532 533

Nach: Exp. sup. Iob xviii,1. Nach: Exp. sup. Iob xix,2. Nach: Exp. sup. Iob xix,2. Nach: Exp. sup. Iob xx,1.

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Leben trifft, von Gott für unsere Verdienste bzw. Sünden über uns verhängt ist.533 Es stellt sich allerdings die Frage, wie diese beiden Positionen zugleich vertreten werden können, denn wenn alles, was in diesem Leben geschieht, Ausdruck von Strafe und Belohnung für unsere Taten ist, so ist nicht einsichtig was es in Zukunft noch zu belohnen bzw. bestrafen gäbe. Nochmals weist Hiob darauf hin, dass Wohlergehen und Leiden in diesem Leben nicht immer Ausdruck von Lohn und Strafe sind.534 Der Aquinate betont, dass das Leiden der Ungerechten schlimmer ist als dasjenige der Gerechten, da Letztere dennoch in ihrem Vertrauen auf Gott davon nicht völlig zerstört werden, den Ungerechten dagegen bleibe nach dem Wegfall der irdischen Güter, auf die sie ihr ganzes Streben gesetzt hatten, nichts mehr.535 Auch hier begegnet wiederum das (maimonidische) Element, dass jene, welche bei Gott sind, zumindest teilweise dem Bösen enthoben sind. Der Grund, weswegen Ungerechte manchmal nicht auf Erden bestraft werden, sondern hier prächtig gedeihen, sei, so Thomas, ein allgemein bekannter, dass nämlich die Bestrafung auf die Zeit nach dem Tode aufgeschoben werde, wo sie noch schärfer ausfalle.536 Diese Verschiebung nach hinten erfolge aus zwei Gründen: Zum einen würden irdische Strafen für die Vergehen in ihrer Härte nicht ausreichen, zum anderen sei der Verstand der Ungerechten so beschränkt, dass sie die Bestrafung nicht verstehen würden, sodass sie aus Bestrafung nicht lernen könnten und so auch nicht erkennen würden, dass sie diese Dinge selbstverschuldet treffen.537 Eliphas interpretiert Hiobs Aussagen nicht korrekt, wenn er annimmt, dass dieser einen Mangel in Gottes Wissen (scientia) annimmt, woraus Eliphas schließt, dass Hiob Gottes Vorsehung (providentia) für die menschlichen Belange leugnet.538 Paradoxerweise erweist sich die Annahme Eliphas’, Hiob erhalte sogar noch mehr zurück, als er vorher hatte, wenn er umkehre,539 als richtig, auch wenn Thomas diese Ansicht ja gerade nicht annehmen, sondern für das Leben nach dem Tod plädieren will: Hiob erlangt am Schluss in diesem Leben alles doppelt zurück. Dies scheint der thomasischen Hiobinterpretation entgegenzulaufen. Denn Hiob hat seinen Lohn nicht erst im Jenseits erhalten, sondern bereits im Diesseits. Inwieweit kann also die Hioberzählung für diejenigen, für welche ihre Hoffnung in diesem Leben unerfüllt bleibt, tatsächlich zum Trost gereichen, wenn sie all ihre Hoffnungen auf das Jenseits setzen müssen, zugleich 534 535 536 537 538 539

Nach: Exp. sup. Iob xxi,1. Nach: Exp. sup. Iob xxi,1. Nach: Exp. sup. Iob xxi,2. Nach: Exp. sup. Iob xxi,2. Nach: Exp. sup. Iob xxii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxii,2.

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aber sehen, wie andere es dennoch bereits im Diesseits erhalten? Die Wiedererlangung der matieriellen Güter ist dabei gemäß Thomas’ Entwurf unerheblich, denn diese sind nur akzidentelle Güter. Worauf es wirklich ankommt, ist einzig das eine wahre und letzte Gut, Gott. Eliphas versichert Hiob, dass er die Sicherheit erhalten wird, dass ihm das, was ihm von Gott zurückgegeben wird, nicht mehr genommen werden kann.540 Nebst materiellen Gütern zählt er dabei auch geistige Güter zu den Dingen, welche Hiob erlangen wird, so z.B., dass er sich ganz an der Liebe zu Gott wird erfreuen dürfen.541 Hiob anerkennt, dass er durch göttliches Urteil (divinum iudicium) gestraft wurde, betont aber zugleich, dass das vollumfängliche Wissen um den Grund der Bestrafung einzig bei Gott alleine liegt.542 Daher will er Berufung einlegen, aber nicht, weil er die Korrektheit des göttlichen Urteilsspruchs anzweifelt, sondern weil er die Thematik erforschen will, um so der Wahrheit und damit dem Grund seiner Bestrafung näher zu kommen.543 Es geht Hiob also nicht darum, Anklage gegen Gott zu erheben, vielmehr versucht er gemäß Thomas’ Interpretation in einer quasi-dialektischen Herangehensweise zur Wahrheitsfindung zu gelangen, wobei die Wahrheit für ihn aber von Anfang an im Wissen um den korrekten Urteilsspruch Gottes feststeht. Auffälligerweise ist es hier doch wieder die Sicht des Bösen als Strafe und nicht die weitere Möglichkeit, dass Gott im Leiden Hiobs Rechtschaffenheit vor der Welt offenbaren will, welche in den Blick gerät. Gerade die Sicht des Bösen, welches Hiob trifft, als Strafe stimmt dabei mit den anderen Ausführungen zum Bösen überein: Gott lässt das moralische Böse zu, da er aber Ordnung und Gerechtigkeit schafft, erschafft er somit per accidens der Möglichkeit nach auch die Strafe. Als Strafe kann das Leiden Hiobs aber nur mit Blick auf die Erbsünde gedeutet werden. Hiob hebt hervor, dass er nicht für seine Bosheit bestraft wurde, und betont nebst Gottes Größe und Macht auch seine Gerechtigkeit und Liebe.544 Gottes Providenz umfasst nicht nur dieses Leben zur Beurteilung des Menschen, sondern reicht auch bis in das Leben nach dem Tod.545 Hiob betont, dass es nicht gegen Gottes Vorsehung spricht, wenn in diesem Leben die Gerechten leiden, den Ungerechten 540 541 542 543 544 545 546 547

Nach: Exp. sup. Iob xxii,2. Nach: Exp. sup. Iob xxii,2. Nach: Exp. sup. Iob xxiii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxiii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxiii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxvi. Nach: Exp. sup. Iob xxvii. Nach: Exp. sup. Iob xxvii. Stump hebt hervor, dass Leiden angenommen werden kann, wenn den Leidenden bewusst wird, was sie dafür von Gott erhalten. (Nach: Stump (2010),

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dagegen alles gelingt.546 Als Grund führt er die Nichtigkeit der zeitlichen Güter an, welche die Ungerechten in diesem Leben besitzen, und stellt sie der Größe der spirituellen Güter entgegen, welche die Gerechten im Jenseits erwarten.547 Dies wahrt die göttliche Vorsehung, denn die Gerechten besitzen Weisheit (sapientia) und diese ist wertvoller als alle irdischen Güter; und so sind auch die geistigen Güter, welche die Gerechten erhalten werden, wertvoller als die irdischen, welche nur vorübergehend sind.548 Hiob, so Thomas weiter, zieht sich in der Folge selbst als Beispiel hierfür heran.549 Er weist auf, dass die Leiden von Gott über ihn gekommen sind, da sie das gewöhnliche, von Menschen

548 549 550 551

S. 375.) Hiob also konnte sein Leiden nur deshalb hin- und annehmen, weil er wusste, dass ihn ein viel größeres Gut erwartet, nämlich die spirituellen Güter, gegen welche irdische Güter nichtig sind. Letztlich ist alles abzuwägen mit der visio beatifica. (Nach: Ebd., S. 394.) In De rationibus fidei begründet Thomas von Aquin hiermit auch die Wahl armer, aber in ihrer Tugend vollkommener Eltern als Eltern des Heilands. (Nach: De rat. fid., c. vii.) Weiter begründet er mit diesem Hinweis auch das Leiden Christi, seine Geißelung, aber auch den Tod. (Nach: De rat. fid., c. vii.) Hinsichtlich der Hiob-Interpretation muss allerdings angemerkt werden, dass Hiob um diesen Zusammenhang bereits weiß und er seine Freunde darüber belehren möchte. Sein Leiden erschiene so zum Zwecke der Unterrichtung anderer. Dies allein wäre schon problematisch. Noch problematischer wird es aber, wenn wir uns die Leiden selbst vor Augen führen: So hätten nämlich Hiobs Kinder nur zu dem Zwecke leiden müssen, dass die Freunde die Superiorität der spritituellen Güter erkennen lernen und so diese über irdische Güter stellen und unabhängig von materiellen Gütern wie von irdischem Leiden werden. Dies anzunehmen ist aber obsolet. Gott opfert nicht andere Menschen zur Unterweisung anderer. (Auch Stump selbst hält fest, dass das Gut in erster Linie dem Leidenden selbst und nicht anderen zukommen muss. (Nach: Stump (2010), S. 378.)) Da in Thomas’ System jedoch die Erbsünde eine zentrale Kategorie zur Erklärung des malum darstellt, ist anzunehmen, dass der Tod der Kinder Hiobs nicht nur als Wetteinsatz zwischen Gott und Satan anzusehen ist, sondern gemäß Hiob mit Verweis auf die Erbsünde als Strafe an den Kindern gerechtfertigt ist. Ebenso kann Hiob selbst noch so gut sein, seine Befleckung mit der Erbsünde legitimiert sein physisches Leiden ebenfalls als Strafe. Nebst der Strafe kommt für Hiob aber eine positivere Erklärung in den Blick: Sein Leiden stellt nicht nur Strafe dar, sondern dient auch dazu, ihm im Jenseits eine höhere Stufe der Einigung mit Gott zu gewähren. So besitzt Leiden in jedem Fall den Sinn der Gottesnähe bzw. des Wegs zu Gott: Das Leiden des Gerechten kann diesen auf eine noch höhere Stufe der Einigung mit Gott führen; das Leiden als Strafe dient dazu, dem Sünder die rechte Ordnung wieder aufzuzeigen, ihm Gott als Herrn und Wahrer der Gerechtigkeit ins Bewusstsein zu rufen und den Sünder so wieder zu Gott zu führen. (Nach: Ebd., S. 404.) Allerdings ist kritisch anzufragen, wie dies das Leiden jener rechtfertigt, die daran zerbrechen. Nach: Exp. sup. Iob xxviii,2. Nach: Exp. sup. Iob xxix. Nach: Exp. sup. Iob xxx. Nach: Exp. sup. Iob xxx.

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kommende Maß übersteigen.550 Hiob hofft darauf, sich nach dem Tod mit seiner unsterblichen Seele an Gott erfreuen zu können und dürfen, egal wie übel Gott ihm in diesem Leben auch zugesetzt hat.551 Es ist seltsam, ja stoßend, zu behaupten, das Böse komme von Gott her über Hiob. Dies allerdings nur auf den ersten Blick: Ruft man sich in Erinnerung, was Thomas bezüglich der Herkunft des Bösen lehrt, so wird deutlich, dass hier eine Verantwortung für die Leiden Hiobs von Seiten Gottes im Sinne des per accidens gemeint ist. Gott lässt es zu und ist so letztlich verantwortlich, indem er ein Geschöpf wie Satan geschaffen hatte, von dem er bereits wusste, dass seine „Natur“ bzw. seine zweite Natur, die Satan selbst zu verantworten hat, danach strebt, Leiden und Unheil über andere zu bringen. Indem also Gott ein solches Wesen mit der Möglichkeit zu diesem Abfall geschaffen hat, ist er per accidens auch für dieses Übel verantwortlich. Dies muss in den Aussagen Hiobs mitbedacht werden. Wie nämlich auch der Prolog zum Buch Hiob deutlich macht, kann nicht von einer direkten Verantwortung Gottes für die Leiden des Hiob die Rede sein, wohl muss aber eine indirekte zugestanden werden. Dies bedeutet wiederum, dass man die Ausführungen ohne Kenntnis der Ausführungen zum Bösen nicht hinreichend verstehen kann. So kommt das Leiden Hiobs letztlich als moralisches Böses in den Blick, wodurch es gerade nicht in den Bereich der göttlichen Providenz fällt. Es ist nämlich nicht Gott, der dieses notwendigerweise in seinem Plan einschließt, um die Geschöpfe zu sich als dem letzten Ziel zu ziehen. Hiob aber, dem dieses Böse zugefügt wird, ist Objekt der göttlichen Vorsehung, sodass Gott dafür Sorge trägt, aus diesem Leiden Gutes entstehen zu lassen. Hiob macht sich daran, seine Unschuld zu beteuern und aufzuweisen, dass er nicht gesündigt hat, weder indem er etwas begehrt hätte, das er nicht darf und das nicht ihm gehört, noch dass er ungerecht gewesen wäre oder sich sonst etwas hätte zuschulden kommen lassen.552 Hiob ruft Gott als Zeugen an, um entweder aufzuweisen, dass dem nicht so ist und Hiob tatsächlich strafwürdig ist, sodass er die Strafe auch zu empfangen bereit ist, oder aber um seine Unschuld zu beteuern, sodass Hiob darauf hofft, er möge den verdienten Lohn erhalten, wenn seine Unschuld auch durch Gott bewiesen ist.553 Elihu, so Thomas weiter, kommt in seiner nun folgenden Rede der Wahrheit näher als die anderen drei Freunde in ihren Reden, weswegen Hiob auch 552 553 554 555

Nach: Exp. sup. Iob xxxi,1f. Nach: Exp. sup. Iob xxxi,2. Nach: Exp. sup. Iob xxxii. Dobbs-Weinstein hebt dementsprechend hervor, dass Maimonides und Thomas von Aquin nicht nur Hiob, sondern auch Elihu anders interpretieren. (Nach: Dobbs-Weinstein

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nicht darauf antwortet, wenngleich auch Elihu die Wahrheit noch nicht ganz erfasst hat und Hiob teilweise falsch wiedergibt.554 Hierin besteht ein gewichtiger Unterschied zur Hiobinterpretation des Rambam:555 Dieser nämlich sah die richtige, neue (und daher von einem jüngeren Redner vorgetragene, um diese Innovation auch bildlich auszudrücken) Lehre zur Vorsehung in der Person des Elihu gegeben, welcher gegen die alten Vorstellungen der Antike antrat und diese als überkommen aufwies. Hiob musste zuerst die Richtigkeit dieser neuen Lehre erkennen, um so zur richtigen Meinung bezüglich der Providenz zu gelangen und durch diese intellektuelle Entwicklung Objekt der göttlichen Vorsehung zu werden. Thomas von Aquin dagegen betont die Korrektheit der Ansicht Hiobs. Da die Erklärung der Freunde nicht hinreichend ist, um Hiob zu überzeugen, versucht der jüngere Elihu, welcher in Ehrung und Respekt gegenüber dem höheren Alter und damit einer gewissen Weisheit bisher geschwiegen hatte, einen anderen Weg als Reaktion auf Hiobs Reden einzuschlagen.556 Gemeinsam mit Hiob nimmt auch Elihu die Vergeltung für die Sünden nach dem Tod an.557 Elihu aber hört erstens aus Hiobs Unschuldsbeteuerung die Behauptung einer Immunität gegenüber der Sünde heraus und wirft Hiob zweitens vor, dieser bezichtige Gott eines ungerechten Urteils.558 Dass aber Hiob Gott Ungerechtigkeit vorwerfe, bezeuge seine eigene Ungerechtigkeit.559 Der Vorwurf Elihus, Hiob wolle Gott anklagen, als ob sie auf einer Stufe stünden, trifft nicht zu, möchte Hiob doch, so Thomas weiter, nur mit Gott ins Gericht ziehen, um von ihm zu lernen und Einsicht in den Urteilsspruch zu erlangen, wie ein Schüler (discipulus) von seinem Lehrer (magister) lernt.560 Elihu hebt hervor, dass zuerst die Sünden bekannt werden müssen, damit die guten Taten belohnt werden561 und setzt sich für Gottes Gerechtigkeit ein.562 Dass die Lenkung (gubernatio) der Welt in irgendeiner Weise ungerecht sein könnte, ist in jedem Falle als unmöglich (nullo modo possibile) ausgeschlossen.563

556 557 558 559 560 561 562 563 564

(1987), S. 131f.) Yaffe dagegen weist darauf hin, dass die Position des Elihu sowohl gemäß Maimonides als auch gemäß Thomas von Aquin eine Mittelposition einnimmt und so als Mediator zwischen Hiob und den drei Freunden, aber auch zwischen Hiob und Gott fungiere. (Nach: Yaffe (1979–1980), S. 71.) Nach: Exp. sup. Iob xxxii. Nach: Exp. sup. Iob xxxii. Nach: Exp. sup. Iob xxxiii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxxiii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxxiii,2. Nach: Exp. sup. Iob xxxiii,2. Nach: Exp. sup. Iob xxxiv,1. Nach: Exp. sup. Iob xxxiv,1. Nach: Exp. sup. Iob xxxiv,2.

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Da Hiob seine Sünden nicht anerkennt, bittet Elihu darum, Hiob möge weiter gepeinigt werden, um sein Unrecht endlich einzusehen – und zwar nicht nur durch irdische Strafen, sondern auch nach dem Tod.564 Thomas betont immer wieder, dass Elihu Hiob Worte in den Mund legt, welche dieser niemals ausgesprochen hat.565 Dass Gott nicht das Klagen und Weinen aller erhört, hat einen gerechten Grund: Denn er hört das Weinen der Unterdrückten, nicht aber das der Unterdrücker.566 Somit betont Elihu, Hiob sei ein Unterdrücker, dessen Wehklagen Gott aufgrund Hiobs eigener Ungerechtigkeit nicht erhöre und daher angesichts Hiobs Klagen schweige. Die irdischen Strafen dienen dazu, die Sünder zu korrigieren und auf den rechten Weg zu bringen, wer aber keiner Korrektur würdig ist, der wird nach dem Tod mit viel härteren Strafen versehen und verdammt.567 Aus diesem Grunde stimmt Elihu Hiob zu, dass es den Ungerechten z.T. in diesem Leben gut ergeht.568 Nochmals streicht Elihu – in Übereinstimmung mit Hiob – hervor, dass der äußerste Lohn für die Tugendhaften nicht in zeitlichen Gütern, sondern in einem geistigen Lohn – und zwar erst nach diesem Leben – besteht.569 Zusammenfassend stellt Thomas zusammen, worin Hiob und Elihu übereinstimmen und worin sie sich unterscheiden: We should consider from the arguments put forth by Eliud that he agreed partly with Job and partly with the friends. He agreed with Job (c. 7 and 14:11) because he believed the reward of good men and the punishment of evil men will be in the future afterlife. (32:22) But he agreed with the friends of Job (33:27) because he believed that all the adversities of the present life happen in return for sins, and if one repents of his sins he will return to prosperity. He also agreed with the friends of Job as to the person of Job himself, (36:18) because he thought that he had been punished for his sin, and that the justice which appeared in him at first was a pretense. He interpreted the words of Job wrongly (33:10) as did the others. As to the prosperity of evildoers in this world, he alone touches on this cause: that they prosper because of the sins of others. (34:30) In the same way he alone also seems to clearly touch on the angels as the mediators between God and man. (33:23)570

565 566 567 568 569 570

Vgl.: Exp. sup. Iob xxxivf. Nach: Exp. sup. Iob xxxv. Nach: Exp. sup. Iob xxxv. Nach: Exp. sup. Iob xxxv. Nach: Exp. sup. Iob xxxvii,1. Exp. sup. Iob xxxvii,2.

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Da aber die menschliche Weisheit (humana sapientia) nicht genügt, um die Wahrheit der göttlichen Providenz (veritas divinae providentiae) zu verstehen, ist es notwendig, dass das Streitgespräch von der göttlichen Autorität (divina auctoritas) beendet wird.571 Und so tritt Gott auf. Zunächst weist er die Freunde zurecht, welche nicht die Wahrheit gesprochen haben, aber auch Hiob wird gemäß Thomas zurechtgewiesen, da er zwar richtig von der göttlichen Vorsehung denkt, aber in einer Art und Weise gesprochen hat, dass er in den Herzen der Freunde ein Ärgernis hervorgerufen hat.572 Der Aquinate betont damit nicht Gottes Urteil, Hiob habe recht von ihm gesprochen, sondern legt den Akzent auf den Widerruf Hiobs. Im Gegensatz zu den Ausführungen im biblischen Teil widerruft Hiob demgemäß also nicht, was, sondern wie er gesprochen hat. Thomas betont, dass die menschliche Vernunft (ratio) hinsichtlich des Verständnisses der göttlichen Angelegenheiten defizitär ist, weswegen der Mensch nicht mit Gott ein Streitgespräch führen kann.573 Ein auffälliger Unterschied zu Maimonides besteht in der Sichtweise des Satan: Maimonides’ differenzierte Interpretation spiegelt sich bei Thomas nicht wider, vielmehr interpretiert er Satan eindeutig mit dem Teufel als gefallenem Engel.574 Weiter identifiziert er ihn auch mit den Biestern, denn da Gott voraussah, dass sich die Dämonen wie wilde Biester verhalten werden, habe er ihnen die Fähigkeit gegeben, auch als solche aufzutreten.575 Christus wird (zusammen mit seinen Nachfolgern) als derjenige erwähnt, welcher den Teufel besiegt hat, wie ein Elephant auf der Jagd vom Jäger besiegt wird.576 Mit seiner Identifikation mit dem Wal zeigt Thomas auf, dass der Satan nicht von seinen bösen Absichten und Taten abgehalten werden kann, wie es bei einem Fisch durch die Angel möglich wäre.577 Damit soll verdeutlicht werden, dass der Teufel vom Menschen nicht aus eigener Kraft überwunden werden kann, sondern nur von Gott.578 Thomas betont in seiner Auslegung weiter, dass der Teufel der göttlichen Vorsehung unterworfen ist und so nur tun kann, was Gott 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580

Nach: Exp. sup. Iob xxxviii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxxviii,1. Nach: Exp. sup. Iob xxxviii,1. Vgl. z.B.: Exp. sup. Iob xxvi. Nach: Exp. sup. Iob xl,2, wobei Thomas Behemot mit dem Elephanten, Leviathan mit dem Wal identifiziert. Nach: Exp. sup. Iob xl,2. Nach: Exp. sup. Iob xl,3. Nach: Exp. sup. Iob xl,3. Nach: Exp. sup. Iob xli,1. Nach: Exp. sup. Iob xlii. Dobbs-Weinstein hält fest, dass es gerade auch die in Form von Fragen vorgetragene Gottesrede ist, welche diese Unverständigkeit des Menschen ausdrückt. (Nach: Dobbs-Weinstein (1987), S. 137.)

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zulässt.579 Hiob gesteht ein, dass er unverständig war und künftig nicht mehr von diesen Dingen, welche sein Verstehen übersteigen, reden wird.580 Damit weicht Thomas aber einer Antwort aus und verweist einzig darauf, dass alles der göttlichen Vorsehung unterliegt, wenngleich der Mensch nicht erkennen kann, wie Gottes Vorsehung und Lenkung im Einzelnen vonstatten gehen. Gott ist wütend auf die drei Freunde Eliphas, Bildad und Zophar, da diese sich versündigt haben, indem sie Unwahrheit in Form übler Lehren sprachen, doch Gott gewährt ihnen Vergebung durch Opfer und Gebet.581 Hiob erhält mehr zurück als er zuvor hatte, die Zahl der Kinder dagegen bleibe gleich, da entweder mit Blick auf das künftige Leben zu sagen sei, dass sie im Tod nicht verloren gingen, sondern im Jenseits mit ihm sein würden,582 oder aber mit Blick auf das Diesseits, dass der Wert, die Eigenschaften und Qualitäten der einzelnen Kinder, welche gleich an Zahl waren, größer war als vorher, sodass in dieser Hinsicht sein Reichtum auch in den Kindern vergrößert wurde.583 Es muss aber festgehalten werden, dass Thomas nicht zu erklären vermag, weswegen Hiob dennoch bereits im Diesseits belohnt wurde, wo er doch so großen Wert in seiner Interpretation auf die Vertröstung auf das Jenseits legt. Kommt hinzu, dass sich Hiob ja auch gegen die Vorstellung von Lohn und Strafe einzig im Diesseits ausgesprochen hatte,584 da ihm nur noch wenig Lebensspanne bleiben würde, wenn er zurückerhielte, was er hatte, sodass dies nicht wirklich befriedigend wäre, dass aber am Ende der Erzählung Hiobs Lebensspanne von Gott gerade in entscheidendem Maße verlängert wurde, sodass er dennoch eine volle Lebensspanne hatte, um die wiedererlangten Güter auf Erden zu genießen. Auch hinsichtlich dieses Aspekts versagt also Thomas’ Interpretation des Jenseits letztlich, da die Erzählung selbst großen Wert darauf legt, dass Hiob bereits im Diesseits Gerechtigkeit und Wiedergutmachung in umfassendem Maße – sowohl zeitlich als auch hinsichtlich des Umfangs – widerfährt. Dies muss wohl mit Thomas’ Verweis, dass die Wirkung 581 582 583 584

585

Nach: Exp. sup. Iob, Epilog. Stump hebt denn auch ausschließlich diesen Punkt hervor und lässt den Verweis auf die gesteigerte Qualität der „neuen“ Kinder außen vor. (Nach: Stump (2010), S. 466.) Nach: Exp. sup. Iob, Epilog. Hierbei handelt es sich um den zentralen Punkt und die entscheidende Einsicht gemäß der Interpretation des Aquinaten. Da Lohn und Strafe im Jenseits angesetzt werden, kann Thomas darauf verweisen, dass die Verfassung im Todeszeitpunkt gerade nichts Schlüssiges über den moralischen Wert einer Person aussagen lässt, da Tun und Ergehen auf Erden nicht zwingend identisch sind, sondern der endgültige Lohn bzw. die definitive Strafe erst nach dem Tod auf uns warten. So hält beispielsweise auch Wohlman Hiobs Unschuld fest und verweist mit den spirituellen Gütern auf ein anderes Motiv, welches hinter den Anfeindungen, welche Hiob treffen, steht. (Nach: Wohlman (1988), S. 259.)

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der göttlichen Vorsehung letztlich ein Rätsel bleibt, zur Kenntnis genommen werden. Obwohl Thomas von Aquin selbst immer wieder Hiobs Unschuld betont,585 behauptet Yaffe, der Aquinate berufe sich auf Hiobs Weisheit bei gleichzeitiger Schuldigkeit – also die exakt gegenteilige Position zu Maimonides’ Interpretation.586 Seine Ungerechtigkeit macht Yaffe an dem Umstand der Redeweise des Hiob fest, welche die Freunde glauben lässt, er lästere Gott. Dieser Umstand findet sich bei Thomas in der Tat so wieder. Allerdings lässt Yaffe weg, dass Thomas explizit betont, dass Hiob vor Gott nicht strafwürdig ist, da er die Wahrheit gesprochen hat. Yaffe identifiziert Hiob mit einem perfekten Studenten oder Professor: vollkommen in der Weisheit, an der praktischen Umsetzung dagegen fehle es ihm.587 The story of Job – a historical fact, according to Aquinas – is, thus, the story of a man who is wise in the Divine truth as taught by the Church, but who must reconsider the possible injustice involved in his professing that truth to others in society. His Christian wisdom must become the object of his own practical reassessment, or his own quest for forgiveness from sin.588 Immer wieder betont Yaffe Hiobs Übermut aufgrund seiner scheinbar überlegenen Weisheit.589 Yaffe sieht also für Thomas die Weisheit als Grund für Hiobs Leiden an, wodurch sich das Bild ergäbe, dass bei Thomas – im Unterschied zu 586

587 588 589 590

Nach: Yaffe (1979–1980), S. 62. Weiter behauptet Yaffe, dass Thomas von Aquin genau wie auch Maimonides mit einem esoterischen Sinn arbeite, sodass sich auch bei ihm eine oberflächliche Bedeutung, welche den einfachen Gläubigen zugänglich sei, sowie eine verborgene, welche nur von Philosophen erschlossen werden könne, finde. (Nach: Ebd.) Nach: Ebd., S. 66. Ebd. Vgl. z.B.: Ebd. Nach: mn iii,8, wobei Weiss in seiner Übersetzung von Vorzügen und nicht von Tugenden spricht. Wie der Rambam weiter herausstreicht, erfolgen die Sünden, die Zuwiderhandlungen am göttlichen Gebot, im tierischen Zustand des Menschen. (Nach: mn iii,8.) Dies leuchtet ein, zumal wir gesehen hatten, dass der Mensch, um wirklich Mensch zu sein, seine Triebe kontrollieren und beherrschen muss und sich ganz den Tugenden, welche mit der Form in Verbindung stehen, zuzuwenden hat. Wenn nun aber jemand an eine Gebotsübertretung oder Ungehorsam denke, so sei dies gravierender, da er mit dem edleren Teile sündige, nämlich mit der Form, da die Fähigkeit zum Denken und zum Überlegen zur Form zu zählen seien. (Nach: mn iii,8.) Es sei in diesem Zusammenhang auch auf die aristotelische Lehre der unterschiedlichen Seelenkräfte mit qualitativ aufsteigender Bedeutung zu erinnern (Sukzessivbeseelung): die anima vegetativa (Pflanzen),

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Maimonides, wo Providenz linear mit der Weisheit einhergeht – die Providenz geradezu durch die Weisheit verloren ginge. Maimonides betont, dass alle Sünden auf die Materie zurückgehen, nicht aber auf die Form, der nur die Tugenden im Menschen zukommen:590 Als Beispiel dafür diene, dass die Gotteserkenntnis des Menschen, die Vorstellung alles Gedachten, die Beherrschung aller seiner Leidenschaften und seines Zornes und die Erwägung dessen, was er zu wählen oder zu verabscheuen hat, dass dies alles die Wirkung seiner Form ist, sein Essen und Trinken hingegen, Beischlaf, sein häufiges Begehren nach diesen Dingen, ebenso sein Zorn und jedes Laster, das in ihm vorhanden ist, durch seine Materie verursacht ist.591 Wohlman gibt im Unterschied zu Yaffe die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Hiobinterpretationen Maimonides’ und Thomas’ treffend wieder, wenn er darauf verweist, dass es beiden daran gelegen ist, das Problem des scheinbaren Leidens der Gerechten zu lösen, dass diese Lösung aber gerade auf grundsätzlich unterschiedliche Weise vorgenommen wird: On voit dès lors comment, sur ce point précis qui est le plus délicat, Maïmonide et Thomas se rencontrent et comment ils divergent. Ils se rencontrent en ceci qu’ils ne croient pas à la possibilité de cette injustice fondamentale qu’est le malheur du juste. Ils divergent radicalement dans la manière de surmontrer ce scandale. Maïmonide demande au sage de reconnaître par la raison à la fois la regulation des lois naturelles et la transcendence de la connaissance divine, Thomas brise le cercle de l’apparente injustice de ce monde terrestre en ouvrant l’espérance à une retribution dans la vie future.592

591

592

die anima sensitiva (Tiere) sowie die anima intellectiva (Mensch), wobei jede höhere Seele im innerweltlichen Bereich auch die Vermögen der niederen Stufe in sich vereint. (Vgl.: Aristoteles, De anima, ii,4; 416a-II,7; 431b). Zur Sukzessivbeseelung bei Thomas vgl.: STh i, q. 118, a. 2 ad 2. mn iii,8. Je mehr es dabei einem Menschen gelingt, diese Laster zu beherrschen und sich ganz den Tugenden zuzuwenden, auf einer desto höheren Stufe steht dieser Mensch und desto mehr ist er wirklich Abbild und Ebenbild Gottes. (Nach: mn iii,8.) Es existiert innerhalb des Menschengeschlechts eine qualitative Rangordnung, wodurch wie auch bei der Unterscheidung, welche mit seiner esoterischen Methode einhergeht, wiederum ein Elitärismus für Maimonides veranschlagt werden kann. Wohlman (1988), S. 259.

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Wie bereits Maimonides betont auch Thomas die Gerechtigkeit Gottes. Um diese wahren zu können, geht er allerdings einen anderen Weg als der Rambam: Denn gemäß dem Aquinaten bilden die Zustände in diesem Leben nicht das wahre System von Lohn und Strafe ab, welches nämlich im Jenseits anzusiedeln ist. Um die göttliche Gerechtigkeit wahren zu können, verschiebt Thomas das System in eine künftige Welt, sodass der irdische Zustand in seiner Bedeutung gemindert wird und sich die wahre Vorsehung darin erweist, ob der Mensch zu seinem telos, zur visio beatifica, gelangt oder nicht. Dadurch wird der Mensch gewissermaßen über den aktuellen Zustand erhoben, indem er erkennt, dass irdische Güter bedeutungslos sind. Verliert man diese, geht aber weiterhin auf das wahre Gut zu, so hat man nichts verloren. Der einzige Verlust, der wirklich zählt, ist der der Erlangung des Gutes, welches Gott selbst ist. Gerechte, welche hier leiden, erwartet im Jenseits ein noch größerer Lohn, als wenn sie ohne Anfechtungen durch dieses Leben hätten gehen können. Die Frevler dagegen, denen es wohl ergeht, sind alles andere als zu beneiden, da sie des wahren Gutes verlustig gehen und von Strafen erwartet werden, welche alles irdisch Mögliche übersteigen. Die letzte Bestimmung des Menschen wird aber nicht eigentlich ins Jenseits verschoben, sondern dorthin, von wo sie kommt: Gott als Ursache und finales Ziel lenkt alles zu sich hin. Der exitus ist damit nicht ohne den reditus zu denken, sodass auch mit Blick auf die Hiobinterpretation das Ziel den eigentlichen Ausgangspunkt der Überlegungen darstellt. Im Unterschied zu den Analysen zur Summe wider die Heiden, zur Theologischen Summe sowie zu De malo kennt Thomas im Hiobkommentar anscheinend nebst der Erbsünde als Strafgrund und der Definition aller physischen Übel als Strafe für diese oder persönliche moralische Übel auch das Phänomen, dass es Leiden gibt, welches nicht als Sündenstrafe zu verstehen ist, sondern das Gott benutzt, um die Standhaftigkeit der Betroffenen aufzuweisen und so vor den anderen Menschen ihre Rechtschaffenheit zu erweisen. Mit seinem pädagogischen Konzept nimmt Thomas aber auch die Möglichkeit auf, dass Ungerechte, welche Strafe erleiden, hierdurch von Schlimmerem abgehalten werden, aber auch auf den richtigen Weg geführt werden können. Weiter nimmt er damit auch den Umstand auf, dass es Ungerechten zumal wohl ergeht, ohne dass dies etwas über ihren inneren Zustand aussagen würde. Diesen Umstand führt er darauf zurück, dass bei ihnen jede erzieherische Manahme von Seiten Gottes verlorene Liebesmühe wäre, da sie sich nicht bekehren lassen, wodurch sie am Ende jedoch ein viel härteres Gericht trifft. Auch wären irdische Strafen den Verbrechen nicht angemessen, da die Ungerechten so viel zu leicht davonkämen. Der irdische Reichtum nützt ihnen sodann in Wahrheit nichts. Welche Weise dem Leiden oder Nichtleiden dabei zugrunde liegt, ist aus der Sicht

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Dritter nicht ersichtlich. In der Betrachtung kommt aufgrund der Figur Satans insbesondere die Sünde und damit das moralische Übel in den Blick. Die Übel, welche Gerechte treffen, werden dadurch nicht nur als Strafe Gottes betrachtet, sondern als von anderen verursacht qualifiziert. Gott ist nicht verantwortlich für diese Übel zu nennen, sondern lässt sie lediglich zu. Das moralische Böse zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass es außerhalb des Bereichs der göttlichen Vorsehung anzusiedeln ist.593 Gott lässt seine Providenz nicht so wirken, dass er der Sünde als Werkzeug bedürfte. Die Person aber, welche unter diesem moralischen Übel zu leiden hat, ist Objekt der göttlichen Vorsehung, sodass Gott dafür sorgt, dass dennoch Gutes aus dem Übel resultiert – und insofern integriert er es auch in die Providenz, nicht per se, sondern per accidens, indem die Person, an dem es auftritt, aber auch die, von der es ausgeht, unter der Providenz Gottes stehen. Jedoch gibt es Menschen, welche am Leiden zerbrechen. Hier soll in der thomasischen Konzeption die Hoffnung auf das Leben nach dem Tod und die gerechte Zuteilung von Lohn und Strafe als letztes Mittel eingreifen: Auch wenn es auf Erden nicht gut wird – gemessen an den irdischen Gütern –, so besteht dennoch die Gewissheit, dass es im Jenseits gut kommen wird – und zwar gemessen an den spirituellen Gütern. Dies sind die wahren Güter und nur diese zählen, sodass das irdische Geschick angesichts dieser Güter verblasst. Fragt sich aber doch, warum Gott die Geschicke nicht schon hier wendet – wie es ja bei Hiob durchaus der Fall war. Mit Thomas ist darauf zu verweisen, dass in dieser Welt nicht das wahre Ziel liegt, sondern das letzte Ziel, nämlich Gott, geht vielmehr darüber hinaus. Das Geschilderte macht deutlich, dass Thomas im Hiobkommentar aufweist, dass Vorsehung nicht so zu verstehen ist, dass sie alles Übel von guten Menschen abhält, sondern dass sie auf ein letztes Ziel gerichtet ist: Die Vorsehung wirkt nicht punktuell, sondern zielgerichtet. Daher auch widerspricht es der Providenz nicht, wenn Gerechte auf Erden leiden müssen. Der Fokus ist auf das telos gerichtet, sodass nicht irdische Güter etwas über die Beziehung zu Gott aussagen, sondern es nur auf das ewige Gut ankommt, welches der Mensch in der visio beatifica erlangen soll. Auch hier klingt das von Maimonides bekannte Motiv an, dass der Mensch erst dann dem Übel ganz enthoben ist, wenn er in ungebrochener Beziehung zu Gott steht, welche erst nach diesem Leben voll zu erreichen ist. Gute Menschen können zwar hier auf Erden von Übeln getroffen werden, jedoch richten sich diese „nur“ gegen irdische Güter. Nachdem die Hiobinterpretation des Thomas vorgestellt wurde, wobei der Umstand auffiel, dass Thomas diesbezüglich viel stärker maimonidische 593

Nach: Sentis (1992), S. 140.

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Grundzüge aufnimmt oder erwähnt, als dies in den übrigen Ausführungen zum Bösen der Fall war, sodass sich das Bild ergibt, dass Thomas den Moreh mit Blick auf die Thematik des Bösen insbesondere hinsichtlich seiner Hiobinterpretation wahrnahm und alle anderen Themen wie etwa die drei Formen des Bösen, aber auch die Intellektsbetonung mit Blick auf die Vorsehung dieser Thematik unterordnete, sodass sie sich nicht in gleicher Weise in den drei anderen behandelten Schriften widerspiegeln, sondern insbes. im Hiobkommentar auftauchen, gilt es mit Blick auf die Methodik in einem nächsten Schritt die Ausführungen des Thomas zu bewerten, aber auch danach zu fragen, ob diese sich in die heutige Zeit übertragen lassen, ob eine sprachliche Aktualisierung vorgenommen werden muss oder ob sie den heutigen Ansprüchen und Herausforderungen nicht mehr genügen. 4.4

Beurteilung: Chancen und Mängel des Geschilderten

Bevor die Theorie beurteilt wird, sollen die wichtigsten Aussagen hinsichtlich der Herkunft des Bösen nach Thomas von Aquin schematisch in einigen Sätzen als Annahmen (A) und Schlussfolgerungen (S) aus denselben dargestellt werden, wobei dies nicht so zu verstehen ist, dass Schlussfolgerung 1 aus Annahme 1 folgt, etc. A 1: Gott ist das summum bonum. A 2: Gott schafft als summum bonum nur Gutes. A 3: Alles Gute hat seine Gutheit nur insofern es von Gott geschaffen ist; seine Gutheit gründet auf seiner Bezogenheit auf Gott. A 4: Das Gute, welches aus Gott hervorströmt, besitzt Gutsein in unterschiedlichen Abstufungen. A 5: Alles strebt nach dem Guten. A 6: Gott ist unwandelbar. A 7: Das Geschaffene ist wandelbar594 (Generationen, Perfektionierung, Deformierung). A 8: Die Materie ist Potenz und daher zur Wandlung fähig. A 9: Je höher die Stufe eines wandelbaren Seins hinsichtlich seiner möglichen Vollkommenheit ist, desto anfälliger ist es für Veränderung in beide Richtungen.

594

Vgl. hierzu auch: Augustinus, De civ. Dei xii,1: Auch er betont, dass alles Geschaffene als von Gott Geschaffenes gut, aber zugleich aufgrund seiner Erschaffung aus dem Nichts wandel- und veränderbar ist.

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A 10: Das Vorhandensein von möglichst vielen unterschiedlichen Gutheitsstufen ist besser, als wenn es nur wenige unterschiedliche Stufen von Sein gibt. A 11: Der Mensch besitzt einen freien Willen und ist so fähig zu ethisch qualifizierbaren Handlungen. A 12: Gott ist gerechter Richter und straft für Sünde bzw. belohnt Gutes. S 1: Alles Geschaffene ist gut. S 2: Es gibt im Geschaffenen unterschiedliche Stufungen von Gutheit. S 3: Das Böse ist nicht geschaffen. S 4: Das Böse tritt an Gutem auf (parasitär). S 5: Das Böse wird nur per accidens als quasi-Gutes angestrebt. S 6: Das Böse hat nur eine causa deficiens, keine causa efficiens. S 7: An der Materie haftet die Privation. S 8: Das Böse ist Privation am (potentiell) Guten. S 9: Eine Welt, welche auch die ihrer möglichen Vervollkommnung nach höchsten Stufen an wandelbarem Sein und damit auch mit den meisten Möglichkeiten zum Bösen in sich schließt, ist besser als eine Welt, in der nur niedrige, weniger anfälligere Stufen und damit fast bis gar kein Böses vorhanden sind. S 10: Nebst den aufgrund der natürlichen Vorgaben und Gegebenheiten der Materie und des Seins gegeben Möglichkeiten zum natürlichen Bösen ist auch der Mensch dazu in der Lage, Böses (moralisches Böses) zu verursachen. S 11: Das Menschen widerfahrende bzw. das an ihnen auftretende Böse ist als Strafe Gottes für die Erbsünde auf dieselbe als Grund und Auslöser zurückzuführen. Des Aquinaten Behandlung des Bösen ist im Hinblick auf die kosmische Dimension mit einer Affinität zum ästhetischen Moment zu charakterisieren. Diese ästhetische Sichtweise gilt allerdings nur hinsichtlich des natürlichen Bösen, nicht aber für die Kategorie des moralischen Bösen. Grundsätzlich lassen sich bei Thomas von Aquin – im Unterschied zu Maimonides – nur zwei Arten von mali unterscheiden: Zum einen das natürliche Böse, zum anderen das moralische Böse. Unter letztere Kategorie fallen wiederum zwei Modi des Bösen: Einerseits ist hier das physische und metaphysische Übel (malum poenae, also Strafübel (Strafe für die Erbsünde)) zu nennen, zum anderen aber auch das moralische Übel (malum culpae, also Schuldübel) im engeren Sinne, also in Form von Sünde. Weshalb beide Kategorien, sowohl das physische/ metaphysische als auch das moralische/ethische/sittliche Übel unter der

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Oberkategorie moralisches Übel subsumiert werden müssen, ergibt sich aufgrund der Betrachtung der Ursache dieser beiden Sorten von Übeln: So sind gemäß Thomas von Aquin beide Arten wesentlich auf die Erbsünde als deren Ursache zurückzuführen. Doch damit zurück zur Kategorie des Ästhetischen. Das natürliche Übel ist nicht in dem Sinne als ästhetisch zu qualifizieren, als es eine Schönheit oder ästhetische Qualität an sich besäße, vielmehr ist es dadurch in Verbindung mit der Ästhetik zu sehen, als es zur größeren Schönheit des Ganzen beiträgt.595 Die Verbindung zur Ästhetik geht also über eine Bestimmung des Bösen als Gegenteil des Guten, Schönen und damit Ästhetischen hinaus. Es besitzt selbst einen ästhetischen Wert, indem der Kosmos ohne Vorhandensein der Möglichkeit zum Abfall weniger schön, weniger ästhetisch, weniger gut und weniger vollkommen wäre. Erst aufgrund dieser Möglichkeit wird das volle graduelle Spektrum des Seienden, Vollkommenen und Guten möglich. Denn eine höhere Stufe an möglicher, aber noch nicht verwirklichter Gutheit ist immer auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit des Abfalls verbunden:596 So ist die Stufe der vernunftbegabten Wesen 595

596

Hierbei sei auch an Augustinus erinnert, welcher ebenfalls die Schönheit des Ganzen betont und herausstreicht, dass eine Ordnung herrscht, welche wir nicht zu erkennen vermögen – die Dinge sind also nicht so ungeordnet, wie sie vom menschlichen Standpunkt her scheinen mögen, sondern es herrscht eine Ordnung eines schönen Ganzen. (Vgl.: Ebd. xii,4.) Augustinus behauptet gar, dass es gar kein Übel gebe für Gott, da im Gesamt alles zusammenpasse, auch das, was aus unserer Perspektive für sich genommen als Übel erscheint. (Nach: Ders., Conf. vii,13.) Dies würde aber gerade das Böse als Böses leugnen, sodass sich hier eine grosse Nähe zum gnoseologischen Übel erkennen lässt. Weiter nimmt Augustinus den Vergleich zwischen der Welt und dem Kunstwerk eines Künstlers vor, indem er die Sünder mit dem schwarzen Schatten auf dem Gemälde vergleicht: Ist der Schatten am richtigen Ort, so ist das Gemälde als ganzes schön und genauso verhält es sich mit den Sündern: Die Welt ist auch mit den Sündern schön. (Nach: Ders., De civ. Dei xi,23.) Dieser Argumentation wird auch Leibniz folgen. (Vgl.: Leibniz, Theodicee ii, §§ 212–214.) Es legt sich auch bei Leibniz der Schluss nahe: „Das, was wir an einem kleinem [sic!, v.v.] Teile als Unordnung sehen, ist Ordnung im Ganzen.“ (Koppehl (2015), S. 48.) So ist nach Leibniz nichts im Kosmos unnütz, nicht einmal die Sünde. (Vgl.: Peperzak (1988), S. 66.) Nebst dem ästhetischen Moment, durch welches das Böse als notwendiger Bestandteil zur Steigerung des Gesamtwerts, der Gutheit und Schönheit des gesamten Universums erklärt wird, gibt es eine zweite Alternative, welche das Böse ebenfalls mit demselben Resultat für das Ganze rechtfertigt: Anstelle der Ästhetik wird dabei auf den Fortschritt und die Entwicklung zu Besserem hin verwiesen. (Vgl.: Mackie (1964), S. 53.) Thomas von Aquin aber betont explizit, dass das Böse nicht als solches zum Gesamtkunstwerk beiträgt, sondern nur per accidens in Verbindung mit einem Guten, an welchem es immer auftritt. (Nach: STh i, q. 48, a. 1 ad 5.) In diesem Zusammenhang sei auf die Heiligkeit verwiesen, welche sich gleichermaßen wie die Vollkommenheit verhält: „Je ‚heiliger’ etwas ist, desto anfälliger ist es für die

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ungleich anfälliger auf Privationen als niedere Stufen, da sie einen großen Teil ihrer möglichen Vollkommenheit erst noch verwirklichen müssen. Wollte man die Möglichkeit des Abfalls verhindern, so müsste auf vernunftbegabte Wesen verzichtet werden, wodurch zwar das, was vorhanden ist, alles gut wäre, aber eben auf niedrigerer Stufe und weniger gut als es diese höheren Stufen wären. Wobei es anzumerken gilt, dass die niederen Stufen ihrer aktualisierten Vollkommenheit der Möglichkeiten nach auf einer höheren Stufe der bereits aktualisierten Gutheit liegen. Erst der graduelle Unterschied des Seins und des Guten – nicht nur des aktualisierten, sondern auch des möglichen – im umfassenden Spektrum beinhaltet auch die der höchsten Stufen Fähigen – damit aber auch zugleich die Möglichkeit zum höchsten Abfall, da vieles noch nicht aktualisiert und so auf dem Weg von der Potenz zum Akt korrumpierbar ist – und führt so, wenn auch nicht im Einzelfall, im Gesamt gesehen zur größten Schönheit, Gutheit und Vollkommenheit des Ganzen.597 Nebst dem ästhetischen Element zeichnet sich Thomas’ Betrachtung des malum durch ein teleologisches aus: Indem das Böse als Privation am Guten bestimmt und mit Aristoteles und auch Platon betont wird, dass alles nach dem Guten strebt und Böses nicht eigentlich als Böses, sondern vielmehr als vermeintlich Gutes angestrebt werden kann, kommt Gott nicht nur als Erstsondern auch als Finalursache in den Blick: Zu ihm als dem absolut Guten

597

Unreinheit.“ (Neusner (2011), S. 147.) Auch hieran wird ersichtlich, dass, je vollkommener etwas ist, es desto anfälliger für den Abfall von dieser Vollkommenheit ist. Doch bleibt mit Aristoteles anzumerken, dass tatsächliches Übel schlimmer als mögliches ist. (Vgl.: Metaphys. ix, 9; 1051a.) „But (Aquinas avers) the existence of low enough grades of goodness brings with it the existence of evil. Things with a low enough grade of goodness have a goodness that can and sometimes does fail; and the failure of goodness is always an evil. For example, a thing with a low enough grade of goodness can and will undergo corruption, and corruption is an evil.“ (Hughes (2015), S. 249.) Nimmt man hierbei als Stufe des Gut-Seins, wie sehr etwas bereits seiner vollkommenen Form entspricht, so stimmt dies. Versteht man dies aber in dem Sinne, dass der Blick darauf gerichtet ist, zu wieviel Vollkommenheit und damit Gut-Sein etwas fähig ist, wobei aber vieles davon noch nicht verwirklicht ist, so trifft dies nicht zu: Denn ein Stein ist bestimmt nicht anfälliger auf das Böse als ein Mensch, der doch wohl zweifellos auf einer höheren Stufe anzusiedeln ist als ein Stein. Die graduelle Abstufung des Universums hört nicht in dieser Welt auf, sondern auch im Jenseits gibt es unterschiedliche Stufen der Nähe zu Gott. (Vgl.: Stump (2012), S. 404.) In diesem Zusammenhang kann auch auf den aristotelischen Satz, demgemäß das Ganze größer bzw. mehr als die Summe seiner Teile ist, verwiesen werden. (Vgl.: Metaphys. vii,17; 1041b.) Es ei verwiesen auf: Blanchette (1992). Anzumerken bleibt, dass die beiden Phänomene, dass das Böse Teil der Welt und diese mit der Möglichkeit zum Bösen schöner bzw. die bestmögliche ist, die beiden zentralen Hauptcharakteristika echter Theodizeen darstellen. (Nach: Illies (2000), S. 417f.)

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bzw. dem höchsten Gut strebt letztlich alles.598 Alles Seiende strömt aus Gott heraus und wird so als graduelll unterschiedliches Gutes bestimmt. Alles bewegt sich aber auch wieder auf Gott als Ursache und Ursprung der Gutheit alles Seienden zu. Von zentraler Bedeutung ist damit Gott als Ziel, telos, allen Strebens. Indem das Böse nur als vermeintlich Gutes gewählt und erstrebt wird, reiht man sich gleichermaßen weiterhin in dieses Schema ein: Es wird ein (vermeintlich) Gutes angestrebt, was zeigt, dass auf (vermeintliche) Güter und damit zugleich als Endziel der Bewegung auf das größte Gut, also Gott, hingestrebt wird. Dieser teleologischen Bewegung auf Gott hin kann sich folglich keiner wirklich entziehen, auch nicht der, welcher Böses – aber eben unter der Prämisse des vermeintlich Guten – anstrebt. Selbst diese Verkehrung weist auf die finale Bezugsgröße Gott als Ursache und Ziel allen Strebens und aller Bewegung hin. Gott bleibt das leitende telos, da nichts anderes als das Gute angestrebt werden kann. Niemand kann sich dieser Teleologie entziehen, auch nicht der Gottferne oder gar Gottlose, da das Ziel handlungsleitendes und -ermöglichendes Prinzip zugleich ist. Nach diesen zusammenfassenden Ausführungen müssen einige kritische Fragen zur besseren Herauskristallisierung der thomasischen Konzeption des Bösen aufgeworfen werden. Physische und moralische Übel sind auf die Erbsünde rückführbar. Das kosmische oder natürliche Übel dagegen ergibt sich aus einem ästhetischen Moment heraus: Es dient der Schönheit des Ganzen. Doch stellt sich die Frage, ob es dieses Böse selbst dann geben würde, wenn der Mensch nicht an der Erbsünde schuldig geworden wäre. Müsste er selbst dann unter Bösem in Form von Naturunglücken, etc. leiden? Wenn das Böse zur Schönheit des Ganzen beiträgt, es aber im Stand der Erlösung kein Böses mehr geben wird, wird dann dieser Zustand weniger schön sein? Natürlich kann dies nicht der Fall sein. Denn auch diese ästhetisch bestimmte Kategorie des Bösen ist letztlich auf die Erbsünde rückführbar: Im Falle der Vollendung besteht die gesamte Vollkommenheit an Sein, es gibt nicht weniger oder weniger hohes, ausdifferenziertes Sein als jetzt, vielmehr kommt es im Zustand der Vollendung nicht mehr zu einem Abfall, sondern alles entspricht der Vollkommenheit der für dieses Ding möglichen Gutheit. Denn im Stand der Erlösung gibt es die Spannung zwischen Akt und Potenz bzw. Form und Materie nicht mehr: Die Materie wird ganz von der Form durchformt sein. Die Potenz wird also in der Aktualisierung nicht mehr hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Das volle Spektrum an Sein gab es konsequenterweise schon im Zustand des Paradieses, da diese Fülle an Sein von Gott im Schöpfungsakt 598

Zur Teleologie bei Thomas von Aquin sowie bei Maimonides s. z.B.: Brunner (1928). Zur Vorstellung der Vollendung und der Teleologie des Aquinaten s. auch: Blanchette (1992).

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angestrebt war. Die Möglichkeit zum Abfall war somit bei der Erschaffung der Welt gegeben und realisierte sich mittels des Sündenfalls auch tatsächlich. Im Zustand der Vollendung dagegen wird noch nicht einmal mehr die Möglichkeit dazu bestehen. Das natürliche Übel stellt damit ebenfalls ein mit der Erbsünde in Verbindung stehendes Übel dar und kennzeichnet den Zustand zwischen Sündenfall und Vollendung. Somit erweist sich die eingangs erwähnte Struktur von natürlichem und moralischem Übel letztlich als Monismus: Beide Formen erklären sich aus demselben Prinzip heraus, nämlich aus der Erbsünde.599 Da aber Erbsünde und Materie als wesentliche Prinzipien für die Existenz des Bösen ausgemacht wurden, ergibt sich auch bei Thomas von Aquin die Frage, wie es denn mit den Engeln steht. Wie an den Bemerkungen zum Teufel ersichtlich wurde, sind natürlich auch die gefallenen Engel nach Thomas’ Ansicht vom Bösen betroffen und beide Engelsgruppen – jene, die standhaft blieben und jene, die abfielen – hätten abfallen bzw. standhalten können. Auch sie sind vom möglichen Abfall betroffen. Zwar sind sie als reine Geistwesen körperlos und damit nicht mit der Materie (bzw. der Potenz) einhergehenden Privation behaftet, jedoch sind auch sie zusammengesetzt – im Sinne von geschaffen im Unterschied zu Gott, der als einziger nicht zusammengesetzt ist. Die Möglichkeit zum Bösen hängt also am Faktum der Kreatürlichkeit. Auch die Engel sind zusammengesetzt aus Sein (ens oder existentia)600 und Wesen (essentia bzw. quiditas)601. Nur in Gott sind Sein und Wesen identisch. Wie schon bei Maimonides kann auch Thomas’ Lösung mit dem Begriff der Geschöpflichkeit charakterisiert werden. Alles von Gott Geschaffene ist aufgrund seiner Unterschiedenheit von Gott unvollkommen und daher offen für Mängel, seien sie physischer oder willentlicher Natur. Mit den Kategorien Akt und Potenz, Materie und Privation will Thomas nichts anderes, als die mit der Geschaffenheit gegebene Begrenztheit ausdrücken. Dass überhaupt etwas geschaffen wurde, ist gut, sodass auch das Geschaffene an sich gut ist, wenngleich es notwendig durch die Geschöpflichkeit und Begrenztheit nicht zu trennen ist von der 599

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Auf die Parallelen zu Augustinus wurde bereits mehrfach hingewiesen. Schon dieser hatte ein ästhetisches Moment hinsichtlich der Ordnung angeführt, auf den Privationscharakter des Bösen hingewiesen und die Erbsünde herangezogen. Kessler weist daher darauf hin, dass sich alle drei klassischen Formen von Erklärungen des Bösen bereits bei Augustinus vereint finden. (Nach: Kessler, H. (2000), S. 23.) Diese drei Erklärungsversuche zieht auch der Aquinate heran, um seine differenzierte Sichtweise des Bösen zu entfalten. Vgl. hierzu: Vries (1980), S. 70–82. Siehe hierzu: Ebd., S. 107–113. Zur Synonymie von essentia und quiditas bei Thomas von Aquin s.: De ente et ess. i,2.

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Möglichkeit zum Bösen. Wie schon Maimonides greift auch Thomas nicht nur die natürliche Begrenztheit in Form von Degeneration und Mutation auf, sondern anerkennt darüber hinaus, dass es nebst natürlichen Übeln auch moralische gibt, welche von mit freiem Willen ausgestatteten Geschöpfen ausgeübt werden. Auch hier ist es die Geschöpflichkeit, aufgrund welcher dieser freie Wille nicht vollkommen, sondern fehl- und missbrauchbar ist. Alle Übel aber, auch die natürlichen, werden mit Blick auf den Menschen letztlich nicht nur auf die natürlichen Gegebenheiten des Geschaffenen, sondern auf die Erbsünde zurückgeführt. So fasst Thomas im Bereich der Menschen alle Übel als Sünde oder aber als Strafe für dieselbe auf. Liegt keine aktuelle Sünde vor, welche das Übel, welches einen Menschen trifft, als Strafe rechtfertigen würde, so wird auf die Erbsünde rekurriert. Doch kennt Thomas noch eine weitere Begründung: Mit Übel kann weiteres Übel verhindert werden, indem ein Sünder durch die Strafe von weiteren Sünden abgehalten wird. Aber das Übel kann auch herangezogen werden, um die Rechtschaffenheit einer Person vor der ganzen Welt aufzuzeigen. Dass aber Gott einen Menschen aus diesem Grunde leiden lässt, rückt ihn in ein dämonisches Licht. Im Hiobkommentar fiel auf, dass alle Übel, welche Hiob trafen, als Taten Satans geschildert wurden, sodass Thomas auch diese Übel als moralische und damit als Sünde qualifiziert. So sind also die Übel, welche Hiob trafen, nicht zwingend als Strafe zu verstehen, sondern in ihrem Bezug zum ausführenden Subjekt als moralische Übel auszumachen. Der Blick liegt damit nicht eigentlich auf dem Objekt, welches von diesen Übeln getroffen wird, sondern auf dem Subjekt. So sieht Thomas zumindest im Hiobkommentar letztlich alle Übel, welche Menschen treffen, als moralische Übel, sei es, dass sie ein Mensch oder aber Satan – in den festgelegten Grenzen Gottes – ausführt. Hierin begegnet dasselbe Phänomen, welches bereits im philosophischen Teil bei Plantinga begegnete. Mit Blick auf den Menschen liefert Thomas ein freiheitstheoretisches Modell, wobei der freie Wille als so hohes Gut angesehen wird, dass die dadurch gesteigerte Fülle an Seinsformen die Möglichkeit zu solchem Übel rechtfertigt. Das Böse wird so funktionalisiert und bonisiert. Ein wichtiger Teil der Rechtfertigung des Bösen mit Blick auf die Menschen besteht auch beim Aquinaten quasi in einer Free-Will-Defense. Die  Übel aber, welche nicht auf den Menschen bezogen sind, sind einzig auf die Verfasstheit des Geschaffenen zurückzuführen. Alles Geschaffene aber ist zu Gott als seinem Ursprung und Ziel unterwegs und bewegt sich so auf die Vervollkommnung hin. Im reditus zu Gott werden die Möglichkeiten zur Gutheit, die einem Ding seiner geschaffenen Natur nach zukommen, vollkommen realisiert, sodass ein Abfall nicht mehr möglich ist und das Schema von Degeneration, etc. aufgebrochen wird. Die Vervollkommnung wird in der Beziehung zu Gott gegeben. Auch bei Thomas lässt sich dieser Aspekt mit dem

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Motiv der Liebe wiedergeben: Das wahre Gut der vernünftigen Natur besteht in der vollkommenen Liebe zu Gott, die aber in der irdischen Existenz nicht vollkommen, sondern sowohl inhaltlich als auch zeitlich nur beschränkt zu realisieren ist. Erst in der direkten Beziehung zu Gott in der visio beatifica wird diese Liebe voll und ohne Unterbrüche realisiert werden. Dass dabei auch die visio beatifica gestuft vorliegen soll, stellt einen Elitärismus dar, der nicht zwingend notwendig ist. Ein mehr und weniger am höchsten Gut muss und kann es nicht geben, da es vollkommen ist und sich in diesem letzten Ziel dem Geschaffenen vollkommen schenkt. Wo die Liebe zu Gott in diesem Zustand vollkommen ist, kann sie nicht mehr oder weniger vollkommen sein. Doch wie verhalten sich die Ausführungen des Thomas zu den Herausforderungen, welche sich uns aufgrund der Existenz des Bösen stellen? Hierin muss wiederum die Shoah herangezogen werden. Wie mit Blick auf Hiob und Satan wird das Böse als moralisches Böses, als Sünde der Täter an den Opfern – aber auch an Gott – gesehen. Wenn Täter bestraft wurden, so diente es gemäß Thomas dazu, ihnen die Möglichkeit zur Umkehr zu geben, womit ein pädagogischer Zweck verfolgt wurde. Wurden sie dagegen nicht bestraft für ihre Taten, so ist dies mit Thomas damit zu erklären, dass sie sich nicht hätten bekehren lassen und es nur vergebene Liebesmüh gewesen wäre. Überdies wären zudem die irdischen Strafen, welche ihnen hätten zugefügt werden können, viel zu milde gewesen, um das von ihnen verübte Böse zu rächen. Im Jenseits würden sie dafür umso härter für ihre Vergehen bestraft werden. Diese Erklärung besitzt durchaus einen gewissen Reiz für das menschliche Vergeltungsdenken. Doch wie sieht es mit Blick auf die Opfer aus? Jedes Opfer hätte prinzipiell aufgrund der Erbsünde verdientermaßen bestraft werden können. Doch den Opfern die Schuld an diesem unvergleichlichen Leiden zu geben, ist mehr als obsolet. Ein Gott, welcher gewisse Menschen für eine Sünde, die sie nicht einmal selber begangen haben, sondern die ihnen (als persönliche) vererbt wurde, auf so grausame Weise strafen lässt, kann nicht gut genannt werden. Kommt hinzu, dass es sich hierbei ja nicht um physische Übel handelte, welche als Strafe erklärt werden könnten, sondern um von anderen verübte moralische Übel, die nicht in die Providenz Gottes fallen, die er also nicht direkt für seinen Plan der Vollendung heranzieht. Mit Thomas müsste es also so erklärt werden, dass Gott dennoch Gutes daraus entstehen lässt. Wie mit Blick auf die Shoah und insbesondere auf die Opfer davon die Rede sein kann, dass für sie Gutes daraus resultiert, kann mit Thomas nur durch den Verweis auf das Jenseits erklärt werden: Zwar wurden ihnen die irdischen Güter geraubt, was keineswegs als Strafe angesehen werden muss, doch erwartet sie der wahre Lohn im Leben nach dem Tod, sodass sie umso größere Güter erhalten und so auf höherer Stufe die visio beatifica genießen dürfen. Für das hier auf Erden

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zerstörte Leben ist dies ein schwacher Trost. Zwar ist es wichtig, zu betonen, dass ihr irdisches Schicksal nicht hinreichend in den Kategorien Lohn und Strafe bedacht werden kann, doch ist der jenseitige Lohn nicht wirklich größer, als wenn sie nicht gelitten hätten, besteht er doch in ein und demselben Gut, nämlich Gott. Dass Gott an ihnen Übel ergehen ließ, um schlimmere Übel zu verhindern, kann ebenfalls keine Option sein. Gemäß der Hiobinterpretation könnten die Leiden auch dazu gedient haben, dass Gott dadurch die Rechtschaffenheit der Opfer vor der Welt manifestieren wollte. Doch auch diese Erklärung ist skandalös. Keine Option ist wirklich befriedigend, doch ist im Unterschied zum maimonidischen System würdigend festzuhalten, dass die Schrecken der Shoah aus Sicht der Opfer im thomasischen System keineswegs zwingend als Strafe an ihnen zu deuten sind. Hierin besteht ein gewichtiger Vorteil des thomasischen Systems gegenüber dem maimonidischen. Die mit Thomas beste zu wählende Lösung der Herausforderung der Shoah besteht darin, das Böse als moralisches Böses der Täter zu qualifizieren und es damit aus dem Bereich der Providenz herauszuheben, sodass es nicht als Plan Gottes anzusehen ist. Gott kann so von der direkten Verantwortung freigesprochen werden. Jedoch besitzt er die Verantwortung dafür, mit freiem Willen ausgestattete Wesen geschaffen zu haben, die diesen missbrauchen können und es zuweilen auch tun. Dass Gott nicht eingreift, sondern dies zulässt, ist für Thomas gut, da er ansonsten der Natur dieses Dinges zuwiderhandeln und sie dadurch vernichten würde. Doch mit Blick auf solche Ereignisse muss die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht zum Schutz Dritter besser wäre, die Freiheit in solchen Momenten zu beschränken. Alledings kann berechtigterweise dagegen eingewandt werden, dass sodann wahre Freiheit gar nicht mehr möglich wäre, da Gott sie nur dann gewähren würde, wenn sie in seinem Sinne verübt würde, in allen anderen Fällen dagegen würde er sie von vornherein unterbinden. Das Zulassen der Freiheit in jedem Moment ist also für die Freiheit als solche unerlässlich. Worin sich aber Gottes Fürsorge zeigt, ist das Faktum, dass er die Welt dennoch gemäß seinem Plan, der durch solche Ereignisse nicht in dem Sinne durchkreuzt werden könnte, als dass sie ihn verunmöglichen würden, zu ihrem Ziel führt. Dies ist die große Hoffnung, welche Thomas in seinem System aufzeigt: Das unter dem moralischen Übel zu leidende Objekt sowie auch das ausführende Subjekt stehen gleichermaßen unter der Vorsehung Gottes, sodass die Gewissheit besteht, dass die Täter irgendwann ihre gerechte Strafe ereilen wird, die Opfer aber die Hoffnung haben können, dass letztlich alles gut wird. Ob dies bereits auf Erden der Fall sein wird, wird nicht in jedem Falle garantiert. Durch die Abwertung der irdischen Güter aber und damit des irdischen Lebens hinsichtlich seines Werts will Thomas dafür sensibilisieren, dass das höchste und wahre Gut, das immer an erster Stelle stehen

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muss, das ewige Seelenheil, das Leben nach dem Tod und die dort erwartete visio beatifica ist. An irdischen Gütern können wir uns erfreuen, sie dürfen aber nicht unser Leben bestimmen. Gott allein ist es, der unser höchstes Gut zu sein hat. Fallen die irdischen Güter weg, so bleibt dennoch die Gewissheit auf das wahre Gut bestehen, welches uns erwartet. Somit plädiert er dafür, uns von einem diesseitsbezogenen Tun-Ergehen-Schema zu lösen, da man ansonsten zuweilen wirklich an Gott verzweifeln müsste. Mit Blick auf die Shoah sind es weniger die Ausführungen zum Bösen, welche in den beiden Summen sowie in der Disputationsschrift zum Bösen geschildert wurden, welche eine Antwort liefern würden, als vielmehr die Ausführungen zu Hiob. Hier erst wird der Umstand bedacht, dass Leiden nicht immer Strafe ist und dass das irdische Schicksal nicht immer mit der Beziehung zu Gott, die ein Mensch hat, korreliert. Die Vertröstung auf das Jenseits liefert zwar keine Lösung für das Problem hier auf Erden, doch schenkt sie zumindest Hoffnung darauf, dass die Opfer dennoch einen Sinn erhalten, auch wenn ihr Leben hier sinnlos ausgelöscht wurde und dies nicht wiedergutzumachen ist. Auch wenn das wahre Gut in Gott besteht, so ist die Shoah dennoch eine gravierende Anfrage, wieso hier auf Erden zugelassen wird, dass manche zerbrechen und Leben ausgelöscht werden, bevor es auch hier gut kommt für die betroffenen Menschen. Die Verschiebung der Providenz weg vom Diesseits hin zum Jenseits ist durchaus auch fragwürdig, sodass auch bei Thomas’ Modell Fragen offen bleiben. Auffällig ist aber doch, dass es mit Blick auf Maimonides die Hiobinterpretation war, welche an der Shoah scheiterte, bei Thomas dagegen ist es diese, welche eine einigermaßen befriedigende Antwort zulässt, da die anderen Ausführungen Böses nur mit den Kategorien Sünde und Strafe bedenken und so obsolet sind. Erst die Hiobinterpretation macht deutlich, dass Sünde Dritte trifft, an denen dieses Übel, das so über sie kommt, nicht zwingend als Strafe zu sehen ist. Des Aquinaten Modell stellt ein außerordentliches Modell der Theodizee dar, vereint es doch die drei idealtypischen Antwortversuche602 in einem einzigen logischen System: Sowohl die Vorstellung, dass alles Böse erst nachträglich – und dadurch kontingent – ist, da es auf einen Sündenfall zurückgeht und somit die vorhandene Welt nicht so ist, wie sie ursprünglich geschaffen wurde, als auch die neuplatonische Entwirklichung des Bösen, dergemäß „alles Seiende als Seiendes gut ist“603 und das Böse als Mangel an Gutem bzw. als Privation des Guten bestimmt wird, wie auch die „Funktionalisierung des

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Zu den drei Modellen – (sünden)falltheoretisch, neuplatonisch sowie funktionalisierend – siehe: Hermanni/Koslowski (1998), S. 10. Ebd. Zu Thomas’ Verhältnis zum Neuplatonismus s. etwa: Hankey (2012).

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Malum“,604 welche das Böse bonisiert, „indem er [= dieser Theorietyp, v.v.] es als Bedingung und Mittel der bestmöglichen Welt (Leibniz), als Triebkraft des geschichtlichen und kulturellen Fortschritts (Aufklärung und Idealismus) oder seit Nietzsche als Stimulans ästhetischer Erfahrung einstuft“,605 werden im Erklärungsmodell des Aquinaten vereint. Nach diesen Ausführungen zu Thomas’ Konzeption der Herkunft des Bösen werden im folgenden Kapitel die beiden behandelten Positionen einander gegenübergestellt und miteinander verglichen. Danach soll die Verwertbarkeit der beiden Systeme in der heutigen Zeit beleuchtet werden.

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Hermanni/Koslowski (1998), S. 10, Hervorhebung im Original. Ebd.

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kapitel v

Die Herkunft des Bösen bei Maimonides und Thomas Die beiden Positionen werden in der Folge so verglichen, dass zunächst anhand vergleichender Schemata das Ausgeführte über das Böse und dessen Herkunft in Erinnerung gerufen und anschließend näher ausgeführt wird. In einem ersten Schema kommen das Wesen des Bösen, der Gegenstand, an dem es auftritt, sowie seine unterschiedlichen Formen zur Sprache. 5.1

Die parasitäre Wirklichkeit des Bösen

Charakteristika

Maimonides

Thomas von Aquin

Wesen des Bösen

Privation → Mangel am Guten (→ Neuplatonismus)

Privation → Mangel an einem geschuldeten Gut (→ Neuplatonismus)

Substantielle Ursache Materie (→ Aristoteles: Degenera- Materie (→ Aristoteles: Form – Materie; des Bösen tion; Neuplatonismus: Ort, an dem Akt – Potenz; Neuplatonismus: Ort, an Privation auftritt) dem Privation auftritt) Erscheinungsweise

Automatischer Nebeneffekt des Guten (→ Licht – Schatten)

„Kollateralschaden“ (→ per accidens)

Formen des Bösen

Menschlicher Bereich: - Metaphysisches Übel - Soziales moralisches Übel - Individuelles moralisches Übel · physisch · psychisch → freiheitstheoretisch

Gesamte Schöpfung: - Kosmologisches/natürliches Übel Menschlicher Bereich: - Moralisches Übel · Meta-/Physisches Übel · Moralisches Übel (im engeren Sinn) → freiheitstheoretisch

Sünde

Ursache der moralischen Übel

Ursache der moralischen (culpa) und der physischen und metaphysischen (poena) Übel, letztlich aber auch der natürlichen Übel → Erbsünde

Sowohl der Aquinate als auch der Rambam bestimmen das Böse wesentlich als keine eigene Substanz habend, indem sie das Böse als ein Fehlen, einen Mangel bzw. als „etwas“ mit lediglich privativem Charakter bestimmen. Es kann nicht selbst sein, sondern nur an etwas anderem haften und auftreten. Damit wird es wesentlich parasitär über das Gute bestimmt, wodurch sein sekundärer

© WILHELM FINK VERLAG, 2018 | DOI 10.30965/9783506788856_015 .8

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Charakter ausgedrückt wird. Beide Positionen verbinden darüber hinaus das Böse mit der Materie, welche an sich selbst natürlich gut ist, der aber das Böse anhaften kann, da sie selbst noch nicht vollkommen ist, sondern in Potenz steht. Die Hinfälligkeit liegt in der Geschaffenheit der Materie begründet. Schöpfung zeichnet sich durch die Unterschiedenheit vom Schöpfer aus. Mit der Schöpfung verbunden ist deren notwendige Begrenztheit, sodass Schöpfung automatisch das Böse bzw. dessen Möglichkeit beinhaltet. Diese grundlegenden Gemeinsamkeiten der beiden Theorien ergeben sich wesentlich aus ihrer gemeinsamen philosophischen Basis: Aristoteles (natürlicher Degenerationsprozess, Unterscheidung in Form und Materie, Akt und Potenz) vermischt mit Elementen aus dem Neuplatonismus (insbes. Privationstheorie1).2 Im Gegensatz 1 Dabei ist es gerade die Privationstheorie, welche nicht nur mit Bezug auf Maimonides und Thomas von Aquin als einendes Moment hervortritt: Sie zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie über alle Kontroversen der unterschiedlichsten Strömungen – sowohl philosophischen als auch theologischen – zu einen vermochte und so „zwischen Platonismus und Aristotelismus, zwischen (Spät-)Antike und Christentum, zwischen dem Kirchenvater Augustinus und dem Philosophen Boethius, zwischen dem Mystiker Bernhard von Clairvaux und dem Rationalisten Abaelard, zwischen Augustinisten und Aristotelikern, auch zwischen islamischem, jüdischem, und christlichem Aristotelismus, zwischen Thomisten und Skotisten, zwischen Existenzdenken und Essentialisten, nicht zwischen Realisten und Nominalisten, zwischen Schulgelehrten und sog. ‚Mystikern‘“ (Schönberger (1998), S. 18.) eine gemeinsame Basis der Verständigung bzw. eine gemeinsame Kernaussage schaffen konnte. Doch ist es gerade die Privationstheorie, welche zumeist falsch verstanden und daher als obsolet abgetan wird. Es wird behauptet, diese Erklärung gehe an der Erfahrungswirklichkeit vorbei. Zu sehr wird auf die Existenz-Aussage Gewicht gelegt, indem das Wesen des Bösen als Privation am Guten so verstanden wird, als werde die Realität des Bösen selbst dadurch geleugnet. Stosch etwa kritisiert die Privationstheorie als ontologische Depotenzierungsstrategie. (Nach: Stosch (2013), S. 26; vgl. z.B. auch: Streminger (1992), S. 182f.) Er behauptet, das Leiden werde als Nichts gedacht, um die Vorstellung vom allmächtigen Gott aufrechterhalten zu können. (Nach: Stosch (2013), S. 26.) Das Leiden aber wird von der Privationstheorie gerade nicht geleugnet, die Vorstellung ist viel komplexer als ein einfaches, nichtexistierendes und nichtvorhandenseiendes Nichts. Es geht vielmehr darum, zu betonen, dass das Böse nicht das Primäre und Eigentliche ist, sondern dass es lediglich sekundären – und damit minderwertigen – Charakter besitzt, die Realität des dadurch erfahrenen Leids oder Schmerzes aber ist davon in keiner Weise tangiert und wird nicht bezweifelt. Denn auch die Privationstheorien gehen von der Realität des Schmerzes und Leidens aus. Das Erstrangige aber ist das Gute und nuran einem solchen Guten kann das Böse auftreten, wo dagegen nichts vorhanden ist, wo es keine (positive) Wirklichkeit gibt, kann auch nichts Böses auftreten. Bei der Blindheit z.B. fehlt die positive Eigenschaft der Fähigkeit zu sehen. Der negative Charakter wird durch die Negativbestimmung zusätzlich betont, indem pointiert auf das Nicht-Sollen und das an der richtigen Ordnung Vorbeigehen verwiesen wird. Auch Oeing-Hanhoff kritisiert die Privationstheorie, indem er betont, dass nicht alles Böse bloßer Mangel sei: „[D]aneben gibt es das

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Dasein von etwas, das, wie Krebszellen, Schmerzen, Irrtum, Wahnvorstellungen oder böser Wille, durchaus wirklich ist, aber nicht da sein sollte. Schlimmes, Schlechtes und Böses sind also auch eine Realität.“ (Oeing-Hanhoff (1988), S. 228.) Doch besagt die Privationstheorie nicht, dass eine Krebszelle nicht vorhanden ist. Sie will den bösen Zustand nicht leugnen, sondern betont, dass – auch wenn etwas Zusätzliches vorhanden ist, wie etwa eine unkontrolliert wuchernde Krebszelle oder sieben Zehen an einem Fuß – dies einen Mangel am gesunden Zustand bedeutet. Auch etwas positiv (im Sinne von vorhanden) Wahrnehmbares kann durchaus als Privation bezeichnet werden. Die zwei zusätzlichen Zehen sind materiell in der Wirklichkeit vorhanden und wahrnehmbar, doch stellen sie dennoch einen Mangel am gesunden, sein-sollenden Zustand des Fußes mit fünf Zehen dar. Der sich ausbreitende Krebs existiert, doch ist auch hier in der Privationstheorie der Fokus auf den nicht mehr vorhandenen gesunden und sein sollenden Zustand des Körpers ohne wildwuchernde Zellen gerichtet. In der Privationstheorie erscheint der Krebs als Abwesenheit der gesunden Ordnung und des gesunden Wachstums und Sterbens von Zellen. Diese Ordnung ist gestört und privatiert, sodass eine unkontrollierte Wucherung und Ausbreitung der betroffenen Zellen möglich ist. Privationstheorie und medizinische Analyse von Zuständen des Fehlens und des übermäßigen Vorhandenseins dürfen nicht vermischt werden. Bei der Privationstheorie handelt es sich um eine metaphysische Ontologie, indem das Idealbild einer Natur als sein sollender Zustand definiert wird und jede Abweichung dieser Idee eine Privation an derselben darstellt. Gerade von Kritikern der Privationstheorie wird der Existenzbegriff engführend verwendet und der Theorie damit ein Aussagegehalt unterstellt, den die Privationstheorie so weder machen will noch tatsächlich macht. Viele Kritikpunkte lassen sich als nicht zutreffend und verfälschend zurückweisen. Doch gibt es in der Tat Ansätze, welche das Böse leugnen, indem sie den Aspekt des Nicht-Sein-Sollens verkennen und betonen, dieses Böse erweise sich später als unbedeutend. Eine solche Sichtweise nimmt etwa Davis ein. (Nach: Davis (2001,1), S. 84f.) Verstörenderweise nimmt er hierfür ein Beispiel aus seiner Jugend zuhilfe, welches lediglich von einer peinlichen Situation in der Highschool berichtet und das er heute überwunden hat. Ausgerechnet ein so lächerliches Beispiel heranzuziehen, um das Überwinden der schlimmst denkbaren Übel einsichtig zu machen, ist geradezu grotesk und despektierlich all denen gegenüber, welche unermessliches Leid ertragen mussten. Man wird die Shoah niemals mit einer einfachen Peinlichkeit aufgrund unmodischer, veralteter Kleider vergleichen können – und auch nicht dürfen. Gerade die Aussage der Bedeutungslosigkeit, das Abstreiten jeglicher Signifikanz des Erlebten, ist ein erneuter Faustschlag in das Gesicht der Opfer. Denn diese leben gerade von der Hoffnung, dass die wahre Bedeutung des Erlebten zum Tragen kommt, dass ihnen endlich Recht widerfährt – und genau hierfür braucht es auch die Anerkennung dieses Unheils durch Gott und nicht dessen Leugnung. Doch fällt Davis ein noch schockierenderes Urteil über die Überlebenden der Shoah, indem er den Standpunkt einnimmt, dass diese nicht mehr als er das Recht dazu besäßen, theologisch zu bestimmen, was diese dort erlebt hätten, und dass diese nur begrenzt als Zeugen sagen könnten, was damals tatsächlich geschah. (Nach: Ebd., S. 106.) 2 Wohlman meint zu der Frage nach der Beeinflussung durch Aristoteles und Neuplatonismus Folgendes: „Au terme de la double comparaison que nous venons d’entreprendre entre Maïmonide et Thomas d’Aquin,. [sic!, v.v.] on sera tenté de conclure que le premier est plus fidèle à Aristote alors que le second a intégré dans son arstotélisme [sic!. v.v.] des éléments néo-platoniciens. Nous avons vu cependant qu’une telle afformation demande à être

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zu Maimonides deutet aber der Aquinate das metaphysische sowie das physische Übel mittels der Kategorien Sünde, Schuld und Strafe bzw. näherhin als Strafe für die Erbsünde, womit er auch diese Arten des Übels nebst dem moralischen Übel dem moralischen Bereich zuordnet. Die Erbsünde hat einen Raub bzw. den Verlust an der übernatürlichen, von Gott geschenkten Gnade zur Folge, welche den Menschen von Sünden abhielt, da er auf die natürliche Ordnung hin ausgerichtet war und sich so all sein Streben nach Gott richtete;3 dieses übernatürliche Geschenk bestand in der ursprünglichen Gerechtigkeit (iustitia originalis).4 Da ihm nun aber dieser Schutz fehlt, geht er leichter fehl. Das Geschenk war zwar übernatürlich, hätte allerdings doch so sehr zur menschlichen Natur gehört, dass sie zu den vererbbaren Teilen gehört und auf alle nachfolgenden Generationen übergegangen wäre.5 Dies führt den Aquinaten zur Ansicht, dass das Gute von Gott übertragen wird und von ihm als Ursprung herrührt, das Böse dagegen vom Menschen selbst.6 Moralische Übel begeht er selbst aktiv, physische Übel dagegen ereilen den Menschen als Strafe für Sünde und Schuld – sei es für eigene oder für in Form der Erbsünde übertragene. Alle Übel wie Tod, Krankheiten, Missbildungen und allerlei Mängel an Körper und Geist stellen für den Aquinaten Folgeerscheinungen bzw. die Erbsünde begleitende Bestrafungen dar.7 Indirekt ist aber auch das natürliche Übel in Verbindung zur Sünde zu sehen, allerdings ist es nicht in den moralischen Bereich einzuordnen: Denn mit Blick auf diese Form von Bösem ist nicht von Sünde, Schuld und Strafe die Rede. Vielmehr liegt hier der Fokus der Erklärung in der Ästhetik begründet: Es geht um die Schönheit des Ganzen. Wie auch bei Maimonides ist auch für Thomas von Aquin diese Welt die schönste und beste aller möglichen Welten, selbst – oder gerade mit, wenn auch nicht wegen – angesichts der darin vorkommenden Übel. Für Thomas von Aquin gibt es

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nuance puisque ce que nous avons appelé le néo-platonisme de Thomas s’enracine déjà dans la pensée et le vocabulaire d’Aristote lui-même. Bien plus, s’agissant du néo-platonisme, il faudrait aussi considerer les aspects de la philosophie de Maïmonide que rélèvent, en d’autres points et d’une autre manière, une influence néo-platonicienne, en particulier à travers la pensée d’Avicenne. C’est là un problème qui déborde amplement le cadre de la présente étude. Il nous a semblé que celle-ci apportait à son examen d’ensemble une contribution indispensable.“ (Wohlman (1988), S. 103.) Vgl.: qdm q. 5, a. 1 resp. Nach: qdm q. 4, a. 1 resp. Nach: qdm q. 4, a. 1 resp. Nach: qdm q. 4, a. 6 ad 19. Nach: qdm q. 5, a. 4 resp.

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nicht drei zu trennende Kategorien von Bösem wie bei Maimonides, sondern höchstens zwei (moralische und natürliche Übel), die jedoch in einem zweiten Schritt unter die eine Kategorie der Erbsünde subsumiert werden können. Dieser wesentliche Unterschied der Theorien des Rambam sowie des Thomas von Aquin ergibt sich aus ihrer unterschiedlichen religiösen Prägung heraus: Für Maimonides gibt es als Juden keine Erbsünde, welche er irgendwie in seine Betrachtungen zu Übel und Sünde integrieren müsste. Für den Aquinaten dagegen ist dieses Erbe Augustins unumgänglich, um eine für seinen Glauben konzise Theorie zu erhalten, welche nicht nur individuelle und kollektive Sünde im Sinne einer konkreten Generation bedenkt, sondern auch dem Phänomen der ererbten Schuld, welche das gesamte Menschengeschlecht umfasst und von der Sünde im Paradies herrührt. Dennoch kennt auch Maimonides eine Art Erbsündenfolgenhypothese, indem seine Behandlung des Bösen davon lebt, dass der Mensch durch das Geschehen im Paradies die ursprüngliche Gottebenbildlichkeit in einem gewissen Sinne verloren hat bzw. dass sie verringert wurde, indem diese gerade im Intellekt des Menschen begründet liegt, und der Mensch durch die Unterscheidung von gut und böse auf eine niedrigere Stufe gefallen ist, indem er nun von der Imagination bestimmt ist. Unter dieser Folge leiden sodann alle Menschen. Doch ist diese Entwicklung nicht unumkehrbar. Den Weg aus der niederen Stufe der Imagination hin zur ursprünglichen Gottebenbildlichkeit im Intellekt weist Maimonides in seinem Moreh auf. Interessanterweise hängt auch die göttliche Vorsehung mit dieser im Intellekt gegebenen Gottebenbildlichkeit zusammen, sodass der Mensch durch seinen Abfall in den Bereich der Imagination nicht mehr voll unter Gottes Vorsehung steht und so unter dem Bösen und seinen Folgen zu leiden hat. Je mehr er sich durch Bildung hin zum aktiven Intellekt leiten und schulen lässt, desto mehr wird er wieder Subjekt von Gottes Providenz. Von dieser „Erbsündenfolge“ wird weder durch Taufe noch durch Beschneidung gerettet, sondern durch Intellektsbildung, sodass dieser Weg persönlich und nicht nur durch einen Gnadenakt beschreitbar ist. Maimonides leitet die vom esoterischen Sinn seines Werkes angesprochene Leserschaft auf diesem Weg an und weist ihnen so den Weg zur ursprünglichen Gottebenbildlichkeit, welche es ihnen ermöglicht, wieder voll unter der Providenz Gottes zu stehen. Dies stellt ein äußerst interessantes Konzept dar. Thomas von Aquin unterscheidet hinsichtlich des Bösen im Unterschied zu Maimonides auch sehr stark zwischen dem Träger eines Bösen, welcher ein Gut ist, und diesem am Träger auftretenden Bösen in Form eines Mangels. Der Rambam seinerseits wurde gerade auch durch seine dreifache Bestimmung des Bösen prägend für die Nachwelt, indem diese Ansicht die Grundlegung für

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die Sichtweise Leibnizens war, welcher diese Dreiteilung in seiner Unterscheidung in malum metaphysicum, malum physicum bzw. naturale und malum morale übernahm. Nach diesen ersten Betrachtungen zu Wesen und Form des Bösen wenden wir uns nun nochmals explizit der Herkunft des Bösen zu. 5.2

Die Herkunft des Bösen

Herkunft

Maimonides

Thomas von Aquin

natürliches Übel

Materie → geschöpf liche Begrenztheit

Gutes (→ Parasit); Materie als Teil des Guten (→ geschöpf liche Begrenztheit) - per accidens - beschädigtes Gutes - vermeintliches Gutes

moralisches Übel

Mensch → freiheitstheoretisch Mensch → freiheitstheoretisch

Letzte Herkunft

Gott → Jes 45, 6–7 (→ per accidens)

Gott → Jes 45, 6–7 (→ per accidens)

Zwar bestimmen sowohl Maimonides als auch Thomas von Aquin das Böse als Abwesenheit des Guten, doch unterscheiden sie sich durchaus hinsichtlich der Verortung des Ursprungsortes dieses Bösen. Der Rambam siedelt das Böse in der Materie an, welcher natürlicherweise ein Mangel anhafte, und betont, dass mit der Möglichkeit des Guten zugleich auch automatisch die Möglichkeit des Bösen gegeben ist. Damit betont er die neuplatonische Materiebestimmung viel stärker. Der Aquinate dagegen betont, dass der Ursprung des Bösen im Guten liegt, wobei auch die Materie ein Gut darstellt. Für beide ist aber das Gute die bestimmende Kategorie. Es fällt auf, dass Thomas’ Theorieansatz wesentlich differenzierter ist, ein Umstand, welcher wohl nicht zu einem unwesentlichen Teil von der scholastischen Methode der Quaestio herrührt, mittels derer ein Thema in all seinen Facetten, von der grundlegendsten Frage her (gibt es Böses?) bis hin zu den konkreten Fragen nach Herkunft, Formen, etc. bearbeitet werden kann und muss. Wie schon der platonische Sokrates betont auch Thomas von Aquin, dass das Böse nur als vermeintliches Gut angestrebt werden kann. Gutes selbst kann – insofern es selbst schon defekt bzw. defizitär ist oder aber, insofern es Böses als Kollateralschaden hervorbringt – zur Ursache von Bösem werden. Selbst wenn ein „Übel“ im Sinne von etwas Defektem Böses

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hervorbringt, ist das Gute als Ursache dieses Bösen anzusehen, da das defekte Ding ursprünglich ein Gut, nun aber ein defizitäres, minderes Gut ist. Sowohl der Rambam als auch Thomas von Aquin umgehen die Schwierigkeit der Frage nach Gott als etwaigem Verursacher des Bösen nicht, sondern stellen sich der Herausforderung, wie sie in Jes 45 begegnet. Beide nehmen dabei innovative Deutungen dieser Bibelstelle vor und machen auf ihre je eigene Weise einsichtig, inwiefern Gott als Ursache des Bösen angesehen werden kann. Bei Maimonides geht es dabei wesentlich um eine Schaffung im Sinne von Schaffung aus dem Nichts. In diesem Sinne wird das Böse, welches an der geschaffenen Materie haftet, erschaffen. Das Böse erscheint indirekt als von Gott geschaffen, indem es als automatisches (notwendiges) Beiprodukt zusammen mit der geschaffenen Wirklichkeit ins „Dasein“ kommt. Gott erschafft damit das Böse per accidens, indem es eine materielle Schöpfung ohne Böses, das als Privation an der Materie haftet, nicht geben könnte. Thomas von Aquin dagegen erklärt die fragliche Stelle im Sinne eines Guten, welches in gewisser Hinsicht ein Böses darstellt und so als von Gott geschaffen in den Blick gerät, bzw. als Böses, welches im Sinne eines Kollateralschadens auftritt. Gott schafft das Böse auch bei Thomas nur per accidens. Er will und schafft das Gute. Zur Wahrung der Ordnung und Gerechtigkeit ist aber beispielsweise die Möglichkeit der Strafe, welche aufgrund des Durchsetzens der Gerechtigkeit und Ordnung selbst ein Gut, für die Bestraften aber ein Übel ist, notwendig, sodass er mit diesem Guten ein Böses secundum aliquid schafft. Nebst Gott als Ursache der natürlichen Übel, aber auch der Strafübel, kommt in beiden Systemen auch der Mensch in den Blick: Dieser alleine ist für die moralischen Übel verantwortlich. Gott dagegen verursacht diese weder direkt noch im Sinne des per accidens. Durch die Erschaffung des mit freiem Willen ausgestatteten Wesens lässt er aber auch die Möglichkeit zum moralischen Übel zu. Insofern er für die Erschaffung des Menschen verantwortlich ist, ist er doch dafür verantwortlich, dass es ein Geschöpf gibt, welches durch den selbstursächlichen Willen selbst moralische Übel setzen kann. Sowohl Thomas als auch Maimonides vertreten damit ein doppeltes System: Zum einen gibt es einen theologischen Aspekt des Bösen, indem Gott die Welt geschaffen und so per accidens auch die Möglichkeit zum Bösen hervorgerufen hat. Daneben gibt es aber auch einen anthropologisch-freiheitstheoretischen Aspekt, indem der Mensch als alleinige Ursache des moralischen Bösen angesehen wird. In einem weiteren Vergleich sollen nochmals die Aussagen bezüglich der Welt und den grundlegend zu verteidigenden Bibelstellen in Erinnerung gerufen werden.

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5.3

SYSTEMATISCHER ZUGANG

Die Integration der biblischen Vorgaben in die Theorien

Theologisches Anliegen

Maimonides

Bonisierung des Bösen

Beste aller möglichen Welten Beste aller möglichen Welten → ästhetische Erklärung des Bösen

Thomas von Aquin

Zu verteidigende Bibelstelle Gen 1,31 Zu integrierende Bibelstelle

-

Gen 1,31

Gen 3 Jes 45,7

-

Gen 3 Jes 45,7

Eine Bonisierung des Bösen begegnet nicht erst in der Neuzeit, sondern wird bereits von Maimonides und Thomas von Aquin betrieben, welche denn auch die Grundlage einer der bekanntesten Bonisierungstheorien der Aufklärung (Leibniz) darstellen. Sowohl Maimonides als auch Thomas von Aquin bestimmen die Welt als beste aller möglichen Welten. Der Aquinate expliziert diese Aussage dahingehend, dass er betont, dass ohne die Möglichkeit zum Bösen auch die Güter weniger vielfältig wären und die Welt insgesamt somit weniger schön und weniger vollkommen wäre. Gerade auch das durch den freien Willen mögliche moralische Böse wird so gerechtfertigt, sodass bei Thomas Züge, welche noch heute von der Free-Will-Defense vorgetragen werden, erkennbar sind. Die Positionen des Aquinaten und des Rambam versuchen beide die theologische Grundaussage, dass alles Geschaffene nicht nur gut, sondern sogar sehr gut ist, mit ihren Privationstheorien zu verteidigen. Grundlegend spielt gerade beim Aquinaten der neuplatonische Emanationsgedanke hierbei eine wesentliche philosophische Grundlage, um die Gutheit alles Existierenden philosophisch-rational begründen zu können. Es wird deutlich, dass, wenngleich auch in beiden Entwürfen Gott aufgrund von Jes 45,6–7 als Ursache des Bösen in den Blick genommen wird, sowohl der Rambam als auch der Aquinate die Gutheit Gottes sowie der gesamten Schöpfung betonen und eine Theodizee betreiben, welche Gott insofern von der Verantwortung bzw. der Schuld für das Böse freispricht,8 als diese schönste aller möglichen Welten nicht hätte geschaffen und realisiert werden können, ohne die Möglichkeit zum Bösen in Kauf zu nehmen. Bei beiden wird deutlich, dass das Böse 8 Doch gerade bei diesem Freispruch von der Verantwortung für das Böse handelt es sich nach Gross/Kuschel um einen nicht notwendigen Schritt: „Es kann also keine Rede davon sein, dass durch die Verantwortung Gottes für das Übel das Gottesbild gleichsam dämonisiert würde. Im Gegenteil: Indem Gott die Verantwortung für das Übel zugesprochen wird, ja, indem Gott sich selbst die Verantwortung für das Übel zuspricht, wird gleichzeitig an seine Macht appelliert, für die Beseitigung des Übels Sorge zu tragen.“ (Gross/Kuschel (1992), S. 217.)

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insofern in die gute Schöpfung integriert werden kann, als geschaffene Wirklichkeit nicht ohne die Möglichkeit zum Bösen zu realisieren ist. Dies stellt keine Begrenzung der Allmacht Gottes dar, da alles Geschaffene aufgrund seines Geschaffen-Seins von seinem Schöpfer verschieden ist. Gott alleine kommt es zu, in jeder Hinsicht vollkommen, einfach und unveränderlich zu sein. Alles Geschaffene dagegen ist zusammengesetzt, begrenzt, unvollkommen und veränderbar. Das Böse könnte nur verhindert werden, wenn auf die Schöpfung verzichtet würde. Der gute Gott will sich und seine Liebe mitteilen, weswegen er aus seiner Freigiebigkeit heraus eine von ihm verschiedene Wirklichkeit schafft, die zu ihm in Beziehung treten kann und auch soll, der er sich aber auch selbst mitteilt. In ihrer Rede von der besten Welt drücken sie die Qualifizierung der Schöpfung als sehr gut aus, wobei die Charakterisierung des Rambam und des Aquinaten die biblische Aussage übersteigt. Um die Tatsache, dass alles gut geschaffen wurde, angesichts des Bösen wahren zu können, greifen sie jedoch nicht auf die im biblischen Text geschilderten, bereits vorgefundenen Chaosmächte zurück, sondern nehmen die rezeptionsgeschichtliche Weiterentwicklung in Form der creatio ex nihilo auf. Durch den Ursprung aus dem Nichts bleibt die geschaffene Materie für dieses Nichts anfällig. Damit soll in philosophischem Vokabular nichts anderes ausgedrückt werden als die theologische Aussage der geschöpflichen Begrenztheit des Geschaffenen. Mit der Erzählung von der Gebotsübertretung im Garten Eden nehmen beide Positionen weiter die Vorstellung auf, dass das (moralische) Böse durch den Menschen in die Welt gekommen ist. Weiter ziehen sie aber auch die rezeptionsgeschichtliche Weiterentwicklung in Form der Vorstellung, dass die Auswirkungen dieses Ereignisses sich bis auf den heutigen Tag auf das Menschengeschlecht erstrecken, hinzu. Thomas geht dabei von der Erbsünde aus, von welcher sich der Mensch nicht aus eigener Kraft befreien kann. Dies erlaubt es ihm, alle Übel wesentlich in die Kategorien von Schuld und Strafe einzuteilen. Maimonides dagegen sieht zwar ebenfalls die gesamte Menschheit in einen niederen Stand verfallen, doch kann sich der Mensch selbst aus diesem Zustand unter der Herrschaft der Imagination befreien, indem er seinen Intellekt entsprechend schult. So kann er prinzipiell selbst wieder zum ursprünglichen Stand der Gottebenbildlichkeit, welche im Intellekt besteht, gelangen. Vollständig zu verwirklichen ist dieser Prozess jedoch erst nach dem Tod, da der Mensch erst in diesem Moment frei von allem Physisch-Materiellen ist. Sowohl Thomas als auch Maimonides nehmen mit der Übertragung der Verantwortung für das Böse auf den Menschen die in der zweiten Schöpfungserzählung ausgesagte Vorstellung auf, dass das Böse der Schöpfung inhärent ist und von Elementen der Schöpfung selbst realisiert wurde bzw. wird. Doch auch mit der Vorstellung des Bösen als „automatisches Beiprodukt“, welches zusammen mit der Materie

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SYSTEMATISCHER ZUGANG

notwendigerweise ins „Dasein“ kam, lässt sich die Erkenntnis, dass das Böse als eigentlich schon in der Schöpfung vorhanden – ja gar als Geschöpf selbst – vorgestellt wird, verbinden. Gott hat zwar die ganze Welt gut geschaffen (Gen 1), doch haftet die Privation, welche das Böse ist, der von Gott (mit diesen Eigenschaften) geschaffenen Materie an. An der Schlange, aber auch am Menschen wird offensichtlich, dass das gut Geschaffene anfällig für den Abfall und die Privation ist. Die Figur der Schlange symbolisiert so diese zusammen mit der Materie (unabhängig vom freien Willen) gegebene Möglichkeit. So ist es tatsächlich die gute Schöpfung selbst, welche die Privation hervorbringt. Für die beiden Konzepte lässt sich prinzipiell dieselbe zentrale Schlussfolgerung ziehen, welche sich für die biblischen Überlieferungen im Jahrbuch für Biblische Theologie findet: „Die biblische Tradition, die dem Bösen gerade kein eigenes Gewicht, ja kein eigenes, von Gott abgelöstes Sein zugestehen will, leitet dazu an, weder das metaphysische noch das moralische malum zu verabsolutieren.“9 Das einzig Absolute sind Gott und das Gute. Durch die Rede vom per accidens gelingt es den beiden Positionen weiter, die deuterojesajanische Aussage der Urheberschaft Gottes mit Blick auf das Böse festzuhalten. Dabei wird diese Rede ebenfalls wesentlich im Sinne der geschöpflichen Begrenztheit verstanden, sodass Gott zusammen mit der Weltschöpfung auch das Böse zumindest seiner Möglichkeit nach hervorbringt. Aus den vorangehenden Schematisierungsversuchen wird ersichtlich, dass die Entwürfe des Rambam und des Aquinaten in weiten Teilen übereinstimmen, beim Aquinaten allerdings etwas differenzierter vorliegen. Die Gemeinsamkeiten rühren nebst gemeinsamen philosophischen Eckpfeilern gerade auch von einem gemeinsamen Erbe heiliger Texte her, welche die Grundlage ihrer Überlegungen bilden und an denen sich ihre Theorien bewähren müssen. An der Übereinstimmung mit den grundlegenden Texten (insbesondere die Stellen in Gen 1,31 (alles Geschaffene ist gut), Gen 3 (der Mensch trägt die Verantwortung für das (moralische) Böse) und Jes 45,6–7 (Gott ist der Urheber und Erschaffer des Bösen), aber auch Hiob) erweisen sich die Theorien als adäquat und berechtigt oder eben nicht. Wenngleich philosophisch-rational und logisch vorgegangen wird, bilden dennoch die Heiligen Schriften die letztgültige Autorität und den Maßstab der Entwürfe.10 Unterschiede der beiden 9 10

Frey/Oberhänsli-Widmer (2012), S. xvi, Hervorhebung im Original. Dasselbe Phänomen ist etwa bei Anselm von Canterbury feststellbar, wenn er sagt, dass alles, was er mit Vernunftgründen aufweist, mit der Heiligen Schrift übereinzustimmen hat; ist dies nicht der Fall, so muss es – auch wenn es vordergründig als logisch erscheint – dennoch falsch sein. (Nach: cdh i,18.)

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Positionen erklären sich vor allem auf der Grundlage ihrer unterschiedlichen religiösen Herkunft und Kulturation: Der Aquinate muss als Christ im Unterschied zu Maimonides die Erbsündenlehre mitbedenken und in sein System logisch einarbeiten. Die Rekurse auf die Vorstellung von der creatio ex nihilo sowie auf Aristoteles’ Unterscheidung in Form und Materie können sich bei der Frage nach der Herkunft des Bösen und einer allfälligen Verantwortung Gottes für dasselbe als Kunstgriff erweisen: So referiert Ivry für Maimonides, die Form stamme von Gott her und zwar mittels Emanation aus Gott, dem Einen, bzw. aus dem göttlichen Wissen, die Materie dagegen stamme aus dem Nichts, indem die Welt aus dem Nichts geschaffen wurde; die Form der Materie emaniere natürlich aus Gott, sodass Gott von der Form (und somit auch von der Form der Materie) ein Wissen habe, die Materie dagegen entziehe sich bis zu einem gewissen Grade seiner Kontrolle, da sie nicht aus ihm hervorgegangen sei; sie emaniere nicht aus Gott im Schöpfungsakt, sondern entstamme dem Nichts; Gott habe aber nicht nur keine unmittelbare Kontrolle über die Materie, sondern besitze aufgrund dieses von Gott Abgespaltet-Seins auch für konkrete, individuelle Ereignisse im Bereich dieser Materie kein Wissen.11 Diese Überlegungen sind mit Blick auf das Böse sehr interessant. Denn so kann eine Verantwortung Gottes für das Böse ausgeschlossen werden, da es an der Materie haftet und diese nicht aus dem guten Gott emaniert. Nur durch die Form würde so eine Beziehung zum Schöpfer in dem Sinne hergestellt, dass er das Existierende nicht nur erschaffen hat, sondern dieses auch aus ihm ausströmt und so an seiner Gutheit Anteil hat. Und da vom Bösen nur die Materie, nicht aber die Form betroffen ist, ist das, was aus Gott ausströmt – nämlich die Form –, weiterhin, also auch angesichts von Privationen, welche an der Materie haften und sich manifestieren, als sehr gut zu qualifizieren. Allerdings führt dieser Gedanke auch zu gravierenden Problemen, indem die Frage aufgeworfen werden muss, ob es also Bereiche gibt, welche sich Gottes Wirkbereich entziehen, Bereiche, welche nicht direkt von ihm stammen und die so von seiner Allwissenheit ausgeschlossen sind, wodurch der Begriff der Allwissenheit erschüttert und infrage gestellt wird, denn wenn sich diese nicht auf alle Bereiche erstreckt, kann die Bezeichnung allwissend nicht adäquat sein, da dieses Wissen eben nicht alles umfasst und so auch nicht allwissend ist. Diese Anfrage führt uns zum letzten vergleichenden Schema, welches sich mit der Hiobinterpretation und damit der göttlichen Vorsehung befasst. 11

Nach: Ivry (1985), S. 147–149.

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5.4

SYSTEMATISCHER ZUGANG

Die providentia dei

Vorsehung

Maimonides

Thomas von Aquin

„Garant“

Intellektuelle Tugend

Moralische Tugend

Übel

Strafe; mangelnder Schutz

Nicht zwingend Strafe

Zeichen

Irdisches Geschick → Lohn und Strafe Himmlisches Geschick→ Lohn und Strafe als diesseitiges Tun-Ergehen-Modell als jenseitiges Tun-Ergehen-Modell

Die größten Unterschiede zwischen den Positionen des Maimonides und des Thomas von Aquin sind hinsichtlich ihrer Ausführungen zur Providenz auszumachen. Dies äußert sich nicht nur in den Bereichen, die der Providenz unterliegen, sondern mit Blick auf den Menschen auch hinsichtlich der Auswirkungen der Providenz. Da Maimonides die Vorsehung mit dem Intellekt verbindet, haben nur jene nicht nur der Gattung nach, sondern auch als Einzelwesen Anteil an der göttlichen Vorsehung, welche Objekte der Emanation des göttlichen Intellekts sind. Folgerichtig nimmt Maimonides für die Einzeldinge die Providenz nur auf der supralunaren Ebene sowie für die Menschen an. In den anderen irdischen Bereichen dagegen erstreckt sich die Vorsehung nur auf die Gattungen. Thomas von Aquin dagegen betont, dass die Providenz sich in allen Bereichen auf die Einzeldinge erstreckt und nicht nur auf die Gattungen beschränkt, da Letzteres einen Mangel in Gott darstellte. Maimonides deutet die Übel, welche einen Menschen treffen, als Strafe. Da wahre Gutheit nicht nur in der moralischen, sondern auch in der intellektuellen Tugendhaftigkeit besteht, kann ein rechtschaffener Mensch so dennoch zu Recht bestraft werden, weil er seinen Intellekt vernachlässigt hat. Jedoch ist dies nicht dahingehend zu verstehen, dass er in jedem Fall direkt von Gott bestraft wird, sondern es kann sich auch einfach darin manifestieren, dass ihn aufgrund des mangelnden Schutzes durch die Providenz Übel durch Dritte treffen können, dass also Gott das Unheil nicht von ihm fernhält, welches aber nicht zwingend auf Gott als Urheber zurückzuführen ist. Übel können zwar auch gute Menschen treffen, doch wer wahrhaft gut, also auch intellektuell, ist, ist mystisch so mit Gott geeint, dass er dem Physischen enthoben ist und die physischen Leiden in diesen Momenten mystischer Einigung mit Gott nicht wahrnimmt. Da der Mensch durch die Schulung des Intellekts aber auch linear ansteigend Anteil an der göttlichen Providenz erhält, ist anzunehmen, dass eine Person, welche ihren Intellekt entsprechend schult, nicht von Bösem getroffen wird. Thomas dagegen betont, dass Leiden nicht zwingend als Strafe zu verstehen ist, sondern es weitere Gründe für dieses geben kann. So kann Gott hierin auch die Rechtschaffenheit eines Menschen vor anderen aufweisen. Weiter kann

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ein Mensch aber auch durch moralische Übel anderer leiden, sodass er Opfer ihrer Sünde, für welche nicht er, sondern die Sünder Strafe verdienen, sei es im Dies- oder erst im Jenseits, wird. Die Sünde steht außerhalb der Providenz Gottes, sodass das von dieser Sünde als Opfer betroffene Individuum nicht aufgrund der göttlichen Providenz leidet. Vielmehr ist diese darauf bedacht, dass es für die guten Menschen dennoch gut kommt.12 Die Vorsehung hält Übel nicht gänzlich fern von einer rechtschaffenen Person, sondern kümmert sich darum, diese ihrem Ziel zuzuführen, welches in der visio beatifica besteht. Der wahre Ort für Lohn und Strafe ist in Gegensatz zu Maimonides’ Vorstellung nicht im Dies-, sondern erst im Jenseits zu verorten. Was aber beiden Positionen gemeinsam ist, ist die Annahme einer vollständigen Enthobenheit von den Übeln in der ewigen, ununterbrochenen und direkten liebenden Einigung mit Gott – und damit nicht in diesem Leben, da dies erst nach dem Tod zu verwirklichen ist. Der eine nennt es die Einigung mit dem aktiven Intellekt und nimmt diesen Zustand wohl als überindividuell an (Maimonides), der andere dagegen bezeichnet es als visio beatifica und sieht darin einen individuellen Zustand (Thomas von Aquin). Beiden aber geht es wesentlich um die direkte Beziehung zu und Einigung mit Gott. Beide betonen damit nebst dem exitus aus Gott, dem Schöpfer, auch den reditus, die Rückkehr zum Schöpfer, und sehen in diesem das eigentliche Ziel des Menschen bzw. der Schöpfung. Beide Systeme sind somit teleologisch ausgerichtet. Nachdem die unterschiedlichen Aussagelinien nochmals zusammengetragen wurden, gilt es in einem nächsten Schritt den Ertrag der Ergebnisse festzuhalten und zu bewerten. 5.5

Der Ertrag der Ergebnisse

Der Ertrag dieser Untersuchungen ist darin zu würdigen, als sowohl Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten der beiden so zentralen und prägenden Positionen auf jüdischer wie christlicher Seite herausgestrichen wurden, wobei die Einsicht gewonnen wurde, dass Aufklärung und Neuzeit nicht ohne diese verstanden werden können, bilden sie doch den Verstehenshorizont und die Basis für die Theodizee-Versuche Leibnizens und Spinozas. Doch auch Maimonides und Thomas von Aquin selbst können nicht ohne die sie prägende philosophische wie theologische Vorgeschichte verstanden werden, 12

So hält Thomas fest, dass die Sünde von Gott nur aus dem Grunde zugelassen wird, um daraus Besseres hervorgehen zu lassen, wie anhand des Christusereignisses und der felix culpa veranschaulicht wird. (Vgl.: STh iii, q. 1, a. 3 ad 3.)

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so gilt es beispielsweise immer auch Aristoteles, Plotin und den Neuplatonismus, Augustinus und Anselm von Canterbury als grundlegende Positionen mitzubedenken, die ihren Beitrag an die Herauskristallisierung der beiden untersuchten Positionen leisteten. Ebenso muss auch immer wieder die Heilige Schrift selbst herangezogen werden, um verstehen zu können, weswegen der Rambam und der Aquinate so sehr um ein logisches System kämpften, in welchem Gott und das Böse zusammengedacht werden können, ohne dabei die Vorstellung, dass die gesamte Schöpfung sehr gut ist (Gen 1,31), aufgeben zu müssen, gleichzeitig aber auch Textstellen wie etwa Jes 45,6–7, welche Gottes Verantwortung und Ursächlichkeit für das Böse betonen, ernst zu nehmen und mit der theologischen Grundaussage der guten Schöpfung in Einklang bringen zu können. Für die Thematik des Bösen ergibt sich allerdings das Bild, dass kein (direkter) Einfluss Maimonides’ auf Thomas von Aquin feststellbar ist. Er übernimmt keine der beiden spannenden Innovationen des Rambam: weder die Dreiteilung des Bösen noch die Hiobinterpretation. Allerdings gilt es anzumerken, dass Thomas sich im Rahmen seines Hiobkommentars durchaus mit den maimonidischen Ausführungen zum Bösen sowie zur Providenz auseinandersetzt. Dagegen schlägt er hinsichtlich seiner Betrachtungen zum Bösen in den übrigen analysierten Schriften auf Grundlage seiner religiösen Prägung einen eigenen Weg ein, indem er eine Fokussierung auf die Erbsündenlehre vornimmt. Die Gemeinsamkeiten ergeben sich folglich weniger aus direkt ausmachbaren Einflusslinien des Juden Moshe ben Maimon auf den Christen Thomas von Aquin, als vielmehr aus ihrer gemeinsamen Ausrichtung: Beide verfolgen eine metaphysische, rationale, aristotelisch und neuplatonisch (plotin’scher Prägung) geprägte Linie und sehen sich darüber hinaus vor dieselben biblischen Herausforderungen gestellt. Der größte Unterschied der beiden Positionen besteht interessanterweise in der Bedeutung, welche der Erzählung vom Garten Eden beigemessen wird: Maimonides macht diese Erzählung für seine Betonung des Intellekts nutzbar, Thomas von Aquin dagegen nimmt sie hinsichtlich ihrer Rezeptionsgeschichte in Form der Lehre von der Erbsünde als zentrales Element seines Systems zur Erklärung des Bösen auf. Maimonides’ Intellektskonzept, welches er zur Erklärung des Leidens der scheinbar Gerechten und damit verbunden auch für seine Providenzlehre hinzuzieht, stellt eine innovative Ansicht dar, welche sich bei Thomas von Aquin nicht widerspiegelt – zu stark war die vorgegebene Tradition der Erbsündenlehre, welche es in sein System zu integrieren galt. Bei all den Gemeinsamkeiten sehen wir uns so dennoch mit zwei eigenständigen, unterschiedlichen Systemen konfrontiert – das eine, so ist man fast geneigt zu formulieren, philosophischer aufgrund der Bedeutung, welche dem Intellekt beigemessen wird, das andere

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religiöser aufgrund der Zentralität der Erbsündenlehre. Philosophisch-religiös sind zuweilen beide: Auf der Grundlage philosophischer Konzepte, welche sie im Neuplatonismus sowie bei Aristoteles vorfanden, sowie in Aufnahme biblischer Grundaussagen, nehmen sie das Böse im Fokus Gottes in den Blick und versuchen diesen als den über allem stehenden Lenker selbst angesichts der aufgrund des Bösen so chaotisch wirkenden Welt aufzuweisen. Sowohl Thomas von Aquin als auch Rabbi Moshe Ben Maimon schildern ein System mit zwei grundlegenden Kategorien: Einerseits gibt es die natürlichen Gegebenheiten der erschaffenen Welt, welche sich in Werden und Vergehen äußern, wodurch die Kategorie der Korruption von Anfang an mitgegeben ist. Die Materie selbst ist dem Vergehen und der Veränderung unterworfen, an ihr hängt die Möglichkeit zur Korruption. Sie – und damit die geschaffene Wirklichkeit – ist das Moment, welches für die Privation anfällig ist. Von dieser ersten Kategorie ist insbesondere das natürliche Übel betroffen. Daneben kennen aber auch beide die entscheidende Kategorie der menschlichen Willensfreiheit und somit der moralischen Übel in Form der Sünde. So ist es der Mensch, welcher Unheil über andere Menschen – aber auch Tiere und Umwelt insgesamt – bringt. Doch auch für die menschliche Willensfreiheit ist letztlich Gott verantwortlich, hat er diese dem Menschen doch aus Gnade gewährt.13 Damit liegt die Letztverantwortung für das Böse letztlich – um in thomasischer Terminologie zu bleiben sozusagen per accidens – bei Gott. Als Konsequenz ergibt sich, dass nicht nur alles monadisch auf die Erbsünde rückführbar ist, wie noch isoliert mit Blick auf Thomas von Aquin festgehalten wurde, sondern dass letztlich alles in Verbindung zu Gott steht und auf diesen als dem Schöpfer rückführbar ist. Mit Blick auf Maimonides ist festzuhalten, dass Menschen nicht etwa aufgrund der Erbsünde leiden müssen, sondern ausschließlich, weil sie sich nicht an die Gebote Gottes halten und so anderen Menschen (soziales Übel) oder sich selbst (individuelles Übel) Leid zufügen. Interessanterweise behandelt der Rambam daher in den Kapiteln zwischen den für die Vorsehung zentralen Stellen in mn iii,22–23 sowie mn iii,51–54 die göttlichen Gebote. Die Erfüllung der Gebote alleine stellt zwar nicht die grundlegende Kategorie dar, doch ist sie auch nicht überflüssig. Der Mensch muss seinen Intellekt schulen; je mehr er Einsicht in Gott erlangt, desto mehr erhält 13

Stosch schreibt hierzu: „Insofern bleibt es auch bei einer noch so konsequenten Anwendung des Arguments von der Willensfreiheit dabei, dass Gott zumindest für die Leidensgeschichte insgesamt haftbar gemacht werden muss. Auch bei der Beantwortung des in der Theodizeefrage inhärenten Widerspruchsproblems durch das Argument von der Willensfreiheit bleibt die Letztverantwortung für das Leiden bei Gott.“ (Stosch (2013), S. 96.)

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er Anteil an der göttlichen Vorsehung. Und je mehr sein Intellekt geschult ist, desto mehr erkennt er auch den Sinn der Erfüllung der Gebote. So geht es letztlich darum, sich in allem ganz auf Gott auszurichten: sowohl in seinen Gedanken als auch in seinem Tun. Die intellektuelle Tugendhaftigkeit alleine genügt nicht, sondern baut vielmehr wesentlich auf der moralischen auf. Mit der Anteilhabe an der göttlichen Providenz, welche erst durch das Zusammentreffen beider Tugenden gewährt wird, wird sodann nicht nur die Opferrolle überwunden, indem das Böse einem nichts mehr anhaben kann, sondern auch die Täterrolle, indem sich der Mensch ganz auf Gott ausrichtet und den göttlichen Geboten nachkommt. Gott ist die entscheidende Kategorie, um die beiden mit der menschlichen Willensfreiheit verbundenen Kategorien des Bösen zu überwinden. Damit rückt Gott nicht nur hinsichtlich der letztlichen Urheberschaft in den Blick, sondern auch hinsichtlich des Prozesses, sich von diesen Übeln zu befreien. Mit der Vorstellung von Schuld und Strafe nimmt auch Thomas von Aquin Gott hinsichtlich des moralischen Bösen in den Blick. Auch hier steckt ein pädagogisches Element dahinter, welches den Menschen dazu anleiten soll, sich von Sünde und Schuld zu befreien. Dabei gerät aber für Thomas von Aquin mit Blick auf die Frage nach der Überwindung des Bösen nicht nur Gott in den Blick, sondern der dreieine Gott – und damit das die beiden Positionen wesentlich Trennende. Denn hinsichtlich des Erlösungsgeschehens ist bei Thomas von Aquin insbesondere die Rolle Jesu Christi zu bedenken.14 Dies sei an dieser Stelle jedoch nur angedeutet, da es in der vorliegenden Arbeit nicht um die Überwindung des Bösen, sondern um dessen Herkunft geht. Für beide ist Gott die entscheidende Kategorie, da sich am Verhältnis zu diesem auch das Vorhandensein eines Übels entscheidet: Was Gottes Ordnung zuwiderläuft, ist ein Übel, und was der Mensch gegen Gottes Gebote und Gesetze tut, ist Sünde. So können gerade auch hinsichtlich dieses Themas wertvolle Hinweise für einen Dialog gefunden werden, wenngleich keine direkte Auseinandersetzung mit Maimonides in Bezug auf das betrachtete Problem der Frage nach dem Ursprung des Bösen bei Thomas auszumachen ist. Die Chancen für einen Dialog zwischen den beiden Religionen bestehen dabei einerseits in den Gemeinsamkeiten, welche die Theorien aufgrund gemeinsamer philosophischer Annahmen teilen, andererseits aber gerade auch aufgrund der religiös bedingten Unterschiede, welche für einen gegenseitig bereichernden Dialog 14

Dodds verweist insbesondere auf die Kategorie des Mitleids: Durch die hypostatische Union ist es in Jesus Christus Gott selbst, der leidet; und aufgrund der Liebe, welche uns mit Jesus Christus verbindet, leidet auch er in unseren Leiden, was aufgrund der ersten Bemerkung bedeutet, dass Gott mit uns leidet. So betont gemäß Dodds auch Thomas von Aquin die Rolle des mitleidenden bzw. leidenden Gottes. (Nach: Dodds (1991).)

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fruchtbar gemacht werden können. So hält auch Wohlman fest, dass die Begegnung zwischen dem Christen Thomas und dem gesetzestreuen Juden Maimonides, zusammen mit ihren Grenzen, ein immer aktuelles Zeugnis für den möglichen Dialog zwischen denen, denen es letztlich um die Wahrheit geht, darstellt.15 Doch gilt es noch einen weiteren Schritt zu unternehmen: Denn zwar sind die Theorien in sich durchaus logisch und bilden ein stringentes System, doch wie steht es damit heute? Vermögen diese metaphysischen Modelle heute noch unsere Bedürfnisse und Anfragen zu befriedigen? Als größte Herausforderung muss hier insbesondere die im ersten Teil der vorliegenden Arbeit beschriebene Theodizee nach Auschwitz angesehen werden. 5.6

Auschwitz als Herausforderung für die beiden Theorien

Mit Blick auf die Aktualisierung der beiden Entwürfe wurde bereits Einiges dazu gesagt, welche Konsequenzen sich für die Beurteilung der Shoah aus den beiden Positionen ergeben. Hinsichtlich Maimonides lässt sich etwa mit Kraemer festhalten, dass dieser metaphysische Versuch über heutigen Versuchen in Form von Theologien nach Auschwitz steht, da Letztere Gott in seiner Macht limitieren würden; Maimonides’ Ansatz dagegen stelle keine eigentliche Theodizee dar: Er will nicht Gott angesichts der Übel rechtfertigen, sondern zeigt Gott als ausserhalb stehend und frei von Verantwortung für menschliche Handlungen auf, sei es eine Handlung des Individuums sich selbst (3. Form der Übel nach Maimonides) oder anderen gegenüber (2. Form).16 Wie Illies festhält, müssen echte Theodizeen, um dem Anliegen der Rechtfertigung genügen zu können, nicht in der Lage sein, jedes einzelne Böse, das geschieht, befriedigend zu erklären, vielmehr genügt es, wenn eine insgesamt plausible Lösung geboten wird,17 sodass die Theodizee-Entwürfe, welche von Thomas von Aquin und Maimonides vorgelegt wurden, nicht allein aufgrund der Shoah ihre Berechtigung verlieren, denn solche „Einzelereignisse“ zu erklären ist nicht ihre Absicht, wie es dagegen generell zu solchen Dingen kommen kann, erklären sie in einem in sich geschlossenen und kohärenten System.18 Ob diese 15 16 17 18

Nach: Wohlman (1988), S. 326. Nach: Kraemer, J. (2008), S. 391. Nach: Illies (2000), S. 420. Zwar entspricht eine Einzelfallerklärung weder Absicht noch Sinn der beiden analysierten Theorien, doch muss kritisch angefragt werden, ob eine solch abstrakte Betrachtung, wie sie in der vorliegenden Arbeit mehrheitlich betrieben wird, überhaupt legitim ist,

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Erklärungen für die Shoah befriedigend sind, ist eine andere Frage. So kann etwa Thomas von Aquin zwar auf die Erbsünde verweisen, welche eine Strafe rechtfertigt, doch kann damit nicht erklärt werden, weswegen gerade diese Menschen auf diese Weise leiden und sterben mussten. Auch die Begründung, dass ein Übel nur als scheinbares Gutes angestrebt wird (wenngleich Erhalt und Reinhaltung der arischen Rasse tatsächlich als anzustrebendes Gut verkauft wurden), oder die Behauptung, dass ein Irrtum vorliegt und so niedere Güter höheren vorgezogen werden, können nicht wirklich befriedigen. „Die Planung und Inbetriebnahme von Konzentrationslagern wird man allerdings nur mit nachhaltigem Unbehagen als Resultat einer missglückten Güterabwägung charakterisieren können.“19 Doch sind es gerade diese beiden Elemente, eine falsche Güterordnung sowie die Verfolgung vermeintlicher Güter, welche wohl tatsächlich die Motivation vieler untergebener Täter am besten zu charakterisieren vermögen.20 Maimonides’ Entwurf führt zur Problematik, dass die Schuld an den Leiden den Opfern selbst übertragen wird. Auch bei Thomas ergeben sich einige problematische Konsequenzen, sodass zwar nicht in jedem Fall die Opfer als strafwürdig angesehen werden, aber unter Umständen Gott an ihnen auf diesem Wege ihre Rechtschaffenheit aufweisen wollte, was ihn in ein dämonisches Licht rückt, oder aber es wird auf das Jenseits verwiesen, wo sie größerer Lohn erwartet, sodass die Bedeutung ihres Schicksals bagatellisiert zu werden droht. Der Vorteil der thomasischen Konzeption ist aber, dass sich der Aquinate auf der Grundlage der Hiobinterpretation nicht anmaßt, den Grund für das Leiden in jedem Fall ergründen zu können. Weiter wird auch erlaubt, die Opfer viel stärker als Opfer moralischer Schuld anderer anzuerkennen. Beide Theorien verbleiben auf dem traditionellen Bestand, indem sie von der Bestimmung Gottes nicht abweichen, sondern die Übel in ihren Modellen insbes. mit Blick auf den Menschen in den Kategorien Schuld und Strafe und damit Lohn und Strafe denken, wodurch sie einem

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da es für die Menschen ja gerade darum geht, den konkreten Fall zu betrachten und als für mit dem guten und allmächtigen Gott in Einklang zu bringend aufzuweisen. (Vgl. z.B.: Frey/Oberhänsli-Widmer (2012), S. X.) Kreiner (2005), S. 136. So wirft etwa auch Formosa die Frage auf, ob das Böse als Böses oder als Scheingutes gewählt wurde, und betont, dass selbst wenn das Böse bei vollem Wissen um dessen Bosheit getan wurde, dennoch nicht mit Sicherheit gesagt werden könnte, es sei in erster Linie genau darum, weil es böse ist, getan worden. (Nach: Formosa (2009), S. 202.) Formosa selbst lehnt die Auffassung, dass in der Shoah das Böse qua Böses getan wurde, ab. (Nach: Ebd., S. 202f.)

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Tun-Ergehen-Schema verhaftet bleiben, wobei sich dieses mit Blick auf Maimonides vom traditionellen insofern unterscheidet, als es den Intellekt hervorhebt, welcher für Strafe oder Schutz verantwortlich ist, mit Blick auf Thomas dagegen ist es nicht im Dies-, sondern im Jenseits zu verorten, da das irdische Geschick nicht zwingend Schlüsse über die Strafwürdigkeit einer Person zulässt. Beide Modelle sind eher im Rahmen der traditionellen Erklärungsversuche, welche hinsichtlich Auschwitz betrachtet wurden, anzusiedeln. Jedoch ist in beiden Theorien das Übel, welches einen Menschen insbes. in Form der von anderen verübten Sünde trifft, nicht auf Gott als Urheber zurückzuführen, sodass die Sünde nicht als Werkzeug Gottes angesehen wird. Entwürfe wie jene, welche wir im philosophischen Teil sahen, die Hitler einzig als Werkzeug Gottes zur Bestrafung der Juden sahen, widersprechen damit sowohl der Theorie des Maimonides als auch jener des Thomas. Gerade der Aquinate spricht sich dezidiert gegen eine Instrumentalisierung der Sünde durch Gott aus, indem er sie aus dem Bereich der Providenz fernhält. Die Aufgabe eines Gottesattributs aber, wie wir es hinsichtlich Jonas’ Rede vom ohnmächtigen Gott gesehen hatten, käme weder für Thomas noch für Maimonides infrage. Eine theoretische Ergründung für die Übel kann in beiden Theorien geliefert werden, der Einzelfall stellt aber in jedem Falle eine mehr als harte Probe, Anfrage und Kritik an die Theorien dar. Da die beiden Theorien aber nicht mit Blick auf die Rechtfertigung konkreter Übel verfasst wurden, werden sie gewissermaßen vergewaltigt, will man sie in diesem Sinne verstehen und ihre Berechtigung einzig anhand der Kompatibilität mit konkreten Übeln festmachen. Und so kann mit Illies mit Blick auf die konkrete Praxistauglichkeit geurteilt werden: „Jede echte Theodizee, auch wenn sie eine logisch notwendige Verknüpfung von Gutem mit dem Übel zeigen kann, scheint doch wieder an dem ersten Kriterium zu scheitern, weil sie das Böse nicht wirklich ernst nimmt – entweder, weil sie nicht begreift, dass das Böse nicht sein soll, oder weil sie es in ein Gutes umlügt.“21 Doch ist es wirklich nur das Böse, welches so nicht Ernst genommen wird? Gilt dies nicht letztlich auch für Gott? Wird er nicht zu sehr vereinnahmt und im menschlichen Verstand begrenzt, wo der Mensch sich anmaßt, Gott rechtfertigen zu können und zu müssen? Ist dies nicht letztlich die Aufgabe Gottes selbst, der er sich stellen, aber auch entziehen kann, die er aber – wie bei Hiob – auch anders wahrnehmen kann, als wir uns dies vorstellen? Was nämlich sowohl für Thomas von Aquin als auch für Maimonides konstatiert werden muss, ist die Absehung von Hiobs Protest gegen Gott. Gerade Klage 21

Illies (2000), S. 421.

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und Anklage werden von ihnen – wie von theoretischen Theodizee-Entwürfen überhaupt – nivelliert. Zwar nehmen beide Positionen biblische Aussagen auf, verlieren dabei aber zugleich die biblischste aller Reden angesichts des Bösen aus dem Blick: die Klage. Gerade die Klage aber besitzt ein großes Potential, zeugt sie doch zugleich auch von einem unerschütterlichen Vertrauen zu Gott und einer immensen Hoffnung auf Gottes bevorstehendes Eingreifen: Um aber so klagen und anklagen zu können, wird der Glaube an Gottes Gerechtigkeit, Güte und Weisheit vorausgesetzt. Es wird erwartet, dass Gott selbst eines Tages den unschuldig Leidenden ins Recht setzt, den Protestierenden annimmt und dem Klagenden Aufschluss über sein Schicksal gibt. Kurz: Solche Texte sind Ausdruck der unerschütterbaren Hoffnung auf Gottes Kraft und Macht, des Menschen Schicksal noch einmal zu wenden. Ausdruck aber auch der Hoffnung auf eine Selbstrechtfertigung Gottes angesichts des Übels: der Hoffnung also darauf, dass Gott eines Tages die verbliebenen Rätsel seiner Schöpfung selber auflösen wird.22 Die Entwürfe von Maimonides und Thomas von Aquin rechtfertigen damit nicht eigentlich Gott – denn dies vermag keine menschliche Theodizee jemals zu leisten –, sondern versuchen, den Gottesglauben gerade auch angesichts des Bösen in der Welt zu legitimieren bzw. zu plausibilisieren und entwerfen so ein logisches System, in welchem das Böse insoweit integriert werden kann, als es dem Glauben an Gott als dem Allwissenden, Allgütigen und Allmächtigen nicht nur nicht widerspricht, sondern (im Falle Thomas von Aquins) sogar zum Beweis desselben hinzugezogen wird. So wird aufgezeigt, dass Glaube und das Böse auf vernünftige Weise miteinander zu versöhnen sind. Dies ersetzt die Klage aber nicht. Zwar wird aufgezeigt, dass der Mensch auch angesichts des Bösen an Gott glauben kann, doch gießen diese vermeintlichen Aufweise den wahrhaft Leidenden, welche an ihrem Leid zu zerbrechen drohen, Öl ins Feuer. Für diese bleibt die biblisch legitimierte Klage der existentielle Weg, um sich theologisch mit dem Bösen in ihrem Leben auseinandersetzen zu können. So bleibt Hiob immer Vorbild für den Umgang mit Gott angesichts des Bösen (und nicht mit dem Bösen angesichts Gottes) und ist 22

Kuschel (1996), S. 255, Hervorhebung im Original. So plädieren auch Gross/Kuschel für ein Offenhalten der Theodizee-Frage und zwar unter Berücksichtigung einer doppelten Verantwortlichkeit für das Böse, nämlich des Menschen selbst, aber auch Gottes. (Nach: Gross/Kuschel (1992), S. 210.) Und so müsse jede Theodizee offen auf eine letzte Selbstrechtfertigung Gottes bleiben. (Nach: Ebd., S. 211.)

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dadurch zu jeder Zeit „unser Zeitgenosse“23. Die Leidenden ringen mit Gott, sie verzweifeln an ihm – aber solange sie noch klagen und anklagen, zweifeln sie nicht an ihm, sondern gehen ihren Weg weiterhin mit Gott, auch wenn er ihnen unverständlich geworden sein mag. So legen Klage und Anklage Gottes, das Mit-Gott-ins-Gericht-Ziehen und Ihn-zu-einer-Antwort-Herausfordern Zeugnis des bleibenden Glaubens an diesen Gott ab. Beide Optionen, sowohl die rationale, theoretische Theodizee als auch die biblische Tradition der praktischen, emotionalen, existentiellen Klage vollbringen somit letztlich dennoch dasselbe, wenngleich auch auf unterschiedlichem Wege. Sie zeugen vom Glauben an Gott gerade auch im Angesicht des Bösen und der Erfahrung des Leids. Die Klage aber anerkennt, dass nur Gott sich selbst zu rechtfertigen vermag angesichts des Bösen – wie, wann und ob er dies tut, lässt sie offen. Es kann auf dem Wege der menschlichen Vernunft keine letztgültige Antwort auf eine Frage gefunden werden, welche so sehr im göttlichen Mysterium gründet und verwurzelt ist.24 Diese Entwürfe mögen in sich geschlossen, kohärent und logisch sein, sie sind faszinierend und enthalten viele interessante Punkte, welche dem einen oder der anderen in ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit der Thematik weiterhelfen mögen, doch letztgültig sind sie nicht. Nur schon die Tatsache, dass auch nach diesen beiden Entwürfen weiterhin Theodizee betrieben wurde, Ansätze weitergedacht oder neu entwickelt wurden, die Debatte immer wieder an geschichtlichen Ereignissen neu entflammte und Positionen auftauchten, welche Kritik an den bisherigen Modellen übten und den Standpunkt einnahmen, diese versagten kläglich an dem nun Geschehenen – was natürlich für die Shoah in unserer Zeit in einem nie dagewesenen (und hoffentlich auch nie mehr daseienden) Masse zutrifft – und vermochten das Geschehene nicht in den althergebrachten Kategorien zu erklären, sodass sich die Frage nach Gott und dem Bösen wieder von Neuem stellte, zeigt, dass die jeweiligen Entwürfe nur Erklärungsversuche sind, welche aber nicht den Rang einer letztgültigen Wahrheit einnehmen, ja auch nicht einzunehmen versuchen. Jeder Entwurf versucht für seine Zeit mit den jeweils vorhandenen Mitteln und Vorstellungsmöglichkeiten, aber auch anhand und aufgrund der neuen Herausforderungen eine zumindest für diese Zeit mehr oder weniger befriedigende Lösung der offen bleibenden Frage zu liefern. Gerade aber die 23

24

Vgl.: Langenhorsts Buchtitel: Hiob unser Zeitgenosse. Dieser betont auch, dass gerade das 20. Jahrhundert eine ähnliche Situation hervorbrachte, wie sie das Hiobbuch prägte, eine Zeit, welche das Gottes- und Weltbild wiederum erschütterte. (Nach: Langenhorst (1994), S. 43f.) Vgl.: Kuschel (1996), S. 251. Ammicht-Quinn plädiert daher auch für eine praktische Theodizee. (Nach: Ammicht-Quinn (1992), S. 21.)

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Tatsache, dass immer wieder neue Lösungen oder alte Modelle in einem neuen, aktualisierten Kleid, aber auch neue Synthesen unterschiedlicher Modelle geliefert und die Gedanken fortwährend weiterentwickelt und der jeweiligen Zeit mit ihren Bedürfnissen sowie kulturellen und sozialen Gegebenheiten angepasst werden, macht diese Frage nach der Herkunft des Bösen angesichts einer sehr guten Schöpfung so spannend. Diese Problematik wird das Menschengeschlecht Zeit ihres Fortbestands beschäftigen und genau dies ist so faszinierend daran, denn die Frage wird nie ausgeschöpft sein. Vielleicht, wenn Gott eine letztgültige Antwort gibt?25

25

Elie Wiesel sagt, dass selbst Gott angesichts Auschwitz keine Rechtfertigung geben kann: „Nichts kann Auschwitz rechtfertigen. Und wenn Gott selbst mir eine Rechtfertigung anböte, ich würde sie, glaube ich, zurückweisen. Treblinka hat alle Rechtfertigungen außer Kraft gesetzt. Und alle Antworten.“ (Wiesel (1995), S. 142.)

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kapitel vi

Schlusswort Mit Maimonides und Thomas von Aquin wurden in der vorliegenden Arbeit zwei große Entwürfe des Mittelalters zur Herkunft des Bösen betrachtet. Dabei fiel auf, dass diese nicht nur biblische Traditionen, sei es aufgrund der Texte selbst oder ihrer Rezeptionsgeschichte, aufgriffen, sondern auch stark von philosophischen Einflüssen geprägt waren. Die Aussagemittel, welche sie dabei aus der Philosophie übernahmen, dienten wesentlich dem Zweck, die theologische Einsicht in die Begrenztheit der Welt aufgrund der Tatsache ihrer Geschaffenheit durch Gott in rationalen Kategorien ausdrücken zu können. Das Böse ist in diesen beiden Entwürfen also als notwendige mögliche Konsequenz der Schöpfung zu sehen. Sowohl Maimonides als auch Thomas von Aquin betonen damit, dass es keine Schöpfung ohne die Möglichkeit zum Bösen geben kann. Der Fokus aber liegt nicht auf dem Bösen, sondern gemäß der biblischen Qualifizierung der Schöpfung auf dem Guten: Alles Geschaffene ist gut, aber als Geschaffenes unvollkommen. Das Böse wird über das Gute definiert, sodass es in dessen Abwesenheit besteht. Somit kann das Böse als parasitär qualifiziert werden. Damit wird diese Rede auch der Einsicht gerecht, dass es das Böse ohne die gute Schöpfung nicht geben könnte. Das Böse ist somit wesentlich sekundär und kontingent, indem der mögliche Abfall nicht zwingend notwendig gewesen wäre. Beide betonen die Bedeutung der Verantwortung des Menschen, indem sie ein sündenfall-freiheitstheoretisches Modell vorlegen und explizit die moralischen Übel intensiv behandeln. Vom Bösen ganz freizukommen vermag der Mensch in diesem Leben nicht. Dieser Zustand des dem Bösen Enthobenseins besteht dabei in beiden Systemen in der direkten Beziehung zu bzw. der Einigung mit Gott. Die beiden Theorien griffen nicht nur auf eine lange Traditionskette älterer Entwürfe zurück und fügten neue Elemente hinzu, sondern wurden darüber hinaus prägend bis in die Neuzeit. So ist nicht nur Leibniz auf der Grundlage von Maimonides und Thomas von Aquin zu verstehen, sondern auch Entwürfe wie etwa die Free-Will-Defense weisen Parallelen insbes. auch zum Aquinaten auf. Anhand der Auseinandersetzung mit der Shoah wurde aber ersichtlich, dass die beiden Modelle sich nicht an Einzelfallbeurteilungen richten und somit nicht direkt an der Shoah gemessen werden dürfen. Dennoch fiel auf, dass insbesondere die Konsequenzen der maimonidischen Providenzlehre mit Blick auf die Shoah dieses Modell als unzulänglich erweisen. In Absehung aber dieser Konkretionen, für welche die Theorien nicht gemacht wurden und auf die hin man sie folglich

© WILHELM FINK VERLAG, 2018 | DOI 10.30965/9783506788856_016 .8

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auch nicht zurechtbiegen darf, erweisen sich beide Modelle als in sich konsistent und äußerst interessant. Sie bedenken nicht nur das Wesen des Bösen sowie seine Erscheinungsweisen, sondern widmen sich auch der Frage, wieso es das Böse überhaupt gibt und wie Gott seine Geschöpfe vor diesem Bösen schützt. Gerade der Verweis auf die Unzulänglichkeit der Schöpfung aufgrund ihrer Geschaffenheit ist auch heute noch von großer Bedeutung und vermag eine theologisch nachvollzieh- und verantwortbare Erklärung dafür zu liefern, weswegen es in der guten Schöpfung Böses gibt und inwiefern Gott für dieses Böse verantwortlich gemacht werden kann. So vermögen uns diese Theorien auch heute noch wichtige Einsichten zu vermitteln. Eine letzte Antwort auf die Frage, weswegen Gott trotz der Allwissenheit dieses zu so großen Übeln fähige Wesen Mensch erschaffen hat, aber insbesondere die Frage, weswegen er in zahlreichen historischen Situationen wie der Shoah nicht eingegriffen hat, muss offen bleiben. Wird die Möglichkeit zu Wundern angenommen, so verschärft sich dieses Problem, da sich die abgründige Frage öffnet, weswegen Gott in einigen Situationen wundersam eingriff und eingreift, in anderen dagegen nicht. Diese Frage jedoch kann aus menschlicher Sicht genauso wenig beantwortet werden, als eine letzte Rechtfertigung Gottes geliefert werden könnte. Beide Fragen sind auf Gott hin offen zu halten. So versuchen letztlich weder Maimonides noch Thomas Gott zu rechtfertigen, sondern den Glauben an einen guten, allwissenden und allmächtigen Gott angesichts der vorhandenen Übel in dieser Welt als vernünftig aufzuweisen, indem sie aufzuzeigen versuchen, dass kein zwingender Widerspruch zwischen der realen Existenz des Bösen und dem so verstandenen Gott besteht. Der Anspruch besteht damit auf menschlicher, nicht aber auf göttlicher Ebene. Die von Maimonides und Thomas gemachten Aussagen zum Bösen sowie insbesondere zu seiner Herkunft können noch immer mögliche Antworten liefern und die beiden genannten Elemente als vernünftig vereinbar aufweisen, jedoch dürfen wir auch den praktischen Aspekt sowie insbesondere die Klage nicht vergessen. Gerade mit Blick auf die Bewältigung konkreter Ereignisse sind somit nicht theoretische Theodizee-Entwürfe wie jene des Maimonides sowie des Thomas von Aquin heranzuziehen, sondern es ist ein praktischer Umgang gefordert, welcher sich explizit mit den konkreten Ereignissen auseinandersetzt und diese nicht in ein abstraktes System zu zwingen versucht, welches nicht für solche konkreten Fälle gemacht wurde. Beide Ebenen sind somit konsequent auseinanderzuhalten, um beiden unterschiedlichen Aspekten gerecht zu werden. Eine Vermischung des einen mit dem anderen ist illegitim. So mag der Einzelfall Mängel am theoretischen Modell aufweisen, doch ist das unterschiedliche Ziel der Bewältigung des Konkreten und des Aufweises der prinzipiellen logischen Vereinbarkeit von Glaube und Existenz des Bösen zu beachten.

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Abkürzungsverzeichnis a./aa. Ad Simpl. Am a.M. Art. AT AThANT Bd./Bde. BerR BSPS bT BZAW bzw. c. can. CDH CIC CiG CISC Conf. CRO DBK De civ. Dei De conc. virg. De div. nom. De ente et ess. De rat. fid. De reg. Iud. Ders. d.Gr. d.h. DH DH Dies. DThA

Articulum/Articuli Ad Simplicianum Amos am Main Artikel Altes Testament Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments Band/Bände Bereshit Rabba/Genesis Rabba Boston Studies in the Philosophy of Science babylonischer Talmud Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft beziehungsweise Caput (Kapitel) Kanon Cur Deus homo Codex Iuris Canonici Christ in der Gegenwart Corpus Islamo-Christianum Confessiones Kommentar zum Römerbrief Deutsche Bischofskonferenz De civitate Dei De conceptu virginali et de originali peccato De divinis nominibus De ente et essentia De rationibus fidei De regimine Iudaeorum Derselbe der Grosse das heißt Dalālat al-Ḥa’irīn Denzinger/Hünermann Dieselbe/Dieselben Deutsche Thomas-Ausgabe

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528 Dtn dtv Ebd. EN etc. EÜ Ex Exp. sup. Boethium De Trin. Exp. sup. Iob Ez f. FAT FRLANT FrRu Gen GS HBPhMA Hebr Hg. Hi Hist. Wb. Philos. Hl. hrsg. v. i.Br. i.d.R. IKaZ insbes. i.Ü. Jak JBTh Jer Jh. jjs JJTP Joh jpr jT JVA KBW

Abkürzungsverzeichnis Deuteronomium Deutscher Taschenbuch Verlag Ebenda Nikomachische Ethik et cetera Einheitsübersetzung Exodus Expositio super Boethium De Trinitate Expositio Super Iob Ezechiel folgende Forschungen zum Alten Testament Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Freiburger Rundbrief Genesis Gaudium et Spes Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters Hebräerbrief Herausgeber Hiob Historisches Wörterbuch der Philosophie Heilig/Heilige/Heiliger/Heiligen herausgegeben von Im Breisgau in der Regel Internationale Katholische Zeitschrift Communio insbesondere im Üechtland Jakobusbrief Jahrbuch für Biblische Theologie Jeremija Jahrhundert Journal of Jewish Studies Journal of Jewish Thought & Philosophy Johannes-Evangelium journal of philosophical research Jerusalemer Talmud Jüdische Verlagsanstalt Katholisches Bibelwerk

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Abkürzungsverzeichnis KD KEK KKK Klgl Koh Kor KuI l. Lev LG Lk LThK LXX n.Chr. Mal Metaph. Mk MN Mt MThZ ND Num P Phys. PP pro. Prov Ps q./qq. QD QDM QDV resp. resp. Röm RThom S. s. SCG sog.

Kirchliche Dogmatik Katholischer Erwachsenen-Katechismus Katechismus der Katholischen Kirche Klagelieder Kohelet Korintherbrief (1 und 2) Kirche und Israel Lectio (Lektion) Levitikus Lumen Gentium Lukas-Evangelium Lexikon für Theologie und Kirche Septuaginta nach Christus Maleachi Metaphysik Markus-Evangelium More Nevuchim/More haNevuchim Matthäus-Evangelium Münchner Theologische Zeitschrift Negative Dialektik Numeri Priesterschrift Physik Parerga und Paralipomena Prooemium Proverbs; Buch der Sprüche Buch der Psalmen Quaestio/Quaestiones Quaestiones Disputatae Quaestiones Disputatae de Malo Quaestiones Disputatae de Veritate respektive respondeo Römerbrief Revue thomiste Seite siehe Summa contra Gentiles sogenannt/sogenannte/sogenannten/sogenanntem

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530 Sp. Spr StZ ThA ThGl Thom ThPh Tim TVZ u.a. u.a. u.ö. V V v.Chr. VDWR vgl. VIKJ V.V. WG WWV z.B. z.T. ‫דוקטור‬ ‫וכולי‬ ‫על ידי‬ ‫עמוד‬ ‫פרופסור‬ ‫רב‬ ‫רבי משה בן מימון‬

Abkürzungsverzeichnis Spalte Buch der Sprüche/Sprichwörter Stimmen der Zeit (Früher: Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart) Theologische Anthropologie Theologie und Glaube Thomist Theologie und Philosophie Timotheusbrief (1 und 2) Theologischer Verlag Zürich unter anderem und andere und öfter Vers Vulgata vor Christus Verlag der Weltreligionen vergleiche Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum Anmerkung/Hinzufügung der Autorin Wort Gottes Die Welt als Wille und Vorstellung zum Beispiel zum Teil ‫ד”ר‬ '‫וכו‬ ‫ע”י‬ '‫עמ‬ '‫פרופ‬ '‫ר‬ ‫רמב”ם‬

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Hebräisches Alphabet

‫ ציוני‬,‫ על פי דפוס ראשון וכתבי יד עם שינויי נוסחאות‬.‫ פירוש התורה‬:‫ רבינו יצחק‬,‫אברבנאל‬ .‫ ירושלים תשנ"ז‬,"‫ "חורב‬,‫ שמות‬:‫ כרך ב‬,‫מקורות והערות מאת אבישי שוטלנד‬ ‫ שייער‬.‫ הערות מאת ד"ר ש‬.‫ בתרגומו של רבי יהודה אלחריזי‬.‫הנבוכים‬-‫ מורה‬:‫ רבי משה בן‬,‫מימון‬ .‫ תל אביב תשי"ג‬,‫ אשכל‬,‫ מונק‬.‫ופרופ' ש‬ ‫ כרך‬,"‫ "המקבץ לתורה שבעל פה כולה‬.‫ משנה תורה‬:‫ רבנו משה בן‬,‫ מימון‬:‫ בתוך‬,‫– הלכות תשובה‬ ‫ מוגהת ומדויקת על פי כתבי‬,‫ מהדורת מופת מבוארת‬.‫ זמנים‬,‫ אהבה‬,‫ המדע‬.‫ ספרי החיים ומעגלם‬:‫א‬ ‫ דביר טל‬,‫ יחיאל קארה‬:‫ יוחאי מקבילי; עורכי משנה‬:‫ מהדיר ועורך ראשי‬.‫ בצירוף מפתחות‬,‫יד‬ .247–216 '‫ עמ‬,‫ חיפה תשע"ב‬,"‫ "אור וישועה" ו"תורת החיים‬,‫ורועי דובקין‬ .‫ ירושלים תשנ"ו‬,‫מכון משנת הרמב"ם‬. ‫ ספר שופטים‬:‫ כרך כג‬,‫– משנה תורה‬ ‫ הוצאה מנוקדת ומוגהה‬.‫ בהעתקת ר' שמואל אבן תיבון‬.‫– ספר מורה הנבוכים לרבינו משה בן מימון‬ ‫ הערות ומראי מקומות‬,‫יד ובהשוואה למקור הערבי בצירוף מבואות‬-‫פי דפוסים ראשונים וכתבי‬-‫על‬ ‫ חלק שלישי פרק א‬,‫פרק מח‬-‫ חלק שני פרק כה‬:‫ כרך רביעי‬,‫ומפורשת על ידי יהודה אבן שמואל‬ .2005 ‫ ירושלים‬,‫ מוסד הרב קוק‬,‫פרק נד‬ ‫ מתורגם ע"י אברהם אלטר פינטוך‬,‫ עם פירוש פיקודי ישרים – ביאורים ובירורים‬.‫– ספר המצוות‬ .2000 ‫ ירושלים‬,‫ מעליות‬,‫ומשה בן שמואל אבן תבון‬ ‫ תל אביב‬,‫ ראשונים‬,‫ כרך ראשון‬,‫ ספר המאור הוא פירוש המשנה‬:‫ הרמב"ם‬:‫ מתוך‬,‫– פקר חלק‬ .1948, ‫גק 'מע‬-‫ומק‬ -‫ אוניברסיטת בר‬,‫ בתרגומו של יוסף בן שם טוב‬,‫ ספר ביטול עיקרי הנוצרים‬:‫ר' חסדאי קרשקש‬ .1990 ‫באר שבע‬/‫ רמת גן‬,‫אוניברסיטת בן גוריון‬/‫אילן‬

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