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German Pages [977] Year 2021
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EICHSTÄTTER philosophische Studien
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Michael Maier
Philosophie der Begegnung Studien über Robert Spaemann
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495825488
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Michael Maier Philosophie der Begegnung Studien über Robert Spaemann
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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EICHSTÄTTER philosophische Studien
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Herausgegeben von Walter Schweidler und Markus Riedenauer
https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Michael Maier
Philosophie der Begegnung Studien über Robert Spaemann
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Michael Maier Philosophy of encounter Studies about Robert Spaemann The focus of these studies is an analysis of the philosophical notion of encounter which itself is rooted in the experience that one’s own selfbeing is dependent on external occurrences. Even one hundred years after Buber’s delineating conception of dialogism in »I and Thou«, ›encounter‹ has remained an unadopted term in philosophy. This book proffers a principally novel approach by means of a comprehensive account of Robert Spaemann’s philosophy. By evincing the as of yet scarcely undetected coherence underlying the entirety of the eminent 20th and 21st century philosopher’s multifaceted body of works, the author reveals a genuine philosophical perspective of the occurrence of encounter.
The author: Michael Maier studied German philology, Slavic philology and philosophy at the Free University of Berlin and Sankt Petersburg State University. He teaches at a grammar school and a practical school seminar in Berlin and completed his doctorate at the Catholic University of Eichstätt-Ingolstadt in 2020 with the present thesis.
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Michael Maier Philosophie der Begegnung Studien über Robert Spaemann Im Mittelpunkt dieser Studien steht der philosophische Begriff der Begegnung, der auf die Erfahrung zurückgeht, dass sich das eigene Selbstsein einem Beitrag von außen verdankt. Auch hundert Jahre nach der mit Bubers »Ich und Du« zu markierenden Entstehung der Dialogik ist ›Begegnung‹ ein in der Philosophie unverarbeiteter Begriff geblieben. In diesem Buch wird ein prinzipieller Neuansatz durch eine Gesamtschau der Philosophie Robert Spaemanns versucht. Indem die noch kaum freigelegte Kohärenz des vielschichtigen Werks dieses bedeutenden Denkers des 20. und 21. Jahrhunderts entfaltet wird, tritt eine philosophische Beschreibungsebene des Ereignisses der Begegnung zutage.
Der Autor: Michael Maier studierte Germanistik, Slawistik und Philosophie an der Freien Universität Berlin und der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. Er unterrichtet an einem Gymnasium und einem Schulpraktischen Seminar in Berlin und hat mit der vorliegenden Arbeit 2020 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt promoviert.
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Zugl.: Dissertation, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt 2019
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Print) 978-3-495-49229-1 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82548-8
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Danksagung
Dem Andenken an Hans Schwender
Ein Buch, das von seinem Autor selbst als Antwort verstanden wird, verlangt geradezu nach einer Vorrede, in der nach ihrem Ursprung gefragt wird. Wie viel mehr noch muss das gelten, wenn sich dieses Buch die Begegnung und unser Hervorgehen aus ihr zum zentralen Thema macht. Die Suche nach dem Ursprung führt jedoch zwangsläufig zu dem Paradox, dass der Anfang weder im Anderen noch in uns selbst gefunden werden kann, sondern sich entzieht und uns immer wieder auf die Frage selbst zurückwirft. In dieser Lage bleibt zumindest in der Vorrede nur die Möglichkeit, die Frage einfacher anzugehen und im Rückblick der Menschen zu gedenken, die das Werden dieses Buches ermöglicht und befördert haben. Von den ersten konkreten Vorüberlegungen bis zur Verteidigung der als Promotionsschrift an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt im November 2019 eingereichten Arbeit vergingen vier Jahre, in denen es mir meine Familie mit viel Verständnis ermöglichte, neben einer vollen Berufstätigkeit in der zur Verfügung stehenden freien Zeit konzentriert zu arbeiten. Allen voran meiner Frau gilt daher mein erster Dank. Meinen drei Kindern danke ich für die von ihnen aufgebrachte Geduld. Meinem Doktorvater Professor Walter Schweidler danke ich für seine Offenheit mir gegenüber, die stets treffsicheren und hilfreichen Hinweise zum Fortgang meiner Arbeit und die inspirierte Atmosphäre in seinen Kolloquien. Professor René Torkler danke ich für die Übernahme des Korreferats und seine freundliche Beratung. Beiden bin ich zusammen mit den Professoren Bernd Birgmeier und Markus Riedenauer dankbar für die Durchführung meiner Disputation als Präsenzveranstaltung in der Corona-Zeit. Dass dieses Buch zustande gekommen ist, verdanke ich auch der Hartnäckigkeit meiner langjährigen Gesprächspartnerin Dr. Irene Dehmel. Dafür, dass es neben meinen beruflichen Verpflichtungen 7 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
ungestört gedeihen konnte, bin ich meinen Kolleginnen Maria Appel und Oksana Bieleke zu Dank verpflichtet. Für die gemeinsamen Gespräche und die schriftliche Korrespondenz, die mir halfen, offene Fragen zu klären, danke ich Dr. Lasma Pirktina, für die Unterstützung in allen organisatorischen Fragen Dr. Tobias Holischka und für die Hilfe beim Korrekturlesen Dr. Heike Wapenhans. Diese Aufzählung ist nicht nur nicht vollständig, sondern krankt an dem zu Anfang benannten Problem, dass der Wille dankzusagen uns in eine Denkbewegung verstrickt, die die Möglichkeiten einer Vorrede überschreitet. Eine Fortsetzung könnte dieser Gedankengang daher erst nach dem Ende dieses Buches finden. Schöneiche bei Berlin im August 2020
Michael Maier
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Inhaltsverzeichnis
Erster Teil Explikation des philosophischen Problems der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung . . . . . . . .
19
2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung 2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . .
. .
41
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44
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55
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68
Zweiter Teil Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns . . . . . . . . . . . . . . .
83
Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte . . . 3.2 Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt .
19 28
3
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97 97
. 102 . 105 9
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Inhaltsverzeichnis
3.2.2 Die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit . . . . . 3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstaufhebung der Vernunft . . . . . . . . . . 3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens 3.3 Das Absolute an sich und quoad nos . . . . . . . . . .
4 4.1 4.2 4.3
4.4 4.5 4.6
. 108 . 111 . 114 . 118 . 121 . 126
Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie . . . Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹ . Philosophiegeschichtliche Verortungen . . . . . . . . . 4.3.1 Fénelon und Descartes: Radikalisierung und Überwindung des Rationalismus . . . . . . . . . 4.3.2 Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Malebranche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . Fénelons Niederlage und sein Fortwirken . . . . . . . . Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive . . . . . . . . Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons . . . . . . . . . . . . . .
5 Die Spur des Absoluten in der Natur . . . . . . . . . . 5.1 Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive 5.1.1 Fundamentalkritik der bürgerlichen Zivilisation . 5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal . . . . . . 5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert« . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungskonzept . . . . 5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹ : Disjecta membra einer verlorenen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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133 138 143 153 153 158 161 167 172 180 185 187 189 191 196 206 211
Inhaltsverzeichnis
5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive . 5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς 5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6 Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche . . . . 5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken . . . . . . 5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks . . . . . . . . . . . . . 5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung . . . . . . . . . . 5.3 Zugänge zum Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive . . . . . . . 5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
»Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das philosophiehistorische Projekt einer Erneuerung der antiken Substanzontologie . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption . . . . . . . . 6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ . 6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei . . . . . . . . . 6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Konturen einer eigenständigen metaphysischen Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken . . . . . . . .
215 220 225 234 242 252 261 273 280 286 292 294 304 313
6
319 323 324 331 341 351 361 372 373
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Inhaltsverzeichnis
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung . 6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie in einer Philosophie der Person . . . . . . . . . . . 6.3 Der metaphysische Hintergrund der Religionsphilosophie und der philosophischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit der metaphysischen Konzeption . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
»Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Eudämonismus und Pflichtethik . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Εὐδαιμονία . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Metaphysik und Gelingen des Lebens . . . . . . . . . . 7.2.1 Conditio humana . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Amor benevolentiae . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung . . . . 7.3 Wohlwollen: Ethische Bedeutung und ontologische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 »Glück und Wohlwollen« als Beitrag zum ethischen Diskurs der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven . . . . . .
384 398 402 403 407
7
8 Ontologie der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes . . . . . 8.2 Historische Voraussetzungen und ›negative‹ Philosophie . 8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs . 8.2.2 Genauigkeit und Seele . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Metaphysischer Realismus . . . . . . . . . . . .
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415 424 425 435 445 456 457 467 479 490 491 501 509 515 525 526 537 548
Inhaltsverzeichnis
8.3 Die Entdeckung der Person . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins . . . . . . . . . . . 8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung . . . . . . . 8.4.1 Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens: Gewissen und Versprechen . . . . . . 8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung: Die Spontaneität des Herzens . . . . 8.5 Grenzen einer Philosophie der Personen . . . . . . . . . 8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Die Wahrnehmung des Seins im Schönen . . . . . . 9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution . . . . . . 9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein . . 9.3 Das Absolute als eine Weise der Nähe . . . . . . . . 9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 ›Summen‹ der Spaemann’schen Philosophie im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
562 565 574 583 600 603 613 625 636 637 643
9
. . 651 . . . . .
. . . . .
668 680 681 691 703
. . 704 . . 727
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Inhaltsverzeichnis
Dritter Teil Perspektiven der Philosophie der Begegnung . . . . . . 745 10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk . 10.1 Holger Zaborowski: »Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Christlich inspirierte Kritik der Moderne . . . . 10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis . . . . . 10.2 Rolf Schönberger: »Das Sein des Sinnes« . . . . . . . . 10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Zur Kritik der Perspektive Schönbergers . . . . 10.3 Andrzej Kuciński: »Naturrecht in der Gegenwart« . . . 10.3.1 Die Zuspitzung des τέλος auf θεός . . . . . . . 10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis . . . . . . Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Theo Kobusch: »Die Entdeckung der Person« . . . . . . 11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Die Geschichte der Metaphysik der Freiheit . . . 11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Kobuschs und Spaemanns . . . . . . . . . . . 11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs . . . . . . 11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person« . . . . . . . . 11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein . . 11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person . . . . . 11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung . 11.2.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Sturmas und Spaemanns . . . . . . . . . . . . 11.2.5 Zur Kritik der Perspektive Sturmas . . . . . . . 11.3 Michael Quante: »Person« . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität . . . . . . . . . . . . . . .
757 760 760 763 768 768 772 775 775 779
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785 789 790 794 797 800 805 808 811 818 824 828 834 837 839
Inhaltsverzeichnis
11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform . . . . . . . . . 11.3.3 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Quantes und Spaemanns . . . . . . . . . . . . 11.3.4 Zur Kritik der Perspektive Quantes . . . . . . .
Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Der Begriff der Begegnung als Organisationsprinzip der Philosophie Spaemanns . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹ . 12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Offene Fragen und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . 12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog der Philosophie der Begegnung mit den Naturwissenschaften . . . . 12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition und ihre literarische Verarbeitung . 12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs . 12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.5 Pavel Florenskij und die Fundierung der Personenphilosophie im Begriff des Lebens . . .
847 853 858
12
861 866 867 879 889 911 911 916 920 924 928
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959 Sachregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
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Erster Teil Explikation des philosophischen Problems der Begegnung
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1 Einführung 1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
Der Begriff der Begegnung kann bislang nicht als ein in der Philosophie etablierter Begriff angesehen werden. Das Historische Wörterbuch der Philosophie verweist im Begriffsregister 1 vom Stichwort ›Begegnung‹ allein auf den von Michael Theunissen verfassten Artikel über das »Ich-Du-Verhältnis« 2, in dem zunächst festgestellt wird, dass »[g]enauso landläufig wie der Begriff ›Ich-Du-Verhältnis‹ […] mittlerweile die mit ihm verknüpften Begriffe ›Begegnung‹ und ›Dialog‹ (›dialogisch‹) geworden« 3 seien. Eigens thematisiert wird der Begriff hier lediglich im Zusammenhang mit Martin Bubers Hauptwerk »Ich und Du« 4: »Beherrschend […] ist in ›Ich und Du‹ der Begriff der Begegnung: was das Grundwort ›Ich-Du‹ meint, wird da abstrakt als Beziehung und konkret, letztgültig als Begegnung ausgelegt. Bubers entschiedene Hinwendung zum dialogischen Denken ist eins mit seiner Entdeckung des Begegnungsbegriffs« 5. Martin Buber, der »dem dialogischen Denken die zugänglichste und auch die phänomenal reichste Ausgestaltung gegeben« 6 hat, geht in seinem frühen Hauptwerk »Ich und Du« aus dem Jahre 1923 von einem dualistischen Schema aus, insofern er zwei Haltungen zur Welt unterscheidet, die er durch die Grundworte ›Ich-Du‹ und ›Ich-Es‹ bezeichnet. Dem Intentionalitätsschema der Transzendentalphilosophie entspricht dabei das Grundwort ›Ich-Es‹, in Abstoßung von dem Buber das Grundwort ›Ich-Du‹ entfaltet. Während im Grundwort ›Ich-Es‹ ein Subjekt sich eine gegenständliche Welt erschließt, deren mögliche Gegenstände als Gegenstände immer schon in einem mittelbaren Verhältnis zum Subjekt stehen, bezeichnet das Grundwort ›Ich-Du‹ einen Welt1 2 3 4 5 6
Vgl. HWPh XIII, col. 203. Theunissen, Ich-Du-Verhältnis, in: HWPh IV, col. 19–21. Ebd. col. 20. Buber, Werke I, 77–170. Theunissen, Ich-Du-Verhältnis, in: HWPh IV, col. 21. Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 228.
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1 Einführung
zugang, der nicht auf Konstitution aus der Subjektivität zielt, sondern aus der Korrelation mit einem Gegenüber hervorgeht. Das ›Du‹ ist folglich nicht intentionaler Gegenstand, sondern eine jedem Denken vorausgehende, unmittelbar begegnende Wirklichkeit. Nicht in der Haltung des ›Ich-Es‹, sondern erst im Beziehungsgeschehen zwischen einem ›Ich‹ und seinem ›Du‹ ereignet sich Wirklichkeit, kommt das ›Ich‹ überhaupt erst zu sich selbst: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« 7 »Der Mensch wird am Du zum Ich.« 8 Da Buber die beiden Grundworte gegenüberstellt, scheint sich die Bedeutung des ›Ich-Du‹ negativ aus der des ›Ich-Es‹ ableiten zu lassen. Für das Verständnis von Bubers Ansatz ist es jedoch entscheidend zu sehen, dass das Grundwort ›Ich-Du‹ sich keineswegs als dialektische Antithese zum Grundwort ›Ich-Es‹ verstehen lässt. Das sprachliche Nebeneinander der Grundworte ›IchDu‹ und ›Ich-Es‹ verdeckt nur auf den ersten Blick die klare Hierarchisierung, insofern Bubers Dialogik die intentionale Haltung des ›Ich-Es‹ für einen »aus der dialogischen Beziehung abgeleiteten Modus des Fremdverstehens und des Seinsverständnisses überhaupt erklärt« 9. Das dualistische Haltungsschema macht zwar deutlich, dass der Zugang zum ›Ich-Du‹ eine Abstoßung vom ›Ich-Es‹ zur Voraussetzung hat; mit dieser Abstoßung ist der Zugang jedoch noch nicht geleistet. Vielmehr bedarf es dazu noch eines weiteren Schrittes, der im Hinzeigen auf ein konkretes Erleben besteht, das an die Grenze der Sprache bzw. bei Buber zum Versuch einer poetisierenden Vergegenwärtigung des Uneinholbaren führt. Damit ist zugleich ein Hinweis darauf gegeben, warum Buber im Allgemeinen als »religiöser Existentialist« 10 aufgefasst und in der akademischen Philosophie marginalisiert wird. Sein Ausgang vom Erleben eines dialogischen Begegnungsereignisses, das sich der begrifflichen Erfassung entzieht und nur durch ein Zeigen vergegenwärtigt werden kann, scheint sein Denken prinzipiell aus dem Bereich intersubjektiver philosophischer Verständigung auszugrenzen. Der Buber-Biograph Gerhard Wehr spricht im Hinblick auf die Entstehungszeit von Bubers frühem Hauptwerk von den im Zeitgeist sich öffnenden »Dimensionen der Sprache, des Anredens, des AnBuber, Werke I, 85. Ebd. 97. 9 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 486. 10 Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 675. 7 8
20 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
geredetwerdens«: »Entdeckt – oder vielmehr: wiederentdeckt wird das Feld der Begegnung zwischen Ich und Du. Den Boden dafür haben andere bereitet: J. G. Hamann und Wilhelm von Humboldt, J. G. Fichte und Ludwig Feuerbach gehören im 18. und 19. Jahrhundert zu den geistigen Pionieren dieser Neuerschließung.« 11 Auffällig ist das synchrone Auftreten des neuen Gedankens in der Zeit der Epochenwende um 1918: Die neue Sicht des Du kommt im 20. Jh. erstmals zum vollen Durchbruch mit H. Cohens »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« (1919). Wenig später erscheinen, unabhängig voneinander und doch in erstaunlicher Übereinstimmung bei allen charakteristischen Unterschieden, die Schriften der eigentlichen »Dialogiker«: F. Ebners »pneumatologische Fragmente« unter dem Titel »Das Wort und die geistigen Realitäten« (1921), F. Rosenzweigs »Der Stern der Erlösung« (1921) und M. Bubers »Ich und Du« (1923). 12
Ausgehend von der mit diesen Namen umrissenen Bewegung, die als Philosophie des Dialogs zu einem Entwicklungszweig im Denken des 20. Jahrhunderts wurde, begann der Begriff der Begegnung eine gewisse Bedeutung im philosophischen Diskurs zu entwickeln. Namentlich sind hier französische Denker, etwa Gabriel Marcel 13 oder Emmanuel Levinas, 14 zu erwähnen. In einem Wörterbuch der philosophischen Begriffe aus dem Jahr 1955 wird ›Begegnung‹ folgendermaßen erläutert: ein in der Philosophie und Theologie der jüngsten Zeit hervortretender Begriff; er bezeichnet, im Gegensatz zu allen bloß äußerlichen Berührungen und sinnleeren Durchkreuzungen von Ereignisreihen, das Zusammentreffen mit einem Anderen, das dem Menschen durch seine Eigenbedeutung eine verantwortliche Entscheidung abfordert Wehr, Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung, 122. Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 228. 13 Vgl.: »Wir sind in allem Denken immer verwickelt in die Wirklichkeit. Die gegenständliche Abstraktion konstruiert die illusorische Wirklichkeit einer reinen Begriffswelt. Doch unser Beisein bei allem Wirklichen ist die ständige Gegenwart, in der das Sein zu uns steht und wir zum Sein. Die Präsenz des Seins in der echten Begegnung als einziger Zugang zum Sein tritt an die Stelle abstrakter, erst denkvermittelter Gegenständlichkeit, in der das Sein selbst nicht präsent ist.« – Gabriel, Zur Seinsphilosophie Gabriel Marcels, in: Marcel, Geheimnis des Seins, 517. 14 Vgl.: »Die Philosophie Levinas’ versucht, das alles in sich versammelnde Subjekt, das Sein dieses Subjekts zu überwinden und den Weg zur Begegnung mit dem Anderen zu öffnen.« – Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, JeanLuc Marion, 74. 11 12
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1 Einführung
oder es [sic] anderweitig in seinem eigenen Werden bestimmt. In Begegnungen großen Stils sowohl zwischen Einzelmenschen als auch zwischen Gemeinschaften verwirklicht sich die Geschichte. 15
Dass das dem Begriff zugrunde liegende philosophische Phänomen entgegen dem so erweckten Anschein keineswegs als Entdeckung der Philosophie des 20. Jahrhunderts gewertet werden sollte, betonen Clara Vasseur und Johannes Bündgens in ihrer Studie »Spiritualität der Wahrnehmung«: In der Frühphase der abendländischen Philosophie spielten Begegnungen eine zentrale Rolle. Von Begegnung zu Begegnung pflegte Sokrates in Athen jene tiefsinnigen Gespräche zu führen, die sein Schüler Platon in kunstvolle Dialoge umsetzte und der Nachwelt schriftlich überlieferte. Was aber eine Begegnung eigentlich ist, schien unmittelbar verständlich zu sein, so dass dem Begriff selbst kaum Beachtung geschenkt wurde. 16
Begegnung erscheint so als ursprünglicher und ursprünglich kaum reflektierter Begriff, dessen terminologische Erfassung und explizite Reflexion erst in der Philosophie des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Dabei fällt auf, dass der Begriff in dem Maße philosophisch thematisiert zu werden scheint, in dem seine ursprüngliche Semantik von existentiellen Konnotationen überlagert wird. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird das Verbum ›begegnen‹ 17 zunächst lateinisch mit ›obviam venire‹ erklärt und danach die Grundbedeutung des leiblichen Begegnens von abstrakten Bedeutungen im Sinne etwa von ›widerfahren‹ oder ›in den Ansichten zusammentreffen‹ unterschieden. 18 In den neueren philosophischen Verwendungen des Wortes tritt die primäre Bedeutung leiblichen Begegnens zugunsten der existentiellen in den Hintergrund. So bemerken Vasseur und Bündgens zum Ereignischarakter der Begegnung: »Jeder echten BeWörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, s. v. Begegnung. – Es ist bemerkenswert, dass in der auf dem zitierten Wörterbuch Hoffmeisters aufbauenden Neubearbeitung des »Wörterbuchs der philosophischen Begriffe« von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer (erste Auflage 1998) der Artikel zum Lemma ›Begegnung‹ entfallen ist. 16 Vasseur/Bündgens, Spiritualität der Wahrnehmung, 265. 17 Dem Substantiv ›Begegnung‹ wird demgegenüber im Grimm’schen Wörterbuch kaum Beachtung geschenkt. 18 S. Grimm, Deutsches Wörterbuch I, col. 1283–1284. – Darüber hinaus vermerken die Gebrüder Grimm noch eine dritte Bedeutung ›geschehen, sich zutragen, ereignen‹ und eine vierte ›Gegenwehr, Widerstand leisten, entgegentreten, zuvorkommen‹. 15
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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
gegnung liegt eine Unmittelbarkeit zugrunde, die in sich das Potential birgt, die ganze eigene Existenz auf den Kopf zu stellen und ihr einen neuen Impuls zu geben.« 19 Gerade diese existentiellen Konnotationen zentraler Begriffe der dialogischen Philosophie aber erschwerten erheblich ihre Verankerung im philosophischen Diskurs. Johannes Heinrichs spricht in diesem Zusammenhang von einer den »Dialogikern gesetzte[n] Grenze«, die wohl notwendig damit gegeben ist, daß sie sich in scharfem Gegensatz zur systematischen Philosophie, vor allem zur Transzendentalphilosophie und zum Denken Hegels, verstehen. Ihre Phänomenologie geht daher allzu leicht in die Bezeugung von existentiellen und gläubigen Gewißheiten über, die sie denkerisch nicht einzuholen vermögen. 20
Die Auseinandersetzung mit der Dialogik hat in der akademischen Philosophie ein beachtliches Niveau erreicht, 21 ohne doch bislang zu einem intensiven »Gespräch des dialogischen Denkens mit der systematischen Philosophie« 22 geführt zu haben. Den bedeutendsten Versuch einer Vermittlung zwischen der Dialogik und der akademischen Philosophie stellt Michael Theunissens Habilitationsschrift »Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart« aus dem Jahr 1964 dar. Die Studien Theunissens lassen schon in der ihren Aufbau bestimmenden Gegenüberstellung eines dem »transzendentalphilosophische[n] Entwurf der Sozialontologie« vor allem Husserls gewidmeten ersten und eines der Philosophie des Dialogs vor allem Bubers gewidmeten zweiten Teils die leitende These erkennen, wonach die moderne Transzendentalphilosophie mit ihrem »geschichtlichen Anspruch […] die Metaphysik zu vollenden« 23 an der Aufgabe der Konstitution des Fremd-Ich scheitere und »transzendentaler Solipsis-
Vasseur/Bündgens, Spiritualität der Wahrnehmung, 266. Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 228. 21 Verwiesen sei hier in erster Linie auf: Theunissen, Michael, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (erste Auflage 1965, zweite, um eine Vorrede vermehrte Auflage 1977) und auf die in Auseinandersetzung mit Theunissens Arbeit entstandene Studie: Bloch, Jochanan, Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik Martin Bubers (1977). Darüber hinaus sehr aufschlussreich sind Vorträge und Diskussionen im Rahmen des Kongresses zum 100. Geburtstag Bubers 1978, veröffentlicht in: Bloch/Gordon (Hrsg.), Martin Buber. Bilanz seines Denkens (1983). 22 Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 229. 23 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 467. 19 20
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1 Einführung
mus« 24 bleibe; den idealtypischen Gegenentwurf zu ihr sieht er in der Philosophie des Dialogs, die sich mit der Begegnung »um ein wirkliches Phänomen« kümmert, »das im Rahmen der Transzendentalphilosophie, auch wenn sie Phänomenologie ist, nicht in angemessener Weise thematisiert werden kann« 25. Theunissen deutet Bubers dualistisches Haltungsschema so, dass das Grundwort ›Ich-Es‹ für das weltkonstituierende Subjekt der Transzendentalphilosophie steht, wohingegen das Grundwort ›Ich-Du‹ als Gegenentwurf zu diesem gleichwohl in Abhängigkeit von der Transzendentalphilosophie steht, woraus sich als zentrales Problem die »Negativität […], welche der Ontologie der dialogischen Wirklichkeit anhaftet,« 26 ergibt. Die dialogische Wirklichkeit steht zunächst neben der transzendental konstituierten Welt und ihre Ontologie kann sich, so Theunissens Vermutung, von der damit verbundenen Negativität nur befreien, wenn »die Explikation des dialogischen Lebens« 27 die Grundlegung einer »Ontologie des Zwischen« 28 leisten kann. Ihr Ziel wäre nach Theunissen der Beweis der Kernthese, dass »das Ereignis der Begegnung, das ›Zwischen‹, […] früher als die Sich-begegnenden« 29 ist. In ausführlichen Detailuntersuchungen arbeitet Theunissen für das Denken Bubers konstitutive Paradoxien heraus, in denen er ein Überschreiten der Grenzen der Philosophie erkennt, und kommt zu dem negativen Fazit, dass Bubers Denken kaum eine positive kategoriale Erhellung des Ich-Du-Verhältnisses 30 leiste und stattdessen bei einer »›Theologie‹ des Zwischen« ankomme: Das »positive Ziel, an das die Philosophie als negative Ontologie heranführt, kann in seiner Positivität nur noch ›theologisch‹ entfaltet werden« 31. Während Buber selbst also nicht über ein philosophisches Begriffsinstrumentarium verfügt, das einer argumentativen Präzisierung seines Begegnungsgedankens dienen könnte, gelangt Theunissen im versuchten Nachvollzug des Buber’schen Ansatzes in einer philosophisch adäquaten Begrifflichkeit zu einer Theologisierung der Ontologie. Dies muss noch nicht bedeuten, dass eine solche Theo24 25 26 27 28 29 30 31
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 154. Ebd. 484. Ebd. 252. Ebd. 258. Ebd. 243. Ebd. 487. Vgl. ebd. 277. Ebd. 330.
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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
logisierung die notwendige Konsequenz des Versuchs einer genuin philosophischen Aneignung des dialogischen Grundgedankens ist. Die von Theunissen beklagte Negativität der Ontologie des Zwischen könnte ebenso gut als Spiegelung einer dezidierten Absicht Bubers im Koordinatensystem eines Buber nicht adäquaten Deutungsversuchs aufgefasst werden. 32 Durch die Idealisierung der Buber’schen Reflexionsposition mit dem Ziel einer Ontologie des Zwischen versteht Theunissen das dualistische Haltungsschema von ›Ich-Du‹ und ›IchEs‹ dialektisch, während es Buber doch in seinem Hinzeigen auf ein konkretes Erleben offensichtlich um eine Position geht, die über dieser Dialektik steht: »Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.« 33 Der hier zum Ausdruck kommende dezidiert grenzorientierte Begriff von Philosophie scheint die Möglichkeit einer fruchtbaren diskursiven Auseinandersetzung mit der Dialogik jedoch grundsätzlich in Frage zu stellen. Martin Buber fragt in seinem Hauptwerk »Ich und Du«: »Was weiß man also vom Du?«, und antwortet: »Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr.« 34 Außerhalb des Erlebens der Begegnung scheint das sich in ihr Ereignende nicht erreicht werden zu können: »Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit […]. Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.« 35 Jochanan Bloch stellt in seiner Studie »Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik Martin Bubers« (1977) die Möglichkeit einer Erschließung des Begegnungsereignisses mit den Mitteln des philosophischen Denkens grundsätzlich in Frage und erblickt darin eine Grenze der Philosophie:
Am Ende dieser Arbeit werden im Rahmen abschließender Überlegungen zu den Perspektiven der in ihr zu entfaltenden Philosophie der Begegnung in Anknüpfung an die hier skizzierte Buber-Deutung Theunissens knappe Überlegungen zu den Potentialen einer vergleichenden Betrachtung der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehenden Philosophie Robert Spaemanns mit dem Denken Martin Bubers angestellt. – Vgl. Abschnitt 12.3.3, Martin Buber und die Philosophie des Dialogs, 920–924. 33 Buber, Aus einer philosophischen Rechenschaft (1961), in: Ders., Werke I, 1114. 34 Buber, Werke I, 84. 35 Ebd. 85. 32
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Die Universitätsphilosophie mag sich noch so erhaben über die in der Tat zum Schwärmen neigende, da begrifflich »undeutliche« Dialogik dünken: Sie wird dem Schicksal des Denkens nicht entgehen, am Ende sein Versagen denken zu müssen. Sie kommt nicht um den in das objektiv Sagbare einbrechenden Befund herum, daß auch wenn wir alles Seiende, schlechthin Alles in der dritten Person bezeichnet und erfaßt haben würden, immer noch die Zuwendung in der zweiten besteht, die in der Bezeichnung nicht eingeholt werden kann. Die Philosophie kommt nicht um jene Abgabelung des Sprechens zum Du von der Rede über Er, Sie und Es herum, durch die wir zum Unverfügbaren ausgehen. Natürlich mag sie auch von anderen Hinweisen und anderen Worten geführt werden: irgendwann wird sie von der Notwendigkeit eingeholt, den Widerspruch von Gegenwart und Erkenntnis zu bedenken und sich vorstellbar zu machen, daß das wirkliche Sein des Seins, das wir hier »Gegenwart« nennen – jenseits des Denkens liegt. 36
Im Schlusskapitel seiner Studie spricht Bloch daher unter der Überschrift »Das Ende der Worte« angesichts einer Wirklichkeit, der unsere Begriffe nicht adäquat sind, von der »Unangemessenheit des Denkens« 37 schlechthin, wenn es darum geht, dem Ereignis der Begegnung gerecht werden zu wollen. Der hier unternommene Versuch einer ersten philosophischen Annäherung an den Begriff der Begegnung endet somit in einer Sackgasse. ›Begegnung‹ bleibt ein in der Philosophie unverarbeiteter Begriff. Dabei konnte durch den knappen Rückblick auf die Geschichte der Auseinandersetzung mit ihm in den vergangenen hundert Jahren, der hier zur Klärung seines Vorverständnisses gegeben wurde, doch auch gezeigt werden, dass mit der Begegnung eine in ihrer Bedeutung nicht zu bestreitende Problemstellung in den Aufgabenbereich der Philosophie aufgenommen wurde, deren eigentliche philosophische Bloch, Die Aporie des Du, 316. Ebd. 285. – Vgl. zum ersten Satz aus Bubers »Ich und Du« – »Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung.« (Buber, Werke I, 79) – folgende Bemerkung Blochs: »Tatsächlich hat sich Buber schon im ersten Satz von ›Ich und Du‹ verrannt. Aber man muß seine Legitimation sehen: denn die Erfahrung, für die er zeugt, ist wirklich ›erprobt‹. Er muß auf sie hinzeigen. Und er muß, da er spricht und ein Buch schreibt, in Begriffsformulierungen auf sie hinzeigen – und damit hat er sich schon an ihr vergangen. Nur wenn man seine Erfahrung ganz ernst nimmt und man eben darum seine Begriffe nicht ganz ernst nimmt, kann man dem Zeigen folgen. Die Aporie des von ihm Vorgetragenen ist notwendig, da die Wirklichkeit, die er zeigt, aporetisch ist; und sie kann sprachlich gar nicht anders als in der Aporie gezeigt werden.« – Bloch, Die Aporie des Du, 285.
36 37
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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
Verarbeitung jedoch weiterhin als Desiderat zu betrachten ist. Ein neuer Versuch einer solchen Verarbeitung müsste das Thema der Dialogik aufgreifen, ohne die durch ihren Zugang zu diesem Thema gesetzte Unvermittelbarkeit im philosophischen Diskurs zu wiederholen. Es bedürfte dazu also eines prinzipiellen Neuansatzes im Denken der Begegnung.
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
In der vorliegenden Arbeit wird ein neuer Zugang zur Begegnung gesucht, der prima facie mit Martin Buber und der Dialogik nichts zu tun hat. Während der von Buber wesentlich geprägte dialogphilosophische Gegenentwurf zum idealistischen Systemdenken in letzter Konsequenz zur Negation des begrifflichen Denkens überhaupt geführt hat, soll es im Rahmen dieser Arbeit um eine durchaus metaphysikfreundliche Position gehen, die von einer Erreichbarkeit des Phänomens der Begegnung mit begrifflichen Mitteln ausgeht. Diese wird, wenn sie sich nicht wie die Dialogphilosophie in eine fundamentale Opposition zur Geschichte des philosophischen Denkens begeben will, an Vergangenes anknüpfen und Erinnerung bestimmter Traditionen im Sinne ihrer Aktualisierung sein müssen. Insofern diese Position jedoch ihrerseits quer zu den vorherrschenden Strömungen der Gegenwartsphilosophie steht, kann eine erste Annäherung an sie am leichtesten auf dem Umweg über einen literarischen Text, ein Gedicht Johann Wolfgang von Goethes aus dem »West-östlichen Divan« 1, erfolgen. Im Rahmen des sechsstrophigen Gedichts »Wiederfinden« nimmt Goethe Bezug auf den Schöpfungsbericht aus Genesis 1,1–1,4 und deutet diesen um. Es seien zunächst die zweite und dritte Strophe zitiert: Als die Welt im tiefsten Grunde Lag an Gottes ew’ger Brust, Ordnet’ er die erste Stunde Mit erhabner Schöpfungslust, Und er sprach das Wort ›Es werde!‹ Da erklang ein schmerzlich Ach! Als das All mit Machtgebärde In die Wirklichkeiten brach. Auf tat sich das Licht! So trennte Scheu sich Finsternis von ihm, Und sogleich die Elemente Scheidend auseinander fliehn. Es handelt sich um das Gedicht »Wiederfinden« aus dem »Buch Suleika« des »Divan«, entstanden am 24. September 1815. – Vgl. Böhler, Poeta Absconditus. Zu Goethes Gedicht Wiederfinden – von Hofmannsthal her gelesen, 4.
1
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
Rasch, in wilden, wüsten Träumen Jedes nach der Weite rang, Starr, in ungemeßnen Räumen, Ohne Sehnsucht, ohne Klang. 2
Vor dem Hintergrund des biblischen Berichts heben diese beiden Strophen sich durch das anthropomorphe Gottesbild und vor allem die Betonung des durch die Schöpfung verursachten Leidens ab. Trotz der Erschaffung des Lichts 3 herrscht ein Trieb zur Ausdehnung, der nur zu einer allgemeinen Zerstreuung führt. Die erschaffene Welt erscheint als bedürftig, wenn nicht gar unerlöst, da die individuelle Tätigkeit der Geschöpfe sich zu keinerlei übergreifender Harmonie zusammenschließt. Die eigentliche Umdeutung des Schöpfungsberichts der Genesis durch Goethe findet sich aber erst in den beiden darauffolgenden Strophen vier und fünf: Stumm war alles, still und öde, Einsam Gott zum erstenmal! Da erschuf er Morgenröte, Die erbarmte sich der Qual; Sie entwickelte dem Trüben Ein erklingend Farbenspiel, Und nun konnte wieder lieben Was erst auseinander fiel. Und mit eiligem Bestreben Sucht sich, was sich angehört, Und zu ungemeßnem Leben Ist Gefühl und Blick gekehrt. Sei’s Ergreifen, sei es Raffen, Wenn es nur sich faßt und hält! Allah braucht nicht mehr zu schaffen, Wir erschaffen seine Welt. 4 Goethe, Werke (HA), Bd. 2, 83. Michael Böhler weist auf den Unterschied zwischen der Kosmogonie in »Wiederfinden« und in Goethes Schöpfungsmythos im achten Buch von »Dichtung und Wahrheit« hin: »Denn dort wird die Expansionsbewegung des Auseinanderstrebens im Zeichen des Lichts als der Schöpfung ›bessere Hälfte‹ bezeichnet und zur [sic] ›einseitigen Richtung Luzifers‹ in der ›Konzentration‹ auf sich selbst ausschließlich positiv bewertet – dies in auffallendem Gegensatz zur schmerzvoll vereinsamenden Wirkung des Auseinanderfliehens der Elemente in der ersten Weltschöpfungsphase in Wiederfinden.« – Böhler, Poeta Absconditus, 13–14. 4 Goethe, Werke (HA), Bd. 2, 83–84. 2 3
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1 Einführung
In Anknüpfung an das trostlose Bild der erschaffenen Welt aus der vorangegangenen Strophe wird das anthropomorphe Bild Gottes durch die Betonung seiner Empathie mit der Schöpfung in ihrer Bedürftigkeit weiter verstärkt. In einem zweiten Schöpfungsakt, von dem die vierte Strophe nun berichtet, bringt Gott in der Welt die Schönheit hervor, durch die der zuvor blinde Drang seiner Geschöpfe eine Zielrichtung erhält. Das allgemeine Streben der erschaffenen Natur erscheint als lebendige Ausrichtung auf das Schöne, der Schöpfung ist damit eine immanente Teleologie eingestiftet. 5 Es sind Ereignisse der Begegnung, die aus dem zweiten Akt der Schöpfung hervorgehen und Gott selbst als teilnehmendem Betrachter gegeben sind. Am Ende der fünften Strophe werden durch das Personalpronomen ›wir‹ zum ersten Mal die Geschöpfe als Subjekt des in seine zweite Phase getretenen Prozesses der Schöpfung genannt, der als offen auf die Zukunft hin und zugleich als sein Ziel antizipierend aufgefasst wird. Die entscheidende Wendung enthält dieses Gedicht jedoch durch die Anfangs- und die Schlussstrophe, die die Kosmogonie der Binnenstrophen einrahmen und scheinbar mit dem Schöpfungsbericht nichts zu tun haben: Ist es möglich! Stern der Sterne, Drück’ ich wieder dich ans Herz! Ach, was ist die Nacht der Ferne Für ein Abgrund, für ein Schmerz! Ja, du bist es! meiner Freuden Süßer, lieber Widerpart; Eingedenk vergangner Leiden, Schaudr’ ich vor der Gegenwart. […] So, mit morgenroten Flügeln, Riß es mich an deinen Mund, Und die Nacht mit tausend Siegeln Kräftigt sternenhell den Bund.
Die in diesen Strophen dargestellte teleologische Verfassung der Natur ist einerseits in den einzelnen Wesen fundiert und insofern als immanente Teleologie zu bezeichnen. Andererseits enthält der zweite Vers der fünften Strophe – »Sucht sich, was sich angehört,« – doch auch den Anklang an das universalteleologische Bild der Welt als ökologisches System, so dass eine eindeutige Qualifizierung der teleologischen Vorstellung in dem Gedicht nicht möglich ist.
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
Beide sind wir auf der Erde Musterhaft in Freud’ und Qual, Und ein zweites Wort: Es werde! Trennt uns nicht zum zweitenmal. 6
Das Unerhörte dieses Gedichts besteht darin, dass es die Begegnung der Liebenden ist, in deren Zusammenhang die Kosmogonie der Binnenstrophen integriert wird. Im Hinblick auf die Gefühlslagen ist die Parallele zwischen Mikro- und Makrokosmos deutlich zu erkennen. Wie im Schöpfungsbericht werden auch in der Begegnung der Liebenden Leid und Freude einander gegenübergestellt. Ungewöhnlich ist nicht der Vergleich, sondern, wie M. Böhler bemerkt, die »Richtung der Gleichnisfunktion« 7. Die kosmogonischen Vorgänge werden nicht durch den Vergleich mit dem Ereignis zwischenmenschlicher Begegnung erhellt, »vielmehr dient […] der Weltwerdungsprozeß zur gleichnishaften Artikulation des subjektiven Geschehens persönlicher Liebeserfahrung im Zeichen von Trennungsschmerz, Vereinigungsfreude und Trennungsbefürchtung« 8. Durch diese Richtung der Verbindung von Binnen- und Rahmenstrophen erscheinen die sich begegnenden Personen als Totalitäten, in denen das Bild der Welt zugleich mit der Erinnerung an ihre Vergangenheit erscheint. Der in der Kosmogonie vergegenwärtigte Weltzusammenhang wird zuallererst erfahrbar in der personalen Begegnung. Dabei erscheint der Bezug der Kosmogonie auf die personale Begegnung nicht als eine hybride Selbstüberhebung des Menschen; vielmehr ist die Person in ihrer ›Musterhaftigkeit‹ Bild der Welt, das sich dem Menschen in der Begegnung zeigt, ohne dadurch im mindesten zu einem Besitz zu werden. Personalität setzt so einerseits die Trennung, um die es im ersten Teil der Kosmogonie geht, voraus und erscheint andererseits als die vollgültige Einlösung der Umkehr im Schöpfungsprozess, von der ihr zweiter Teil in den Strophen vier und fünf berichtet. Die hier vorgenommene Deutung von »Wiederfinden« hat somit als Schlüsselbegriffe Teleologie und Personalität ermittelt, deren Zusammenhang im Ereignis der Begegnung fassbar wird. Das Gedicht vergegenwärtigt dieses Ereignis durch eine Verengung in zwei HinGoethe, Werke (HA), Bd. 2, 83–84. Böhler, Poeta Absconditus, 11. 8 Ebd. – Der Deutung Böhlers, dass dies »in beinahe hybrider – oder verzweifelter – Vertauschung« geschieht, kann ich mich allerdings, wie im Folgenden erläutert wird, nicht anschließen. 6 7
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sichten. Zum einen enthält es eine schöpfungstheologische Aussage, deren Annahme eine Glaubensentscheidung ist. Zum anderen ist die Begegnung in den erotischen Kontext einer Liebesbeziehung gestellt. Im Sinne einer philosophischen Ausdeutung des Textes, die auf den zentralen Zusammenhang von Teleologie und Personalität ausgerichtet ist, kann von diesen beiden Verengungen abstrahiert werden. Die Annahme einer immanenten Teleologie der Natur ist auch mit einer agnostischen Weltsicht vereinbar. Die Begegnung von Personen ist als existentielles Ereignis auch vorstellbar ohne die erotischen Konnotationen der letzten Strophe. Was in einer solchen abstrahierenden Lesart des Divan-Gedichts bleibt und auf die hier verfolgte Konzeption einer Philosophie der Begegnung vorausweist, ist die Reflexion auf den Zusammenhang einer teleologischen Naturphilosophie und einer personalen Anthropologie. Personalität steht in einer inneren Beziehung zum teleologischen Ausgerichtetsein und zugleich in einer Differenz zu ihm. Dabei erscheint dieser Zusammenhang nicht als ein deduzierbarer Gedanke, sondern ganz wesentlich als Ereignis der Begegnung. Mit diesem Fazit soll die philosophische Exegese dieses lyrischen Textes abgeschlossen sein. Festzuhalten ist, dass in der Auseinandersetzung mit Goethes Gedicht somit erste Orientierungspunkte für die Richtung gewonnen wurden, in der hier nach einer Philosophie der Begegnung zu suchen sein wird. Die Idee einer möglichen Philosophie der Begegnung entstammt jener Dimension der Welt der Erfahrung, die sich in dem Bewusstsein davon äußert, dass das eigene Selbstsein sich einem Beitrag von außen verdankt, der sich der Verfügung innerhalb des eigenen Bewusstseinshorizontes entzieht. Insofern Philosophie in ihrem Bemühen um eine angemessene begriffliche Fassung der Stellung des Menschen im Ganzen der Welt sich im Horizont des Bewusstseins bewegt, selbst wenn sie dabei auf ein Jenseits desselben reflektiert, beinhaltet bereits die Begriffsbildung ›Philosophie der Begegnung‹ eine innere Spannung, die für den hier verfolgten Neuansatz konstitutiv sein wird. Der Philosophie der Begegnung geht es schon ihrem Begriff nach um etwas, was sich dem Zugriff der Philosophie scheinbar entziehen muss. Angesichts dieser aporetischen Ausgangslage liegen zwei Haltungen ihr gegenüber nahe. Die Widerständigkeit ihres Gegenstandes lässt sich als Indiz für eine falsche Fragestellung verstehen oder aber die aus der Erfahrungswelt stammende Überzeugung von der Relevanz der Fragestellung ist so groß, dass ihre Widerständigkeit zwar als ein Problem begriffen wird, dieses aber gerade zum Ansporn wird 32 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
zu beweisen, dass ihr Gegenstand sich eben nur scheinbar entzieht, dass es also eine Frage des philosophischen Instrumentariums ist, ihr gerecht werden zu können. Im Bereich dieser Vorentscheidung kann die Strahlkraft erfahrener Begegnungsereignisse das wesentliche Motiv sein, an der Idee einer Philosophie der Begegnung festzuhalten. Ihr Grundmotiv besteht in der Intuition anderen Selbstseins, das erstens in der subjektiven Gegenstandswahrnehmung nicht aufgeht und das zweitens auf zunächst ungeklärte Weise verbunden ist mit der Entstehung eigenen Selbstseins. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt damit die Frage, inwiefern der Gegenstand einer Philosophie der Begegnung sich der philosophischen Reflexion scheinbar entzieht. Genau besehen wird damit ein ganzes Spektrum von Fragen aufgefächert: Welcher Art philosophischer Reflexion entzieht dieser Gegenstand sich zwangsläufig? Durch welche Denkbewegung lässt sich der Schein des Sich-Entziehens auflösen? Welchen besonderen Status muss der von diesem Schein befreite Gegenstand innerhalb der philosophischen Reflexion haben? Wie modifiziert sich das Selbstverständnis philosophischer Reflexion durch diese Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs? Die den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit stiftende These besteht darin, dass eine Philosophie der Begegnung in dem hier sich andeutenden Sinn im umfangreichen Werk eines Denkers des 20. und 21. Jahrhunderts gefunden werden kann, das ungeachtet einer Vielzahl ihm gewidmeter Detailuntersuchungen und einiger weniger Versuche einer Gesamtschau bis heute als wenig erforscht gelten muss. Die Rede ist vom philosophischen Werk Robert Spaemanns (1927–2018), dem die folgenden Untersuchungen gewidmet sein werden. Formal zeichnen sich seine Texte durch ihre stilistische Brillanz und die Klarheit der Gedankenführung aus. Auf das Gesamtwerk hin betrachtet beeindruckt die enorme Breite des thematischen Horizonts und die erstaunliche Kohärenz seines Denkens über viele Jahrzehnte hinweg. Seine in 14 Sprachen übersetzten Werke haben eine große Wirkung entfaltet. 9 Als bisher unbeantwortet muss in der Forschung die Frage gelten, in welchem Verhältnis die Teile zum Ganzen, die Argumentationen Spaemanns im Einzelnen zur Philosophie Spaemanns in ihrem Zusammenhang stehen. Wie Holger Zaborowski in seiner Spaemann-Monographie bemerkte, ist eine Gesamtdeutung Vgl. Schweidler/Fritz, Zum Tod des Philosophen Robert Spaemann. Ein katholischer Intellektueller mit ungeheurer Wirkung.
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1 Einführung
der Philosophie Spaemanns noch immer ein Desiderat und der Versuch einer solchen stünde vor einer schwierigen Aufgabe: A full-scale analysis of the outlook and the implications of his thought is still awaited. This kind of overview is particularly important because it is impossible to understand one feature of Spaemann’s thought thoroughly except in the context of the whole. […] It should be said, though, that the coherence and complexity of Spaemann’s thought make it a difficult challenge to provide a comprehensive and systematic account. There is always the danger of losing sight either of the overall context or of the details and subtle nuances of his philosophy. 10
Spaemann selbst hat kaum Versuche einer Selbstdeutung der Zusammenhänge seines Denkens unternommen, das Zaborowski mit einem Hologramm vergleicht, in dem die Teile und das Ganze einander ähneln. 11 Charakteristisch für Spaemanns Philosophieren ist der Essayismus der Form. Nicht nur besteht der weit überwiegende Teil seines Gesamtwerks aus Essays und Reden, sondern auch seine Hauptwerke »Glück und Wohlwollen« und »Personen« sind jeweils in relativ selbständige »Versuche« 12 unterteilt. Der Essay, so konstatiert Lothar Černý, »macht Schluß mit der Philosophie als Schule und Wissenschaft und kehrt zurück zu ihrem Eigentlichen, das ihr Name ausdrückt: zur Liebe der Weisheit nämlich, zur Weisheit, die der Lebenserfahrung entspringt und nicht der Gelehrtenstube« 13. Und weiter bemerkt Černý: In dieser Wendung zur Erfahrung liegt die Kritik an der abstrakten Vernunft aus weltoffener Skepsis heraus. Aber im Verzicht auf die abstrakte Vernunft liegt zugleich die List der Vernunft. Der Verzicht auf strenge Logik läuft parallel zu einer Haltung, die man fast »epoché« nennen möchte. Alles wird beobachtet, aber nichts für selbstverständ-
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 10–11. Vgl.: »Spaemann’s thought can be compared to a hologram in which the parts resemble the whole and one another: the components of Spaemann’s philosophy elucidate one another.« – Ebd. 11. – Vgl. auch: »Spaemann’s philosophy is systematic in that it explores the coherence of different features and areas of reality. However, it is not systematic in the sense that it develops a closed systematization of reality subject to a priori principles of, say, subjectivity, of a special political ideology, or the methodology of scientific reasoning.« – Ebd. 12. 12 »Glück und Wohlwollen« (1989) trägt den Untertitel »Versuch über Ethik«, »Personen« (1996) den Untertitel »Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹«. 13 Černý, Essay, in: HWPh II, col. 748. 10 11
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
lich und vom Bewußtsein unabhängig erachtet. Erkenntnis dieser Art ist mosaikartig. Die Logik des Ganzen ergibt sich aus der Gesamtheit des Zusammengesetzten. Solches Verfahren gewährleistet breitere Erfassung von Wirklichkeit und steht damit im Gegensatz zur Linearität und Eindimensionalität logischen Vorgehens. Die Intuition nimmt dabei eine hervorragende Rolle ein. 14
Neben der Ablösung der abstrakten Vernunft durch die Intuition ist für die Form des Essays jedoch auch, wie Robert Musil im »Mann ohne Eigenschaften« betont, eine spezifische Ausprägung von Genauigkeit charakteristisch: […] ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Nichts ist dem fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit der Einfälle, die man Subjektivität nennt, aber auch wahr und falsch, klug und unklug sind keine Begriffe, die sich auf solche Gedanken anwenden lassen, die dennoch Gesetzen unterstehen, die nicht weniger streng sind, als sie zart und unaussprechlich erscheinen. 15
Der Essay ist demnach eine Form der Exaktheit, in der eine Reduzierung der Gegenstände auf einfache Begriffszusammenhänge vermieden wird, woraus sich die prinzipielle Frage nach der möglichen Auslegung der Essayisten ergibt, in der Musil eine skeptische Position vertritt: »Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn« 16. Eine Auslegung des Denkens eines Essayisten verfiele demnach nur dann nicht diesem Verdikt, wenn das Moment der Ergriffenheit dadurch in der Auslegung bewahrt werden kann, dass das Organisationsprinzip der Essayistik selbst – die Ähnlichkeit der Teile und des Ganzen im Hologramm, von der Zaborowski, bzw. die Gesetze, von denen Musil spricht, – benannt und beschrieben werden kann. In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass das Organisationsprinzip der Essayistik Spaemanns mit dem Begriff der Begegnung benannt und dieses aus ihm heraus expliziert werden kann. Der Begriff der Begegnung gewinnt im Zuge der Entfaltung seines Denkens über viele Jahrzehnte hinweg allmählich an BedeuČerný, Essay, in: HWPh II, col. 748. S. Kapitel 62. »Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus«, in: Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 253. 16 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 254. 14 15
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tung und tritt in seinen späten Hauptwerken »Glück und Wohlwollen« und »Personen« an zentralen Stellen auf, ohne allerdings explizit als Schlüsselbegriff seiner Philosophie ausgewiesen zu werden. Bevor im Rahmen dieser Arbeit die Untersuchung von Spaemanns Werk beginnen kann, muss vorab der Horizont geklärt werden, in dem seine Erschließung sich bewegen wird. Da ›Begegnung‹, wie die einleitenden Überlegungen gezeigt haben, nicht als in der Philosophie etablierter Begriff bezeichnet werden kann, bedarf es zunächst zur weiteren Explikation des hier verfolgten philosophischen Problems im zweiten Kapitel einer Erläuterung der Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung. Es geht dabei um eine Verortung des Begriffs in konkreten philosophischen Kontexten, durch die die programmatische Voraussetzung für den zentralen zweiten Teil der Arbeit geschaffen und ein vorläufiges Verständnis des Begegnungsbegriffs entwickelt wird, indem Orientierungspunkte in ein Koordinatensystem eingetragen werden, das der diachronen Untersuchung des Spaemann’schen Werks im zweiten Teil zugrunde liegt. Die wesentlichen Orientierungspunkte in diesem Koordinatensystem, durch die eine Annäherung an den philosophischen Begriff der Begegnung möglich wird, können mit den Begriffen ›Subjekt‹, ›Transzendenz‹, das ›Negative‹, ›Kontingenz‹ und ›Freiheit‹ bezeichnet werden. Die Auseinandersetzung mit diesen fünf Begriffen bringt die Denkbewegung hervor, die dann in die Betrachtung von Spaemanns Werk hineingenommen werden soll. Der zweite, der sukzessiven Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns gewidmete Teil der vorliegenden Arbeit ist aufgrund des zu rekonstruierenden weiten Entwicklungsweges dieses Denkers mit Abstand der umfangreichste. In sieben Kapiteln einer diachronen Werkuntersuchung wird hier der geistige Werdegang Spaemanns von den 1950er Jahren bis in sein letztes Lebensjahrzehnt nachvollzogen. Der Begriff der Begegnung wird in der Betrachtung der Schriften Spaemanns allmählich eine explizite Rolle zu spielen beginnen und zunehmend in den Mittelpunkt der hier versuchten Auslegung treten. Im Rahmen dieser diachronen Untersuchung der Werke Spaemanns werden Ergebnisse der Forschungsliteratur dann einbezogen, wenn die Auseinandersetzung mit ihnen im Kontext der Entfaltung einer Philosophie der Begegnung ergiebig ist. Auf die konkreten Inhalte des zweiten Teils soll an dieser Stelle nicht vorgegriffen werden. Stattdessen soll die Art der Auseinandersetzung mit dem Denken Spaemanns vorgängig kom36 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
mentiert werden. Dem Leser des zweiten Teils dieser Arbeit wird eine gewisse affirmative Grundhaltung ihres Autors gegenüber dem Denken Spaemanns nicht entgehen, die sich konkret darin zeigt, dass im diachronen Nachvollzug seiner philosophischen Intentionen weniger die kritische Auseinandersetzung mit Einzelpositionen als die Suche nach dem Organisationsprinzip dieses Denkens im Mittelpunkt steht. Dass sich in dieser Herangehensweise keine unkritische Übernahme der genannten philosophischen Intentionen verbirgt, soll durch den expliziten Hinweis auf eine empfundene Übereinstimmung zwischen dem Autor dieser Arbeit und Robert Spaemann als dem in ihrem Mittelpunkt stehenden Denker gezeigt werden, wobei anschließend nach der Bedeutung dieser Übereinstimmung für die Auslegung seines Werks zu fragen sein wird. Es geht bei dieser Übereinstimmung – denkbar global – um eine Grundhaltung zur Welt, die als eine bestimmte Haltung gegenüber dem Phänomen ›Leben‹ konkretisiert werden kann. Diese Haltung gewinnt zwar in der Philosophie Bedeutung, geht ihr aber vorauf und kann daher selbst nicht philosophisch genannt werden. In Frage steht dabei, ob das begegnende Andere – gemeint ist nicht nur die andere Person, sondern allgemeiner das andere Lebewesen, vielleicht in letzter Verallgemeinerung das Andere der Begegnung schlechthin – in seiner Gegebenheit für das Subjekt der Erkenntnis aufgeht oder ob dieses Andere aufgefasst wird als etwas, das sich immer auch zum Teil verbirgt und das durch das Subjekt der Erkenntnis nur anerkannt werden kann. Eine etwas vereinfachte Formulierung der Frage wäre, ob Lebensphänomene prinzipiell der wissenschaftlichen Erklärbarkeit unterliegen oder ob sie etwas Uneinholbares sind. In diesen Fragen vertritt Spaemann in seinen Werken – und es dürfte kaum einen Text von ihm geben, in dem diese prinzipielle Vorentscheidung nicht zumindest implizit eine Rolle spielt – eine dezidiert antireduktionistische Haltung, indem er das Moment des Uneinholbaren im Begegnenden betont. Nun ist diese Vorentscheidung keineswegs trivial. Spaemann ist in den öffentlichen Diskursen über Jahrzehnte hinweg vor allen Dingen durch seine nicht selten polemischen Einlassungen zu ethischen Fragestellungen – zur Abtreibung, zur Sterbehilfe, zur Nutzung der Kernenergie usw. – wahrgenommen worden, in denen er sich als überaus streitbarer Denker gezeigt hat. In ihrem Nachruf in der »Zeit« schrieb Ijoma Mangold: »Robert Spaemann war ein erbarmungsloser Polemiker, seine schärfste Waffe war die blitzende Klarheit seiner Argumente. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Schaum 37 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
1 Einführung
vor dem Mund seiner Gegner, deren Wut er provoziert hatte, ihn befriedigte.« 17 Die Stoßrichtung seiner polemischen Haltung ergab sich dabei sehr oft aus der Ablehnung des Reduktionismus und aus seinem zentralen Anliegen der »Rettung des Lebendigen« 18. Wenn man dieses Anliegen mit Spaemann teilt, zeigt sich, dass er genau genommen nur darin dogmatisch auftritt, dass er Dogmen ablehnt, und dies in dem exakten Sinn, dass die ständige Inspirationsquelle seines Denkens und der Ausgangspunkt seines Philosophierens die Ehrfurcht vor dem Leben ist. Unter diesem entscheidenden Vorzeichen seines Denkens vertritt Spaemann eine am ehesten sokratisch zu nennende Geisteshaltung, in der er aus dem Dialog mit anderen Positionen seine Gedanken argumentativ entwickelt, ohne diese seinen Gesprächspartnern aufzudrängen. Dabei entstand im Laufe der Zeit kein Lehrgebäude und kein Spaemann’sches System, sondern ein äußerst komplexes Gefüge sich wechselseitig stützender Argumente, die im Einzelnen immer dem Widerspruch gegenüber offen sind. Aus diesem Charakteristikum seines Denkens ergibt sich, dass man – im Falle der Übereinstimmung mit der benannten Grundüberzeugung – in seinen weit verzweigten Gedankenräumen mit Spaemann in einen Dialog treten kann, in dem er nicht Lehrmeister, sondern Geburtshelfer ist, weswegen eine gewisse affirmative Grundhaltung, die ihm im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit entgegengebracht wird, kein Zeichen einer unkritischen Haltung, sondern eine Voraussetzung des philosophischen Dialogs ist, die an den Ursprüngen dessen ansetzt, was als Philosophie verstanden wird. Nachdem im zweiten Teil das Denken Spaemanns als Philosophie der Begegnung dargestellt wurde, widmet sich der abschließende dritte Teil auf verschiedenen Ebenen den Perspektiven, die diese Philosophie der Begegnung eröffnet. Zunächst geht es dabei um alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk, die erst an dieser Stelle als Gesamtdeutungen der Spaemann’schen Philosophie betrachtet und mit der hier vorgelegten Interpretation verglichen werden. In einem zweiten Schritt geht es um alternative Beiträge zur Philosophie der Person als dem Thema, durch das Spaemanns Denken im philosophischen Diskurs der Gegenwart am stärksten verankert ist. Die personenphilosophischen Konzeptionen anderer Denker werMangold, Freigeist und Polemiker. Zum Tod des großen Philosophen Robert Spaemann. 18 Ebd. 17
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
den hier kritisch geprüft und – ähnlich wie im ersten Schritt – in einer rückläufigen Betrachtung auf die Ergebnisse des zweiten Teils dieser Arbeit bezogen. In einem dritten Schritt wird schließlich das Fazit gezogen und ausgehend von der Betrachtung des ›Urphänomens‹ der Begegnung im Rahmen eines Gedankenexperiments eine letztgültige Fassung des zentralen Begriffs der Begegnung versucht. Die Arbeit wird abgeschlossen durch Ausblicke auf mögliche Weiterführungen des hier entwickelten Ansatzes einer Philosophie der Begegnung.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
Der folgende Gedankengang zur näheren Explikation des philosophischen Problems der Begegnung beschreibt eine Bewegung, die man mit dem Lauf einer Wendeltreppe vergleichen kann. Die Reflexionsbewegung besteht in einer stufenweisen Steigung, durch die am Ende des Umlaufs der Punkt erreicht wird, an dem einerseits auf den Anfang Bezug genommen wird, an dem andererseits gegenüber diesem eine neue Position gewonnen ist. Ausgangspunkt des Gedankengangs ist das Subjekt, das Ziel der Begriff des Selbstseins, das in einer zu bestimmenden Beziehung zum Subjektbegriff steht. Zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt der Gedankenbewegung geht es um das Transzendieren des Subjekts, um das Worauf der Transzendenz und um den Blick von diesem zurück auf die Verwandlung des Transzendierenden. Im Bild der Wendeltreppe, mit der der Gedankengang verglichen wird, ist hervorzuheben, dass ihr Grundriss kreisförmig ist, wohingegen sie in der perspektivischen Betrachtung von oben als eine Spirale erscheint. Die Kreisbewegung einerseits und die als Ausbruch aus dem Kreis perspektivisch wahrnehmbare Steigung stehen in einem Spannungsverhältnis, das nach einem kurzen Überblick über die gedanklichen Schritte bedacht werden soll. Der Gedankengang geht im ersten Teilkapitel von der Reflexion auf den Begriff des Subjekts aus, der auf seinen Ursprung hin befragt wird, um in einer kursorischen philosophiehistorischen Betrachtung den neuzeitlichen Subjekt-Wechsel darzustellen, in dem die substanzontologische Bedeutung des Subjektbegriffs durch ein erkenntnistheoretisches Verständnis ersetzt wurde, nicht ohne allerdings eine wesentliche regulative Funktion des überwundenen Substanz-Subjekts zu bewahren. Der erste Schritt des Gedankengangs führt damit zur Frage nach der Aktualisierbarkeit des Substanz-Subjekts in der Idee des Selbstseins (2.1). – Ausgangspunkt des zweiten Teilkapitels ist die Frage nach der Möglichkeit, den subjektiven Horizont auf ein Selbstsein hin zu transzendieren. Angesichts des Ausschlusses trans41 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
zendenter Erkenntnis in der Transzendentalphilosophie einerseits, der Tendenz der Dialogik zur religiösen Spekulation andererseits wird ein neuer Zugang zum Negativen aus dem antiken Naturverständnis entwickelt und dessen Aktualisierbarkeit geprüft. Mit Bezug auf das Konzept der exzentrischen Positionalität soll eine Deutung des Verhältnisses des Natürlichen und des Vernünftigen vorgenommen werden, die eine Differenzierung zwischen einer natürlichen und einer autonomen Vernunft erlaubt. Der Gedankengang führt zu dem Ergebnis, dass eine Erkenntnis des Transzendenten in der natürlichen Vernunft als Übersteigen des Horizonts subjektiver Intentionalität denkbar ist (2.2). – Die ontologische Frage nach dem Wesen, das zu der zuvor erörterten Wahrnehmung fähig ist, führt im dritten Teilkapitel zum heuristischen Begriff der Person, der durch negative Bestimmungen eingegrenzt wird. Durch einen Vergleich des personalen Standpunkts mit der autonomen Vernunft als verschiedene Interpretationen der exzentrischen Positionalität wird die Orientierung an einem anderen Zentrum der Bedeutsamkeit als wesentliches Kennzeichen der Personalität dargelegt und das Verhältnis der Person zur Welt ausgehend vom Modell ihres Selbstverhältnisses als Kontingenzbewusstsein und analoge Wahrnehmung von Mitsein beschrieben. Das personale Verständnis der Freiheit erweist sich vor dem Hintergrund des traditionellen Vorverständnisses der Freiheit im Sinne von Autonomie (Kant) als eine in der Natur fundierte Freiheit, die ihren eigentlichen Ort im Ereignis der Begegnung hat. Aus diesem geht der Gedanke einer Umkehr der Perspektive hervor, in der sich das Selbstsein als die gesuchte Aktualisierung des verlorenen Substanz-Subjekts zu erkennen gibt (2.3). Der Gedankengang dieser Explikation bewegt sich im Kreis, insofern der Reflexionsposition des ›ich denke‹ nicht zu entkommen ist. Auch das Transzendente als Jenseits des in subjektiver Intentionalität Gegebenen bleibt ein Gedanke, wenn von ihm gesprochen wird. Jedes Transzendieren des Subjekts geht in den subjektiven Horizont ein, sobald die Reflexion diesen Akt erfasst. Wie ist dann aber der Abstand des Endpunkts der Bewegung von seinem Anfangspunkt vor Augen zu führen? Hier geht es wesentlich um eine Differenz, – die Differenz zwischen dem Denkbaren und dem, was das Denken als seine eigene Bedingung anerkennen kann. Hier gibt es keine zwingende Evidenz, sondern nur die in der Erfahrung gründende Überzeugung, dass das evident Gegebene nicht alles ist. Der folgende Gedankengang stellt keine zwingende Deduktion dar, sondern geht einerseits aus von den 42 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
Aporien eines reinen Denkens, andererseits von Erfahrungen, zu denen das Denken sich als zu dem Anderen seiner selbst in eine Beziehung setzen kann. Mit Bezug auf das eingangs erwähnte Bild der Wendeltreppe ist darauf hinzuweisen, dass der perspektivisch von oben wahrnehmbare Ausbruch aus dem Kreis nur zustande kommt unter der Bedingung, dass die Gedankenbewegung, zu der hier zu überreden versucht wird, nachvollzogen wird. Solange dies nicht der Fall ist, bleibt es unweigerlich bei einer Kreisbewegung, die nichts Neues hervorbringt. Der angestrebte Ausbruch aus dem Kreis wiederum stellt aber diejenige Gedankenbewegung dar, die der diachronen Erschließung der Schriften Robert Spaemanns im zweiten Teil dieser Arbeit zugrunde liegen wird. Die folgende Explikation des Problems einer Philosophie der Begegnung verfolgt das Ziel, auf die Auseinandersetzung mit dem im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Werk Robert Spaemanns vorzubereiten. An der Frage, ob sich der Leser im Folgenden im Kreis bewegen oder ob er einen Ausbruch aus dem Kreis wahrnehmen wird, dürfte sich auch entscheiden, wie gewinnbringend die nachfolgende Untersuchung der Philosophie Spaemanns für ihn wird sein können.
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
Das Grundmotiv einer möglichen Philosophie der Begegnung besteht, wie eingangs bemerkt wurde, in der Intuition anderen Selbstseins, das erstens in der subjektiven Gegenstandswahrnehmung nicht aufgeht und das zweitens auf zunächst ungeklärte Weise verbunden ist mit der Genese eigenen Selbstseins. Der Begriff der Begegnung zielt also, wenn mit ihm etwas philosophisch Bedeutsames gemeint sein soll, auf eine Wahrnehmung von Sein, das selbst jenseits objektiver Gegebenheit für ein Subjekt zu verorten ist. Mit dieser Feststellung ist bereits die Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs als Ausgangspunkt der Explikation des philosophischen Problems der Begegnung benannt. Wenn die Tätigkeit des Philosophierens cartesisch auf das ›cogito‹ bzw. kantisch auf das ›ich denke‹ zurückgeführt wird, ergibt sich – zumindest grammatikalisch – ein prinzipieller Ausschluss des in der Philosophie der Begegnung angezielten Bereichs des Seins bzw. Selbstseins, insofern alles Denkbare Objekt dieses Prädikats ist. Unter dem grammatischen Gesichtspunkt lässt sich der prinzipielle Ausschluss allenfalls durch die Erwägung relativieren, dass die Stelle des Subjekts im ›ich denke‹ von beliebigen Individuen eingenommen werden kann, deren Horizonte nicht zusammenfallen müssen, so dass ein Jenseits des individuellen Horizontes denkbar wird. Da diese Horizonte aber der Möglichkeit nach zumindest näherungsweise zur Kongruenz gebracht werden können, ist von dieser Erwägung nicht zu einem prinzipiellen Jenseits objektiver Gegebenheit zu gelangen. Den Gegenstand der Philosophie der Begegnung gäbe es demnach nicht. Auch wenn es hierbei prima facie nur um eine die Grammatik betreffende Schlussfolgerung geht, spiegelt sich in ihr doch im Allgemeinen das erkenntnistheoretische Verständnis des neuzeitlichen Subjektbegriffs wider, wie es etwa in einem aktuellen Wörterbuch der philosophischen Begriffe erläutert wird: Der Begriff Subjekt bezeichnet demnach »das erkennende Ich als Inbegriff der Erkenntnisfunktionen und Erkenntnisformen im Gegensatz zu den Objekten, den zu erkennenden Gegenständen, bei I. Kant das von den Besonderheiten der Einzel-Iche frei gedachte Bewußtsein überhaupt« 1. Vor diesem Hintergrund scheint sich die bloße Idee einer Philosophie der Begegnung durch ihr Grundmotiv 44 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
in einen so radikalen Gegensatz zum philosophischen Diskurs und den Bedingungen des Denkens überhaupt zu stellen, dass eine Vermittlung unmöglich ist. Dass der neuzeitliche Subjektbegriff jedoch keineswegs so monolithisch abgeschlossen ist, wie es scheint, und eine Vermittlung mit der Idee einer Philosophie der Begegnung durchaus denkbar ist, kann zunächst durch eine historische Betrachtung des philosophischen Subjektbegriffs gezeigt werden. Dabei soll auf den Ursprung dieses Begriffs zurückgegangen und der Wandel seiner Bedeutung bis zur Neuzeit knapp betrachtet werden. Der lateinische Begriff subiectum – wörtlich das »Daruntergeworfene« 2 – ist die Übersetzung des griechischen ὑποκείμενον – wörtlich das »darunter Liegende« 3 –, das bei Aristoteles seine wesentliche terminologische Entfaltung gefunden hat. Der Begriff kommt bei ihm »in verschiedenen Kontexten vor, zum einen logisch-ontologisch in der Lehre von den Kategorien und Prädikabilien, zum anderen naturphilosophisch (als Synonym für ὕλη in der Theorie des Werdens und der Veränderung)« 4. Im hier interessierenden Zusammenhang ist die logisch-ontologische Verwendung von Bedeutung. Im Buch Ζ (VII) der Metaphysik bestimmt Aristoteles den Begriff ὑποκείμενον als Hauptbedeutung von οὐσία (Wesen): »Das Zugrundeliegende aber ist dasjenige, von dem das übrige ausgesagt wird, das selbst aber nicht wieder von einem anderen ausgesagt wird. Darum müssen wir zuerst über dieses Bestimmungen treffen, da das erste Zugrundeliegende (Subjekt) am meisten Wesen zu sein scheint.« 5 Das ὑποκείμενον ist somit Subjekt jeder Satzaussage, wobei seine Bedeutung sich nicht in dieser logischen Verwendung erschöpft: »Die ousia qua hypokeimenon ist indes nicht nur als grammatische Kategorie aufgefaßt. Das grammatische Verhältnis der Aussage ist zugleich die Widerspiegelung eines ontologischen Verhältnisses.« 6 Im ontologischen Sinn ist das Subjekt für Aristoteles Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, s. v. Subjekt. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 373. 5 Aristoteles, Metaphysik [1028 b 36–1029 a 2], 9. – Griechischer Text: »τὸ δ᾽ ὑποκείμενόν ἐστι καθ᾽ οὗ τὰ ἄλλα λέγεται, ἐκεῖνο δ᾽ αὐτὸ μηκέτι κατ᾽ ἄλλου. διὸ πρῶτον περὶ τούτου διοριστέον· μάλιστα γὰρ δοκεῖ εἶναι οὐσία τὸ ὑποκείμενον πρῶτον.« – Ebd. 8. 6 Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 39–40. 1
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eine unveränderliche Substanz als Träger von Eigenschaften (Akzidenzien): Die ousia ist das in allen Bestimmungen, in denen ein – wie auch immer geartetes – Sein gefaßt wird, zum Vorschein Kommende beziehungsweise sich selbst zum Vorschein Bringende. Qualität und Quantität, räumliches und zeitliches Sein sind jeweils Sein an der ousia, setzen sie als zugrundeliegend voraus. Die ousia ist der bestimmende Grund aller jener Bestimmungen, die von ihr ausgesagt werden können, das heißt der übrigen Kategorien. Sie ist die erste Kategorie, und diese Erstlichkeit heißt nichts anderes, als daß sie das Zugrundeliegende ist für alles Aussagen (kategorein). 7
Der antike Subjekt-Begriff vereint damit in seiner für die aristotelische Metaphysik charakteristischen logisch-ontologischen Doppeldeutigkeit zentraler Begriffe einerseits die aus unserer Perspektive leicht nachvollziehbare logische Bedeutung des letzten Aussagengegenstands mit der uns gänzlich fremden ontologischen Bedeutung des vom Erkenntnisprozess unabhängig Seienden, das allen wahrnehmbaren Eigenschaften zugrunde liegt. Während der Begriff Subjekt in seiner logischen bzw. grammatischen Bedeutung seit der klassischen Antike kaum eine nennenswerte Veränderung erfahren hat, wurde das in seiner ontologischen Bedeutung von ihm Bezeichnete seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert zunehmend mit dem Kunstwort substantia benannt. 8 Daher wird in der auf Aristoteles zurückgehenden Kategorienlehre die οὐσία als erste Kategorie und somit als ὑποκείμενον (Subjekt), das den übrigen Kategorien – den συμβεβηκότα (Akzidenzien) – zugrunde liegt 9, traditionell mit dem Begriff Substanz gefasst. Will man sich also die Geschichte des Subjekt-Begriffs von der Antike bis zur Neuzeit vergegenwärtigen, kommt man nicht umhin, die Betrachtung auf das interdependente Begriffspaar Subjekt/Substanz auszudehnen. Trotz wesentlicher Modifikationen insbesondere in der Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 41. Vgl.: »Das Kunstwort ›substantia‹ dient seit seinem ersten Auftreten bei Seneca als lat. Äquivalent des griech. ὑπόστασις, seit Quintilian daneben auch als Äquivalent für οὐσία. Bei Marius Victorinus ist ›substantia‹ als Übersetzung für οὐσία speziell in der Bedeutung der ersten aristotelischen Kategorie belegt, während οὐσία vorher durch das dem Griechischen nachgebildete ›essentia‹ übersetzt wurde. Bereits Tertullian setzt den Gegensatz von ›substantia‹ und ›accidens‹ als selbstverständlich voraus«. – Halfwassen, Substanz; Substanz/Akzidens. I. Antike, in: HWPh X, col. 495. 9 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch Δ, 1025 a 14–34. 7 8
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
Scholastik blieb das aristotelische Substanz/Akzidens-Schema von der Antike bis in die frühe Neuzeit im philosophischen Denken maßgebend und der Begriff Substanz für das »Selbständige, Fürsichbestehende im Unterschied zu dem Unselbständigen, nur an anderem Bestehenden« 10 erhalten. Insofern Descartes als »Vater« 11 bzw. »Begründer der neuzeitlichen Philosophie« 12 bezeichnet wird, könnte man vermuten, dass der Bruch mit der aristotelischen Substanzontologie in jenem fundamentum inconcussum zu suchen ist, als das jener seinen Zweifelsbeweis verstand. Doch verwendet Descartes den Begriff des Subjekts »gerade nicht im neuzeitlichen Sinn von ›Ich‹ oder ›Handlungs-Subjekt‹, sondern im herkömmlichen, vormodernen Sinn. Der Geist wird insofern ›Subjekt‹ genannt, als er Träger der ›cogitationes‹ ist« 13. Es wurde ihm später zum Vorwurf gemacht, dass er mit seinem Ausgang vom Ich die Tür in eine neue Dimension der Philosophie aufgestoßen, diese aber sogleich wieder verschlossen habe, indem er das Ich als »kleines Endchen der Welt« 14, als etwas, das in Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, s. v. Substanz. 11 Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 362. 12 Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, 114. 13 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 379. – Vgl.: »Wenn also selbst Descartes unter ontologischem Aspekt nicht als der Begründer neuzeitlichen Philosophierens gelten kann, dann muß wohl die Frage nach der Abkehr von der ontologischen Denkform bzw. nach der Genese der neuzeitlichen Ontologie und dem sie bestimmenden Seinsbegriff auf das Mittelalter rekurrieren.« – Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 10. – Der von Schönberger geäußerten Vermutung folgte Spaemann in seiner Untersuchung der Genese der neuzeitlichen Ontologie. S. dazu besonders Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–341. 14 Husserl, Cartesische Meditationen, 63. – Vgl.: »Leider geht es so bei Descartes, mit der unscheinbaren, aber verhängnisvollen Wendung, die das Ego zur substantia cogitans, zur abgetrennten menschlichen mens sive animus macht und zum Ausgangsglied für Schlüsse nach dem Kausalprinzip, kurzum der Wendung, durch die er zum Vater des (wie hier noch nicht sichtlich werden kann) widersinnigen transzendentalen Realismus geworden ist. All das bleibt uns fern, wenn wir dem Radikalismus der Selbstbesinnung und somit dem Prinzip reiner Intuition oder Evidenz treu bleiben, also hier nichts gelten lassen, als was wir auf dem uns durch die ἐποχή eröffneten Felde des ego cogito wirklich und zunächst ganz unmittelbar gegeben haben, also nichts zur Aussage bringen, was wir nicht selbst ›sehen‹. Darin hat Descartes gefehlt, und so kommt es, daß er vor der größten aller Entdeckungen steht, sie in gewisser Weise schon gemacht hat, und doch ihren eigentlichen Sinn nicht erfaßt, also den Sinn der transzendentalen Subjektivität, und so das Eingangstor nicht überschreitet, das in die echte Transzendentalphilosophie hineinleitet.« – Ebd. 63–64. 10
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der Welt vorkommt, begriffen und somit am überkommenen Substanz/Akzidens-Schema im Verhältnis der res cogitans zu den cogitationes festgehalten habe. Descartes nimmt also, genau besehen, eine eigenartige Mittelstellung zwischen der antik-mittelalterlichen und der neuzeitlichen Philosophie ein: Bei Descartes kommt zwar schon das substantivierte »Moy« vor […], aber er beschreibt es als »res (cogitans)«, als »substantia«. In den »more geometrico« geordneten Beweisgängen der »Zweiten Antworten« verwendet Descartes »Subjekt« in der Definition für Substanz: »Jede Sache, welcher unmittelbar, als in einem Subjekt, etwas inhäriert oder durch die etwas existiert, was wir an ihr wahrnehmen, d. h. irgendeine Eigenschaft oder Beschaffenheit oder irgendein Attribut, deren reale Idee in uns ist, wird Substanz genannt« 15. Substanzen sind die Substrate der Attribute, und insofern ist der Geist als ein Ding, das Subjekt des Denkens ist, eine Substanz 16. 17
Descartes stellt an der Schwelle zur neuzeitlichen Philosophie einen Übergang dar, insofern er einerseits an substanzontologischen Denkformen festhält, andererseits in ihnen aber ein völlig neues, der Antike unbekanntes Erkenntnisinteresse verfolgt, durch das er seine eigentliche Wirkung auf das Denken der Neuzeit entfaltete: Die notwendige Selbstvergewisserung des menschlichen Erkennens wird als Aufgabe in klassischer Weise von R. Descartes formuliert, auf den sich alle folgende Erkenntnistheorie mehr oder minder ausdrücklich bezieht: Weil nur noch die menschliche Gewißheit als Instanz aller Erkenntnis akzeptiert werden kann, wird das Ich-Denke 18 die Grundlage (das ausgezeichnete »Subjectum« 19) als »fundamentum inconcussum« 20 alles wissenschaftlichen Wissens. 21 Lateinisches Original des Zitats und Verweis durch Anmerkung [52] auf die Quelle: »Omnis res cui inest immediate, ut in subjecto, sive per quam existit aliquid quod percipimus, hoc est aliqua proprietas, sive qualitas, sive attributum, cujus realis idea in nobis est, vocatur Substantia«. – Medit. de prima philos. (1641), Rationes Dei existentiam & animae a corpore distinctionem probantes, more geometrico dispositae, Def. V, a.O. 7, 161. 16 Verweis durch Anmerkung [53] auf: Entretien avec Burman (1648), lat./dtsch. hg. H. W. Arndt (1982) 36. 17 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 379. 18 Verweis durch Anmerkung [3] auf: Descartes, Meditationes II, 3; Discours IV, 1 u. a. 19 Verweis durch Anmerkung [4]: Vgl. M. Heidegger: Die Frage nach dem Ding (1967) bes. 76 ff. 20 Verweis durch Anmerkung [5] auf: Descartes, Meditationes II, 1. 15
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
Der konsequente Übergang zur Erkenntnistheorie vollzieht sich unter Loslösung vom substanzontologischen Subjektbegriff erst im englischen Empirismus, so zunächst bei Hobbes, für den »Körper als Träger von Eigenschaften Subjekte« 22 sind: »Für den neuzeitlichen Sprachgebrauch wegweisend ist die Bezeichnung des Körpers bzw. der Sinnesorgane als Träger und Subjekte der Empfindungen 23. Subjekt der Sinneswahrnehmung ist der Wahrnehmende selbst, d. h. das Lebewesen 24.« 25 Während für Locke »der Begriff der Substanz eine der Verstandestätigkeit unseres Geistes entstammende komplexe Idee« 26 ist, die sich »auf einen uns unbekannten Träger (›support‹) 27 bezieht« 28, und er sich somit »noch nicht ganz von der Konzeption der Substanz als einem existierenden Inhärenzsubjekt löste, weist G. Berkeley die Annahme eines existierenden Substrates für die wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge gänzlich zurück« 29. Die angedeutete Loslösung vom substanzontologischen Subjektbegriff vollendet sich schließlich bei Hume: D. Hume erklärt die Subjekt-Akzidens-Dichotomie der aristotelischen Tradition zu einer Träumerei der alten Philosophie. Sie erdichtet etwas Unsichtbares und Unbekanntes, das sich in allen Veränderungen gleichbleibt, und als Gegenstück dazu Akzidenzien: Sie erfordern »a subject of inhesion to sustain and support them«. Akzidenzien sind aber nichts als Eindrücke des Geistes 30. Ebenso unauffindbar ist für Hume ein im Erfahrungsstrom für die Kontinuität der Person garantierendes Ich-Subjekt. Nur von Perzeptionen haben wir eine vollkommene Vorstellung: Sie brauchen keinen Träger 31. 32 Gethmann, Erkenntnistheorie, Erkenntnislehre, Erkenntniskritik. II, in: HWPh II, col. 683–684. 22 Ebd. 380. 23 Verweis durch Anmerkung [65] auf: Th. Hobbes: Leviathan 3, c. 34 (1651/1668). Op. philos. lat., hg. W. Molesworth (London 1839 ff., ND 1966) 3, 280. 24 Lateinisches Textzitat in Klammern und Verweis durch Anmerkung [66] auf die Quelle: »subiectum sensionis ipsum est sentiens, nimirum animal«. – Elementorum philos. sectio prima De corpore IV, 25, 3 (1655), a.O. 319. 25 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 380. 26 Halfwassen, Substanz; Substanz/Akzidens. I. Antike, in: HWPh X, col. 526. 27 Verweis durch Anmerkung [60] auf: J. Locke: An essay conc. human underst. II, 23, § 2 (1690), hg. P. H. Nidditch (Oxford 1975) 295. 28 Halfwassen, Substanz; Substanz/Akzidens. I. Antike, in: HWPh X, col. 526. 29 Ebd. 30 Verweis durch Anmerkung [70] auf: D. Hume: A treat. of human nature I, 4, 3 (1739–40). Philos. works, hg. T. H. Green/T. H. Grose (London 1882 ff., ND 1964) 1, 508. 21
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
Der sich ab dem 17. Jahrhundert vollziehende »Subjekt-Wechsel« 33 entfaltete eine für die Philosophie höchst problematische Dynamik. Wenn es keine Substanz, sondern nur noch wechselnde Akzidenzien gibt, muss sich das denkende Subjekt selbst als von der Auflösung bedrohte Kombination wechselnder Perzeptionen und Vorstellungen erfahren, so dass Subjektivität auf ein instantanes Bewusstseinsmoment reduziert wird. Von einem solchen führt aber kein möglicher Weg zu personaler Identität. Die »Umänderung der Denkart« 34, von der Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« spricht, bezeichnet gegenüber dieser im Empirismus betriebenen Depotenzierung des Subjekts den transzendentalphilosophischen Neuansatz, in dem die Untersuchung der »Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens« 35 zum Ausgangspunkt des Denkens gemacht wird. Subjekt ist nun das denkende, erkennende, urteilende Ich, das Konstituierende jeder sinnlichen Erfahrung: »Die Einheit des Subjekts begründet die Einheit der Erfahrung und ist Grund empirischer Erkenntnis«. 36 Kant vollzieht also gegenüber dem Empirismus insofern einen Schritt zurück in Richtung der Substanzontologie, als er »die ursprünglich-synthetische Einheit des Ich-denke« zum »alles bestimVerweis durch Anmerkung [71] auf: I, 4, 6, a.O. 534. Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 380. – Vgl.: »Da jede Eigenschaft ein von jeder anderen unterschiedenes Etwas ist, so kann sie als für sich existierend vorgestellt werden und [demnach tatsächlich] für sich oder ohne anderes existieren; nicht allein ohne eine andere Eigenschaft, sondern auch ohne jene unfaßbare Chimäre, die man als Substanz bezeichnet.« – Hume, Über den Verstand (I, 4, 3), 292. 33 Ebd. – Vgl.: »Die Bedeutung der Begriffe ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ hat sich, wie seit dem Ende des 19. Jh. allgemein bekannt, in der Zeit zwischen Descartes und Leibniz, vielleicht im Zusammenhang mit dem Wechsel vom Lateinischen zu den jeweiligen Landessprachen, umgekehrt«. – Ebd. col. 373. – Vgl. auch folgende Erläuterung des Begriffs Subjekt: »im Mittelalter bis zum 18. Jh. gebräuchlich für den vom Erkennen und Vorstellen unabhängigen Gegenstand, d. h. für das, was jetzt Objekt heißt«. – Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, s. v. Subjekt. – Vgl. außerdem: »Sub-iectum (auch substratum) war in der ganzen Scholastik bis hin zu Descartes die Übersetzung für hypokeimenon und bezeichnete somit den ›Gegenstand‹, die Substanz. Erst nach Descartes – wiewohl maßgeblich bereits durch ihn bestimmt – vollzieht sich der Wandel des Subjektbegriffs zum Subjektiven, zum Ich als dem alleinigen Subjekt – ein Wandel, der sich, abgesehen von der grammatisch-logischen Terminologie, im Deutschen restlos durchgesetzt hat.« – Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 39, Fn. 18. 34 Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B XXII, Fn. 35 Ebd. B XVII. 36 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 381. 31 32
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
menden Ausgangspunkt« 37 der Transzendentalphilosophie macht. Das Verhältnis dieses Ausgangspunkts zur aristotelischen Substantialität reflektiert Kant in den »Paralogismen der reinen Vernunft« 38, in denen sich die Gleichsetzung von Subjekt und Substanz zu ergeben scheint: Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz. Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz. 39
Dass sich diese Schlussfolgerung aus einem Trugschluss ergibt, erläutert Kant durch den Hinweis auf die verschiedenen Bedeutungen von Denken, die in den beiden Prämissen vermischt werden: Im Obersatz geht es um die Beziehung »auf ein Objekt überhaupt«, im Untersatz dagegen um »die Beziehung auf sich, als Subjekt (als die Form des Denkens)« 40. Durch die Schlussfolgerung wird daher das auf die Erscheinung gehende Denken mit der Reflexivität des Selbstbewusstseins gleichgesetzt und daher eine analoge Erkennbarkeit der Subjektivität durch sich selbst behauptet. Mit Bezug auf Kants Auflösung des Paralogismus der Substantialität bemerkt Brigitte Kible: Wir müssen zwar ein solches transzendentales Subjekt annehmen, dem wir alle Vorstellungen des inneren Sinnes zuschreiben können, von der Idee eines absoluten Subjekts der Erkenntnis kann aber nur regulativer Gebrauch gemacht werden; damit wird nichts über die Existenz einer Seelensubstanz gesagt. Es wird von einem Beharrlichen gesprochen, welches nur zu denken ist unter der Voraussetzung der einfachen Vorstellung ›ich denke‹, die bezogen ist auf ein Mannigfaltiges der Vorstellungen. Es besteht zwar die logische Notwendigkeit, ein letztes Subjekt, das Substanz ist, zu denken 41. Die Seele als absolutes Subjekt ist uns wie die anderen Vernunftideen nicht als Gegenstand in der Erfahrung gegeben, wohl aber als »Gegenstand in der Idee« 42. Das denkende Ich, die Seele, das Subjekt ist Gegenstand des inneren Sinnes. In dieser inneren Anschauung erkennen wir »unser
37 38 39 40 41 42
Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452. Vgl. Kant, KrV, B 397–432 bzw. A 349–405. Kant, KrV, B 410–411. Ebd. Fn. zu B 411. Verweis durch Anmerkung [79] auf: Refl. zur Met. 4052, Akad.-A. 17, 398 f. Verweis durch Anmerkung [80] auf: KrV A 670/B 698.
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eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist 43«. 44
Der Ausgang des Denkens bei Kant von der transzendentalen Apperzeption steht also durchaus in einem ambivalenten Verhältnis zur aristotelischen Substantialität, deren Annahme einerseits als Überschreitung der Grenzen des Erkennbaren zurückgewiesen wird, deren regulative Funktion andererseits aber für die Vernunft unverzichtbar ist. Der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung ist somit im Ausgang der kantischen Philosophie von der synthetischen Einheit der Apperzeption bereits enthalten. Zum Abschluss dieses die weitere Explikation des Problems der Begegnung einleitenden Gedankengangs soll ein erstes Zwischenfazit gezogen und der Ausgangspunkt für die Fortführung des Gedankens bezeichnet werden. Zuvor jedoch ist zu erläutern, warum der knappe philosophiehistorische Abriss zur Entwicklung des Begriffspaars Subjekt/Substanz nicht über Kant hinaus weitergeführt wird. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird sich im Rahmen der Untersuchung der sukzessiven Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns zeigen, dass die wesentlichen Referenzpunkte, auf die im Zusammenhang mit der Problematisierung des Subjektbegriffs Bezug zu nehmen sein wird, in dem skizzierten philosophiehistorischen Spektrum zwischen Aristoteles und Kant zu verorten sind. Als Lücke in der bis hierhin durchgeführten Betrachtung wäre an dieser Stelle am ehesten auf die mittelalterliche Philosophie, insbesondere Thomas von Aquin als Vermittler zwischen Aristoteles und der Neuzeit, hinzuweisen. Da Spaemanns Bezugnahmen auf die nachkantische Philosophie entweder kritischer Art sind oder aber auf Voraussetzungen aufbauen, die erst im zweiten Teil entwickelt werden, würde eine Betrachtung der Entwicklung des Begriffspaars Subjekt/Substanz im 19. und 20. Jahrhundert für das Anliegen der Explikation des Problems der Begegnung kaum Fortschritte bringen. 45 Verweis durch Anmerkung [81] auf: B 156. Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 381. 45 Dies gilt auch für die Reflexion dieses Begriffspaars bei Hegel, auf die hier am Rande ein Blick geworfen werden soll, da Spaemann selbst im Rahmen der Entfaltung von Grundzügen seiner Philosophie in den Essays der 80er Jahre auf sie Bezug nimmt. In der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« (1807) knüpft Hegel in kritischer Distanzierung an Spinozas Metaphysik der einen Substanz an und kündigt deren Übersteigung hin zu einer Metaphysik der Subjektivität an: »Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, 43 44
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
Philosophisch ist, wie in der Einführung bemerkt wurde, der Begriff der Begegnung in der Dialogphilosophie beheimatet, die abseits der dominierenden philosophischen Diskurse steht und deren wesentliche Vertreter, wie gezeigt wurde, über einen ausgesprochen grenzorientierten Begriff von Philosophie verfügen. Aus diesem Grund wäre eine Bezugnahme auf die Philosophie des Dialoges im Rahmen der Betrachtung des Begriffspaars Subjekt/Substanz ebenfalls nicht erhellend. Die als Grundmotiv einer möglichen Philosophie der Begegnung bezeichnete Intuition anderen Selbstseins, das nicht in der subjektiven Gegenstandswahrnehmung aufgeht und mit der Genese eigenen Selbstseins verbunden ist, führt, so das erste Zwischenfazit aus dem einleitenden Gedankengang, zu der Frage nach der Erneuerbarkeit des substanzontologischen Subjektbegriffs. Von der Begegnung mit anderem Selbstsein kann nur die Rede sein, wenn das Subjekt des Anderen als Substanz gedacht wird. Es ist nicht zu sehen, wie im Zeichen des zur transzendentalen Apperzeption bei Kant führenden alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.« – Hegel, Phänomenologie des Geistes, 13–14. – Das Subjekt kann nach diesem Plan die Explikation dessen leisten, was die Substanz an sich bereits war. Dies ist möglich, weil der Geist im Sinne der spekulativen Grundfigur des Hegel’schen Denkens als Identität von Identität und Nicht-Identität drei Aspekte umfasst: »Das Ansich oder die Substanz, das Fürsich oder das Subjekt und schließlich die Bewegung, die Verwandlung von jenem in dieses«. – Trappe, Substanz; Substanz/ Akzidens. IV. 19. und 20. Jh., in: HWPh X, col. 536. – Die Fundierung des Subjekts in der Substanz ist allerdings in Hegels Denken nur möglich durch einen »Holismus des Bewußtseins«, die systemtragende Prämisse also, »daß in Wahrheit alles immer schon im Bewußtsein ist, daß nichts Neues in es hineinkommt und daß es in der Phänomenologie des Geistes nur darauf ankommt, das ganz ›für es‹ zu explizieren, was ›an sich‹ in ihm schon enthalten ist.« – Schnädelbach, G. W. F. Hegel zur Einführung, 157. – Nachdem die Philosophie bereits im 19. Jahrhundertaus diesem »intellektuelle[n] Traum« – ebd. 166 – erwacht war, wäre eine Anknüpfung an das Hegel’sche Programm nur im Zeichen einer völlig anders gearteten Prämisse denkbar. Eine solche kann in der Überzeugung Spaemanns gesehen werden, wonach das teleologische Naturverständnis der Antike unter modernen Denkbedingungen erneuert werden kann. In der Umsetzung des aus ihr hervorgehenden, sein Denken insgesamt charakterisierenden Projekts knüpft Spaemann in gewissem Sinn an Hegel an. Die Aufgabe der von ihm verfolgten Philosophie wird, wie er mit Bezug auf den zitierten Satz aus der Vorrede der »Phänomenologie des Geistes« schreibt, »in Abwandlung eines bekannten Hegelwortes wohl so formuliert werden müssen: ›Es kommt darauf an, Subjekte als Substanzen zu denken.‹« – Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 72–73, vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 330. – Das Programm der Gedankenentwicklung im zweiten Teil dieser Arbeit ist mit dieser Formulierung bereits angedeutet.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
Subjekt-Wechsels in der neuzeitlichen Philosophie Selbstsein als prinzipielles Jenseits möglicher Gegenständlichkeit überzeugend gedacht werden könnte. Wenn im Rahmen der hier durchgeführten philosophiehistorischen Betrachtung das Grundmotiv einer möglichen Philosophie der Begegnung somit auf das aristotelische SubstanzSubjekt zurückzuweisen scheint, kann es in der Fortführung des Gedankens nicht um eine anachronistische Bezugnahme auf das antike Denken, sondern allein um die Frage seiner Aktualisierbarkeit gehen. Die Überlegung ging bis hierhin nicht über die bloße Konstatierung einer gewissen Parallele hinaus: Wie Aristoteles mit dem SubstanzSubjekt ein von der Erkenntnis unabhängig Seiendes kennt, so postuliert eine mögliche Philosophie der Begegnung ein anderes Selbstsein, das nicht in einer gegenständlichen Wahrnehmung aufgeht. Die Frage, die sich aufgrund dieser Parallele stellt, besteht darin, inwiefern unter den neuzeitlichen Denkbedingungen eine Möglichkeit der Anverwandlung des antiken Substanz-Subjekts entstanden ist, welche die Antike nicht gekannt hat und die neuzeitliche Philosophie nicht ergreifen konnte. In den beiden folgenden Teilkapiteln soll schrittweise die These entfaltet werden, dass es namentlich die Idee des Selbstseins, das von der antiken Philosophie noch nicht gedacht wurde, ist, die als Aktualisierung des antiken Substanz-Subjekts verstanden werden kann. Dazu muss die Reflexionsposition des neuzeitlichen Subjekts untersucht und danach mit dem in ihr überwundenen antiken Substanz-Subjekt in eine Beziehung gesetzt werden, um aus diesem Verhältnis ein Verständnis von Selbstsein im Sinne der genannten Aktualisierung entwickeln zu können. Zunächst aber stellt sich die prinzipielle Frage nach der bloßen Denkbarkeit von Selbstsein unter der neuzeitlichen Bedingung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt und damit die Frage nach der Denkbarkeit von Transzendenz.
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
Nachdem im Zuge der einführenden philosophiehistorischen Betrachtung des Begriffspaars Subjekt/Substanz die Ambivalenz des neuzeitlichen Subjektbegriffs dargelegt und im Horizont der Frage nach der Aktualisierbarkeit des Substanz-Subjekts die kritische Untersuchung der Reflexionsposition des Subjekts angekündigt wurde, kann ein neuer Ansatz des Gedankengangs im Ausgang vom lateinischen Verb transcendere – hinüberschreiten – gefunden werden. Das Grundmotiv einer möglichen Philosophie der Begegnung – die Intuition anderen Selbstseins – ist aufs engste verknüpft mit dem Begriff Transzendenz, 1 insofern Selbstsein nicht objektiv gegeben, sondern jenseits des jeweiligen subjektiven Horizonts zu verorten ist. Dabei handelt es sich nach dem Grundgedanken der Philosophie der Begegnung nicht um ein belangloses Jenseits des Horizonts, sondern um ein solches, das seinerseits für das Selbstsein des Gegenübers von existentieller Bedeutung ist. Die Frage nach der Transzendenz geht damit aus dem Interesse an einer Wirklichkeit hervor, die nach der leitenden These durch das methodische Apriori der Bewusstseinsphilosophie verfehlt wird. Die subjektiv gegebene Wirklichkeit ist, so der mit dem Begriff der Idiosynkrasie zu bezeichnende Verdacht, nicht die Wirklichkeit selbst, sondern nur ein Bild der Wirklichkeit, das über die eigentliche Wirklichkeit täuschen kann. Insofern der Begriff der Begegnung auf eine Wahrnehmung von Sein jenseits der objektiven Gegebenheit für ein Subjekt und somit auf die Beziehung zu Die folgenden Überlegungen zum Begriff der Transzendenz beziehen sich an mehreren Stellen auf Wolfgang Struves auf Vorlesungen aus dem Wintersemester 1960/ 61 und dem Sommersemester 1966 zurückgehende Buchveröffentlichung »Philosophie und Transzendenz« (1969). – Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs der Transzendenz bemerkt er: »Transzendenz ist von dem mittellateinischen Substantiv transcendentia gebildet. Dieses kommt von dem Verbum transcendere, das zusammengefügt ist aus trans und scandere, wobei aber die Bedeutungsmomente der Präposition und des Verbums in dem Ausdruck nicht gleichgültig und zufällig nebeneinanderliegen, sondern sich gegenseitig fordern und ergänzen, eine innere Einheit und Ganzheit bilden. Die Grundbedeutung von trans ist jenseits, über, über-hin(weg), über-hinaus (französisch: très); die von scandere steigen. Transcendentia heißt also wörtlich: das Übersteigen, die Übersteigung, der Überstieg.« – Struve, Philosophie und Transzendenz, 37.
1
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einem dem subjektiven Horizont Transzendenten zielt, ist eine Philosophie der Begegnung nur als Denken der Transzendenz möglich. Die im hier verfolgten Gedankengang relevante spezifische Bedeutung erhält der Begriff der Transzendenz somit erst durch den zuvor erörterten neuzeitlichen Subjekt-Wechsel. Unter der Bedingung des Ausgangs des Denkens vom erkenntnistheoretisch verstandenen Subjekt kann der als Jenseits des subjektiven Horizonts verstandene Andere nur noch Transzendentes sein, das sich einer Denkbarkeit im strengen Sinn prinzipiell entziehen muss. Die Bedeutung der Transzendenz für eine Philosophie der Begegnung kann durch die Unterscheidung zwischen einer ›graduellen‹ und einer ›absoluten‹ Transzendenz erläutert werden. 2 Graduelle Transzendenz bezeichnet eine Horizonterweiterung durch intentionale Akte »im Sinne des Hinausschreitens über das Bewußtsein, vom Ich oder Subjekt hinüber zu dem außer dem Ich liegenden Gegenstand oder Objekt« 3. Durch eine solche ist jedoch nie ein Überschreiten der Intentionalität selbst zum Anderen hin möglich. Die absolute Transzendenz hingegen im Sinne der »Aufgabe, alles überhaupt zu übersteigen« 4, sprengt prinzipiell den mit dem neuzeitlichen Subjekt-Wechsel bestimmten Raum eines jeden möglichen Denkens: »Die metaphysische Setzung, die aller neueren Reflexion auf das Erkennen zugrunde- und vorausliegt, ist die Auslegung des Erkennenden als Subjekt und des Erkannten als Objekt.« 5 Erkenntnismetaphysik bleibt diese Reflexion, wie oben gesehen, auch dann, wenn sie allein von der transzendentalen Apperzeption, dem ›ich denke‹, ihren Ausgang nimmt. Das methodische Apriori der Transzendentalphilosophie schließt das Transzendente als möglichen Gegenstand unserer Erkenntnis aus. In den »drei transzendenten Vernunftbegriffe[n] bzw. Ideen der Freiheit des Willens, des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele« kehrt das Transzendente bei Kant zwar zuVgl.: »Transzendenz und Transzendieren können also sowohl die graduelle Transzendenz (ὑφειμένη ὑπεροχή) […] des je höheren Seins über die je untergeordneten Seinsstufen, und speziell die der höchsten Stufe innerhalb einer kontinuierlichen Stufenfolge des Seins, als auch die absolute Transzendenz (ἐξῃρημένη ὑπεροχή, ὑπερβολή) […] über das Sein schlechthin und im ganzen und das Übersteigen der Totalität des Seins bedeuten.« – Halfwassen, Transzendenz; Transzendieren. I. Antike; Mittelalter, in: HWPh X, col. 1443. 3 Struve, Philosophie und Transzendenz, 57. 4 Ebd. 23. 5 Ebd. 58. 2
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
rück, aber eben nur als »regulative Erkenntnisprinzipien und vor allem als Postulate der reinen praktischen Vernunft« 6. Unter dem Vorzeichen von Kants Absicht, »das Wissen auf[zu]heben, um zum Glauben Platz zu bekommen« 7, verliert das Transzendente seine Erkennbarkeit im engeren Sinne und führt der Versuch, an ihm festzuhalten, in der Konsequenz zu einem religiösen Denken. 8 Das Projekt einer Philosophie der Begegnung stünde, solange diese Rahmenbedingungen akzeptiert werden, vor der prinzipiell unlösbaren Aufgabe, nicht nur die Objekte der Erkenntnis und den »Subjekt-Objekt-Bezug« 9 selbst zu übersteigen, sondern auch die aus der Substanzontologie ererbte regulative Funktion der transzendentalen Apperzeption und damit »die rationale Auslegung des Denkens« 10. Damit ist die Problemstellung gekennzeichnet, die eingangs mit Bezug auf die Dialogik als die in die Aporie führende Alternative des Intentionalitätsschemas der Transzendentalphilosophie einerseits und des scheinbar nur als dialektische Alternative zu diesem begrifflich rekonstruierbaren Schemas der Ich-Du-Beziehung andererseits dargestellt wurde. Der Versuch der gedanklichen Bewältigung der Begegnung führte entweder in die »›Theologie‹ des Zwischen« 11 oder zur »Unangemessenheit des Denkens« 12 selbst. Aus dem Zusammenhang der bisherigen Überlegungen dieser Explikation des philosophischen Problems der Begegnung geht hervor, dass ein Denken der Transzendenz überhaupt nur möglich werden kann, wenn die neuzeitliche Verengung des Transzendenzbegriffs als »Gegensatz zu
Enders, Transzendenz; Transzendieren. II. Neuzeit, in: HWPh X, col. 1447. Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B XXX. 8 Vgl.: »S. Kierkegaard verwendet ›Transzendenz‹ als kritischen Gegenbegriff zu dem von ihm als Immanenzphilosophie heftig kritisierten Denken Hegels, das die Bewußtseinsimmanenz alles Wirklichen behaupte und daher das Transzendente leugne […]. Mit ›Transzendenz‹ bezeichnet er die von der Immanenz bzw. der wissenschaftlichen Totalität qualitativ radikal verschiedene Sphäre des Religiösen, die nur durch die transzendierende Kraft des Paradoxes und des qualitativen Sprungs des Glaubens (als Existenzkategorien) erreicht werden kann«. – Enders, Transzendenz; Transzendieren. II. Neuzeit, in: HWPh X, col. 1448. 9 Struve, Philosophie und Transzendenz, 58. – Struve weist hier darauf hin, dass es im Denken der Transzendenz nicht um die »Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung« im Sinne der Einswerdung mit dem Objekt geht, sondern um die Überwindung dieses Bezugs selbst. 10 Ebd. 73. 11 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 330. 12 Bloch, Die Aporie des Du, 285. 6 7
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›Immanenz‹« 13 selbst unterlaufen wird. Wolfgang Struve wendet sich gegen dieses seit dem 19. Jahrhundert aufgekommene Verständnis der Transzendenz, denn der Gegensatz zu ›immanent‹ sei nicht ›transzendent‹, sondern ›transeunt‹ : Transzendieren ist […] mehr als das Überschreiten einer Grenze etwa zwischen zwei gleichen Bereichen. Transzendent meint nicht dasselbe wie transeunt, von dem es nicht immer scharf genug geschieden wird […]. Transzendieren ist nicht nur ein Hinübergehen, sondern ein Hinübersteigen, das heißt das, zu dem transzendiert wird, wird als anderer Art und höheren Ranges gedacht als das, aus dem transzendiert wird, wobei meistens dieses als von jenem abhängig und in ihm fundiert gedacht wird. 14
Aus einer solchen Hierarchisierung folgt, dass für das im Hinübersteigen Erreichte andere Denkbedingungen gelten müssen als für das Überstiegene. Mit Bezug auf Theunissens Buber-Deutung wurde oben erwogen, dass die Ich-Du-Begegnung möglicherweise nur als Position verstanden werden kann, in der die Dialektik von Transzendentalphilosophie und einer Ontologie des Zwischen als ihrer Negation überstiegen wird. Im Folgenden soll versucht werden, eine solche Position durch den Rückbezug auf das antike Verständnis von Transzendenz in den Blick zu bekommen. Das Transzendente erscheint in der Perspektive neuzeitlicher Erkenntnismetaphysik als ein Negatives, als bloßes Jenseits des Erkennbaren, zu dem nur ein Glaubensakt führen kann. 15 Im Sinne der Idee einer Philosophie der Begegnung ist zu fragen, wie diese Diastase von Wissen und Glauben überwunden werden kann. Das Transzendente kann nur erkannt werden, wenn ein aus transzendentaler Perspektive Negatives eine Erkennbarkeit erhält, wenn also ein bestimmter Bereich des scheinbar Negativen ausgewiesen werden kann, dessen Erkenntnis zwar nicht Ergebnis eines intentionalen Aktes ist, der aber als ein Jenseits der Intentionalität dennoch ein evident Gegebenes darstellt. Da dieser Bereich, wenn er ausgewiesen werden kann, somit doch wieder in den transzendentalen Horizont einbezogen werden kann, muss die Differenzierung, um die es hier geht, auch von der anderen Seite her gezeigt werden. Demnach kann das Transzendente Enders, Transzendenz; Transzendieren. II. Neuzeit, in: HWPh X, col. 1447. Struve, Philosophie und Transzendenz, 39. 15 Vgl. zum engen Zusammenhang der Begriffe Transzendenz und Metaphysik: Halfwassen, Metaphysik und Transzendenz, 13. 13 14
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
erkannt werden, wenn einem Bereich innerhalb des transzendentalen Horizonts eine Negativität zugesprochen werden kann, durch die er aus dem Horizont transzendentaler Intentionalität zugleich herausfällt. Zur Annäherung an diesen Bereich soll nun entsprechend der am Ende des ersten Teilkapitels angekündigten Programmatik auf die antike Philosophie zurückgegangen und nach deren Verständnis von Transzendenz gefragt werden. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass das griechische Äquivalent des mittellateinischen Begriffs erst bei Plotin erscheint und die klassische griechische Philosophie Transzendenz eigentlich noch gar nicht kennt. 16 Struve bemerkt zu diesem Sachverhalt: »Daß die frühe und klassische griechische Philosophie nicht die Transzendenz selbst denkt und zu denken sucht, könnte gerade ein Zeichen ihrer Transzendenznähe sein.« 17 Worin besteht diese Transzendenznähe avant la lettre? Sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles streben die endlich Seienden nach der Teilhabe am Schönen, Einen und Guten bzw. am Göttlichen. Dieses teleologische Streben bringt die innere Differenz des antiken Begriffes der φύσις zum Ausdruck, »nämlich einerseits die Bedeutung ›Beschaffenheit, Wesen‹ […] und andererseits die Bedeutung ›Werden, Wachstum, Wuchs‹«. 18 Natur ist für die klassische Antike ein Begriff, der die Differenz zwischen bloßem Leben und gutem Leben – ζῆν und εὖ ζῆν – enthält. Auch wenn nach Aristoteles die τέλη in den ϕύσει ὄντα nicht an ein Bewusstsein gebunden sind, drückt sich in ihnen eine Tendenz in Richtung eines naturgemäßen Zustandes aus, durch den sie sich von anderen natürlichen Wesen unterscheiden. Die Ersetzung des damit bezeichneten »Distinktionskonzept[s] der Natur« Vgl.: »Das lateinische Verb ›transcendere‹ bzw. das Partizip ›transcendens‹ dienen bei Augustinus als Äquivalent für Plotins Termini ἀναχθῆναι, ἀναβαίνειν und ἀναβεβηκός […], womit Augustin wahrscheinlich der (verlorenen) Plotin-Übersetzung des Marius Victorinus folgt […]; seit Johannes Scotus Eriugenas Übersetzung der Schriften des PS.-Dionysius Areopagita dienen sie dann auch zur Übersetzung von μεταβαίνειν […], διαβαίνειν […], μεταταχθῆναι […] und παρατραπῆναι […], seit Ambrosius Traversari auch zur Übersetzung von ὑπέρ und Zusammensetzungen damit […], bes. ὑπερέχειν […], ὑπερβαίνειν […], ὑπερβεβηκός […], ὑπερβάλλειν […], ὑπερκείμενος […], ferner von ἐξῃρημένος […] und ἐπέκεινα […], seit M. Ficino ferner zur Übersetzung von ὑπεριδρύεσθαι […] und seit B. Cordier auch zur Übersetzung von ἐκβεβηκός […], ἐπιβεβηκός […] und κρεῖττον […].« – Halfwassen, Transzendenz; Transzendieren. I. Antike; Mittelalter, in: HWPh X, col. 1442– 1443. 17 Struve, Philosophie und Transzendenz, 13. 18 Hager, Natur. I. Antike, in: HWPh VI, col. 421. 16
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an der Schwelle zur Neuzeit durch ein »Reduktionskonzept« 19 muss in engem Zusammenhang mit dem beschriebenen Subjekt-Wechsel gesehen werden, der durch die unvermittelte Gegenüberstellung von transzendentalem Subjekt und Welt zur spezifisch neuzeitlichen Dialektik führt: Der Mensch ist dann entweder, so der Materialismus, Funktionsglied eines allgemeinen, ihn genauso wie jedes andere Wesen prägenden Wirkzusammenhangs, oder er muss, so der Dualismus von Descartes bis Popper, als ein der Natur gegenüberstehendes total durch das Bewusstsein seiner selbst definiertes »denkendes Ding« begriffen werden. 20
Der Sinn des Rückgangs auf die Antike kann hier nur darin bestehen, den mit dem Reduktionskonzept bezeichneten neuzeitlichen Bruch auf seine Notwendigkeit hin zu befragen: Ist der Verlust des teleologischen Naturverständnisses die notwendige Folge des den SubjektWechsel ermöglichenden Ausgangs des Denkens vom Subjekt? Für Spaemanns Denken wird, wie im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt werden soll, eine Alternative zu dieser Folgerung systematische Bedeutung erlangen. Es geht dabei um die Vorstellung einer natürlichen Vernunft, die das Distinktionskonzept der Natur mit dem Ausgang des Denkens vom Subjekt verknüpft. 21 In einem ersten Ausblick auf diesen zentralen Argumentationskomplex soll hier die Reflexionsposition des neuzeitlichen Subjekts unter der einzuräumenden Prämisse untersucht werden, dass diese Position nur im Rückgang auf ihre Fundierung in einer Natur, der es immer schon um etwas geht, in vollem Maß verstanden werden kann.
Vgl.: »›Natur‹ im ursprünglichen Sinne ist nicht Reduktions-, sondern umgekehrt Distinktionsprinzip; das heißt die Natur ist nicht primär ein Bereich von allgemeinen Gesetzen unterliegenden Objekten, die es gibt, sondern Natur ist, was ein Wesen hat. Die natürlichen Arten bilden ein Geflecht von Differenzen und sind nicht noch einmal Unterfälle einer ihnen etwa auf genetischer Ebene unterliegenden Kausalkraft. Die Natur eines Wesens zeigt sich, indem dieses sich seiner Art gemäß von Wesen unterscheidet, die anderer Art sind. Und dieser Unterschied kann sich nur über eine bestimmte Spanne Zeit hinweg zeigen; er ist eben nicht punktuell in jedem Augenblick als kausale Implikation eines fertigen ›Programms‹ gegeben.« – Schweidler, Das Uneinholbare, 290. 20 Schweidler, Über Menschenwürde, 37–38. 21 S. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 384–397. 19
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
Zunächst soll das Verhältnis des Natürlichen und des Vernünftigen im Menschen durch ein Schema unterschiedlicher Horizonte im Sinne der exzentrischen Positionalität Helmuth Plessners verdeutlicht werden. Den Menschen verbindet danach mit den Tieren die »positionale Mitte eines Lebendigen« 22. Lebewesen bilden ein »Zentrum der Positionalität« 23, wobei dem Tier zwar eine Umwelt gegeben ist, es aber kein Verhältnis zu sich selbst hat: »Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.« 24 Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass ihm »die Zentralität seiner Existenz bewußt geworden« 25 ist: Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. Er erlebt die Bindung im absoluten Hier–Jetzt, die Totalkonvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner Position und ist darum nicht mehr von ihr gebunden. 26
Wesentlich für Plessners Gedanken ist, dass der Mensch, indem er die primäre Positionalität übersteigt, zugleich an sie gebunden bleibt: »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.« 27 Dieses Plessner’sche Schema soll nun im Sinne des hier verfolgten Gedankengangs ausgedeutet werden. Der aus dem antiken Distinktionskonzept der Natur hervorgehende Grundgedanke dieser Deutung besteht darin, dass das menschliche Transzendieren der lebendigen Zentriertheit, das sich durch Reflexionsakte realisiert, aus derselben natürlichen Tendenz hervorgeht, die schon in der lebendigen Zentriertheit wirksam ist. Die zentrale These lautet damit, dass das Vernünftige zunächst das Natürliche in einer verwandelten Form ist. Anders formuliert: dass das Überschreiten der Natur im Menschen durch die Vernunft selbst natürlich ist. Das zur Verdeutlichung gewählte Schema ist eine Abstraktion, durch die versucht 22 23 24 25 26 27
Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 361. Ebd. Ebd. 360. Ebd. 363. Ebd. 364. Ebd.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
wird, in seine Bestandteile zu zerlegen, was in Wirklichkeit eine nicht analysierbare Einheit ist. Dennoch kann dieses Schema helfen, die schwierigen Zusammenhänge, um die es hier geht, zu verdeutlichen. Allerdings wird sich die Darstellung auf Sachverhalte einlassen müssen, die nur als Paradoxa zur Sprache gebracht werden können. Als erstes Paradoxon wurde schon genannt, dass die transzendierende Vernunft als Natur begriffen werden muss. Das zweite besteht darin, dass die transzendierte Natur selbst Vernunft ist, da die eigene Zentralität für ein bewusstes Lebewesen nur als bereits begriffene gegeben ist. Der als menschliches Leben zu bezeichnende Austausch zwischen einer lebendigen Zentralität und der aus der Transzendenz derselben hervorgehenden Exzentrik bedeutet somit eine wechselseitige Durchdringung der nur abstrakt trennbaren Seiten des Natürlichen und des Vernünftigen. Anhand dieses Schemas kann nun der Bereich, von dem oben die Rede war, bestimmt werden, in dem das Transzendente erkannt werden kann. Wenn das Vernünftige als eine Form des Natürlichen sich in Akten der Selbsttranszendenz realisiert, durch die sich Horizonterweiterungen ergeben, so muss eine Differenz angenommen werden zwischen dem Horizont des Vernünftigen und dem Bereich der Intentionalität innerhalb dieses Horizontes. Die Differenz besteht darin, dass im natürlichen Transzendieren als einer unwillkürlichen Spontaneität durch die Vernunft ein Bereich erschlossen wird, auf den die transzendentale Intentionalität immer erst nachträglich ausgedehnt werden kann. Dass insofern die Natur in uns durch die Vernunft uns selbst immer schon voraus ist, wird im zweiten Teil dieser Arbeit mit Spaemann so ausgedrückt werden: 28 Die subjektiven Erfahrungen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz, Lust, Begierde, Streben, Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch einen vektoriellen Sinn charakterisiert sind. Sie transzendieren das Bewusstsein, und zwar nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins. Wir finden uns durch sie immer schon in einer teleologischen Struktur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die uns mit allem Lebendigen verbindet. 29
Das Schema kann also die Vorhandenheit eines Bereichs im Bewusstsein verdeutlichen, der jenseits der subjektiven Intentionalität liegt, da die menschliche Natur als eine solche, die auf etwas aus ist, durch
28 29
Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 375. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
die Vernunft jeden bewusst gewordenen intentionalen Horizont wieder überschreitet, wodurch sich jener Bereich öffnet, der paradoxerweise dadurch für uns von Interesse ist, dass er nicht durch unser Interesse definiert ist. Es geht um den Bereich eines interesselosen Wohlgefallens bzw. einer kontemplativen Haltung. Dieser Bereich, der darum freilich nicht als festliegend verstanden werden darf, liegt prinzipiell außerhalb des Horizonts subjektiver Intentionalität, auch wenn er nachträglich von dieser immer eingeholt werden kann, wodurch sich dann aber der Bereich, um den es geht, zwangsläufig verschoben hat. Das Transzendente, so die erste Schlussfolgerung, ist dem Menschen also in dem Sinn erkennbar, dass es, obwohl es ein Jenseits subjektiver Intentionalität ist, durch das natürliche Transzendieren der Vernunft gegeben ist. Nach der ersten Verdeutlichung der zentralen Zusammenhänge anhand der schematischen Betrachtung des Verhältnisses von Natürlichem und Vernünftigem soll nun der Frage nachgegangen werden, wie das Ineinandergreifen der beiden Horizonte, in dem das Transzendente erkennbar wird, in der Selbsterfahrung eines menschlichen Wesens gegeben ist. Es soll also im Sinne einer Gegenprobe danach gefragt werden, wie die an dem Schema explizierte Differenz in der Bewusstseinsperspektive eines Subjekts gegeben sein kann. Wenn die Vernunft als Ausdruck der Transzendenz der menschlichen Natur verstanden wird, kann die Vernunft sich als natürliche nur so zu denken versuchen, dass sie ein Naturwesen vorstellt, das denkt, wobei dieses Naturwesen jedoch nur indirekt gegeben ist als dasjenige, was jedem Bewusstsein schon zugrunde liegt, von dem es aber immer nur eine Vorstellung im Denken geben kann. Der Versuch der reflexiven Wendung des Bewusstseins auf sich selbst mit dem Ziel, seine eigene Fundierung zu denken, führt somit in einen Zirkel, in dem das Fundierende selbst nie erreicht werden kann. 30 Diesem Zirkel der RefleVgl.: »Man kann nicht dadurch, daß man auf etwas reflektiert, den reflektierten Sachverhalt überhaupt erst zu Bewußtsein bringen. Reflexion ist zumindest eine gezielte Aktivität. Das, was durch sie zum ausdrücklichen Bewußtsein gebracht werden soll, muß wenigstens implizit bereits gegenwärtig sein, so daß es einen Akt der Reflexion auslösen kann, der im Blick auf es erfolgt. Reflexion ist nicht nur ein zufälliges Auftreten konzentrierten Bewußtseins auf irgendeinen Sachverhalt. Sie setzt voraus, daß dieser Sachverhalt auffällig geworden ist und Spannungen erzeugt hat, welche die Konzentration des Bewußtseins auf ihn veranlassen oder erzwingen. Für die Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins muß dieser Sachverhalt natürlich das Subjekt des Selbstbewußtseins sein. Somit ist in der Reflexion ein Bewußtsein des Subjekts vorausgesetzt. Die Reflexionstheorie kann also allenfalls explizite Selbsterfahrung,
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xionstheorie ist vorläufig 31 nur durch den Sprung in eine andere Betrachtungsweise zu entgehen, der praktisch möglich ist, da die Vernunft, insofern sie Transzendieren der Natur ist, selbst natürlich ist, da die Natur also, wie aus dem Schema hervorgeht, ihrerseits auf das Transzendieren ihrer selbst angelegt ist und sich der Vernunft als ihres Organs bedient. Unser Verhältnis zur eigenen Natur zwingt also aus der Subjektperspektive zur Annahme eines für unser Selbstverständnis konstitutiven Präreflexiven, zu dem wir nur einen indirekten Zugang haben, insofern wir von jeder Vorstellung, die wir uns davon bilden, hypothetisch ihr Gedachtsein abziehen müssten, um das ihr Zugrundeliegende denken zu können. Im Hinblick auf unser Selbstverständnis ergibt sich somit ein prinzipieller Vorbehalt, dass wir uns selbst nur adäquat verstehen könnten, wenn wir in der Selbstverständigung reflektieren auf das sich uns in uns Entziehende. 32 Während aus der theoretischen Perspektive des Subjekts
nicht aber Selbstbewußtsein als solches erklären, ob sie nun Reflexion als Akt des Ich auffaßt oder nicht.« – Henrich, Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, 265–266. 31 Der vorliegende Gedankengang ist auf dem Weg zum Ereignis der Begegnung und muss im Sinne einer sukzessiven begrifflichen Rekonstruktion zunächst davon abstrahieren, dass der Bereich, von dem hier die Rede ist, in dem das Transzendente erkennbar wird, ursprünglich aus einer intersubjektiven Vermittlung hervorgegangen ist. Dass das Ereignis der Begegnung der Sache nach immer schon impliziert ist, wird vorläufig ausgeblendet, da die Wahrnehmung, um die es geht, zunächst von der transzendentalen abgehoben werden soll, bevor dann im nächsten Teilkapitel ausgehend vom Selbstverhältnis des Wesens, das zu einer solchen Wahrnehmung fähig ist, zum zugrunde liegenden Ereignis der Begegnung zu kommen sein wird. 32 Dies entspricht prinzipiell dem Befund, zu dem Dieter Henrich gelangt (vgl. Fn. 30), wenn er schreibt: »Um zu einer Identifikation mit sich selber zu kommen, muß das Subjekt nämlich schon wissen, unter welchen Bedingungen es etwas, dem es begegnet oder mit dem es vertraut ist, sich selber zuschreiben kann. Diese Erkenntnis kann es niemals durch Selbstbeziehung allererst gewinnen. Sie muß als Wissensbestand jeder Reflexion einer Tätigkeit auf sich vorausgehen.« – Henrich, Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, 267. – Henrich unterscheidet Bewusstsein und Selbstbewusstsein bzw. Reflexivität – vgl.: »der Gedanke vom Bewußtsein als ichlosem Grund des Selbstbewußtseins«, ebd. 282 – in einer Art und Weise, die durchaus in einer Nähe zur hier vorgenommenen Differenzierung zwischen dem Horizont des Vernünftigen und dem Bereich der Intentionalität steht, vgl.: »Läßt man die Hilfe einer Metapher zu, so ist man versucht zu sagen, daß das Bewußtsein eher von sich einen Zugang zu uns hat, als daß es ein Verfahren geben könnte, mittels dessen wir es uns zugänglich machen können.« – Ebd. 271. – Vgl. ebenso: »Bewußtsein ist ein Sachverhalt, der allen zielgerichteten Leistungen vorangehen muß und der deshalb auch dem selbstbewußten Ich vorausliegt.« – Ebd. 275.
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
nur eine unendliche zirkuläre Annäherung an die fundierende Natur denkbar ist, schlägt der Gedankengang praktisch in ein Überstiegenwerden des Subjekts durch die Natur um, das in der Vernunft stattfindet und dem Subjekt somit direkt gegeben ist, auch wenn sein bewusster Rückbezug auf die fundierende Natur erneut in die unendliche Annäherung führen muss. Dem Zirkel der Reflexionstheorie lässt sich daher vorläufig entgehen durch die Differenzierung zwischen einem Transzendieren der Natur durch die Vernunft, das selbst natürlich ist, und der reflexiven Bezugnahme auf dieses Transzendieren in der sich als autonom verstehenden Subjektivität. Der Gedanke des natürlichen Transzendierens der Natur durch die Vernunft impliziert eine Harmonie zwischen Vernunft und zugrunde liegender Natur, insofern jene in ihrem Wirken diese erinnert. Das, was dabei erinnert wird, ist das Über-sich-hinaus-Streben der Natur. Die Vernunft kann dieses erinnern, indem sie als Organ eines Lebewesens seinen Horizont, innerhalb dessen alles Gegebene auf sein Interesse bezogen ist, überschreitet. Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, in welchem Sinn die nicht-graduelle Transzendenz, die aus der Aktualisierung des antiken Naturverständnisses gewonnen werden kann, absolut ist. Es geht in ihr nicht um eine Horizonterweiterung der Intentionalität, sondern darum, dass der intentionale Horizont selbst überstiegen wird, innerhalb dessen alles Gegebene mögliches Mittel zu einem im Subjekt vorgefundenen oder gesetzten Zweck ist. Das zuvor negative Transzendente wird erkennbar als das zunächst nicht als Mittel zu einem möglichen Zweck für das Subjekt Gegebene. Der Blick der Vernunft auf dieses eröffnet sich, wenn in dem natürlichen Transzendieren, das sich der Vernunft als Mittel bedient, der Horizont des Interesses des natürlichen Lebewesens überschritten wird, das selbst somit eines nicht von seinem Interesse bestimmten Jenseits seines Horizonts ansichtig wird. Dieses Jenseits kann sich die Vernunft sogleich wieder einverleiben. Obgleich die Vernunft als Organ begriffen wird, durch das die Natur ihre Ausrichtung auf die Transzendenz verwirklicht, kann die in der reflexiven Wendung zu sich selbst gekommene Vernunft ihren eigenen Ursprung verdrängen, indem sie in Erkenntnisakten den ihr sich öffnenden, die eigene Intentionalität transzendierenden Horizont auf das in ihm überwundene Interesse des Subjekts zurückbezieht. Das im Horizont der Vernunft erscheinende Negative wird so durch den Rückbezug auf das subjektive Erkenntnisinteresse positiv gefasst, in das Reich möglicher Mittel für ein natürliches Wesen 65 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
einbezogen, wodurch die Vernunft sich selbst als autonom verstehen kann 33. Die Beziehung des denkenden Subjekts zu seiner es fundierenden Natur entspricht formal dem im ersten Teilkapitel im Zusammenhang von Kants ›Paralogismen der reinen Vernunft‹ referierten Verhältnis der transzendentalen Apperzeption zum transzendentalen Subjekt als Substanz. Der Gedanke der Fundierung der Vernunft in der menschlichen Natur geht aber über den nur regulativen Gebrauch der Substanzidee bei Kant dadurch hinaus, dass eine Abhängigkeit der Vernunft von ihrer natürlichen Grundlage konstatiert und Bedingungen für ein adäquates Selbstverständnis der Vernunft daraus abgeleitet werden. In der hier durchgeführten Überlegung ging es allein um die Frage, welche Folgerungen sich aus der Annahme einer Fundierung der menschlichen Vernunft in der teleologisch verstandenen Natur für das Verständnis des Menschen ergeben. Diese Überlegungen werden der anschließenden Fortführung des Gedankengangs zugrunde liegen. Viel grundsätzlicher noch könnte aber gefragt werden, ob die Behauptung der Fundierung der Vernunft in der Natur triftig ist. In dieser Frage sieht man sich dem Selbstverständnis der Subjektphilosophie gegenüber, der die Vernunft – ungeachtet einer schwer zu leugnenden physischen Bedingtheit – als von der Natur emanzipiert und im Idealfall absolut autonom gilt. Es handelt sich hier um einen Gegensatz prinzipieller Art. Der Ausgang im Denken sowohl von einer autonomen Vernunft wie auch der von einer in der Natur fundierten Vernunft stellen verschiedene methodische Apriori dar, die als metaphysische Grundsätze des Denkens nicht widerlegbar sein können und somit auch nicht beweisbar sind. 34 Hier wurde im Sinne des Der hier beschriebene Zusammenhang wird im siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit mit Bezug auf das Kapitel »Wohlwollen« aus Spaemanns »Glück und Wohlwollen« genauer erläutert werden. Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467– 479. 34 Geht man von der Autonomie der Vernunft aus und begreift jedes Denken im Ausgang von ihr, wird jegliche natürliche Bedingtheit zu einem bloßen Sachverhalt der äußeren Welt, auf den die Vernunft sich bezieht als Material ihrer Selbstbestimmung. Geht man umgekehrt von einer Fundierung der menschlichen Vernunft in der Natur aus, liegt jeder Vernunfttätigkeit ursprünglich eine natürliche Spontaneität zugrunde, zu der die Vernunft sich zwar möglicherweise frei verhalten kann, die sie aber nicht durch eine eigene Spontaneität der Vernunft ersetzen kann. – Vgl.: »Wir gewinnen bestimmte relevante Erkenntnisse über uns nur, indem wir unsere Erfahrungen im Lichte der metaphysischen Kernbehauptung ›Alle realen Gegenstände sind von einer der Arten A1 bis An oder lassen sich auf eine bestimmte Weise auf sie 33
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
von einer möglichen Philosophie der Begegnung vorausgesetzten Denkens der Transzendenz zunächst ein methodisches Apriori gewählt. Wenn für die Idee der natürlichen Fundierung der Vernunft kein Beweis erbracht werden kann, bleibt nur die Möglichkeit, ein komplexes Gefüge sich wechselseitig stützender Argumente zu entwickeln, das gute Gründe für die Annahme dieser Fundierung liefern kann. Die Entwicklung dieses Gefüges und die argumentative Stützung des hier gewählten Ausgangspunkts wird erst nachträglich im zweiten Teil dieser Arbeit anhand der Untersuchung des philosophischen Werks Robert Spaemanns geleistet. 35 Im Sinne der Explikation des philosophischen Problems der Begegnung wird hier der Gedanke der Fundierung der Vernunft in der teleologisch verstandenen Natur als methodisches Apriori weiter auf seine Bedeutung hin zu befragen sein.
zurückführen‹ interpretieren und sie gerade angesichts scheinbar widerstreitender Erfahrungen nicht fallenlassen. So betrachtet spielen metaphysische Kernbehauptungen die Rolle von Rahmenannahmen, die bestimmte Erfahrungen allererst ermöglichen und deshalb durch Erfahrung nicht zu widerlegen sind.« – Tetens, Gott denken, 20–21. 35 S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik, 415–508.
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
Bisher ging es in dem Versuch, den verengten neuzeitlichen Subjektbegriff durch eine Aktualisierung des aristotelischen Substanz-Subjekts zu überwinden, um eine epistemologische Überlegung. Im Mittelpunkt stand das Denken der Transzendenz bzw. die Frage, wie das Transzendente erkannt werden kann. Damit waren die vorangegangenen Überlegungen geprägt durch den Versuch eines Abstoßes von der Transzendentalphilosophie. Das Ergebnis dieses Versuchs besteht in der aus der Reflexion auf das Verhältnis des Natürlichen und des Vernünftigen im Menschen hervorgehenden Freilegung des Bereichs einer Differenz zur transzendentalen Intentionalität. Die Erkenntnis des Transzendenten ist möglich, so das zentrale Ergebnis der bisherigen Überlegungen, weil die Natur in uns durch die Vernunft uns selbst immer schon voraus ist. Die Weiterführung des Gedankengangs im Folgenden wird von der Frage nach der philosophischen Bestimmung desjenigen Wesens ausgehen, das zu der zuvor beschriebenen Wahrnehmung fähig ist. An die Stelle der epistemologischen Fragestellung tritt also eine anthropologische bzw. ontologische. Zunächst soll das Subjekt der Erkenntnis des Transzendenten auf einen heuristischen Begriff gebracht werden, um diesen anschließend durch negative Bestimmungen – omnis determinatio est negatio 1 – einzukreisen. Die Denkbewegung wird schließlich zum Begriff der Begegnung führen, die sich im Rückblick als das stets anwesende Organisationsprinzip der vorliegenden Überlegungen zu erkennen geben wird. Die neuzeitliche Erkenntnismetaphysik, die in ihrer kantischen Form die transzendentale Apperzeption zum »alles bestimmenden Ausgangspunkt« 2 des Denkens macht, wurde in den vorangegangenen Überlegungen als Rückzug aus einer ursprünglich gegebenen Offenheit gewertet, durch den die unwillkürliche Spontaneität der Natur ausgeblendet und alles Gegebene auf das Erkenntnisinteresse 1 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 165. – Hegel zitiert hier frei Spinoza und verweist als Quelle auf: Spinoza, Epistola 50, wo dieser Satz sich aber nicht im Wortlaut findet. 2 Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452.
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
eines Subjekts zurückbezogen wird, dessen Vernunft sich als autonom versteht. Dieses Subjekt war der Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Kapitel. Hier geht es nun darum, das anders gefasste Subjekt, das erst aus seiner Fundierung in der menschlichen Natur verstanden werden kann und das zur Erkenntnis des Transzendenten fähig ist, auf einen zunächst heuristischen Begriff zu bringen. Der Schlüsselbegriff der Spaemann’schen Philosophie, der diese Aufgabe übernimmt, ist ›Person‹. An dieser Stelle kann nicht die Frage nach der Herkunft dieses Begriffs und der besonderen Begriffsart, die durch ihn in den Gedankengang eingeführt wird, gestellt werden. Ihr werden im zweiten Teil ausführliche Untersuchungen gewidmet. 3 Hier wird der Begriff Person zunächst gegenüber dem auf das Gegenständliche bezogenen Subjekt der autonomen Vernunft eingeführt als dasjenige Subjekt, das eine Rezeptivität aufweist für das Transzendente im Sinne des Jenseits subjektiver Intentionalität. Als heuristischer Begriff soll ›Person‹ damit die ontologische Ausdeutung des epistemologischen Befundes aus den vorangegangenen Überlegungen ermöglichen. Die epistemologisch fundierte Ausgangsbestimmung des Begriffs besteht darin, dass mit dem Begriff Person der Standpunkt bezeichnet wird, dem die Differenz gegeben ist zwischen subjektiver Intentionalität und einem Vernünftigen, das bestimmt ist als deren natürliches Überschreiten. Der erste Hinweis, der sich aus dieser Ausgangsbestimmung für eine weitere Eingrenzung des Begriffs der Person ableiten lässt, besteht darin, dass die Relationalität, das In-einer-Differenz-Stehen oder, wie Spaemann sagen wird, das ›Haben einer Natur‹ von grundlegender Bedeutung sein werden. Im Folgenden soll versucht werden, den heuristischen Begriff durch weitere Bestimmungen inhaltlich zu füllen, wobei die Überlegungen zunächst an das dargelegte Plessner’sche Schema anknüpfen werden. Wenn die autonome Vernunft gegenüber dem personalen Standpunkt als Rückzug aus einer ursprünglich gegebenen Offenheit verstanden wird, kann das nicht bedeuten, dass im Sinne des Plessner’schen Schemas der unterschiedlichen Horizonte die menschliche Exzentrizität in ihr zurückgenommen würde. Die Vernunft – auch die autonome – verdankt sich ursprünglich der Exzentrizität und ist prinzipiell über die natürliche Zentralität hinaus. Oben wurde betont, dass jede Wahrnehmung des Transzendenten nachträglich in den Horizont subjektiver Intentionalität integriert werden kann. Auch wenn 3
Vgl. Kapitel 8, Die Ontologie der Person, 509–650.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
es die durch die unwillkürliche Spontaneität der Natur eröffnete Differenz gibt, tendieren die Standpunkte der Person und der autonomen Vernunft stets zu einer extensionalen Kongruenz. Dies gibt einen ersten Hinweis auf die unvermeidbare Labilität der begrifflichen Distinktion zwischen Person und autonomem Subjekt. Während Personalität die aus der eigenen Natur hervorgehende, sich der Vernunft als ihres Organs bedienende Selbsttranszendenz eines Lebewesens auf ein Jenseits seines Interessenhorizonts bezeichnet, kann die reflexive Bezugnahme auf dieses Transzendieren zu der sich als autonom verstehenden Subjektivität führen, der alles Gegebene mögliches Mittel zu in sich selbst gefundenen bzw. gesetzten Zwecken wird. Personalität und Subjektivität sind dabei als einander überlagernde Begriffe zu verstehen, was sich praktisch darin ausdrückt, dass diese Standpunkte im Daseinsvollzug ineinander übergehen. Wie der personale Standpunkt jederzeit in die autonome Subjektivität hinübergleiten kann, so eröffnet in dieser der Zweifel – also der Verdacht der Idiosynkrasie – die Möglichkeit einer umgekehrten Bewegung in Richtung der natürlichen Selbsttranszendenz. Dennoch muss für eine ontologische Bestimmung des Personbegriffs die spezifische Differenz zur autonomen Vernunft benannt werden können. Es ist ja offensichtlich so, dass die exzentrische Positionalität in der autonomen Vernunft anders interpretiert wird als vom personalen Standpunkt aus. 4 In der autonomen Vernunft wird die Abhängigkeit der exzentrischen Positionalität von der zugrunde liegenden Natur, die über sich hinausstrebt und die Exzentrizität erst hervorbringt, ausgeblendet und das transzendentale Bewusstsein zum absoluten Ausgangspunkt gemacht. Der Richtungssinn der natürlichen Vernunft, die über sich hinausstrebt, wird damit invertiert und auf die autonom verstandene Vernunft zurückbezogen. Damit erfolgt insofern ein Rückzug in die natürliche Zentralität, als das Eingeschlossensein in einen Horizont, das Kennzeichen der zentrischen Positionalität war, nun durch das abstrakte Konstrukt eines transzendentalen Bewusstseins, das nichts außerhalb seiner selbst zulässt, wiederholt wird. Diese Selbstgenügsamkeit erlangt die autonome Vernunft aber nur da-
Diese beiden unterschiedlichen Interpretationen werden bei Spaemann als Alternative einer spekulativ-dialektischen und einer metaphysisch-analogen Interpretation des cartesischen Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ wiederbegegnen. Vgl. die Abschnitte 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u. 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
durch, dass sie sich als absolute Vernunft und das Selbst als ihre Instantiierung begreift. Unter der Prämisse der Fundierung der Vernunft in der teleologisch verstandenen Natur ist diese autonome Vernunft ein Selbstmissverständnis, das immer in dem Widerspruch lebt, den natürlichen Richtungssinn, aus dem sie hervorgegangen ist, in sich selbst zurückzubiegen. Die andere Interpretation der Exzentrizität, die hier als personaler Standpunkt bezeichnet wird, reflektiert auf den Ursprung des Richtungssinns der natürlichen Vernunft in der menschlichen Natur. Die exzentrische Positionalität wird somit als ›Haben einer Natur‹ verstanden, durch das sowohl ausgedrückt wird, dass sie über die Zentralität des natürlichen Lebewesens hinaus ist, als auch, dass sie nur aus dem Richtungssinn dieses natürlichen Wesens hervorgeht. Die erste wesentliche Differenz zum Standpunkt der autonomen Vernunft besteht also darin, dass die Personalität sich nicht als Anfang und Ausgangspunkt verstehen kann, sondern sich selbst aus ihrer Relationalität zu ihrer Natur versteht. Das personale Überdie-Natur-hinaus-Sein füllt sich inhaltlich aber erst durch Akte der Erkenntnis des Transzendenten. Wenngleich die Standpunkte der autonomen Vernunft und der Personalität also zu extensionaler Kongruenz tendieren, ist der wesentliche Unterschied zwischen ihnen ein intensionaler, 5 insofern der Richtungssinn der Vernunft dort auf die abstrakte Entität eines Selbst zurückgelenkt wird, während er hier auf ein Zentrum der Bedeutsamkeit außerhalb des eigenen Horizonts verweist. Was den personalen Standpunkt von der autonomen Vernunft vor allen Dingen unterscheidet, ist sein Weltverhältnis. Streng genommen kann in Bezug auf die autonome Vernunft von einem Weltverhältnis gar nicht die Rede sein, da es für diese keine Welt jenseits des transzendentalen Bewusstseins des Subjekts gibt. Vom personalen Standpunkt aus geht es nicht um eine im transzendentalen Bewusstsein konstituierte Welt, sondern ganz wesentlich um das Verhältnis zu einem Transzendenten. Das erste Transzendente ist vom personalen Standpunkt aus die eigene Natur. Insofern diese als eine solche begriffen wird, die durch die Vernunft uns in uns immer schon voraus ist, ist sie wesentlich ein Uneinholbares. Das Verhältnis zur eigenen Natur steht modellhaft für das personale Weltverhältnis 5 Vgl.: »Unter der Extension eines Begriffes versteht man den Begriffsumfang im Unterschied zur Intension als dem Begriffsinhalt.« – Kauppi, Extension/Intension, in: HWPh II, col. 878.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
überhaupt. Von großer Bedeutung für den weiteren Gedankengang ist es daher, sich am Modell des personalen Verhältnisses zur eigenen Natur zu verdeutlichen, in welcher Weise das Transzendente im personalen Daseinsvollzug gegeben sein kann. Vom personalen Standpunkt aus kommt zum Bewusstsein, dass das natürliche Lebewesen, als das die Person sich wahrnimmt, nicht notwendig so ist, wie es ist, sondern dass es auch anders sein könnte. Das heißt, die eigene Natur ist vom personalen Standpunkt aus als kontingent gegeben. Sie erscheint als durch eine Vielzahl von Faktoren – zufällige genetische Prädispositionen, zufällige Einflüsse der sozialen Umwelt – bedingt, darüber hinaus begreift die Person sich im biographischen Kontext als Resultat kontingenter Entscheidungen. Kontingent ist alles an der Person, was eine qualitative Bestimmtheit, ein Sosein, aufweist und damit auch anders sein könnte. Insofern die eigene Natur in ihrer Bedingtheit durch die Welt gesehen wird, erscheint diese selbst vom personalen Standpunkt aus als kontingent. Der Begriff Kontingenz – »griech. ἐνδεχόμενον, lat. contingentia« 6 – bzw. das Adjektiv kontingent – »zu lat. contingere ›zuteil werden‹, ›widerfahren‹ (bzw. zur impersonalen Form contingit ›es ereignet sich‹, ›es geschieht‹)« 7 – bezeichnet »das unvollständig Bestimmte und somit das, was auch anders möglich ist« 8. Obwohl die Geschichte dieses Begriffs »vielfach verschlungen und nicht leicht zu entwirren« 9 ist, kann ein Blick auf die geschichtlichen Zusammenhänge im Gedankengang hilfreich
6 Brugger S. J., Kontingenz. I. Der Begriff der Kontingenz in der Philosophie, in: HWPh IV, col. 1027. 7 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, s. v. kontingent. 8 Makropoulos, Kontingenz und Handlungsraum, 23. – Vgl. auch: »Kontingent ist, was auch anders möglich ist. Und es ist auch anders möglich, weil es im Sinne klassischer Ontologie keinen notwendigen Existenzgrund hat.« – Makropoulos, Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, 59. – Vgl. auch: »Strenggenommen ist ›Kontingenz‹ eine zweifach bestimmte Modalkategorie und bezeichnet das, ›was weder notwendig noch unmöglich ist‹. So E. Scheibe, ›Die Zunahme des Kontingenten in der Wissenschaft‹, in Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), S. 5. Und im Unterschied von ›Möglichkeit‹ im Sinne von dynamis, bezeichnet ›Kontingenz‹ die ›zweiseitige Möglichkeit‹, sofern die einseitige Möglichkeit durchaus notwendig sein kann. Dazu vgl. D. Frede, Aristoteles und die ›Seeschlacht‹, Göttingen 1970, S. 53 ff., sowie G. Striker, ›Notwendigkeit mit Lücken‹, in Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), S. 148.« – Ebd. Fn. 18. 9 Brugger S. J., Kontingenz. I. Der Begriff der Kontingenz in der Philosophie, in: HWPh IV, col. 1028.
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
sein. 10 Ein Denken, das von natürlichen Substanzen ausgeht, ohne diese zu objektivieren, kann Kontingenz nicht denken: »Den antiken Griechen war grundsätzlich der Gedanke fremd, daß die Welt im ganzen nicht oder anders sein könnte.« 11 Die in den kosmogonischen Vorstellungen begründete antike Überzeugung von der »Notwendigkeit der Welt« 12 spiegelt sich philosophisch im »Vorrang der Frage nach dem Wesen vor dem Existenzbegriff« 13 in der klassischen Metaphysik wider. Die Entstehung des Kontingenzbewusstseins ist verknüpft mit der Fähigkeit, die exzentrische Positionalität des Menschen ausdrücklich zu reflektieren. Der so in die Welt kommende personale Standpunkt nimmt die eigene Natur in ihrer lebendigen Zentralität als kontingentes Sosein wahr. Die Perspektive aber, von der aus das Kontingente als eine realisierte Möglichkeit neben anderen nicht realisierten erscheint, kann selbst nicht Teil der kontingenten Welt sein. Das Kontingenzbewusstsein kann entweder eine Täuschung sein in dem Sinn, dass die vorhandenen Bedingungsfaktoren des als kontingent Wahrgenommenen nicht im ausreichenden Maß erkannt werden, oder es setzt voraus, dass es einen notwendigen Standpunkt gibt. Dieser Standpunkt geht in der personalen Interpretation der menschlichen Exzentrizität aus der als uneinholbar verstandenen Natur durch die reflexive Wendung auf die Selbsttranszendenz hervor. Er ist selbst nicht Teil der kontingenten Welt und hat keine qualitative Bestimmung, kein Sosein. Mit dem personalen Standpunkt ist daher eine ontologische Differenz zwischen kontingentem, qualitativ bestimmtem Sosein und bestimmungslosem Dasein, das sich als notwendig begreift, eingeführt. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass mit der aus dem Kontingenzbewusstsein abgeleiteten Notwendigkeit ein Prädikat in die ontologische Bestimmung der Personalität aufgenommen wird, das, auch wenn es nicht zwangsläufig in die Dimension religiösen Denkens führt, so doch zumindest im Sinne eines Agnostizismus als antireduktionistisch bezeichnet werden muss. 14 Im Folgenden wird Bezug genommen auf Franz Josef Wetz’ Aufsatz »Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?«, dessen programmatischer Titel bereits auf die vom Autor intendierte Überwindung des Kontingenzbewusstseins als einer historischen Täuschung hinweist. 11 Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?, 82. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Historisch wurde die mit dem personalen Standpunkt gegebene Daseinserfahrung zunächst mit Hilfe der Offenbarungstheologie verarbeitet. Kontingenz wurde denk10
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
Damit scheint diese Interpretation auf eine metaphysische Theorie hinauszulaufen. Für die Personalität ist jedoch wesentlich der Verzicht auf eine distanzierende Reflexion, die den personalen Standpunkt noch einmal zu einer Entität zu hypostasieren versucht. Ein solcher Versuch läge vor in jeder theologischen und metaphysischen Interpretation, die nicht vom personalen Standpunkt aus, sondern scheinbar weltlos in seinem Namen argumentiert. Ein solcher Versuch führt notwendig zum Verlust des personalen Standpunkts und zu dem oben erwähnten Hinübergleiten in die Vorstellung einer autonomen Vernunft, die in sich selbst ihren Anfang hat. 15 Die metabar im Zusammenhang mit dem biblischen Gedanken der Erschaffung der Welt aus dem Nichts: »Daß etwas ist und nicht nichts ist, und daß ausgerechnet alles so ist, wie es ist, fällt gewissermaßen erst in dem Augenblick auf, an dem sich die Möglichkeit des Überhauptnichtseinmüssens zu erkennen gibt. Diese zeigt sich jedoch erst, als die Welt das Werk eines freien Willens genannt wurde, eben das Werk der schöpferischen Macht Gottes.« – Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?, 84. – Schöpfungstheologische Vorstellungen ermöglichen ein Bewusstsein der Kontingenz der Welt, insofern der göttliche Welturheber als Grund des Auch-anders-sein-Könnens der Welt erscheint. 15 Die philosophische Verarbeitung des Kontingenzbewusstseins ging gerade diesen Weg und zeigt, dass die neuzeitliche Philosophie keine Philosophie der Person ist, sondern die eines absoluten, weltlosen Subjekts. Diese aber läuft auf eine Eliminierung der metaphysischen Kontingenz hinaus. F. J. Wetz bezeichnet die in der Schöpfungstheologie fundierte Weltsicht als die erste von vier Entwicklungsstufen des metaphysischen Verständnisses der Kontingenz. »Es war vor allem Kant, der, Kontingenz vermutlich erstmals als Zufälligkeit übersetzend, dieses alte Verständnis von Kontingenz der Welt aufs tiefste erschütterte.« – Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?, 89. – Mit dem »Aufkommen von Zweifeln an der Schöpfungsphilosophie« wurde der mit der Idee eines göttlichen Urhebers aufs engste verbundene Gedanke der Kontingenz der Welt zu einer »nicht mehr ohne weiteres zu beseitigende[n] Leerstelle im System möglicher Weltdeutungen« – Ebd. 92. – Die spezifisch nachchristliche »Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts« – ebd. 98 –, musste, wenn sie nicht offen gelassen wurde, die Vernunft überfordern und zu einer »Metaphysik des göttlichen Absoluten« – ebd. 92 – führen. Der nächste Schritt in der Entwicklung war – angetrieben von den modernen Naturwissenschaften – die philosophische Einsicht in die »absolute Grund- und Zwecklosigkeit des Ganzen« – ebd. 93 –, womit bereits als letztes Stadium des metaphysischen Verständnisses der Kontingenz die nihilistische Konsequenz vorbereitet war, die im 19. Jahrhundert vor allem von Nietzsche gezogen wurde: »An die Stelle der ursprünglichen Bedeutung von Kontingenz der Welt ist deren absolutes Gegenteil getreten. Einst erschien das Ganze als kontingentes Faktum und war gerade als solches gerechtfertigt, da es Gottes Erwählung und Bejahung sicher sein konnte. Jetzt erscheint es als ungerechtfertigt, weil es keinen letzten Grund und Zweck mehr besitzt. Daß alles ganz anders sein könnte und überhaupt nicht zu sein bräuchte, beweist nur noch, daß es besser wäre, wenn es überhaupt nicht existierte.« – Ebd. 95. – Die Entwicklung ist damit allerdings nicht
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
physische Kontingenz der Welt ist ausschließlich im personalen Daseinsvollzug gegeben und jedes Bemühen, ihren Ursprung begrifflich fassen zu wollen, hat den personalen Standpunkt in einer distanzierenden Reflexion bereits zugunsten der autonomen Vernunft aufgegeben. Stattdessen eröffnet Personalität aber eine andere Möglichkeit der Reflexion. Da die Person ihr Weltverhältnis am Modell des Verhältnisses zu ihrer eigenen Natur ausbildet und die eigene Natur vom personalen Standpunkt aus stets ein Uneinholbares ist, enthält abgeschlossen, da sich nunmehr nach Wetz die Möglichkeit bot, die »Erwartung eines obersten Grundes und letzten Zweckes der Welt« – ebd. 95 – selbst aufzugeben und »das grund- oder zwecklose All […] als sich selbst genügend« – ebd. 100 – vorzustellen: »Der Schluß ist unvermeidlich: Die Formel Kontingenz der Welt ist heute ein Anachronismus, der etwas bezeichnet, das es wahrscheinlich gar nicht gibt.« – Ebd. 101. – In der postmetaphysischen Philosophie – Wetz führt als Beispiel R. Rorty an – wird der Begriff Kontingenz »nicht mehr auf die Welt selbst […], sondern nur noch auf deren Deutungen und dazu auf unsere Selbsterfahrung und Gesellschaft« – ebd. 101–102 – bezogen. Die naturalistische, Kontingenz ausschließende Weltsicht führt so ohne jeden inneren Widerspruch zu einer postmetaphysischen Kontingenzphilosophie: »Nach dem Tode Gottes und der Trauerarbeit darüber schwindet die metaphysische Kontingenz der Welt in jeder erwähnten Hinsicht; zurück bleibt eine selbstgenügsame Natur, die auch den Menschen einschließt, der jetzt keiner besonderen Wertung unterliegt. Aber gerade in dieser, von keiner metaphysischen Kontingenz mehr durchsetzten und überlagerten Natur wird die Menschenwelt schließlich Ort metaphysisch neutraler Kontingenz – und das nicht, obwohl der Mensch nur ein wesenloses Stück Natur ist, sondern gerade weil er bloß ein solches ist.« – Ebd. 104 (kursiv im Original). – In dieser postmetaphysischen Kontingenzphilosophie bleibt »als Rest unvermittelbarer Kontingenz« – ebd. – der Mensch mit seinen existentiellen Fragen, auf die er in diesem Weltbild keine Antworten findet. Hier empfiehlt Wetz den »existentielle[n] Realismus, die Unvermeidlichkeiten von Sorge, Mühe und Not anzuerkennen und das Unabänderliche so zu nehmen, wie es kommt und es sich trifft«. – Ebd. 106. – Die der von Wetz vorgetragenen naturalistischen Argumentation zugrunde liegende Reflexionsposition ist die einer autonomen, weltlosen Vernunft. Im Rahmen der vom Plessner’schen Schema ausgehenden Überlegungen zur exzentrischen Positionalität wurde dargelegt, dass die Reflexionsposition der autonomen Vernunft durch den Gedanken eines absoluten Bewusstseins, dessen Instantiierung sie ist, möglich wird. Die Objektivierung des Ursprungs der Kontingenz – Gott bzw. das Absolute – geht also aus demselben Schritt hervor wie die Reflexionsposition des transzendentalen Subjekts, das außerhalb der Welt steht. Wetz legt in seiner Darstellung der Geschichte des Kontingenzbewusstseins dar, wie – seiner Meinung nach folgerichtig – der Gedanke metaphysischer Kontingenz in mehreren Stufen überwunden wird und zur postmetaphysischen Kontingenzphilosophie führt, argumentiert dabei aber durchgängig eben aus derjenigen Reflexionsposition, die genealogisch derselben Interpretation der menschlichen Exzentrizität entspringt wie der Ursprung der nach Wetz zu liquidierenden metaphysischen Kontingenz. Wetz’ Naturalismus schlägt damit dialektisch um in eine Spielart des Spiritualismus.
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die Wahrnehmung zumindest anderer Lebewesen ein analoges Verhältnis, das auf ein im Erscheinen sich Verbergendes verweist. Es widerspräche der intuitiven Wahrnehmung, andere Lebewesen als kontingentes Seiendes zu betrachten ohne ein analoges, für sie konstitutives Uneinholbares. Diese analoge Wahrnehmung ist die Anerkennung anderer Wesen als Mitsein. Anerkennung bedeutet, dass die im Daseinsvollzug erlebte Distanz zur eigenen Kontingenz analog auch anderen Wesen zugestanden wird. Somit erlaubt der personale Standpunkt zwar keine Instrumentalisierung der Distanz zur eigenen Natur, aber eine analoge Wahrnehmung ähnlicher Verhältnisse in anderen Wesen. Die aus dem personalen Selbst- und Weltverhältnis abgeleitete ontologische Differenz von Sosein und Dasein bleibt ein abstrakter Gedanke, solange nicht ihre konkrete Bedeutung für die Personalität expliziert wird. Diese besteht darin, dass die Person durch die Distanz zu ihrer teleologisch verstandenen Natur frei wird, frei von ihrer Natur und frei für die Welt. Der Begriff von Freiheit, der hier ins Spiel kommt, ist einerseits nicht ablösbar von der unwillkürlichen Spontaneität der menschlichen Natur, die durch ihre Selbsttranszendenz den personalen Standpunkt hervorbringt; andererseits ist diese Freiheit aber auch ein Transzendieren der Natur selbst, das sich einem von außen Entgegenkommenden verdankt. Der Gedanke der Freiheit führt somit in eine Paradoxie, die sich nur auflösen lässt, wenn die Alternative der Bewegungen von innen und von außen als abstrakte Trennung eines ursprünglich Zusammenhängenden begriffen wird. Für die zur Freiheit führende Bewegung der Selbsttranszendenz gilt: »Übersteigen ist ein Überstiegenwerden« 16. Grammatisch gesprochen ist die Diathese des Verbs transzendieren weder aktivisch noch passivisch, sondern als Medium zu verstehen. Das personale Verständnis von Freiheit erfordert noch einmal eine Verdeutlichung der vollzogenen Abstoßung vom Paradigma der Transzendentalphilosophie, da mit Freiheit hier offenbar etwas anderes gemeint ist als das, was die transzendentalphilosophische Tradition darunter versteht. Freiheit im personalen Verständnis ist abzuheben vom Begriff der Autonomie, durch den – als Antonym zu Heteronomie – die »Möglichkeit der Selbstbestimmung des Menschen im Gegensatz zur Abhängigkeit
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von der Macht und dem Zwang anderer« 17 und somit im philosophischen Sprachgebrauch Freiheit im engeren Sinn bezeichnet wird. 18 An dieser Stelle soll in einem kurzen Exkurs auf das Denken Kants Bezug genommen werden, mit dem die transzendentale Wende in der Philosophie vollzogen wurde. »Autonomie – i[…]m Sinne einer Selbstgesetzgebung durch Vernunft – kann als Strukturprinzip der gesamten Kantischen Philosophie verstanden werden: ›Alle Philosophie … ist Autonomie‹ 19.« 20 Kants Begriff der Autonomie enthält negativ den Ausschluss aller Einflüsse auf das Subjekt, die zum Ursprung einer Heteronomie werden könnten, und positiv die selbst gewählte Bindung des guten Willens an das Sittengesetz in Form des kategorischen Imperativs: »Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.« 21 Dieses Prinzip der Autonomie bildet gleichzeitig den positiven Freiheitsbegriff, der mit dem Befolgen des Sittengesetzes zusammenfällt: Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben, denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe […]. 22
Freiheit im kantischen Sinn hat nichts mit Selbsttranszendenz zu tun und ist erst recht nicht verbunden mit einer unwillkürlichen SpontaWörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer, Hamburg 1998, s. v. Freiheit. 18 Vgl.: »Die Frage, ob der menschliche Wille sich selbst bestimmen könne, also autonom sei, oder ob er von fremden Mächten bestimmt werde, also unfrei, heteronom sei, hat die Philosophie zu allen Zeiten beschäftigt und hat im allgemeinen drei verschiedene Antworten hervorgerufen: Entweder haben Philosophen den Willen für autonom erklärt und diese Autonomie als den Gegensatz zur Ursächlichkeit, als die Aufhebung des Kausalitätsgesetzes für den Willen angesehen. Oder sie haben den Willen für heteronom und alles Handeln lediglich für verursacht erklärt, wie die Vorgänge in der Natur es sind. Oder sie haben die Selbstbestimmung des Willens nicht geleugnet, aber die Freiheit des Willens nicht für den Gegensatz zur Ursächlichkeit, sondern für eine bestimmte Form der Verursachung genommen.« – Ebd. 19 Verweis durch Anmerkung [3] auf: Kant, Opus postumum. Akad.-A. 21, 106. 20 Pohlmann, Autonomie. 2. Der Autonomie-Begriff in der Philosophie, in: HWPh I, col. 707. 21 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 74–75. 22 Ebd. 85–86. 17
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neität der menschlichen Natur. Seinem Verständnis der Freiheit als Autonomie liegt eine dualistische Vorstellung vom Menschen zugrunde. Die auf Philon von Alexandreia zurückgehende Unterscheidung eines κόσμος αἰσθητός und eines κόσμος νοητός, die sich bei Augustinus als Unterscheidung eines mundus sensibilis und eines mundus intelligibilis findet, erscheint in Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« als Unterscheidung von Sinnen- und Verstandeswelt: 23 Dabei erfährt sich der Mensch als ›Bürger zweier Welten‹, der seine Handlungen aus zwei verschiedenen Standpunkten beurteilen muß 24. Als zur Sinnenwelt gehörig bemerkt er all »seine Handlungen als bestimmt durch andere Erscheinungen, nämlich Begierden und Neigungen«, und also durch Heteronomie 25. Aber als ein »zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt … ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie … verbunden, mit diesem aber das allgemeine Princip der Sittlichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen … zum Grunde liegt« 26. 27
Kant nahm somit in seine Konzeption die unter dem Einfluss der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert in der Philosophie Verbreitung findende Annahme einer universalen kausalen Vorhersagbarkeit aller Ereignisse der physikalischen Welt auf. 28 Dem Vgl. Probst, Sinnenwelt/Verstandeswelt, in: HWPh IX, col. 869. Verweis durch Anmerkung [54] auf: G. Antonopoulos, Der Mensch als Bürger zweier Welten (1958). 25 Verweis durch Anmerkung [55] auf: Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akad.-A. 4, 453. 26 Verweis durch Anmerkung [56] auf: Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akad.-A. 4, 452 f. 27 Probst, Sinnenwelt/Verstandeswelt, in: HWPh IX, col. 874. 28 Vgl.: »Das Neue in der Einstellung der Philosophie des 17. Jh. zur DeterminismusProblematik besteht darin, daß man den menschlichen Willen nicht mehr allein durch Gott und das von ihm abhängige moralisch Gute, sondern durch die Naturgesetze bestimmt sieht.« – Kuhlen/Seidel/Tsouyopoulos, Determinismus/Indeterminismus. I, in: HWPh II, col. 151. – Vgl. auch: »Von der Voraussetzung her, daß alle Naturgesetze mechanischer Art seien und die Welt eine große ›Weltmaschine‹ darstelle [Verweis durch Anmerkung [2] auf: H. Dingler, Der Glaube an die Weltmaschine und seine Überwindung (1932)], ergab sich der Gedanke einer vollständigen Determiniertheit der Welt. Laplace hat dies durch die Vorstellung einer übermenschlichen Intelligenz illustriert: ›Ein Geist, der für einen Augenblick alle Kräfte kennen 23 24
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Menschen »als mit innerer Freiheit begabte[m] Wesen (homo noumenon)« stellt Kant den Menschen als »Naturwesen (homo phaenomenon)« 29 gegenüber. 30 Das Naturwesen ist für ihn Teil derjenigen Welt, in der »alles nach einem allgemeinen, notwendigen Gesetz geschehen müsse, welches die Möglichkeit bietet, Künftiges vorherzusagen« 31. Die Vorstellung einer in der Natur gründenden Freiheit kann daher nur als prinzipieller Gegenentwurf zu Kants Verständnis von Freiheit als Autonomie gesehen werden, der eine Zurückweisung des physikalischen Determinismus zur Voraussetzung hat. 32 Durch würde, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage aller Wesenheiten, aus denen die Welt besteht, müßte, wenn er umfassend genug wäre, um alle diese Daten der mathematischen Analyse unterwerfen zu können, in derselben Formel die Bewegung der größten Himmelskörper und der leichtesten Atome begreifen, nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft und Vergangenheit läge seinem Auge offen da‹ [Verweis durch Anmerkung [3] auf: P. S. de Laplace, Essai philos. sur les probabilités (Paris 1814)].« – Frey, Determinismus/Indeterminismus. II, in: HWPh II, col. 155. 29 Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, 550. 30 Der deterministische Gedanke erstreckt sich genau genommen bei Kant über den Bereich des homo phaenomenon hinaus auch auf den des homo noumenon. – Vgl. dazu: »Kant löst das Determinismus/Indeterminismus-Problem theoretisch dadurch, daß es kein Widerspruch sei, Freiheit und Kausalität zu denken. Im Bereich der praktischen Vernunft ist Freiheit und Determinismus kein Gegensatz. Da ›Determinism‹ ›die Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe‹ ist, kann Freiheit nicht als ›Indeterminism‹, sondern nur als Determination durch das moralische Gesetz verstanden werden.« – Kuhlen/Seidel/Tsouyopoulos, Determinismus/Indeterminismus. I, in: HWPh II, col. 152. 31 Kaulbach, Natur. V. Neuzeit, in: HWPh VI, col. 470. 32 In eine Diskussion des physikalischen Determinismus kann an dieser Stelle nicht eingetreten werden. – Vgl. dazu: »Der gesamte Streit um die Frage, ob der Determinismus nun die Freiheit ausschließt oder nicht, erbringt keinerlei Erkenntnisgewinn über die Freiheit (wie immer man in diesem Streit optieren mag). Er ist insofern ein höchst verwirrendes Ablenkungsmanöver von einer philosophisch recht wichtigen und interessanten Frage.« – Buchheim, Unser Verlangen nach Freiheit, 116. – Buchheim konstatiert die prinzipielle Denkmöglichkeit einer »innerphysisch basierte[n] Freiheit« – ebd. 171 – auf der Grundlage einer ontologischen Differenzierung von physischen Ereignissen und Lebensäußerungen: »Wenn nun im Falle organischen Lebens zugleich in allen Körperteilen physiologische Ereignisse und Prozesse der diversesten Arten ablaufen und diese nur zusammen das Lebendigsein eines individuellen Organismus integrieren, dann ist klar, daß die Lebensäußerungen organischen Lebens eine Doppelnatur besitzen: Sie sind einerseits Cluster physiologischer Prozesse mit sehr unterschiedlichen Körperregionen als ihren ›Subjekten‹, an oder in denen sie sich vollziehen […]. Sie sind andererseits Regungen oder Tätigkeiten des gesamten Individuums, sofern es lebendig ist und in ihnen sein Leben fortsetzt […].« – Ebd. 40–41. – Dieses Nebeneinander von »Lebensäußerungen und organischen Prozessen« fasst Buchheim als »horizontalen Dualismus« – ebd. 41 – gegenüber den in
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diesen Gegenentwurf wird dem dualistischen Modell Kants die Vorstellung eines Kontinuums des Natürlichen und des Vernünftigen gegenübergestellt, aus dem heraus das personale Verständnis der Freiheit erst möglich wird. Freiheit im personalen Verständnis kann, wie dieser Exkurs gezeigt hat, nur gegen die kantische Zwei-Welten-Theorie entfaltet werden, weswegen die für eine Philosophie der Begegnung grundlegende Verbindung des κόσμος αἰσθητός und des κόσμος νοητός hervorgehoben werden muss. In Bezug auf die Sinnenwelt ist eine wesentliche Voraussetzung dieser Verbindung das teleologische Naturverständnis, die Überzeugung also, dass die natürlichen Wesen von sich aus auf etwas aus sind, weswegen jede Betrachtung nach dem Subjekt-Objekt-Modell sie bereits verfehlt hat. Natürliche Wesen sind nur zu verstehen aus der ursprünglichen Einheit der Bewegung, die mit ihrem Aussein-auf gesetzt ist. Die Verbindung der Sinnenwelt mit der Verstandeswelt ergibt sich aus der Paradoxie, dass es die Natur in ihrer teleologischen Nicht-Identität mit sich selbst ist, die sich in der Vernunft übersteigt, die paradoxerweise als Vernunft Natur bleibt und sich doch in das Andere der Natur verwandelt. Durch die reflexive Wendung – die Eröffnung der exzentrischen Positionalität – wird ein Transzendentes als Ziel des transformierten natürlichen Ausseins-auf in die natürliche Bewegung aufgenommen, so dass die ursprüngliche Einheit von Sinnen- und Verstandeswelt in dem Ereignis dieser Wendung fundiert ist. Diese Einheit kann erst sekundär auseinandertreten, indem von einer weltlosen Reflexionsposition das Wesen, in dem die Natur sich transzendiert hat, objektiviert und einer gegebenen Sinnenwelt eingegliedert wird. Der Schritt zu dieser Reflexionsposition kann nur als Täuschung erkannt werden, wenn die reflexive Wendung als Voraussetzung seiner Möglichkeit gedacht wird. Da diese Wendung immer schon intersubjektiv vermitder philosophischen Diskussion des Leib-Seele-Problems geläufigen vertikalen Dualismen wie der Supervenienz- oder der Emergenzthese, die entweder eine monistische Auflösung provozieren oder offen einen substantiellen Dualismus im Sinne Descartes’ vertreten – vgl. ebd. 41–42. – Den Vorzug seines Ansatzes fasst Buchheim wie folgt zusammen: »Der stattdessen vorgeschlagene horizontale Dualismus behauptet dagegen nicht, daß sämtliche organische Lebensäußerungen – von der fluchtbereiten Witterung einer Antilope bis zu den mathematischen Höchstleistungen eines Gödel – nicht rein körperlicher Natur und in einen Zusammenhang mit allen anderen physischen Begebenheiten der Welt eingebettet seien. Vielmehr behauptet er nur, daß Lebensäußerungen notwendiger Weise ein radikal anderes Subjekt haben müssen als Ereignisse körperlicher Art, nämlich ein Subjekt, das lebt.« – Ebd. 42.
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telt ist, ist der Gedankengang nun beim Ereignis der Begegnung angelangt und kann das der Sache nach ›Frühere‹ – πρότερον τῇ φύσει –, in der Reflexionsbewegung aber ›Spätere‹ – ὕστερον πρὸς ἡμᾶς – nun als der gesuchte Ausgangspunkt begriffen werden. Jede Wahrnehmung des Transzendenten ist ein Begegnungsereignis. Damit ist nicht präjudiziert, dass Begegnung nur als interpersonale denkbar ist, wenngleich für Personen eine Begegnung, die ihrem Wesen vollständig gerecht wird, nur in einer solchen möglich sein mag. Allgemein lautet aber eine zentrale These der Philosophie der Begegnung, dass natürliche Wesen durch ihre auf Überschreitung ihrer selbst angelegte Natur das Ziel ihrer natürlichen Bewegung nur in der Begegnung erreichen. Jedes Abstrahieren vom Ereignis der Begegnung, in dem von einem Subjekt aus die Selbsttranszendenz oder von einem Zwischen aus das Hervorgehen der Individuen gedacht werden soll, führt letztlich in die Paradoxie. Die Idee der Begegnung ist der Gedanke, dass alles Natürliche erst zu sich selbst kommt in der Überwindung seiner selbst, deren spezifisch personale Form das Vernünftige ist. Die Person entgeht der Selbstentfremdung nur durch das Erinnern der Natur in der Vernunft, das sich in der Begegnung ereignet. In dieser einführenden Explikation des philosophischen Problems der Begegnung war dieser Gedanke seit den epistemologischen Überlegungen zur Transzendenz bereits als implizites Organisationsprinzip anwesend. So wie dort die Transzendenz der subjektiven Intentionalität letztlich erst durch den Gedanken der Begegnung mit konkretem Inhalt gefüllt werden kann, so ist auch die ontologische Reflexion auf das personale Verhältnis zur eigenen Natur ein abstrakter Gedanke, solange er nicht durch das Ereignis der Begegnung, in dem die Freiheit von der Natur sich in ›Zeitgestalten‹ 33 verwirklicht, lebendig wird. Für die spezifisch interpersonale Begegnung gilt, dass im Überstieg über den subjektiven Interessenhorizont ein transzendenter Anderer erreicht wird, wodurch sich eine Umkehr der Perspektive ereignet. Aus dieser Umkehr entspringt das – zugleich mit eigenen und mit anderen Augen gesehene – Bild der Welt, das ein von jeder intentionalen Spannung befreiter Horizont ist, der auf ein anderes Zentrum der Bedeutsamkeit verweist, das nicht durch das eigene Interesse definiert ist. Zu einem Ganzen wird die Welt zuallererst in diesem Vgl. Spaemann, Personen, 121, u. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 611–613.
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Bild, das zugleich ein Anschauen und ein Sehen ist, in dem die Differenz von Subjekt und Objekt aufgehoben ist. Aus der Wahrnehmung des Bildes geht das Selbstsein der Begegnenden hervor. Selbstsein ist als ›Haben einer Natur‹ ontologische Substanz. Die Gedankenbewegung dieser Explikation des philosophischen Problems der Begegnung, die vom aristotelischen ὑποκείμενον als Substanz-Subjekt ausging, ist damit an ihrem Ziel angekommen, ein nicht in seiner gegenständlichen Wahrnehmung aufgehendes Selbstsein zu denken. Gedacht werden kann dieses aufgrund der im personalen Daseinsvollzug gegebenen ontologischen Differenz, durch die das Denken seinen eigenen Erkenntnisanspruch so relativieren kann, dass ihm aufgeht, was es selbst nicht hervorbringen kann.
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Zweiter Teil Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
Die Explikation des philosophischen Problems der Begegnung im ersten Teil verfolgte das Ziel, eine Denkbewegung zu vergegenwärtigen. Von dieser Bewegung werden die dem Werk Robert Spaemanns gewidmeten Untersuchungen des zweiten Teils bestimmt sein, in denen ausgehend vom Menschen die »Frage nach der arche, nach dem Anfang, dem Grund und dem Ganzen« 1 gestellt werden wird, denn: »Das Selbstverständnis des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit heißt Philosophie.« 2 Die Metapher der Denkbewegung hat hier den präzisen Sinn, dass der Mensch als lebendiges Wesen nur zum Gegenstand einer Philosophie werden kann, deren Denken auf lebendige, durch natürliche Bewegung charakterisierte Prozesse ausgerichtet ist, die ihrerseits nur aus der Selbsterfahrung lebendiger Wesen verstanden werden können. Da ein solches Denken nicht deduziert werden kann, ist es wesentlich ein hermeneutisches Auslegen der Natur. 3 Dieses nahm seinen Anfang vor zweieinhalbtausend Jahren im antiken Griechenland, so dass eine Philosophie der Begegnung nur beides sein kann: Hermeneutik der Natur und Hermeneutik der philosophischen Bemühungen der Vergangenheit, die auf jene gerichtet waren. 4 Eine solche philosophiegeschichtliche Reflexion ist selbst bereits ein Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (zuerst 1981 unter dem Titel »Die Frage ›Wozu‹ ?«), 20. 3 Spaemanns Münsteraner Lehrer Joachim Ritter schreibt in »Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Lehre des Glücks«: »Nicht von der Zielhaftigkeit der menschlichen Handlungen geht Aristoteles aus, sondern von dem allgemeinen Prinzip seiner Philosophie, daß die Betätigung alles Lebendigen die Aktualisierung naturgegebener Möglichkeiten ist, und daß so die Natur in ihrer Betätigung zugleich als Zweck zu dem Ende hindrängt, das ihnen Verwirklichung und Erfüllung gibt. Was für alles Lebendige gilt, das muß auch für den Menschen gelten; auch ihn treibt seine Natur als Zweck in der Macht seiner naturgegebenen Anlagen und seines Seinkönnens, aber sie tut es nicht so, daß sie wie bei den übrigen Lebewesen sein Handeln unmittelbar führt, sondern so, daß sie verborgen und hintergründig in den gewollten und gesetzten Zielen treibt; dem Wollenden und Handelnden eigentümlich fremd, drängt sie im Spiel seiner Ziele; die Natur, die ihn nicht unmittelbar bestimmt, zieht ihn als das in seinen Möglichkeiten und Anlagen vorgezeichnete Gute und als Zweck in den Vorstellungen, in denen er sich selbst sein Ziel und das Bild des höchsten Guts entwirft, dem er nachjagt: ›Alle tun alles wegen eines Guten, das ihnen das höchste Gut vorstellt‹ (Pol. I, 1. 1252 a 2–3). Weil der Mensch in diesen Zielvorstellungen lebt, darum kann er das ihm durch seine Natur vorgezeichnete Beste nicht ohne die Hilfe einer Einsicht erkennen, die ihn hierauf hinweist.« – Ritter, Metaphysik und Politik, 62– 63. 4 In Bezug auf Letztere spricht Ritter von der »hermeneutischen Hypolepsis«. – Ebd. 66. 1 2
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
Begegnungsgeschehen, das dem Anachronismus nur entgehen kann durch die Anerkennung von Disparatem, das sich dem eigenen Horizont nicht einfügen lässt. Eine mögliche Philosophie der Begegnung muss daher den Charakter eines Gesprächs über kontingente historische Ausprägungen des Denkens haben, in dem nach der Aktualisierbarkeit von Positionen im eigenen Horizont gefragt wird. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, den unvermeidbar hermeneutischen Charakter eines solchen Denkens auf ein Mindestmaß zu reduzieren und die notwendigen Grundbegriffe in ihrer philosophiegeschichtlichen Dimension in größtmöglicher Systematik darzulegen. Dabei ergab sich im Ausgang vom Subjekt des Denkens über den Akt der Selbsttranszendenz der Bezug auf ein Negatives, das durch den Gedanken der Fundierung der Vernunft in der Natur denkbar wird. Der Person als Subjekt dieses Denkens wurde mit ihrer Fähigkeit zur Kontingenzwahrnehmung eine Freiheit von ihrer Natur zugesprochen, die in Ereignissen der Begegnung Gestalt annehmen kann. Mit der in philosophiehistorischer Perspektive vollzogenen Entfaltung der Begriffe Subjekt, Transzendenz, das Negative, Kontingenz und Freiheit und ihrer spezifischen Verknüpfung zum Orientierungsrahmen einer möglichen Philosophie der Begegnung ist die Grundlage bereitet für die Untersuchung des Werks Robert Spaemanns im zweiten Teil. Aus der Entscheidung für die Konzentration auf sein Lebenswerk folgt wiederum die konkrete Auswahl großer Denker der Vergangenheit – Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes, Fénelon, Leibniz, Rousseau, Kant, de Bonald, Nietzsche, Scheler, Whitehead, um nur die wichtigsten zu nennen –, die im Rahmen der folgenden Untersuchungen von Bedeutung sein werden. In der Auseinandersetzung mit bestimmten historischen Ausprägungen des philosophischen Denkens soll im Folgenden versucht werden, den dargelegten Orientierungsrahmen einer Philosophie der Begegnung mit konkreten Argumentationen zu füllen, deren Tenor die Überredung zu jener Bewegung ist, die dieses Denken am stärksten charakterisiert. Ziel des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit ist es, von den ersten Veröffentlichungen Spaemanns Anfang der 1950er Jahre bis hin zu seiner 2012 erschienenen Autobiographie die allmähliche Entfaltung seines Denkens unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu untersuchen. Der gewählte Ansatz zielt also darauf, die Gedankenwelt eines Philosophen auf ihre Genese hin zu betrachten. Es könnte näherliegend erscheinen, stattdessen die Aufmerksamkeit von vorn86 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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herein auf bestimmte Hauptwerke zu konzentrieren, aus denen diese Gedankenwelt entwickelt werden kann. Die reifste Darstellung seiner Philosophie findet sich wohl in seinem 1996 erschienenen Buch »Personen. Versuche über den Unterschied von ›etwas‹ und ›jemand‹«. Auf die Frage, ob »man das ›Personen‹-Buch als Summe oder als Konvergenzpunkt« 5 seiner Philosophie verstehen könne, antwortete Spaemann 2007 in einem Interview: Das Personen-Buch setzt etwas voraus, was ich in ihm selbst nicht entfalte: den Naturbegriff. Im Personen-Buch ist klar, welche Rolle Natur spielt, daß »Person sein« bedeutet, eine Natur zu haben, und nicht, diese Natur zu sein. Nur gibt es gewisse Voraussetzungen, die meiner Meinung nach im Buch über Teleologie begründet und in Personen einfach vorausgesetzt werden. Wenn man das mitbedenkt, kann man vielleicht sagen, daß meine Überlegungen im Personen-Buch gipfeln. Ich würde es allerdings eher neben das Buch Die Frage Wozu? stellen. Und ich würde vielleicht auch noch Glück und Wohlwollen hinzunehmen. Man kann nicht sagen, daß alles zusammenfließt im Personen-Buch. Es ist eher eine Trilogie. Sie hängen natürlich zusammen – wie überhaupt auch hier wieder das Philosophische darin liegt, den Zusammenhang zu verstehen. 6
Da das Buch »Die Frage Wozu?« auf einer im Wintersemester 1976/77 gehaltenen Vorlesung über die Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens beruht, umfasst schon diese Trilogie einen Zeitraum von etwa 20 Jahren. Die Problemstellung des Buches über die Teleologie wurde ihrerseits vorbereitet in den philosophiehistorischen Arbeiten Spaemanns über de Bonald, Fénelon und Rousseau, durch die der in Betracht kommende Zeitraum noch einmal um etwa 25 Jahre ausgedehnt wird. Auch nach dem »Personen«-Buch sind zahlreiche Essays entstanden, durch die neue Gesichtspunkte – etwa in Fragen der Ästhetik – erschlossen und in knapper Form ›Summen‹ der Überlegungen aus mehreren Jahrzehnten gezogen werden 7, so dass die Aufgabe einer genealogischen Betrach5 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 131. 6 Ebd. 131–132. 7 Zu nennen wären beispielsweise die Essays »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« aus dem Jahre 2000 und »Die zwei Interessen der Vernunft« aus dem Jahre 2012. Vgl. Abschnitt 7.3.2, ›Summen‹ der Spaemann’schen Philosophie im Vergleich, 724–744.
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tung seines Werks unvermeidbar erscheint. Dennoch kann die Gegenfrage gestellt werden: Wenn es doch solche ›Summen‹ seines Werks gibt, welchen Erkenntnisgewinn verspricht dann die diachrone Untersuchung seiner Gedankenwelt? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der für Spaemanns Essayistik charakteristischen Darstellungsweise. Die in jüngeren Essays wie »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« entwickelten Argumentationszusammenhänge sind extrem verknappt und voraussetzungsreich. Sie können durchaus für sich stehen, setzen aber entweder eine gründliche Vertrautheit mit der Gedankenwelt Spaemanns voraus oder werfen in entsprechendem Umfang Fragen von Seiten des Lesers auf. Auf sie trifft als Beispiele seines Spätwerks zu, was Spaemann in einem Vortrag aus dem Jahre 1967 in Form eines Gleichnisses erläuterte: Ein Maler reduziert ein nach der Natur gemaltes Bild in der Absicht größerer Abstraktion fortschreitend bis zu dem Punkt, wo er wieder eine weiße Leinwand vor sich hat. Gibt es einen Unterschied der Leinwand vor und nach dem Prozeß? Nicht für den Betrachter, der nur das Resultat sieht. Aber für den Maler. Vorausgesetzt er erinnert sich an den Prozeß der Entstehung dieser weißen Leinwand. […] Und es ist demgegenüber ein Mangel an Reflexion, wenn Wittgenstein im letzten Satz des »Tractatus« schreibt, wer die Sätze des »Tractatus« verstanden habe, werde sie zugleich als unsinnig durchschauen und die Leiter wegwerfen, nachdem er hinaufgestiegen sei. 8 Das heißt, das Wesen des Denkens als Erinnerung nicht denken. So als ob es hier ein Oben gäbe, das vom Unten durch etwas anderes als durch die Leiter unterschieden sei, die hinaufführte. 9
Die hier anklingende Metapher Wittgensteins zitierte und kritisierte Spaemann an mehreren Orten, 10 um auf das hier hervorgehobene »Wesen des Denkens als Erinnerung« 11 aufmerksam zu machen, zuletzt in seiner »Autobiographie in Gesprächen«: Dieser Satz verkennt, dass dort, wo es um nicht-räumliches Oben und Unten geht, die Differenz zwischen Oben und Unten verschwindet, wenn die Leiter verschwindet – die Erinnerung. Philosophiegeschichte hat für mich die Bedeutung dieser Erinnerung. Sie ist nicht Historismus, sondern das Erfassen des Gewordenseins von philosophischen Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.54, 114. Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 49. 10 S. bspw. Spaemann, Personen (1996), 155, Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 223. 11 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 49. 8 9
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Gedanken. Wer sich davon freimacht, kann die Sache selbst nicht mehr verstehen, um die es ihm geht. Er ist dazu verurteilt, immer wieder von vorn beginnen zu müssen. 12
Diese Sätze beinhalten einerseits das Programm der Spaemann’schen Philosophie, der es wesentlich um das erinnernde Gegenwärtighalten der Natur 13 geht, sie geben andererseits aber nach meiner Überzeugung eine Anleitung zur Erschließung der komplexen Gedankenwelt Spaemanns selbst. Das »Erfassen des Gewordenseins« 14 dieser Gedankenwelt ist hier notwendige Voraussetzung für eine philosophische Hermeneutik seines Werks. In dem oben bereits zitierten Interview aus dem Jahre 2007 sagt Spaemann zur Eigenart seiner Gedankenentwicklung: Im Allgemeinen muß ich sagen, daß bei meinen eigenen Beiträgen die Tendenz und die Abfolge sehr ungeplant sind. Es gibt Philosophen, die deduktiv arbeiten. Sie haben einen Grundgedanken und entfalten dann logisch daraus eine Abfolge von Schriften. Bei mir ist es so, daß mir der innere Zusammenhang der Dinge, die ich geschrieben habe, immer erst nachträglich deutlich wird. Manchmal wird er überhaupt erst von anderen entdeckt. Denn ich neige dazu, philosophische Fragen in intentio directa anzugehen. Wie mein Denken im Zusammenhang mit dem steht, was ich früher gedacht habe, kann ich nachträglich reflektieren. Es ist aber nicht leitend bei [der] Arbeit. Es ist eher wie ein Puzzle […], das hinterher zusammengesetzt plötzlich ein Bild ergibt. 15
Das Erfassen des Gewordenseins der Gedankenwelt ist also notwendige, nicht jedoch hinreichende Voraussetzung für ein Verstehen, denn für dieses bedarf es auch der Entdeckung des inneren Zusammenhangs dieser Gedankenwelt. 16 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164. – Vgl.: »Spaemann befragt die Philosophiegeschichte wie kaum ein Zweiter. Aber er tut dies nie aus bloß historischem Interesse.« – Pietrowski, Alles, was ist, ist auf etwas aus, 13. – Vgl. ebenso: »Robert Spaemann treibt Philosophiegeschichte um der Philosophie willen und entwickelt umgekehrt seine zentralen Thesen gerne anhand philosophiegeschichtlicher Untersuchungen.« – Schöndorf, Der Philosoph Robert Spaemann, 315. 13 Vgl. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 78. 14 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164. 15 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 132. 16 Vgl. die Bemerkungen in der Einführung zur Charakterisierung von Spaemanns Werk als Hologramm durch H. Zaborowski bzw. zu seiner charakteristischen Essay12
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Im Rahmen der Untersuchung der Werke Spaemanns wird sich zeigen, dass die im ersten Teil explizierte Gedankenbewegung, die vom Subjekt ausgehend die Selbsttranszendenz thematisiert, weiter die Frage nach dem Worauf der Selbsttranszendenz unter dem Begriff des Negativen verfolgt, schließlich die Befreiung dieses Woraufs von seiner Negativität im Zusammenhang der Philosophie der Person bedenkt, in Spaemanns Werk selbst nachgewiesen werden kann, wobei in verschiedenen Schaffensphasen verschiedene Sequenzen dieser Bewegung vorherrschend sind. Den Zusammenhang der folgenden diachronen Untersuchung seines Werks stiftet somit die These, dass das Organisationsprinzip von Spaemanns Denken in der Idee der Begegnung gefunden werden kann. Um diese These zu begründen, werden die Detailuntersuchungen zu den einzelnen Schaffensphasen Spaemanns jeweils Sequenzen der im ersten Teil erläuterten Denkbewegung nachweisen und dabei allmählich den in ihr verfolgten Zusammenhang einer Philosophie der Begegnung hervortreten lassen. Es soll gezeigt werden, dass der in der Explikation dargelegte Orientierungsrahmen einer Philosophie der Begegnung zu den von Spaemann hervorgehobenen leitenden ›intentiones directae‹ seines Denkens in keinem Widerspruch steht, sondern dass er geeignet ist, eine nicht systematisch zu verstehende Kohärenz seines Denkens sinnfällig zu machen. Die Unterteilung des kontinuierlichen Entfaltungsprozesses von Spaemanns Werk in Abschnitte bzw. die Ziehung von zeitlichen Grenzen ist motiviert durch das Bemühen, Entfaltungsschritte sichtbar zu machen, kann aber gleichwohl nicht die Willkür einer solchen Grenzziehung verbergen. Gedanken, die an späterer Stelle ihre eigentliche Bedeutung gewinnen, sind an früherer schon angedeutet; 17 andere Gedanken erleben in der weiteren Entwicklung eine Neuinterpretation, so dass ihre isolierte Betrachtung in der Rückschau künstlich wirkt. 18 In solchen Fällen werden in den folgenden Untersuchungen durch Querverweise im Text oder in Fußnoten Hinweise auf istik und den spezifischen Eigenschaften des Essays. – Teilkapitel 1.2, Der Neuansatz im Denken der Begegnung, 34–35. 17 Als Beispiel zu nennen wäre etwa die besondere Bedeutung Rousseaus für Spaemann, die im Rahmen dieser Untersuchung erst in Kapitel 5 thematisch in den Mittelpunkt tritt, wiewohl sich bereits in der Dissertation über Bonald Hinweise auf Rousseau in diesem Sinn finden. 18 Erhaltung als Ziel der Gesellschaft ist ein wesentlicher Ertrag der Analyse von Bonalds Philosophie in Spaemanns Dissertation. Ab der Studie über Fénelon wird
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übergreifende Zusammenhänge gegeben. Spaemanns Schaffensprozess wird hier in sieben Abschnitte unterteilt, auf die im Folgenden ein knapper Ausblick gegeben werden soll. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen drei frühe Texte aus den 1950er Jahren. Ausgangspunkt ist Spaemanns in einem Vortrag gestellte Diagnose einer Krise der Gegenwartsphilosophie und das daraus abgeleitete Programm, angesichts einer »antagonistische[n] Wirklichkeit« die »Zusammengehörigkeit des Entzweiten ins Bewusstsein zu heben« 19. In dieser Absicht wendet sich Spaemann zunächst philosophiehistorischen Themen zu, innerhalb deren er jedoch genuin philosophische Interessen verfolgt. Am Anfang steht dabei die Auseinandersetzung mit dem Revolutionsgegner und Theoretiker der Restauration de Bonald, in dessen Denken er eine Überwindung des Ausgangspunkts neuzeitlicher Subjektphilosophie erkennt, dabei aber die Form dieser Überwindung als funktionalistische Relativierung der Metaphysik kritisiert. In Absetzung von de Bonald hält Spaemann an der aus seiner Sicht notwendigen Orientierung des philosophischen Denkens am Absoluten fest, – ein Standpunkt, der in einem weiteren frühen Text über Thomas von Aquin in einer für die weitere Entwicklung von Spaemanns Denken aufschlussreichen Weise dargelegt ist. Das vierte Kapitel ist ausschließlich Spaemanns Habilitationsschrift aus dem Jahre 1963 gewidmet, den unter dem Titel »Reflexion und Spontaneität« erschienenen Studien über Fénelon, in deren Mittelpunkt dessen wichtigster Gedanke steht, nämlich der der »reinen Liebe« 20. Mit diesem geht es um die Frage nach der Möglichkeit reiner Selbsttranszendenz, womit im Orientierungsrahmen der Explikation des philosophischen Problems der Begegnung nach der Problematisierung der Subjektivität im Zusammenhang mit de Bonald nun der zweite Schlüsselbegriff der dortigen Ausführungen den Leitfaden bildet. Ausgehend von Fénelon setzt sich Spaemann mit der so genannten bürgerlichen Ontologie kritisch auseinander und deutet die Lehre Fénelons als faktische Erneuerung des antiken substanzontologischen Denkens. Entscheidend für die genuin philosophische Bedeutung dieser Untersuchung Fénelons ist gemäß der hier auszuder Erhaltungsgedanke als »Inversion der Teleologie« neu interpretiert und gewinnt infolgedessen eine zentrale Bedeutung in Spaemanns Denken. 19 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110–111. 20 Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75.
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führenden These die geschichtsphilosophische Perspektivierung der Zusammenhänge, durch die künftige Entwicklungslinien von Spaemanns Denken bereits maßgeblich vorbereitet werden. Das fünfte Kapitel umfasst einen längeren Zeitraum bis zum Ende der 1970er Jahre, in dem zunächst anhand der existenzphilosophischen Interpretation des an inneren Widersprüchen reichen Werks Rousseaus Spaemanns philosophiehistorische Rekonstruktion des neuzeitlichen Naturbegriffs betrachtet wird, die er auf die verlorene Idee der Naturteleologie zurückführt. In Konzentration auf sein zusammen mit Reinhard Löw verfasstes Hauptwerk »Die Frage Wozu?« bzw. »Natürliche Ziele« wird zweitens die Geschichte sowohl des teleologischen Denkens von der Antike über das Mittelalter zur Neuzeit als auch des Antiteleologismus bis zu seiner Vollendung im modernen wissenschaftlichen Denken untersucht, vor deren Hintergrund dann Überlegungen Spaemanns und Löws zur Frage einer möglichen Wiederbelebung des teleologischen Denkens referiert werden. Im Rahmen des hier verfolgten Gedankengangs ist das Thema Naturteleologie vor allem mit dem Begriff des Negativen verknüpft, wobei den Überlegungen zum teleologischen Denken zugleich die Bedeutung zukommt, ein ausgezeichnetes Negatives – das natürliche ›Aussein-auf‹ – durch ›hermeneutische Hypolepsis‹ 21 zu erschließen und damit seine Negativität zu relativieren. In der philosophischen Bemühung um die Natur, die somit das fünfte Kapitel durchzieht, drückt sich die bereits im dritten Kapitel freigelegte Orientierung Spaemanns an einem absoluten Maßstab aus, die hier schließlich in einer geschichtsphilosophischen Betrachtung des Verhältnisses der Philosophie zum Absoluten sowie zur Bedeutung eines absoluten Bezugs im Rahmen ethischer Fragestellungen thematisiert wird. Die ersten drei Kapitel des zweiten Teils bilden insofern eine Einheit, als in ihnen wesentliche Grundlagen in Form philosophiegeschichtlicher, metaphysischer und anthropologischer Reflexionen gelegt werden, die erst in den folgenden Kapiteln allmählich zu einem Bild zusammengefügt werden. Im Rahmen der ersten drei Kapitel stehen heterogene und auf den ersten Blick disparate Entwicklungslinien in Spaemanns Denken noch schwach vermittelt nebeneinander. Die Schwerpunktsetzungen der Darstellung in diesen Kapiteln erfolgen somit in wesentlichen Aspekten aus der Antizipation von Synthesen, denen die Aufmerksamkeit der folgenden Kapitel gilt. 21
Vgl. Fn. 4.
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Das sechste Kapitel verfolgt vor dem Hintergrund der philosophiehistorischen Betrachtungen Spaemanns in den 80er Jahren, die um die Frage der Aktualisierbarkeit wesentlicher Aspekte des substanzontologischen Denkens der antiken Philosophie aus neuzeitlicher Perspektive kreisen, die Entwicklung der eigenständigen metaphysischen Konzeption Spaemanns, in der durch ein metaphysischanaloges Denken der Grundgedanke der Naturteleologie mit dem Verständnis menschlicher Vernunft als Fähigkeit zur Selbsttranszendenz zusammengedacht wird. Kerngedanken der sich abzeichnenden metaphysischen Konzeption sind der aus dem Verzicht auf Vergegenständlichung hervorgehende Akt der Anerkennung und die dadurch ermöglichte Repräsentation des Unbedingten als Korrelat dieses Aktes. Zu der systematischen Bündelung der aus den vorangegangenen Kapiteln bekannten Gedankenlinien tritt hier ein anthropologischer Gesichtspunkt hinzu, insofern die im fünften Kapitel freigelegte Orientierung an einem absoluten Maßstab als Worauf der Selbsttranszendenz einerseits genuin philosophisch verankert wird und durch diese Verankerung andererseits der Begriff der Kontingenz zu einem wesentlichen Interpretament der menschlichen Selbsterfahrung wird. Die in Grundzügen erfolgende Darstellung der metaphysischen Konzeption Spaemanns wird ergänzt durch die Bezugnahme auf in den 80er Jahren weitergeführte Gedanken zur Religionsphilosophie und zur philosophischen Ethik, die sich ihrerseits nun als in der metaphysischen Konzeption fundiert zu erkennen geben. Nachdem am Ende des sechsten Kapitels die Problematik stand, dass zu der in den 80er Jahren entwickelten metaphysischen Konzeption nur ein ›Sprung‹ führt, widmet sich das siebte Kapitel dem neuen Ansatz in Spaemanns Denkens, den er in seinem »Hauptwerk in Sachen praktischer Philosophie« 22, dem 1989 erschienenen Buch »Glück und Wohlwollen«, entfaltet. Als Schlüssel zum Verständnis dieses Textes wird die Perspektive seiner Untersuchung herausgearbeitet, die auf die Wahrnehmungsevidenz als Einheitspunkt von Ethik und Ontologie ausgerichtet ist. Zum einen werden im Nachvollzug der philosophiehistorischen Betrachtungen mit Konzentration auf Platon, Aristoteles und Kant Grundzüge, Erscheinungsformen und das Antinomisch-Werden des Eudämonismus sowie der Paradigmenwechsel zur neuzeitlichen Pflichtethik dargestellt; zum anderen wird gezeigt, wie Spaemann in der spezifischen Perspektivierung des Ge22
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 275.
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genstandes seines »Versuchs über Ethik« seine naturteleologisch fundierte metaphysische Konzeption als Instrument der Vermittlung zwischen Eudämonismus und Pflichtethik weiterentwickeln und ausgehend vom Gedanken des Wohlwollens eine neuzeitliche Aktualisierung der eudämonistischen Ethik entfalten kann. Als Pointe der Untersuchung ergibt sich dabei, dass der gewählte Ausgangspunkt einer praktischen Philosophie durch die perspektivische Ausrichtung auf den Einheitspunkt von Ethik und Ontologie zugleich als Keimzelle einer Argumentation der theoretischen Philosophie erscheint, die auf das anschließende achte Kapitel vorausweist. Die in »Glück und Wohlwollen« fehlende ontologische Fundierung jenes Einheitspunktes von Ethik und Ontologie leistet Spaemann in seinem wohl wichtigsten und schwierigsten Werk, den 1996 in erster Auflage unter dem Titel »Personen« erschienenen »Versuchen über den Unterschied von ›etwas‹ und ›jemand‹«. Diese setzen erstens seine kritische Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie fort, bringen zweitens seine seit den 80er Jahren Gestalt annehmende metaphysische Konzeption auf einen klaren, wenngleich vielschichtigen Begriff und rekonstruieren drittens und vor allem ausgehend vom Gedanken der ›Entdeckung der Person‹ jenes ontologische Bezugssystem, durch das wesentliche Intuitionen seines Denkens, die bis dahin unvermittelt erscheinen mussten, in Beziehung zueinander gesetzt werden. Unter dem Titel »Ontologie der Person« wird sich das achte Kapitel fast ausschließlich mit »Personen« beschäftigen, wobei die Bemühung um den sich entziehenden Begriff der Person selbst das Hauptthema der Untersuchung sein wird. Im Sinne Schellings wird eine negative Annäherung an den Begriff der Person von einer positiven Entfaltung seiner Bedeutung unterschieden, wobei der Übergang vom einen zum anderen durch eine hermeneutische Untersuchung des Ereignisses der Entdeckung der Person und seiner Verarbeitung geleistet wird, die von Spaemann durch verstreute Hinweise in den für das Verständnis seiner Philosophie zentralen Zusammenhang mit der Teleologie und ›Leben‹ als Schlüsselbegriff seines Denkens gebracht wird. Die philosophische Bedeutung der ›Entdeckung‹ wird darin zu suchen sein, dass mit ihr eine Freiheit von der Natur in der Begegnung von Personen in die Welt kommt, die den Schlussstein bildet, durch den Spaemanns metaphysische Konzeption selbsttragend wird. In den späten Essays zwischen 1996 und 2012 verfolgt Spaemann – so die These des den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit 94 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
abschließenden neunten Kapitels – in einem durch die Begriffe ›Ähnlichkeit‹ und ›Nähe‹ abgesteckten programmatischen Rahmen verschiedene Wege einer Verallgemeinerung der Ontologie der Person. Nachdem das achte Kapitel die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang von Teleologie und Personalität gelenkt hat, kann der Ausgang vom Personbegriff als selbst noch anthropozentrisch begriffen und ein neuer Ausgangspunkt von dem Zusammenhang gesucht werden, in dem die Person überhaupt erst denkbar wurde. Der Gedanke der Ähnlichkeit als ›fundamentales Medium unseres In-der-Welt-Seins‹ führt dabei zum ontologischen Begriff der Nähe, dessen Erschließung den ›personalen Ort‹ zur Voraussetzung hat und eine Deutung der Ähnlichkeit als qualitative Nähe ermöglicht. Die Konkretisierung dieser Begriffe erfolgt anhand der kritischen Auseinandersetzung Spaemanns mit der Scheler’schen Wertphilosophie und der Thematisierung des Schönen, dem in Spaemanns Denken für die Möglichkeit einer Seinserfahrung zentrale Bedeutung zukommt. Der in dieser Verallgemeinerung der Ontologie der Person vorausgesetzte Begriff philosophischen Wissens und seine theologischen Implikationen führen zu einer abschließenden Problematisierung des Verhältnisses von Wissen und Glauben, zu dem Versuch, das Absolute als Weise der Nähe zu begreifen, und zum Gedanken einer doppelten Codierung von Spaemanns Denken, deren genuin philosophischer Seite das letzte Wort gebührt.
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs 3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte
Im Frühjahr 1957 hielt Robert Spaemann vor der Groupe d’études allemandes in Paris einen Vortrag, 1 in dem er seine »Vorstellungen von der philosophischen Situation Deutschlands zu einem plausiblen Bild zu ordnen« 2 versuchte. Spaemann verleiht hier zunächst seinem emphatischen Philosophieverständnis »als Frage nach der arche« 3 Ausdruck, um sogleich eine skeptische Diagnose zu präsentieren: »Dieses Selbstbewusstsein der Philosophie ist nun allerdings seit Langem in eine Krise geraten, und es ist noch nicht auszumachen, ob die Philosophie diese Krise überleben wird.« 4 Diese Krise tritt in Erscheinung in der »modernen Wissenschaft und ihrem Anspruch, Erbe der Philosophie zu sein«, bzw. dem »historische[n] Bewusstsein, das Philosophie in einen umgreifenderen Horizont stellen zu können glaubt als den, der durch Philosophie selbst eröffnet ist« 5. Vor dem Hintergrund einer somit drohenden »positivistische[n] Selbstliquidierung« 6 der Philosophie gibt Spaemann in dem Vortrag einen Überblick über diejenigen Strömungen im gegenwärtigen Deutschland, »in denen die Philosophie diese Krise bedenkt« 7. Zunächst publiziert unter dem Titel: Courants philosophiques dans l’Allemagne d’aujourd’hui, in: Archives de philosophie 21 (1958), 274–297. Deutsche Übersetzung: Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte, Philosophische Strömungen im heutigen Deutschland, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 1 (1959), 290–313. Wieder publiziert in: Spaemann, Schritte über uns hinaus I, 81–113. 2 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 119. 3 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81. 4 Ebd. 81–82. 5 Ebd. 82. 6 Ebd. 85. 7 Ebd. 82. – Für Spaemanns weitere Entwicklung als Denker sind freilich gerade die in einem kurzen Exkurs eingefügten Ausführungen über die zeitgenössische thomistische Philosophie von Interesse, die jedoch aufgrund des fehlenden Bezugs auf das Thema der Krise der Gegenwartsphilosophie hier nicht im Mittelpunkt stehen. – Vgl. ebd. 83–85. 1
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
Spaemann stellt zunächst Nicolai Hartmann und Martin Heidegger – »die markantesten Antipoden der deutschen Philosophie« 8 – gegenüber, bevor er in einer kursorischen Betrachtung eine Reihe weiterer Denker thematisiert. Während Hartmanns Philosophie als »Metaphysik des Positivismus« bzw. »Krönung der Antimetaphysik« 9 offene Ablehnung seitens des Autors erfährt, bringt er Heideggers Ansatz einer Destruktion der abendländischen Metaphysik in bezeichnender Weise Sympathie entgegen: »Die Subjektivität des Subjekts, das Sum im cogito ergo sum sollte ausdrücklich untersucht werden, um von dorther allererst die Möglichkeit zu gewinnen, die Seinsfrage ursprünglicher zu stellen, als sie bisher immer gestellt worden war.« 10 Spaemann teilt offenbar mit Heidegger die Ablehnung der Verwandlung der »Wahrheit als Unverborgenheit des Seins in die subjektive Richtigkeit des Wahrnehmens und Aussagens« 11. In der aus diesem Ansatz entwickelten Philosophie Heideggers sieht er jedoch eine »freiwillige Sezession aus der durch Wissenschaft geprägten modernen Welt« 12 und kommt zum Fazit der Gegenüberstellung, dass Heideggers Denken »letzten Endes zu einer ähnlichen Kapitulation der Philosophie vor den facta bruta« 13 führt wie das Denken Hartmanns. Von den darüber hinaus betrachteten philosophischen Strömungen sind für Spaemanns weitere Entwicklung vor allen Dingen zwei von Bedeutung: die dialektische Philosophie Adornos und Horkheimers sowie das Denken Joachim Ritters. Die dialektische Philosophie, die »nicht zuletzt dank der ungewöhnlich scharfsinnigen und geistvollen Schriftstellerkunst Adornos zu einer Potenz im geistigen Leben Deutschlands geworden« 14 ist, deutet Spaemann als ein prinzipielles Andenken gegen die Unwahrheit durch bestimmte Negation, ohne dass allerdings eine anfängliche Wahrheit angenommen würde. Die hierin verborgene petitio principii führt Spaemann in seiner Analyse auf eine »eschatologische Vorstellung von einem Reich vollendeter Humanität« zurück, die keinen »geschichtlich realisierbaren Zu-
Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 87. Ebd. 88. 10 Ebd. 92. 11 Ebd. 93. 12 Ebd. 96. 13 Ebd. 97. 14 Ebd. 108. 8 9
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3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte
stand zum Inhalt hat« 15, sondern religiösen Ursprungs ist. An die Stelle einer theologischen Begründung trete jedoch bei Adorno und Horkheimer ein »psychoanalytische[r] Rousseauismus […], für den die Selbstentfremdung des Menschen tatsächlich mit seinem Menschsein beginnt« 16. Spaemann vergleicht diesen Rousseauismus mit der scholastischen Vorstellung einer »materia prima, deren Natur es ist, sich in bestimmte Gestalten zu entfremden«, von der ausgehend die »Negation des Bestehenden […] kein Ziel« finden kann und »manische Züge« 17 bekommt. Den Ansatz seines Münsteraner Lehrers Joachim Ritter hält Spaemann der dialektischen Philosophie gegenüber für überlegen, da Ritter »nicht nur methodisch, sondern der Sache nach das Problem der bürgerlichen Gesellschaft und den Entfremdungscharakter der modernen Welt von Hegel her zu bedenken« 18 versuchte. Er versteht »die ungeschichtlich-abstrakte Bedürfnisnatur des Menschen«, die für Adorno und Horkheimer der Ausgangspunkt ist, »von dem aus diese das Wesen der Entfremdung zu bestimmen versuchen«, bereits als »Produkt der Entfremdung« 19: »Ritter interpretiert mit Hegel die Entfremdung als Entfremdung der bürgerlichen, durch rationale Bedürfnisbefriedigung definierten Gesellschaft von ihrer eigenen geschichtlich-metaphysischen Herkunft.« 20 Die »Entzweiung« zwischen der Gesellschaft in ihrer Abstraktheit als »System der Bedürfnisse« 21 und dem geschichtlichen Menschen mit seiner das Religiöse, Sittliche, Ästhetische usw. umfassenden Herkunft sieht Ritter nicht als Entfremdung, sondern als etwas Positives, das die »welthistorische Gestalt« der Subjektivität erst hervorbringt. 22 Angesichts einer »antagonistische[n] WirklichSpaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 109. Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 109–110. 20 Ebd. 110. 21 Ebd. 22 Vgl. die Aufsätze »Hegel und die französische Revolution« (1956), in: Ritter: Metaphysik und Politik, 183–255, u. »Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität« (1961), in: Ebd. 357–376, bes. 370–374, zur »welthistorischen Gestalt« der Subjektivität siehe 367 u. 371. – Vgl. auch: »Freiheit im Modus der Entzweiung kann gegen diese Gefahr einer totalen Vergesellschaftung nur gesichert werden, wenn die entwerteten Mächte der Tradition ›als Mächte des persönlichen Lebens, der Subjektivität und der Herkunft‹ gleichwohl die Kraft behalten, um die notwendigen Abstraktionen der bürgerlichen Gesellschaft zu kompen15 16
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
keit« 23 versteht er es als Aufgabe der Philosophie, »die Zusammengehörigkeit des Entzweiten ins Bewusstsein zu heben« 24. Mit der zuletzt zitierten Formulierung der Aufgabe der Philosophie ist das Programm umrissen, das Spaemann selbst zunächst in den 1950er Jahren bei Joachim Ritter in Münster verfolgte, und es wird Aufgabe der vorliegenden Untersuchungen zu Spaemanns Werk sein zu zeigen, dass es auch weit darüber hinaus seine denkerische Entwicklung charakterisiert. Zum Abschluss seines Vortrags weist Spaemann auf ein ungelöstes Problem des Ritter’schen Ansatzes hin, das hier Erwähnung verdient. Die Bewahrung der »geschichtliche[n] Herkunftswelt« 25, um die es Ritter geht, muss auch die Bewahrung der Theologie und Metaphysik einschließen: »Metaphysik aber versteht sich als philosophia prima. Diese philosophia prima kann als sie selbst nicht durch eine Hermeneutik der geschichtlichen Wirklichkeit bewahrt werden, sondern nur durch sich selbst, durch den Vollzug metaphysischer Einsichten.« 26 Es besteht also ein Widerspruch zwischen dem mit der Metaphysik als philosophia prima gesetzten Anspruch und der hermeneutischen Methode Ritters. Einerseits fällt ein metaphysisches Denken »ohne Reflexion auf die geschichtliche Krise der Metaphysik […] hinter den Begriff von Philosophie zurück« 27, andererseits negiert die Metaphysik als Frage nach »dem, was immer ist« 28, ihrem Wesen nach eine geschichtliche Relativierung. Seinen Vortrag schließt Spaemann mit einem Satz, der seine denkerischen Bemühungen der folgenden Jahrzehnte antizipiert und auf den in verschiedenen Zusammenhängen zurückzukommen sein wird: »Bis Metaphysik ihr Verhältnis zur Theologie einerseits und zur Geschichte andererseits von Grund auf neu durchdacht hat, ohne darüber zur Theologie oder zur Geschichtsphilosophie zu werden, ist vielleicht ihr Anliegen in einer Geschichtsphilosophie, die ihr Verhältnis
sieren. Die gesellschaftliche Moderne bedarf also zu ihrer Stabilisierung der Vergegenwärtigung der eigenen historischen Substanz, mit anderen Worten: der verzweifelten, weil paradoxen Leistung eines historistisch aufgeklärten Traditionalismus.« – Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik (1983), in: Ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 88. 23 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 111. 24 Ebd. 110. 25 Ebd. 111. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd.
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3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte
zur Metaphysik bedenkt, besser aufgehoben.« 29 Mit de Bonald 30, Fénelon 31 und Rousseau 32 wählte Spaemann gerade am Anfang seiner Laufbahn philosophiehistorische Themen, in der Auseinandersetzung mit denen er nach Gründen der geschichtlichen Krise der Metaphysik suchte und dadurch an der genuin metaphysischen Frage nach der ἀρχή festhielt.
Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 112. Vgl. Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds, 102–125. 31 Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133– 184. 32 Vgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive, 187–214. 29 30
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3.2 Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds
Louis-Gabriel-Ambroise Vicomte de Bonald (1754–1840) verteidigte als Staatstheoretiker und Philosoph Monarchie und Katholizismus gegen die Französische Revolution und ihre Folgen, er gilt als Begründer des Traditionalismus 1 und Theoretiker der Restauration. Bonald bekleidete als Landadliger verschiedene Ämter, bevor er als Reaktion auf die Revolutionsereignisse 1791 nach Heidelberg emigrierte. Dort begann er seine schriftstellerische Tätigkeit, die er nach seiner Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1797 fortsetzte. Unter der Herrschaft Napoleons und nach der Rückkehr der Bourbonen stellte er sich durch Übernahme verschiedener Ämter in den Dienst der Restauration. Nach dem Ausbruch der Julirevolution von 1830 legte er alle Ämter nieder und zog sich auf seinen Landsitz zurück. 2 Spaemann übernahm von Joachim Ritter das Interesse an der Französischen Revolution, in der er mit seinem Lehrer den »Kristallisationspunkt des neuzeitlichen Denkens« 3 sah: »Hegel hat es als das Unerhörte dieser Revolution bezeichnet, daß hier der Mensch sich zum ersten Mal ›auf den Gedanken gestellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut hat‹.« 4 Die oben im Zusammenhang mit Ritter angedeutete Thematik der Entzweiung von Herkunft – Tradition – und Zukunft – Gesellschaft als »System der Bedürfnisse« – wurde durch die Französische Revolution gesellschaftliche Realität. Das Denken Bonalds, durch den Spaemann »auf eine neue Deutung und Kritik
Gemeint ist »eine philosophisch-theologische Richtung besonders der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich […], nach der die metaphysischen und religiös-sittlichen Grundwahrheiten nur durch eine letztlich auf die göttliche Offenbarung zurückgehende Tradition glaubend […] empfangen werden könnten; die individuelle Vernunft sei zu ihrer Erkenntnis unfähig.« – Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, s. v. Traditionalismus. 2 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 13–19. 3 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 104. 4 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 21. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des eingefügten Zitats: G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke XI., ed. Glockner, Stuttgart 1949, S. 557. – Ebd. 1
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3.2 Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds
der Französischen Revolution […] gestoßen« 5 war, schlug er selbst als Dissertationsthema seinem Professor vor, wobei sein Interesse an diesem philosophiehistorischen Thema durchaus im eigentlichen Sinne philosophisch war: »Daß in der Revolution nicht irgendein philosophisches Problem zur Sprache kommt, sondern die Philosophie selbst zum ersten Mal seit der Patristik zum Problem wird, dies in aller Schärfe erkannt zu haben, macht die Relevanz der konterrevolutionären Antithesen des Vicomte de Bonald aus.« 6 Die Philosophie selbst wird in der Revolution insofern zum Problem, als ihre »Zweideutigkeit« 7 zutage kommt; Bonald spricht von zwei Arten der Philosophie, einer »wahren« und einer »modernen«. Hier eine knappe Charakteristik zunächst der »wahren«, dann der »modernen« Philosophie in zwei kontrastierenden Zitaten aus der Dissertation über Bonald: Die Geschichte der wahren Philosophie ist die Geschichte der Lehre von den eingeborenen Ideen, wie sie sich in den Namen Plato, Augustin, Descartes, Malebranche, Bossuet, Fénelon, Leibniz verkörpert (III 24). Die wahre Philosophie ist »spiritualistisch und religiös« (I 15). Sie steht im Gegensatz zu den Systemen der Reduktion: der Reduktion Gottes auf die Natur, der Autorität auf die Regierten, des Denkens auf die Empfindung. 8 »La philosophie moderne« – das ist jene Philosophie, die in ihrem Ansatz darauf geht, die Einheit des Universums in Natur, Mensch und Gesellschaft nicht als ursprüngliche, übergeordnete, göttliche Einheit zu begreifen, sondern sie von unten, von den Elementen her allererst sich konstituieren zu lassen und zu legitimieren. […] Materialistische Anthropologie, sensualistische Erkenntnislehre, demokratische Politik und atheistische Metaphysik erscheinen in einer grandiosen Parallelität. »Philosophie moderne« – das sind Locke, Hume, Voltaire und Lamettrie, Condillac vor allem und die Enzyklopädisten sowie die Theoretiker der Revolution, St.-Lambert, Concordet und andere. 9
In dieser Gegenüberstellung sind die Wahrheitsansprüche denkbar klar verteilt, so dass die eigentliche Frage für Bonald darin besteht, warum die »wahre Philosophie« sich überhaupt als bestimmte MeiSpaemann, Über Gott und die Welt (2012), 106. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 21– 22. 7 Ebd. 26. 8 Ebd. 35. 9 Ebd. 31. 5 6
103 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
nung einem Konkurrenzverhältnis zu einer anderen Philosophie ausgesetzt sehen muss. Von einem Standpunkt aus, von dem die Wahrheitsfrage im Vorhinein entschieden ist, stellt sich das Problem so dar, dass nach den Gründen der unzureichenden gesellschaftlichen Wirksamkeit der wahren Philosophie gefragt wird: »Was ist es nun, woran die bisherige ›wahre‹, theistische, spiritualistische Philosophie gescheitert ist? Warum spielt sie, wo immer sie auftrat, nur die Rolle einer ›Meinung‹ neben anderen? Warum tritt die inhaltlich wahre ›Meinung‹ nicht in einer Form auf, die sie von den anderen unterscheidet?« 10 Bonald sieht seine Aufgabe also nicht darin, inhaltlich etwas Neues denken zu müssen, sondern vielmehr darin, eine jahrtausendealte Denktradition durch eine neue Art der Darstellung wieder in ihre ursprünglichen Rechte einzusetzen. Bonalds philosophischer Neuansatz, in dem für Spaemann seine besondere Bedeutung als Denker begründet ist, ist daher in erster Linie eine neue »Form […], die sie von den anderen unterscheidet«. Die Philosophie, um die es ihm geht, kann sich von der »wahren« Philosophie nicht hinsichtlich der in ihr enthaltenen Wahrheit unterscheiden, sondern nur in der Form, in der diese Wahrheit auftritt: Denn die absolute Form der Wahrheit ist für Bonald überhaupt nicht ihr bloßes Gewußtsein, ihre Anwesenheit in der »Meinung« von Individuen, sondern die äußere geschichtlich-gesellschaftliche Realisierung des menschlichen Daseins in Staat und Religion, näherhin in der christlichen Religion. Philosophie aber hat ihre absolute Form erst dann erreicht, wenn sie heraustritt aus der abstrakten Spekulation und diesen Zusammenhang von Wahrheit und Gesellschaft oder, was dasselbe ist, von Gott und Geschichte in seiner Vernunftnotwendigkeit aufweist. 11
Es genügt also nicht, was Wahrheit ist, abstrakt zu beweisen, sondern die Wahrheit muss in ihrer Wirksamkeit in der Realität konkret erfasst werden: »Die Realität aber ist die Gesellschaft und die Geschichte.« 12 Erst als »metaphysische Soziologie« 13, d. h. als eine Lehre, die die gesellschaftliche und geschichtliche Wirksamkeit metaphysischen Denkens reflektiert, wird die Metaphysik konkret. Es liegt hier ein Paradigmenwechsel vor, insofern der Ausgang nicht mehr vom 10 11 12 13
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 37. Ebd. 37–38. Ebd. 38. Ebd.
104 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt
Denken eines Individuums genommen wird, sondern von der gesellschaftlichen Verwirklichung des Denkens. Philosophie muss die Wahrheit denken als Lehre von der vollkommenen Gesellschaft und ihrer Geschichte: »Die wahre Philosophie in ihrer absoluten Form ist also Metaphysik der Gesellschaft und Philosophie der Geschichte« 14. Von dieser Aussage her wird deutlich, wie die Untersuchung der Philosophie de Bonalds sich einfügt in Spaemanns am Ende seines Pariser Vortrags von 1957 angedeutetes Programm der kritischen Fortsetzung des Denkens seines Lehrers Joachim Ritter. Ganz im Sinne Ritters kann es als Bonalds Anliegen verstanden werden, mit der Herkunftswelt des Ancien Régime auf der einen und der Revolutionsbewegung auf der anderen Seite »die Zusammengehörigkeit des Entzweiten ins Bewusstsein zu heben« 15. In diesem Bemühen deutet Bonald den Begriff der Metaphysik in einer Art und Weise um, die zu einer ähnlichen Infragestellung der Metaphysik als philosophia prima führen muss, wie Spaemann sie in Ritters Ansatz erkennt. In seiner Theorie begreift Bonald Religion als Präsenz Gottes in der Gesellschaft und Metaphysik als geistige Macht, in der sich die Gesellschaft ihrer eigenen Wahrheit vergewissert. […] Die Erste Philosophie muss deshalb eine Art MetaMetaphysik sein, das heißt also eine Theorie, die die gesellschaftliche Wirklichkeit der Metaphysik als Funktion gesellschaftlicher Selbsterhaltung reflektiert. 16
In der Auseinandersetzung Spaemanns mit Bonald wird also auch die indirekte kritische Auseinandersetzung mit Ritters Ansatz nachzuvollziehen sein. Im Folgenden sollen nun anhand von Spaemanns Studie die für den Gedankengang der vorliegenden Arbeit wesentlichen Aspekte des Bonald’schen Denkens herausgearbeitet werden.
3.2.1
Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt
Wenn Bonald gegen den Geist der Revolution aufbegehrt, so genügt es ihm nicht, deren Parolen zu widerlegen und ihnen Antithesen entgegenzustellen. Vielmehr ist es sein Anspruch, auf einer höheren Ebene deren innere Haltlosigkeit nachzuweisen. Statt Antithesen zu 14 15 16
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 38. Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107.
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
formulieren zu Thesen der Revolution, begreift er diese vielmehr selbst schon als antithetisch und versucht im Aufweis des Zusammenhangs der Revolution mit dem, was sie bekämpft, einen Standpunkt oberhalb dieser Dialektik einzunehmen: Wir werden dies immer als Struktur der Argumentation Bonalds entdecken: Er überläßt der Revolution keine ihrer Parolen, sondern seine Absicht geht dahin zu zeigen, daß alle Inhalte, deren Verwirklichung die Revolution zum Programm macht, immer schon realisiert sind und daß es vielmehr gerade die Revolution ist, die diese Inhalte durch ihren abstrakten Universalismus auflöst. 17
Proklamiert die Revolution also die Menschenrechte als politische Forderung, so verweist Bonald auf die geschichtliche Verwirklichung von Menschenrechten – im Ancien Régime – und deren konkrete Gefährdung durch eine abstrakte, von dem sie ermöglichenden gesellschaftlichen Zusammenhang absehende Verabsolutierung des Individuums – in der Revolution. Es geht nach Bonald in der Revolution um einen Aufstand des Menschen gegen das Ganze der Gesellschaft, der von der »modernen« Philosophie vorbereitet wurde: In der modernen Philosophie hat sich dieser Aufstand des »Menschen« theoretisch, in der Revolution praktisch vollzogen. Allen Meinungen dieser Philosophie liegt ein Interesse zugrunde (I 623), das Interesse des Menschen an der Befriedigung seiner ungeordneten Neigungen, seines Willens zur Macht, den er mit Freiheit verwechselt. 18
Die Art der Verwendung von »Interesse« und »Freiheit« an dieser Stelle gibt einen ersten Einblick in Bonalds spezifische Problematisierung von Begriffen. Das als Freiheit missverstandene Interesse ist bereits Resultat eines Prozesses der Subjektivierung, der die Freiheit aufhebt, so dass der volle Begriff der Freiheit nur zurückgewonnen werden kann durch eine Reflexion, die diese Dialektik aufhebt. Das zentrale Problem der modernen Philosophie ist für Bonald somit ihr Ausgang vom denkenden Subjekt, durch den sie ihre eigenen Entfaltungsmöglichkeiten abschneidet: »Die Philosophie vermag über ihren individualistischen Ansatz nicht hinauszukommen; der einzige Inhalt, der ihr geblieben ist, ist die Dogmatisierung jenes universalen Zweifels, von dem sie einstmals ihren Ausgang genommen hat.« 19 17 18 19
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 64. Ebd. 32 Ebd. 34
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3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt
Eindeutig spielt Spaemann hier auf Descartes als den Stammvater der modernen Philosophie an, der gleichwohl oben 20 in der Reihe der Vertreter der »wahren Philosophie« genannt worden ist: »Einerseits hat er mit seiner Lehre von den eingeborenen Ideen den Platonismus erneuert und gehört so in die Ahnenreihe der wahren Philosophie. Andererseits aber erscheint sein Ausgangspunkt des universalen Zweifels als Angelpunkt der gesamten von Bonald angegriffenen modernen Philosophie.« 21 Die Auseinandersetzung mit Descartes, die sich wie ein roter Faden durch das Werk Spaemanns und dementsprechend durch den zweiten Teil dieser Arbeit ziehen wird, beginnt in der Studie über Bonald und gelangt in ihr bereits zu weit über sie hinausreichenden Aussagen, auf die gegen Ende der Thematisierung der Studie einzugehen sein wird. An dieser Stelle sei zunächst der »Grundgedanke in Bonalds Kritik des cartesischen Ansatzes« genannt: Philosophie […] vermag nicht mit sich selbst anzufangen. Der Versuch, »in uns selbst den Stützpunkt zu nehmen, von dem aus wir uns erheben wollen« (III 34), führt nicht über den Ausgangspunkt selbst hinaus. Die Philosophie mit »Ideologie« (Lehre von der Entstehung der Ideen) und Erkenntnistheorie anzufangen heißt überdies, »den Geist von seiner eigentlichen Funktion, der Erkenntnis des gesamten physisch-moralischen Universums, ablenken zur sterilen Kontemplation seiner selbst« (III 35). 22
Die gesamte moderne Reflexionsphilosophie erscheint somit als ein fataler Irrweg und das erste Zwischenfazit im Nachvollzug der Bonald’schen Grundgedanken kann also lauten, dass nur im Überschreiten des Subjekts ein Anfang der Philosophie gefunden werden kann: »Die Vernunft kann als individuelle nicht den Vernunftzustand herstellen, weil sie wesentlich ihre Substanz, durch die sie sich konstituiert, außerhalb ihrer hat.« 23 Die im ersten Teil dieser Arbeit dargelegte Problematisierung des Subjektbegriffs und die daraus abgeleitete Notwendigkeit der Selbsttranszendenz bildet somit den Grundzug von Spaemanns Thematisierung der Bonald’schen Philosophie. Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 35, u. Einleitung zu Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds, 103. 21 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 36. 22 Ebd. 44–45. 23 Ebd. 129. 20
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
3.2.2
Die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Vernunft
Bonald entwirft ein dualistisches Bild des Menschen durch die nebeneinander bestehenden Dispositionen der »Neigung« und der »Vernunft« ; Neigung bedeutet dabei Wille zur Macht, Vernunft eine Selbsttranszendenz, die der Mensch sich nicht selbst verdanken kann: Der Mensch als Vernunft ist ja wesentlich durch Überschreitung seiner selbst gekennzeichnet. Der Mensch als bloßer Mensch ist der Mensch in der Subjektivität seiner Neigungen; die stärkste Neigung aber ist diejenige, die Gesellschaft als Ganze neu zu integrieren in die Subjektivität der eigenen Neigungen, das heißt, »sich eine neue Gesellschaft zu machen, deren Gesetzgeber und Machthaber man selbst ist« (III 134). 24
Das Verhältnis von Neigung und Vernunft klärt folgender Schlüsselsatz Bonalds, den Spaemann gleich zu Anfang seiner Studie zitiert: »›Die Vernunft des Menschen ist nichts anderes als die gebändigte Leidenschaft, deshalb genügt die Vernunft allein nicht, um die Leidenschaft zu bändigen‹ (III 406)«; Spaemann kommentiert ihn direkt im Anschluss folgendermaßen: »In einem solchen Satz liegt der Ansatz einer Überwindung bloßer Verstandes- und Reflexionsphilosophie beschlossen.« 25 Der Satz Bonalds und Spaemanns Kommentierung sollen hier näher erläutert werden. Zunächst stellt sich die Frage, was die Leidenschaft im Menschen bändigen kann, wenn die Vernunft erst das Produkt dieser Bändigung ist. Da die Leidenschaft sich nicht selbst bändigen kann, muss ihr etwas von außen zur Hilfe kommen. Die Frage kann also dahingehend umformuliert werden, wodurch eine Verbindung zwischen dem Individuum und der ihm äußerlichen Wirklichkeit hergestellt wird. Das Denken scheidet aus, denn: »Das individuelle Denken ist notwendig abstrakt in dem präzisen Sinne, daß es nur auf mögliche Gegenstände geht« 26, d. h. es bewegt sich zunächst in seiner eigenen Welt, die ständig dem Verdacht ausgesetzt ist, nur Idiosynkrasie zu sein, mit der Wirklichkeit selbst nicht übereinzustimmen. Das Individuum ist demnach solipsistisch verfasst, solange ihm nicht die Wirklichkeit als solche gegeben wird: »Die Weise der Gegebenheit des Wirklichen nennt Bonald – offenbar im Anschluss an Rousseau 24 25 26
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 95. Ebd. 23. Ebd. 132.
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3.2.2 Die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Vernunft
– ›sentiment‹. ›Die Menschen können nur fühlen, was existiert‹ (I 458).« 27 Die Antwort auf die Frage, was die Leidenschaft des Menschen bändigen kann, liegt in dem Verweis auf das Vermittelnde, durch das für das Subjekt der echte Wirklichkeitsbezug gestiftet wird. »Das Individuum partizipiert also an der Universalvernunft nicht primär im reinen Denken, sondern eben in der noch näher zu bestimmenden Weise, die Bonald ›sentiment‹ nennt und die wir am ehesten mit ›Gemüt‹ wiedergeben können.« 28 Die von Bonald verwendete Begrifflichkeit legt eine psychologische Deutung etwa im Sinne des Dualismus von ›denken‹ vs. ›fühlen‹ nahe, was jedoch, wie Spaemann betont, verfehlt wäre: Das Gemüt, das Moral und Zivilisation begründet, muß […] eher im Gegensatz zum »bloßen Gefühl« gesehen werden. »Sentiment« ist überhaupt nicht – wie für Rousseau – ein eigenes Organ neben der Vernunft, sondern es ist jenes die Vernunft begründende Wissen, das nicht selbst wieder durch Denken erworben wird. 29
Spaemann legt dar, dass Bonald im Laufe der Zeit seine Theorie des sentiment modifiziert hat. Während er sentiment anfangs mit »Liebe und Furcht« gleichsetzt, erscheinen diese ihm später »noch zu sehr als bloß menschliche Gefühle« 30: »Das eigentlich moralische Gefühl nennt Bonald von da ab ›Achtung‹ (respect), und er bestimmt sie als eine untrennbare Verbindung höherer Art von Liebe und Furcht.« 31 Spaemann weist auf die Nähe dieses respect zu »dem die Moral begründenden Gefühl der Achtung bei Kant« 32 hin: […] zum Verständnis dessen, was das sentiment als Grundantrieb der Sittlichkeit im Unterschied zu einer Gefühlsethik bedeuten kann und bei Bonald bedeutet, kann nichts so klärend sein wie Kants Bestimmung des Gefühls der Achtung. »Wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden … Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut. Also ist es Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 132 28 Ebd. 132–133. 29 Ebd. 134. 30 Ebd. 136. 31 Ebd. 32 Ebd. 27
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
etwas, was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht betrachtet wird, obgleich es mit beiden etwas Analogisches hat« 33. 34
Das Individuum bzw. das Subjekt überwindet also seine Grenzen und realisiert Selbsttranszendenz durch das sentiment bzw. den respect, insofern es durch diese teilhat an der allgemeinen Wirklichkeit: »Sentiment ist daher wiederum die vermittelnde und darum eigentlich den konkreten, moralisch-physischen Menschen konstituierende Funktion. Es ist die Mitte, wo der Mensch in seiner individuellen sinnlichen Wirklichkeit im Allgemeinen, in der universalen Vernunft verwurzelt ist.« 35 Damit ist einerseits die immense Bedeutung des sentiment im Denken Bonalds geklärt; andererseits wird von diesen Gedanken aus deutlich, dass das sentiment als Mittler zwingend angewiesen ist auf ein Außen, in dem die Vernunft bereits verwirklicht ist. In Anlehnung an den Gedankengang der Explikation stellt sich hier also die Frage nach dem Worauf der Selbsttranszendenz. Man würde permanent gegen bessere Einsicht den stärkeren Neigungen folgen, wenn nicht eine vom bloßen Denken verschiedene Macht in uns als Antrieb lebendig wäre, die uns bestimmte, das zu tun, was wir sollen. Dieser Impuls heißt »sentiment«. Das sentiment erhält aber seinen Inhalt in der Bildung durch die Gesellschaft. Zu fragen, ob ein Wilder außerhalb der Gesellschaft ein Gefühl von Gott hat, ist ebenso sinnlos wie die Frage, ob ein Kind seine Eltern kennt, wenn es sie nie gesehen hat. 36
Die Antwort Bonalds auf die Frage nach dem Worauf der Selbsttranszendenz liegt in der Thematisierung der Gesellschaft. Insofern nach Bonald dem Individuum durch das sentiment die Teilhabe an der Vernunft vermittelt wird, ist die Verwirklichung der universalen Vernunft in der Gesellschaft bei Bonald bereits vorausgesetzt. Diese These ruft eine Reihe von Fragen hervor, um die es im Folgenden gehen muss: Mit welchen philosophischen Mitteln begründet Bonald diese Vorstellung einer idealen Gesellschaft? An welchem Kriterium ist erkennbar, inwiefern ein geschichtlicher Zustand der Gesellschaft Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Berlin 1941, Bd. IV, S. 401. – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 137. 34 Ebd. 35 Ebd. 137–138. 36 Ebd. 139. 33
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3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit
dem der Verwirklichung der universalen Vernunft entspricht? Was folgt für die Gesellschaft wie den Einzelnen aus der Voraussetzung Bonalds, wonach die Verwirklichung der universalen Vernunft bereits ein Ereignis der Vergangenheit ist? Um auf diese Fragen zu antworten, muss die menschliche Gesellschaft, zu der das sentiment für das Individuum die Vermittlung herstellt, auf ihre Eigengesetzlichkeit, wie Bonald sie versteht, betrachtet und die Bonald’sche Theorie der Gesellschaft in ihren Grundzügen nachvollzogen werden.
3.2.3
Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit
Die »›société civile‹, bürgerliche Gesellschaft« 37 ist für Bonald das »Allgemeine, in dem das Individuum selbst gründet und Dasein hat« 38, nicht als erreichter Ausgleich widerstrebender Partikularinteressen, sondern als gottgewollter Zustand: »Gott ist konstitutiv für die Gesellschaft.« 39 Obwohl Bonald, wie gesehen, einerseits die individuelle Vernunft skeptisch bewertet, da ihr Denken sich jederzeit als reine Idiosynkrasie erweisen kann, ermöglicht ihre Verwurzelung in der universalen Vernunft andererseits metaphysische Aussagen über das gesellschaftlich verwirklichte Allgemeine. Bonald hält, darin Hegel ähnlich, an der »ontologischen Priorität eines Allgemeinen fest, das nicht eine bloße Funktion individueller Tendenzen ist und also niemals aus einem eudämonistisch-naturalistischen Begriff von Glück abgeleitet werden kann« 40. So wie Hegel den »Staat als ›selbstbewußte sittliche Substanz‹ […], als ›das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Willens‹ 41« 42 begreift, versteht Bonald die bürgerliche Gesellschaft als Verwirklichung des Allgemeinen, als »Gesellschaft zwischen Gott und Mensch, ›Anwesenheit Gottes‹« 43. Dieses Allgemeine, einmal verwirklicht, folgt einem einfachen Gesetz: Das Wesen dieser »bürgerlichen Gesellschaft« wird bei Bonald als »absolute Erhaltung« bestimmt. Bonald steht hier im Gefolge jener neuSpaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66. Ebd. 39 Ebd. 118. 40 Ebd. 66. 41 Spaemann verweist als Quelle der Zitate auf: Hegel, System der Philosophie, Sämtliche Werke X, ed. Glockner, Stuttgart 1949, S. 409 u. S. 410. – Ebd. 21 u. 65. 42 Ebd. 65. 43 Ebd. 66–67. 37 38
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
zeitlichen Staatstheorien, die, wie Hobbes, den Staat nicht, wie die aristotelische Philosophie, aus dem Streben der Menschen nach Erfüllung, nach Glück, nach dem »guten Leben«, sondern aus dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung ableiten. Diese Staatsauffassung gründet in einer neuen, nichtteleologischen Metaphysik, die ihren klassischen Ausdruck bei Spinoza gefunden hat: »Conatus, quo unaqua[e]que res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter essentiam rerum.« 44 Die Gesetze der Erhaltung eines Wesens sind zugleich die Gesetze seines Daseinsvollzuges, denn dieser Vollzug ist nichts als Selbsterhaltung. »Der Mensch ist nur auf Erden, um die Mittel seiner physischen und moralischen Erhaltung zu vervollkommnen« (I 607). Gilt für Thomas von Aquin noch die Notwendigkeit, erst etwas über das »bene vivere« des Menschen auszumachen, um das Wesen des Staates zu bestimmen, so läßt sich nun das Wesen des Menschen umgekehrt nur von dem her bestimmen, was zu seiner Erhaltung notwendig ist, das heißt aber von der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist die Form der »absoluten Erhaltung«. 45
Die Einordnung der Gesellschaftstheorie Bonalds in die Tradition neuzeitlicher nichtteleologischer Metaphysik führt zu der Frage, wie der Mensch als natürliches Wesen überhaupt in den gesellschaftlichen Zustand gelangen konnte oder, mit anderen Worten, welche treibende Kraft die Gesellschaft konstituiert. Im Folgenden wird sich zeigen, dass in Bonalds nichtteleologischer Metaphysik gleichwohl eine verborgene Teleologie wirkt. Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass für Bonald der gesellschaftliche Zustand nicht eine Überwindung des Naturzustands ist, sondern im Gegenteil seine eigentliche Verwirklichung. Spaemann zitiert Bonalds Forderung: »Die Natur muß die einzige gesetzgebende Gewalt der Gesellschaft sein« (I 392). Denn was ist die Natur? Die Natur der Dinge ist »die Gesamtheit der allgemeinen Gesetze ihrer Erhaltung, Gesetze, die nichts anderes sind als die Beziehungen, die aus ihrer je besonderen Art des Daseins folgen« (III 449). Diese Definition ist im Grunde die gleiche, die Hobbes im Leviathan gegeben hatte (Leviathan, II. Spaemann zitiert hier frei nach der »Ethik« Spinozas. Im Original lautet der Satz in der Propositio VII des dritten Teils: »Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam.« – Deutsch: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges.« – Vgl. Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, 238–239. 45 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66. 44
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3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit
Kap. 14). Aber der fundamentale Irrtum Rousseaus und Hobbes’ war es, den Naturzustand als den vorgesellschaftlichen Anfangszustand zu bezeichnen. […] Nach Bonald ist der Naturzustand gerade nicht der Anfangs-, sondern der Endzustand beziehungsweise der Zustand der Vollkommenheit eines Wesens. 46
Im Unterschied zu Hobbes und Rousseau versteht Bonald also den Naturzustand nicht als Gegensatz zu Kultur bzw. Zivilisation, vielmehr war es in seiner Sicht gerade der Naturzustand, der sich in Frankreich im Ancien Régime 47 als einer gefestigten Zivilisation verwirklicht hatte: »›Die zivilisierte Gesellschaft ist deshalb die natürlichste Gesellschaft, wie der vollkommenste Mensch der natürlichste Mensch. Ein Irokese oder ein Karibe sind ursprüngliche Menschen; Bossuet, Fénelon und Leibniz sind natürliche Menschen‹ (III 451).« 48 Diese Vorstellung der idealen Gesellschaft muss freilich wieder die Frage aufwerfen, wie der ursprüngliche Mensch überhaupt zum natürlichen Menschen werden konnte. Zwar partizipiert im gesellschaftlichen Zustand der Einzelne durch das sentiment an der gesellschaftlich verwirklichten Vernunft; die Frage bleibt aber, wie es überhaupt zu ihrer gesellschaftlichen Verwirklichung kommt, durch die die Überwindung der individuellen Partikularität erst möglich wird. Um diesen Übergang zu erklären bedarf Bonald »einer Art von Teleologie innerhalb eines durch Selbsterhaltung definierten Naturbegriffs« 49: »So ist Natur nicht das anfänglich Vorhandene, sondern der ›Plan‹, nach dem jedes Wesen angelegt ist und der das Prinzip seiner Entwicklung enthält.« 50 Bonalds Begriff der Natur ist somit zweideutig, insofern er einerseits, wie oben gesehen, durch Selbsterhaltung definiert ist, andererseits aber auf die Entfaltung einer Anlage ausgerichtet ist. Im Rückblick bemerkte Spaemann: »Bonald versucht, der Zweideutigkeit des neuzeitlichen Naturbegriffs zu entgehen, indem er den ›homme natif‹ vom ›homme naturel‹ unterscheidet.« 51 Da diese Zweideutigkeit des Naturbegriffs jedoch ungeachtet Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 68. Spaemann weist darauf hin, dass dies nur galt bis zur Verletzung der Konstitution durch Ludwig XVI. im Mai 1789 im Zusammenhang mit der Einberufung der Generalstände. – Vgl. ebd. 157. – Vgl. auch Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 105. 48 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 70. 49 Ebd. 68. 50 Ebd. 69. 51 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 137. 46 47
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
seiner Begriffsdistinktionen fortbesteht, soll im Folgenden die Besonderheit der Bonald’schen Begriffe und die in ihnen enthaltene spezifische Teleologie näher betrachtet werden.
3.2.4
Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung
Spaemann betont in seiner Studie mehrfach, dass bei dem »Versuch, philosophisch zu begreifen, was bei Bonald geschieht, die Parallele zu Hegel sich immer wieder aufdrängt« 52. Bonald wird nach Spaemann verkannt, wenn man bei ihm »einfache Antithesen zur Philosophie des 18. Jahrhunderts« 53 zu finden glaubt. Die Eigenart und der Rang seines Denkens werden vielmehr überhaupt erst verständlich, wenn sein methodisches Prinzip erkannt wird: Bonalds Denken hat sein Gewicht gerade darin, daß er die Postulate der Revolution, die Begriffe »Vernunftherrschaft«, »Aufklärung«, »Fortschritt« und »Rückkehr zur Natur« nicht skeptisch oder unter Berufung auf die Erfahrung verwirft, sondern sie aufnimmt und ihre unvermeidliche Dialektik sichtbar werden lässt: als abstrakte Postulate bringen sie unmittelbar ihr Gegenteil hervor. Die Restauration ist für Bonald nicht bloße Antithese, sondern konkrete Erfüllung dessen, was in der Revolution bloß Willkür und subjektives Meinen war. 54
Den Vergleich mit Hegel leicht relativierend weist Spaemann darauf hin, dass bei der Untersuchung des Bonald’schen Denkens eine in bestimmtem Sinne aktive Rezeption notwendig ist, um den impliziten Qualitäten seines Denkens gerecht werden zu können: Bonald hat die Bewegung des »Aufhebens«, die sein ganzes Denken ausmacht, nie systematisch reflektiert. Diese Reflexion muß eine heutige Darstellung seines Denkens begleiten, und einer solchen Reflexion erst wird sich der Rang jener Deutung der Revolution erschließen, die Bonald schon im Angesicht der Revolution zu geben begonnen hat. 55
Ausgehend vom Begriff der Natur soll die Denkbewegung Bonalds und die sie begleitende Reflexion, von der Spaemann hier spricht, Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 211. 53 Ebd. 54 Ebd. 212. 55 Ebd. 52
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3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung
verdeutlicht werden, um auf diesem Weg die eigentümliche Form Bonald’scher Teleologie näher bestimmen zu können. Die Denkbewegung, um die es geht, besteht im Wesentlichen in einer Aufhebung bzw. Ausdifferenzierung abstrakter Begriffe, wie zunächst am Beispiel des Naturbegriffs gezeigt werden soll. »Der Begriff der Natur bei Bonald ist, wie alle entscheidenden Begriffe seines Denkens, konkret und daher dialektisch.« 56 Dem abstrakten Begriff der Natur als eines hypothetischen Anfangszustandes z. B. bei Hobbes und Rousseau setzt Bonald einen konkreten Begriff entgegen: Natur ist für ihn nicht ein Zustand, über den hinausgegangen werden kann und soll. Man kann nur auf ihn zu- oder hinter ihn zurückgehen auf einen Urzustand. Freiheit ist darum nicht im Gegensatz zur Natur zu definieren, sondern sie ist »die Fähigkeit eines Wesens, (aus sich selbst) zu seinem Naturzustand zu gelangen« (III 451). Natur als solche existiert gar nicht, »sie ist eine Abstraktion, ein Gedankending, das weder Stimme noch Organ hat« (II 214). Ihre Wirklichkeit ist die Intention des Schöpfers der Dinge. 57
Der konkrete Begriff der Natur übergreift in sich die Spannung zwischen ursprünglichen natürlichen Anlagen und ihrer vollkommenen Verwirklichung. Dialektisch sind diese Begriffe also, weil sie eine Entwicklung einschließen und daher nicht ohne Verlust auf einen abstrakten Begriff reduziert werden können. »Natur ist nicht ›bloße Natur‹, bloße Natur ist vielmehr wider die Natur des Menschen.« 58 Umgekehrt gilt für die abstrakten Begriffe, dass sie durch eine innere Bindung an ihr Gegenteil charakterisiert sind, die in der Geschichte des Denkens wirksam wird und zu einem Umschlagen führt. So führt in den Augen Bonalds die revolutionäre Forderung nach einer Rückkehr zur Natur als Kampf gegen ihrerseits natürliche geschichtliche Manifestationen der menschlichen Entwicklung zu einer Denaturierung des Menschen: Der abstrakte revolutionäre Naturbegriff schlägt in sein Gegenteil um. Eine analoge Gedankenbewegung entfaltet sich in Bonalds Begriff der Vernunft, die er von ihrer abstrakten Reduktion auf Ideologie unterscheidet. Wie beim Naturbegriff der Bezug zur »Intention des Schöpfers der Dinge« 59 ist beim Vernunftbegriff der Bezug auf die 56 57 58 59
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 70. Ebd. 69. Ebd. 70. Ebd. 69.
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
Wahrheit bzw. das Allgemeine im Sinne einer absoluten Orientierung wesentlich. Der Mensch kommt für Bonald, wie Spaemann darlegt, nur zu seiner Naturbestimmung, indem sein Denken vernünftig, das heißt wahr ist. Wahrheit aber ist nur im Element der Allgemeinheit. Es gibt nun auch eine falsche, leere, abstrakte Allgemeinheit, sie ist das, was wir heute als Ideologie bezeichnen. Sie tritt immer dann in Erscheinung, wenn das Individuum seine Subjektivität an die Stelle der allgemeinen Substanz setzt. Es bleibt dann nur die bloße Form, der bloße Schein des Allgemeinen, hinter dem sich in Wirklichkeit reale Interessen verbergen. Da der Mensch wesentlich seine Substanz im Allgemeinen hat, kann er es nie bei der bloßen Partikularität seiner Besonderheit bewenden lassen, sondern er muß, wenn er gegen diese Substanz rebelliert, versuchen, seine Besonderheit selbst zur Form eines Allgemeinen zu machen. 60
Die partikulare Vernunft als abstrakte Allgemeinheit tritt in einen Widerspruch mit sich selbst und schlägt in ihr irrationales Gegenteil – den Willen zur Macht – um. Der konkrete Begriff der Vernunft übergreift dagegen den Zusammenhang zwischen der individuellen Perspektive und der Substanz, die sich in der Gesellschaft realisiert: »Die Vernunft kann als individuelle nicht den Vernunftzustand herstellen, weil sie wesentlich ihre Substanz, durch die sie sich konstituiert, außerhalb ihrer hat.« 61 Erst durch Selbsttranszendenz und die im sentiment vermittelte Teilhabe an der allgemeinen Wirklichkeit und damit der universalen Vernunft wird die individuelle Vernunft zur Vernunft im vollen Wortsinn. Von besonderem Interesse im Hinblick auf Bonalds Projekt einer »metaphysische[n] Soziologie« 62 als neuer prima philosophia insgesamt ist schließlich die analoge Ausdifferenzierung des Aufklärungsbegriffs, durch die sein prinzipieller Neuansatz im Denken noch einmal umrissen wird. Bonald verwirft nicht den Begriff der Aufklärung, sondern denkt ihn in seiner Dialektik zu Ende. Ein Mensch ist für ihn nicht dann aufgeklärt – »éclairé« –, wenn er über die abstrakte Richtigkeit oder Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 128. 61 Ebd. 129. 62 Ebd. 38 u. 201. 60
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3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung
Falschheit einer auf sentiment gegründeten Meinung Bescheid weiß, sondern wenn er ihre Wahrheit oder Falschheit im Hinblick auf die Gesellschaft erkennt, das heißt, wenn er die universale gesellschaftliche Vernunft in dem zu sehen vermag, was die »Aufklärung« naiv als Irrtum und Vorurteil bezeichnet, weil sie in denen, die diese Vorurteile überliefern, nur Menschen sieht und nicht bemerkt, daß in dieser Überlieferung die Menschen nicht abstrakt als Menschen handeln, sondern daß die Gesellschaft, die Natur hier am Werk ist. 63
Aufklärung versteht sich für Bonald also falsch, wenn sie sich antithetisch gegen eine zu überwindende geschichtliche Vergangenheit stellt; Aufklärung in diesem Sinne schlägt um in die Manifestation eines antagonistischen partikularen Interesses. Der konkrete Begriff der Aufklärung dagegen bezeichnet eine Reflexion, die die gesellschaftlich-geschichtliche Wirksamkeit von Meinungen erfasst und damit abermals den Bezug voraussetzt auf die universale Vernunft, die ihrerseits kein Resultat der Aufklärung ist, sondern in ihrer geschichtlichen Verwirklichung zugänglich ist. Die hier kurz betrachteten konkreten bzw. dialektischen Begriffe der Natur, der Vernunft und der Aufklärung eint, dass in ihnen jeweils ein Prozess der Entfaltung einer Anlage zu ihrer vollen Wirklichkeit gedacht wird und sie somit eine teleologische Struktur aufweisen. Das teleologische Moment der Tendenz zur Entfaltung einer Anlage findet jedoch bei Bonald sein Ende mit der gesellschaftlichen Verwirklichung der universalen Vernunft, die nach seiner Überzeugung im Ancien Régime bereits stattgefunden hat. Für Bonald hat die Natur im absolutistischen Frankreich der Bourbonen ihr Ziel durch eine konkrete gesellschaftliche Verwirklichung der universalen Vernunft erreicht. Eine Forderung nach zusätzlichen Beweisen für diese These müsste Bonald als Ausdruck einer nur partikularen Vernunft, die sich, gerade indem sie diese in Frage stellt, von ihrer Substanz zu lösen versucht, zurückweisen. Die geschichtliche Verwirklichung der universalen Vernunft steht nach den Voraussetzungen seines Denkens über jedem individuellen Meinen. Unter der Voraussetzung der geschichtlichen Verwirklichung kann es zur universalen Vernunft nur noch einen hermeneutischen Zugang geben. Für die untersuchte charakteristische Gedankenbewegung Bonalds bedeutet dieses Ende der Geschichte, dass mit ihm die teleologische Entfaltung übergeht Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 138–139.
63
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
in absolute Erhaltung. Der Natur, der Vernunft und der Aufklärung geht es somit um nichts mehr als um die reine Erhaltung dessen, was bereits verwirklicht ist. Diese Selbsterhaltungsteleologie muss im Folgenden auf ihre Implikationen und Konsequenzen für den Menschen hin betrachtet werden.
3.2.5
Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstaufhebung der Vernunft
Da die Natur im Verständnis Bonalds letztlich immer nur von der gesellschaftlichen Wirklichkeit her gedacht wird und das Denken selbst seine individuelle Beschränktheit nur in dem Bezug auf die wiederum in der Gesellschaft verwirklichte Vernunft überwindet, bleibt nach wie vor die Frage offen, in welchem Begründungsverhältnis die gesellschaftlich verwirklichte Natur zur Natur an sich steht. Dieses zentrale Problem der Gesellschaftstheorie Bonalds kann noch einmal vergegenwärtigt werden durch die Gegenüberstellung zweier Zitate aus Spaemanns Studie: Die vollkommenste Gesellschaft ist […] diejenige, in der man die Natur allein wirken lässt, das heißt, wo sich die Gesetze und Institutionen fast unmerklich aus den geschichtlichen Notwendigkeiten ergeben. 64 Die tiefste Neigung des Menschen ist sein Wille zur Macht, die Neigung, anderen seinen Willen aufzuzwingen oder, wie Bonald einmal sagt, eine Gesellschaft zu gründen, deren Gesetzgeber er selbst ist. 65
Beide Zitate scheinen in einem direkten Widerspruch zueinander zu stehen, insofern die vollkommenste Gesellschaft dem reinen Wirken der Natur entspringen soll, der natürliche Wille zur Macht des Einzelnen eine vollkommene Gesellschaft aber gerade ausschließt. Dieser Widerspruch lässt sich nur auflösen, wenn der gesellschaftlich vermittelte Naturbegriff als reine Negation des Begriffs einer nur individuellen Natur verstanden wird. Wenn somit das Verhältnis von gesellschaftlich verwirklichter und individueller Natur exakt jenes von Vernunft und Neigung abbildet, das oben als dualistisches Menschenbild Bonalds beschrieben wurde, stellt sich die Frage, ob es überhaupt Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 145. 65 Ebd. 72. 64
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3.2.5 Die Selbstaufhebung der Vernunft
einen Begründungszusammenhang zwischen gesellschaftlicher Natur und Natur an sich gibt bzw. mit welchem Recht überhaupt von einer gesellschaftlich verwirklichten Natur die Rede sein kann. Dieser Frage soll nun anhand des spezifischen Menschenbilds Bonalds nachgegangen werden. Bonalds Idee der Gesellschaftsordnung – »eine von Ministern bediente Macht« 66 – ist abgeleitet aus seiner Definition des Menschen – »ein von Organen bedienter Verstand« 67 –, die er der aristotelischen Definition als animal rationale entgegensetzt. Der entscheidende Unterschied dieser Definition von der Bonald’schen besteht darin, dass Aristoteles »das animal zum Subjekt und die Vernunft zum Prädikat« 68 macht und damit die Vernunft in der menschlichen Natur verwurzelt sein lässt. Die Substanz ist bei Aristoteles das sinnlich konkrete Einzelwesen, wohingegen Bonald »von Descartes her Vernunft als Wesen und Substanz des Menschen« 69 versteht, was folgerichtig »zum Verschwinden der individuellen sinnlich-geistigen Person als des Ortes des Daseins der Vernunft« 70 führt. Die Betrachtung des Bonald’schen Menschenbildes führt so unmittelbar auf seine Gesellschaftstheorie zurück, da die Vernunft als Substanz des Menschen nur in der Gesellschaft verwirklicht ist, der es ihrerseits nur um die eigene Erhaltung geht. Die oben konstatierte reine Negation der individuellen Natur ist also im Grunde eine prinzipielle Negation der Natur, in der die negierende Vernunft lediglich einen abstrakten Begriff der Natur übriglässt und diesen für sich beansprucht. Es vollzieht sich somit ein »Entleerungsprozeß« 71, der nach Spaemann seine Ursache in der Trennung der Vernunft von ihren natürlichen Wurzeln hat und der folgerichtig zur Selbstaufhebung der aufgeklärten Vernunft führen muss: »Das reine Funktionieren des gesellschaftlichen Mechanismus wird damit zum Ergebnis der Selbstaufhebung der aufgeklärten Vernunft, die das Moment der Reflexion auf ihre natürliche Wurzel verloren hat.« 72 Durch die prinzipielle Negation der Natur bleibt als Wesen der Wirklichkeit allein ein Mechanismus Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 205. 67 Ebd. 203. 68 Ebd. 204. 69 Ebd. 204. 70 Ebd. 205. 71 Ebd. 206. 72 Ebd. 207. 66
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
reiner Selbstreproduktion, die Perpetuierung eines geschichtlich verwirklichten Zustandes. Wie die Gesellschaft unter dieser Prämisse auf reine Bewahrung ausgerichtet ist, so geht aus der Perspektive des Einzelnen jede Offenheit einer Sinnperspektive verloren: Der »Totalitarismus« Bonalds ist nichts anderes als die Unterordnung aller Wesen unter die Bedingungen ihrer Erhaltung. Wenn der Mensch sein Wesen im Betrieb der Selbsterhaltung hat, dann ist die durch Erhaltung definierte Gesellschaft notwendig total. Gerade weil ihr Wesen die Erhaltung des Menschen ist, ist es absurd, wenn der Mensch ihr gegenüber private Rechte geltend machen will. »In der Gesellschaft gibt es keine Rechte, es gibt nur Pflichten« (I 725). 73
Bonalds Überwindung des Ausgangs vom Subjekt führt also nicht zu einer Integration desselben in einen übergreifenden Zusammenhang, sondern nur zu seiner totalitären Aufhebung. Die abschließende These der Studie über Bonald, wonach das »reine Funktionieren des gesellschaftlichen Mechanismus […] zum Ergebnis der Selbstaufhebung der aufgeklärten Vernunft« 74 wird, stellt Spaemann in einen Zusammenhang mit der kritischen Arbeit Bonalds am Cartesianismus: »Der Traditionalismus Bonalds hat die Abstraktheit des individuellen Cogito überwunden, aber doch nur dadurch, daß er, im Grunde selbst auf dem Boden ›reiner‹, von Natur getrennter Vernunft stehend, die paradoxen Konsequenzen des Cartesianismus sichtbar gemacht hat.« 75 Zu diesen paradoxen Konsequenzen zählt Spaemann offensichtlich die Selbstaufhebung der Vernunft und die Funktionalisierung des Denkens. Da Spaemann der Überwindung des individualistischen ›cogito‹ durch Bonald offenbar Sympathie entgegenbringt, ist an dieser Stelle genau zu beachten, wie er seine Kritik an der Bonald’schen Descartes-Interpretation konkretisiert: Gerade durch seinen absoluten Gegensatz zu dem individualistischen Cogito erweist Bonald sich als noch unter der gleichen Voraussetzung stehend. Das Ergebnis ist paradox: Gerade weil er die in diesem Ansatz verborgene Wahrheit nicht wahrzunehmen vermochte, wurde er zu einem Glied in dem geschichtlichen Prozess der Vollstreckung seiner Unwahrheit. 76 73 74 75 76
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 96. Ebd. 207. Ebd. Ebd.
120 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens
Einen absoluten Gegensatz zu Descartes bildet Bonalds Position durch den Ausgang von der Gesellschaft statt vom individuellen ›cogito‹ ; die gleiche Voraussetzung ist, wie oben erwähnt, die von der Natur getrennte Vernunft. Mit Bezug auf Descartes hat Bonald offensichtlich seine eigene Maxime, die Position, die er bekämpft, nicht antithetisch zu widerlegen, sondern durch einen Rückgriff zu zeigen, dass er ihre tiefere Wahrheit erkennt, nicht befolgt, sondern ist hier gerade in einen bloß antithetischen Gegensatz verfallen. Rätselhaft aus dem Zusammenhang der Bonald-Studie ist aber die Anspielung auf die »in diesem Ansatz verborgene Wahrheit« 77, die mit einer anderen Art der Vermittlung zwischen Subjekt und Welt zu tun haben muss. Ohne Vorgriff auf spätere Stadien der Entwicklung von Spaemanns Denken und seiner Auseinandersetzung mit Descartes im Besonderen könnte an dieser Stelle darüber nur spekuliert werden. Im sechsten Kapitel wird auf diese »Wahrheit« zurückzukommen sein. 78
3.2.6
Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens
In seiner »Autobiographie in Gesprächen« kommentiert Spaemann die Entstehung und Thematik der Bonald-Studie und verweist dabei auf seine »von tiefer Sympathie getragene […] Kritik am funktionalistischen Traditionalismus de Bonalds« 79. Es ist dabei nicht ganz einfach, wie Zaborowski in seiner Spaemann-Monographie bemerkt, aus dem Bonald-Buch Spaemanns eigenen Standpunkt herauszulesen: »[…] we need to examine his presentation of Bonald’s thought very carefully. Spaemann’s own standpoint is frequently hidden behind that of other critics […]. It is important to read between the lines and to analyse meticulously the point of view from which Spaemann undertakes his own interpretative enterprise.« 80 Abschließend sei hier der Versuch unternommen zu zeigen, welchen Aspekten des Bonald’schen Denkens Spaemann zustimmt, welchen er dagegen kritisch gegenübersteht. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 207. 78 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 350. 79 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 106. 80 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 138. 77
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
Es ist unverkennbar, dass Spaemann die Bonald’sche Ablehnung von Materialismus, Subjektivismus, Reduktionismus und sein damit verbundenes Festhalten an den metaphysischen Fragestellungen der klassischen Philosophie teilt. Die Kritik der Moderne, die sich in Bonalds Unterscheidung einer »wahren Philosophie« von einer »modernen« 81 äußert, wird von der Bonald-Studie an ein Hauptthema des Spaemann’schen Philosophierens. 82 Der Ausgang der Philosophie vom isolierten Subjekt erscheint ihm ebenso als ein Irrweg wie Bonald. Im Zusammenhang mit dieser Vorentscheidung steht als weiterer Grundzug des Bonald’schen Denkens, der Spaemann überaus naheliegt, seine Transzendenzfreundlichkeit. Überwindung des subjektiven Standpunkts bedeutet für Bonald die Öffnung für eine substantielle Wirklichkeit außerhalb der Grenzen des eigenen Bewusstseins, die in Spaemanns weiterer Entwicklung als Philosoph von der größten Bedeutung sein wird. Darüber hinaus sei auch noch einmal auf die spezifische Denkbewegung Bonalds hingewiesen, in der Spaemann das eigentliche Verdienst Bonalds sieht und die, wie oben gezeigt 83, in der Verwendung konkreter dialektischer Begriffe mit ihrer spezifischen teleologischen Struktur besteht. Die Wurzel von Spaemanns Kritik an Bonald liegt in dessen Ausblendung der aristotelischen »Unterscheidung von ζῆν und εὖ ζῆν« 84, von ›Leben‹ und ›gutem Leben‹. Diese Unterscheidung zielt auf die Spannung, die in einem Lebewesen besteht zwischen seinem Sosein und seiner Entelechie, um deren Verwirklichung es ihm nach Aristoteles geht, und somit auf den teleologischen Naturbegriff, der am Beginn der Neuzeit aufgegeben wird. An seine Stelle trat die Gleichsetzung von beidem, wie sie von Telesio und Campanella vollzogen wurde und bei Spinoza den für die neuzeitliche bürgerliche Philosophie paradigmatischen Ausdruck fand: »Per realitatem et per-
Vgl. die Einleitung zu Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds, 103. 82 Vgl.: »Spaemann’s study on the ›maitre de la contrerévolution‹ is, not at least because of the paradigmatic character of Bonald’s philosophy, a nucleus out of which his later thought, particularly his criticism of modernity, develops.« – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 141. 83 Vgl. Abschnitt 3.2.4, Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung, 114–118. 84 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 203. 81
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3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens
fectionem idem intelligo.« 85 Spaemanns Kritik an der Entteleologisierung, die zu einem Leitmotiv seines Denkens werden wird, findet in der Dissertation über Bonald einen ersten Ausdruck. 86 Auch wenn Bonald, wie oben dargelegt wurde, insofern einen teleologischen Naturbegriff beibehält, als Natur für ihn in der Entfaltung einer Anlage besteht, ist Natur für ihn ihrem Wesen nach durch Selbsterhaltung definiert: Sobald die Natur ihre Anlage entfaltet hat, geht es ihr nur noch um die eigene Erhaltung. Bei Bonald hat die Unterordnung des gesamten Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung eine bereits klassische Formulierung gefunden: »Der Mensch, der nur hienieden ist, um die Mittel seiner physischen und moralischen Erhaltung zu vervollkommnen …« (I 607) Der nihilistische Charakter dieser Formel ist Bonald selbst nicht bewußt geworden. 87
Diese spezifisch neuzeitliche Form von Teleologie wird als wesentlicher Bezugspunkt seiner Kritik in der weiteren Entwicklung von Spaemanns Denken an Bedeutung gewinnen. 88 Aufgrund des nihilistischen Charakters des Selbsterhaltungsgedankens, 89 der die Möglichkeit bot, die religiöse Komponente dieses Denkens einfach zu streichen, wurde Bonald gegen seine Intentionen
Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, 100. – Deutsch: »Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe.« – Ebd. 101. 86 Vgl. folgende Aussage Spaemanns in einem Gespräch mit Hans-Georg Nissing: »Das Thema der Teleologie ist eigentlich der rote Faden durch alles, was ich seit dem Buch über de Bonald geschrieben habe. Dies ist mir mehr und mehr deutlich geworden. Schon bei de Bonald findet sich als Definition der menschlichen Existenz, der Mensch sei auf Erden, um die Mittel seiner physischen und psychischen Erhaltung zu perfektionieren. Das ist die ›Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung‹. Es ist das, was ich später als ›Inversion der Teleologie‹ bezeichnet habe. Es gibt aber etwas, das über die Erhaltung hinausgeht.« – Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 126. 87 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 203. 88 In den Studien über Fénelon »Reflexion und Spontaneität« wird Spaemann von einer »Inversion der Teleologie« in der neuzeitlichen Ontologie sprechen, die in der weiteren Entwicklung seines Denkens zum Ausgangspunkt seines Gegenentwurfs wird. – Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, 61–62, u. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 138–142. 89 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 203. 85
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
zum Begründer der Soziologie. 90 »Die gesellschaftliche Funktionalisierung der Gottesidee ist der Angelpunkt der Ablösung der Metaphysik als philosophia prima durch die Theorie der Gesellschaft.« 91 Die Metaphysik hört somit auf, Frage nach der ἀρχή zu sein, und wird in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit »als Funktion gesellschaftlicher Selbsterhaltung« 92 betrachtet: »Die endgültige Form der Metaphysik ist so zugleich ihr Ende«. 93 Die neue Lehre ist eine »Meta-Metaphysik« 94, in der Bonalds Gedanken zu Ende gedacht werden. Die positivistische Soziologie Auguste Comtes entwirft einerseits ganz im Sinne Bonalds eine »Mathematik der Gesetze der Gesellschaft« 95, um deren Stabilisierung es geht; da für das Funktionieren der Gesellschaft die Gottesidee aber gefährlich ist, musste andererseits das Wort ›Gott‹ ausgewechselt und ersetzt werden »durch den Kult des ›Großen Wesens‹, das heißt die Symbolisierung der als Totalität vorgestellten Menschheit« 96. Diese positivistische Soziologie tritt auf mit dem Anspruch der prima philosophia, die die Metaphysik abgelöst hat. Bonalds Lehre ist daher zutiefst ambivalent, da sie einerseits der Motivation entspringt, metaphysisch-religiösen Gedanken zu ihrem Recht zu verhelfen, andererseits aber durch die Funktionalisierung der Gottesidee zur Ermöglichung jenes »Modernismus« geworden ist, »der nach dem Wort Péguys nicht glaubt, was er glaubt, sondern für den der Glaube zur Funktion der Selbsterhaltung der Gesellschaft geworden ist« 97. Spaemanns Kritik zielt also auf den funktionalistischen Charakter der Bonald’schen Philosophie, worin sich zugleich seine Kritik an Joachim Ritter äußert, wie er in einem Interview selbst bemerkte: Vgl.: »Bonald hat – darin liegt seine geschichtliche Bedeutung – zum ersten Mal die Theorie der Gesellschaft als umgreifende prima philosophia an die Stelle der Metaphysik gesetzt. Hier liegt der Ursprung der Soziologie, als deren Begründer Léon Brunschvicg und Jean Lacroix den Vicomte de Bonald mit Recht bezeichnet haben.« – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 210. 91 Ebd. 184. 92 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107. 93 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 211. 94 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107. 95 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 184. 96 Ebd. 185. 97 Ebd. 192. 90
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3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens
Mein De Bonald-Buch ist nun ein Buch, das zwar mit viel Sympathie für de Bonald geschrieben ist. Am Schluß aber enthält es eine Kritik an de Bonald – und zwar am Funktionalismus: De Bonald befrage Religion, Philosophie u. a. auf ihre gesellschaftliche Funktion hin. So ist das Buch eigentlich eine kritische Auseinandersetzung mit meinem Lehrer. 98
Die Gemeinsamkeit zwischen Bonald und Ritter besteht darin, dass beide von einem gesellschaftlichen Bezugssystem ausgehen, relativ zu dem das metaphysische Denken eine Funktion zu erfüllen hat. Eine solche Sicht widerspricht Spaemanns Philosophieverständnis, wie Zaborowski in Bezug auf das Bonald-Buch zutreffend bemerkt: »Spaemann criticizes this functionalistic interpretation of philosophy because it contradicts his understanding of philosophy – as theoria that cannot be functionalized but, rather, critically examines functional relations and rationally reflects upon what precedes any function; that is, substantial reality.« 99 Spaemann hält fest an einem Metaphysikverständnis, das jede funktionalistische Relativierung ablehnt und den Bezug auf das Absolute wahrt, und sieht gerade in ihm den Weg, um die Moderne vor sich selbst zu schützen: »Nur wenn der absolute Inhalt des Glaubens in seiner alle geschichtliche Realisierung transzendierenden Gestalt als er selbst gegenwärtig ist, vermag sich die geschichtliche Dynamik zu entfalten, die Europa kennzeichnet, ohne daß der Zusammenhang mit der überkommenen Substanz verlorengehen müßte.« 100 Im funktionalistischen Denken Bonalds ist für die Gegenwärtigkeit eines absoluten Inhaltes kein Platz. Die Orientierung an diesem Inhalt wird gleichwohl Leitlinie in der weiteren Entwicklung von Spaemanns Denken sein.
Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 122. 99 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 161. 100 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 192–193. 98
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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
Zum Abschluss dieses Kapitels wird ein dritter Text Spaemanns aus den 50er Jahren thematisiert: »Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes« 1. Obwohl dieser Text chronologisch der erste der drei in diesem Kapitel behandelten ist, eignet er sich als Abschluss desselben, da er Ausblicke zu geben vermag, in welche Richtung Spaemann in seiner philosophischen Entwicklung bereits in den 50er Jahren zielte. Während Spaemann in seinem Vortrag aus dem Jahre 1957 das Fazit zog, dass die in die Krise geratene Metaphysik am besten in einer Geschichtsphilosophie aufgehoben sei, die ihre Beziehung zur Metaphysik bedenkt, und er in seiner Dissertation am Beispiel Bonalds den funktionalistischen Charakter des modernen Denkens als nihilistisch wertete, bietet der frühe theologische Aufsatz durchaus philosophische Perspektiven für ein Denken, dem es, wie gesehen, um die unmittelbare Gegenwart des Absoluten geht. Thema des Aufsatzes ist ein »Theologisches Paradoxon«, nämlich die »Unvereinbarkeit der Lehre von der Identität des Willens Gottes […] und seines notwendigen Wesens mit der Lehre von der Nichtnotwendigkeit der Weltschöpfung« 2. Hintergrund dieses Paradoxons ist die Einsicht, dass die Welt schon allein deshalb nicht als notwendige Schöpfung betrachtet werden kann, weil Gott sonst als Schöpfer nicht frei gehandelt hätte. Wenn aber andererseits von der Prämisse ausgegangen wird, dass Wesen und Willen Gottes identisch sind, müsste sein Wille, die Welt zu erschaffen, Ausdruck seines Wesens und somit notwendig sein. Das Paradoxon besteht also darin, dass sowohl die Notwendigkeit als auch die Nichtnotwendigkeit der Schöpfung als theologische Postulate vertreten werden können. Spaemann diskutiert in diesem Aufsatz die aktuelle Stellungnahme eines Theologen zu diesem Problem, um deren Unzulänglichkeit zu zeigen und darauf zu verweisen, dass bereits Thomas von Aquin sich mit diesem Problem an mehreren Stellen beschäftigt hat. Der Rückbezug auf Thomas erfolgt dabei mit dem offensichtlichen Anspruch, in Vergessenheit geratene Denkweisen in Erinnerung zu rufen und ihre unverminderte Aktualität zu betonen. Den Schlüssel zur Lösung des 1 2
Zuerst erschienen in: Philosophisches Jahrbuch 60 (1950), 88–92. Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 236.
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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
Problems bei Thomas sieht Spaemann in der Spezifik seiner Begrifflichkeit, die nun knapp erläutert werden soll. Im Mittelpunkt steht der Begriff der Notwendigkeit – necessarium – als Gegensatz zu Zufälligkeit bzw. Kontingenz. Der Begriff Notwendigkeit bezeichnet zum einen in der Logik das aus dem Satz des Widerspruchs herleitbare analytische »Verhältnis zweier Begriffe, also etwa in dem Satz: ›Das Ganze ist größer als ein Teil desselben.‹« 3 Von anderer Art sind Aussagen, die sich auf »Konkret-Wirkliches« beziehen: Dann bedeutet Notwendigkeit ontologisch Übereinstimmung einer Sache mit ihrem allgemeinen Wesen, welche Übereinstimmung insofern notwendig ist, als sonst die Sache ihre Identität mit sich selbst verlöre, also aufhörte, eine solche Sache zu sein. Der Begriff der »Notwendigkeit« ist hier anschaulicher als der des necessarium. Die Not nämlich besteht in dem Hiatus von allgemeiner Essenz und individueller Existenz im endlichen Seienden; die Überbrückung dieses Hiatus ist »notwendig«, um ein Seiendes zum Sein und damit zur Identität mit sich selbst zu bringen. Alles, was dazu gehört, das »Wesentliche« im partikularen Dasein zu realisieren, ist »notwendig«. 4
Der Begriff der Notwendigkeit wird somit verankert in der spezifischen Daseinserfahrung des Menschen, für die die bewusst erlebte Differenz zwischen Essenz und Existenz, also die Nichtidentität der natürlichen Anlagen in ihrer gegenwärtigen Verwirklichung und des diese transzendierenden Bewusstseins kennzeichnend ist. Nun geht es in diesem Aufsatz ja um die Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes, so dass sich die Frage erhebt, ob es überhaupt angemessen sein kann, in Bezug auf Gott den Begriff der Notwendigkeit zu bemühen: Wenn wir in Gott von Notwendigkeit reden, so setzen wir bereits jenen Hiatus zwischen Wesen und faktischer Existenz voraus, und unsere Frage geht darauf, wissen zu wollen, ob es einen Bereich von Bestimmungen in Gott gebe, die nur seiner faktischen Existenz zukämen, ohne doch aus seinem Wesen zu resultieren. Hier aber liegt das proton pseudos der Fragestellung. Vorausgesetzt nämlich, dass es nicht zulässig ist, in Gott diese Realunterscheidung von Essenz und Existenz zu machen, wird zunächst der strenge Begriff von Notwendigkeit hinfällig, insofern er 3 4
Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 241. Ebd. 242.
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
etwas mit einer zu wendenden Not zu tun hat, nämlich der zu überwindenden Nichtidentität von Dasein und Wesen. 5
Es wäre nun aber zu einfach, die im Raum stehende Frage schlichtweg als falsch gestellt zurückzuweisen. Denn auch wenn die Rede von Notwendigkeit Gott nicht gerecht wird, bleibt die aus der menschlichen Daseinserfahrung resultierende Perspektive, durch die die Differenz von Essenz und Existenz in die Gegenstände des Denkens projiziert wird. Ein Wesen, das in sich selbst die Spannung zwischen Essenz und Existenz erlebt, kann Gegenstände seines Denkens nicht anders denken als mit einer analogen inneren Differenz. Daher gilt, dass Gott für uns eine entsprechende innere Differenz aufweist: »quoad nos gibt es auch in Gott einen Unterschied zwischen ›erster und zweiter Substanz‹, zwischen abstraktem und konkretem Begriff« 6: Der abstrakte Begriff Gottes ist der des ipsum esse subsistens, welchem zugleich die transzendentalen Bestimmungen des Seins zukommen. Wenn nun Thomas sagt, der Schöpfungswille sei nicht notwendig – absolute dictum –, so besagt dies: Absolut, also losgelöst von der Faktizität des Seins der Welt, enthält der abstrakte Begriff Gottes nichts, das über die bloße Identität mit sich selbst, den Willen zu sich selbst, die Erkenntnis seiner selbst hinausführte. 7
Ein konkreter Begriff Gottes dagegen kann nur aus der Schöpfung hervorgehen, da nur durch sie – und sei es auf dem Weg der Negation wie in der Mystik – ein konkreter Zugang des Menschen zu Gott möglich ist. Insofern die Faktizität des Seins der Welt nicht notwendig sein kann, sieht man sich bei Thomas also »in das Paradoxon zurückversetzt«, da eine »Auflösung nach der Seite der Notwendigkeit […] nicht möglich« 8 scheint. Die Lösung des Widerspruchs, die Thomas »mehr andeutet als ausführlich expliziert«, besteht in »einer Distinktion im Begriffe des Notwendigen« 9, in der Einführung des Begriffes eines »necessarium ex suppositione«, eines »bedingt Notwendigen« 10: »Er sagt nämlich:
Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 244. Ebd. 7 Ebd. 244–245. 8 Ebd. 240. 9 Ebd. 241. 10 Ebd. 5 6
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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
Sed facta suppositione quod Deus illud (sc. Petrum salvari) velit vel voluerit, impossibile est eum non voluisse vel non velle … (De ver. XXIII. 4.), d. h. unter der Voraussetzung, dass Gott tatsächlich etwas will, ist es unmöglich, dass er dieses nicht will.« 11 ›Bedingte Notwendigkeit‹ bedeutet somit nicht, dass die kontingente Faktizität des Daseins aus menschlicher Perspektive aufgehoben würde und in ein notwendiges Wesen verwandelt würde; ›bedingte Notwendigkeit‹ bedeutet, dass die aus unserer Sicht – quoad nos – kontingente Faktizität nicht aus Gottes Sicht nicht gewollt sein kann: Wie nun schon nur Gott vom endlichen Individuum eine Idee besitzt, so hat erst recht nur Gott selbst von sich eine konkrete Idee, welche freilich mit seinem »Wesen« identisch ist. Die Dialektik dieser Idee wird uns jedoch nur ex suppositione sichtbar, nämlich unter der Voraussetzung der Faktizität des kontingenten Daseins, welches wir nun seinerseits hinwiederum ex suppositione als ein necessarium bezeichnen müssen, wobei ich es vorziehen möchte, necessarium wörtlich mit »unausweichlich« anstatt mit notwendig zu übersetzen. 12
Das ›necessarium ex suppositione‹, das ›bedingt Notwendige‹, ist also eine Formel, mit der die aufgrund unserer spezifischen Daseinserfahrung – quoad nos – im eigentlichen Sinne notwendige Paradoxie der Identität von Natur und Wille Gottes und der Nichtnotwendigkeit der Schöpfung überwunden werden kann. Dabei weist das ›ex suppositione‹ auf die Differenz zwischen menschlicher und göttlicher Perspektive hin. Das ›ex suppositione‹ drückt eine Teilhabe an der göttlichen Perspektive seitens eines Wesens aus, das sich selbst als kontingentes Sosein erlebt. In der menschlichen Perspektive auf sich selbst, auf die Welt und durch diese auf Gott ist eine unaufhebbare Paradoxie enthalten. Die Überwindung des Widerspruchs, von dem der Gedankengang in dem Essay ausging, ist überhaupt nicht argumentativ leistbar, sondern nur durch den Verweis auf die Faktizität des Seins der Welt: Wenn die Frage nach der Notwendigkeit des Schöpfungswillens nach dem Enthaltensein dieses Willens in unserem Begriff des Wesens Gottes, mit anderen Worten nach der Deduzierbarkeit fragt, so muss sie strikte verneint werden. Ist jedoch nach dem »wirklichen«, d. h. konkreten Wesen Gottes als des Schöpfers gefragt, so ist die Frage inso-
11 12
Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 243. Ebd. 245.
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
fern sinnlos, als dieses faktische Wesen Gottes ja eben dadurch mit definiert ist, dass er der Schöpfer ist. 13
Abschließend weist Spaemann darauf hin, dass »das innere Verhältnis von abstraktem und konkretem Wesen Gottes« 14, das trotz der Aufhebung des Widerspruchs ex suppositone noch ungeklärt ist, nur durch eine Spekulation über die Trinität zu thematisieren ist, 15 was hier nicht weiterverfolgt werden kann. Inwiefern haben nun die theologischen Überlegungen dieses frühen Aufsatzes Spaemanns eine Aussagekraft in Bezug auf philosophische Fragestellungen, denen sich Spaemann in der Entfaltung seines Denkens in den folgenden Jahrzehnten widmete? Die Bedeutung dieses Aufsatzes ist nach meiner Einschätzung darin zu sehen, dass in ihm zum einen Begriffsdistinktionen durchdacht werden, die später im Rahmen von Spaemanns Personendenken von Bedeutung sein werden, dass zum anderen sich eine strukturelle Eigenart seines künftigen metaphysischen Denkens zeigt. Die »Realunterscheidung von Essenz und Existenz« 16, von der Spaemann hier spricht, wird eine zentrale Rolle spielen in seinen anthropologischen Überlegungen, für die die Anknüpfung an Thomas von Aquin von bleibender Bedeutung sein wird. Auch von der Person gibt es keine θεωρία und die Person kann ihre innere Differenz – ihre Distanz zu einem kontingenten Wesen – nur in der Paradoxie eines necessarium ex suppositione denken, in der das ›ex suppositione‹ sich aus dem Übersteigen der eigenen Perspektive ergibt. Philosophisch eingeholt wird dieser Gedanke erst in den Schriften Spaemanns der 80er und 90er Jahre. 17 Zum anderen lässt die Argumentationsstruktur dieses Aufsatzes, in dem es darum geht, die Auflösung des genannten Paradoxons zu vermeiden und vielmehr nach einem Horizont zu suchen, vor dem dieses Paradoxon als notwendig erscheint, eine Eigenart von Spaemanns Denken hervortreten. Durch eine Reflexion auf die Grenzen rationaler Argumentation gelangt er zu einem – vielleicht mit dem Begriff ›existentiell‹ am besten bezeichneten – Denken, für das die Einbeziehung des sich dem Begriff Entziehenden in den vernünftigen Diskurs konstituSpaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 245. Ebd. 15 S. ebd. 246–247. 16 Ebd. 244. 17 S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik, 415–508, u. Kapitel 6, Ontologie der Person, 509–650. 13 14
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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
tiv wird. Diese bei Spaemann offenbar im Religiösen wurzelnde Besonderheit seines Denkens wird sich in seiner weiteren Entwicklung in dezidiert philosophischen Positionen immer wieder zeigen.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen ausschließlich die unter dem Titel »Reflexion und Spontaneität« im Jahre 1963 1 veröffentlichten Studien über Fénelon, mit denen Spaemann sich 1962 habilitierte. François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651–1715) studierte Theologie am Pariser Priesterseminar St. Sulpice, war ab 1689 Erzieher des Enkels Ludwigs XIV. und ab 1695 Erzbischof von Cambrai im Norden Frankreichs. Er verfasste im Rahmen seiner pädagogischen Tätigkeit unter anderem den Abenteuer- und Bildungsroman »Les aventures de Télémaque« und ist darüber hinaus Autor theologischer Werke. Von Bonald wurde Fénelon – ebenso wie dessen Förderer und späterer Gegner Bossuet – zu den Vertretern der »wahren« Philosophie gezählt 2 und als »natürlicher«, d. h. vollkommener Mensch verehrt. 3 Spaemanns Interesse an ihm konzentriert sich auf die »querelle«, die Kontroverse zwischen Fénelon und dem Bischof von Meaux Bossuet (1627–1704) um den »amour pur«, den »letzten theologischen Streit, der im gebildeten Europa allgemein Anteilnahme« 4 fand. Hintergrund des Streits ist die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufgekommene Bewegung des Quietismus, die mystisches Gedankengut in adeligen Kreisen verbreitete: Zum einen wurde hier die höchste Stufe mystischer Kontemplation sozusagen in Schnellkursen für jedermann angeboten, was in Titeln wie »Pratique facile pour élever l’âme à la contemplation en forme de dialogue« (F. Malaval, Paris 1664) oder »Moyen court et très facile pour l’oraison« (Mme de Guyon, Grenoble 1685) anklingt. Zum ande-
Zweite erweiterte Auflage 1990. Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 35. 3 Vgl. ebd. 70. 4 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 16. 1 2
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
ren sollte diese privilegierte Form der Gottesnähe erreicht werden durch den Verzicht auf jede Anstrengung. In der »orazione di quiete«, auch »orazione passiva« genannt, sollte die Seele sich aller Akte der Meditation und diskursiven Kontemplation enthalten, um dem Wirken Gottes in ihr nicht durch menschliche Eigeninitiative zuvorzukommen. 5
In der kontroversen öffentlichen Diskussion um den Quietismus trat Fénelon mit seiner »Explication des Maximes des Saints sur la vie intérieure« (1697) als Verteidiger der Quietistin Mme de Guyon auf und zog sich damit die Feindschaft Bossuets zu, der ihn öffentlich angriff und die Verurteilung seiner Verteidigungsschrift durch Rom betrieb. Äußerlich endete der Streit mit der Niederlage Fénelons in der Verurteilung seiner »Maximes des Saints« durch Papst Innozenz XII. im Jahre 1699. Mit diesem Urteil war jedoch das Problem, das in dem Streit zutage trat, keineswegs gelöst und daher geht es Spaemann in seinen Studien um zweierlei: um die philosophiegeschichtliche und um die philosophische Bedeutung dieses Streits und der Lehre Fénelons. An dieser Stelle soll ein erster Ausblick auf diese beiden Seiten seines Interesses gegeben werden. Der Zentralbegriff der Kontroverse zwischen Fénelon und Bossuet ist der »amour pur« und für das Verständnis sowohl der philosophiegeschichtlichen wie der philosophischen Bedeutung des Problems ist es grundlegend zu sehen, wie die reine Liebe zum Gegenstand eines theologischen Streits werden konnte. Im Streit um den »amour pur« geht es um die Möglichkeit einer reinen, d. h. einer von jedem Eigeninteresse freien Gottesliebe. Während für Bossuet die Liebe zu Gott untrennbar mit der Hoffnung auf die ewige Seligkeit verbunden war, schien Fénelon die Gottesliebe solange unvollkommen, solange sie sich von der Reflexion auf das durch sie zu erlangende Heil nicht gelöst hat. 6
Im Kern geht es also um die Frage, ob das individuelle Heilsverlangen des Menschen in einen Gegensatz tritt zum Gottesglauben als einer die Grenzen des Individuellen überschreitenden Orientierung oder ob beides miteinander vereinbar ist. Noch grundsätzlicher aufgefasst geht es auf der einen Seite um eine mit den Begriffen Reflexion und Interesse verbundene Befangenheit in den Grenzen des Subjekts und
5 6
Nickl, Quietismus, in: HWPh VII, col. 1835. Ebd.
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auf der anderen Seite um eine mit dem Begriff Liebe verbundene absolute Selbsttranszendenz. In dem Streit ging es somit um die Frage, ob eine absolute Selbsttranszendenz in der reinen Liebe möglich ist oder ob jede menschliche Liebe, auch die zu Gott, in den Grenzen des Subjekts verbleiben muss, weil das, was geliebt wird, nie die Sache selbst ist, sondern immer nur ein subjektives Bild derselben bleibt. Zunächst soll nun der philosophiegeschichtliche Aspekt dieser Fragestellung kurz beleuchtet werden. Die Studien über Fénelon können als eine Fortsetzung der in der Dissertation über Bonald begonnenen Arbeit gelesen werden. In der Französischen Revolution wurde eine Entzweiung gesellschaftliche Realität, deren Wurzeln weiter in die Vergangenheit zurückreichen. Fénelons Bedeutung besteht in den Augen Spaemanns darin, dass »er vielleicht als erster Theologe […] die Frage nach der Möglichkeit christlicher Existenz unter den Bedingungen der Entfremdung gestellt hat« 7, dass er »das Problem christlicher Existenz auf dem Boden der Moderne, auf dem Boden der Entzweiung gestellt hat« 8. Konkret stellt sich also die Frage, inwiefern im Streit um den amour pur jene Entzweiung vielleicht zum ersten Mal klar zutage tritt, die später in der Französischen Revolution gesellschaftliche Realität wurde. Wenn die Lehre von der Caritas, die in der katholischen Schultheologie bereits eine außerordentlich differenzierte Ausbildung seit Jahrhunderten besaß, plötzlich zum Anlaß eines Europa bewegenden Streits wurde, so kann der Grund dafür nur gefunden werden, wenn man fragt, inwiefern das allgemeine philosophische Denken der Zeit und ihr Lebensgefühl Wandlungen erfahren hat, in Anbetracht deren bestimmte alte Antworten nicht mehr als Antworten auf die eigenen Fragen erscheinen. 9
Bossuet und Fénelon teilen Denkvoraussetzungen, durch die ein in der mittelalterlichen Theologie argumentativ auflösbares Problem in eine Aporie führen kann, deren Ausblendung auf der Seite Bossuets erhebliche theologische und kirchengeschichtliche Konsequenzen haben sollte, deren Annahme auf der Seite Fénelons dagegen zur Infragestellung des menschlichen Denkens selbst führte. Das philosophiehistorische Interesse Spaemanns in den Studien über Fénelon besteht darin, diese Denkvoraussetzungen des 17. Jahrhunderts als 7 8 9
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 21. Ebd. 23. Ebd.
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Ursprung der fortwirkenden Entzweiung zu erforschen und damit gegenüber der Studie über Bonald das dort bereits zutage getretene Problem fundamental an seinen historischen Wurzeln anzupacken. So wie aber auch schon die Studie über Bonald mit der Kritik Spaemanns an dessen Funktionalismus zu einer impliziten Kritik an der hermeneutischen Methode Ritters wurde, so liegt den Studien über Fénelon über das philosophiehistorische Interesse hinaus ein genuin philosophisches am »absolute[n] Inhalt des Glaubens in seiner alle geschichtliche Realisierung transzendierenden Gestalt« 10 zugrunde. Während die philosophiehistorisch ermittelbaren Denkvoraussetzungen von Fénelon und Bossuet geteilt werden, entsteht der Streit zwischen beiden eigentlich erst dadurch, dass Fénelon im Unterschied zu Bossuet an tradierten Glaubensüberzeugungen festhält, die mit den erwähnten Denkvoraussetzungen nicht vereinbar sind und ihn zu radikalen Konsequenzen zwingen. Gerade diese paradoxe Verbindung von Denkvoraussetzungen, die ihn als Kind seiner Zeit erscheinen lassen, mit der bewahrten Orientierung am Absoluten, die als das »Schimärische« 11 seiner Lehre bezeichnet wurde, liegen dem eigentlich philosophischen Interesse Spaemanns an Fénelon zugrunde. Fénelons Lehre ist in ihrem gedanklichen Kern ebenso einfach wie in ihren Implikationen und Auswirkungen verschlungen. Mit folgenden gedanklichen Schritten wird in diesem Kapitel versucht, das Fénelon’sche Denken zu umkreisen und seine Eigenart hervortreten zu lassen: Um die erwähnten geistigen Voraussetzungen sowohl der Fénelon’schen Lehre als auch des Streits mit Bossuet zu verstehen, sollen zunächst die bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie des 17. Jahrhunderts skizziert werden (4.1), vor deren Hintergrund dann Fénelons in mystischer Tradition stehende Lehre als ›kleine Mystik‹ in ihrem Grundzug und in ihren wesentlichen theoretischen Leistungen dargestellt werden kann (4.2). Um seine Lehre stärker diskursiv zu umreißen, folgen anschließend im Hinblick auf Descartes, auf Leibniz und Malebranche sowie auf Thomas von Aquin Ausführungen zur philosophiegeschichtlichen Verortung Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 192. 11 Dieses Schlagwort geht zurück auf die Jansenisten, die von den »schimärischen Prinzipien« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 17 – in Bezug auf Fénelons Lehre sprachen. Spaemann verweist dazu in einer Anmerkung – ebd. 309 – auf eine Schrift des jansenistischen Theologen und Philosophen P. Nicole (1625–1695). 10
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
seiner Lehre (4.3). Im nächsten Schritt wird der Blick gelenkt auf die Folgen der Niederlage Fénelons im Streit mit Bossuet für die katholische Kirche und auf den Sieg des Fénelonismus in der Philosophie Kants und anderer (4.4). Aufbauend auf dieser Untersuchung der weit reichenden philosophiegeschichtlichen Vernetzung Fénelons soll auf einer Metaebene die Perspektivik von Spaemanns Studie und damit ihre wissenschaftliche Methode betrachtet werden, um die geschichtsphilosophische Bedeutung dieser Studien über Fénelon herauszuarbeiten (4.5). Abschließend wird Spaemanns Gesamtdeutung des Phänomens Fénelon nachgezeichnet, wobei sowohl die Größe als auch die Grenzen Fénelons beleuchtet werden (4.6).
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4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie
Das zweite Kapitel der Studien über Fénelon widmet sich unter dem Titel »Voraussetzungen: Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie« den oben erwähnten Denkvoraussetzungen der beiden Kontrahenten im Streit um den amour pur. Ausgangspunkt ist hier die Frage »nach dem sachlichen Hintergrund jenes Zerwürfnisses […], das über einer Frage entstand, über die schließlich bereits eine jahrhundertealte hochdifferenzierte und von Fénelon ebenso wie von Bossuet anerkannte Lehrtradition vorlag.« 1 Den im 17. Jahrhundert zutage tretenden Wandel des Bewusstseins, durch den die »schroffe[ ] Entgegensetzung von amour propre und amour pur de Dieu« 2, Eigenliebe und reiner Gottesliebe, möglich wurde, fasst Spaemann unter folgenden beiden Aspekten: »1. das nichtteleologische Verständnis der Natur und des Menschen als Naturwesen, 2. die Selbstreflexion des Subjekts als Ausgangspunkt der Metaphysik wie der Ethik und – damit zusammenhängend – die Umschmelzung der Philosophie in die Form des Systems.« 3 Im Folgenden sollen beide Aspekte knapp erläutert und ihre Bedeutung im amour-pur-Streit dargelegt werden. Die nichtteleologische Ontologie fand ihren paradigmatischen Ausdruck in dem oben im Zusammenhang mit Bonald 4 bereits zitierten Satz Spinozas: »Per realitatem et perfectionem idem intelligo.« 5 Ebenso wie in der Bonald-Studie stellt Spaemann in den Studien über Fénelon diesem Satz die aristotelische Unterscheidung von Sein und Vollkommenheit bzw. Leben und gutem Leben (ζῆν und εὖ ζῆν) gegenüber. Die Vollkommenheit erscheint dem Sein gegenüber als »zweite Wirklichkeit«: Diese zweite Wirklichkeit aber hat ihrerseits wiederum teleologische Struktur, denn sie wird als »Tätigkeit« bestimmt. Drei Axiome des Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 58. Ebd. 59. 3 Ebd. 59–60. 4 Vgl. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 122–123. 5 Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, 100. – Deutsch: »Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe.« – Ebd. 101. 1 2
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4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie
mittelalterlichen Aristotelismus genügen, um diese Struktur schematisch zu kennzeichnen. Das erste Axiom lautet: »Alles Seiende ist um seiner ihm eigenen Tätigkeit willen.« 6 Das zweite Axiom lautet: »Die Tätigkeit ist die höchste Vollkommenheit eines Dinges« 7, das dritte: »Alles wirkt um eines Zieles willen.« 8 Das, was ist, hat sein Worumwillen in einer ihm entsprechenden, durch sein Sein vorgezeichneten Tätigkeit. Diese Tätigkeit ist gegenüber dem bloßen Vorhandensein des tätigen Subjekts eine zweite, potenzierte Wirklichkeit. Die Tätigkeit ihrerseits geschieht um eines Zieles willen, in dessen tätiger Erreichung sich das Wesen dessen, was ist, erfüllt. 9
Der Unterscheidung liegt also das Potenz-Akt-Schema zugrunde, wodurch das Einzelding nicht einfach mit sich identisch, sondern auf eine Entfaltung seiner Anlagen ausgerichtet ist. Diese teleologische Interpretation der Natur und des Menschen wurde zu Beginn der Neuzeit »geopfert […] als gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebiert« 10. An die Stelle dieser teleologischen Interpretation der Natur tritt in der Neuzeit ein funktionalistisch auf Selbsterhaltung ausgerichteter Naturbegriff, der bereits in der Bonald-Studie thematisiert wurde 11 und nun von Spaemann auf den Begriff »Inversion der Teleologie« gebracht wird: An die Stelle der dynamisch-teleologischen Struktur, kraft deren alles, was ist, auf eine ihm gemäße Tätigkeit, diese Tätigkeit aber ihrerseits auf die Realisierung eines spezifischen bonum ausgerichtet ist, tritt nun eine Inversion der Teleologie: Das Sein steigert sich nicht zum Tätigsein, sondern die Tätigkeit ihrerseits hat zum alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist. Es ist wiederum Spinoza, der dieser Ontologie den klassischen Ausdruck verliehen hat, wenn er das Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin, Sum. theol. III, qu. 9, art. 1. Vgl. Aristoteles, De caelo II, 3. 286a. Vgl. auch Sum. theol. I, qu. 105, art. 3: »Die Form, die die erste Wirklichkeit ist, ist um ihrer Tätigkeit willen, welche die zweite Wirklichkeit ist.« – Ebd. 317. 7 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 73, art. 1, und I, II, qu. 3, art. 2. – Ebd. 317. 8 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 44, art. 4. – Ebd. 317. 9 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 60–61. 10 Ebd. 61. – Spaemann zitiert hier frei Francis Bacon, ein Zitat, das in seinen späteren Schriften leitmotivisch zur Kennzeichnung der antiteleologischen Philosophie wiederkehrt. Als Quelle des Zitats verweist er auf: De augmentis scientiarum, lib. III, cap. 5, in: The Works of Lord Bacon II, London 1841, S. 340: »Denn die Untersuchung von Zweckursachen ist unfruchtbar, und sie gebiert, wie eine gottgeweihte Jungfrau, nicht.« – Ebd. 317. 11 Vgl. Abschnitt 3.2.3, Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit, 111–114. 6
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Seiende schlechterdings durch diese Inversion, d. h. durch Erhaltung seiner selbst definiert: »Das Bestreben, wodurch jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen der Dinges selbst.« 12
Spaemann betont, dass sowohl Bossuet als auch Fénelon »mehr oder weniger unausdrücklich auf dem Boden der neuen Philosophie« stehen und Fénelon »die klassische Potenz-Akt-Theorie« 13 ablehnt. Für die Kontroverse um den amour pur folgt daraus zunächst, dass eine reine Selbsttranszendenz angesichts der vollständigen »Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung« 14 aus der menschlichen Natur nicht hervorgehen kann und nur von außen kommend, d. h. als Gnadengeschehen denkbar ist. Wie dem teleologischen Naturverständnis eine Ethik korrespondiert, die eine Reflexion über das ›bloße Leben‹ hinaus auf das ›gute Leben‹ voraussetzt, so ist die praktische Konsequenz einer Ontologie der Selbsterhaltung »die bürgerliche Ethik des 16. und 17. Jahrhunderts, die sowohl in ihrer stoischen wie in ihrer epikuräischen Variante eine individualistisch-egozentrische Ethik ist und das Sittliche aus dem Streben nach Selbsterhaltung oder nach Lustgewinn herleitet.« 15 Bei dieser die »Philautie« 16 legitimierenden Ethik handelt es sich um eine eudämonistische Ethik, die sich dennoch grundlegend unterscheidet von eudämonistischen Ethiken der Antike oder des Mittelalters. Als eudämonistische Ethiken bezeichnet man allgemein solche, die in der Glückseligkeit das Ziel des menschlichen Handelns bzw. im Streben nach Glückseligkeit den Grund der Sittlichkeit sehen. Im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Philosophie wurde diese Orientierung an der menschlichen Glückseligkeit nicht zum Problem. 17 Dies ändert sich im neuzeitlichen Denken, wenn der Eudämonismus in den Verdacht gerät, Ausdruck einer egozentrischen Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 61. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Spinoza, Ethica III, Prop. VII. Opera II. S. 146. – Ebd. 317. – Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66, u. Abschnitt 3.2.3, Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit, 112. 13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 63. 14 Ebd. 62. 15 Ebd. 30. 16 Ebd. 65. 17 Vgl. die Ausführungen zu Spaemanns Stuttgarter Antrittsvorlesung unter dem Titel »Die zwei Grundbegriffe der Moral« in Abschnitt 5.3.2, Das Absolute in ethischer Perspektive, 304–313. 12
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4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie
Haltung zu sein, die nur überwunden werden kann durch das Absehen vom eigenen Interesse und somit durch einen guten Willen, den Kant in seiner Pflichtethik in den Mittelpunkt stellt. Das 16. und 17. Jahrhundert stellt in dieser Entwicklung einen Übergang dar mit einer »bürgerlichen Philosophie […], die in ihren großen systematischen Vertretern die Ethik gerade im Ausgang vom Interesse neu zu begründen bestrebt ist« 18. Es liegt auf der Hand, dass Selbsttranszendenz bzw. die Möglichkeit einer reinen Gottesliebe mit einer in diesem Sinne eudämonistischen Ethik kaum vereinbar sein dürften. Dass die »Selbstreflexion des Subjekts« 19 Ausgangspunkt des Denkens sowohl in der Metaphysik als auch in der Ethik ist, zeigt sich also dort am Selbsterhaltungsparadigma, hier am Prinzip der Philautie. Darüber hinaus dringt, wie Spaemann zeigt, mit dem Ausgang von der Selbstreflexion des Subjekts der aus neuzeitlicher Sicht selbstverständlich erscheinende Begriff des Systems erst im 17. Jahrhundert »aus der Astronomie und Musik in die philosophische und theologische Terminologie« 20 ein: »Die Entstehung dieses Begriffs, der gewöhnlich von zeitgenössischen Autoren durch die Kohärenz von Aussagen untereinander und ihre Ableitung von einem gemeinsamen ›Prinzip‹ definiert wird, zeigt eine tiefgreifende Wandlung des Denkens, die keineswegs ohne Bedeutung für dessen Inhalt ist.« 21 Indem in der beginnenden Neuzeit bei Telesio und Campanella die Selbsterhaltung zum höchsten Gut wird, ergibt sich die Möglichkeit einer »systematische[n] Ableitung aller Tugenden aus einer Wurzel«, womit »zum erstenmal ein ›System‹ der Ethik« 22 entsteht. Damit ist eine Verwandlung des philosophischen Denkens im Allgemeinen zu einer Subjektphilosophie eingeleitet: »Die Interpretation aller philosophischen Aussagen zu einem homogenen Ganzen ist die Folge einer Vermittlung aller dieser Aussagen durch die Reflexion des Subjekts.« 23 Auch in diesem Zusammenhang dürfte deutlich sein, dass die »theozentrische Einheit« 24, um die es beim Gedanken einer reinen, Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 81. – Spaemann nennt an anderer Stelle als solche großen systematischen Vertreter Telesio, Campanella und Spinoza. – Vgl. ebd. 46. 19 Ebd. 59. 20 Ebd. 68. 21 Ebd. 22 Ebd. 67. 23 Ebd. 68. 24 Ebd. 45. 18
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
von Selbstsucht freien Gottesliebe gehen muss, zu dieser Subjektzentrierung in einem direkten Gegensatz steht. 25
Das Kapitel »Voraussetzungen: Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie« aus »Reflexion und Spontaneität« wurde 1976 in dem von Hans Ebeling herausgegebenen Band »Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne« neben anderen Beiträgen zu diesem Thema unter anderem von Dieter Henrich, Hans Blumenberg und Günther Buck wieder abgedruckt und kritisch erörtert. So schreibt Hans Ebeling in der »Einleitung: Das neuere Prinzip der Selbsterhaltung und seine Bedeutung für die Theorie der Subjektivität«, Spaemann wecke mit seinem Beitrag zu diesem Thema »den Sinn für das mögliche neue und tatsächlich ganz veränderte Selbstverständnis von ›Selbsterhaltung‹ in der frühen Neuzeit« »durch eine These, die zunächst plausibel erscheint: die Lehre vom Ziel wird umgedreht, und eben dadurch Selbsterhaltung als Ziel zugänglich. Damit ist ein Neues anerkannt. Doch es wird darauf reduziert, die bloße Umdrehung eines Alten zu sein. Das Neue ist bestenfalls Schwundstufe, ein herabgekommenes Altes, das aus Mangel an Perspektive auf das starrt, was vorher nur von untergeordneter Bedeutung war, und aus diesem Mangel heraus das Leben als Überleben zum einzigen Interesse erhebt. Die Inversion der Teleologie, die Spaemann aufdecken will und deren konstitutive Bedeutung für das neuzeitliche Verständnis der Selbsterhaltung er betont, erschließt positiv, daß ›Selbsterhaltung‹ im Prozeß der Ablösung von Denkschemata primär der christlichen Theologie aufhört, eine untergeordnete Rolle zu spielen. Aber die These bestimmt die neue Rolle der Selbsterhaltung nicht ihrerseits positiv.« – Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 21. – Hans Blumenberg bemerkt in demselben Band: »R. Spaemann hat […] den Begriff der Selbsterhaltung als Inversion der Teleologie darzustellen gesucht. Diese Inversion erweist sich aber als bloße Reduktion der aus der aristotelisch-scholastischen Metaphysik stammenden Unterscheidung von actus primus und actus secundus. […] Die Begriffsgeschichte von ›Selbsterhaltung‹ ist weder aus der stoischen Rezeption noch aus der Reduktion aristotelisch-scholastischer Teleologie und Actus-Lehre zureichend darzustellen.« – Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung, in: Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 144–145. – Günther Buck schließlich schreibt: »R. Spaemann hat diesen Prozeß [den der Entteleologisierung], um zu betonen, daß durch ihn die Kategorie des Telos nicht einfach eliminiert wird, treffend als ›Inversion der Teleologie‹ charakterisiert: Für die mittelalterliche teleologische Ontologie wie für den nicht weniger teleologisch denkenden nachmittelalterlichen Platonismus erfüllt sich das Sein eines jeden Seienden in einer ihm gemäßen Tätigkeit, die auf die Realisierung eines bestimmten Zieles aus ist. […] Die neuzeitliche Inversion der Teleologie ließe sich demnach so bestimmen: Das menschliche Sein ›steigert sich nicht zum Tätigsein, sondern die Tätigkeit ihrerseits hat zum alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist‹. Diese Bestimmung des neuzeitlichen Prinzips der Selbsterhaltung scheint mir indessen das Wesen dieser Inversion, ihre implizite Dialektik, nicht recht zu treffen. […] Die ›Inversion der Teleologie‹ kann, ausdrücklich oder unausdrücklich, kaum den Sinn gehabt haben, das Denken und Handeln des Menschen auf die Stufe einer Kategorie zu reduzieren, die sich für das Verständnis gerade des außermenschlichen (tierischen) Lebendigen immer schon aufgedrängt hatte. Die teleologische – und d. h.: theologische – Ontolo25
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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹
Ausgangspunkt des Streits mit Bossuet war, wie erwähnt, Fénelons Verteidigung der quietistischen Mystikerin Mme Guyon in den »Maximen der Heiligen«, mit denen er versuchte, »den wahren Sinn der Aussagen der Mystiker von den quietistischen Mißdeutungen zu unterscheiden und sie durch eine orthodoxe Interpretation zu ›retten‹« 1. Als »Theoretiker der Mystik« entwickelte er so eine »kleine Mystik«, in der es in erster Linie um konkrete praktische Umsetzbarkeit und »ein konsequentes Ausscheiden alles theoretischen und spekulativen Inhalts aus der Mystik« 2 ging. Nach der Verurteilung seiner »Maximes des Saints« durch Papst Innozenz XII. im Jahre 1699 war Fénelon viel daran gelegen, den Eindruck zu vermeiden, dass Bossuet in der Sache gewonnen hätte und seine Lehre von der reinen Liebe als Irrlehre überführt wäre. Zwar akzeptierte Fénelon unumwunden die Verurteilung durch den Papst, blieb dabei jedoch davon überzeugt, »die Kirche habe die ›reine Liebe‹ nie verurteilt, sondern deren unzulängliche Darstellung in den ›Maximen der Heiligen‹« 3. Mit Bezug auf eine von Bossuet in kirchlichem Auftrag verfasste Schrift, die eine Art offiziellen Abschluss der Affäre darstellen sollte 4, stellte Fénelon mit Entschlossenheit und ungemindertem Kampfesgeist fest: »Actum esset de illo purissimo igne, quem dominus Jesus voluit vehementer gie wird nicht biologisch destruiert.« – Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in: Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 216–217. – Eine Entgegnung auf die hier von verschiedenen Seiten vorgetragene Kritik an Spaemanns Konzeption der Inversion der Teleologie ist nur möglich auf der Grundlage der positiven Ausdeutung der Subjektivität im neuzeitlichen Verständnis durch Spaemann. Nach der hier vorgelegten Interpretation gewinnt diese ihre endgültige Gestalt aber erst mit der Ontologie der Person, die Gegenstand des achten Kapitels sein wird. Insofern Teilkapitel 12.1 im Sinne einer retrospektiven Illumination Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Teleologie-Problem noch einmal vom Standpunkt seiner hier vor allem in den Kapiteln sechs bis neun zu entwickelnden Ontologie beleuchten wird, soll dort noch einmal Bezug genommen werden auf die hier zitierte Kritik seiner Konzeption. – Vgl. Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 878–879, Fn. 32. 1 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 28. 2 Ebd. 29. 3 Ebd. 35. 4 Vgl. ebd. 37.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
accendi, et quem extinctum Meldensis vellet.« 5 Aus Fénelons Sicht stand in diesem Streit nicht sein eigenes Ansehen auf dem Spiel, sondern »die Substanz des Christlichen« 6. Daher griff er nach der Verurteilung wieder zur Feder, um den »sensus autoris« 7, also den von ihm eigentlich intendierten Sinn der Maximen, der von der kirchlichen Interpretation nicht erkannt worden war, deutlich zu machen. Dieses Vorhaben realisierte er in seiner »Dissertatio de amore puro«, die Spaemann als »reifste Darstellung« 8 seiner Lehre bezeichnet und zum Ausgangspunkt ihrer Darlegung macht. Fénelon ist der »Lehrer der reinen Liebe, der nur diese Lehre als ›mein System‹ bezeichnet« 9. Sein gesamtes Denken geht hervor aus »diesem Gedanken, dem einzigen Fénelons« 10, weshalb es zunächst von zentraler Bedeutung ist, diesen sowohl in seiner Einfachheit als auch in seiner Komplexität zu verstehen. »Amour pur, das bedeutete: Aufhebung jeder naturhaften Unmittelbarkeit, aber auch der Reflexion, die in der Zerstörung der ersten Unmittelbarkeit selbst noch ihren Inhalt aus dieser empfängt.« 11 Diese Bestimmung des amour pur deutet einen Dreischritt an: Es gibt erstens eine naturhafte Unmittelbarkeit, zweitens deren Zerstörung durch die Reflexion und drittens die Überwindung der Reflexion, die dann den Namen der reinen Liebe trägt. Dieser Dreischritt stellt also ein Entwicklungsmodell dar, das sowohl geschichtsphilosophisch als auch pädagogisch verstanden werden kann. Im pädagogischen Verständnis stellt der »Geist der Kindheit« 12 die Stufe der naturhaften Unmittelbarkeit dar, wohingegen die geistige Disposition eines normal entwickelten Erwachsenen die Stufe der Reflexion darstellt. Die Komplexität des einfachen Gedankens von der reinen Liebe bei Fénelon ergibt sich aus der Frage, wie die Stufe der Reflexion überwunden und eine reine Liebe nach dem Vorbild der Liebe Gottes realisiert werden kann. In Fénelons Worten: »Nach seinem Bild und Gleichnis gemacht, müssen wir 5 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 39. – Deutsch: »Es wäre um jenes reine Feuer geschehen, das der Herr Jesus vehement anfachen wollte und das der Bischof von Meaux ausgelöscht wünscht.« III, 547. – Ebd. 312. 6 Ebd. 39. 7 Ebd. 35. 8 Ebd. 36. 9 Ebd. 237. 10 Ebd. 303. 11 Ebd. 36. 12 Das siebente Kapitel der »Studien über Fénelon« trägt den Titel: »Der ›Geist der Kindheit‹ und die Entdeckung des Kindes«. – Ebd. 148–169.
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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹
so wollen und lieben, wie er selbst will und liebt, d. h. umsonst und ohne das Motiv einer zu erreichenden Seligkeit« 13. Näher an das Verständnis der reinen Liebe heran führt daher die Problematisierung der Reflexion. In seiner Thematisierung der Reflexion sieht Spaemann Fénelons wesentliches philosophisches Verdienst: »Die Weise, wie Fénelon die Reflexion als zentrales Problem thematisiert, verleiht ihm mehr als alles seinen Rang in der Geschichte des neuzeitlichen Bewußtseins.« 14 Die Reflexion ist das zentrale Problem in Fénelons Lehre von der reinen Liebe, denn sie »macht gerade das unmöglich, wonach sie auf der Suche ist, […] die Transzendenz« 15. Worin besteht nun im Kern das Problem der Reflexion? Die Reflexion zerreißt den direkten Zusammenhang zwischen einem Subjekt und seinen Objekten, denn in jedem reflexiven Bezug auf ein Objekt ist nicht das Objekt selbst vorhanden, sondern nur eine subjektive Vorstellung, seine Relevanz für das Subjekt. Von zentraler Bedeutung ist daher für Fénelon die »Unterscheidung von Objekt und Motiv« 16 oder, mit anderen Worten, die »Unterscheidung zwischen Objekt des Besitzes und Besitz des Objekts« 17. Durch die Reflexion wird jedes Objekt auf das Ich und die Eigenliebe bezogen und erscheint so nur noch in seinem Nutzwert für das Subjekt: Diese Reflexion ist es, die, indem sie erst die »Zueigenheit«, die »propriété« stiftet, für Fénelon wie für die gesamte Mystik zur eigentlichen Ursünde wird. Aber hinter diese Reflexion kann nun nicht zurückgegangen werden auf eine ursprüngliche ungebrochene Einheit von Subjekt und Objekt, sondern sie kann nur aufgehoben werden in jenem »abandon total«, jener vollkommenen Hingabe des Subjekts, die für Fénelon das Wesen der reinen Liebe ausmacht. 18
Den Versuch eines solchen Zurückgehens hinter die Reflexion auf eine ungebrochene Einheit von Subjekt und Objekt erkennt Fénelon in der eudämonistischen Ethik seines Zeitalters, die er leidenschaftlich bekämpft: »Der individualistische Motivbegriff dient Fénelon nur Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 43. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Œuvres complètes de Fénelon, archévêque de Cambrai (Edition de Saint-Suplice), 10 Bände, Paris, Lille, Besancon, 1848–1852, III, 424. – Ebd. 313 u. 351. 14 Ebd. 127. 15 Ebd. 131. 16 Ebd. 42. 17 Ebd. 46. 18 Ebd. 13
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dazu, die individualistisch-eudämonistische Moral aus den Angeln und die Unmittelbarkeit des natürlichen Interesses aufzuheben.« 19 Um im Gedankengang weiterzukommen, muss im nächsten Schritt geklärt werden, wie die »vollkommene Hingabe des Subjekts«, von der Fénelon spricht, vorzustellen ist. Die Besonderheit der Position Fénelons lässt sich am besten herausarbeiten, wenn man ihn mit einem anderen Kritiker der bürgerlichen Moral und Vertreter eines »aristokratische[n] Ideal[s] von Uneigennützigkeit« 20, nämlich La Rochefoucauld (1613–1680), vergleicht, dessen »Maximen und Reflexionen« nach Spaemann »mit wenigen Ausnahmen Variationen und Exemplifikationen« sind des Satzes: »Wir können nichts lieben, es sei denn in Beziehung auf uns« 21. Wie Spaemann darlegt, hat »seine Suche nach dem amour propre noch in den sublimsten Regungen der Liebe und der Freundschaft […] ganz eindeutig den Sinn einer skeptischen Entlarvung« 22. In diesem Sinne besteht eine offensichtliche Nähe zwischen La Rochefoucauld und Fénelon, die aber nicht über den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Positionen hinwegtäuschen darf: Die psychologische Reflexion, die sich auf die innere, die Motivation der Handlung bedingende Grundverfassung des Daseins richtet, kann die Liebe als Quelle der Spontaneität nicht erreichen, weil sie selbst die Manifestation jenes »Interesses« ist, das in der Liebe überwunden wird. Spontaneität und Reflexion schließen einander aus. 23
Selbst die auf die Spitze getriebene skeptische Selbstentlarvung eines La Rochefoucauld ist demnach noch Ausdruck der Eigenliebe und erreicht noch nicht die Spontaneität der reinen Liebe und es stellt sich die Frage, welche Steigerung noch möglich sein soll, um aus der »Kühlanstalt« 24 des Selbst entfliehen zu können. Die Antwort besteht in einem spezifischen Prozess der Entleerung: »Die Selbstaufhebung der Reflexion, um die es Fénelon geht, kann, da sie nicht direkt gewollt werden kann, nur so geschehen, daß die Reflexion selbst das
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 80. Ebd. 117. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd. 136. 24 Ebd. 280. – Spaemann zitiert hier Jean Paul und verweist auf folgende Quelle des Zitats: Levana, Sämtl. Werke Abt. I, Bd. 12, S. 336. – Ebd. 346–347. 19 20
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Interesse zerstört, welches ihr zugrunde liegt.« 25 Erst wenn die Reflexion »sich selbst und die Befriedigung des Hochmuts als Triebfeder der eigenen Moralität offenbart«, kehrt sie sich gegen sich selbst, wird die »moralische Skepsis des aristokratischen Weltmannes La Rochefoucauld […] zur Verzweiflung bei dem aristokratischen Kirchenmann Fénelon« 26. Was übrig bleibt, ist ein »Zustand innerer Leere und Öde, in dem die Reflexion nichts mehr findet, worauf sie ihr Interesse richten könnte als sich selbst und ihre eigene Nichtigkeit. In diesem Zustand gelangt der Mensch zu einer ›reflektierten Überzeugung von der eigenen Verdammnis‹.« 27 Dieser Zustand ist »der Untergang der Reflexion, die sich nun als identisch mit jenem amour propre erweist, den sie beständig zu enthüllen schien« 28, zugleich ist dies der »Zustand der äußersten Gottesferne« 29, der paradoxerweise das letzte aus eigener Kraft erreichbare Ziel darstellt: »Denn diese äußerste Gottesferne ist die Bedingung der Befreiung des Menschen zu Gott, die äußerste Entfremdung der Anfang der Versöhnung, die erbarmungslos zu Ende geführte Reflexion die Bedingung für die Entbindung neuer, ungebrochener Spontaneität.« 30 Aus dem Zirkel der Reflexion kann nur die Aufgabe jeglichen Eigeninteresses herausführen, die zugleich Annahme der eigenen Verdammnis ist und in verzweifelter Gottesferne paradoxerweise den höchsten Akt des Gehorsams gegenüber Gott darstellt: Gehorsam ist für Fénelon die letzte Antwort auf das Problem der unendlichen Reflexion. Solange der Sprung aus der Selbstisolierung heraus selbst nur in der Reflexion geschieht, bleibt er nichtig. Erst in der realen Übergabe des eigenen Willens an den eines andern geschieht die reale Befreiung, die Befreiung von der Gefangenschaft des Ich in sich selbst. 31
Die vollkommene Hingabe des Subjekts wird somit erreicht »durch den Tod jener um sich selbst kreisenden Natur« 32. Diese Radikalität Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 140. Ebd. 141. 27 Ebd. 142. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 142–143. – Vgl.: »Vielleicht könnte man Fénelons Standpunkt zugespitzt mit dem Satz: ›Wer nicht suchet, der findet‹ ausdrücken.« – Kreuzer, Die wahre Definition der Caritas, 159, Fn. 4. 31 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 192. 32 Ebd. 57. 25 26
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seiner Position und ihr geradezu masochistisches Selbstverhältnis mussten Widerspruch hervorrufen und so war die Forderung eines »bedingten Verzicht[s] auf die Glückseligkeit […] der am erbittertsten umkämpfte Punkt im Streit um den amour pur« 33. Im Folgenden soll dargelegt werden, wie Fénelon in seiner »Dissertatio de amore puro« die Kritik an der Radikalität seiner Position zu widerlegen versuchte. Wie eingangs erwähnt wurde, erblickt Spaemann Fénelons Bedeutung darin, dass er als erster Theologe »das Problem christlicher Existenz auf dem Boden der Moderne, auf dem Boden der Entzweiung gestellt hat« 34. Die volle Bedeutung dieser Aussage kann nun an dieser Stelle deutlich gemacht werden. Vom bürgerlichen Denken, in dem stets das subjektive Interesse auffindbar ist, führt nur ein Sprung zur reinen Liebe und zu Gott, da, wie gesehen, erst die Überwindung der Reflexion selbst von der Befangenheit im amour propre befreit. Nur wenn der allenthalben wirksame amour propre als solcher erkannt wird, kommt die Entzweiung zum Bewusstsein, die Antrieb für den umrissenen Entleerungsprozess ist und zur Befreiung des Menschen zu Gott führt: »Die theozentrische Einheit ist für ihn an die Bedingung geknüpft, daß diese Entzweiung zur Darstellung kommt, daß der Schein einer fiktiven Identität von Allgemeinem und Privatem, die es diesen erlaubt, sich für das Allgemeine auszugeben, zerstört wird.« 35 Wenn aber dieses Zur-Darstellung-Kommen der Entzweiung letztlich zur Selbstaufhebung der Reflexion führt, so muss, soll der Gedanke einer theozentrischen Einheit nicht seinerseits als Ausdruck des Interesses verworfen werden, eine gewisse Doppelsichtigkeit konstatiert werden. Diese Doppelsichtigkeit äußert sich in der deutlichen Trennung einer »konkret-psychologische[n]« und einer »abstrakt ontologische[n] Redeweise«, in deren Vermischung Fénelon »den einzigen Fehler der Maximen gesehen« 36 hat: Ist psychologisch gesprochen, d. h. von der existentiellen religiösen oder moralischen Erfahrung her gesehen – und darüber hinaus für Fénelon unter der geschichtlichen Voraussetzung des Sündenfalls – das Selbstopfer die Verneinung des eigenen Ich zugunsten des bonum universale – des Vaterlandes oder Gottes, so ist eben jenes Transzen33 34 35 36
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 57. Ebd. 23. Ebd. 45. Ebd. 54.
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dieren des eigenen Selbst ontologisch die Erfüllung der menschlichen Natur, zu der dieses Sich-selbst-Transzendieren gehört. 37
Das Geschehen der Selbsttranszendenz, das als Folge der Aufhebung der Reflexion gedacht wird, kann seinerseits also doch in abstrakt ontologischer Redeweise begrifflich gefasst werden. Dass dies möglich ist, erklärt Fénelon nun damit, dass die zu überwindende Natur selbst ein »Produkt des Sündenfalls« ist: »Die Sünde, das ist jene die reine Spontaneität der Gottesliebe erstickende Reflexion des Menschen auf seine ›Eigenheit‹, auf sein bonum privatum, insofern dieses vom κοινόν, vom Gemeinsamen gerade unterschieden ist oder aber dieses auf eine Funktion des ›Privatwohles‹ reduziert wird.« 38 In der abstrakt ontologischen Redeweise ergibt sich also die Möglichkeit, über den Menschen unter Absehung von der historischen Kontingenz des Sündenfalls zu sprechen. Somit ist der Sinn des Verzichts auf die Glückseligkeit, den Fénelon in der Dissertatio zu verteidigen versuchte, »ein psychologischer: die Befreiung von der ichbezogenen Reflexion. Er besagt nichts über das tatsächliche Heil des Menschen, ja man könnte sogar paradox formulieren, daß für Fénelon nur jene das Heil erlangen, die bereit sind, um Gottes willen auf ihr Heil zu verzichten.« 39 Das »Auseinandertreten von Psychologie und Ontologie« 40, in dem sich nach Spaemann methodologisch die Entzweiung im Denken Fénelons zeigt, kann demnach so verstanden werden, dass die psychologischen Theoreme Fénelons jeweils einen ontologischen Sinn haben. Im Weiteren soll nun ein wesentliches psychologisches Theorem Fénelons und seine ontologische Bedeutung etwas näher betrachtet werden. Von wesentlicher Bedeutung im mystischen Denken war die Lehre vom Seelengrund, der »den von den Seelenkräften unterschiedenen Ort der Gotteseinung« 41 bezeichnet. 42 In der Mystik wurden für Seelengrund weitgehend bedeutungsgleich auch andere Begriffe wie Seelenspitze oder Seelenfünklein verwendet. 43 Spaemann weist Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 54. Ebd. 56. 39 Ebd. 57. 40 Ebd. 23. 41 Heidrich, Seelengrund, in: HWPh IX, col. 93. 42 Vgl. Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 45–46. 43 Vgl. Heidrich, Seelengrund, in: HWPh IX, col. 93–94, Ders., Fünklein, Seelenfünklein, in: HWPh II, col. 1137–1138, u. Ders. Seelenspitze, in: HWPh IX, col. 110–111. 37 38
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darauf hin, dass die mystische Lehre vom Seelengrund im Zusammenhang steht mit dem in der scholastischen Philosophie des 13. Jahrhunderts erörterten »Problem der Realdistinktion der Seele von ihrem Vermögen« 44, die ihrerseits wiederum ein spezieller Fall der Realdistinktion von Wesen (essentia) und Sein (esse) darstellt. Im Zusammenhang mit der Lehre von der Gottesliebe nahm diese Realdistinktion bei Thomas von Aquin die Form der Unterscheidung von »gratia sanctificans und caritas« an: Die caritas, die Gottesliebe, das formale Prinzip aller christlichen Tugend, ist für Thomas zwar notwendige Folge des Gnadenstandes, aber nicht dessen konstitutiver Grund. Die gratia creata selbst ist eine dem Seelengrunde unmittelbar verbundene, die Gemeinschaft mit Gott begründende Qualität, die in der Liebe ihren Ausdruck findet, aber nicht mir dieser identisch ist. 45
Im Hinblick auf das 17. Jahrhundert spricht Spaemann nun von einem »Wegfall der Lehre vom Seelengrund« 46. In »der Aufhebung der ›ontologischen Differenz‹ von Seele und Vermögen, von Gnade und Liebe« 47 sieht Spaemann einen entscheidenden Schritt zum bürgerlichen Denken der Neuzeit, dem die Kontrahenten im Streit um den amour pur selbst zuzurechnen sind: »Die Cartesianer Bossuet und Fénelon stehen beide auf dem Boden der Realidentität von Seele und Vermögen.« 48 Im Unterschied zu Bossuet ging es Fénelon vor dem Hintergrund einer von beiden geteilten rationalistischen Ontologie jedoch »darum, bestimmten Erfahrungen, die das Schema dieser Ontologie sprengen und in den Bereich des ›Schimärischen‹ verwiesen zu werden drohen, ihren Realitätsanspruch theoretisch zu sichern« 49. Dabei formte Fénelon mystisches Gedankengut »zu einer psychologisch fundierten Lebenslehre« 50 um, die »der christlichen Existenz in einer entzweiten Welt zur Verwirklichung zu helfen geeignet war« 51. Als eine »der wesentlichen Leistungen Fénelons« bezeichnet Spaemann in diesem Zusammenhang die Umformung der Lehre vom Seelengrund bzw. der Seelenspitze »in eine Psychologie 44 45 46 47 48 49 50 51
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 73. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 74. Ebd. 72. Ebd. 75. Ebd.
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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹
der Spontaneität, für die die Unterscheidung von direkten und reflektierten Akten grundlegend ist« 52. Da »der Zustand der Gottverlassenheit […] nach der Lehre Fénelons nicht durch reflektierte sittliche Anstrengung zu überwinden ist« 53, bleiben nur als direkte Akte »die ›indifférence‹ […] und die Einwilligung in die ›supposition impossible‹, die unmögliche Annahme der eigenen Reprobation 54 im Gehorsam gegen den Willen Gottes« 55. In dieser Lehre von den direkten Akten sieht Spaemann die »eigentliche Leistung Fénelons«, da er durch sie, »ohne Rückgriff auf die scholastische Ontologie der Substanz, doch deren praktischen Sinn erneuerte« 56. Der auf diesen Seiten unternommene Versuch einer knappen Skizzierung der »kleinen Mystik« Fénelons hatte sich mit der Schwierigkeit auseinanderzusetzen, dass jener ›einzige Gedanke‹ Fénelons von der reinen Liebe 57 sich stets entzieht und nur durch sein wiederholtes Umkreisen an Kontur gewinnt. Dies liegt wesentlich daran, dass hier mit der Spontaneität der reinen Liebe ein Negatives thematisiert wird, insofern sie »sich zwar im Vollzug ihrer selbst bewußt ist, aber sich jeder Vergegenständlichung durch Introspektion entzieht« 58. Nur indirekt konnte es überhaupt gelingen, durch Analyse der ontologischen Bedeutung psychologischer Erfahrung überhaupt einen gewissen Begriff von ihr zu gewinnen. Man kann insofern von einem grenzorientierten Philosophiebegriff Fénelons sprechen, der auf die Lebenspraxis als sein eigentliches Ziel verweist: Wo das Denken als »reflektierendes Raisonnieren« und dieses als Aktivität einer um sich selbst kreisenden Natur gefaßt wird, da wird die entschiedene Wendung zum Praktischen, ja Pragmatischen zur Konsequenz eines Weges, dessen Ziel ursprünglich in Begriffen wie Passivität, Ruhe usw. formuliert wurde. »Man darf keine Wahrheit in Betracht ziehen«, so schreibt Fénelon, »es sei denn mit Bezug auf die Praxis«. 59
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75. Ebd. 54 Unter Reprobation ist die Verwerfung der Seele, ihr Ausschluss aus der ewigen Seligkeit zu verstehen. 55 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75. 56 Ebd. 76. 57 Vgl. ebd. 303. 58 Ebd. 137. 59 Ebd. 147. 52 53
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Nicht von ungefähr trägt daher das letzte Kapitel der Studien zu Fénelon den Titel »Die Lehre von der reinen Liebe als pädagogische Theorie« 60, denn der Sinn des Fénelon’schen Werks, so Spaemann, »enthüllt sich, wo es als pädagogisches gesehen wird. Das will sagen, daß Fénelon als den eigentlichen und einzigen Ort der Versöhnung die Subjektivität begreift, die die Entfremdung auf sich zu nehmen und als heilbringendes Kreuz zu tragen bereit ist.« 61 Das »Problem christlicher Existenz […] auf dem Boden der Entzweiung gestellt« 62 zu haben, bedeutet mit Blick auf Fénelon also die Konversion aller philosophischen Bemühungen in einer pädagogischen Theorie, der es mit der Überwindung des amour propre um ein »›Verschwinden […]‹ im bürgerlichen Leben« geht, in dem die »Nichtidentität des Subjekts mit seiner ›Welt‹« 63 erst voll zutage tritt.
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 237–269. – Es folgen danach noch zwei Anhänge »Fénelon und Jean Paul« und »Schopenhauer und der Quietismus«. 61 Ebd. 241. 62 Ebd. 23. 63 Ebd. 257. 60
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4.3 Philosophiegeschichtliche Verortungen
4.3.1
Fénelon und Descartes: Radikalisierung und Überwindung des Rationalismus
Die Bedeutung Descartes’ für das Verständnis der Lehre Fénelons und den Streit um den amour pur betont Spaemann wiederholt: »Fénelon und Bossuet sind Cartesianer, und ihre theologische Kontroverse kann nur auf dem Hintergrund dieser Tatsache verstanden werden.« 1 Allerdings ist Fénelon, so Spaemann, ein Cartesianer, dessen Grundgedanke »dem Geist des Cartesianismus durchaus fremd« 2 ist. Daher soll zunächst dargelegt werden, inwiefern Fénelon als Cartesianer den Cartesianismus selbst überwindet, bevor auf die Bedeutung der cartesischen Lehre von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten für die Mystik und Fénelon eingegangen wird. Als Cartesianer kann Fénelon zunächst bezeichnet werden aufgrund seines Ausgangs im Denken vom Subjekt und seinem, wie Spaemann bemerkt, »beinahe krankhaften Grad der Selbstreflexion« 3. Er orientiert sich an der philosophischen Methode Descartes’, wenn er versucht, »eine orthodoxe Interpretation der Mystik auf dem Boden der clara et distincta perceptio zu geben« 4, und ein »formales Ideal […] der Gewißheit, der certa cognitio« 5 verfolgt. Allerdings kann Fénelon im Sinne seines Leitgedankens der reinen Liebe nicht auf der Grundlage des cartesischen Cogito stehen bleiben. »Denn in der ›reinen Liebe‹ wird ja nun eben doch das Cogito, der Ring der Reflexion gesprengt. Die Möglichkeit eines solchen Transzendierens liegt nicht im Bereich jener Philosophie, die auch die Fénelons ist. Um ihretwillen muß vielmehr der Vernunft und der Philosophie abgesagt werden.« 6 Diese Überwindung realisiert Fénelon durch eine Steigerung des cartesischen »Zweifel[s] zur Verzweiflung« 7. Sein Wider-
1 2 3 4 5 6 7
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 107. Ebd. 109. Ebd. 131. Ebd. 74. Ebd. 109. Ebd. Ebd. 114.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
spruch gegen Descartes beginnt konkret bei der scheinbaren Evidenz des ›cogito ergo sum‹ : Fénelon billigt nun aber gerade diesem Satz keine unmittelbare Evidenz zu. Die Selbstgewißheit des denkenden Subjekts ist keine unmittelbare. Sie betrifft nur eine Tatsachenwahrheit. Um den Satz in die zwingende logische Form eines Schlusses zu bringen, bedarf es der Prämisse einer allgemeinen Vernunftwahrheit. Diese besagt, daß das Nichts nicht denken kann. Die »Klarheit« dieses Satzes folgt aus der Klarheit und Distinktheit meiner Ideen vom Nichts und vom Denken, die einander ausschließen. Denn Denken ist seiner Idee nach eine »Weise des Seins«, Sein und Nichts aber sind einander ausschließende Ideen. Die »Evidenz« des Cogito ergo sum folgt also letztlich aus der logischen »Klarheit« des Widerspruchsprinzips. Fénelon vollendet den Rationalismus und hebt ihn damit zugleich auf, indem er dem Logischen jede Verwurzelung in einem empirischen Bewußtsein versagt. 8
Spaemann spricht mit Bezug auf diese Argumentation von einer »tiefgreifenden Umformung der cartesische[n] Gewißheitsbegründung« 9. Während für Descartes die Einsicht ›Ich denke, also bin ich‹ zusammen mit dem Widerspruchsprinzip »durch eine einfache Intuition des Geistes« 10 unmittelbare Gewissheit ist, insistiert Fénelon auf dem Widerspruchsprinzip als logischer Voraussetzung der Evidenz des Cogito, wodurch diese zum Syllogismus wird. Die Bedeutung dieser Umformung besteht darin, dass Gewissheit so nicht mehr in einem autonomen Subjekt verortet ist wie bei Descartes, sondern dass dieses Subjekt heteronom von klaren Ideen, die Gewissheit beanspruchen, gezwungen wird. Es gibt demnach keine unmittelbare Gewissheit des Cogito, sondern »[k]lare Ideen« – hier die Ideen vom Nichts und vom Denken sowie das Widerspruchsprinzip – »zwingen die Vernunft durch ihre Evidenz« 11. Nun bleibt gegenüber der Konstatierung einer solchen Heteronomie freilich die Möglichkeit eines Insistierens auf der Autonomie des Subjekts: »Fénelon geht davon aus, daß der sich dem Sinn verweigernde ›Rückzug in den universalen und absoluten Zweifel‹ möglich bleibt.« 12 Dieser Rückzug bedeutet dann den Eintritt in eine unabschließbare Reflexion, in der jeder Bewusstseins-
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 111. Ebd. Fn. 10 Ebd. Fn. 11 Ebd. 111. 12 Ebd. 114. 8 9
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4.3.1 Fénelon und Descartes: Überwindung des Rationalismus
inhalt als Idiosynkrasie, als Täuschung, gewertet und so durch den Zweifel wieder aufgehoben werden kann: »Die Evidenz kann Idiosynkrasie sein.« 13 Auch der »genius malignus« 14, ein unterstellter Täuschegeist, kann nie diesen in der Möglichkeit des Zweifelns bestehenden letzten Rest der Autonomie des Subjekts beseitigen. Wenn Fénelon gleichwohl den Zweifel an der Evidenz des Widerspruchsprinzips als »universalen Schiffbruch der menschlichen Vernunft« 15 bezeichnet, so liegt das daran, dass die scheinbar theoretische »Alternative von Zweifel oder Zustimmung zur Evidenz des Widerspruchsprinzips« 16 in Wahrheit ein moralisches Problem ist: Das Festhalten an der Möglichkeit auch eines sinnlosen Zweifels […] führt und dient dazu, das Problem der philosophischen Gewißheit von einem theoretischen zu einem moralischen zu machen. Nachdem Fénelon dem theoretischen Verstand seine natürliche Wurzel vollends abgeschnitten hat, kann Gewißheit nicht anderen als sittlichen Ursprungs sein. Ja, so allein ist überhaupt dem Gewißheitsideal zu entsprechen, denn der natürlichen Vernunft korrespondiert immer nur die wahrscheinliche Erkenntnis. Erst das Postulat der certa cognitio führt zu der Alternative: Fortsetzung der Reflexion ins Leere oder Sprung in den Sinn, in die bis zuletzt ungewisse Gewißheit der klaren Idee. 17
Die Alternative ist deshalb ein moralisches Problem, weil auf der einen Seite ein isoliertes Bewusstsein in seiner unabschießbaren Reflexionsbewegung steht, dessen im Zweifel vollzogene logische »Suspension des Urteils« 18 in seiner »existentielle[n] Realität« 19 dennoch ein »praktisch-moralisches« 20 Urteil ist, das Fénelon in die Worte fasst: »Zweifeln, das heißt urteilen, daß man nichts glauben darf.« 21 Da dieses Urteil wiederum bezweifelt werden kann, verliert das isolierte Bewusstsein seinen letzten Halt in sich: »es bleibt mir nicht einmal der traurige Trost, dem Irrtum zu entgehen, indem ich mich
13 14 15 16 17 18 19 20 21
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 112. Ebd. Ebd. 111. Ebd. 115. Ebd. 113. Ebd. 114. Ebd. Ebd. Ebd.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
in den Zweifel zurückziehe« 22. Daher gilt, dass auch der Zweifel bereits eine vollzogene Wahl ist, die aber aus dem zweifelnden Bewusstsein heraus nicht begründet werden kann. Auf der anderen Seite der Alternative kommt dagegen Gott ins Spiel, der allerdings im »Medium der neuen [Metaphysik] nur in der Form der Möglichkeit erscheinen kann« 23. Aber allein seine Möglichkeit entscheidet, wie Fénelon unterstreicht, welche Wahl angesichts dieser Alternative zu treffen ist: Wenn ein allmächtiges, unendlich gutes und wahrhaftes Wesen mich gemacht hat, damit ich die Wahrheit erkenne durch die rechte Vernunft, die es mir gegeben hat, dann bin ich unentschuldbar, wenn ich mich selbst durch einen willkürlichen Zustand verblende, und mein universaler Zweifel ist ein Monstrum. Wenn dagegen meine Vernunft falsch ist, bleibe ich entschuldbar, wenn ich ihr folge. Denn was kann ich Besseres tun, als mich treulich alles dessen bedienen, was in mir ist, um zu versuchen, gerade auf die Wahrheit zuzugehen. 24
Aus der Radikalisierung des cartesischen Rationalismus durch Fénelon ergibt sich also auch streng argumentativ die Überwindung der Reflexion, insofern die »Forderung unbezweifelbarer Gewißheit im Ausgang vom denkenden Subjekt […] zum Primat der praktischen Vernunft« führt und die Liebe zur »Bedingung der Möglichkeit […] aller Erkenntnis überhaupt« 25 wird. Abschließend soll noch ein weiterer Aspekt des Cartesianismus erwähnt werden, der im Zusammenhang mit Fénelons Denken von Bedeutung ist. Spaemann bemerkt, dass die »Geringschätzung der geistlichen Bedeutung einer methodischen Meditation innerhalb der quietistischen Mystik […] eine eigenartige Parallele zur cartesischen Lehre von der Erschaffung der sog. ewigen Wahrheiten« 26 darstellt. Diese Lehre besagt, dass z. B. der Satz 2 + 2 = 4 nicht deshalb ewig wahr ist, weil er unabhängig von den materiellen Gegenständen besteht und mit dem göttlichen Verstand identisch ist, sondern deshalb, weil Gott diesen Satz, wie er ist, geschaffen hat. Gott hätte an seiner Stelle ebenso einen anderen Satz schaffen können. 22 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 114. – Spaemann verweist als Quelle der beiden Zitate auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] I, 51. – Ebd. 327. 23 Ebd. 115. 24 Ebd. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] I, 51. – Ebd. 327. 25 Ebd. 116. 26 Ebd. 232.
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4.3.1 Fénelon und Descartes: Überwindung des Rationalismus
Diese Lehre hatte gleichzeitig die Bedeutung, die moderne Wissenschaft von der theologischen Metaphysik unabhängig zu machen, da ihre Gesetze nun eben nicht mehr Widerspiegelung ewiger göttlicher Ideen waren, sondern in der Unableitbarkeit eines göttlichen Willensaktes ihren Ursprung hatten. Andererseits aber wurde auch die Theologie vom Zugriff eben dieser rationalen Wissenschaft befreit. 27
Spaemann spricht von der »geschichtliche[n] und theologische[n] Bedeutung«, die dieser Lehre »als einer Theorie der Entzweiung im Raum der Mystik zukam« 28. Die Parallele zur spekulativen Mystik besteht darin, dass diese »versucht in der gläubigen Versenkung eine Ebene des Denkens zu erreichen, auf der die sogenannten ›ewigen Wahrheiten‹ der rationalistischen Philosophie nur als Moment innerhalb eines umgreifenden heilsgeschichtlichen Prozesses erscheinen.« 29 Spaemann weist darauf hin, dass dieser »spekulative Zug« mystischen Denkens der quietistischen Mystik, »in deren Tradition Fénelon steht« 30, gänzlich fremd ist und dass Fénelon die ewigen Wahrheiten bzw. Ideen nicht als »Willkürschöpfungen« 31 ansehe. Er erläutert die Stellung Fénelons in diesem Zusammenhang wie folgt: Fénelon nimmt in dieser Diskussion um die Natur der Ideen eine eigentümliche Zwischenstellung ein, die in Wirklichkeit ein Zurückgreifen auf neuplatonische Auffassungen darstellt. Für ihn sind die ewigen Wahrheiten nicht Schöpfungen Gottes, sondern mit ihm identisch, aber so, daß sie als diese, d. h. als partikulare, inhaltlich bestimmte, endliche Wahrheiten keine absolute Realität besitzen, sondern eben diese Endlichkeit nur die Weise ist, wie die geschaffene Vernunft die eine ewige Wahrheit, das unendliche Sein auffaßt, indem es dieses zugleich vervielfältigt und verendlicht. Die Erkenntnis dieser Wahrheiten ist also einerseits nicht einfachhin Erkenntnis des Außergöttlichen, profan, und von dem unum necessarium her gesehen belanglos. Andererseits ist sie nicht selbst schon Gotteserkenntnis, sondern wird erst zur Gotteserkenntnis per viam negationis, durch Entschränkung, durch Aufhebung. 32
Nicht die »Betrachtung der Ideen in ihrer endlichen Besonderheit […], sondern nur das Fallenlassen dieser Besonderheit in der 27 28 29 30 31 32
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 232. Ebd. Ebd. 234. Ebd. Ebd. Ebd. 265–266.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Aufhebung in das einfache Sein des Ursprungs« 33 führen zum Ziel der reinen Liebe. Insofern Fénelon also in der Entfaltung seiner Lehre konsequent die spekulativen Elemente der Mystik fallen und als einziges verbleibendes Motiv die reine Liebe gelten lässt, folgt er schließlich doch der »cartesischen Auffassung, daß nur die Freiheit das Organ des Unendlichen, der Totalität« 34 bzw. nur der Wille »das Vermögen des Unendlichen« 35 ist.
4.3.2
Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Malebranche
Im Unterschied zu Descartes, der, wie gesehen, als Lehrer für Fénelon größte Bedeutung hatte, sind Leibniz (1646–1716) und Malebranche (1638–1715) Zeitgenossen Fénelons, die hier nur betrachtet werden, um im Kontrast die Eigenart des Fénelon’schen Denkens weiter hervortreten zu lassen. Beide werden von Spaemann meist im Zusammenhang erwähnt – er nennt Malebranche den »französische[n] Leibniz« 36 – und sollen daher hier gemeinsam behandelt werden. Was Leibniz mit Malebranche verbindet und beide gleichermaßen von Fénelon trennt, ist ihre »Mathematisierung der Metaphysik«, d. h. ihre Orientierung an einem »mathematische[n] Vollkommenheitsideal […], das Descartes aus ihr ferngehalten hatte« 37. Für Leibniz sind »moderne Naturerkenntnis und Gotteserkenntnis fast dasselbe« 38, Malebranche geht es um die »Integration der Elemente der christlichen Existenz zu einem Reflexionsganzen« 39. Beide sind »optimistische Philosophen […], für die die ewigen Wahrheiten Momente der göttlichen Vernunft sind« 40. Wiederholt betont Spaemann die »eigentümliche Mittelstellung«, die Leibniz »zwischen der ›klassischen‹ und der ›modernen‹ Philosophie« 41 einnimmt. Worin Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 234. Ebd. 226. 35 Ebd. 234. 36 Ebd. 237. 37 Ebd. 225. 38 Ebd. 231. 39 Ebd. 70. 40 Ebd. 265. 41 Ebd. 319. – Vgl. ebd. 217–218. – An diesem Gedanken wird Spaemann in der weiteren Entfaltung seines Denkens festhalten, so dass Leibniz für ihn neben Descartes 33 34
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4.3.2 Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Malebranche
diese Mittelstellung besteht, kann am besten ausgehend von Fénelons Grundproblem der Reflexion erklärt werden. Für Fénelon hat die Reflexion, wie gesehen wurde, vor allem die Bedeutung, dass sie die Verbindung zwischen dem Subjekt und seinen Objekten zerreißt und ein isoliertes Bewusstsein hervorbringt. Im Unterschied zur bürgerlichen Philosophie, die, wie im Teilkapitel 4.1 gezeigt, die Zentralstellung des Subjekts rechtfertigt und »die Ethik gerade im Ausgang vom Interesse neu zu begründen bestrebt ist« 42, versucht »die Philosophie Leibniz’ mit dem ›epikuräischen‹ Begriff der delectatio auf ein Unmittelbares zu rekurrieren […], das jenseits des Reflexionsbegriffs ›Interesse‹ stünde und eine ursprüngliche Einheit von Mensch und Welt bzw. Mensch und Gott ermöglichte.« 43 Die delectatio, also der Genuss oder auch die Lust, ist für Fénelon Ausdruck des egoistischen Interesses; nach Leibniz dagegen soll gerade sie eine Verbindung zwischen Subjekt und Objekt herstellen, die durch die Reflexion nicht zerrissen wird. In den Kategorien Fénelon’schen Denkens ist diese Idee im Grunde schnell abgetan: Der Rekurs auf die delectatio als unmittelbare Identität von Subjekt und Objekt besteht nicht vor der Auflösung durch die Reflexion. […] Durch die Reflexion auf sie tritt sie auf die Seite der Subjektivität, sie wird zum Egoismus, zur Aufhebung der wahren Sittlichkeit. […] Das Désintéressement besteht deshalb wesentlich in der Aufhebung der Reflexion auf die »delectatio«. 44
Trotz dieser klaren Gegenposition Fénelons soll hier der Frage nachgegangen werden, wieso Leibniz, der in den Streit zwischen Fénelon und Bossuet eingreifen wollte, davon überzeugt war, »eine Formel zu besitzen, die das Problem mit einem Schlage lösen könnte« 45. Diese Formel besteht in einem Begriff der Liebe, der gerade durch »Uneigennützigkeit« 46 definiert ist: »Lieben heißt, von solcher Sinnesart sein, daß man im Glück des anderen seine Freude findet.« 47 Die Lust (voluptas) bleibt also bei diesem Liebesbegriff durchaus die allgemeine Antriebskraft menschlichen Handelns, sie folgt aber »unund Kant zu den wichtigsten Referenzpunkten der modernen Philosophie gehören dürfte. 42 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 81. 43 Ebd. 44 Ebd. 82. 45 Ebd. 212. 46 Ebd. 215. 47 Ebd. 216.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
mittelbar aus der Betrachtung des Glücks (›felicitas‹) des Geliebten« 48. Was Leibniz vorschlägt, ist eine Art altruistisch ausgerichteter Hedonismus. Diese Lösung des Problems »bedarf als notwendiger Voraussetzung einer unreflektierten und begrifflosen Einheit von voluptas mit ihrem objektiven Grunde« 49, die verhindert, dass durch die Reflexion als Ausdruck von Eigenliebe die »unmittelbare Identität von Liebe und Geliebtem« 50, um die es Leibniz geht, aufgelöst wird. Eine solche Verbindung der Lust mit ihren möglichen Objekten wird durch ein spezifisches Theorem der Leibniz’schen Metaphysik hergestellt: das System der praestabilierten Harmonie […] macht eine solche Zusammenstimmung möglich, in der das Glück des andern, bzw. das bonum universale zum integrierenden Bestandteil der subjektiven voluptas des Einzelnen werden kann, ohne daß dieser Einzelne deshalb seinerseits wesentlich seine Einzelheit müßte transzendieren können. Die praestabilierte Harmonie ist letzten Endes der Ausweg, der es ihm möglich macht, der Alternative, die sich auf Grund der Anthropologie des 17. Jahrhunderts stellen mußte, zu entgehen. 51
Statt der Entscheidung zwischen amour propre und amour pur konzipiert Leibniz also die Vorstellung einer natürlichen selbstlosen Liebe (delectatio). 52 Spaemann zufolge hätte dieser Begriff der Liebe und Leibniz’ »Harmonisierungsversuch« 53 zur Beilegung der querelle keinen Erfolg haben können, da für Fénelon Gegenstand der delectatio prinzipiell nicht das in der Liebe »Intendierte und Gewollte«, sondern nur das subjektive »Motiv« 54 sein kann. 55 Er streitet nicht die mögliche Beimischung von Lust bei der Liebe ab, unterscheidet aber streng zwischen Wirk- und Zweckursache:
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 216. Ebd. 217. 50 Ebd. 223. 51 Ebd. 218. 52 Vgl. die Wiederaufnahme dieses Gedankens in Abschnitt 9.2.2, Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein, 694–695. 53 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 222. – Ein solcher Vermittlungsversuch kam trotz dreier seitens Leibniz’ unternommener Versuche aus verschiedenen Gründen nie zustande. – Vgl. ebd. 222–235. 54 Ebd. 222. 55 Vgl. Fénelons Unterscheidung von »Objekt und Motiv« – ebd. 42 – bzw. die »Unterscheidung zwischen Objekt des Besitzes und Besitz des Objekts« – ebd. 46, u. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 145–146. 48 49
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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität
Die kausale und die finale Determination, »Triebfeder« und »Bewegungsgründe« gehören für Fénelon verschiedenen Ordnungen an. Die Reflexion wird immer nur auf die Triebfeder, also auf das Lustprinzip stoßen, aber die reine Liebe besteht gerade in der Überwindung dieser Reflexion, und wenn auch für sie noch der Begriff der delectatio zutreffen soll, so kann es sich nur um eine »délectation indélibérée« handeln, d. h. um ein Wohlgefallen, das nur ein anderer Ausdruck für die Spontaneität des guten Willens ist. 56
Letztlich trifft sich die Antwort, die Fénelon auf einen Vermittlungsversuch Leibniz’ hätte geben können, mit seiner Radikalisierung und Überwindung des Cartesianismus: »An der Stelle einer Lehre von der praestabilierten Harmonie in der besten aller möglichen Welten steht für Fénelon die Preisgabe der rationalen Philosophie und die praktische Lehre des Sich-selbst-Sterbens.« 57
4.3.3
Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität
Der folgende Versuch, die Eigenart des Fénelon’schen Denkens durch einen Bezug auf Thomas von Aquin klären zu wollen, ist weder in einem Schüler-Lehrer-Verhältnis wie das Fénelons zu Descartes – Thomas ist für Fénelon nicht »Inspirator« 58 – noch in einem evidenten Kontrast der Denkweisen wie im Hinblick auf Leibniz und Malebranche begründet. Vielmehr gehören Thomas und Fénelon scheinbar verschiedenen Welten an und was hier zu ihrem Verhältnis zu sagen ist, ist ein erster Vorgriff auf eine prinzipielle Thematisierung der in diesem Verhältnis verborgenen Problematik in einem späteren Teilkapitel, 59 das sich mit der Perspektivik der Studien Spaemanns befassen wird. Hier soll es zunächst darum gehen zu zeigen, warum Fénelon und Bossuet sich beide auf Thomas berufen konnten, d. h. warum die Lehre des Aquinaten im 17. Jahrhundert zweideutig geworden war und von den Kontrahenten im Streit um die reine Liebe nicht mehr verstanden wurde.
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 222–223. Ebd. 224. 58 Ebd. 88. 59 S. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 172–179. 56 57
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Im Kapitel »Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin über den amor perfectus« geht Spaemann insbesondere auf eine Stelle zur thomistischen caritas-Lehre aus der Summa theologica ein, »die zu zitieren Bossuet nicht müde wird«: »Dato enim per impossibile quod Deus non esset hominis bonum, non esset ei ratio diligendi.« 60 Für Bossuet stellt dieser Satz einen schlagenden Beweis dar, dass jede Liebe – also auch die Gottesliebe – ein amour propre sei. Fénelon dagegen unterscheidet zwischen dem Verhältnis von Gott als Schöpfer zum Menschen als seinem Geschöpf und der Motivation des Menschen zur Liebe Gottes. Der Satz bezieht sich nach seiner Lesart auf den ersten Zusammenhang, nicht auf den zweiten. Um nun die Bedeutung des Satzes aus der Sicht Thomas’ zu verstehen, muss sein Kontext in der betreffenden quaestio beachtet werden. Der Satz ist in der quaestio der Summa theologica die Antwort auf den Einwand, dass »in der (ewigen) Heimat« der irdische ordo amoris, demgemäß der Mensch nach Gott sich selbst am meisten liebt, aufgehoben und »der Gott Näherstehende mehr als das eigene Selbst geliebt« 61 werden müsse. Vereinfacht gesagt, stellt dieser Einwand also die Berechtigung der Selbstliebe grundsätzlich in Frage. Dem zitierten Satz folgt in der quaestio untermittelbar die conclusio: »Et ideo in ordine dilectionis oportet quod post Deum homo maxime diligat seipsum« 62. Der Sinn der Antwort ist dann nach Spaemann folgender: Dort wo Gott das totale Gut des Menschen ist, bedarf es, um der Unterordnung unter die Gottesliebe willen, nicht einer besonderen Bevorzugung der Gott Näherstehenden. Denn alle Liebe ist hier Gottesliebe und nichts als dies, so daß der ordo amoris, in dem die Selbstliebe den ersten Platz hat, durchaus erhalten bleiben kann, ohne daß der Gottesliebe Abbruch geschieht. 63
Entscheidend für das Verständnis des Satzes im konkreten Kontext der quaestio ist der Liebesbegriff Thomas’, nach dem die Selbstliebe des Menschen gleichgesetzt wird mit der Zuwendung zu Gott als dem höchsten Gut und frei ist von jeder Konnotation einer egozentrischen Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 89. – Deutsche Übersetzung und Quellenangabe in der Anmerkung: »Gesetzt die unmögliche Annahme, daß Gott nicht des Menschen Gut sei, gäbe es für den Menschen überhaupt keinen Grund zur Liebe.« Sum. theol. II, II, qu. 26. art. 13, ad 3. – Ebd. 323. 61 Ebd. 91. 62 Ebd. – Deutsch: »Daher ziemt es sich in der Ordnung der Liebe, daß der Mensch nächst Gott sich selbst am meisten liebt.« – Ebd. 63 Ebd. 60
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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität
Eigenliebe. Insofern die Selbstliebe nichts anderes als Zuwendung des eigenen Geistes zu Gott ist, muss der Mensch sich zwingend mehr lieben als andere, wenn er Gott über alles liebt. Erst danach ergibt sich, dass der Mensch unter den anderen den Besseren mehr lieben wird. Im amour-pur-Streit wird der Satz nun in einen völlig neuen Kontext gestellt: Bossuet interpretiert diese Stelle so, daß der Mensch Gott nur insofern zu lieben befähigt sei, als dieser für ihn die Erfüllung seiner Bedürftigkeit sei, nicht aber losgelöst von dieser. Fénelon hingegen versteht die Stelle so, daß dieses Erfüllungsverhältnis von Gott zu Mensch zwar eine conditio sine qua non der Gottesliebe sei, durch welche der Mensch allererst Gottes ansichtig werde, nicht aber das »Motiv« der Liebe. 64
Beide reflektieren also im Unterschied zu Thomas auf das Motiv der Liebe, wobei Bossuet im Sinne der bürgerlichen Ontologie das Motiv der Erlangung der eigenen Seligkeit rechtfertigt. Fénelon gibt dagegen eine »subtilere Interpretation«, »in der psychologischer und ontologischer Gesichtspunkt deutlich voneinander geschieden werden« 65. Für Fénelons Lesart ist charakteristisch, dass »Motivationszusammenhang und ontologischer Bedingungszusammenhang« 66 auseinandertreten. Er unterscheidet eine »formale Seligkeit (›beatitudo formalis‹)« 67 – die Erlangung der Seligkeit – und eine »objektive Seligkeit (›beatitudo objectiva‹)« 68 – den Gegenstand der Seligkeit –, eine Unterscheidung, die sich – »der Sache, nicht dem Terminus nach« 69 – auch schon bei Thomas findet, ohne dass er dabei psychologisch auf das Interesse reflektieren würde. 70 Formale und objektive Seligkeit können für Fénelon nur zusammenfallen, wenn die Reflexion auf das Motiv der Erlangung der Seligkeit überwunden wird. Umgekehrt gilt für ihn, dass die Rechtfertigung dieses Motivs bei Bossuet die Erlangung der Seligkeit prinzipiell unmöglich machen muss.
64 65 66 67 68 69 70
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 89. Ebd. 40. Ebd. Ebd. 44. Ebd. Ebd. 56. Ebd. 45–46.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Der Grund, warum Fénelon und Bossuet sich mit ganz konträren Intentionen auf Thomas beziehen können, liegt vor allen Dingen in Thomas’ Begriff der Natur, der sich in seiner Weite vom Naturbegriff des 17. Jahrhunderts unterscheidet. Thomas sagt sowohl: »Die Natur ist auf sich selbst zurückgebeugt« 71, womit die Selbstliebe als Teil der Natur bezeichnet ist, als auch, dass »von Natur jedes Wesen Gott mehr liebt als sich selbst« 72, womit die reine Gottesliebe ebenso zu einem Teil der Natur wird. Diese beiden Sätze stehen in einem scheinbaren Widerspruch, der sich auflösen lässt durch Thomas’ Begriff der natürlichen Neigung, durch den das Verhältnis von Selbstund Gottesliebe in Analogie zu seinem oben erörterten Liebesbegriff erklärt wird. In diesem Zusammenhang führt Spaemann zwei Zitate Thomas’ an: »Die Natur ist auf sich selbst zurückgebeugt, nicht nur in bezug auf das, was sie Besonderes hat, sondern vielmehr in bezug auf das, was gemeinsam ist. Denn ein jedes Ding ist dazu geneigt, nicht nur sich als Individuum, sondern auch seine Art zu erhalten. Und um so mehr hat ein jedes Ding eine natürliche Neigung zu dem, was das allgemeine Gut schlechthin ist.« 73 […] »Ein jedes natürliche Ding, welches in dem, was es selbst ist, einem anderen zugehört, neigt sich fundamentaler und intensiver zu dem hin, welchem es zugehört, als zu sich selbst.« 74
Der »ekstatische Charakter dieser Anthropologie« des Thomas – »Der ganze Mensch ist um eines äußeren Zieles willen da, nämlich daß er Gott genieße« 75 – ist im 17. Jahrhundert verloren gegangen und der Naturbegriff auf das Streben nach Selbsterhaltung bzw. Eigenliebe reduziert. Unter diesen Bedingungen »wäre die natürliche Liebe per-
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 95. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60, art. 5, obj. 3. – Ebd. 324. 72 Ebd. 95. – In der Anmerkung zu diesem Thomas-Zitat verweist Spaemann auf folgendes Zitat: »Gott über alles und mehr als sich selbst zu lieben ist nicht nur einem Engel und dem Menschen naturgemäß, sondern überhaupt jeglichem Geschöpf.« Quaest. quodl. I, 8. – Ebd. 324. 73 Ebd. 95. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60, art. 5, ad 3. – Ebd. 324. 74 Ebd. 95–96. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60, art. 5. – Ebd. 324. 75 Ebd. 61. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 65, art. 2. – Ebd. 317. 71
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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität
vers und könnte durch die übernatürliche Tugend der caritas nicht vollendet, sondern nur destruiert werden« 76. Abschließend soll nun »nach den Gründen […] für die Wandlungen in der philosophischen Deutung der Liebe im Übergang zur Neuzeit«, die sich in der Bezugnahme auf Thomas im amour-purStreit widerspiegeln, gefragt werden. Spaemann sieht »zwei wesentliche Gesichtspunkte« 77, die oben im Zuge der Darstellung der bürgerlichen Ethik und nichtteleologischen Ontologie bereits erwähnt wurden 78: Der eine betrifft die Ersetzung des teleologischen Dynamismus in der Ontologie durch eine Ontologie, in deren Mittelpunkt der Begriff der Selbsterhaltung, und eine Psychologie, in deren Mittelpunkt das Motiv der Lust steht. Damit wird der thomistische Begriff des amor naturalis hinfällig. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Theorie des amor intellectualis […] [, die] zur notwendigen Voraussetzung die realistische Vernunfttheorie hat, nach welcher die Wirklichkeit für den Geist als sie selbst anwesend ist; auf Grund dieser im ekstatischen Wesen der Vernunft gründenden Anwesenheit ist eine vernünftige Liebe denkbar, die das Andere als es selbst – nicht bloß in seiner Beziehung auf die eigene »Natur« – zu ihrem Gegenstand macht. 79
Fénelon und Bossuet stehen beide auf dem Boden der als Selbsterhaltungsontologie gekennzeichneten neuzeitlichen Philosophie, – Bossuet in einer affirmativen, Fénelon in einer die Skepsis radikalisierenden ablehnenden Haltung. Beide sind dem cartesischen Ideal einer distanzierenden »certa cognitio« 80 verpflichtet. Bossuets Bezugnahme auf Thomas kann man als anachronistisch bezeichnen, er beruft sich auf den Begriff hominis bonum (des Menschen Gut) bei Thomas, dem er jedoch eine ganz andere Bedeutung beimisst als Thomas; für Fénelon stellt allein die reine Liebe eine Brücke zum Kern der thomasischen Lehre dar. Die Fremdheit Thomas von Aquins aus der Sicht der Kontrahenten im amour-pur-Streit konnte hier nur indirekt dazu beitragen, die Lehre Fénelons weiter zu konturieren. An späterer Stelle 81 wird Thomas’ Denken im Zuge der Betrachtung der wissenschaftSpaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 96. Ebd. 102. 78 Vgl. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 138–142. 79 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 102. 80 Ebd. 109. 81 S. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 172–179. 76 77
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
lichen Methodik der Studien Spaemanns einen direkten Beitrag leisten, der seine ausführliche Thematisierung an dieser Stelle zusätzlich rechtfertigen wird.
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4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken
»Aus dem Streit mit Bossuet«, bemerkt Spaemann in der Einleitung seiner Studien, »geht Fénelon politisch als Verlierer, moralisch aber als unbestrittener Sieger hervor« 1. Als Folge der Verurteilung der »Maximen der Heiligen« durch Papst Innozenz XII. war »die Wirkung der praktischen Theologie Fénelons für die katholische Welt und darüber hinaus auf etwa hundert Jahre blockiert« 2. Spaemann spricht dabei von einem »Pyrrhussieg[…] Bossuets«, durch den »für die katholische Welt […] die Entwicklung einer modernen christlichen Grundlegung der Ethik abgeschnitten schien« 3. »Die Öffentlichkeit mußte den Eindruck gewinnen, daß Bossuets religiöser Eudämonismus gesiegt habe über eine christliche Ethik, die imstande gewesen wäre, die Aufklärung von innen heraus zu überwinden.« 4 An Textstellen wie diesen wird deutlich, wie groß die Sympathie ist, die Spaemann Fénelon entgegenbringt, und wie groß die Potentiale, die er seiner Lehre für die Entwicklung einer modernen christlichen Ethik zutraut. Mit der Ablehnung des amour pur habe der »Kirchenglaube« 5 sich »zu einer ›religion clause‹ gemacht und desjenigen Elements beraubt […], von dem er allein die Forderung des Offenbarungsgehorsams mit dem Postulat der Autonomie des reinen guten Willens versöhnbar geworden wäre« 6. Spaemann sieht eine direkte Linie, die vom Sieg Bossuets zu Comtes »Programm einer Religion ohne Gott« und Maurras’ »Katholizismus ohne Christentum« 7 führt. 8 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 16. Ebd. 17. 3 Ebd. 59. 4 Ebd. 208. 5 Kant unterschied in »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« einen »reinen Religionsglauben« und einen »Kirchenglauben«, vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 38, Fn. 2, u. ebd. 312, Anm. 16. 6 Ebd. 38. 7 Ebd. 19. 8 Auf dieser Linie liegt auch der Vicomte de Bonald, dessen funktionalistisches Denken, wie oben – s. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 123–124 – gesehen, die mögliche Eliminierung Gottes aus seinem Gesellschaftsmodell nahelegte. – Vgl. das Kapitel »Das Dilemma des Traditionalismus: Saint-Simon – Comte – Maurras« in: Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 183–193. 1 2
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Will man das Fortwirken Fénelons verfolgen, muss der theologische Kontext verlassen und die Aufmerksamkeit auf die Philosophie gerichtet werden, vor allen Dingen auf Kant, dessen praktische Philosophie man nach Spaemann »mit aller gebotenen Einschränkung einen Sieg des ›Fénelonismus‹ nennen kann« 9. Fénelon und Kant verbindet zunächst die Unterscheidung von »Formalobjekt« und »Motiv« 10 einer Handlung und damit die Konzentration auf den Willen, der sich in der Handlung zeigt. Fénelons »Lehre vom amour pur ist […] eine Ethik des ›reinen guten Willens‹, wie sie später von Kant im Gegensatz zum Eudämonismus der Aufklärung und der Orthodoxie entwickelt wurde« 11. Spaemann deutet grundlegende Parallelen zwischen Fénelon und Kant an, die in Fénelons Grundgedanken vom Sterben der Natur bzw. in Kants Überwindung des universalen Determinationszusammenhangs in einer Kausalität durch Freiheit 12 bestehen und die philosophischen Programme beider annähern: Wo das Wissen der ratio, zu Reflexionsphilosophie geworden, Freiheit als Freiheit von sich selbst und als »uninteressiertes« Seinlassenkönnen nicht mehr als menschliche Möglichkeit fassen kann, erhebt sich die Notwendigkeit, »das Wissen einzuschränken, um zum Glauben Platz zu bekommen« 13, und, statt wie die Antike vom Können auszugehen, vom Sollen auf das Können zu schließen. 14
Der Unterschied zwischen beiden liegt allerdings nach Spaemann darin, dass für Kant die »Selbstbestimmung zur Tugendhaftigkeit […] als einmaliger Bekehrungsakt […], als metanoia« 15 gedacht wird. Da-
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 59. Ebd. 79. 11 Ebd. 30. 12 Vgl. Kant, KpV, A 82, »Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft«: »Das moralische Gesetz ist in der Tat ein Gesetz der Kausalität durch Freiheit, und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur, so wie das metaphysische Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Kausalität der sinnlichen Natur war, und jenes bestimmt also das, was spekulative Philosophie unbestimmt lassen mußte, nämlich das Gesetz für eine Kausalität, deren Begriff in der letzteren nur negativ war, und verschafft diesem also zuerst objektive Realität.«– Kant, Werke, Bd. 6, 162. 13 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: I. Kant, Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft. – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 322. 14 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 87. – Vgl. Abschnitt 5.3.2, Das Absolute in ethischer Perspektive, 304–313. 15 Ebd. 242. 9
10
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4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken
gegen hat für »Fénelons Konzeption der Liebe […] diese in der Tat keine andere Realität als die des Prozesses, in der sie erstrebt wird« 16: Hier ist nun wohl die entscheidende Differenz zwischen jenen beiden Konzeptionen des Ethischen zu sehen, die so überraschend viele Züge und vor allem den antieudämonistischen gemeinsam haben. Jene Metanoia, die die Befolgung eines für alle geltenden Gesetzes aus reiner Achtung für dasselbe zur ausschließlichen Maxime des eigenen Handelns erhebt, steht bei Fénelon nicht in der erhabenen Isolierung, in der sie sich bei Kant befindet, sondern ist selbst nur Moment in einem Prozeß stufenweiser Läuterung zu immer größerer »Reinheit« der Liebe, sie ist Stadium auf einem Wege, der weit unterhalb der kantisch begriffenen Moralität beginnt – in seinen Anfängen trägt er ganz offen und unbekümmert eudämonistische Züge –, einem Weg, der aber in seinem Fortgang die Kantische Moralität hinter sich läßt und in den Bereich jenes »Edlen« führt, das nach Kant »auf leere Wünsche und Sehnsüchte nach unersteiglicher Vollkommenheit hinausläuft« 17, womit Kant den alten, von den Jansenisten erhobenen Vorwurf des »Schimärischen« wiederaufnimmt. 18
Den Grund für diese Differenz erkennt Spaemann in der »abstrakten Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Vernunft« bei Kant, die bei Fénelon durch die »Antithese von Liebe und Selbstsucht« 19 ersetzt ist, wodurch er das sittliche Problem in ein pädagogisches verwandelt. Abschließend sei noch kurz auf Schopenhauer, der sich selbst als »Thronfolger Kants« 20 bezeichnete, und seine ausdrückliche Bezugnahme auf Fénelon hingewiesen. 21 Schopenhauer, der mit Bezug auf Fénelon »die ›reine Liebe‹ als Mitleid bestimmt« 22, teilt die antieudämonistische Orientierung der kantischen Ethik, kritisiert aber ihre Form, wonach Sittlichkeit nur »durch Reflexion auf eine die Selbstliebe transzendierende Maxime« 23, den kategorischen Imperativ, erreicht werden soll. Demgegenüber ist für Schopenhauer die
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 243. Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 155. – Ebd. 344. 18 Ebd. 244. 19 Ebd. 246. 20 Vgl. den Brief Schopenhauers an Julius Frauenstädt vom 26. 09. 1851. – Schopenhauer, Gesammelte Briefe, 266. 21 Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 295–307. 22 Ebd. 299. 23 Ebd. 304. 16 17
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
»Unmittelbarkeit […] des Sittlichen […] als Mitleid« 24 entscheidend: »Insofern Schopenhauer gegenüber Kant auf der Unmittelbarkeit des Sittlichen besteht, greift er ein wesentliches Motiv Fénelons auf und kann sich mit Recht auf ihn berufen.« 25 Während es Schopenhauer aber im Mitleid um die »Aufhebung der Individuation«, um die »Unmittelbarkeit der Einsfühlung« 26 geht, ist für Fénelons Konzeption der reinen Liebe, wie in Teilkapitel 4.2 gezeigt wurde, die psychologisch-ontologische Doppeldeutigkeit der sogenannten »direkten Akte« entscheidend: »Die ›direkten Akte‹ im Gegensatz zu den ›reflektierten Akten‹ sind die psychologische Entsprechung zur mystischen ›Seelenspitze‹, deren Unbewußtheit nicht als Unter-, sondern als Überbewußtsein interpretiert wurde.« 27 Bei Fénelon geht es also nicht wie bei Schopenhauer um eine »bloße Unmittelbarkeit« 28 – das Nichtsein als Ziel des sittlichen Weges; seine Auseinandersetzung mit dem Problem der Reflexion ist ja gerade eine unablässige Zerstörung von Unmittelbarkeit. Tatsächlich kann man bei Fénelon von einer Mediatisierung der gesamten Moral – ähnlich wie bei Kant – sprechen. Nur daß das Zentrum der Vermittlung nicht im reflektierenden Subjekt liegt, sondern im absoluten »Willen Gottes«, der in der Geschichte als dem Gang dessen, was geschieht, sich als Kreuzigung des Eigenwillens enthüllt und zugleich verbirgt. Von Spontaneität des Sittlichen muß daher bei Fénelon in einem paradoxen Sinn die Rede sein: Der einzige Akt reiner Spontaneität ist für ihn jener Akt, der alle naturhafte Unmittelbarkeit aufhebt, der des Gehorsams. 29
Schopenhauers Bezugnahme auf Fénelon verkürzt dessen Gedanken also in einem entscheidenden Sinn, insofern nur seine psychologische Redeweise, nicht aber ihr ontologischer Gehalt darin erhalten bleibt. Wo Fénelon existentiell oder paränetisch spricht, kann es so scheinen, als ob »Vernichtung« tatsächlich gleichbedeutend sei mit Aufhebung der individuellen Existenz und damit des Seins überhaupt. Aber es besteht kein Grund, diese Redeweise Fénelons von der theoretischen Deutung zu isolieren, die er ihr selbst gegeben hat. In dieser Deutung
24 25 26 27 28 29
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 304. Ebd. 305. Ebd. 304. Ebd. 305. Ebd. 306. Ebd.
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4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken
aber erscheint die Forderung des geistigen »Sterbens« nicht als ein metaphysisches Postulat, sondern als die Folge der Sünde. Im Hindurchgang durch diesen »Tod« aber stellt sich der ordo amoris so wieder her, daß alles Endliche und auch die natürliche Selbstliebe darin »aufgehoben« ist. Nicht das Nichts, sondern das Koinón ist das Woraufhin der menschlichen Transzendenz bei Fénelon. 30
Im Rahmen dieser Ausführungen zur Fortwirkung Fénelons müsste noch eine weitere Linie Erwähnung finden, die von Fénelon über Kant bis ins 19. Jahrhundert führt und – wiederum gegen Kant – den Fénelon’schen Begriff der Liebe akzentuiert. Auf diese wird aber erst im abschließenden Teilkapitel 4.6 eingegangen werden.
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Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 306.
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
Spaemanns Studien über Fénelon zeichnen sich durch eine auch für seine späteren Hauptwerke 1 charakteristische essayistische Herangehensweise aus. In den einzelnen Kapiteln werden als Schwerpunkte entweder die Beziehung Fénelons zu bestimmten anderen Denkern oder bedeutende inhaltliche Aspekte, unter denen seine Lehre betrachtet wird, ausgewählt. Dabei wiederholen sich wesentliche Gedanken leitmotivisch und es ergibt sich ein feingliedriges Netz an intertextuellen Bezügen zwischen den einzelnen Kapiteln. Schwierig scheint mir die Frage zu beantworten, worin das organisierende Prinzip dieser einzelnen Essays besteht, das sie, abgesehen von der mit dem Untertitel »Studien über Fénelon« gesetzten inhaltlichen Klammer, zu einer Einheit verbindet. Meine These, die ich im Folgenden ausführen möchte, besteht darin, dass dieses organisierende Prinzip der Studien in einer bestimmten Art der Perspektivierung der Lehre Fénelons und der geistigen Strömungen und Denker, die zu ihm in Beziehung gesetzt werden, besteht, die ihrerseits Ausdruck eines oft latenten geschichtsphilosophischen Horizonts des Autors ist. Offen gelegt wird dieser geschichtsphilosophische Horizont beispielsweise durch einen literarischen Vergleich am Ende der Einleitung, womit der Autor zugleich so etwas wie eine ›Leseanleitung‹ der Studien gibt. Er bringt dort das Grundthema der Fénelon’schen Lehre – die Selbstaufhebung der Reflexion als Durchgangsstadium zur reinen Liebe – mit Kleists »Marionettentheater« in Verbindung: »Wie in diesem sind in ihr 2 das pädagogische und das geschichtsphilosophische Motiv noch nicht voneinander geschieden, sondern zusammengehalten von der theologischen Perspektive, wie sie Kleist in der Alternative von ›Gliedermann‹ oder dem Gott aufscheinen läßt.« 3 Wenn im letzten Satz von Kleists Aufsatz – »das ist das letzte Kapitel von der GeDies gilt insbesondere für »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik« (1989) und »Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹« (1996). 2 Die Bezüge in diesem Satz sind etwas undurchsichtig. Mir scheint am überzeugendsten die Lesart, dass mit »diesem« auf das Thema der Fénelon’schen Lehre, mit »ihr« auf das »Marionettentheater« – zu substituieren ist dann: »die Erzählung« – Bezug genommen wird. 3 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 32. 1
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
schichte der Welt« 4 – »das ›psychologische‹ Problem der Reflexion in einen geschichtsphilosophischen Horizont gerückt wird« 5, bedeutet dies die Ausweitung der Perspektive auf einen die Entstehung der Reflexion umgreifenden Zusammenhang und die Deutung des Problems der Reflexion vor dem Hintergrund dieses Umgreifenden. In Kleists »Marionettentheater« wird der Bezug zum dritten Kapitel der Genesis – der Geschichte vom Sündenfall – hergestellt und somit die Geschichte der Menschheit, die Thema der Erzählung ist, in eine theologische Perspektive gerückt. Im Hinblick auf Spaemanns Studien ist somit zu fragen, inwiefern es sich dabei noch um eine philosophische Themenstellung handeln kann. Dass ein junger Philosoph seine Habilitationsschrift über einen Theologen verfasst, könnte an sich schon als merkwürdig empfunden werden; dass der thematisierte Theologe aber in seinen philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Denken seiner Zeit, die, wie gesehen, durchaus auf der Höhe derselben sind, bei der Aufhebung der Reflexion und dem »universalen Schiffbruch der menschlichen Vernunft« 6 anlangt 7, müsste für einen extrem grenzorientierten Philosophiebegriff des Autors sprechen, wenn sich in dieser Betrachtung des die Reflexion negierenden Theologen nicht doch noch ein genuin philosophisches Interesse verbergen würde. Genau zu diesem genuin philosophischen Interesse kann die im Hinweis auf das »Marionettentheater« enthaltene Leseanleitung der Studien führen, wobei allerdings – im Sinne einer direkten Umkehrung der Zusammenhänge – nicht wie bei Kleist das psychologische Problem in einen theologischen Kontext, sondern das religiös motivierte Aufbegehren Fénelons gegen die Reflexion in einen umfassenden philosophischen Kontext gestellt wird. Es ist hier also zu differenzieren zwischen dem, was Spaemann in seiner Methodik aus dem Gleichnis des Marionettentheaters direkt entnimmt, und der anders gearteten Richtung der Gedankenbewegung bei Kleist. Sowohl bei Kleist als auch bei Fénelon geht es um eine Dreistufigkeit der Entwicklung. Es geht erstens um das Stadium
Kleist, Sämtliche Werke, Bd. 2, 345. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 311. 6 Ebd. 111. 7 Vgl.: »Fénelons Absage an die Reflexion entspringt ja nicht der Hoffnung, einen höheren spekulativen Boden zu gewinnen, sondern ist gleichbedeutend mit Absage an Philosophie überhaupt.« – Ebd. 303. 4 5
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
der ›Unschuld‹, der »naturhaften Unmittelbarkeit« 8, zweitens um das Stadium der Reflexion und drittens um eine Überwindung dieses zweiten Stadiums. Diese Überwindung hat bei Kleist die Gestalt der Utopie – »das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt« –, bei Fénelon die der in der Liebe möglichen »reinen Spontaneität« 9. Bei Kleist ist diese Dreistufigkeit nicht nur ein »pädagogische[s]«, sondern auch ein »geschichtsphilosophische[s] Motiv« 10, insofern die drei Schritte – Unschuld, Reflexion, unendliches Bewusstsein – Stadien sowohl der Entwicklung eines Individuums als auch der heilsgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit bezeichnen. Ein solches geschichtsphilosophisches Motiv ist im Fénelon’schen Denken nicht expliziert, lässt sich jedoch nach meiner Überzeugung sehr wohl in der spezifischen Perspektivierung seines Denkens durch Spaemann finden. Diese Perspektivierung folgt nun aber einer anderen Richtung der Gedankenbewegung als bei Kleist, da es Spaemann nicht um ein theologisches, sondern um ein philosophisches Bezugssystem geht. In seinen »Studien über Fénelon« setzt Spaemann zahlreiche Referenzpunkte, die weit über das im Mittelpunkt des Interesses stehende 17. Jahrhundert hinausgehen. Für das 18. Jahrhundert wurde hier Kant, für das 19. Schopenhauer thematisiert. Im Blick zurück erscheinen Thomas von Aquin als Vertreter der Hochscholastik sowie Platon und Aristoteles als Vertreter der klassischen Philosophie als die wichtigsten Referenzpunkte. In diesem annähernd 2500 Jahre umfassenden Spektrum bewegen sich die Untersuchungen und es soll nun am Beispiel des Begriffs der Glückseligkeit als eines zentralen Streitpunktes in der Kontroverse zwischen Fénelon und Bossuet ihre spezifische Methodik erläutert werden, die nach meiner Überzeugung wesentlich die philosophische Bedeutung der Studien über Fénelon begründet. Die Glückseligkeit wird nach christlicher Vorstellung erreicht nach dem Tode in der Gottesschau (visio intuitiva) und die entscheidende Frage im Streit zwischen Fénelon und Bossuet ist, ob im irdischen Dasein die Hoffnung auf sie zulässig ist oder nicht. Es seien noch einmal kurz die Positionen der Kontrahenten in dieser Frage in Erinnerung gerufen. Für Bossuet kann die Liebe zu Gott nicht von der Hoffnung auf die ewige Seligkeit getrennt werden, so dass die Glückseligkeit ein zulässiges Motiv der Gottesliebe ist. Für Fénelon dagegen Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 138. Ebd. 280. 10 Ebd. 32. 8 9
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
darf die Liebe zu Gott mit keinem anderen Motiv vermischt werden, so dass die Hoffnung auf das zu erlangende Heil die reine Liebe zerstören würde. Fénelon beruft sich dabei auf Suarez 11 und unterscheidet formale Seligkeit (»beatitudo formalis«) und objektive Seligkeit (»beatitudo objectiva«) 12. Die eigentliche Seligkeit besteht demnach nur in der Übereinstimmung von formaler und objektiver Seligkeit. Der Sinn der Unterscheidung für Fénelon ist aber die Möglichkeit des Auseinandertretens beider, wenn der subjektive Gesichtspunkt des amour propre ins Spiel kommt, der dann die eigentliche Glückseligkeit unmöglich macht. Für Bossuet dagegen kann die Hoffnung auf Glückseligkeit nicht von der eigentlichen, zu erwartenden Glückseligkeit getrennt werden und er »insistiert auf der existentiellen Einheit der Glückseligkeit im Vollzug unter Berufung auf das aristotelisch-thomistische Axiom, daß Erkenntnis und Erkanntes im Vollzug des Erkennens identisch werden« 13. Es geht also um die Identität der als Motiv der Gottesliebe im Denken vorhandenen Glückseligkeit und ihrer Wirklichkeit in der Gottesschau. Das klassische Axiom der Identität von Denken und Sein bei Aristoteles besagt, dass das Wesen einer Sache, ihr Sosein, identisch ist mit dem Begriff von dieser Sache, was sich bei Aristoteles sprachlich schon in der Doppeldeutigkeit von εἶδος als einerseits die das Wesen der Sache bestimmende Formursache, als andererseits der ihr Wesen bezeichnende ArtBegriff 14 ausdrückt. Zu Bossuets Berufung auf dieses Axiom bemerkt Spaemann: »Das klassische Axiom der Identität von Denken und Sein, auf die Ebene der Reflexionsphilosophie transportiert, definiert diese Identität aber nun nicht mehr vom intelligiblen Sein, sondern Spaemann verweist in einer Anmerkung auf folgendes Zitat Suarez’ (1548–1617): »Vgl. Suarez, De ultimo fine hominis, Disp. IV, sect. I, Opera omnia ed. André. IV Paris 1856, S. 40: ›Eines ist die Sache, durch die wir selig werden, ein anderes ist die Erlangung dieser Sache; jene heißt Gegenstand der Seligkeit oder objektive Seligkeit; diese wird formale Seligkeit genannt, oder Erlangung der Seligkeit. Beide zusammen aber machen die eine Seligkeit aus, weil eine ohne die andere nicht selig machen kann; es ist vielmehr notwendig, daß beide in ihrer jeweiligen Eigenart zusammenkommen.‹« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 313. 12 Vgl. Abschnitt 4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität, 163. 13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 44–45. 14 Diese Ausdrucksweise ist allerdings nicht ganz exakt, da die Formursache logisch »nur durch ein Gefüge definitorischer Begriffe umgrenzt« wird, was demnach die exakte logische Bedeutung von εἶδος wäre. – Vgl. Horst Seidl, Einleitung zur Metaphysik des Aristoteles, in: Aristoteles, Metaphysik. Erster Halbband, XXIX. 11
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
vom Subjekt und seinem Glücksverlangen aus, ohne die Entfremdung, die sich eben darin vollzieht, zu reflektieren.« 15 Fénelon erkennt in der Position Bossuets das eudämonistische, vom amour propre beherrschte Denken, das nach seiner religiösen Überzeugung mit der Gottesliebe nicht vereinbar ist. Daher beharrt er gegen das erwähnte Axiom auf der Unterscheidung der beiden Glückseligkeiten und weist den Gedanken Bossuets zurück: Glückseligkeit als Motiv der Gottesliebe kann nicht identisch sein mit der eigentlichen Glückseligkeit, weil es den Menschen in seinem Interesse isoliert und von Gott abtrennt. Diese Haltung Fénelons kommentiert Spaemann wiederum wie folgt: »So reflektiert Fénelon die Entzweiung, die in der Reflexion des ›privaten‹ Individuums auf sein Glück liegt, und seine Distinktionen sind Darstellung dieser Reflexion.« 16 Das eigentlich Bemerkenswerte an diesen Ausführungen zur Auseinandersetzung um den Begriff der Glückseligkeit ist weniger in den aus der querelle bekannten Streitpositionen zu suchen als in ihrer konkreten Perspektivierung. Spaemanns Kommentar zur Position Bossuets entlarvt diese als Anachronismus, also als eine die spezifischen Denkbedingungen der Antike verkennende unkritische Übertragung eines klassischen Axioms in die Gegenwart des 17. Jahrhunderts. Dahinter steht Spaemanns Überzeugung, dass das klassische Denken eines Platon und Aristoteles unter prinzipiell von den unseren verschiedenen Denkbedingungen steht und dass eine Bezugnahme auf dieses nur in der simultanen Reflexion auf diese Denkbedingungen möglich ist, wenn sie nicht zu einem Anachronismus führen soll. An anderer Stelle der Studien bezieht sich Spaemann bei der Thematisierung dieser Denkbedingungen auf Hegel: Von der Philosophie des Plato und Aristoteles sagt Hegel, sie sei System, aber nicht in der Form des Systems gewesen. Das gleiche gilt für das Problem der Reflexion. Man wird nicht sagen dürfen, die alte Philosophie sei unreflektiert gewesen. Aber für ihre Art der Reflexion ist die scholastische Unterscheidung einer Reflexion im vollzogenen Akt und im ausdrücklich gesetzten Akt – in actu exercito und in actu signato – kennzeichnend. Alle Erkenntnis ist insofern reflektiert, als ich mich in ihr immer auch unausdrücklich selbst als Erkennenden weiß. Ebenso nimmt, wer dem sozialen Ganzen seinen Dienst leistet, zuSpaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 45. Ebd. – Vgl. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 148. Dort wurde im Kontext des Begriffs der Entzweiung bereits die unmittelbare Fortsetzung dieses Zitats angeführt.
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
gleich sein Interesse wahr. Aber durch diese Reflexion des endlichen Bewußtseins sind Erkenntnis und Handeln nicht definiert. 17
Die klassische Philosophie wird missverstanden, wenn ihre prinzipielle Fremdheit, die von Spaemann im Rahmen der Studien wiederholt betont wird, nicht aktiv reflektiert wird. Um die Bedeutung dieser Fremdheit in seinem geschichtsphilosophischen Horizont nachzuvollziehen, muss jedoch zunächst die Perspektivierung der Auseinandersetzung Fénelons und Bossuets um die Glückseligkeit weiterverfolgt werden. Nachdem Bossuets Position als Anachronismus entlarvt wurde, betrachtet er die Position Fénelons, deren eigentliche Bedeutung in dieser Perspektivierung jedoch nicht in der Opposition gegenüber Bossuet besteht, sondern vielmehr darin, dass er in seiner festgehaltenen Orientierung an der »theozentrischen Einheit« Bossuets Position dialektisch aufhebt und damit indirekt den Sinn der alten Philosophie erneuert. Indem Fénelon in diesem konkreten Zusammenhang die Identität von Denken und Sein bestreitet, bedeutet seine Berufung auf die reine Liebe nichts anderes als das Offenhalten der Möglichkeit der Identität von Denken und Sein, die ihm aber nur im reinen Glauben zugänglich ist. Durch die spezifische Sicht Spaemanns auf diese Zusammenhänge erhält das Thema des reinen Glaubens erst seine genuin philosophische Bedeutung. Diese die innere Verbindung zwischen der alten Philosophie und der Position Fénelons hervorhebende Perspektivierung rechtfertigt Spaemann im übrigen auch durch eine Aussage Fénelons selbst über Platon und Aristoteles, die diese in die Nähe des Gedankens der reinen Liebe bringt: »Diese Heiden, die in der Eitelkeit der Sinne wandelten und so sehr sich selbst vergötterten, haben doch immer noch spekulativ von einer Schönheit, einer Ordnung, einer Tugend, einer Gerechtigkeit gewußt, die besser war als sie, und von einer Liebe zu dieser Schönheit, die, weit davon entfernt, auf die Selbstliebe gegründet zu sein, vielmehr Fundament und Regel für die Selbstliebe jedes einzelnen sein muß.«18
Wenn Fénelon sich gegen Bossuet oder auch gegen andere Vertreter der neuen bürgerlichen Philosophie wendet, so gewinnen seine Distinktionen in dem Maße an philosophischer Bedeutung, wie sie nicht Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 69. Ebd. 83. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] III, 358. – Ebd. 322.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
allein als explizite Absage an die Reflexion bzw. die Philosophie überhaupt gelesen werden können, sondern von Spaemann zumindest implizit immer auch als indirekte Erneuerung des antiken substanzontologischen Denkens gelesen werden, das bei allen Modifikationen, die an dieser Stelle noch nicht erläutert werden können, auch in der mittelalterlichen Philosophie, hier vor allen Dingen bei Thomas von Aquin, fortlebt. Eine weitere Textstelle soll die Perspektivik von Spaemanns Untersuchungen und ihren geschichtsphilosophischen Horizont verdeutlichen. Im Zusammenhang mit der im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzogenen Aufhebung der »realistische[n] Vernunfttheorie, nach welcher die Wirklichkeit für den Geist als sie selbst anwesend ist« 19, bemerkt er: Wo Erkenntnis, wie in der Spätscholastik und dann bei Descartes, zu einer Erfassung immanenter Begriffe wird, wird der Liebe nun die ganze Last einer Realität aufgebürdet, von deren Erreichung die spekulative Vernunft ausgeschlossen ist. Für Descartes ist allein der Wille empfänglich für das Unendliche. Bei Fénelon wird sogar das cartesische Cogito auf einen vorausgehenden Akt der Liebe und des Gehorsams gegründet. Die Reinheit der Liebe aber erweist sich gerade im Mut zum Ausharren in der »Dunkelheit des reinen Glaubens«. Mit seiner Theorie des amour désintéressé, die nun wesentlich negativ, von der Negation der Selbstliebe her verstanden aber doch in ihrer »Objektivität« gerettet wird, steht Fénelon jedoch der Auffassung des heiligen Thomas näher als die meisten Theorien der Liebe in der Neuzeit, die die »Objektivität« der Liebe überhaupt preisgeben, indem sie sie auf das reduzieren, was bei Thomas amor concupiscentiae heißt, oder doch, um die Subjektimmanenz nicht sprengen zu müssen, die »delectatio« zum eigentlichen telos der Freundschaftsliebe machen – was bei Thomas nur für den nicht zur Realität vordringenden amor sensitivus gilt. 20
Dieses Zitat verdeutlicht zum einen, dass Fénelons reine Liebe für Spaemann eine Art Brückenprinzip ist, durch das im Rahmen des neuzeitlichen Denkens – wenn auch keine Erneuerung substanzontologischen Denkens stattfindet – doch zumindest sein Platz durch eine negative Theorie freigehalten wird. Zum anderen verdeutlicht dieses Zitat, dass Fénelon selbst sich nur teilweise der metaphysischen Konstante, die in seiner Lehre von der reinen Liebe ihren Ausdruck findet, bewusst war. Seine Unterscheidung in der Dissertatio zwischen 19 20
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 102. Ebd. 102–103.
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
einer konkret psychologischen und einer abstrakt ontologischen Redeweise 21 zeigt, dass er diese metaphysische Konstante durchaus zum Teil gesehen hat; dennoch steht Fénelon nach Spaemanns Darstellung so sehr auf dem Boden der cartesianischen Philosophie – »Die PotenzAkt-Lehre ist ihm eine überholte Schultheorie« 22 –, dass die Zusammenhänge, die Spaemann im Verlauf seiner gesamten Studien herstellt, offensichtlich jenseits des Gesichtskreises Fénelon’schen Denkens liegen. Durch diese spezifische Perspektivierung mit ihrem geschichtsphilosophischen Horizont gewinnen Spaemanns Studien erst ihre genuin philosophische Bedeutung, die die Lehre Fénelons selbst zunächst in Frage zu stellen scheint. In diesem Sinne stellen die »Studien über Fénelon« eine neue Entwicklungsstufe der ihr Verhältnis zur Metaphysik bedenkenden Geschichtsphilosophie dar, von der oben die Rede war. 23 Dabei ergibt sich als ein wesentlicher Ertrag der Studien, dass aus der Bezugnahme auf Thomas von Aquin in der neuzeitlichen Philosophie aufgegebene Möglichkeiten des Denkens zur Sprache kommen, deren Erneuerbarkeit hier zwar noch nicht zum Thema wird, deren Betrachtung aber als implizite Sondierungen gelesen werden kann, von denen aus die weitere Entwicklung des Philosophen Robert Spaemann verständlich wird. Das im nächsten Kapitel im Mittelpunkt stehende Thema der Naturteleologie ist eine solche bei Thomas ausgeprägte und in der Neuzeit aufgegebene Denkmöglichkeit, um deren Erneuerbarkeit es Spaemann im weiteren Verlauf seiner Entwicklung als Denker maßgeblich gehen wird.
Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 54–55. Ebd. 56. – Spaemann fügt diesem Satz in einer Anmerkung folgendes Zitat Fénelons bei: »Vgl. I, 126: ›Die Philosophen der Schule sprechen vom Akt wie von einer von der Potenz und von der Handlung unterschiedenen Entität, die das Ziel der Handlung darstellt. In diesem Sinn ist das Ziel die Erfüllung, die die Potenz vollendet. Kein Cartesianer kann im Ernst so reden.‹« – Ebd. 316. 23 Vgl. Teilkapitel 3.1, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte, 100–101. 21 22
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4.6 Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons
Die in den »Studien über Fénelon« spürbare Grundhaltung ihres Autors gegenüber dem Gegenstand seiner Untersuchungen ist eine tiefe Sympathie, die sich in einer minutiösen Rekonstruktion der Sichtweisen Fénelons aus einer Vielzahl von Quellen, in der offensichtlichen Bewunderung seiner Geradlinigkeit und Glaubensstärke und auch in einer – soweit das über eine Distanz von gut 250 Jahren zu sagen möglich ist – tief empfundenen menschlichen Nähe zu ihm zeigt. Spaemann wird auch nicht müde, immer wieder die Verehrung Fénelons zum Ausdruck bringende Aussagen vieler seiner ihrerseits bedeutsamen Leser zu zitieren, es seien als Beispiele hier nur Leibniz, Rousseau und Jean Paul genannt. Abschließend soll nun versucht werden, einerseits das Gesamtphänomen Fénelon in dieser Perspektivierung durch Spaemann dahingehend zu deuten, dass die Züge, die für ihn seine Größe ausmachen, umrissen werden; andererseits soll auf die Grenzen Fénelons in dem Sinne eingegangen werden, dass die aus Spaemanns Sicht wohl bedeutendste Schwäche seiner Lehre, die sich aus den oben erörterten problematischen Denkvoraussetzungen Fénelons ergibt, bezeichnet wird. Im Hinblick auf diesen Aspekt wird darüber hinaus, wie oben angekündigt, eine weitere Traditionslinie, die von Fénelon ins 19. Jahrhundert führt, erwähnt. Sieht man die »Studien über Fénelon« als Fortsetzung der in der Bonald-Studie begonnenen philosophischen Arbeit, so erfährt insbesondere die Problematisierung des Ausgangs der neuzeitlichen Philosophie vom Subjekt, der, wie gesehen, bereits dort ein Hauptgesichtspunkt der Betrachtung war, eine wesentliche Vertiefung. Durch die prinzipielle Auseinandersetzung mit neuzeitlichen eudämonistischen Ethiken und die kritische Arbeit am cartesischen Rationalismus wird in den »Studien über Fénelon« erstens der Anspruch der Subjektphilosophie als philosophia prima grundsätzlich in Frage gestellt. Als ein weiteres zentrales Thema der Studien kann zweitens das Problem der Selbsttranszendenz bezeichnet werden, das im Sinne der ins Extreme gesteigerten Kritik an der Reflexion durch Fénelon in ihrem Rahmen in schwer zu überbietender Subtilität durchdacht wird. Dabei ist Selbsttranszendenz, wie der Begriff schon sagt, wesentlich ein Übergang, durch den die Frage nach ihrem Worauf in 180 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
4.6 Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons
den Mittelpunkt rückt. Das Problem des Negativen als Worauf der Selbsttranszendenz findet drittens in den Studien eine Erörterung, die durch ihren charakteristischen geschichtsphilosophischen Horizont erste Hinweise liefert, wie jenes »koinón« 1, das am Ende der Studien als »Woraufhin der menschliche[n] Transzendenz« 2 bezeichnet wird, denkbar wird und damit aus der reinen Negativität des SichEntziehenden herausrückt. In dieser Sache leisten die Studien, wie erwähnt, aber erst Sondierungen, durch die sich spätere Schritte der gedanklichen Entfaltung bei Spaemann allenfalls andeuten; bei Fénelon nämlich bleibt es im Wesentlichen bei der »Dunkelheit des reinen Glaubens«, der letzte Satz der Studien über Fénelon lautet: »Aus dem spekulativen Karfreitag gibt es für ihn wesentlich keine spekulative, sondern nur eine wirkliche Auferstehung.« 3 Eben in dieser Eigenschaft des Fénelon’schen Denkens kann auch seine größte Schwäche gesehen werden. Das wesentliche Charakteristikum seiner Lehre, um das in ihrer Darstellung durch das Umkreisen des sich prinzipiell Entziehenden gerungen werden muss, wurde ebenso zum Problem seiner Wirkungsgeschichte: Die Fénelonsche Idee einer unvermittelten Unmittelbarkeit, der Wiedergewinnung spiritueller Spontaneität durch die totale Aufgabe des endlichen Ich als Zentrum der Reflexion in der reinen Liebe konnte sich schwerlich durchsetzen, da sie nur in einer gegenüber der Zeit und ihrem Denken ohnmächtigen Inhaltslosigkeit auftrat. 4
Diese Inhaltslosigkeit ist nun aber nicht einfach das unabänderliche Schicksal einer Lehre von der reinen Liebe, sondern die Folge einer bestimmten Ausdeutung derselben, in der Spaemann eine problematische Vorentscheidung Fénelons erkennt. Auf diesen Punkt soll nun noch etwas näher eingegangen werden. Als Schüler Descartes’ ist Fénelon Occasionalist: »Fénelon ist Anhänger der occasionalistischen Theorie der Kausalität, die alle echte Verknüpfung und Wirkursächlichkeit im Bereich des Endlichen ausschließt bzw. durch Gott vermittelt sein läßt. Es gibt kein Mitsein: alles Endliche ist als solches von allem anderen Sein isoliert.« 5 Dieser Grundsatz hat im Fénelon’schen Denken entscheidende Bedeutung für die Beurteilung möglicher zwi1 2 3 4 5
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 306. Ebd. Ebd. 307. Ebd. 208. Ebd. 40.
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
schenmenschlicher Beziehungen und der Möglichkeit von Begegnung: […] für jede irdische Liebe gilt nach Fénelon das unerbittliche Gesetz der Vermittlung durch die Eigenliebe: »Wir lieben nichts außer uns selbst, es sei denn in Beziehung auf uns.« 6 Der Grund liegt darin, daß kein endliches Wesen uns so prinzipiell überlegen wäre, daß wir uns auf es hin zu transzendieren vermöchten. 7
Jede zwischenmenschliche Liebe ist Ausdruck des amour propre, wenn sie nicht im Zuge einer »mystischen Transfiguration der Freundschaft« 8 von jedem Eigeninteresse gereinigt und auf Gott bezogen wird. Spaemann zitiert Fénelon: »Nur die Liebe zu Gott hat die Macht, uns aus uns selbst herausgehen zu lassen. Wenn die mächtige Hand Gottes uns nicht stützte, wüßten wir nicht, wohin wir den Fuß setzen sollten, um auch nur einen Schritt aus uns heraus zu tun. Es gibt keinen Mittelweg. Wir müssen alles entweder auf Gott oder auf uns selbst beziehen.« 9
Diese radikale Entwertung des Diesseits verweist den Menschen also auf Gott als das alleinige Ziel der Selbsttranszendenz. Spaemann zitiert in diesem Zusammenhang einen zeitgenössischen Fénelon-Forscher 10, der »mit Recht« bemerkt habe, »bei Fénelon fehle das, was Claudel ›den Geschmack der Erde zwischen den Zähnen‹ nenne« 11. Hier liegt auch eine der ganz wenigen Stellen der Studien vor, an denen Spaemann Fénelon offen kritisiert: […] in der Tat haftet dem Werk Fénelons bei aller Konsequenz und Entschiedenheit immer etwas von der eigentümlichen Blässe an, die man unwillkürlich mit dem von Fénelon so hochgeehrten Namen von Saint-Sulpice verbindet. Aber Fénelon selbst, dem Unmittelbar6 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] VI, 141. – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 328. 7 Ebd. 124. – In einer Anmerkung fügt Spaemann ein Zitat Fénelons hierzu an: »›Der Grund, warum kein Geschöpf uns aus unserem eigenen Bann lösen kann, liegt darin, daß eben keines verdient, daß wir es uns selbst vorziehen‹ VI, 141.« – Ebd. 328. 8 Ebd. 121. 9 Ebd. 125. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] VI, 140. – Ebd. 328. 10 Siehe ebd. 121, Fn. 11 Ebd. 121. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: F. Varillon, Œuvres spirituelles, Introduction, S. 82. – Ebd. 328.
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4.6 Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons
keit immer die normative Kraft eines absoluten Ideals hat, ist der Überzeugung, daß es sie als natürliche für den Menschen nicht gibt. 12
Als Kontrapunkt zu dieser Blässe soll abschließend, wie angekündigt, eine zuvor ausgesparte Linie der Fénelon-Rezeption angedeutet werden, die sich mit dem Thema der Liebe gerade als irdischer befasst. Einen Anhang zu seinen Studien widmet Spaemann dem Dichter Jean Paul (1763–1825), der mit Berufung auf Fénelon »in ausdrücklicher Abgrenzung gegen Kant« das Sittliche in der »durchaus als ›metamoralisch‹ verstandenen Liebe« 13 fundiert sein lässt. Für Kant kam ein solcher Versuch nicht in Frage, weil Liebe als Gefühl für ihn in den Bereich des ›Pathologischen‹, also auf Lust Gegründeten, gehört und eine solche Fundierung daher eine heteronome wäre. Wenn Jean Paul im Unterschied zu Kant »nicht primär auf Pflichten reflektiert, sondern auf jene spontane dialogische Transzendenz, in der alle Pflichten gründen« 14, so geht es ihm um das, »was wir heute eine personalistische Begründung der Sittlichkeit nennen würden« 15. Diese Liebe wird von dem Verdacht, etwas bloß ›Pathologisches‹ zu sein, dadurch befreit, dass die in ihr zum Ausdruck kommende Selbsttranszendenz selbst als Grundtrieb der lebendigen menschlichen Natur verstanden wird: […] die Öffnung des Ich aber zum schlechthin Anderen, das nicht ein Fichtesches Nicht-Ich, sondern selbst wieder ein Ich ist, ist nicht Werk des Willens, sondern der Liebe, und diese als das »Zentralfeuer« der Existenz wird als »angeborene Kraft und Blutwärme des Herzens« bestimmt. Dem Herzen aber wird das körperliche zum Muster gegeben: »Verletzbar, empfindlich, rege und warm, aber ein derber freifortschlagender Muskel hinter dem Knochengitter, und seine zarten Nerven sind schwer zu finden.« 16 Der Begriff des Herzens 17 hat seit Pascal die Funktion, dasjenige zu bezeichnen, was an zentral Menschlichem vom Begriff der Vernunft nicht mehr gefaßt werden kann. Bei Jean Paul Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 121. Ebd. 274. 14 Ebd. 278. 15 Ebd. 16 Spaemann verweist in Anmerkungen als Quelle der Zitate auf: Levana, Jean Pauls Sämtliche Werke, hrsg. v. d. Preuß. Akad. d. Wissenschaften (E. Berend), Abt. 1, Bd. 12, S. 334 u. S. 123. – Ebd. 346–347. 17 Dieser Begriff des Herzens wird Jahrzehnte später in Spaemanns Personenphilosophie eine entscheidende Bedeutung erlangen. – Vgl. das Kapitel »Warum wir Personen ›Personen‹ nennen« in: Spaemann, Personen, 25–42, u. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574. 12 13
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
wie bei Jacobi gewinnt es Bestimmungen, die es in engster Nähe zu jener Seelenspitze bringen, die für die Mystik das Innerste des Menschen und der Ort seiner Verbundenheit mit dem Göttlichen war, Bestimmungen, die aber darüber hinaus genau der Fénelonschen Deutung der Seelenspitze entsprechen. 18
Es ist unverkennbar, dass Spaemann in Jean Pauls Fénelonismus das notwendige Korrektiv entdeckt, das die erörterte Schwäche der Fénelon’schen Lehre kompensiert. In Jean Pauls Aufsatz »Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen« 19 findet er, wie er betont, »jene Deutung der Liebe als ursprünglicher, transzendierender Spontaneität bestätigt, die wir hier skizziert haben« 20. Dabei gibt die Aussage, dass die Liebe als ursprüngliche Spontaneität den Menschen »sein eigenes Ich transzendieren und dadurch erst wahrhaft zu einem Ich werden läßt«, einen Grundgedanken der Dialogphilosophie wieder. 21 Der in diesem Zusammenhang auftretende neue Schlüsselbegriff des Herzens, der in die Nähe des mystischen Begriffs der Seelenspitze gebracht wird, die ihrerseits einen substanzontologischen Begriff darstellt, wirft allerdings nicht nur die Frage auf, wie diese Gedanken in den allgemeinen philosophischen Kontext der »Studien über Fénelon« integriert werden können, sondern die prinzipielle Frage, wie ein solcher substanzontologischer Begriff in den philosophischen Diskurs der Gegenwart zurückehren könnte. Doch diese Fragen weisen über den Kontext des vorliegenden Kapitels hinaus.
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 279. Es handelt sich um einen Auszug aus Jean Pauls »Leben des Quintus Fixlein«, und zwar aus dessen letztem Teil »Einige Jus de tablette für Mannspersonen«. – Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein, 245–252. 20 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 281. 21 Vgl. den Grundgedanken Martin Bubers: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« – Buber, Werke I, 97. – Spaemann spricht in diesem Kapitel wörtlich von einem »dialogischen Verhältnis«, aus dem heraus der Mensch lebt. – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 277. 18 19
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Nach seiner Habilitation im Jahre 1962 wurde Spaemann zunächst Professor für Philosophie und Pädagogik an der Technischen Hochschule Stuttgart. In den nächsten Jahren folgten – neben Aufenthalten in Brasilien und Salzburg – Lehrstühle in Heidelberg und in München, wo Spaemann bis zu seiner Emeritierung 1992 blieb. Im vorliegenden Kapitel werden die zahlreichen Publikationen Spaemanns aus den 60er und 70er Jahren nach seiner Habilitierung im Mittelpunkt stehen. Seine Schriften dieser Jahre umfassen ein breites Themenspektrum. Verschiedene Stränge seines Denkens entwickeln sich hier parallel zueinander, so dass eine kleinschrittigere Zeiteinteilung nicht überzeugend wäre. Betrachtet werden sollen daher in diesem Kapitel Spaemanns Veröffentlichungen nach den Studien über Fénelon bis hin zu dem gemeinsam mit Reinhard Löw 1981 herausgegebenen Buch »Die Frage Wozu?«, das auf einer im Wintersemester 1976/77 gehaltenen Vorlesung über Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens beruht. 1 Bei der Betrachtung dieses fast 20 Jahre umfassenden Schaffensabschnitts wird eine Auswahl von Texten getroffen und werden diese in drei Gruppen geteilt. Im Folgenden wird ein kurzer Ausblick auf die Einteilung der ausgewählten Texte und damit auf die Gliederung des vorliegenden Kapitels gegeben. Nach de Bonald und Fénelon ist Jean-Jacques Rousseau der dritte große Franzose, dessen Denken für Spaemann von zentraler Bedeutung wurde. Zwischen 1962 und 1980 entstanden eine Reihe von Aufsätzen, die Spaemann dann in dem Band »Rousseau – Bürger ohne Vaterland« (in der Neuauflage von 2008 unter dem Titel »RousVgl.: »Im Wintersemester 1976/77 habe ich dann den Versuch gemacht, der Frage nachzugehen, wie es zur Abkehr vom teleologischen Denken im ausgehenden Mittelalter kam und wie ein Neuzugang zu ihm – die wesentlich schwierigere Frage – gewonnen werden kann.« – Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 214.
1
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
seau – Mensch oder Bürger«) zusammenfasste. In ihnen geht es vor allen Dingen um die geschichtsphilosophische Bedeutung des Naturbegriffs; diese steht im Mittelpunkt von Teilkapitel 5.1. – Nachdem die neuzeitliche Inversion der Teleologie, die bereits in der Dissertation über de Bonald erwähnt wurde, ein Hauptthema der Studien über Fénelon gewesen ist, machte sich Spaemann in den 70er Jahren an eine gründliche Untersuchung des Teleologieproblems, die vor allen Dingen im erwähnten Buch »Die Frage Wozu?« (in der Neuauflage von 2005 unter dem Titel »Natürliche Ziele« erschienen) ihren Niederschlag fand. »Die Frage Wozu?« zählte Spaemann im Rückblick neben »Personen« und »Glück und Wohlwollen« zu seinen wichtigsten Werken. 2 Hier geht es gegenüber den Aufsätzen über Rousseau um die metaphysische Bedeutung des Naturbegriffs; sie steht im Mittelpunkt von Teilkapitel 5.2. – Darüber hinaus fließen in den Gedankengang eine Reihe von Essays Spaemanns zu den Themen Theologie, Ethik und Naturrecht ein. Obwohl dieser Textkorpus recht heterogen ist, wird er doch zusammengehalten von einer spezifischen Orientierung am Absoluten, zu dem in diesen Texten auf verschiedenen Wegen ein meist indirekter Zugang gesucht wird. Diese Zugänge stehen im Mittelpunkt von Teilkapitel 5.3. – Die drei mit dieser Unterteilung angedeuteten Entwicklungsstränge stehen in der hier zu betrachtenden Phase des Schaffens Spaemanns schwach vermittelt nebeneinander. Wesentliche Schritte zu ihrer Vermittlung werden im folgenden sechsten Kapitel über Spaemanns Denken in den 80er Jahren Thema werden.
2 Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 131.
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5.1 Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive
Was die Kontinuität in Spaemanns Philosophieren von der Bonald gewidmeten Dissertation über die Studien zu Fénelon bis zur Auseinandersetzung mit Rousseau stiftet, ist vor allen Dingen das Interesse am Thema der Entzweiung. Während die Entzweiung für Bonald im Wesentlichen eine Folge der Französischen Revolution war und daher durch entsprechende Korrekturen als aufhebbar gedacht wurde, begriff Fénelon das Problem der Entzweiung fundamental als Kennzeichen neuzeitlichen Denkens, weswegen ihre Aufhebung für ihn, wie gesehen, nur im ›Tod der Natur‹ vorstellbar war: Fénelon begreift »als den eigentlichen und einzigen Ort der Versöhnung die Subjektivität […], die die Entfremdung auf sich zu nehmen und als heilbringendes Kreuz zu tragen bereit ist« 1. Genau diese zentrale Bedeutung der Subjektivität findet im Werk Rousseaus einen gesteigerten Ausdruck. In der Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung über Rousseau »Mensch oder Bürger – Rousseaus Weg von der Polis zur Natur« schreibt Spaemann mit Blick auf das 18. Jahrhundert: Wo jeder platonisch-teleologische Wesensbegriff des Menschen preisgegeben ist und wo auch die Gestalt des Menschensohnes nicht mehr als unhinterfragbare Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« akzeptiert ist, da wird Platz für neue Versionen des Ecce homo, so die Version Rousseaus, so die Version Nietzsches. 2
Rousseau ist für Spaemann »in unvergleichlichem Sinne eine exemplarische Existenz« 3, da die Antinomien seines Zeitalters nicht bloß Gegenstand seines Denkens sind, sondern sich sowohl in den verschiedenen Stadien seiner geistigen Entwicklung als auch in den existentiellen Widersprüchen seiner Biographie niederschlagen. Dieser antinomische Charakter seines Denkens müsste, wie Spaemann bemerkt, die theoretische Bedeutung seines Werks in Frage stellen,
1 2 3
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 241. Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 15. Ebd. 9.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
es sei denn, dieser Autor sei selbst sein eigener Gegenstand, es gehe ihm darum, in Umkehrung der primären Intentionalität sein eigenes Denken als unmittelbares zu beschreiben, eine Art privater Phänomenologie des Geistes zu geben, und er beanspruche für diese private Erfahrung einen exemplarischen Charakter. 4
Den theoretischen Status seines Denkens sichert somit die existenzphilosophische Interpretation seines Werks, durch die in seinen Widersprüchen eine subjektive Verarbeitung der Antinomien des eigenen Zeitalters erkannt wird. Dies führt zu einer Konkretisierung der Fragestellung an das Werk Rousseaus: Inwiefern ist denn Rousseaus geistige Erfahrung exemplarisch, so daß ihr eine theoretische und das heißt allgemeine Bedeutung zukommen kann? Dies ist doch wohl nur dann der Fall, wenn die inneren, bewußt ausgehaltenen Widersprüche einer geistigen Existenz geschichtliche, das heißt allgemeine Antinomien einer Zeit sind. 5
Seinen eigenen Beitrag zur Rousseau-Forschung versteht Spaemann als Andeutung der »Richtung einer geschichtlichen Konkretisierung der existenzphilosophischen Interpretation« 6 Rousseaus. Dies bedeutet, wie zu zeigen sein wird, dass Spaemann die disjecta membra, die in Rousseaus Denken anzutreffen sind, genealogisch zu betrachten versucht, um die ihnen zugrunde liegende »Idee zu rekonstruieren« 7, womit er sich in seiner Betrachtung Rousseaus ausdrücklich über dessen eigenen Horizont hinauszubewegen beabsichtigt. Diese einleitenden Bemerkungen beschließt ein knapper Ausblick auf die folgenden Gedankenschritte. Ausgangspunkt ist Rousseaus Sicht des geschichtlich-sozialen Zustands des Menschen des 18. Jahrhunderts, des Bourgeois’, dessen Verurteilung durch Rousseau analysiert wird (5.1.1). Danach wird zunächst Rousseaus politisches Ideal skizziert, bevor im Zusammenhang mit der Kontroverse um den ersten »Discours« der Übergang Rousseaus zum natürlichen Ideal thematisiert wird (5.1.2). Einer eingehenderen Betrachtung bedarf anschließend der Rousseau’sche Naturbegriff und die »Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert« 8 (5.1.3). Auf dieser Grundlage soll Rousseaus utopisches Erziehungskonzept knapp dar4 5 6 7 8
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 24–25. Ebd. 25–26. Ebd. 25. Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18. Vgl. den Titel des Aufsatzes über Rousseau aus dem Jahre 1967 »Zur Vorgeschichte
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5.1.1 Fundamentalkritik der bürgerlichen Zivilisation
gestellt (5.1.4) und abschließend seine ›Lösung‹ problematisiert und die Idee, deren disjecta membra Spaemann in Rousseaus Werk freilegt, thematisiert werden (5.1.5).
5.1.1
Fundamentalkritik der bürgerlichen Zivilisation
Schlagartig berühmt wurde Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) durch seine von der Académie de Dijon mit dem ersten Preis bedachte Antwort auf die Frage: »Ob die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen hat, die Sitten zu reinigen« 9. Rousseau verneinte diese Frage und löste mit seinem ersten »Discours« eine anhaltende Kontroverse unter Intellektuellen aus. Die von Rousseau im ersten »Discours« geübte »Kritik an der europäischen bürgerlichen Zivilisation« 10 fasst Spaemann in fünf Punkten zusammen, die hier stark verkürzt wiedergegeben werden: 1.
2.
3.
4.
»Die moderne Zivilisation ist auf fortschreitende Bedürfnisweckung gegründet«. Da nach Rousseau »eine hedonistische Gesellschaft keine freie Gesellschaft« sein kann, ist Fortschritt in ihr »fortschreitender Freiheitsverlust«. 11 »Die Zivilisation ist gegründet auf das Auseinandertreten von Sein und Schein«, das zur Unaufrichtigkeit zwingt und das bürgerliche Subjekt von seinen Mitmenschen entfremdet. 12 Da philosophisches Denken für Rousseau nur aufgrund seiner sozialen Nützlichkeit zu rechtfertigen ist, sieht er in der »politisch-sozial nicht engagierten ›reinen Theorie‹« einen Ausdruck der »destruktiven Emanzipation der Subjektivität«: »Philosophische Muße ist Zeitvergeudung, Diebstahl am Vaterland.« 13 Kennzeichnend für die Intellektuellen seines Zeitalters ist nach Rousseau ein zwanghafter »Nonkonformismus«, die »Sucht, sich zu unterscheiden«, die gegenüber der Wahrheit indifferent ist und deren Antriebe »Eitelkeit« und »Hochmut« sind. 14
des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, in: Spaemann, Rousseau – Mensch oder Bürger, 85–113. 9 Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 47. 10 Ebd. 56. 11 Vgl. ebd. 56–57. 12 Vgl. ebd. 57–58. 13 Vgl. ebd. 58–59. 14 Vgl. ebd. 59–61.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
5.
Künste und Wissenschaften betrachtet Rousseau als schädlich, da sie fördern, »was die Menschen unterscheidet«, und vernachlässigen, »was sie verbindet«. »Was sie verbindet, ist die Tugend, die keiner besonderen Zurüstung bedarf.« 15
Alle genannten Punkte umkreisen in der einen oder anderen Weise das Problem der Entzweiung, genauer die Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft. Das zentrale Problem der menschlichen Lebensform in der bürgerlichen Zivilisation sieht Rousseau demnach in dem inneren Widerspruch zwischen »natürlichem Egozentrismus« des Individuums und dem »Verlust der Selbstgenügsamkeit« 16 bzw. der Autarkie durch Abhängigkeit von der Gesellschaft: »Der unschuldige Egozentrismus, ›amour de soi‹, wird zum Egoismus, zum ›amour propre‹, der immer der anderen bedarf, um sich zu befriedigen. Dieser Widerspruch ist die Wurzel der Selbstentfremdung. Er läßt den Menschen zu einem schwachen Wesen werden.« 17 Verkörperung dieses Egoismus und eigentliches Feindbild Rousseaus ist der Bourgeois, der, »[h]in- und hergerissen zwischen Pflicht und Neigung«, »weder Mensch noch Bürger« 18 ist. Der Bourgeois führt eine »›gemischte‹ Existenz« 19 in konstitutiver Unaufrichtigkeit: Die Asozialität und Selbstbezogenheit des Naturmenschen ist es, die den Bourgeois bestimmt, nur daß diesem natürlichen Egoismus nicht eine ebensolche natürliche Autarkie entspricht. Dieser Egoismus ist vielmehr zu seiner Befriedigung ständig auf die Gesellschaft und ihre öffentliche Meinung angewiesen und darf, um ihren Beifall zu erhalten, sich gerade nicht als das geben, was er ist, sondern muß in der Maske der bürgerlichen Tugend gehen. So erst wird der natürlich-unschuldige »amour de soi« zum »amour propre« im heuchlerischen Gewande tugendhaften Désintéressements. 20
Diese Darstellung erinnert an Fénelon und die Moralkritik etwa eines La Rochefoucauld, zu der Rousseau die »genetische Theorie« 21 liefert. Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose sind die verschiedenen
15 16 17 18 19 20 21
Vgl. Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 61–62. Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 121. Ebd. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 35. Ebd. 34. Ebd. 35. Ebd.
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5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal
Entwürfe Rousseaus zu sehen, die dem Ziel dienen, die Entzweiung von Sein und Schein zu überwinden.
5.1.2
Vom politischen zum natürlichen Ideal
Im erwähnten ersten Discours zur Frage: »Ob die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen hat, die Sitten zu reinigen«, beruft sich Rousseau ebenso wie diejenigen, gegen die er sich in seinem Text wendet, auf die griechisch-römische Antike. »Platon, Sokrates und Cato werden angerufen gegen eine Kultur, die sich ihrerseits als Wiedergeburt des klassischen Zeitalters, als ›Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften‹ versteht.« 22 Die Antike ist im 18. Jahrhundert als Maßstab offensichtlich so zweideutig geworden, dass eine solche Berufung auf sie aus gegensätzlichen Interessenlagen möglich ist. Rousseau selbst glaubt sich mit Platon in Übereinstimmung, indem er sich mit sokratischer Ironie – »zu wissen, daß er nichts wisse« 23 – gegen die Philosophie stellt, Sokrates als »Kritiker der Aufklärung« 24 deutet und ihn »mit den Zügen des johanneischen Christus« 25 ausstattet. Rousseaus Verhältnis zu Platon ist nach Spaemann entsprechend verschlungen und widersprüchlich: »Rousseau ist der platonischste aller Autoren des 18. Jahrhunderts. Und doch sagt er das Gegenteil von Platon. Der Gegensatz wird verständlich, wenn wir uns folgendes vergegenwärtigen. Platon hatte die Politik philosophisch betrachtet, Rousseau betrachtet die Philosophie politisch.« 26 Platonisch ist an Rousseau sein Streben nach Einheit, nach Überwindung der Entzweiung; hierzu kann für ihn aber gerade die Philosophie kein Mittel sein, da er in ihr Ausdruck und Mittel zur Steigerung der Entzweiung sieht: zersetzende Sophistik. Worauf es ankommt, ist vielmehr eine politische Ordnung, die es dem Menschen ermöglicht, in seiner gesellschaftlichen Rolle aufzugehen. Das politische Ideal im ersten »Discours« ist die griechische Polis. Da die Philosophie – und allgemeiner: die Wissenschaften und Künste – die Integration des Einzelnen in der Gesellschaft aber gerade
22 23 24 25 26
Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 52. Ebd. 53. Ebd. Ebd. 54. Ebd. 54–55.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
verhindern, erscheint Rousseau als »Idealtypus der Polis« 27 nicht Athen, sondern Sparta. Am besten sei demnach »diejenige Verfassung […], die den Menschen am vollkommensten ›denaturiere‹, die ihm seine eigene Existenz nehme und ihn zum Teil einer politischen Totalität mache« 28. Sparta steht für eine von zwei Möglichkeiten, die Entzweiung von Sein und Schein aufzuheben, indem hier »der Schein absolut wird« und somit »in der totalen Denaturierung des Menschen zum Bürger eine Lösung liege« 29. Sparta als politisches Ideal kann für Rousseau allerdings kein Modell für die Gegenwart sein, da »diese Lösung des Entfremdungsproblems […] wesentlich der Vergangenheit« 30 angehört. Lediglich für das moderne Polen hält er aufgrund der Besonderheiten des polnischen Katholizismus »noch eine republikanische Lösung des politischen Problems« 31 für möglich. Ansonsten aber kann es für Rousseau in der Gegenwart »keine Bürger mehr« geben, »wo es kein Vaterland mehr gibt«: »Die beiden Worte Vaterland und Bürger müssen aus den modernen Sprachen getilgt werden.« 32 Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, gibt Rousseau nach Spaemann im letzten Kapitel des »Contrat social«, in dem »jene Macht beim Namen genannt [wird], die die ›institution publique‹ der antiken Polis zerstört hatte, und zwar unwiderruflich, nämlich das Christentum. […] Das Christentum ist keine Bürgerreligion, sondern die ›religion de l’homme‹, die den Menschen als Menschen freisetzt und zum Bürger des Universums macht.« 33 Rousseau sieht nach Spaemann im Christentum also das Ende des politischen Ideals begründet, eine These, die verwundern könnte, wenn man bedenkt, dass derselbe Rousseau mit dem »Contrat social« ein staatsphilosophisches Grundlagenwerk schuf. Allgemein gesprochen aber gilt, daß mit dem Christentum die politische Existenz geschichtlich überholt ist, und ich möchte im »Contrat social«, entgegen der Geschichte seiner Rezeption, weniger ein Zukunftsprojekt als vielmehr den Abgesang auf eine Wirklichkeit sehen, Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 27. Ebd. 29 Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 58. 30 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 122. 31 Ebd. 123. 32 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 28–29. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Émile ou de l’éducation. Ed. Garnier, Paris 1951, S. 10. Ebd. 145–146. 33 Ebd. 29. 27 28
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5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal
deren Strukturgesetz erst, wo sie im Zustand der Auflösung ist, klar erkennbar hervortritt. 34
Wenn die Entzweiung von Sein und Schein in christlicher Zeit also nicht mehr durch die politisch organisierte Verabsolutierung des Scheins auflösbar ist, stellt sich die Frage, wie der entgegengesetzte Weg der Aufhebung des Scheins und Verabsolutierung des Seins denkbar wird. Auf diesen Weg wurde Rousseau im Rahmen der lang anhaltenden Kontroverse um seinen ersten »Discours« geführt, in der er auf Einwände reagierte und sich mit ihnen auseinandersetzte. Die Gesichtspunkte der Entgegnungen auf Rousseaus ersten »Discours« fasst Spaemann in drei Punkten zusammen, die hier wieder knapp wiedergegeben werden sollen: 1.
2.
3.
Rousseaus »Dekadenzthese« wird als »unkritische Erneuerung des Mythos vom Goldenen Zeitalter« bestritten. Die positiven Effekte der Prozesse fortschreitender Bedürfnisweckung und der Verfeinerung der Sitten werden gegen Rousseau akzentuiert. 35 Rousseau erkläre mit den Wissenschaften und Künsten »das Heilmittel für das Unglück des Menschen zu dessen Ursache«. Gegen Rousseau wird eine Apologie des Wissens betrieben, wobei auch das Christentum als »Vermittlungsreligion« herangezogen wird. 36 Rousseau habe »keine Therapie anzubieten«, mehr noch mache »seine Diagnose jede Therapie illusorisch«. 37
In dem Argument, wonach Wissenschaft und Kunst dazu beitragen, den Mensch zu »domestizieren«, sieht Rousseau »das Tiefste, was zur Verteidigung des Fortschritts gesagt werden kann« 38, ohne dieser Bewertung zuzustimmen, denn »gerade in dieser Domestikation sieht Rousseau das Moment der Dekadenz« 39, die sich in der fortschreitenden »Entwicklung von Bedürfnissen« 40 zeigt. Für Rousseau gibt es »nur einen einzigen objektiven Maßstab für das Bedürfnis: die physische Notwendigkeit« 41. Dagegen macht die fortschreitende Bedürf34 35 36 37 38 39 40 41
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 30. Vgl. Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 70–72. Vgl. ebd. 72–73. Ebd. 73. Ebd. 74. Ebd. Ebd. 75. Ebd.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
nisvermehrung ihre Befriedigung unmöglich und bringt den Einzelnen in eine wachsende Abhängigkeit von anderen Menschen, womit Rousseau »zum erstenmal auf reflektierte Weise die Apologie des Tauschprinzips« 42 angreift. »Die Entgegensetzung der Interessen, die die Menschen in Abhängigkeit voneinander bringt, zwingt sie gleichzeitig, ihr wahres Wesen voreinander zu verbergen. Das Tauschprinzip ist das Prinzip der Entfremdung.« 43 In Rousseaus Auseinandersetzung mit der zweiten Entgegnung, die »die Funktion von Kunst und Wissenschaft betrifft« 44, zeigt sich nach Spaemann, wie Rousseau ein »methodische[r] Durchbruch« 45 gelingt, indem er »weg von einer abstrakten Faktorenanalyse« und »hin zu einer strukturellen Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene« 46 gelangt. Während er im ersten »Discours« die »Funktion von Kunst und Wissenschaft isoliert« untersuchte und sie als »Ursachen der Desintegration« 47 wertete, fasst er sie jetzt als »Symptome« auf und »gibt sogar denjenigen Recht, die sie als Medikament bezeichnen« 48, sofern von einer Gesellschaft die Rede ist, in der die Desintegration bereits stattgefunden hat. »In einer guten Gesellschaft sind sie schlecht, in einer schlechten gut.« 49 Rousseau hält also an der Dekadenzthese seines ersten »Discours« fest, sieht nun jedoch eine veränderte Genealogie: »Ungleichheit – Reichtum – Luxus und Müßiggang – Kunst und Wissenschaft. Und hier steht nun am Anfang der Ungleichheit das Privateigentum als erste Ursache der Entfremdung des Menschen.« 50 Im Verlauf der Kontroverse hat sich somit Rousseaus Interessenschwerpunkt verlagert. »Mit dem Thema der Ungleichheit hat Rousseau die Fragestellung des zweiten ›Discours‹ erreicht« 51, in dem der Übergang zum natürlichen Ideal vollzogen wird. Rousseaus zweiter »Discours«, 1753 entstanden und zwei Jahre später veröffentlicht, stellt eine Antwort dar auf die Frage: »Welches ist der Grund der ungleichen Bedingungen unter den Menschen, und 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 76. Ebd. Ebd. 77. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 78. Ebd. Ebd. 79. Ebd. 80.
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5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal
sind diese durch das Naturrecht gerechtfertigt?« 52 Spaemann weist darauf hin, dass bereits die Art der Fragestellung bezeichnend ist für die Perspektive des 18. Jahrhunderts, da die Frage nach der »Legitimation« der Ungleichheit seit dem »Verschwinden des teleologischen Naturbegriffs« nur noch als »Ursprungsfrage« 53 gestellt werden kann. Die Frage nach der naturrechtlichen Legitimation von Herrschaft kann also nur genetisch gestellt werden, ausgehend von einer ursprünglich anzusetzenden Gleichheit. Die Frage nach dem Naturrecht wird zur Frage nach einem vorgesellschaftlichen »status naturae« […]. Natur ist also das Anfängliche. Dieses wird erschlossen durch Abstraktion von allem Institutionellen, geschichtlich Gewordenen. 54
Das Gegenbild zum Bürger aus dem ersten »Discours«, das hier aufscheint, ist das des homme naturel, der durch »Asozialität« und »Sprachlosigkeit« gekennzeichnet ist, da »ja auch die Sprache des Menschen bereits zu seiner geschichtlich-sozialen Existenz gehört« 55. Es geht also um den Menschen in einem hypothetischen natürlichen Urzustand, der für Rousseau zum neuen Ideal wird. Spaemann lenkt die Aufmerksamkeit nun auf den in diesem Ideal enthaltenen Begriff der Natur und umreißt zunächst zwei Folgen dieses Naturbegriffs: Erstens bildet er die Voraussetzung einer Geschichtsphilosophie […]. […] indem aus dem Begriff der Natur des Menschen alles Geschichtliche radikal eliminiert wird, [wird] der Mensch in seinem faktischen Dasein zu einem ebenso radikal und ausschließlich nur geschichtlich zu begreifenden Wesen. Geschichte selbst aber wird von Rousseau an als Heraustreten, als Emanzipation aus der Natur verstanden. 56
Da zweitens Geschichte prinzipiell als »Entfernung von der Natur« gedeutet wird, können geschichtliche Gestalten »nicht an einem bestimmten Ideal von Natürlichkeit gemessen und beurteilt werden« 57. Umgekehrt aber kann unter Berufung auf das natürliche Ideal »jede
Vgl. Schütz, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, in: KLL, XIV, 387. 53 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 100. 54 Ebd. 100–101. 55 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 37. 56 Ebd. 57 Ebd. 38. 52
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
bestimmte Gestalt geschichtlich-politischer Verwirklichung des Menschseins« 58 von diesem Maßstab aus destruiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Konstruktion erhebt sich aber erst recht die Frage, was das Ziel dieser so verstandenen Natur ist. Welche Gültigkeit kann das natürliche Ideal noch beanspruchen, nachdem der natürliche Urzustand unumkehrbar verlassen worden ist? Wie lässt sich mit anderen Worten das natürliche Ideal aus dem hypothetischen Urzustand in die Neuzeit transponieren? Bevor diese Fragen beantwortet werden können, bedarf es einer eingehenden Reflexion des Rousseau’schen Naturbegriffs und seiner geschichtlichen Hintergründe, in der maßgeblich die eingangs erwähnte »geschichtliche[…] Konkretisierung der existenzphilosophischen Interpretation« 59 Rousseaus durch Spaemann zu sehen ist.
5.1.3
»Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert« 60
Dass in dem Essay »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, den Spaemann in die Aufsatzsammlung über Rousseau aufnahm, der Name Rousseaus erst in der Mitte des Essays nach 15 Seiten zum ersten Mal auftaucht 61, zeigt, wie weit Spaemann glaubt ausholen zu müssen, um einen adäquaten Einblick in die Hintergründe des Rousseau’schen Naturbegriffs skizzieren zu können. Im Folgenden wird versucht, zunächst die wesentlichen Gedankenschritte zur kursorischen Rekonstruktion der Vorgeschichte des Naturbegriffs zu referieren, bevor der konkrete Bezug zu Rousseau und damit zum hier verfolgten Gedankengang hergestellt wird. Der Begriff Natur hatte seit der klassischen antiken Philosophie seine Bedeutung »aus dem jeweiligen Gegenbegriff gewonnen« 62 wie etwa in der klassischen Antithese von φύσις und νόμος, wobei der Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 38. Ebd. 25. 60 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich auf den Essay Spaemanns mit diesem Titel über Rousseau aus dem Jahre 1967 sowie den Essay »Natur« aus dem Jahre 1973, der teilweise wörtlich mit diesem Rousseau-Essay übereinstimmt. 61 Rousseau findet in dem Essay zum ersten Mal Erwähnung im Zusammenhang mit den katholisch und protestantisch vorgeprägten Fassungen des neuzeitlichen Naturbegriffs: »Zwischen beiden steht Rousseau.« – Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 99. 62 Ebd. 85. 58 59
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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
jeweilige Gegenbegriff variierbar war. Die »Vieldeutigkeit des Naturbegriffes« wurde jedoch bis zum 17. Jahrhundert nicht als ein Problem wahrgenommen, solange das Wort »Natur« in den verschiedenen Gegensatzpaaren jeweils eine analoge Funktion erfüllt. Die Eindeutigkeit des Naturbegriffs wird durch die Eindeutigkeit seines Gegensatzes gewährleistet. Immer bezeichnet Natur ein vom nomos, von der techne, von der Freiheit nicht Gesetztes; immer gleichzeitig aber eine vom menschlichen Lebenszusammenhang vorausgesetzte Bedingung seiner Möglichkeit. Und fast immer ist der Begriff der Natur schon unausdrücklich dialektisch in dem Sinne, daß er sein eigenes Gegenteil mit umgreift, so wie die Wahrheit den Schein. 63
Dass im 17. und 18. Jahrhundert die »Vieldeutigkeit des Naturbegriffs ausdrücklich zum Problem« 64 wurde, kann also nur durch veränderte Voraussetzungen des Denkens erklärt werden, die nun anhand Spaemanns genealogischer Analyse des neuzeitlichen Naturbegriffs freigelegt werden sollen. Spaemann benennt zwei Sachverhalte als auffallend: Erstens findet diese Entwicklung gleichzeitig mit der »einzigartige[n] Wendung zur Natur in der Weise der Naturwissenschaften« 65 statt; zweitens wird Natur wie in der Sophistik wieder zu einem »Emanzipationsbegriff« 66, d. h. man beruft sich auf die Natur im Interesse der Befreiung von etwas. Um die so sich abzeichnende Zweideutigkeit des Naturbegriffs »grob und schematisch« 67 zu bestimmen, legt Spaemann die Bedeutungen des Begriffs Natur sowie die damit korrespondierenden Begriffe der Geschichte und der Emanzipation dar. Das Wesentliche dieser Ausführungen 68 sei in folgender Tabelle wiedergegeben: 69
Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 86. Ebd. 65 Ebd. 87. 66 Ebd. 67 Ebd. 88. 68 Vgl. ebd. 88–90. 69 Neben den beiden in der Tabelle dargestellten Naturbegriffen nennt Spaemann noch einen dritten Begriff der Natur als »Totalzusammenhang der Erscheinungen« und erwähnt außerdem die kantische Unterscheidung von Natur in materieller und Natur in formaler Bedeutung. Die »Natur in materieller Bedeutung« nähert sich der in der Tabelle unter »1« genannten, die »Natur in formaler Bedeutung« der unter »2« genannten Bedeutung. – Vgl. ebd. 89. 63 64
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur 1
2
Bedeutung des Begriffs Natur:
»individuelle, durch Selbsterhaltungstrieb primär bestimmte Vermögensausstattung und Bedürfnisstruktur des Menschen«
»hypothetischer«, der »Geschichte vorauf liegender Anfangszustand des Menschen«
Korrespondierender Geschichtsbegriff:
»natürlich«, »innerhalb [der Natur] verbleibend«
»antinatürlich«, »Entfernung von der anfänglichen Natur«
Korrespondierender »Heraustreten aus« der »Rückkehr zur Natur« bzw. Emanzipationsbegriff: Natur bzw. »Befreiung von »Befreiung der Natur« der Natur«
Die hier dargestellten Bedeutungen werden nach Spaemann im 18. Jahrhundert nicht klar unterschieden: »Das 18. Jahrhundert steckt in dieser Dialektik des Naturbegriffs und denkt sie infolgedessen noch nicht. Der Begriff scheint in eine beziehungslose Zweideutigkeit auseinanderzufallen.« 70 Spaemann nennt nun zwei Gründe für das Problematisch-Werden des Naturbegriffs, wobei der zweite eine Art konkreter Explikation des ersten ist: »Der erste Grund ist die Abkehr von der teleologischen Naturbetrachtung, von der aristotelischen Idee der Entelechie. […] In der Idee der Entelechie war jene Zweideutigkeit des Naturbegriffs als Anfang und als ein das Andere seiner selbst als ›telos‹ Umgreifendes aufgehoben.« 71 Im Essay »Natur« nennt Spaemann die in der Tabelle dargestellten Alternativen ein »Zerfallsprodukt der vormaligen Entelechie« 72. Das Thema der Entteleologisierung bzw. der Invertierung der Teleologie, das aus den früheren Schriften Spaemanns bereits bekannt ist, wird nun hier mit einem zweiten Motiv verbunden, das als Vehikel der Entteleologisierung 73 verstanden werden kann: Ich nannte einleitend die großen Antithesen, in denen der Naturbegriff auftaucht und von denen her er seine jeweilige Bedeutung gewinnt. Ich habe dabei eine Antithese unerwähnt gelassen, die in der Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 90. Ebd. 72 Spaemann, Natur (1973), 29. 73 Ein ähnlich kritischer Blick auf die Rolle des Christentums im Kontext der Entteleologisierung wird geworfen in Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam, 234–241. 70 71
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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
frühen Neuzeit an Bedeutung alle anderen übertraf, die Antithese »natura-gratia«, und später »naturale« und »supernaturale«. Diese Antithese vor allem ist es, die den sozialtheoretischen Naturbegriff des 18. Jahrhunderts vorbereitet. 74
Durch diese Antithese habe »der Naturbegriff eine tiefgreifende Wandlung« erfahren, und zwar »in doppelter Weise« 75, wie im Folgenden erläutert werden soll. Der Begriff der Gnade (gratia) in der Bedeutung wohlwollender Zuwendung ist als theologischer Begriff dem klassischen antiken Denken fremd. Die Antithese ›natura-gratia‹ kann insofern als Interferenzerscheinung zwischen dem klassischen philosophischen und dem christlichen theologischen Denken angesehen werden: Die Unterscheidung von Natur und Gnade ist der Versuch, das Schema der klassischen Polarität »Natur – Praxis« auf eine neutestamentliche Lehre abzubilden, nämlich auf die Paulinische und Johanneische Lehre, daß der Mensch, wie er faktisch ist, als »Fleisch«, d. h. »von sich aus« das nicht werden kann, was er seiner Bestimmung nach ist. Er kann zwar wollen, aber die Grundrichtung seines Wollens liegt nicht noch einmal in seiner Verfügung. Sich selbst überlassen ist das Wollen bloße Selbstbehauptung, also böse. Um gut zu sein, bedarf der Mensch einer besonderen göttlichen, durch Jesus vermittelten Intervention, die wegen ihres ungeschuldeten Charakters auch Gnade genannt wird. […] Wo diese existentialen Bestimmungen nun in Termini des klassischen ontologischen Natur-Praxis-Schemas gedacht werden, da tauchen die Fragen auf, die sich die neutestamentlichen Autoren nicht gestellt hatten und die das Schema selbst sprengen sowie den Naturbegriff tiefgreifend verändern mußten. Wenn nämlich »Fleisch und Blut«, die nach Paulus »das Reich Gottes nicht erben können« 76, mit »Natur« identifiziert werden, dann scheint jene Art von Praxis, die durch die Gnade definiert ist, nicht mehr in einem Bereich zu liegen, der im Vorhinein durch »Natur« umschrieben ist. 77
Der Versuch einer Implementierung des klassischen antiken Schemas in das christliche Denken drängt also dazu, die Natur als völlig autonom und von Gott getrennt aufzufassen. Thomas von Aquin versuchte als Aristoteliker diese Dynamik aufzuhalten, klassisches und 74 75 76 77
Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 92. Ebd. Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: 1. Kor. 15,50. – Ebd. 38. Spaemann, Natur (1973), 24.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
christliches Denken miteinander zu verbinden, indem er an der Selbsttranszendenz der natura intellectualis festhielt: »Aufgrund dieser ›natura intellectualis‹ hat der Mensch die Eigentümlichkeit, auf ein Ziel hin zu tendieren, das er doch wegen der ›eminentia‹ dieses Zieles auf natürliche Weise nicht erreichen kann, sondern ›nur durch Gnade‹.« 78 Nach Thomas strebt die menschliche Natur also zu Gott, bleibt aber für die Erreichung ihres Ziels auf göttliche Gnade angewiesen. Wie Spaemann weiter ausführt, wurde in der späteren Scholastik »dieser Gedanke einer immanenten Teleologie, die doch wegen der Unendlichkeit des Telos nicht selbst imstande sein sollte, dieses Telos hervorzubringen« 79, verworfen. Die Folge dieser Entwicklung war ein monistisches Naturverständnis, das sich bewegt »in der Richtung auf die cartesisch-spinozistische Definition der ›Substanz‹ als das, was begriffen werden kann ohne den Begriff eines anderen« 80. Natur wird also nicht mehr dialektisch verstanden von ihrem Gegenbegriff her, sondern als abstrakter, zwischen Pantheismus und Atheismus oszillierender Totalbegriff. Weiter unterstützt wurde diese Entwicklung durch »das Vordringen juristischer Kategorien in der Interpretation der Heilsgeschichte« 81, nämlich des Gedankens, dass eine natürliche Selbsttranszendenz einen »Versorgungsanspruch« 82 begründen würde und die Gnade damit nicht mehr den »Charakter des freien Geschenkes« 83 hätte. Dass der somit angebahnte Wandel des Naturbegriffs sich aber, wie erwähnt, »in doppelter Weise« 84 voll-
Spaemann, Natur (1973), 25. Ebd. und: Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 94. 80 Spaemann, Natur (1973), 26, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 95. – Vgl.: »Die Teleologie wandert bereits in dieser Konzeption erkennbar aus der Welt hinaus, und der Geist, der den Dingen ihre Richtung und ihre Bestimmung gibt, ist dann Gott. Zurück bleibt in der Konsequenz dieses Gedankens nur noch eine sich selbst genügende Natur. Diese Vorstellung einer in sich geschlossenen Natur bereitet auf neuzeitliche Konzeptionen vor, wie wir sie bei Descartes oder Spinoza vorfinden, die von einer Substanz sprechen, die für sich, ohne Relation auf ein anderes, verständlich ist. Spinozas Formel ›Deus sive natura‹ bringt diese Entwicklung auf den Punkt.« – Breitsameter, Individualisierte Perfektion, 178– 179. 81 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders. Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 96. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 92. 78 79
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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
zog, ist in der gegenläufigen Verarbeitung dieser Entwicklung durch die katholische und protestantische Theologie begründet. Auf katholischer Seite entstand »die folgenreiche Konstruktion einer ›natura pura‹« 85, eine Vorstellung von der – nicht zuletzt menschlichen – Natur als vollkommen sich selbst genügender, der der Bezug auf Gott ganz äußerlich ist: Die Heilsbestimmung ist hinsichtlich der menschlichen Natur bloß akzidentell. Die Hinordnung der Natur auf diese Bestimmung besteht nur in einer sogenannten »potentia oboedientialis«, einer passiven Fähigkeit, durch die göttliche Allmacht in eine solche neue Bestimmung hineingenommen zu werden. […] Um der Gratuität der Gnade willen wird von den Theologen die Autonomie der Natur zu einem Postulat gemacht, der gegenüber die Gnade nur den Charakter eines »superadditum« hat. 86
Im Essay »Natur« bemerkt Spaemann dazu 87: »Mit dem System der natura pura verliert das Reich der Gnade jede innere Notwendigkeit« 88. Wenn die Natur nicht mehr als auf Selbsttranszendenz angelegt vorgestellt wird, löst sich die jenseitige Welt völlig von ›dieser Welt‹ ab, in der eine naturwissenschaftliche Welterklärung unter Ausklammerung aller transzendenten Bezüge möglich wird. Die Reformatoren übernehmen ebenfalls diesen Naturbegriff, kehren die Deutung aber um. Hier ist die menschliche Natur zunächst nicht autonom und Gottes Gnade gegenübergestellt, sondern voll und ganz auf Gott ausgerichtet; allerdings gilt das nur für die »paradiesische Verfassung des Menschen« 89. Voraussetzung des Begriffs einer transzendenzlosen Natur in ›dieser Welt‹ ist dann die »Idee der totalen Verderbtheit der menschlichen Natur durch den Sündenfall« 90, durch die sich schließlich eine gewisse Spiegelbildlichkeit von protestantischem und katholischem Naturbegriff ergibt. Für die »Theoretiker 85 Spaemann, Natur (1973), 26, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 95. 86 Spaemann, Natur (1973), 26–27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 95–96. 87 Diese Folgerung fehlte in dem sechs Jahre zuvor entstandenen Essay über Rousseau noch. 88 Spaemann, Natur (1973), 28. 89 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 96. 90 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 97.
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der ›natura pura‹« ist der Sündenfall nicht der Sturz in die »totale Verderbtheit«, sondern lediglich der »Verlust eben jener akzidentellen übernatürlichen Bestimmung« 91, so dass der Unterschied zwischen den Konfessionen mehr in dieser Deutung des Falls als in dem Naturbegriff beider zu suchen ist. Die autonome Natur des Menschen ist im Protestantismus die gefallene, im Katholizismus die reine Natur. Zum Abschluss dieser Rekonstruktion der Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert seien die beiden von Spaemann hervorgehobenen Konsequenzen der beiden Konzeptionen (der katholischen und der protestantischen) zusammengefasst. Auf der einen Seite – der »protestantischen« – wird die Natur »in einen heilsökonomischen Zusammenhang« eingefügt und der »Naturbegriff selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie« 92, da sich Natur nicht empirisch zeigt und umgekehrt alles, was sich zeigt, bereits geschichtlich »aus einer Entfernung von der Natur resultiert« 93. Natur wird zu einem geschichtsphilosophischen utopischen Begriff. Auf der anderen Seite – der »katholischen« – bleibt als einziges Bestimmungsmerkmal dieses Naturbegriffs der »Gegensatz zum Übernatürlichen«, so dass er, »wo die Idee des Übernatürlichen dem kritischen Verdikt der Aufklärung verfällt, zum Begriff für die Totalität des Seins wird, da er nun überhaupt kein Gegenüber mehr hat« 94. Dieser Allbegriff bezahlt seine Ausweitung mit innerer Zweideutigkeit, er wird »in sich selbst dialektisch, wie es mit jedem spekulativen Begriff geschieht, der den Bezug auf sein Gegenüber verloren hat« 95. Wie oben angekündigt soll nun diese Rekonstruktion des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert in Beziehung zu Rousseaus Denken gesetzt werden. Spaemanns These ist, dass die skizzierten »konfessionellen Gegensätze in der Fassung des Naturbegriffs [sich] innerhalb der philosophischen Naturtheorien durchhalten« 96: Die aufklärerische Durchführung eines geschlossenen Systems der »natura pura« geschieht im katholischen Frankreich. Die geschichtsphilosophischen Varianten der Sündenfalltheorie, die Vorstellung 91 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 97. 92 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 98. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd. 98–99. 96 Ebd. 99.
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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
vom notwendigen Verlassen des Zustandes einer radikal bösen oder aber böse gewordenen Natur finden sich im protestantischen Idealismus, aber zuvor schon bei Thomas Hobbes mit seinem kategorischen Postulat: »Wir glauben, … daß man aus dem Naturzustand herausgehen muß.« 97 Zwischen beiden steht Rousseau. Er, der zweimalige Konvertit, bildet den Übergang von einer Konzeption zur anderen. Er hat den Naturbegriff der Aufklärung radikal zu Ende gedacht und eben deshalb das »système de la nature« 98 verlassen. 99
In Rousseaus Position können also, heillos durchmischt, Versatzstücke der katholischen und der protestantischen Konzeption der Natur gefunden werden. Wie oben im Zusammenhang mit dem zweiten »Discours« dargelegt, wurde die Frage nach der Legitimität der Ungleichheit unter den Menschen dort als Ursprungsfrage gestellt, womit die »Frage nach dem Naturrecht […] zur Frage nach einem vorgesellschaftlichen ›status naturae‹« 100 wird. Die Verlagerung des Naturzustandes in einen vorgeschichtlichen Urzustand ist dabei ein protestantisches Motiv, die konkrete Fassung des Naturzustandes als status naturae purae hingegen steht in katholischer Tradition. Der »status naturalis« wird zu einem nicht mehr faktisch-historischen, sondern rein hypothetischen Zustand, der aus methodischen Gründen angenommen werden muß. Und in eben diesem Zusammenhang bezieht sich Rousseau auf den »status naturae purae« der Theologen. »Lassen wir also zuerst einmal alle Tatsachen beiseite«, heißt es, und »freilich haben sich die Menschen nie im reinen Naturzustand (pur état de nature) befunden«. 101 Dieser Naturzustand wird konstruiert, »indem dieses Wesen aller übernatürlicher Gaben, die es hat empfangen können, und aller künstlichen Fähigkeiten entkleidet wird«. 102 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: »e tali statu (sc. naturali) exeundum … putemus.« Thomas Hobbes: De cive, Opera latina II, p. 166. – Ebd. 150. 98 Mit dem »système de la nature« spielt Spaemann an auf den französischen Aufklärungsphilosophen Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723–1789), der in seinem »Système de la Nature ou Des Lois du Monde Physique et du Monde Moral« ein grundlegendes Werk des philosophischen Materialismus schuf. 99 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 99. 100 Ebd. 101. 101 Spaemann verweist auf das französische Original und die Quelle des Zitats: »Commençons donc par écarter tous les faits; il faut nier que … les hommes se soient trouvés dans le pur état de nature.« J.-J. Rousseau: Discours sur l’inégalité. Ed. Garnier, Paris 1960, S. 40. – Ebd. 150. 102 Spaemann verweist auf das französische Original und die Quelle des Zitats: »… en dépouillant cet être de tous les dons surnaturels, qu’il a pu recevoir et de toutes les facultés artificielles.« A. a. O., S. 41. – Ebd. 150. 97
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Die Methode, mit deren Hilfe die Natur in ihrem positiven Gehalt ermittelt wird, ist die der Reflexion auf die eigene, noch nicht sprachlich vermittelte Spontaneität, eine »méditation sur les premières et plus simples opérations de l’âme humaine« 103. 104
Spaemann weist an dieser Stelle auf die Parallele zu Fénelon hin, dessen Problem, wie »die Reflexion imstande sein soll, eine Spontaneität zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben wird« 105, Rousseau allerdings umgangen habe. Stattdessen setzt er den Urzustand des homme naturel als den der reinen Spontaneität, der wiederum – ganz im Gegensatz zu Fénelon – als transzendenzloser Zustand aufgefasst wird: »Der ›status naturae purae‹ ist nach Rousseau der der vollkommenen Selbstgenügsamkeit des einsamen Individuums. Er drängt deshalb von sich selbst her nicht über sich hinaus.« 106 Der Gedanke der »totale[n] Selbstbezüglichkeit des Individuums« 107 im Naturzustand folgt dem »aus der augustinischen Tradition stammende[n] Axiom« 108, wonach die Natur »stets auf sich selbst zurückgekrümmt« 109 ist. Menschliches Handeln ist bestimmt »von dem invertierten Streben nach Selbsterhaltung« 110. Dass der homme naturel diesen Naturzustand überhaupt verlässt, ist begründet in »einer spezifischen Eigenart des natürlichen Menschen: der Freiheit als einer gewissen Unabhängigkeit vom Instinkt und der daraus folgenden Perfektibilität« 111. Dieser Begriff habe bei Rousseau keinerlei teleologische Implikationen, die »Perfektibilität ist keine Entelechie, die nach Verwirklichung eines Telos drängt, sondern eine bloß passive Disposition zur Entwicklung sozialer Eigenschaften« 112,
103 Spaemann verweist auf die Übersetzung und die Quelle des Zitats: »Meditation über die ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele«. A. a. O., S. 37. – Ebd. 150. 104 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 102. 105 Ebd. 106 Ebd. 103. 107 Ebd. 104. 108 Ebd. 109 Ebd. – Spaemann verweist auf das lateinische Original und die Quelle des Zitats: »Natura semper recurva in seipsa«, z. B. Albertus Magnus: Summa theol. II; tract. IV, qu. 14, art. 2. – Ebd. 150. 110 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 28. 111 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 103. 112 Ebd.
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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
womit sie sich als genaues Analogon zur erwähnten potentia oboedientialis im System der natura pura erweist. 113 Das »Heraustreten aus dem Naturzustand« bleibt für Rousseau »immer zweideutig«, »Berufung des Menschen in eine übernatürliche Ordnung« und »Sündenfall« 114 zugleich. In jedem Fall ist dieses Heraustreten verknüpft mit der Entzweiung: »Das Dasein außerhalb des ›status naturae purae‹ ist und bleibt entfremdetes Dasein. Der spätere Begriff der Entfremdung ist unzertrennlich verknüpft mit dem rousseauschen Naturbegriff.« 115 Die Entzweiung von Sein und Schein kann in zwei Richtungen aufgelöst werden, durch Überwindung des Seins oder des Scheins. »Rousseaus politisches Ideal ist es, den Schein so total werden zu lassen, daß das Sein, die Natur verschwindet.« 116 Diese Möglichkeit ist, wie oben gesehen, durch das Christentum aufgehoben worden. Es bleibt also nur die umgekehrte Richtung: Was deshalb geschehen kann, ist nicht die Wiederherstellung der politischen Einheit, die auf Denaturierung gegründet war. Auch der »Contrat social« ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Abgesang. Was geschehen muß, ist die Vollendung der Emanzipation des »homme naturel« durch eine »éducation naturelle«, die der bourgeoisen Zwittererziehung entgegengesetzt ist. 117
113 Dieser Einschätzung der Vergleichbarkeit der Perfektibilität mit der potentia oboedientialis im Rousseau-Essay aus dem Jahre 1967 widerspricht Spaemann später, wenn er 1985 in dem Essay »Über den Begriff einer Natur des Menschen« die christliche Idee der potentia oboedientialis implizit doch in die Nähe teleologischer Vorstellungen bringt: »Rousseau spricht von der ›perfectibilité‹ als der entscheidenden Möglichkeitsbedingung [für das Heraustreten aus der Natur]. Entgegen dem Wortsinn bedeutet aber perfectibilité nicht irgend etwas Teleologisches. Es meint nicht so etwas wie eine potentia oboedientialis, nicht ein Angelegtsein des Menschen auf einen bestimmten Zustand der Vollkommenheit. Es meint nichts anderes als das, was spätere Anthropologie als ›Instinktoffenheit‹ charakterisiert hat.« – Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 25. – Vgl.: »Perfektibilität garantiert nicht eine schließlich erreichte Perfektion, sie ist weder Keimkraft einer Entwicklung noch eine Mitursache der Vollendung. Sie ist nur der euphemistische Ausdruck dafür, dass unsicher ist, ob denn der Mensch im Stand der Zivilisation zu sich findet oder sich selbst verliert.« – Breitsameter, Individualisierte Perfektion, 185. 114 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 104. 115 Ebd. 107. 116 Ebd. 108. 117 Ebd. 109.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Auf der Grundlage der hier dargelegten »theologischen Genealogie des neuzeitlichen Naturbegriffs bei Rousseau« 118 ist es nun möglich, mit seiner Erziehungslehre Rousseaus ›Lösung‹ für das Dilemma der Moderne im Folgenden zu betrachten.
5.1.4
»Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt
Angesichts der aporetischen Lage des aus dem Naturzustand herausgetretenen Menschen errichtet Rousseau »einen neuen, einen konsequent subjektiven Maßstab, der Epoche machen sollte. Dieser Maßstab lautet: Übereinstimmung – nicht mit einer objektiven Norm, sondern mit sich selbst« 119. Spaemann zitiert aus Rousseaus Fragment »Sur le bonheur public« von 1762: Was das Unglück des Menschen ausmacht, ist der Widerspruch zwischen unserem Zustand und unseren Wünschen, zwischen unseren Pflichten und unseren Neigungen, zwischen der Natur und den gesellschaftlichen Einrichtungen, zwischen dem Menschen und dem Staatsbürger. Macht den Menschen mit sich einig, und ihr werdet ihn glücklich machen, wie er sein kann. Gebt ihn ganz dem Staat oder überlaßt ihn ganz sich selbst. 120
Nach dem Ende des politischen Ideals kann die Übereinstimmung mit sich selbst nicht mehr durch den Staat hergestellt werden und die Lösung für Rousseau nur noch darin bestehen, »den zur Hälfte gegangenen Weg der Emanzipation der Natur, dem nicht mehr Einhalt geboten werden kann, radikal zu Ende zu gehen« 121. Spaemann unterstreicht, dass dieses Programm nichts mit der Parole ›Zurück zur Natur‹ zu tun hat: »›Avançons vers la nature‹, so müßte man das Wort, das Rousseau fälschlich zugeschrieben wird, abwandeln. Natürliche Erziehung, das ist nicht die Rückkehr zu einer früheren Erziehungsweise, denn eine natürliche Erziehung hat es noch nie gegeben.« 122 Wenn die natürliche Erziehung nicht zurück zur Natur kann, so liegt
118 Vgl.: »Stolz war ich zum Beispiel über den Aufweis der theologischen Genealogie des neuzeitlichen Naturbegriffs bei Rousseau.« – Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 234. 119 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 32. 120 Ebd. 33. 121 Ebd. 36. 122 Ebd.
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5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt
der Umkehrschluss nahe, dass sie einen Entwicklungssinn der Natur aufnehmen muss. In Rousseaus nicht-teleologischer Vorstellung gibt es aber kein Ziel der Natur. Das einzig verbleibende Kriterium für Natürlichkeit ist so das »Ideal absoluter Identität mit sich selbst« 123, aus dem das Erziehungsideal abgeleitet wird: Menschsein ohne inneren Widerspruch, das ist das Erziehungsziel des »Émile«. Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Natur des herrschenden Widerspruchs und müssen dessen Ursachen begriffen sein. Um dieses Begreifen geht es im »Émile«, und darum nennt Rousseau ihn ein Buch über den Ursprung des Bösen. 124
Um den Hintergrund von Rousseaus Deutung der Natur des Widerspruchs oder, wie man modern sagen würde, der Natur der Selbstentfremdung zu verstehen, verweist Spaemann auf ihre bis ins 18. Jahrhundert wirksamen Deutungen Platons und des Christentums. Die platonische Deutung geht aus von einem Optimalzustand des Menschen, in dem die Partialtriebe harmonisch durch die Vernunft vermittelt sind. Der Widerspruch entsteht, wenn einzelne Triebe sich emanzipieren und die Harmonie zerstören. 125 Die christliche Deutung sieht hingegen eine Ambivalenz der Vernunft selbst, die entweder auf Gott als das unbedingte Gute gerichtet sein oder sich selbst zum Zentrum erklären kann. Da nach dem Sündenfall die »ungeordnete […] Selbstliebe« aber der »Normalzustand« ist, bedarf es einer Umkehr, die der Mensch nicht sich selbst verdanken kann. 126 Wie Spaemann bemerkt, hat Rousseau »erstmals aus den ›disjecta membra‹« 127 der platonischen und christlichen Deutung »eine neue Deutung konstruiert, eine neue geschichtliche Anthropologie entworfen« 128. An dieser Stelle knüpft der Gedankengang an die oben ausgeführte theologische Genealogie des Naturbegriffs bei Rousseau an. Seine Vorstellung vom sprachlosen und asozialen homme naturel in einem hypothetischen Urzustand ist, wie gesehen wurde, ein aus den konfessionellen Varianten des Naturbegriffs als Produkt der durch die natura-gratia-Antithese dynamisierten Entteleologisierung entstandenes Hybridgebilde. Kennzeichen des homme naturel in sei123 124 125 126 127 128
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 33. Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 117. Vgl. ebd. 117–118. Vgl. ebd. 118–119. Ebd. 119. Ebd.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
nem fiktiven status naturae purae sind zum einen die totale Selbstbezüglichkeit, zum anderen die Instinktoffenheit, die erst seinen möglichen Übergang in den geschichtlich-sozialen Zustand möglich machen. 129 Mit diesem Übergang nun gerät der Mensch in einen inneren Widerspruch […], den Widerspruch zwischen seinem fortdauernden natürlichen Egozentrismus und dem Verlust der Selbstgenügsamkeit. Der unschuldige Egozentrismus, »amour de soi«, wird zum Egoismus, zum »amour propre«, der immer der anderen bedarf, um sich zu befriedigen. Dieser Widerspruch ist die Wurzel der Selbstentfremdung. Er läßt den Menschen zu einem schwachen Wesen werden. Schwäche aber ist, wie es im »Émile« heißt, der Ursprung alles Bösen. 130
Aus dem Zustand der Schwäche heraus können zwei Wege führen. Der erste ist die vollständige Denaturierung im totalen Staat, die durch das Christentum der Vergangenheit angehört. 131 Der zweite Weg ist Rousseaus utopisches Erziehungsprojekt, das auf seiner Vorstellung vom Naturzustand aufbaut: »Entsprechend der Asozialität des Naturmenschen ist das Kind für Rousseau von Natur ein asoziales Wesen.« 132 Die Frage, um die es in der Erziehung geht, fasst Spaemann wie folgt zusammen: Wie kann ein Mensch seine Kräfte, seine Fähigkeiten und seine Sensibilität voll entfalten und sich das kulturelle Niveau des eigenen Zeitalters aneignen, ohne der Entfremdung anheimzufallen, das heißt ohne den Schwerpunkt in sich selbst zu verlieren, den der Naturmensch besaß? Mit anderen Worten, wie kann die Reproduktion des Sündenfalls verhindert werden, wie kann der »Mensch der Natur« zur Entfaltung seines Potentials gelangen, ohne dabei zum »Menschen des Menschen« zu werden? 133
Es gehört nun abermals zu den Paradoxien Rousseaus, dass er im Rahmen dieses utopischen Projekts konkrete Erziehungsprinzipien entwickelt, von denen Spaemann sagt, dass sie »unter allen denkbaren sozialen Umständen Bedingungen eines glücklichen und freien Lebens« 134 sind. Wenn die Schwäche der Ursprung des Bösen ist, so 129 130 131 132 133 134
Vgl. Spaemann, Rousseaus »Emile« (1978), 121. Ebd. 121. Vgl. ebd. 122–123. Ebd. 132. Ebd. 125. Ebd. 144.
208 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt
muss es in der Erziehung darum gehen, Phasen der Schwäche entweder zu vermeiden oder sie erzieherisch aufzufangen. Nach Rousseau gibt es nur zwei natürliche Phasen der Schwäche in der menschlichen Entwicklung: das »Säuglingsalter« und die »Pubertät« 135, in denen diese durch den Erzieher kompensiert werden muss. In allen anderen Fällen »sind Schwäche und Entfremdung in der üblichen Erziehung von außen induziert« 136, entweder durch zu frühe Bedürfnisweckung oder wenn dem Kind »ein Welt- und Selbstverständnis vermittelt wird, das es aus sich selbst nicht mit authentischer Erfahrung füllen kann« 137. Was bleibt, ist eine Pädagogik, die ihr Augenmerk unausgesetzt auf die Erhaltung des Gleichgewichts beziehungsweise auf gewisse Überbrückungshilfen bei seiner Störung richtet, eine Pädagogik, die die Bedingungen der Autarkie in jedem Entwicklungsstadium aufrecht erhält und fördert: minimale Bedürfniserweckung, maximale Kraftentfaltung. 138
Als Vermeidung oder Kompensation von Schwäche bzw. als Regulator für das Gleichgewicht des Kindes ist diese Erziehung vorwiegend negativ bestimmt: Der einzige Partner des Kindes, »der die Erziehung leiten darf«, ist die »Notwendigkeit« 139; eine positive Bestimmung ergibt sich nur aus der direkt von der Vorstellung des homme naturel übernommenen Selbstbezüglichkeit: Émile wird ausschließlich für sich selbst erzogen. Der bourgeoise Schein von Sozialität und Kulturverantwortung wird zerstört, die ursprüngliche Unschuld der privaten Existenz dadurch wiederhergestellt, daß der Selbstliebe eine ebensolche Selbstgenügsamkeit entspricht. Was sich gegenüber der herkömmlichen Erziehung wandelt, ist nicht in erster Linie der Bildungsinhalt, sondern Ziel und Sinn der Aneignung: das Bildungsgut wird nun zum bloßen Bildungsmittel, wodurch sich dann allerdings auch ein neues Selektionsprinzip des »Lernstoffs« ergibt. Der geschichtlich entfaltete Reichtum an Sinngehalt wird zurückgenommen und bezogen auf jene fundamentale Neubestimmung des Daseins, als welche Rousseau das bloße Daseinsgefühl, das Existenzgefühl sieht. »Leben ist der Beruf, den ich ihn lehren will«, heißt es programmatisch im »Émile«. Am meisten gelebt 135 136 137 138 139
Spaemann, Rousseaus »Emile« (1978), 127. Ebd. 128. Ebd. Ebd. 126. Ebd. 132.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
aber hat der, der das Leben am meisten gefühlt hat, »qui a le plus senti la vie« 140. 141
Die positive Bestimmung dieser Pädagogik besteht also in der Steigerung dieses »›sentiment de l’existence‹ […] zur höchsten Intensität«, die »höchste Intensität aber ist das Gewissen« 142: Im Gewissen gewinnt der moderne Mensch seine Autarkie, seinen absoluten Schwerpunkt in sich zurück. Er wird auf der Höhe des zivilisatorischen Niveaus wieder zum »natürlichen Menschen«, zum »Wilden in den Städten«. Im Patriotismus hatte der denaturierte Mensch seinen Existenzgrund in ein partikulares Kollektiv-Ich verlagert. Im Gewissen weitet sich der Raum der Identifikation ins Universale, ins Menschheitliche und Kosmische. Aber Menschheit und Kosmos sind, so betont Rousseau, keine realen Kollektive, die das Individuum integrieren könnten. Es sind Abstraktionen, die ihre Wirklichkeit nur im subjektiven Gewissen gewinnen. In ihm kehrt das Subjekt ganz in die Selbstgenügsamkeit zurück. 143
Bemerkenswert ist, dass dieses Konzept einer éducation naturelle paradoxerweise ein Spätprodukt ist, das erst im état civil denkbar ist: »erst die bürgerliche Gesellschaft setzt sie als Subjektivität frei« 144. Daher betrachtet Émile den Staat zwar nicht als Vaterland, aber doch als Heimat, der er bereit ist, »seine Dienste zur Verfügung zu stellen« 145. In drei der vier Essays des Bandes »Rousseau – Mensch oder Bürger« zitiert Spaemann einen Satz von Leo Strauss 146: »Die höchste Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft ist somit die Tatsache, daß diese Gesellschaft einem bestimmten Typ von Einzelperson erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus dieser Gesellschaft, d. h. durch ein Leben an ihrem Rande, zu genießen.« 147 Dieser Gedanke der »Rechtfertigung einer Gesellschaft durch das, was sie
Spaemann verweist als Quelle der beiden Zitate auf: Émile, S. 12. – Ebd. 146. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 39. 142 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 111. 143 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 129–130. 144 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 40. 145 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 131. 146 Vgl. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz, 40, Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert, 111, u. Ders., Rousseaus »Émile«, 136. 147 Strauss, Naturrecht und Geschichte, 305. 140 141
210 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee
aus sich entlässt, ohne es wieder integrieren zu können« 148, leitet über zu einer abschließenden Problematisierung der in Rousseaus utopischem Erziehungskonzept vorgeschlagenen ›Lösung‹ des Dilemmas der Moderne.
5.1.5
Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee
Dass die im »Émile« gefundene ›Lösung‹ des Problems, bei der ein Erzieher für einen Zögling verbraucht wird, um einen gesellschaftlich nicht integrierbaren natürlichen Menschen hervorzubringen, nur eine Scheinlösung ist, war Rousseau selbst bewusst, wie unter anderem das Fortsetzungsfragment des Romans zeigt. 149 »Was Rousseau darstellt, ist der Weg des elitären Einzelnen unter der Voraussetzung der Ungelöstheit des Problems. Eine Lösung im Sinne Rousseaus könnte nur in der vollkommenen und allgemeinen Aufhebung der Entzweiung bestehen.« 150 Da eine solche Aufhebung vom politischen Ideal her Rousseau unmöglich erscheint und er die Utopie der platonischen πολιτεία für unwiderruflich vergangen hält, handelt es sich bei diesem Erziehungsprojekt um den utopischen Versuch, »den Weg der Phylogenese in einer neuen Ontogenese zu korrigieren, den Sündenfall zu vermeiden und die Einheit des natürlichen Menschen mit sich selbst vom kindlichen Hominiden zum erwachsenen Gewissenssubjekt durchzuhalten.« 151 In Spaemanns Rousseau-Essays klingt der Einwand an, dass das πρώτον ψεύδος des Rousseau’schen Denkens in seinem kontrafaktischen Ideal der absoluten Identität bestehen könnte: »Es wäre zu fragen, ob nicht das Ideal absoluter Identität die Spannung natürlicher und politischer Existenz erst zu einer Antinomie werden läßt und eine so exklusive Option notwendig macht, wie Rousseau sie fordert.« 152 Hinter dieser Frage steht die positive Bewertung der Entzweiung zwischen Individuum und Gesellschaft, die Spaemann von seinem Lehrer Joachim Ritter übernommen hat und die zu einer Leitlinie seiner eigenen philosophischen Forschung geworden ist. Dieser Einwand könnte dazu dienen, den theoretischen 148 Ritter, Unser ungewollter Geburtshelfer. Rezension: R. Spaemann, Rousseau – Mensch oder Bürger. 149 Vgl. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 44. 150 Ebd. 151 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 132. 152 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 33–34.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Erklärungswert der Entwürfe Rousseaus in Frage zu stellen. Wie eingangs erwähnt, geht es Spaemann aber vielmehr darum, eine existenzphilosophische Rousseau-Interpretation voranzutreiben. Diese muss sich zunächst auf Rousseaus ideellen Radikalismus einlassen. Einer solchen Betrachtungsweise erschließt sich dann freilich, dass das Identitätsideal Rousseaus zwar in einzelnen homogenisierenden Argumentationszusammenhängen wirkt, dass die dieses Ideal untergrabenden Widersprüche in seiner Existenz und in seinem Werk aber fortbestehen. Dies wurde sichtbar in der vorliegenden Darstellung des Bruches zwischen dem politischen Ideal und dem natürlichen Ideal. Es wird sichtbar an der Eigendynamik der aus der »Vision vom unentzweiten Naturmenschen« 153 hervorgehenden Entdeckung des Kindes. Es wird ebenso sichtbar an dem gegen seine Intentionen am Ende neu hervorgebrachten Gegensatz zwischen dem natürlichen Menschen und einer Gesellschaft, die ihn nicht integrieren kann. Wenn also zum Abschluss dieser Überlegungen zu Spaemanns Rousseau-Essays nach der Intention seiner Auseinandersetzung mit der »Paradoxie Rousseaus« 154 gefragt werden soll, muss die konstitutive Widersprüchlichkeit Rousseaus ernst genommen und nach einem außerhalb seines eigenen Gesichtskreises liegenden Maßstab gefragt werden, der seine Widersprüche in ein Verhältnis zueinander setzt. Ausdrücklich geht es Spaemann nicht um eine theoretische Homogenisierung Rousseaus – »Aller Streit um den ›wahren Rousseau‹ ist vergeblich« 155 –, sondern um die geschichtsphilosophische Reflexion seiner Widersprüchlichkeit. Hierin zeigt sich eine Parallele zwischen den Rousseau-Essays und den Studien über Fénelon, da in beiden Fällen eine spezifisch geschichtsphilosophische Perspektive den Untersuchungen erst ihre philosophische Bedeutung verleiht. Die »geschichtliche[…] Konkretisierung der existenzphilosophischen Interpretation« 156 Rousseaus, um die es Spaemann geht, fragt nach den problematischen Denkvoraussetzungen dieses Werks und konzentriert sich dabei auf den Begriff der Natur. Rousseau begreift das »Verhältnis von Mensch und Natur als eines des ›Widerstreits‹« 157. Sobald der Naturzustand verlassen ist, gilt: »Natur und Geschichte
153 154 155 156 157
Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 141. Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18. Ebd. 17. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 25. Spaemann, Natur (1973), 30–31.
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5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee
werden inkommensurabel.« 158 Die abstrakte Gegenüberstellung verschleiert aber nur, dass Natur wie Geschichte somit zu Begriffen für die Totalität des Seins werden, dass ihnen der Begriff einer auf sich selbst zurückgekrümmten, transzendenzlosen Natur zugrunde liegt. Aus der Aporie dieses Denkens kann nur ein fundamentaler Neuansatz herausführen, wie er von Spaemann in seinem Essay »Natur« angedeutet wird: »Daß das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist, diese Paradoxie löst sich nur, wenn wir den Begriff der ›Natur‹ teleologisch fassen und den Menschen als von Natur auf Überschreiten der Natur angelegtes Wesen verstehen.« 159 Spaemanns Rousseau-Interpretationen konvergieren also in einer auf die Idee der Teleologie gerichteten Thematisierung des Naturbegriffs, durch die Natur und Transzendenz zusammengedacht werden können. Die Idee, »deren disjecta membra sich in Rousseaus Werk spiegeln« 160 und auf deren Verlust Spaemann die Brüche und Widersprüche in Rousseaus Werk zurückführt, ist die der Naturteleologie. Wie gesehen wurde, interpretiert Spaemann das politische und das natürliche Ideal Rousseaus ebenso als Zerfallsprodukte der Entelechie wie die dargelegten Varianten des Naturbegriffs der individuellen Vermögensausstattung oder des hypothetischen Anfangszustands. 161 Die Betrachtung der Rousseau’schen Entwürfe vor dem Hintergrund der Idee der Teleologie bietet einerseits die Möglichkeit, ihrer verwickelten Genealogie auf die Spur zu kommen, wie am Naturbegriff gezeigt wurde; andererseits liefert sie einen Deutungsrahmen, in dem die Widersprüche Rousseaus aufgrund seiner Denkvoraussetzungen als notwendig begriffen werden. Der exemplarische Charakter der Existenz Rousseaus rührt daher, daß er die Paradoxien des neuzeitlichen, nichtteleologischen Naturbegriffs erstmals in seinem Werk und in sich selbst zur Darstellung gebracht hat. Eine nichtteleologische Natur, das ist ein Anfang, in dem kein Ende vorgezeichnet ist. Einen solchen Anfang zum Maßstab machen heißt entweder permanente Revolution, totale Anarchie entfesseln, denn jede Institution ist Repression einer solchen Natur. Oder aber es heißt, die anarchische Natur ihren institutionellen Erhaltungsbedingungen konsequent und radikal unterwerfen. 162 158 159 160 161 162
Spaemann, Natur (1973), 31. Ebd. 32–33. Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18. Vgl. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 29. Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 16–17.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Rousseau, so betont Spaemann, »war der erste, der das Problem einer ›Dialektik der Aufklärung‹ gesehen hat« 163, der die selbstgefährdenden Tendenzen der Moderne erfasst, ihre Widersprüche durchdacht und selbst verkörpert hat. Aufgrund seiner Denkvoraussetzungen konnte er keine anderen als utopische Lösungen finden. Um dem Dilemma der Moderne entgehen zu können – das ist das Fazit, das somit aus den Rousseau-Essays Spaemanns gezogen werden kann –, bedürfte es der Erneuerung eines teleologischen Naturbegriffs. Mit der Frage nach der Möglichkeit einer solchen Erneuerung wird sich das folgende Teilkapitel beschäftigen.
163
Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 138
214 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive
Das Thema der Teleologie zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte philosophische Werk Robert Spaemanns. Am gründlichsten durchdacht wurde es von ihm in dem 1981 zusammen mit Reinhard Löw veröffentlichten Buch »Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens« 1. Die Wiedergabe einer Reihe zentraler Einsichten aus diesem Buch ist als Grundlage für das Verständnis der weiteren Entfaltung des Spaemann’schen Denkens unerlässlich. An dieser Stelle soll zunächst dargelegt werden, was mit der Frage ›Wozu?‹ eigentlich gemeint ist. Danach soll eine erste Andeutung erfolgen, warum diese Frage in Vergessenheit geraten ist. Schließlich wird ein Ausblick gegeben auf die konkreten Schritte, in denen die für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Aspekte dieses Werks wiedergegeben werden. Die Frage ›Wozu?‹ ist eine Variante bzw. eine Konkretisierung der Frage ›Warum?‹. Die Warum-Frage hat zwei Voraussetzungen, erstens einen Zustand der Vertrautheit, zweitens eine Störung dieses Zustands: Die Frage entsteht immer dann, wenn ein normaler Ablauf unterbrochen wird. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung des normalen Ganges. Ohne den Begriff der Normalität läßt sich gar nicht verstehen, wann und warum man »warum« fragt. Es kommt ja keinem in den Sinn, in bezug auf Alles und Jedes »warum« zu fragen. Wir fragen genau dann »warum«, wenn etwas geschieht, was wir nicht als normal betrachten, bzw. was wir nicht erwartet haben. 2
Antworten auf Warum-Fragen können in zwei verschiedenen Richtungen das Neue mit dem Vertrauten verbinden, entweder durch eine »Konstruktion des ›Um … zu‹« oder durch Angabe von »Antecedensbedingungen und Gesetze[n]« 3. Diese beiden Antworttypen sind 1991 erschien eine um den Beitrag »Teleologie und Teleonomie« erweiterte Neuausgabe. Wiederabdruck mit neuem Vorwort unter dem Titel: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005. 2 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (2005, zuerst 1981 unter dem Titel »Die Frage ›Wozu‹ ?«), 13. 3 Ebd. 14. 1
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
grundverschieden. Beim finalen bzw. teleologischen ›Um … zu‹ geht es um den »Nachvollzug einer intentionalen Struktur« 4, also um Verstehen, bei der kausalen Angabe vorhergehender Ereignisse geht es um die »Angabe einer Gesetzmäßigkeit« 5, also um Erklären. Der wesentliche Unterschied zwischen den Antworttypen liegt in der Offenheit des Erklärens und der Geschlossenheit des Verstehens: »Die intentionale Antwort auf die Warum-Frage schließt dann, wenn man die intentionale Struktur nachvollziehen kann, die Frage nach dem Ereignis ab. Die kausale Erklärung schließt sie nicht ab, sondern sie verschiebt die Frage im Grunde nur, da sie angibt, worauf etwas folgte.« 6 Während eine verstandene intentionale Antwort also Vertrautheit wiederherstellt, eine οἰκείωσις 7 ermöglicht, setzt das Erklären einen tendenziell unendlichen Erkenntnisprozess in Gang, der Beherrschung der Wirklichkeit ermöglichen soll. Da alles, was auf etwas folgt, somit als prinzipiell erklärbar gelten muss, stellt sich die Frage, was demgegenüber verstehbar ist; anders ausgedrückt stellt sich die Frage, in Bezug auf welche Phänomene die Frage ›Wozu?‹ als Konkretisierung der Warum-Frage – neben der anderen Konkretisierung ›Woher?‹ – zulässig ist: Wenn wir einmal von der durchschnittlichen Ansicht ausgehen, daß die teleologische Perspektive bei menschlichen Handlungen, die kausale bzw. die Gesetzesperspektive bei physikalischen Prozessen angemessen ist, so bleibt der Bereich der lebendigen Natur als eigentliches Problemfeld des teleologischen Denkens. 8 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 15. Ebd. 17. 6 Ebd. 18. 7 Der Begriff der Stoiker bezeichnet das »Einhausen und Sich-zugehörig-Machen der Welt«. – Ebd. 14. – Vgl.: »Der Begriff steht in der Philosophie der Stoa für eine biologische, psychologische und moralphilosophische Konzeption, nach der die Tendenz zur Selbsterhaltung […] den primären natürlichen Impuls jedes Lebewesens bildet. Speziell beim Menschen schließt sich als zweite Stufe eine rationale Selbstaffirmation sowie eine vernünftige Akzeptanz aller anderen Menschen an. Der Ausdruck οἰκείωσις ist eine Ableitung aus οἰκεῖος (eigen) bzw. οἰκειοῦν (sich aneignen). Wörtlich bezeichnet er den Umstand, daß sich ein Lebewesen mit sich selbst prozeßförmig bekannt macht und sich selbst in Besitz nimmt. Ciceros Übersetzung der medialen Verbform οἰκειοῦσθαι lautet ›sich mit sich selbst versöhnen und vertraut machen‹ (›ipsum sibi conciliari et commendari‹) [Cicero: De fin. bonorum et malorum II, 11, 35; III, 5, 16.]. Das begriffliche Gegenteil, die Selbstentfremdung, heißt in der antiken Diskussion ἀλλοίωσις oder ἀλλοτρίωσις: Jemand entfernt sich von sich selbst.« – Horn, Zueignung (Oikeiosis), in: HWPh XII, col. 1403. 8 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 19. 4 5
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5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive
Die lebendige Natur teleologisch zu interpretieren – das heißt auf die Frage: »Warum läuft der Hund zum Freßnapf?« zu antworten: »Weil er Hunger hat.« 9 –, bedeutet sie nach dem Vorbild unserer Selbsterfahrung, also anthropomorph zu sehen. Sie rein kausal – also als »eine Summe von chemisch-physiologischen Gesetzmäßigkeiten und vorliegenden Randbedingungen« 10 – zu interpretieren, hat zur Folge, dass wir selbst, insofern wir natürliche Wesen sind, uns zwar prinzipiell erklärbar, aber nicht mehr verstehbar sind. Wenn jede Naturerklärung nach dem Muster unserer Selbsterfahrung als Anthropomorphismus bezeichnet wird, wird der Mensch als natürliches Wesen sich selbst zum Anthropomorphismus. 11 Um etwas zu beherrschen, muss man es nicht verstehen. Im Gegenteil gefährdet Verstehen potentiell den Herrschaftsanspruch, weil es ja immer auf ein gewisses Eigenrecht einer Sache hinweist, das mit dem Herrschaftsanspruch in Konflikt geraten kann. In diesem Kontext ist der Ausspruch Francis Bacons vom Anfang des 17. Jahrhunderts zu sehen: »Die Betrachtung natürlicher Prozesse unter dem Aspekt ihrer Zielgerichtetheit ist steril, und wie eine gottgeweihte Jungfrau gebiert sie nichts« 12. Spaemann und Löw kommentieren den in diesen Worten zum Ausdruck kommenden Wandel des Denkens: Die These, die am Vorabend der neuzeitlichen Wissenschaft steht, besagt, daß solches Reden in bezug auf die Natur nutzlos, empirisch unausweisbar und sinnlos ist. Diese These beendete die fast zwei Jahrtausende währende Vorherrschaft der aristotelischen Ansicht, daß wir die Natur nur erkennen können, wenn wir sie aus sich selbst heraus zu verstehen versuchen. 13
Tatsächlich wurde im neuzeitlichen Denken die Frage ›Wozu?‹ und damit die teleologische Sichtweise zunehmend aus der Wissenschaft Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 19. Ebd. 11 Vgl. ebd. 216. – Diese Einsicht findet sich bei Spaemann zum ersten Mal in dem Essay »Naturteleologie und Handlung« aus dem Jahre 1977 und wird von hier an zu einem Leitmotiv seines Denkens, das in zahlreichen späteren Texten auftaucht. – Vgl. Spaemann, Naturteleologie und Handlung (1977), 57. 12 Ebd. 11. – In den Anmerkungen führen Spaemann/Löw die Quelle des Zitats und das lateinische Original an: F. Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum 111,5; in: The Works of Lord Bacon, Bd. II (London 1841, S. 340): nam causarum finalium inquisitio sterilis est, et, tamquam virgo Deo consecrata, nihil parit. – Ebd. 259. 13 Ebd. 13. 9
10
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
verdrängt; allein im Hinblick auf eine schwer überwindbare Intentionalität des Menschen gestattet man sich die Inkonsequenz, an dieser Sichtweise zumindest vorläufig noch festzuhalten. Als weitgehender wissenschaftlicher Konsens gilt: »Die teleologische Betrachtung anderer Prozesse als menschlicher Handlungen sei aus naturwissenschaftlichen, logischen und sprachanalytischen Gründen unzulässig, weil prinzipiell teleologische in nicht-teleologische Theorien, teleologische in nicht-teleologische Sprechweisen überführbar seien.« 14 Gegen diese Ansicht richtet sich das Buch von Spaemann und Löw, wobei man drei Ebenen der Argumentation unterscheiden kann. Erstens handelt es sich um eine philosophiegeschichtliche Studie, in der die Entstehung des teleologischen Denkens, seine Wandlungen im Verlauf von zwei Jahrtausenden sowie das Aufkommen und die Entwicklung des Antiteleologismus untersucht werden. Das vorrangige Ziel der Studie auf dieser Ebene ist die Unterscheidung verschiedener Begriffe von Teleologie, um zum einen die partielle Berechtigung des Antiteleologismus hervorzuheben, vor allem aber um einen adäquaten Begriff von Teleologie freizulegen, der von den antiteleologischen Einwänden nicht getroffen wird. Zweitens handelt es sich um eine theoretische Auseinandersetzung mit dem in den modernen Naturwissenschaften vertretenen Antiteleologismus. Hier geht es um die kritische Befragung naturwissenschaftlicher Argumentationen und den Aufweis innerer Widersprüche in denselben. Drittens handelt es sich auch um einen Beitrag zur praktischen Philosophie, insofern, wie oben bereits angedeutet, das Selbstverständnis des Menschen bei einer konsequent ateleologischen Naturbetrachtung problematisch wird. »Die Existenz gottgeweihter Jungfrauen, die nicht gebären, ist eben keineswegs folgenlos.« 15 Hier geht es um die philosophischen Konsequenzen der Entteleologisierung ausgehend von der Selbsterfahrung des Menschen als lebendigen Wesens. Auf dieser Ebene wird eine Rolle spielen, dass bei fehlender argumentativer Entscheidbarkeit des Streites zwischen einer teleologischen und einer ateleologischen Naturdeutung die Beweislastfrage angesichts ökologischer Entwicklungen der Gegenwart neu gestellt werden muss. 16 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 11. Ebd. 20. 16 Das der Studie Spaemanns und Löws als ihr eigentliches Movens zugrunde liegende teleologische Phänomen und die Einsicht in die Bedeutung seiner Verdrängung bringt Matthias Schramm in seiner Untersuchung der Geschichte des teleologischen Denkens treffend zum Ausdruck: »[…] wir haben verlernt, das unbegreifliche Wun14 15
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5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive
Die Frage ›Wozu?‹ und das Problem der Teleologie erweisen sich somit als ein philosophisches Schlüsselproblem. Das Thema könnte also kaum prinzipiellerer Natur sein: »Von Anfang an stand das Teleologieproblem im Mittelpunkt philosophischen Nachdenkens. Die ›Riesenschlacht um das Sein‹, von der Platon spricht (Soph 246 a), kann ebenso als Riesenschlacht um das ›Um … willen‹ 17 interpretiert werden.« 18 Für die »Erfassung des Gewordenseins« 19 eines Denkens, das auf die Herausbildung einer Philosophie der Begegnung zielt, ist die Teleologie-Problematik, wie gezeigt werden soll, von zentraler Bedeutung. Dabei muss allerdings aus der großen Fülle der von Spaemann und Löw untersuchten Detailaspekte eine Auswahl im Hinblick auf die hier verfolgte übergreifende Problemstellung getroffen werden, die nun in einem knappen Ausblick auf die folgenden neun Abschnitte der Darstellung erläutert wird. Der Ausgangspunkt des teleologischen Denkens ist die klassische antike Philosophie. Von bleibender Bedeutung für jede Anknüpfung an die Frage ›Wozu?‹ sind die ursprünglichen Konzeptionen Platons (5.2.1) und Aristoteles’ (5.2.2), mit denen die Darstellung beginnt. Die Rezeption antiken Denkens aus christlicher Perspektive machte eine Transformation desselben unvermeidlich. Auch im Hinblick auf die Teleologie nimmt Thomas von Aquin eine exponierte Stellung als Vermittler zwischen Antike und Neuzeit ein. Seiner Umformung der aristotelischen Konzeption wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet (5.2.3). Der Prozess der Entteleologisierung beginnt mit der von Spaemann bereits in den Studien über Fénelon so bezeichneten ›bürgerlichen Ontologie‹ und wird zu Ende geführt in den Naturwissenschaften des 19. und der zu würdigen, das uns die Natur mit den von ihr hervorgebrachten Organismen unablässig vor Augen stellt. Als Naturzwecke geben sie in ihrer Unerklärbarkeit Anlaß, stets wieder über sich hinausweisende Zusammenhänge zu erwägen. Diesen Anlaß zu übersehen und solche Erwägungen zu verbannen, rächt sich. Was vorsichtig und mit der nötigen Disziplin auf einer im buchstäblichen Sinn naturgegebenen Grundlage geschehen könnte, geschieht nun wild und kritiklos am unpassenden Ort. Das Reich des Lebendigen sollte uns Mahnung sein, über einen Zusammenhang der Natur mit dem Reich der Zwecke nachzudenken.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das Ende des teleologischen Weltbildes, 188. 17 In der Anmerkung zu dieser Textstelle geben Spaemann/Löw folgende Erläuterung: »›Um … willen‹ steht hier und im folgenden für den Typus der Zweck-Antwort auf die Warum-Frage.« – Ebd. 260. 18 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 20. 19 Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164, u. Einleitung zum zweiten Teil, 88–89.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
20. Jahrhunderts, die hier in ihrem Zusammenhang betrachtet werden (5.2.4). Argumente für eine Wiederbelebung der Teleologie lassen sich einerseits aus Schwächen der Argumentation des Antiteleologismus entwickeln (5.2.5); als wesentliche Voraussetzungen einer möglichen Wiederbelebung des teleologischen Denkens aus gegenwärtiger Perspektive können andererseits auf sehr unterschiedliche Weise Kant und Nietzsche gedeutet werden (5.2.6). Aufbauend darauf wird Spaemanns und Löws Plädoyer für das teleologische Denken zusammengefasst (5.2.7) und der von Rainer Isak in seiner Studie »Evolution ohne Ziel?« vorgebrachte Einwand gegen Spaemann und Löw kritisch eingeordnet (5.2.8), um abschließend eine Schlussfolgerung aus dieser Untersuchung von »Natürliche Ziele« zu ziehen (5.2.9).
5.2.1
Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς
Die Philosophie der Vorsokratiker war mit einer Ausnahme – »Anaxagoras war der erste Nüchterne unter Irreredenden« 20, wie Aristoteles später bemerkte – ateleologisch und zeigte die Wirklichkeit als »radikal unvertraut und fremd« 21. Philosophische Teleologie, wie sie erstmals bei Anaxagoras, dann aber vor allem bei Platon und Aristoteles auftritt, ist demgegenüber etwas Zweites. Sie ist Reflexion auf das, was in diesem anfänglichen »wissenschaftlichen« Denken verlorenging, und der Versuch, den entstandenen »Phänomenverlust« 22 philosophisch wieder einzuholen. 23
Da Anaxagoras in dem Versuch, »die Ordnung der Welt unmittelbar durch den nous zu begreifen« 24, im Konkreten aber immer materialistisch argumentiere und die Vernunft beiseite lasse 25, will Sokrates in Platons »Phaidon« das »Problem durch die zweitbeste Möglichkeit, Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 23. – In der Anmerkung verweisen Spaemann/Löw auf folgende Quelle des Zitats: Met A III, 984 b 17; vgl. Platon: Phaidon 97 b. – Ebd. 261. 21 Ebd. 22 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Mit dem Anspruch, die ›Phänomene zu retten‹, trat Aristoteles in der Naturphilosophie auf; vgl. dazu Owens (1961).« – Ebd. 260. 23 Ebd. 21. 24 Ebd. 23. 25 Vgl. ebd. 56. 20
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5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς
den deuteros plous, die ›zweite Fahrt‹, lösen« 26, die im Folgenden knapp dargestellt wird. Platon führt im »Phaidon« die »wesentliche Unterscheidung zwischen Ursache und notwendiger Bedingung ein, zwischen causa und conditio sine qua non« 27. Diese Unterscheidung leuchtet unmittelbar ein, wenn es um das menschliche Handeln geht. Um ihre Berechtigung aber im Bereich der Natur aufzuzeigen, referieren Spaemann und Löw Grundlagen der Ideenlehre, um auf diesem Weg das Phänomen des Werdens bzw. der gerichteten Bewegung in der Natur erfassen zu können. »Weder das Woraus der Ionier noch der universalteleogische nous des Anaxagoras, sondern das Wesentliche einer Sache ist hier Thema, das eidos, die Idee. […] Die Ideenlehre enthält Platons Antwort auf das bis heute aktuelle Problem des Zusammenhangs von Genesis und Geltung.« 28 Der Begriff der Geltung, der seine »zentrale terminologische Bedeutung […] erst in der Wertphilosophie des 19. Jahrhunderts« als »Reaktion auf die Nihilismuskrise« 29 erlangt hat, gehört zur »normativen Sprache« 30 und bezeichnet nur in der Wahrnehmung gegebene – daseinsrelative – und gleichwohl von jeder subjektiven Wahrnehmung unabhängige – absolute – Werte. 31 Die moderne Naturwissenschaft geht davon aus, dass das, was etwas ist, vollständig ableitbar ist aus dem Prozess seiner Entstehung. Menschliches Selbstsein kann somit, insofern es sich von seinen Entstehungsbedingungen emanzipiert, nicht Gegenstand der Wissenschaft sein. Bei der Frage der Naturteleologie geht es darum, inwiefern man außermenschlichem Leben ein Selbstsein zugestehen kann, das sich der Wissenschaft im modernen Verständnis entzieht, inwiefern es also von der Genesis unabhängige Geltung gibt. Platons Ideenlehre ist der Versuch, dieses zu denken 32:
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 23. Ebd. 24. 28 Ebd. 29 Hülsmann, Gelten, Geltung, in: HWPh III, col. 232. 30 Ebd. 31 Vgl. Teilkapitel 9.1, Die Ausdifferenzierung des analogen Weltzusammenhangs im Wertbegriff, 672–673. 32 Vgl.: »Dem Gelten und der Geltung kommt […] kein ontischer Charakter zu, wohl aber sind die in den Dingen und Ereignissen wirksamen Gesetze von solcher Struktur, daß sie notwendig und immer so und nicht anders gelten. Das unveränderliche Reich des Geltens erweckt platonische Reminiszenzen.« – Hülsmann, Gelten, Geltung, in: HWPh III, col. 232–233. 26 27
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Die faktische Entstehung eines Phänomens erklärt weder sein Sosein noch seine Geltung. Es ist umgekehrt: die Entstehungsbedingungen lassen Gegenstände einrücken in schon bereitstehende Formen. Nicht Formen werden hervorgebracht, sondern Dinge. Etwas entsteht, indem es ein solches oder ein solches wird. Das Sosein, in das die Dinge einrücken, ist nicht selbst Resultat der Entstehungsprozesse. 33
Aristoteles wendete gegen die platonische Ideenlehre ein, dass so keine Wissenschaft von der Natur möglich sei, sondern nur von den ewigen Formen, in die die Dinge einrücken. Die eigentliche Frage für eine Wissenschaft von der Natur sei dagegen die »nach der Idealität, der ›Kunstmäßigkeit‹ von Prozessen« 34, also von Bewegung. Spaemann und Löw weisen darauf hin, dass dieser Einwand nur den frühen Platon trifft, da dieser in seinen Spätdialogen durchaus eine Lehre von der Bewegung entwickelt hat. Allerdings ist diese nicht im selben Sinn Wissenschaft wie die Ideenlehre. Die Rede über die Bewegung ist deshalb in jenem Zwischenbereich zwischen Wissen und Nichtwissen angesiedelt, den Platon Meinen, doxa, nennt. Rede in diesem Medium ist nicht wissenschaftlicher Beweis, sondern Unterredung durch Plausibilitätsargumente unter Zuhilfenahme von Begriffen, die nicht scharf definiert sein können. […] Der Gegenstand der Rede, die Bewegung und das Bewegte, ist nicht in der Weise »bestimmt«, daß auf eine bestimmte Weise davon gesprochen werden könnte. 35
Platons Lehre von der Bewegung und dem Bewegten und die besonderen Denkbedingungen, unter denen eine Lehre dieser Art steht, müssen kurz beleuchtet werden. Spaemann und Löw entwickeln Platons Lehre von der Bewegung aus den »nicht mehr aufeinander reduzierbaren Konstitutionsprinzipien der Wirklichkeit«: »Einheit und Vielheit« 36. Die Idee als Form, in die Dinge einrücken, steht für das Prinzip der Einheit. Dem Reich der Ideen »schlechthin entgegengesetzt« ist die »ungerichtete Bewegtheit« 37, die als »Substrat« der Wirklichkeit vorausgesetzt werden muss und für das Prinzip der Vielheit steht. Gerichtete Bewegtheit bzw. Werden kommt in der Natur nun zustande durch »eine Vereini33 34 35 36 37
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 24–25. Ebd. 25. Ebd. 27–28. Ebd. 28. Ebd.
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5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς
gung der beiden Prinzipien […], die von sich selbst her einander entgegengesetzt sind« 38. Es ist die »Einheit von Einheit und Vielheit« 39, insofern Werden eine Bewegung ist, durch die im Substrat – d. h. in der Vielheit – eine Idee – d. h. die Einheit – wirksam wird. Als nächstes stellt sich die Frage nach dem Grund dieser Bewegung, der nicht in der Idee selbst liegen kann. Platon beantwortet sie mit der Idee des Guten: »Die Idee des Guten ist für Platon konstitutiver Grund dafür, daß die Ideen Konkretes strukturieren. […] Die Idee des Guten repräsentiert die universelle Struktur alles Wirklichen in seinem Gerichtetsein. Das universale Ziel der endlichen Wesen ist Sein, Dauer, Einheit in einem bestimmten Sosein.« 40 Das Gute ist somit nicht eine konkrete Idee, sondern als regulatives Prinzip eine Meta-Idee. Das Streben nach dem Guten als gerichtete Bewegung setzt »ein aktives Prinzip voraus, kraft welchem die Richtung auf das Eine und Gute genommen und gehalten wird. Dieses Prinzip nennt er Seele, psyche« 41. »Die Seele als das Prinzip der Selbstbewegung ist der Grund aller gerichteten Bewegung. […] Die Seele ist mit Vernunft, nous, ausgestattet, und mit ihr lenkt sie gleichsam wie mit einem Kompaß die Bewegung in die Richtung auf das Gute hin.« 42 Im »Timaios« wird die »Verfertigung 43 der Welt dargestellt als das Werk eines Gottes, des Demiurgen«, der, »indem er auf die Ideen schaut, der Welt eine schöne Gestalt gibt« 44. Das Gute allerdings bzw. die auf es ausgerichtete Vernunft ist nicht allmächtig, ihnen entgegengesetzt ist »die ananke, die blinde Notwendigkeit und der Zufall«, womit die »ontologische Dialektik von Einem und Vielem […] ihre unmittelbare Darstellung in der Natur« 45 findet. Werden findet in der Natur in dem Maße statt, Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 29. Ebd. 28. 40 Ebd. 30. 41 Ebd. 31. 42 Ebd. 43 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Technesis als Verfertigung, Herstellung trifft die Intention Platons besser als ›Schöpfung‹, welche in der christlichen Tradition eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts, meint. Hier ist ursprünglich dem Einen nichts entgegengesetzt; das Viele wird selbst gedacht als das Werk des Einen, was aber als Voraussetzung ein differenziertes Eines hat, somit die christliche Trinitätslehre erfordert. Diese stellt eine Bestimmung des Prinzips des Einen dar, in welchem dieses Eine als ein in sich bestimmtes Differentes gedacht wird. Nur so kann aus dem Einen überhaupt etwas Anderes hervorgehen.« – Ebd. 262. 44 Ebd. 45 Ebd. 33. 38 39
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
wie es der Vernunft, dem νοῦς, gelingt, sich gegen die Notwendigkeit, die ἀνάγκη, durchzusetzen. Für diese Einwirkung auf die ἀνάγκη wählt Platon »eine tiefsinnige Metapher: es geschieht durch Überredung« 46. Überredung durch den nous ist die Weise, wie die an sich ungerichteten Prozesse eine bestimmte Richtung erhalten; sie repräsentiert ein quasi energiefreies Gerichtetwerden. Auf die Frage, was denn eigentlich nun »Überredung« in der Natur sein solle, müßten wir platonisch antworten: es geht hier um Bewegtes; die Sprechweise ist also notwendig metaphorisch. Es gibt gar keine uns zur Verfügung stehende Begrifflichkeit, mit der solche Verhältnisse exakt bestimmt werden könnten. 47
Für die menschliche Intentionalität gilt, dass durch die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς der ἔρως, also die »Grunderfahrung, die wir Trieb nennen« 48, seine konkrete Gerichtetheit erhält. Dabei ist noch einmal zu unterscheiden zwischen diesem »unmittelbaren Zweck der Begierde« und dem »objektiven Zweck« 49. Der unmittelbare Zweck zielt jeweils auf »einen Zustand des Subjekts, den dieses noch nicht besitzt«, der objektive Zweck dagegen auf die Dauer im Schönen, Einen, Guten. Das Schöne, Eine und Gute ist aber unabhängig vom Subjekt schon da. Das Subjekt kann an ihm nur »teilhaben«. Aus der Nichtidentität von endlichen Dingen mit dem Guten, durch das allein sie sind, folgt eine ontologische Differenz innerhalb der teleologischen Verfaßtheit der Dinge, die sich in der menschlichen Intentionalität als Differenz zwischen objektivem und subjektivem Ziel, oder auch zwischen Zweck und Motiv darstellt. 50
Der νοῦς kann dabei nur zum Guten überreden; er ist frei in der Wahl der Mittel, die zur Teilhabe an ihm führen, nicht darin, an ihm teilhaben zu wollen oder nicht. Weiter unten wird gezeigt, wie Aristoteles diese Unterscheidung terminologisch weiterentwickelt hat. 51
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 33. Ebd. 34. 48 Ebd. 35. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 231–232. 46 47
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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
Zum Abschluss dieser knappen Darstellung von Platons Konzept der Teleologie sei noch auf ihre ethischen Implikationen hingewiesen. Gegen den Einwand der Sophisten, der Mensch tue alles, was er tut, allein um des eigenen Lustgewinns willen, zeigt Platon, dass die »Frage nach dem richtigen Leben des Einzelnen […] nicht abzukoppeln [ist] von der Frage nach dem richtig verfassten Staat« 52. Der Einwand der Sophisten bedeutet eine Inversion der Teleologie durch Rückbeziehung auf rein subjektive Motive. Demgegenüber geht es Platon (ebenso wie Aristoteles) darum zu zeigen, dass selbst das Streben nach Selbsterhaltung nicht auf »eine Zuständlichkeit des Subjekts […], sondern die ›Teilhabe am Guten selbst‹« 53 zielt, womit Platon »die intentio recta der Teleologie im natürlichen wie sittlichen Bereich gegenüber ihrer sophistischen Inversion« wiederherstellt, »ohne dabei die Reflexionsdimension wieder preiszugeben« 54.
5.2.2
Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
Aristoteles – der »erste Antiplatoniker der Philosophiegeschichte« und, im »Ganzen der Geschichte der Philosophie gesehen«, zugleich »der größte Platoniker« 55 – vertiefte die Gedanken seines Lehrers zum Problem der Teleologie, wobei zwei Begriffe in den Mittelpunkt rückten: »dynamis und ousia, lat. potentia und substantia, dt. Möglichkeit und Wesen bzw. Substanz.« 56 Platon interpretierte die Gegenstände der Wirklichkeit als »verschiedene Zustände der Materie, des ›Zugrundeliegenden‹, kraft deren sie teilhaben an ideellen Strukturen« 57. Aristoteles kritisiert zunächst, dass dazu eine grundlegende Voraussetzung fehle: »es müssen gewisse sogenannte ›Zustände der Materie‹ als das fundamental Wirkliche schon ausgezeichnet sein, damit man so sprechen kann.« 58 Es geht Aristoteles dabei um die Unterscheidung von Subjektbegriffen (z. B. »Baum-Sein«) und Prädikatbegriffen (z. B. »Blühendsein des 52 53 54 55 56 57 58
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 37–38. Ebd. 37. Ebd. Ebd. 41. Ebd. Ebd. 42. Ebd.
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Baumes« 59). 60 »Die gewissen ›ausgezeichneten‹ Zustände der Materie, von denen alle anderen Eigenschaften prädiziert werden, sind für Aristoteles das eigentlich Wirkliche. Somit ist der ontologische Grundbegriff für Aristoteles nicht eidos, Idee, sondern ousia, Substanz.« 61 Die den Substanzen zugrunde liegende »pure Materie« ist für Aristoteles im Unterschied zu Platon nur ein »Abstraktionsprodukt« – die »Wirklichkeit verkürzt um die Formbarkeit« –, das eigentliche Zugrundeliegende (ὑποκείμενον) ist für ihn »die Substanz, die wirkliche Grundlage des Wirklichen« 62. Dabei unterscheidet Aristoteles zwischen den natürlichen Dingen – »physei onta« 63 –, die »den Ursprung der Bewegung in sich selbst« haben, und den künstlichen Dingen, »deren Prinzip der Bewegung nicht aus ihrer substantiellen Form folgt« 64. Der Begriff der Substanz oder substantiellen Form eröffnet den physei onta einen Spielraum von möglichen Bewegungen, innerhalb dessen die Substanz als sie selbst erhalten bleibt. Der Korrespondenzbegriff zur ousia, Substanz, ist der eines begrenzten Spielraums ihrer eigentümlichen und spezifischen Bewegung: der Begriff der Möglichkeit. 65
Dieser Möglichkeitsbegriff besagt, dass ein natürliches Wesen im Normalfall einen bestimmten Spielraum möglicher Bewegungen hat, für deren wirkliches Zustandekommen dann gleichwohl noch geeignete Rahmenbedingungen nötig sind. Aristoteles nimmt »für das Zustandekommen des Wirklichen die platonische Unterscheidung von causa und conditio sine qua non auf und unterscheidet analog wesentliche Bedingungen von Randbedingungen des Könnens.« 66 Klavierspielenkönnen beispielsweise wäre wesentliche Bedingung Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 43. Vgl. ebd. 21–22. 61 Ebd. 43. 62 Ebd. – Vgl. Teilkapitel 2.1, Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz, 44–54. 63 Ebd. 44. 64 Ebd. 65 Ebd. 45. – An dieser Stelle wird der Bezug zum Thema Kontingenz erkennbar: Alles, was über Möglichkeiten verfügt, ist so, wie es ist, nicht notwendig; die Distanz zu einem kontingenten Bestand ist jenes ›Notwendige‹, um das es im personalen Standpunkt geht. – Vgl. Teilkapitel 2.3, Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung, 68–82, u. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 900–904. 66 Ebd. 46. 59 60
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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
der Verwirklichung dieses Könnens, das Vorhandensein eines Klaviers im Raum eine Randbedingung; der erste Begriff von Möglichkeit betrifft den Bewegungsspielraum einer Substanz, der zweite die Abwesenheit irgendwelcher Hinderungsgründe. »Die aristotelische Definition der Bewegung ist im Grunde die Vermittlung zwischen den beiden Möglichkeitsbegriffen: Bewegung ist Realmöglichkeit«. 67 Dieser Bewegungsbegriff soll im Folgenden erläutert werden, um aus ihm den aristotelischen Begriff von Teleologie im weiteren und im engeren Sinn zu entwickeln. Da Aristoteles im Unterschied zu Platon keinen »Bereich reiner, passiver Vielheit« 68 kennt, ist für ihn »alle wirkliche Bewegung gerichtet« 69 und damit »in einem weiteren Sinn teleologisch verfaßt« 70. In der »Physik« gibt Aristoteles folgende Definition der Bewegung: »Bewegung ist die Entelechie, die Wirklichkeit des potentiell Seienden als solchen, kürzer: Bewegung ist die Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen.« 71 Geht es also um die Bewegung eines Gegenstandes von A nach B, so kann von der »Wirklichkeit der Möglichkeit« bzw. der »Realmöglichkeit« von B gesprochen werden, »wenn die Möglichkeit dadurch wirkliche Möglichkeit ist, daß Bewegung stattfindet« 72. »Die Bewegung als Wirklichkeit der Möglichkeit zu fassen heißt, sie als Möglichkeit eines künftigen Zustandes zu begreifen, der zur Definition des Gegenwärtigen gehört, und zwar als Möglichkeit: denn es ist jedem künftigen Zustand eigentümlich, daß er nicht mit Sicherheit eintritt.« 73 Wenn nach der Aussaat die Samen zu keimen beginnen, sind die voll entwickelten Halme bereits WirkSpaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 46. Ebd. 44. 69 Ebd. 47. 70 Ebd. 71 Ebd. – Vgl. Anmerkung: »Phys. III 1, 201 a 11, 202 a 8; die im Text gegebene Übersetzung von R. Spaemann drückt das Wesentliche deutlicher aus als etwa die von H. Wagner: ›Prozeß heißt die Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem Gegenstand‹ (Physikvorlesung, Berlin 1967, S. 59).« – Ebd. 264. – Vgl. auch: »ἡ τοῦ δυνάμει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνεσίς ἐστιν«. – Physik, 201 a 10, in der deutschen Übersetzung von Hans Günter Zekl: »Das endliche Zur-WirklichkeitKommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist (entwickelnde) Veränderung«. – Aristoteles, Physik I–IV, 103 (kursiv im Original). – Auf die Ausführungen zum aristotelischen Bewegungsbegriff an dieser Stelle wird gegen Ende dieser Arbeit angeknüpft werden. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 900–901. 72 Ebd. 73 Ebd. 48. 67 68
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lichkeit als Möglichkeit; dass es eventuell zu dieser Wirklichkeit nicht kommt, wenn die Saat aufgrund beispielsweise von Wassermangel vertrocknet, stellt den Begriff der Realmöglichkeit nicht in Frage, denn bei Aufrechterhaltung geeigneter Rahmenbedingungen – beispielsweise regelmäßiger Wässerung – hätte die Wirklichkeit erreicht werden können. Alle natürlichen Bewegungen bedürfen bei Aristoteles eines »Anfangsgrundes« und »eines Grundes, bis zu einem bestimmten Ende fortgesetzt zu werden« 74, der »selbst ein natürliches Ziel darstellt« 75: »Das natürliche Ende der natürlichen Bewegung ist für den Körper dort, wo er sich – anthropomorph gesprochen – wohl befindet. Wenn ein bestimmter Gleichgewichtszustand erreicht ist, dann ruht er in bezug auf diese bestimmte Bewegung.« 76 Die theoretisch entscheidende Frage besteht nun darin, wie »ein solch antizipiertes telos Prinzip, arche und Ursache, aitia einer Bewegung genannt werden« 77 kann, womit es um die Frage nach der Teleologie im engeren Sinn geht. Spaemann und Löw referieren knapp die aristotelische Ursachenlehre und unterstreichen, dass die »causa finalis – Zweckursache, Endursache« 78 für Aristoteles die »erste aller Ursachen« 79 ist. Bei den künstlichen Dingen ist dies offensichtlich: »das Sitzenwollen geht allen Stühlen voraus« 80. »Ein Naturding hingegen ist dadurch charakterisiert, daß Was und Wozu in ihm selbst in Eins fallen. Der Zweck ist die Form der Sache selbst, darum auch das Wort entelecheia: ich trage das Ziel in mir.« 81 Den Begriff der Entelechie in Bezug auf natürliche Bewegungen zu verwenden, bedeutet immer, zunächst von der menschlichen Selbsterfahrung auszugehen. Wie eingangs dargelegt, zielt die Frage ›Wozu?‹ immer auf Verstehen, »Ausgangspunkt solchen Verstehens ist das natürliche Wesen Mensch« 82, das in sich immer schon eine teleologische Verfasstheit vorfindet. Der Vorwurf, das teleologische Denken betrachte die Naturdinge »naiv nach
74 75 76 77 78 79 80 81 82
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 48. Ebd. Ebd. 49. Ebd. Ebd. 50. Ebd. 51. Ebd. Ebd. 52. Ebd.
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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
Analogie der künstlichen Gegenstände« 83, stellt für Aristoteles den wirklichen Zusammenhang auf den Kopf: Nicht wir sehen »unberechtigter Weise die Natur durch die Brille der Kunst […], sondern es ist umgekehrt: die menschliche Kunst – techne – ahmt auf eine unvollkommene Weise die Natur nach« 84. Das τέλος als der »erste aller Gründe« 85 hat immer den »Charakter des Guten, Besten 86 für ein natürliches Wesen« 87, zielt also auf die volle Entfaltung der natürlichen Anlagen. Im Folgenden soll es nun um die Frage gehen, in Bezug auf welche Naturphänomene teleologisches Verstehen zulässig ist. Bei der Betrachtung beispielsweise des Wasserkreislaufs könnte der Eindruck entstehen, dass der Regen fällt, damit das Getreide wachsen kann. Eine solche universalteleologische Vorstellung lehnt Aristoteles jedoch ab, da das Wachsen des Getreides dem meteorologischen Prozess ganz äußerlich ist. Nicht alles, was wie ein Produkt sinnvoller Bewegung aussieht, ist deswegen auch wirklich ein Resultat einer solchen. Es ist – so Aristoteles – entweder Produkt eines teleologischen Prozesses oder ein Produkt des Zufalls. Dem entspricht die heute übliche Unterscheidung zwischen Teleologie und Teleonomie. Teleonomie ist die Betrachtung von Gebilden unter dem Gesichtspunkt ihrer wie immer gearteten Zweckmäßigkeit, wobei aber – im Gegensatz zur Teleologie – die Zweckmäßigkeit des Gebildes nicht als Erklärungsgrund für sein Dasein herangezogen werden kann. 88
Die moderne, im engeren Sinne darwinistische Ansicht, dass »alle natürlichen Prozesse, die zweckgerichtet erscheinen, lediglich teleonomisch sind, also zweckmäßig ohne Zweck« 89, wurde bereits in der Antike, so etwa durch Empedokles vertreten; Spaemann und Löw referieren ausführlich die Widerlegung dieser »ateleologischen Natursicht« durch Aristoteles. Gegen sie spreche erstens die »Regel-
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 52. Ebd. – Vgl. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 321– 347, u. Teilkapitel 9.2, Die Wahrnehmung des Seins im Schönen, 680–702. 85 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 54. 86 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Gr. ariston und beltiston; Phaidon 97b. ›Gut‹ heißt immer ›für das Wesen schlechthin gut‹, und das ist aus der Perspektive des Wesens selbst das Beste.« – Ebd. 265. 87 Ebd. 53. 88 Ebd. 54. 89 Ebd. 55. 83 84
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mäßigkeit der Zweckphänomene« 90, zweitens die Ähnlichkeit von menschlichem Handeln und Naturprozessen 91, drittens das Vorkommen von »Fehlern« in der Natur 92. Von besonderer Bedeutung ist das vierte Argument, das sich gegen die These wendet, »die heute wissenschaftlicher common sense ist, Teleologie setze Bewußtsein voraus« 93. Aristoteles verweist hierbei auf den Sachverhalt, dass ein Mensch, der eine Kunst beherrscht, diese nicht mehr mit Überlegung ausübt, sondern sie internalisiert hat. Wenn Teleologie an Bewußtsein gebunden wäre, so ergäbe sich das Paradox, daß eine Kunst in dem Maße, in dem sie vollkommen wird, aufhört, teleologisch zu sein. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind ja gerade bestrebt, eine Kunst zu erwerben, um das telos möglichst vollkommen realisieren zu können. Und am vollkommensten realisieren wir es – so Aristoteles –, wenn wir dabei nicht mehr überlegen müssen. Dann handeln wir wie die Natur selbst. […] Die fragliche »erste Natur«, um deren teleologische Gerichtetheit es ja Aristoteles geht, ist diejenige, an deren Wirkungsweise sich die zweite annähert. Sie wirkt ohne Überlegung. 94
Für das von Spaemann verfolgte Projekt der Wiederbelebung des teleologischen Denkens wird von grundlegender Bedeutung sein, dass Aristoteles zum einen den Anwendungsbereich teleologischen Verstehens ausdrücklich einschränkt und universalteleologische Deutungen ablehnt, 95 zum anderen ateleologische Positionen reflektiert und Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 57. Vgl. ebd. 57–58. 92 Vgl. ebd. 58–59. 93 Ebd. 59. 94 Ebd. 95 Mit Bezug auf universalteleologische Ansätze, »alles Seiende in Zweck-Mittel-Zusammenhängen miteinander« zu verschränken, bemerken Spaemann und Löw an anderer Stelle: »Dieser Gedanke war Aristoteles fremd. Für ihn gibt es in einem Lebewesen Zweck-Mittel-Verhältnisse – daß etwa das Wasser für ein bestimmtes Gewebe, dieses für ein bestimmtes Organ, dieses für eine bestimmte Verrichtung im Ganzen da ist –, aber mit der Stufe des Lebewesens als Ganzem war, wenn wir von der Planetenbewegung absehen, die oberste natürliche Stufe erreicht, bei der sinnvollerweise von Zweck gesprochen werden konnte. Dieser Selbstzweck des Daseins eines lebendigen Wesens konnte nicht noch einmal als Mittel für ein anderes natürliches Wesen interpretiert werden. Daß es dennoch zum Mittel genommen (e. g. gefressen) werden konnte, negierte ja gerade dessen telos zugunsten des eigenen. Wo sich solche Zusammenhänge aufdecken lassen, spricht ihnen Aristoteles ein zufälliges Entstehen zu. Der Mensch macht hier keine Ausnahme; er ist nur insofern herausgehoben, als er alle natürlichen Gegenstände auf sich beziehen und sich zunutze machen kann. Aber da90 91
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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
insbesondere im Hinblick auf das unbewusste Wirken der Natur gegen sie argumentiert. Bevor es abschließend um die Frage geht, worauf die τέλη der natürlichen Dinge letztlich gerichtet sind, also um die Unterscheidung von immanenter und transzendenter Teleologie, seien die zentralen Gedanken mit den Worten Spaemanns und Löws zusammengefasst: die Zweckursache hat den Primat in der aristotelischen Lehre von den Ursachen. Sie allein kann die Warum-Frage befriedigend im Sinne des Verstehens lösen. Zweckursache ist der Aspekt, unter welchem kausalmechanische Prozesse organisiert und natürliche Formen hervorgebracht werden. Im Substrat der Naturprozesse, der Materie, wiederum kann der Grund für das Nicht-erreichen von Zwecken liegen. 96
Innerhalb der Zwecke, die die natürlichen Wesen bewegen, führt Aristoteles noch einmal eine ontologische Differenz ein, durch die die Vorstellung vom unbewegten Beweger ins Spiel kommt: »Der Gott ist als ›erster Beweger‹ Grund des Seins und Soseins aller irdischen Dinge. Sie sind nicht nur immanent teleologisch verfaßt, das heißt mit Selbsterhaltungsstreben ausgestattet. Das Selbsterhaltungsstreben ist vielmehr die subjektive Seite eines objektiven ›Seinsollens‹ der Dinge.« 97 Den natürlichen Wesen geht es um Selbsterhaltung; was aber ist das τέλος der Selbsterhaltung? Spaemann und Löw verweisen in diesem Zusammenhang auf die schon bei Platon vorhandene ontologische »Differenz zwischen objektivem Zweck und subjektivem Motiv« 98, die erst Aristoteles »terminologisch in aller Schärfe« 99 entwickelte. Aristoteles unterscheidet »telos hou heneka tinos: lat. finis cuius (gratia) und telos hou heneka tini: lat. finis cui (im Mittelalter: finis quo)« 100. Der ›finis cuius‹ bezeichnet die erraus folgt nicht, daß diese an sich selbst wesentlich Mittel sind. Der Hinweis auf den Menschen hat keinen teleologischen Erklärungswert für die Natur.« – Spaemann/ Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 66. 96 Ebd. 60. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles ist ein besonders kritischer Anhänger der Teleologie; der Zweck kann nicht nur verfehlt werden, sondern je mehr die Materie am Zustandekommen eines Gegenstandes beteiligt ist, desto undeutlicher kann der Zweck für den Naturwissenschaftler sein.« – Ebd. 266. 97 Ebd. 61. 98 Ebd. 62. 99 Ebd. 100 Ebd. – Vgl.: »Allgemein ist τέλος definiert als ›das letzte Worumwillen‹ (τὸ οὗ ἕνεκα ἔσχατον) [Aristoteles: Met. V, 16, 1021 b 30.]. Aristoteles kann dabei jedoch
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strebte Sache selbst als objektive Realität, der ›finis cui‹ die subjektive Aneignung dieser Sache. Der ›finis cuius‹ bezeichnet die allgemeine teleologische Verfassung, in der der Mensch sich immer schon vorfindet und die er mit allen natürlichen Wesen teilt. Der ›finis cui‹ dagegen ist eine subjektive Zielsetzung, die den ›finis cuius‹ noch einmal als Mittel versteht. Der ›finis cuius‹ der »Sättigung durch die Speise« kann etwa durch den ›finis cui‹ des Subjekts, »um dessentwillen das Ziel erstrebt wird« 101 affirmiert oder auch abgelehnt werden. Problematisch wird diese Unterscheidung nun, »wenn wir von der Erhaltung des Seins, nach welchem alles Seiende strebt« 102, sprechen: »Der finis cuius ist die Selbsterhaltung; aber um wessen willen wird die Selbsterhaltung erstrebt?« 103 Da die Selbsterhaltung dem Subjekt nichts hinzufügt, kann es sie nicht um seiner selbst willen erstreben. Aristoteles’ Antwort ist, daß das Streben alles Seienden, sich im Sein zu erhalten, um der methexis, der Teilhabe am Göttlichen willen geschieht. […] Das Streben nach Dauer, sei es als Selbst-, sei es als Arauch zwischen einem primären (οὗ ἕνεκα τινός, dem späteren ›finis cuius‹ oder ›finis internus‹) und einem sekundären, äußeren Zweck (οὗ ἕνεκα τινί, ›finis quo‹ oder ›finis externus‹ [Vgl. J. Micraelius: Lex. philos. (21662, ND 1966) 512.]) unterscheiden [Aristoteles: Met. XII, 7, 1072 b 1–3; Phys. II, 2, 194 a 35 f.; De an. II, 4, 415 b 2 f. u. ö.; vgl. K. Gaiser: Das zweifache Telos bei Aristoteles, in: I. Düring (Hg.): Naturphilos. bei Arist. und Theophrast (1969) 97–113.].« – Hoffmann, Zweck; Ziel, in: HWPh XII, col. 1488. – Obwohl dieser Sachverhalt von Spaemann und Löw nicht explizit thematisiert wird, ist zu beachten, dass die Unterscheidung der beiden fines bei Aristoteles rein terminologischer Art ist. In »Personen« wird Spaemann später schreiben: »Die Antike kennt keinen Rückgang des Menschen hinter seine Natur, keine Objektivierung der Natur. Natur ist ein Letztes, im faktischen und im normativen Sinn.« – Spaemann, Personen, 31. – Es geht also bei Aristoteles um einen finis, der auf seine beiden Aspekte – den objektiven und den subjektiven – hin betrachtet wird. Vgl. dazu folgende Textstelle aus »Natürliche Ziele«, in der die Unterscheidung von ›finis quo‹ und ›finis cuius‹ bei Aristoteles erklärt wird mit der »Unterscheidung zwischen ›Zweck‹ und ›Um … willen‹ bzw. zwischen ›Zweck‹ und ›Ziel‹. Ziel wäre dann jenes ›Um … willen‹, das wir jeweils schon vorfinden und innerhalb dessen wir uns überhaupt erst als lebendige Wesen verstehen können. ›Zweck‹ dagegen wäre das bewußt gesetzte und in konkrete Handlungsorientierung übersetzte Ziel. Zwecke setzend halten wir zugleich nach Mitteln Ausschau, während das Ziel als Ermöglichungsgrund des Zweck-Mittel-Dualismus diesem voraufliegt.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 219. – Vgl. zur Bedeutung der beiden fines außerdem: Ebd. 69, 78, 81 u. 222. 101 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 62. 102 Ebd. 103 Ebd.
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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
terhaltungsstreben, interpretiert Aristoteles als konstitutive Tendenz der endlichen Wesen, am Göttlichen teilzuhaben. 104
Doch ist diese Teilhabe weder »ein erwünschter Zustand des Seienden«, denn »die Substantialität der Substanz besteht gerade in der Teilhabe und ist nichts außer ihr«, noch etwas, was Gott, der unbedürftig ist, zugute käme. »Das ›absolute telos‹ des Endlichen kann daher nur in einer je spezifischen Weise der ›Repräsentation‹, der Darstellung des Göttlichen bestehen.« 105 Die nicht-vernünftigen Wesen streben nach der repraesentatio »durch Selbsterhaltung und Reproduktion« 106, der Mensch »gleicht ihnen physei darin«, kann jedoch dieses Streben noch einmal in einen ›finis cui‹ einbinden, »wenn er theoria treibt« und damit »zum Göttlichen in ein direktes Verhältnis« 107 tritt. 108
104 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 63. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Ansonsten lehnt Aristoteles den platonischen Begriff der Teilhabe (vgl. 1. Kapitel) ab; Teilhabe an Ideen verdopple die Welt. Die Ideen haben in den Dingen selbst Wirklichkeit, nicht in einer eigentlichen Welt der Ideen.« – Ebd. 266. – Vgl. dazu: »Aristoteles bestreitet, daß es sich bei ›Teilhabe‹ überhaupt um einen philosophischen Begriff handelt. Eine Antwort auf die Frage, was denn Teilhabe sei, habe Platon nicht geben können […]. Nicht philosophisch sei dieses Wort, weil es leer bleibe und nichts als eine poetische Metapher sei, auf deren Basis jedoch kein Beweis, der Kern des Wissens, aufgebaut werden könne […]. Gleichwohl gibt es auch bei Aristoteles mehrere Felder, auf denen er zwar keinen eigens legitimierten, aber doch faktischen Gebrauch des Begriffes macht. Ähnlich wie Platon im ›Symposion‹ […] spricht auch Aristoteles davon, daß es die basale Leistung von Lebewesen ist, ein Gleichartiges zu erzeugen. Sinn der Zeugung sterblicher Lebewesen ist, ›am Ewigen und Göttlichen Anteil zu haben‹ (τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ θείου μετέχουσιν) […].« – Schönberger, Teilhabe, in: HWPh X, col. 961. 105 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 63. 106 Ebd. 64. 107 Ebd. 108 Auf diesen Gedankenkomplex wird in den folgenden Kapiteln mehrfach zurückzukommen sein. Zum einen werden im Rahmen des sechsten Kapitels die besonderen Denkbedingungen reflektiert, durch die die antike Philosophie sich einem direkten Zugriff entzieht und uns nur im Zuge einer Aktualisierung zugänglich sein kann. Zum anderen wird im siebten Kapitel der aristotelische ›finis cuius‹ im Sinne des Hervortretens eines bewandtnislosen Umwillen zum Bild des Anderen führen und die Anknüpfung an diesen aristotelischen Gedanken damit einen wesentlichen Schritt zur Philosophie der Begegnung darstellen.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
5.2.3
Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam
In der Spätantike geriet das teleologische Denken in eine Krise, indem einerseits von den Epikureern die »Zufallstheorie der Entstehung des Sinnvollen und Zweckmäßigen in der Natur« – also Ersetzung von Teleologie durch Teleonomie –, andererseits von den Stoikern eine »Universalteleologie des ganzen Kosmos« 109 gedacht wurde, wobei »unter der Voraussetzung einer vollständigen und durchgehenden Final-Determination […] die Welt auch vollständig kausal determiniert« ist und der »Unterschied zwischen causa finalis und causa efficiens« wegfällt. Die Folge war ein Bedeutungsverlust des teleologischen Denkens. In der christlichen Philosophie der Kirchenväter und des frühen Mittelalters findet sich bis ins 12. Jahrhundert keine Analyse oder gar Problematisierung der Teleologie. Diese Philosophie ist in ihren Grundlagen platonisch. Platonismus verbindet sich mit der biblischen Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts: alle Dinge sind wie sie sind, weil Gott sie so will. 110
Für die christliche Philosophie bedeutend ist zudem die »Lehre von der Sünde«: Aufgrund der »Inversion der natürlichen Finalität«, in der der Mensch »sich selbst zum letzten ›Um … willen‹ macht«, ist die »teleologische ›Normalverfassung‹ der Menschen nicht am durchschnittlichen Realverhalten ablesbar« 111. Vor das Teleologieproblem schiebt sich eine dem antiken Denken unbekannte moralische Dichotomie. Die Wiederherstellung der ursprünglichen Strebensrichtung geschieht unter Bedingungen der Erbsünde nur durch eine »Bekehrung«, in der diese Selbstbezogenheit des Willens ausdrücklich negiert wird. Während die durchschnittliche Verfassung von Menschen bestimmt ist durch »Selbstliebe bis zur Gottesverachtung«, ist die Zugehörigkeit zum Reich Gottes bestimmt durch »Gottesliebe bis zur Selbstverachtung«. 112 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 65. Ebd. 68–69. 111 Ebd. 69. 112 Ebd. – Dieser Gedanke der curvatio in seipsum und einer durch Umkehr, μετάνοια, wiederherstellbaren ursprünglichen Strebensrichtung wird später in Spaemanns »Glück und Wohlwollen« aus dem Jahre 1989 größte Bedeutung haben. – Vgl. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik, 415–508. 109 110
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5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam
Die somit beobachtbare Verlagerung des Interesses, das die Frage der Naturteleologie in den Hintergrund treten lässt, steht also im Zusammenhang mit der oben erörterten christlichen Umformung des klassischen ontologischen Natur-Praxis-Schemas in die neue Unterscheidung von Natur und Gnade. 113 Das Problem naturimmanenter, spezifisch teleologischer Prozesse taucht innerhalb des platonischen ersten Jahrtausends nach Christus nicht auf, sondern wird erst mit dem durch die Araber – vor allem Avicenna und Averroes – initiierten und im 13. Jahrhundert in der christlichen Welt rezipierten Neoaristotelismus 114 erneut thematisch, für den vor allem die Namen Albert der Große und Thomas von Aquin, aber auch Johannes Duns Scotus stehen. 115
Spaemann und Löw beschränken sich auf »Bemerkungen über die Weiterführung und Umformung aristotelischer Gedanken durch den Heiligen Thomas« 116. Da diese für eine mögliche Anknüpfung an die Naturteleologie aus moderner Sicht ebenso wichtig sind wie die Grundlegungen durch Platon und Aristoteles, werden sie im Folgenden ausführlich wiedergegeben. Thomas steht auf aristotelischem Boden, erweitert dessen Teleologiekonzeption jedoch in wichtigen Aspekten. Wie oben erwähnt wurde, lehnte Aristoteles eine teleologische Interpretation des Wasserkreislaufs beispielsweise ab: »Das Wachstum des Getreides hat in bezug auf den Wasserkreislauf, der sich erhält, keinen finalen Erklärungswert, denn er zerstört Getreide auch.« 117 Thomas widerspricht hier Aristoteles: »Unde licet pluvia non sit propter perditionem, non tamen sequitur quod non sit propter conservationem et augmentum.« 118 Gegenüber Aristoteles führt Thomas also die Unter-
113 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, 196–206. 114 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles wurde dem Westen erst seit Mitte des 12. Jahrhunderts durch die Übersetzungen aus dem Arabischen zugänglich; die Kommentare zu seinen Schriften versuchten ihn so zu interpretieren, daß er der hl. Schrift nicht widersprach.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 267. 115 Ebd. 69. 116 Ebd. 117 Ebd. 70. 118 Ebd. – Deutsch: »Von daher erhellt, daß daraus, daß der Regen nicht für das Verderben des Getreides fällt, nicht gefolgert werden kann, daß er auch nicht für das Wachstum und Erhaltung fällt.« – Ebd. 267.
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scheidung zwischen dem »generellen Zusammenhang von Regen und Wachstum« und einer »speziellen Wirkung« 119 ein: Thomas versucht hier, durch die Ausweitung der teleologischen Denkweise die Welt als ökologisches System zu interpretieren, in der dann solche Zuträglichkeiten wie die von Regen und Wachstum wiederum echt teleologische Verhältnisse bilden, denen gegenüber das Verhältnis von Regen und Zerstörung des Gewachsenen zufällig sind. 120
Hinter diesem Versuch steht die »theologische[…] Motivation«, alle sinnvollen Vorgänge auf der Welt auf Gott zurückführen zu wollen. In diesem Zusammenhang zitieren Spaemann und Löw nun einen Satz aus Thomas’ Kommentar der aristotelischen »Physik«, der für die thomasische Transformation der antiken Teleologievorstellung von zentraler Bedeutung ist: »Ea enim, quae non cognoscunt finem, non tendunt in finem nisi ut directa ab aliquo cognoscente, sicut sagitta a sagittante: Unde si natura operetur propter finem, necesse est quod ab aliquo intelligente ordinetur.« 121 Dieser Satz markiert die Abkehr von einem wesentlichen Prinzip der aristotelischen Naturteleologie, die für die weitere geschichtliche Entwicklung des teleologischen Denkens von größter Bedeutung war. Spaemann und Löw kommentieren ihn wie folgt: Dies ist ein folgenreicher Satz. Für Aristoteles war alle Handlungsteleologie eingebettet in Naturteleologie, die dem Handeln schon ein Ziel vorgeben muß. Nun wird reine, nicht in eine Handlungsteleologie eingebettete Naturteleologie für unmöglich erklärt. Dieser Gedanke hat erst später, dann aber bis heute seine ganze Wirkung entfaltet: wenn Teleologie notwendig ein Bewußtsein voraussetzt, das das telos antizipiert, dann ist sie aus der Natur zu eliminieren; denn wir nehmen in der Welt keine Vernunft außerhalb der menschlichen wahr, und auf Gott können wir in der Naturwissenschaft nicht rekurrieren. 122
Natürlich zog Thomas selbst diese moderne Schlussfolgerung nicht; ganz im Gegenteil ist für ihn Naturteleologie »Argument im GottesSpaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 70. Ebd. 121 Ebd. – Deutsch: »Diejenigen Dinge, die kein Ziel [von sich selbst her] kennen, bewegen sich nicht auf ein Ziel zu, außer gelenkt von einem, der das Ziel kennt, wie der Pfeil vom Schützen: Wenn es also in der Natur teleologisch zugeht, dann ist es notwendig, daß sie durch einen Wissenden geordnet wird.« – Ebd. 267. 122 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 71. 119 120
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beweis« 123. Die Dynamik, die in dieser Umdeutung der Naturteleologie enthalten ist, zeichnete sich allerdings schon vor Thomas bei den arabischen Aristotelikern ab. Während Avicenna (980–1037) den ›finis quo‹ an ein Bewusstsein bindet, worin Thomas ihm wie gesehen folgt, leitet Averroes (1126–1198) im Unterschied zu Thomas daraus ab, dass »der finis quo gar keine Zweckursache, sondern die Vorstellung des finis quo […] vielmehr die Wirkursache der Handlung« 124 sei, womit der Weg zu einer ateleologischen Deutung scheinbar teleologischer Prozesse gebahnt ist. Das Denken Thomas’ stellt den Versuch dar, diese Dynamik aufzuhalten. Der entscheidende Unterschied zwischen Aristoteles und Thomas besteht gleichwohl darin, dass jener Teleologie nicht mit Bewusstsein verknüpfte, da »die Kunst in der Natur so bewußtlos wirke wie im vollkommenen Künstler« 125, dieser hingegen auf einem Ursprung in Gott besteht: »zwar ist die Kunst bewußtlos in den Dingen, aber wie ist sie hineingekommen?« 126 Auf diese Frage wird bei der Einschätzung der allgemeinen Bedeutung Thomas’ in der Geschichte des teleologischen Denkens zurückzukommen sein. Die Intention, die Thomas bei der Fundierung der Naturteleologie im göttlichen Bewusstsein verfolgte, erschließt sich nur, wenn man seine spezifischen Denkvoraussetzungen, die sich von den neuzeitlichen unterscheiden, berücksichtigt. Das »aristotelische Axiom: Omne ens agit propter finem – alles Wirkende wirkt um eines Zieles willen« 127 ist für Thomas wahr aufgrund der konstanten Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen in der Natur. Dieser modern anmutende Gedanke ist für ihn jedoch nicht Ausgangspunkt für eine Aufgabe der Zweckursache, im Gegenteil: Spaemann und Löw legen dar, dass im mittelalterlichen Denken die »Regelmäßigkeit von Aufeinanderfolgen nicht zur Definition« 128 des Ursache-Begriffs gehörte, sondern Indiz war für Vorgänge, die »analog zu einer Handlung« 129 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 71. Ebd. 81. 125 Ebd. 71. 126 Ebd. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles würde antworten: gar nicht, sie ist gleichursprünglich, und das heißt ewig bereits in ihr drinnen. Hier hinkt die Analogie mit dem Flötenspieler, der seine Kunst erst erwerben mußte. Dennoch ist sie natürlich nur in der Natur, weil die Natur von Gott bewegt wird wie das Liebende durch das Geliebte.« – Ebd. 267. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd. 72. 123 124
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interpretiert werden müssen und damit notwendigerweise auf ein τέλος verweisen. »Da für Thomas ein telos aber nur im Wissen wirksam werden kann, so liegt für ihn das telos natürlicher Dinge ebenso in Gott wie das telos des Pfeiles im Schützen. Als Konsequenz ergibt sich: wo Teleologie, da auch Theologie.« 130 Auch bei Aristoteles gibt es, wie gesehen, einen Zusammenhang zwischen Naturteleologie und Theologie, insofern der »Gott als universales telos eines ebenso universalen Teilhabestrebens durch sein bloßes Sein die finale Struktur aller Wirklichkeit begründet« 131. Thomas hält zwar an der »aristotelischen, immanent-teleologischen Naturauffassung« 132 fest, denkt Gott aber als Schöpfer der teleologisch verfassten Naturdinge und damit als Subjekt eines finalen Handelns: er stiftete den Dingen ihre Natur ein, aufgrund derer sie nun selbst Zwecke und Ziele besitzen. Auf der Ebene der natürlichen Dinge hat sich gegenüber Aristoteles nichts geändert, nur ist Gott nicht mehr nur causa finalis, an dessen Ewigkeit die Wesen teilzuhaben streben, sondern Gott ist gleichzeitig causa efficiens, Wirkursache ihres Strebens. 133
Somit verbindet Thomas »den antiken Teilhabe-Gedanken mit dem christlichen Schöpfungsbegriff« 134. Die Schöpfung ist »Selbst-Darstellung Gottes in der Weise der repraesentatio des Göttlichen im Endlichen« 135.
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 72. Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd. 72–73. – Vgl.: »Thomas von Aquin macht den Begriff der Teilhabe zum Zentralbegriff seiner Metaphysik […]. Auch er bezieht, wie schon der Neuplatonismus, ›Teilhabe‹ nicht mehr bloß auf einzelne Formen, sondern auch auf das – jetzt aber nicht als Form, sondern als Akt verstandene – Sein überhaupt: Die Formen sind selbst Teilhabende am Sein. Und wie auch spätere Autoren bestimmt Thomas ›participatio‹ etymologisch als ›partem capere‹ […]. […] Daraus ergibt sich die vollständige Disjunktion von Gott, der mit seinem Sein identisch ist, und den geschaffenen Dingen, die am Sein nur teilhaben, d. h. in partizipierender Weise sind […]. Das sachliche Problem, wie die Einheit des konkreten Seienden angesichts der Nichtidentität der Bestimmungen gedacht werden kann, beantwortet Thomas – und dies ist seine eigentliche Leistung bei der Konzeption des Teilhabe-Begriffs – damit, daß er das Teilhabende als Potenz, hingegen das, woran etwas teilhat, als Akt versteht […].« – Schönberger, Teilhabe, in: HWPh X, col. 964–965. 134 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 73. 135 Ebd. 130 131
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Auch was die »Stufungen der Strebensinhalte« 136 der endlichen Wesen anbelangt, folgt Thomas im Wesentlichen Aristoteles: »Ein Wesen strebt danach, Gott abzubilden, indem es danach strebt, das zu sein, was es von Natur ist.« 137 Das bedeutet einerseits, dass die endlichen Wesen nach Erhaltung ihres Seins streben, andererseits nach der »Entfaltung irgendeiner spezifischen Wirksamkeit« 138: »Thomas spricht, Aristoteles folgend, von erster und zweiter Wirklichkeit, actus primus und actus secundus. Die erstere ist stets umwillen der zweiten, so daß das Axiom gilt: omne ens est propter suam propriam operationem. Alles Seiende ist um seiner ihm eigenen Tätigkeit willen.« 139 Entsprechend der unterschiedlichen »Seinshöhe der Dinge« unterscheidet Thomas verschiedene »Stufen der Teleologie« 140, wobei der Mensch »als Ziel an der Spitze der ganzen Zeugung von Lebendigem« 141 steht. Diesen »unwissenschaftlich und anthropomorph« 142 klingenden Gedanken begründet Thomas durch den Blick auf die Welt im Ganzen als ökologisches System, in dem der Mensch als Spitze der Pyramide erscheint: »Wenn der Mensch also überhaupt als Naturzweck verstanden wird, dann muß er als telos aller übrigen Wesen, einschließlich der Gestirne, die ja wiederum Bedingungen der Zeugung sind, verstanden werden.« 143 Für den Menschen allein gilt, dass er seine Naturbestimmung erst erfüllt, wenn er seinen Bezug auf Gott als das »äußerste telos aller Tätigkeit« 144, und zwar »kognitiv und willentlich« 145 realisiert. Kontrovers wurde in der Scholastik die Frage diskutiert, warum der Mensch, das bewußte und vernünftige Wesen, Gott als Ziel seines Strebens will. Will der Mensch Gott um Gottes willen, oder geht es dem Menschen in der sittlichen Bestimmung um sein eigenes Glück? Mit anderen Worten: ist Gott oder das menschliche Wesen finis cuius des menschlichen Strebens? 146
136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 73. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 74. Ebd. 76. Ebd. Ebd. 77. Ebd. Ebd. 73. Ebd. 77–78.
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In dieser später in der querelle zwischen Fénelon und Bossuet wiederkehrenden Frage bezieht Thomas gegen Albert den Großen Stellung für die Möglichkeit der Selbsttranszendenz: Das Eigentümliche des Geistes besteht gerade darin, daß er in der Erkenntnis die recurvatio wesentlich transzendiert. […] Von Natur aus liebt das endliche Wesen Gott mehr als sich selbst. Die Gnade ist also dieser Natur nicht entgegengesetzt, sondern sie ist Vervollkommnung der Natur des Menschen, dessen, was von Natur aus im Menschen und seinem Geist immer schon angelegt ist. 147
Spaemann und Löw unterstreichen, dass die »Synthese von aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken bei Thomas […] den Höhepunkt des teleologischen Denkens« 148 kennzeichnet: »Das letzte telos der Natur wird über das telos des Menschen zur Selbsttranszendenz des Endlichen in das Absolute.« 149 Zugleich kennzeichnet Thomas’ Umformung der antiken Lehre aber auch die »Peripetie des teleologischen Denkens« 150, wobei dieser ›Umschlag‹ noch einmal besondere Beachtung verdient. Ausgangspunkt des Umschlags ist die oben erwähnte Metapher vom göttlichen Bogenschützen: Mit der These, daß die Wirksamkeit eines telos Bewußtsein voraussetze, in welchem dieses telos antizipiert wird, hat die auf Thomas folgende philosophische Entwicklung das teleologische Denken aus der Natur eliminiert. Man könnte deshalb sagen, daß in dieser These des Thomas der Grundstein zur Aushöhlung der Teleologie gelegt worden sei […]. 151
Das Ergebnis der Aushöhlung war die Vorstellung der Welt als »große Maschine« 152, womit die nach Thomas den Naturdingen durch Gott eingestiftete Naturteleologie aufgegeben wurde. Spaemann und Löw wägen den Vorwurf, wonach Thomas »Keim der Aus147 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 78. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Diese Differenz zwischen Albert und Thomas zieht sich theologieund philosophiegeschichtlich bis in die Neuzeit hinein; sie gab die Basis für die letzte große theologische Kontroverse ab, welche die ganze europäische Öffentlichkeit interessierte, die des Bossuet gegen Fénelon. Vgl. dazu R. Spaemann (1963).« – Ebd. 268. 148 Ebd. 81. 149 Ebd. 150 Ebd. 78. 151 Ebd. 152 Ebd. 79.
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höhlung« 153 der Naturteleologie gewesen sei, kritisch ab. Dem Vorwurf ist insofern zuzustimmen, als bei einer Rückverfolgung aller späteren Transformationen und der schließlichen Elimination der Teleologie Thomas als ein notwendiges Zwischenglied erscheint. Aristoteles konnte nicht direkt transformiert werden, da er gerade geleugnet hat, daß ein telos nur unter der Voraussetzung eines Bewußtseins wirken kann. 154
Der Vorwurf ist hingegen zurückzuweisen, wenn bedacht wird, dass die durch Thomas in gewissem Sinn vermittelte Abkehr vom teleologischen Denken nur möglich war, indem ein »fundamentales Theorieelement des Gesamtansatzes einfach preisgegeben [wurde]: der Gedanke der konstitutionellen Bewegtheit der substantiellen Formen« 155. Wenn allerdings eine »Rückkehr zur ›naiven‹ Naturteleologie des Aristoteles nicht möglich ist«, nicht zuletzt weil seine »tragende These von der Ewigkeit der Arten« nicht mehr haltbar ist, Arten also als entstanden gedacht werden müssen, »dann stellt sich die Frage: ›Wie ist die Kunst in die Natur hineingekommen?‹ eben doch unabweisbar« 156. Spaemann und Löw geraten hier, im Spannungsfeld der Teleologiekonzeptionen von Aristoteles und Thomas, an eine Grenze ihrer Untersuchung: »Das Teleologieproblem ist möglicherweise vom Theologieproblem in letzter Analyse doch nicht ablösbar, und Thomas bleibt eine Herausforderung. Seine Mittelstellung zwischen Antike und Neuzeit enthält die Frage, ob es sich nicht um jene Mitte handelt, als die Aristoteles das Vernünftige definiert hat.« 157 Diese Mittelstellung Thomas’ zwischen einem nicht direkt erneuerbaren antiken und einem neuzeitlichen, einen Bruch mit der antiken Tradition darstellenden Denken, das bereits in Spaemanns Auseinandersetzung mit Fénelon und Rousseau eine latente Rolle spielte, tritt hier zum ersten Mal in voller Deutlichkeit hervor und wird in der weiteren Entwicklung des Spaemann’schen Denkens weiter an Bedeutung gewinnen. 158 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 79. Ebd. 155 Ebd. 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Eine Antwort auf die hier aufgeworfene Frage, ob Thomas’ Umformung notwendig war oder ob es eine bessere Alternative gegeben hätte, wird von Spaemann weder in »Natürliche Ziele« noch in später publizierten Texten explizit gegeben. Im Rahmen dieser Arbeit wird erst im Schlusskapitel versucht, aus dem Kontext der späteren 153 154
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
5.2.4
Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
Im Zuge der Betrachtung der Geschichte des teleologischen Denkens arbeiten Spaemann und Löw eine Entwicklungsdynamik heraus, durch die die Teleologie in problematischer Weise umgebildet wurde. Da diese Dynamik die Entteleologisierung möglich gemacht hat, ist es für eine mögliche Wiederbelebung des teleologischen Denkens von größter Bedeutung, sich den Charakter dieser Umbildungen und die dahinter stehenden Motive bewusst zu machen, um vor diesem Hintergrund unter Rückgriff vor allen Dingen auf den »›unvergleichlich nüchternen‹ Denker (L. Strauss)« 159 Aristoteles den eigentlichen Teleologiebegriff zu vergegenwärtigen, um den es beim Versuch der Wiederbelebung nur gehen kann. Die erste Umbildung – die »naive[…] Teleologisierung des Universums« 160 – fand bereits in antiker Zeit in der stoischen Schule statt, die »der Eigendynamik des teleologischen Denkens freien Lauf« ließ, was »zielstrebig zum Gedanken der Universalteleologie des ganzen Kosmos« führte, »in welchem alles Seiende in Zweck-MittelZusammenhängen miteinander verschränkt ist« 161. Aristoteles grenzte, wie oben dargelegt 162, den Bereich teleologischer Deutung ein und unterschied nach bestimmten Kriterien Zweckhaftes und Zufälliges. Demgegenüber hatte die Universalisierung für das teleologische Denken einschneidende Folgen: »unter der Voraussetzung einer vollständigen und durchgehenden Final-Determination ist die Welt auch vollständig kausal determiniert, das heißt, der Unterschied zwischen causa finalis und causa efficiens fällt weg.« 163 Die Ausweitung zur Universalteleologie schafft somit die Voraussetzung einer möglichen Entteleologisierung, da die Welt ebenso als universaler Kausalzusammenhang interpretiert werden kann. Eine universalteleologische Vorstellung prägte – mit einer veränderten religiösen Hauptwerke Spaemanns eine solche Antwort zu rekonstruieren. – Vgl. Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 867–878. 159 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 65. 160 Ebd. 225. 161 Ebd. 65. 162 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 229–230. 163 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 67.
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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
Motivation 164 – ebenso das Mittelalter, wie oben am Beispiel Thomas’ von Aquin gezeigt wurde. 165 »Das Mittelalter […] sah jede Naturgesetzlichkeit, jede regelmäßige Aufeinanderfolge eines Ereignisses b auf ein Ereignis a als Beweis für Teleologie an. Denn a hat ja offenbar die ›Tendenz‹ 166, b hervorzubringen.« 167 Im neuzeitlichen Denken kehren universalteleologische Vorstellungen in einer anderen Form bei Kant wieder, wenn der Mensch als sittliches Wesen, als νοούμενον, in der »Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft« der KU zum höchsten Naturzweck erklärt wird. Spaemann und Löw kommentieren dies ironisierend: Wenn der Mensch in seiner Sittlichkeit als unbedingter Zweck angesehen wird, dann kann man sinnvoll von einer zweckmäßigen Anordnung von Naturgegenständen in bezug auf den Menschen sprechen. Unter dieser Voraussetzung sind Golfstrom, Treibholz, Moos und Rentiere tatsächlich für Eskimos und Lappländer da. 168
Diesem Versuch Kants, durch eine teleologische Interpretation der Natur auf den Menschen hin der »Rede vom Selbstzweckcharakter des Menschen einen Sinn zu geben«, haftet, wie Spaemann und Löw bemerken, »etwas Gewaltsames« 169 an; es bedeutet den für das teleologische Denken selbst verhängnisvollen Umschlag in Universalteleologie, die »in ihrer Durchführung gerade zur Emanzipation der nomologischen von jeder immanent-teleologischen Betrachtungsweise führt« 170. Vor dem Hintergrund dieser bereits in der Spätantike einsetzenden Tendenz zur Universalteleologie beschreiben Spaemann und Löw das Ineinandergreifen zweier gegen das teleologische Denken gerich-
164 Vgl.: »Dem christlichen Gott ist die Welt nicht gleichgültig: ›Kein Haar fällt von eurem Haupte, ohne daß der himmlische Vater es will.‹« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 70. 165 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam, 235–237. 166 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Die Tendenz, nicht den Willen! Genau deswegen ist die Ersetzung von Teleologie durch ›Motivkausalität‹ (Stegmüller) ganz falsch.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 297. 167 Ebd. 231. 168 Ebd. 110. – Spaemann und Löw spielen hier an auf Ausführungen Kants im § 63 »Von der relativen Zweckmäßigkeit der Natur zum Unterschiede von der innern« der KU an. – Vgl. Kant, Werke, Bd. 8, 477–480. 169 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 243. 170 Ebd.
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teter Argumentationsstränge, deren erster erkenntnistheoretischer, deren zweiter praktischer Art ist. Der erkenntnistheoretische Argumentationsstrang lässt sich weiter differenzieren in eine theologische und eine nominalistische Linie. Die theologische Linie nimmt den oben zitierten Gedanken des Averroes auf, 171 wonach es keinen ›finis quo‹ bzw. keine ›inclinatio naturalis‹ endlicher Wesen geben kann, weil sonst Gott selbst hinter diesen Zielen stehen müsste, was »mit seiner Vollkommenheit unvereinbar« 172 ist. Ein final handelnder Gott ist ein Anthropomorphismus, also auch eine final agierende Natur. Durch Umkehr des Arguments wird die Naturteleologie nun sogar als Gottlosigkeit denunziert: von Zwecken in der Natur sprechen heißt, der Natur Göttlichkeit beimessen. Diese theologisch begründete Verurteilung der Teleologie durchzieht von da an die Philosophie bis ins 18. Jahrhundert. 173
Die andere Linie geht von dem nominalistischen Grundgedanken aus, dass »unseren Allgemeinbegriffen in der Wirklichkeit nichts« 174 entspricht und sie »lediglich unsere Ordnungsschemata« 175 sind. Innerhalb der Allgemeinbegriffe, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht, gibt es selbst noch eine Differenz hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für Klassifikationen. Allgemeinbegriffe, welche Gegenstände klassifizieren, also eine »Referenz« haben, können uns zur Ordnung der Natur dienen. Allgemeinbegriffe indes, die etwas bezeichnen, was gar kein Gegenstand ist, Begriffe ohne »Referenz«, wie etwa der Begriff Zweck, sind selbst dafür vollkommen ungeeignet. Unter den Zweckbegriff läßt sich gar nichts subsumieren. Der Zweckbegriff ist nichts als ein irreführender Gedanke: er ist »sinnlos«. 176
Während in diesen beiden Linien immerhin noch inhaltlich gegen das teleologische Denken argumentiert wird, deutet sich in der »nominalistischen Preisgabe des Erkenntnisanspruchs unserer Begriffe« 177 der Übergang zu einer praktischen Argumentation an. Wenn die Theorie ihren Wahrheitsbezug verliert, wird sie »zu einem Instrument der Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam, 237. 172 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 82. 173 Ebd. 174 Ebd. 83. 175 Ebd. 176 Ebd. 177 Ebd. 83–84. 171
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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
Naturbeherrschung« 178. Da von diesem Interesse unabhängige Zwecke der Natur der Naturbeherrschung nur hinderlich sein könnten, ergibt sich ein alle Theorie hinter sich lassendes praktisches Argument für die Entteleologisierung, das Thomas Hobbes »paradigmatisch formuliert« hat: »eine Sache kennen heißt: ›imagine what we can do with it when we have it‹« 179. Dieser Übergang von der theoretischen zur praktischen Argumentation wird von Spaemann und Löw als prinzipieller Umschwung im Übergang zum neuzeitlichen Denken begriffen. Während die »klassische Naturbetrachtung […] die Natur als Mit-Sein, als einen symbiotischen Zusammenhang natürlicher Wesen einschließlich des Menschen« 180 interpretierte, entsteht in der Neuzeit eine »Maschinentheorie der Welt« 181, wonach diese ein beliebig manipulierbarer Mechanismus ohne jedes Eigeninteresse ist, dem der Mensch »als ihr denkender Beherrscher […] radikal und unvermittelt« 182 gegenübertritt. Der »Erkenntniswille des neuzeitlichen Menschen hat zwei Ziele: progressive Naturbeherrschung und Gewißheit« 183, wobei die Gewissheit der »Stabilisierung des Herrschaftssubjektes selbst« 184 dient. Mit Descartes und Hobbes werden noch einmal »zwei Varianten des Verhältnisses Mensch-Natur« 185 unterschieden. »Bei Descartes tritt der denkende Mensch, das reine Bewußtsein, res cogitans, der Natur, die nichts als Ausdehnung, res extensa ist, gegenüber« 186; für Descartes verfolgt der Mensch also zumindest Zwecke. »Bei Hobbes hingegen ist der Mensch Teil einer nicht-teleologischen Natur« 187, so dass auch seine Handlungen »nicht mehr teleologisch interpretiert zu werden« 188 brauchen, was darauf hinausläuft, »die res cogitans selbst noch einmal, denkend, auf die
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 84. Ebd. – Hierbei handelt es sich um ein weiteres Zitat, das fortan leitmotivisch in den Texten Spaemanns zitiert werden wird. – Spaemann/Löw verweisen auf folgende Quelle: Th. Hobbes: Leviathan; in: English Works (ed. Molesworth, Bd. III, London 1889, S. 13. – Ebd. 268. 180 Ebd. 181 Ebd. 182 Ebd. 85. 183 Ebd. 86. 184 Ebd. 88. 185 Ebd. 87. 186 Ebd. 187 Ebd. 188 Ebd. 178 179
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res extensa« 189 zurückzuführen. Die »kausalmechanische Interpretation« 190 wird so zu einem universalen Erklärungsmodell, das sich jedoch nicht ohne Verzögerungen durchsetzen konnte: »Das Programm der nicht-finalen Naturinterpretation konnte zunächst nur Programm bleiben 191; die Teleologie wurde nicht sofort eliminiert, sondern verwandelt, ein Vorgang, der uns in Gestalt einer Inversion entgegentritt.« 192 An dieser Stelle nehmen Spaemann und Löw die These von der Inversion der Teleologie auf, die jener in der Dissertation über Bonald und in den Studien über Fénelon entwickelt hatte. Wie die Darstellung teleologischer Grundgedanken von Platon bis Thomas von Aquin gezeigt hat, verstand die »klassische Teleologie […] das Streben alles Endlichen letztlich als ein sich selbst transzendierendes Streben nach Teilhabe am Ewigen, Nicht-Endlichen« 193. Dabei kam dem Menschen eine besondere Bedeutung zu, da nur er »sich erkennend auf das Absolute als es selbst beziehen« 194 kann. […] das höchste Ziel ist für die natürlichen Wesen die Darstellung der göttlichen Vollkommenheit, für die Vernünftigen darüber hinaus deren Betrachtung. Die Inversion der Teleologie besteht darin, daß die Struktur der Selbsttranszendenz auf die Endlichkeit zurückgebogen wird, wodurch die Selbsterhaltung gleichzeitig als einzig mögliches telos übrigbleibt. 195
Als Begründer dieser Inversion nennen Spaemann und Löw Campanella (1568–1639) und Telesio (1508–1588), bei denen der Gedanke der Teilhabe so umgebogen wird, dass der Mensch Gott liebt, »weil
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 87. Ebd. 88. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Auch kausalmechanische Betrachtungsweise ist Interpretation, auch wenn dies gerne verschleiert wird […].« – Ebd. 269. 191 Vgl. die Anmerkung von Spaemann und Löw: »Die Naturwissenschaft befand sich erst in ihren Anfangsgründen, und Bacons konkrete Interpretationen in der Naturphilosophie waren so katastrophal, daß die Zeitgenossen davor warnten; vgl. A. C. Crombie: Von Augustinus bis Galilei (dt. Köln 1964, S. 524 f.).« – Ebd. 269. 192 Ebd. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Ebd. – Eduard Zwierlein spricht in diesem Zusammenhang vom »deifizierte[n] humane[n] Selbsterhaltungsabsolutum«. – Zwierlein, Das höchste Paradigma des Seienden, 119. 189 190
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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
dieser die Bedingung seiner Erhaltung ist« 196. Der Gedanke der Selbsterhaltung wird zu einem »systematischen« heuristischen Prinzip, das nicht nur nachträgliche Interpretation, sondern funktionale Ableitung bzw. Konstruktion oder Rekonstruktion gestattet. Solche Rekonstruktion geschieht zunächst nicht in der Naturwissenschaft, die noch nicht weit genug fortgeschritten ist. […] Die Diskussion entsteht zunächst in Politik, Theologie und Ethik. 197
In diesem Zusammenhang beziehen Spaemann und Löw sich auf Spinoza (1632–1677) und die beiden Schlüsselzitate aus seiner »Ethik«, auf die hier zum ersten Mal im Kontext der Studie über Bonald hingewiesen wurde: 198 Vollkommenheit bedeutet imstande sein, sich im Sein zu erhalten: Per realitatem et perfectionem idem intellego.199 Alle Tätigkeit hat zum alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin ist; alles Seiende ist nur durch diese Tätigkeit definiert: Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam. 200 Das Wesen alles Seienden besteht in nichts außerhalb des Strebens nach Selbsterhaltung. 201
Die Erhaltungsontologie, die im Denken Spinozas ihren paradigmatischen Ausdruck fand, muss als die philosophische Voraussetzung verstanden werden für den »Versuch, Teleologie durch teleonomische Rekonstruktion zu destruieren« 202: Es zeigt sich nämlich, daß die Form, die die Teleologie seit der frühen Neuzeit angenommen hat, tatsächlich destruierbar ist, die Form der »invertierten«, das heißt der auf Selbsterhaltung reduzierten TeleoloSpaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 89. Ebd. 198 Vgl. Abschnitt 3.2.3, Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit, 112, u. Fn. 44, u. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 122–123, u. Fn. 85. 199 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »›Unter Realitität und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe.‹ Ethica II, Def. 6.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 269. 200 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »›Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen des Dinges selbst.‹ Ethica III, Prop. 7. Beide Übersetzungen von B. Auerbach in der Ausgabe von A. Buchenau (Berlin 1911).« – Ebd. 269. 201 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 91. 202 Ebd. 241. 196 197
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gie. Wenn jenes nach seiner Erhaltung strebende Selbst nichts ist als eben dieses Streben nach seiner Erhaltung, wenn der Satz des Spinoza gilt: conatus sese conservandi est essentia rerum, dann läßt sich diese Form von Teleologie in der Tat systemtheoretisch einholen und »teleonomisch« rekonstruieren. […] Wenn der Sinn des Daseins nur in seiner Erhaltung liegt, dann ist das gleichbedeutend mit der These, daß es einen solchen Sinn nicht gibt. Und wenn das Wesen des Selbst nur in seinem Selbsterhaltungsstreben liegt, dann ist das gleichbedeutend mit der These, daß es das Selbst nicht gibt, daß es überhaupt nicht etwas als »es selbst« gibt. 203
Die Invertierung der Teleologie erscheint so als notwendiges Zwischenstadium, gewissermaßen als Vehikel der Entteleologisierung. Durch die mit der Invertierung verbundene Kappung aller transzendenten Bezüge teleologisch verfasster Wesen eröffnet sich die Möglichkeit ihrer Deutung als geschlossene Systeme. Um von diesem »programmatischen Antiteleologismus der Frühneuzeit« 204 zur universalen, auf dem Prinzip der Selbsterhaltung aufbauenden kausalmechanischen Naturinterpretation zu gelangen, bedarf es des Sprungs in das 19. Jahrhundert. Was der universalen kausalmechanischen Naturerklärung bis ins 19. Jahrhundert im Wege stand, war das Problem der Lebenserscheinungen von Organismen, da »jeder Versuch einer a- oder gar antiteleologischen Biologie schon nach einer kurzen Argumentationsstrecke in den Bereich des Absurden geraten« 205 war. Erst im 19. Jahrhundert wurde mit der Selektion ein Prinzip gefunden, »nach welchem generell jede Lebenserscheinung auf nicht-teleologische Ursachen zurückgeführt werden konnte« 206. »Die Anwendung des Selektionsprinzips in der Biologie – es entstammte der englischen Sozialökonomie des auslaufenden 18. Jahrhunderts – ist mit dem Namen Charles Darwin (1813–1882) untrennbar verbunden.« 207 Es ist nun zu fragen, welche Bedeutung der Darwinismus für das teleologische Denken hat bzw. auf welche Weise dieser beansprucht, Teleologie aus der Naturbetrachtung eliminiert zu haben. Unter Darwinismus versteht man die »Theorie, durch welche die Evolution auf natürliche Auslese erblicher Varianten zurückgeführt 203 204 205 206 207
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 241. Ebd. 90. Ebd. 177. Ebd. Ebd.
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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
wird« 208, wobei das »die natürliche Auslese beherrschende Prinzip […] der ›Kampf ums Dasein‹« 209 darstellt: »Diesen überstehen nur solche Organismen, die sich in ihren Eigenschaften an die Umweltkräfte angepaßt haben (›survival of the fittest‹).« 210 Die häufig anzutreffenden teleologischen Sprechweisen dem Darwinismus zum Vorwurf zu machen, wäre nicht gerechtfertigt, da es sich hierbei stets um »Zweckmäßigkeiten ohne Zweck« 211 handelt. Im Selektionsprozess hat eben immer nur das Zweckmäßige überlebt: »Wir sehen nur die wenigen ›Treffer‹ der Evolution, nicht die Nieten.« 212 Aber auch rein terminologisch wurde hier eine Klärung herbeigeführt: »Um aber jede Verwechslung auszuschließen, wurde der 1958 von Pittendrigh eingeführte Terminus ›Teleonomie‹ für den ganzen Bereich scheinbar zweckgerichteter Phänomene in der organischen Natur im darauffolgenden Jahrzehnt allgemein von Biologen akzeptiert.« 213 Dem umgekehrten Argument, dass der Aufweis von etwas Zwecklosem in der Natur der darwinistischen Theorie widerspreche, entgegnete man mit der »Theorie der intraspezifischen Selektion« 214. Doch die »Idee der Entwicklung nach darwinschen Prinzipien« 215 setzte sich nicht nur in der Biologie vorbehaltslos durch, sondern wirkte auch auf »Nationalökonomie, Politik, Ethik, Geschichtswissenschaft und Soziologie« 216. Dabei kommt dem Übergang von den Natur- zu den Humanwissenschaften noch einmal besondere Bedeutung zu: »Mit der Einbeziehung des Menschen in die Naturwissenschaft als Produkt der Evolution eröffnete sich nämlich augenblicklich und sofort sichtbar die prinzipielle Möglichkeit, die Human- oder Geisteswissenschaften selbst in exakte Naturwissenschaften (eines fernen Tages) überzuführen.« 217 Der Zielpunkt dieser Entwicklung lässt sich mit dem Begriff Monismus fassen, für den vor allen Dingen
208 Rensch, Darwinismus, in: HWPh II, col. 14. – Der Autor verweist in der Anmerkung auf: Ch. Darwin: On the origin of species (London 1859); A. R. Wallace: Darwinism (New York 21890). – Ebd. 15. 209 Ebd. 210 Ebd. 211 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 181. 212 Ebd. 213 Ebd. 182. 214 Ebd. 183. 215 Ebd. 184. 216 Ebd. 217 Ebd. 184–185.
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Ernst Heinrich Haeckel 218 steht, der mit seinen vier Grundthesen 219 eine materialistische »Vernunftreligion« 220 begründet zu haben glaubte. 221 Der naturwissenschaftliche Monismus hat sich im 20. Jahrhundert als universales Erklärungsmodell bis hinein in das Alltagsbewusstsein etabliert: Das naturwissenschaftliche Bild der Wirklichkeit ist heute von einer nie zuvor erreichten, großartigen Einheitlichkeit. Die Genetisierung der Natur, ihre Projektion auf die seit dem Urknall verstrichene Zeit erfaßt sämtliche Phänomene der Wirklichkeit, weit über die organische Evolution hinaus, und lokalisiert sie an einer bestimmten Stelle der Zeitgerade in ihrem Auftreten. 222
Eine besondere Herausforderung stellen für das monistische Weltbild die Übergangsfragen dar, die sich auf die Entstehung von Neuem – des Kosmos, des Lebens und des Menschen – beziehen. Von unmittelbarer philosophischer Bedeutung sind vor allen Dingen die in der Naturwissenschaft vorgeschlagenen Lösungen zur letzten dieser Übergangsfragen, die sich noch einmal logisch differenzieren lässt in die »Evolution des Geistigen (auch: Sprache, Bewußtsein)« und die »Evolution des Sittlichen (auch: Kultur, Wirtschaft)« 223. Die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins wird in einem Teilgebiet der Evolutionstheorie beantwortet, der sogenannten evolutionären Erkenntnistheorie. […] Demgemäß stammen die apriorischen Anschauungs- und Denkformen Kants aus der Evolution. Sie passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in der Anpassung auf 218 Vgl.: »Ernst Haeckel (1834–1919) und viele andere haben eine solche orthogenetische Entwicklungstheorie als Darwinismus ausgegeben und für ihre Verbreitung gesorgt. Sie hat vor allem deshalb so begeistert Zuspruch gefunden, weil sie genau das bietet, was man noch immer von der Naturbetrachtung erwartet: klare Entwicklungslinien im großen, die uns zeigen, welchem Ziel unsere Welt zustrebt, und die uns das Recht geben, sie auch anderswo zu suchen oder zu fordern. Doch gerade dafür kann die Theorie Darwins überhaupt keine Hilfestellung bieten.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das Ende des teleologischen Weltbildes, 186. 219 Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 186. 220 Ebd. 187. 221 Vgl.: »Grundsätzlich gilt also nach dem Zusammenbruch der natürlichen Teleologie das folgende Programm: Wo Natur war, soll Vernunft (oder Plan, Intervention, Technik, Wille) sein. Der ›Mensch‹ tritt in die freigewordene Stelle ein, die einst ›Gott‹ besetzt hatte.« – Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, 195. 222 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 189. 223 Ebd. 191.
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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
sie herausgebildet haben; dies gilt für die Anschauungsformen genauso wie für die logischen Kategorien. 224
Die »Revolution der Denkart« 225, die Kant mit seinem transzendentalphilosophischen Ansatz durchführte, um Erkenntnis a priori zu ermöglichen, wird damit selbst zum Moment einer aposteriorisch verfahrenden Naturwissenschaft. 226 Eine analoge naturwissenschaftliche Aufhebung erfährt auch das Phänomen des Sittlichen durch die Soziobiologie: Der Ursprung der menschlichen Moralität ist Teilgebiet einer Wissenschaft vom tierischen Sozialverhalten geworden, der sogenannten Soziobiologie. Alle Antworten auf die Frage: »Was ist der Mensch?«, welche aus der Zeit vor 1859 gegeben wurden (»Origin of Species«), kann man prinzipiell ignorieren (G. Simpson), da die Wurzel jedes menschlichen Verhaltens im Evolutionsprozeß liegt und die Qualifikation vom Verhalten als moralisch oder unmoralisch selbst keine andere Funktion hat als die Selektionsfunktion von Gruppen zu erhöhen (E. O. Wilson).227
Verbleibende Erklärungsschwierigkeiten bei der plötzlichen Entstehung von Neuem in der Evolution versuchte K. Lorenz durch die »Fulgurationstheorie« auszuräumen: Wenn z. B. zwei voneinander unabhängige Systeme zusammengeschaltet werden […], so entstehen schlagartig völlig neue Systemeigenschaften, die vorher nicht, und zwar auch nicht in Andeutungen vorhanden gewesen waren. Genau dies ist der tiefe Wahrheitsgehalt des mystisch klingenden, aber durchaus richtigen Satzes der Gestaltpsychologen: »Das Ganze ist mehr als seine Teile.« 228 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 193. Vgl. Kant, KrV, Vorrede 2. Aufl. 226 Vgl.: »Die ›Brillen‹ unserer Denk- und Anschauungsformen, wie Kausalität, Substantialität, Raum und Zeit, sind Funktionen einer neurosensorischen Organisation, die im Dienste der Arterhaltung entstanden ist. Durch diese Brillen sehen wir also nicht, wie die transzendentalen Idealisten annehmen, eine unvoraussagbare Verzerrung des An-sich-Seienden, die in keiner noch so vagen Analogie, in keinem ›Bildverhältnis‹ zur Wirklichkeit steht, sondern ein wirkliches Bild derselben, allerdings eines, das in kraß utilitaristischer Weise vereinfacht ist: Wir haben nur für jene Seiten des An-sich-Bestehenden ein ›Organ‹ entwickelt, auf die in arterhaltend zweckmäßiger Weise Bezug zu nehmen für unsere Art so lebenswichtig war, daß ein ausreichender Selektionsdruck die Ausbildung dieses speziellen Apparates der Erkenntnis bewirkte.« – Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, 17. 227 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 194. 228 Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, 48. – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele 224 225
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In dieser entteleologisierten Natursicht herrscht prinzipiell »›Teleomatie‹ : automatisches Erreichen von Endzuständen kraft Naturgesetzlichkeit«; im »Bereich des nicht-menschlichen Organischen herrscht ›Teleonomie‹, die Zweckmäßigkeit ohne Zweck« 229. Allein im Bereich menschlichen Handelns bleibt ein Rest von Teleologie übrig, aber auch dies nur scheinbar: auch hier ist das Sprechen von »Zwecken« im wesentlichen eine abkürzende Sprechweise einerseits und das Eingeständnis andererseits, daß unsere Neurophysiologie und vergleichende Humanethologie/ Soziobiologie noch nicht ausreichen, um auch zeitvorläufige »Handlungszwecke« auf Systemkausalität zurückzuführen. Auch das menschliche Handeln unter sittlichen Aspekten wird sich prinzipiell auf teleonomische Strukturen zurückführen lassen, ebenso wie diese über das Evolutionsgeschehen letztlich nur durch ihre Komplexität von teleomatischen Vorgängen »willkürlich« und zur übersichtlichen Gliederung abgegrenzt werden. 230
Damit ist nun die Grundlage geschaffen, um im Folgenden zur Kritik Spaemanns und Löws am hier knapp dargestellten Antiteleologismus überzugehen.
5.2.5
Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
Die Kritik Spaemanns und Löws am Evolutionsprogramm lässt sich unterteilen in eine innerbiologische und eine philosophische. Im Kontext der innerbiologischen Kritik benennen sie zwei problematische »Charakteristika des Darwinismus« 231. Die für den Darwinismus grundlegende Verbindung zwischen dem Selektionsprinzip und der These vom Artenwandel, die bis zu Darwin als eine »wesentliche Idee der romantischen Naturphilosophie« 232 aus der Naturwissenschaft verbannt war 233, zeigt nach Spaemann und Löw, dass die Durchset(1981; 2005), 195, sowie die Anmerkung von Spaemann und Löw: »Es soll wohl heißen, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.« – Ebd. 291. 229 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 196. 230 Ebd. 231 Ebd. 199. 232 Ebd. 178. 233 Vgl.: »Der berühmte Arzt Rudolf Virchow schreibt 1856: ›Der Artenwandel ist eine unbewiesene Idee der Naturphilosophie; der wahre Naturforscher betrachtet sie
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5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
zung von Darwins Theorie gegen einen bis dahin bestehenden wissenschaftlichen Konsens ein »Musterbeispiel einer Kuhnschen Revolution« 234 darstellt. »Darwin erklärte den Artenwandel (›Variabilität‹) für ein Faktum« 235 und die »Evidenz seiner Theorie erfuhr nach 1859 mannigfache Bestätigung« 236, durch die sie allmählich in ein Dogma verwandelt wurde: Bis etwa 1930 währte noch ein Kampf gegen die Evolutionstheorie mit wissenschaftlichen Argumenten. Durch Einbeziehung der Evolutionsfaktoren: Populationswellen, »ökologische Nischen«, Isolation erreichte die Evolutionstheorie einen solchen Status, daß antievolutionistische Argumente heutzutage per definitionem unwissenschaftlich sind. 237
Neuere Erkenntnisse aus der Biologie, die nicht der mit dem Evolutionsprogramm verbundenen Erwartungshaltung entsprechen, werden nicht im mindesten als Argumente gegen den Darwinismus verstanden: Der Darwinismus ist daher »nicht eine zur Überprüfung anstehende Hypothese, sondern ein wissenschaftliches Paradigma im Sinne von Thomas Kuhn« 238. Das zweite Charakteristikum besteht darin, dass die »Stammbäume, Zwischenformen, Ahnenreihen« des Darwinismus, die mit dem Anspruch einer empirisch nachweisbaren Beschreibung und Erklärung von Naturzusammenhängen vorgetragen werden, »logische Gebilde« sind: »Sie sind ersonnen und erschlossen aufgrund bestimmter Indizien; ihr oberstes logisches Konstruktionsprinzip aber ist der Darwinismus. Stammbäume sind Argumentationsschemata (W. Hennig).« 239 Es liegt daher im Darwinismus eine gewisse »Zirkularität der Beweisführung« vor: »Der Tüchtigste überlebt, heißt es – aber der Tüchtigste wozu? Zum Übermit Skepsis‹ ; und 1877, rückblickend, findet man bei ihm, daß es ›schon etwas überraschend war, wie das Genie eines einzelnen Mannes [Darwins] eine Idee, die schon in der Naturphilosophie den Status einer apriori-Notwendigkeit hatte und lange, und nicht ganz ungerechtfertigt, verbannt gewesen war, nicht nur wieder eingesetzt hat, sondern aus ihr die Basis einer allgemeinen Theorie der Geschichte der organischen Welt gemacht hat‹.« – Löw, Herder und die Evolution, in: Ders. (Hrsg.), ΟΙΚΕΙΩΣΙΣ. Festschrift für Robert Spaemann, 140. 234 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 178. 235 Ebd. 236 Ebd. 180. 237 Ebd. 238 Ebd. 199. 239 Ebd.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
leben!« 240 Wissenschaftstheoretisch baut er auf einer petitio principii auf: »Die ›Beweise‹ der Evolutionstheorie setzen deren zentrale Gedankenfigur immer schon voraus.« 241 Dass innerhalb der Biologie dennoch kaum eine Auseinandersetzung über das darwinistische Argumentationsschema stattfindet, zeigt nach Spaemann und Löw, dass man es »vielmehr mit einer dezidierten Wahrheitsüberzeugung zu tun« 242 hat. 243 Im Rahmen der philosophischen Kritik des Evolutionsprogramms widmen Spaemann und Löw besondere Aufmerksamkeit zentralen Begriffen wie »kausale Erklärung«, »System« und »Information« 244 sowie den drei »Wissenschaften vom Übergang (Molekularbiologie, evolutionäre Erkenntnislehre, Soziobiologie)« 245, die beanspruchen, die Entstehung des jeweiligen Neuen – »Leben, Bewußtsein, Sittlichkeit« 246 – erklären zu können. Zunächst sei die kritische Stellungnahme zum wissenschaftlichen Instrument kausaler Erklärung resümiert: »Kausale Erklärungen sind für die antiteleologische Naturwissenschaft die einzig redlichen, ›metaphysikfreien‹
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 199. Ebd. 242 Ebd. 200. 243 Vgl.: »Darwins Evolution ist immer wieder als ein Mechanismus mißverstanden worden, aus dem sich rein naturgesetzlich die orthogenetisch, zielstrebige Höherentwicklung hin zu immer besser angepaßten und vollkommeneren Formen ergeben sollte; und sie wird noch immer so mißverstanden, aus gutem Grund: Das Bedürfnis, in der Natur Sinn und Ziel finden zu wollen, läßt sich nicht ersticken. Wenn teleologische Betrachtungen als schlechthin unwissenschaftlich verpönt werden, so wie es in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschah, dann ist man nur um so glücklicher, statt dessen eine den strengen Maßstäben teleologiefreier Naturwissenschaft genügende Theorie geboten zu bekommen, die dasselbe wie die Teleologie leistet, nämlich in die Natur auf ein bestimmtes Ziel hin ablaufende Prozesse einzuführen. Wenn erst einmal diese Möglichkeit eröffnet ist, läuft alles nach den Mustern teleologischer Argumentation weiter, nur mit dem Unterschied, dass jeder Einwand mit der Bemerkung zurückgewiesen wird, daß es sich hier um alles andere als teleologische Spekulation, sondern um strenge naturwissenschaftlich begründete Erkenntnis handle. Ob der im vorigen Jahrhundert so beliebte Sozialdarwinismus, ob die heute zu einer Modetorheit ausufernde evolutionäre Erkenntnistheorie: sie alle haben nichts mit Darwins Lehre zu tun und alles mit einer unkritischen Teleologie, deren Kritik längst gegeben und wieder vergessen wurde.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das Ende des telelogischen Weltbildes, 186–187. 244 Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 200–209. 245 Ebd. 211. 246 Ebd. 240 241
254 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
Erklärungen« 247. Mit der Universalisierung kausaler »Erklärung im Sinne des Hempel-Oppenheim-Schemas« 248 ist der Anspruch verbunden, das philosophische Nachdenken über Kausalität selbst noch einmal begründen zu können: Kants Kausalitätstheorie ist ein A priori der Erfahrung für das Individuum, gleichzeitig aber ein A posteriori der menschlichen Stammesentwicklung. Das Kausalprinzip, in Vorformen bei Affen durchaus entwickelt, hat sich im Laufe der Evolution im Gehirn des Menschen eingebürgert, weil es im Umgang mit der Welt einen Selektionsvorteil bot. 249
Gegen diese Thesen tragen Spaemann und Löw zwei wesentliche Einwände vor: Diese »Anpassungstheorie« 250 erfordert erstens, dass das »Kausalprinzip, welches apriorische Kategorie unseres Denkens sein soll, […] schon irgendwie in der Natur vorhanden sein« muss, »wenn nicht als Denk-, so doch als Seinsform« 251, so dass diese Theorie ein »theoretisch naiver Zwitter zwischen Transzendentalphilosophie und ›realistischer‹ Ontologie bzw. Erkenntnistheorie« 252 ist. Zweitens erfolgt der Hinweis auf die »wissenschaftstheoretische Entdeckung, daß Kausalität gar nicht ohne ein teleologisches Moment gedacht werden kann« 253: Was heißt es denn: zu einem Vorgang eine kausale Erklärung geben? Es heißt zunächst einmal, aus dem Gesamtzusammenhang der Natur einen Ausschnitt machen, indem ein Ereignis B als Explanandum isoliert wird. B bildet das Ende des Ausschnitts. Wir fragen nach den Bedingungen A des Zustandekommens von B und konstatieren eine gesetzmäßige Verknüpfung dieser Bedingungen mit dem Ereignis. Ohne das Setzen eines B als Endzustand gibt es keine kausalen Erklärungen. […] Jede Isolierung eines Ereignisses, das mit irgendwelchen anderen in einem gesetzmäßigen Zusammenhang steht, setzt bereits ein dieses Ereignis beobachtendes Subjekt voraus […]. 254
247 248 249 250 251 252 253 254
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 200. Ebd. Ebd. 201. Ebd. 202. Ebd. 201. Ebd. 202. Ebd. Ebd.
255 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Die kausale Erklärung eines Vorgangs impliziert also, dass er »vorher in einen Handlungszusammenhang integriert wurde. Mechanische Interpretation ist grundsätzlich nur möglich unter der Voraussetzung eines umgreifenden Lebenszusammenhanges.« 255 Die Einbettung kausaler Erklärungen in Handlungszusammenhänge zeigt nach Spaemann und Löw, dass »die Alternative ›redliche, metaphysikfreie Kausalerklärung‹ vs. ›erdichtet-idealistische Finalerklärung‹ unredlich ist« 256. Die naturwissenschaftlichen Erklärungsschemata sind nur scheinbar metaphysikfrei: »der hinter der These des universalen Kausalnexus stehende Materialismus ist nicht ein Gegensatz zur Metaphysik, sondern selbst Metaphysik« 257. Spaemann und Löw zeigen darüber hinaus, dass Versuche im Rahmen der Naturwissenschaften, sich dieser metaphysischen Lasten zu entledigen, etwa durch Aufgabe des Begriffs kausaler Erklärung zugunsten statistischer Gesetze letztlich zu einer analogen Problematisierung der Begriffe »Gesetz«, »Ereignis«, »Antecedentien« 258 führen, so dass die Konsequenzen dieser Versuche zur Infragestellung der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt führen: »es folgt […], daß die Frage nach dem Warum eines Ereignisses schon deswegen unstatthaft ist, weil ein Ereignis aus einem Fluß herauspräpariert wurde und dieses Isolieren selbst schon den Grund für die Nichtbeantwortbarkeit der Frage enthält.« 259 Der Rückzug der Naturwissenschaften auf »kausalgesetzlich erklärbares Geschehen«, das scheinbar »theoretisch nicht widerlegt werden« kann, geht also letztlich damit einher, dass ihre Vertreter »auch keinen Wahrheitsanspruch mehr verteidigen« 260 können. Die Begriffe »System« und »Information« sind für die »Teleologiediskussion von höchster Bedeutung, weil mit ihrer Hilfe die Genesis teleonomischer Strukturen im Verlauf der Evolutionstheorie auf molekularer Ebene nachgezeichnet wurde« 261. Mit ihnen verbindet sich also der naturwissenschaftliche Anspruch, die Entstehung von Leben rekonstruieren zu können: »Leben wird als ›informations-
255 256 257 258 259 260 261
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 203. Ebd. Ebd. 203–204. Ebd. 205. Ebd. 206. Ebd. 241. Ebd. 206.
256 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
gewinnender Vorgang‹ 262 beschrieben, und es sind ›Systeme‹, welchen man die Eigenschaft ›lebendig‹ nachsagt.« 263 Die Untersuchung der beiden Begriffe durch Spaemann und Löw führt dabei jeweils zu dem analogen Ergebnis, dass sie nicht unabhängig von einem menschlichen Subjekt gedacht werden können: Wenn der Thermostat die Temperatur in einem Raum konstant hält, so nicht deswegen, weil ihm kalt wird, sondern wir haben eine bestimmte Temperatur eingestellt an diesem von uns konstruierten Mechanismus. […] daß die nach einer Außentemperaturveränderung und einem Abfallen der Innentemperatur wiederhergestellte Innentemperatur die gleiche ist wie vorher, das ist etwas, was nur der Interpret des Mechanismus wahrnimmt und nicht der Thermostat! 264
Voraussetzung für die »Qualifikation auch nur des einfachsten Systems als System« ist »menschlich-bewußtes Leben«, denn nur dieses ist fähig, die »Gleichheit von Zuständen« 265, allgemein Identität, wahrzunehmen: Mechanismen sind gleichgültig gegen Identität und Nicht-Identität, denn zur Bestimmung von Identität gehört Negativität, gehört das Bewußtsein möglichen Andersseins. Arrangements von Materie als System zu interpretieren ist nur möglich unter Voraussetzung eines Bewußtseins von Identität. Der Systemcharakter eines Systems ist eine Interpretation eines Arrangements durch Menschen. 266
Auch die Ersetzung des Systembegriffs durch den des Programms führt über diese Problematik nicht hinaus. Wenn ›Programm‹ verstanden wird als »kodierte oder im voraus angeordnete Information, die einen Vorgang … so steuert, daß er zu einem vorgegebenen Ende führt« 267, so gelangt man entweder zur aristotelischen Teleologie zurück oder die durch das Wirken eines Programms geprägten teleonomischen Vorgänge werden auf Teleomatie – also auf »automatisches
262 Spaemann/Löw verweisen in einer Anmerkung auf: Lorenz (1973), Vollmer (1975), Riedl (1976, 1979). – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 293. 263 Ebd. 264 Ebd. 207–208. 265 Ebd. 208. 266 Ebd. 267 Ebd. – Spaemann/Löw zitieren hier einen »der glänzendsten gegenwärtigen Evolutionstheoretiker und zugleich Historiker der Biologie« – ebd. 179 –, Ernst Mayr, und verweisen auf folgende Quelle: »Evolution und die Vielfalt des Lebens« (Berlin 1979), S. 213. – Vgl. ebd. 294 u. 302.
257 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Erreichen von Endzuständen kraft Naturgesetzlichkeit« 268 – zurückgeführt. Die zweite Deutung dieser Vorgänge setzt aber ein abstraktes Subjekt der Wissenschaft voraus, da der »Begriff Information ohne ein Subjekt der Information überhaupt keinen Sinn ergibt« 269: Von Informationen auch nur zu sprechen heißt: genau jenem sogenannten »Essentialismus« Platons und Hegels zu »verfallen«, der bei allen Evolutionstheoretikern so unverstanden angegriffen wird. Denn die Information strukturiert die Materie entweder so wie das eidos die hyle (…), oder es ist sinnlos, überhaupt von Information zu sprechen. Die Teleonomie hat nur die Option, zur Teleologie oder Teleomatie zu werden. 270
Die Pointe der Argumentation Spaemanns und Löws im Hinblick auf die »Begriffe ›System‹, ›Information‹, ›Programm‹« 271, die nur scheinbar »eine ›metaphysikfreie‹ Erklärung des Lebendigen« 272 leisten, besteht darin, dass der Versuch einer naturwissenschaftlichen Rekonstruktion von Leben sich am Modell von Menschen gemachter Mechanismen orientiert, dabei von diesem Gemachtsein abstrahiert, ohne doch die Bewusstseinsabhängigkeit der verwendeten Begriffe überwinden zu können. 273 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 196. Ebd. 208. 270 Ebd. 208–209. 271 Ebd. 209. 272 Ebd. 273 Es ist bemerkenswert, dass Spaemann und Löw hier die unaufhebbare Bezogenheit zentraler Begriffe wie System und Information auf das menschliche Bewusstsein gegen die Naturwissenschaft akzentuieren, obwohl sie doch zuvor im Zusammenhang mit Thomas auf die Problematik der Verbindung von Naturteleologie und Bewusstsein ausdrücklich hingewiesen haben. Negativität, deren Bedeutung Spaemann und Löw ausdrücklich hervorheben, wird hier ausschließlich mit menschlich-bewusstem Leben in Zusammenhang gebracht. Im Sinne des von ihnen selbst verfolgten Projekts einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens wäre aber gerade der Nachweis von Negativität auch auf der Ebene nicht bewussten Lebens von entscheidender Bedeutung. Es würde dabei um den Nachweis gehen, dass auch nicht-menschliche Lebewesen im Unterschied zu Mechanismen nicht gleichgültig sind gegen Identität und Nicht-Identität. Ein solcher expliziter Nachweis fehlt in »Natürliche Ziele« noch, er taucht bei Spaemann zum ersten Mal auf in dem 1984 erschienen Aufsatz »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie?«, in dem Spaemann im Abschnitt »Die Unableitbarkeit der Negativität« drei Stufen der Negativität unterscheidet: 1. »Schmerz«, 2. »Andersheit«, »Nicht-ich«, 3. »der Gedanke des Absoluten«. – Vgl. Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 198. – Die dort genannte erste Stufe bezeichnet die Erscheinungsweise von Negativität auf einer präreflexiven Ebene, die für 268 269
258 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit stellen als Erscheinungsweisen des Neuen Herausforderungen für das Evolutions-Programm dar, denen es durch die wissenschaftlichen Disziplinen der Molekularbiologie, der evolutionären Erkenntnislehre und der Soziobiologie begegnete. Spaemann und Löw vertreten die Ansicht, »daß alle drei Übergänge durch wohlverborgene Argumentationszirkel erschlichen sind« 274. Beim Begriff des Lebens ist der Ausgangspunkt dieses Argumentationszirkels eine dem jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstand so angepasste Definition von Leben, durch die die Biologie zu einer »Wissenschaft von den lebendigen Gegenständen wird, insoweit diese nicht ›leben‹« 275. Das heißt, es wird jeweils ein wissenschaftlich rekonstruierbarer Begriff des Lebens vorausgesetzt, dessen Entstehung dann erklärt wird. Auf diese Weise können freilich nur »conditiones sine quibus non, notwendige Bedingungen für Leben« 276 ermittelt werden, aber kein adäquater Begriff des Lebens: »Verständnis des Lebens kann nur den umgekehrten Weg gehen: das einzig sichere Kriterium für Leben ist unser Selbstvollzug des Lebens, und Analogien dieses so in seiner Fülle erfahrenen Lebens schreiben wir anderen Wesen zu […].« 277 Beim Begriff des Bewusstseins verfährt man analog, indem man »Erkennen als Außenweltsimulation oder -registierung definiert« und damit den »entscheidenden Aspekt: den der Subjektivität« 278 im Voraus aus der Definition herauskürzt, um dann in einem Abstraktionsgang »das Vorausgesetzte hinterher als Produkt solcher Abstraktionen« 279 zu erklären. Die Soziobiologie schließlich löst das Problem des Verhältnisses von Genesis – kausale Erklärung des Entstehens – und Geltung – von der Entstehung emanzipiertes Selbstsein – im Bereich des Sittlichen dadurch, dass »das Gelten selbst genetisiert« 280 wird, was bedeutet, dass es »kein Sollen« 281 mehr gibt, sondern dieses bloß Ergebnis einer »Welt der reinen
die Weiterentwicklung der antireduktionistischen Argumentation Spaemanns im Weiteren von größter Bedeutung sein wird. – Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 382. 274 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 211. 275 Ebd. 212. 276 Ebd. 277 Ebd. 278 Ebd. 213. 279 Ebd. 280 Ebd. 214. 281 Ebd. 215.
259 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Faktizität« 282 ist, in der bestimmte Verhaltensweisen einen »Selektionsvorteil« 283 bieten. Es bedarf nach dieser Logik keinerlei Ethik mehr, da sie eine evolutionär erklärbare Selbstverständlichkeit ist, durch die der Mensch sich im Kampf ums Dasein durchgesetzt hat. Für das Evolutionsprogramm zeigt sich erneut der Zirkel. Von aus der Selbsterfahrung gewonnenen Voraussetzungen her werden Abstraktionen anthropomorph ins Tierreich übertragen, und danach rekonstruiert man sich selbst aus diesen Abstraktionen mit Hilfe von Selektionstheorien, und das heißt: der Mensch entlarvt sich selbst als Anthropomorphismus. 284
Die Selbstentlarvung als Anthropomorphismus bedeutet die Aufspaltung des Menschen in seinem Selbstverständnis in ein naturwissenschaftlich erklärbares Wesen, von dem er sich entfremdet hat, auf der einen, und in ein reines Wissenschaftssubjekt, das dies durchschaut, auf der anderen Seite. Die Erklärung des Neuen in den drei Übergangswissenschaften erfolgt also durch petitiones principii, durch Zirkelschlüsse. Einen alternativen Versuch stellt die auf Konrad Lorenz zurückgehende Fulgurationstheorie dar. Fulgurationen bezeichnen nicht vorhersehbare Sprünge in komplexen Systemen, durch die nicht zuletzt das »Auftreten von Sinn und Sinngebilden« 285 rekonstruiert werden soll. Diese Fulgurationen sind jedoch nach Spaemann und Löw »mit dem Evolutionsprogramm inkompatibel« 286, da durch sie die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit der auftretenden Sprünge gerade geleugnet wird. Da die Fulgurationstheorie zudem anthropomorphe Begriffe verwendet, wird sie von Spaemann und Löw gegen den Anspruch der Naturwissenschaft selbst gewandt: Und nun stellen wir die Fulgurationstheorie auf den Kopf: Materie und Spielregeln erklären nicht das Auftreten von neuen Qualitäten, sondern sie stellen Bedingungen dar, unter welchen neue Qualitäten auftreten können. Die Erklärung dieses Neuen kann nicht von Materie und Spielregeln kommen, weil diese ja Abstraktionsprodukte aus dem bereits vorhandenen (in und mit uns) »Neuen« darstellen, wenn
282 283 284 285 286
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 215. Ebd. Ebd. 216. Ebd. 225. Ebd.
260 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
wir den Blick nach rückwärts wenden. Woher das Neue selbst kommt, das kann uns keine Naturwissenschaft lehren. 287
Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist wesentlich »Bedingungsforschung. Sie kennt nur abhängige Variable, also prinzipiell nur Passivität. ›Selbstsein‹ ist ihr von ihrer Fragestellung her grundsätzlich unzugänglich« 288. In den dargestellten drei Übergangswissenschaften ist »der Bedingungscharakter verschleiert: er steckt im jeweiligen Anfang, in der Definition des Explanandums« 289. Die innere Widersprüchlichkeit des Evolutionsprogramms besteht also darin, dass es »extrem metaphysisch« 290 ist, zugleich aber den Anspruch erhebt, metaphysikfreie Erklärung zu bieten. Spaemanns und Löw gelangen so zu der Schlussfolgerung, daß die sogenannte Kausalforschung in den Naturwissenschaften vor dem Dilemma steht, entweder sich als eingeordnet in einen teleologischen Horizont zu verstehen oder sich durch Aufgabe des Ursachenwie des Erklärungsbegriffs ad absurdum zu führen und ins Sinnlose, Unsagbare, Unverständliche zu verschwinden. 291
Die hier knapp dargelegte Kritik des Evolutionsprogramms wurde ihrerseits vorbereitet durch genuin philosophische Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts, denen nun Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.
5.2.6
Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
Aus der Reihe von Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts, deren Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem von Spaemann und Löw untersucht wird, werden hier nur Kant und Nietzsche ausgewählt, da ihr Denken auf sehr unterschiedliche Weise eine mögliche Wiederbelebung des teleologischen Denkens vorbereitet. Dabei mag gerade diese Zusammenstellung zunächst verwundern. Die Beiträge Kants und Nietzsches liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Während Kant aufbauend auf seiner kritischen Philosophie die Frage 287 288 289 290 291
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 229. Ebd. 227. Ebd. 229. Ebd. 226. Ebd. 217.
261 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
der Denkbarkeit von Naturzwecken erörtert und damit die Möglichkeit und die Grenzen teleologischen Denkens thematisiert, überwindet Nietzsche mit dem teleologischen Denken zugleich den Antiteleologismus und führt das philosophische Denken zu einer Grenze, von der aus sich zwar keine direkte Wiederbelebung des teleologischen Denkens ergibt, wohl aber eine rückblickende Reflexion darüber, welche Prämissen die Folgerungen Nietzsches letztlich unausweichlich gemacht haben, woraus sich dann indirekt ein neuer Zugang zur Teleologie ergibt. Das Verhältnis von kausalmechanischer und teleologischer Naturbetrachtung bei Kant Die Betrachtung der Geschichte des teleologischen Denkens führte von den Anfängen bei Platon und Aristoteles über die Ausweitung zur Universalteleologie seit der Spätantike zu seiner Eliminierung in der Neuzeit. Im Werk Kants hebt diese Entwicklung auf einer neuen Ebene noch einmal an: »die Entwicklung der kantischen Argumentation ist um so aufschlußreicher, als sich in ihr die Eigendymamik des Teleologieproblems entwickelt, wie es sich schon in der Antike gezeigt hatte, jetzt aber um die Dimension des Bewußtseins vermehrt.« 292 Insofern »das ursprüngliche Problem der Naturphilosophie darin besteht, das Nebeneinander von zweckmäßigen und nichtzweckmäßigen Erscheinungen in ein und derselben Wirklichkeit zu erklären« 293, läßt sich die Leitfrage der Untersuchung wie folgt formulieren: »warum und wann legt sich eine teleologische Interpretation bei Phänomenen der äußeren Natur nahe« 294? Spaemann und Löw unterscheiden drei Phasen der Entwicklung von Kants Position. Da die Teleologiethematik in der ersten Phase noch keine Rolle spielt, wird im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die zweite und dritte konzentriert. In der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) und den »Metaphysische[n] Anfangsgründen der Naturwissenschaft« (1786) »stellt für Kant die objektive Natur ein System von mathematisch-physikalischen Beziehungen unter allgemeinen Gesetzen dar« 295, weswegen 292 293 294 295
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 105. Ebd. Ebd. Ebd.
262 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
»die teleologische Interpretation aus der Naturwissenschaft fernzuhalten« 296 ist. »Als sich aber die Naturphänomene des Lebendigen für ihn nicht auf die Physik zurückführen ließen, mußte der Naturbegriff so erweitert werden, daß auch diese verständlich wurden.« 297 Dies geschah in der »Kritik der Urteilskraft« (1790), in der »Kant fünf verschiedene Formen von Zweckmäßigkeit« 298 unterscheidet. Für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist die der »NaturZweckmäßigkeit« 299. Für Naturzwecke – »und von Anfang an hat Kant hier die Organismen im Auge« 300 – charakteristisch ist erstens ihre »Zufälligkeit«, wobei ›zufällig‹ »bedeutet, daß wir die Notwendigkeit der Entstehung nicht begreifen können« 301; charakteristisch ist zweitens ihre Bezogenheit auf Vernunft, was bedeutet, dass Naturzwecke nicht aus Naturgesetzen erklärt werden können, sondern »auf den Vernunftbegriff des Zweckes zurückgeführt« 302 werden müssen. 303 Das Kriterium für die Beurteilung eines Dings als Naturzweck ist, dass »es von sich selbst Ursache und Wirkung ist«. 304 Dies muß auf eine dreifache Weise der Fall sein: die Teile des Naturzweckes dürfen nur in bezug auf das Ganze möglich sein, Teil und Ganzes müssen voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung sein, und alle Ursache-Wirkungs-Verhältnisse in diesem »organisierten Produkt« müssen sich auch als Zweck-Mittel-Verhältnisse interpretieren lassen. Die dritte Bedingung ist dabei die zentrale: durch sie unterscheiden sich Organismen von noch so komplizierten Kunstprodukten, denn hier erscheint der Organismus als in sich verschränkte Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 106. Ebd. 107. 298 Ebd. 299 Ebd. 110. 300 Ebd. 301 Ebd. 302 Ebd. 303 Vgl.: »Kant hat, indem er die Organismen als mögliche Naturzwecke zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht hat, die immer verworrener gewordenen Auseinandersetzungen um Fragen der Teleologie auf die Grundlage zurückgeholt, von der sie einmal bei Aristoteles ihren Ausgang genommen hatte.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das Ende des teleologischen Weltbildes, 172. – Vgl. auch: »Kant hält daran fest, daß alle Naturerscheinungen nur aus Naturgesetzen erklärt werden können, daß aber unser beschränktes Erkenntnisvermögen damit bei Organismen nicht durchkommt und sich bei seiner naturgesetzlichen Erklärung am regulativen Prinzip eines Naturzwecks orientieren muß, wenn es nicht die Sache aus dem Auge verlieren will.« – Ebd. 178. 304 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 111. 296 297
263 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Totalität von Zweck-Mittel-Verhältnissen, zu deren Existenz-Erklärung nicht nochmals auf einen ihnen äußerlichen Zweck verwiesen werden muss. 305
Um nun in der Frage, »warum und wann […] sich eine teleologische Interpretation bei Phänomenen der äußeren Natur« 306 nahelegt, weiterzukommen, ist zu klären, wie die Erkenntnis von Naturzwecken bzw. Organismen möglich ist. Zwecke sind für Kant ein Allgemeines, das aber nicht wie die Kategorien der reinen Vernunft gegeben ist. »Für dieses Problem führt Kant in der KU den Begriff der reflektierenden Urteilskraft ein« 307; diese »sucht sich zum Besonderen erst das Allgemeine, unter welches dann subsumiert wird« 308. Kants Antworten auf die Frage nach dem Anwendungsbereich dieser auf Zwecke zielenden reflektierenden Urteilskraft fassen Spaemann und Löw in drei Thesen zusammen, die hier verknappt wiedergegeben werden: 1. 2.
Kausalmechanische und teleologische Naturbetrachtung sind »zwei Beurteilungsarten von natürlichen Gegenständen« 309. Kausalaussagen sind »prinzipiell ungeeignet, uns die Natur als Ganzes in den Blick bekommen zu lassen. Kausalforschung ist unendlich, unabschließbar, und das heißt sie ist wesentlich Programm und nicht Ziel 310: ›Es ist für den Menschen ungereimt … zu hoffen, daß dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde. […]‹ (V, 400)« 311 Daher gilt, dass »für die unbestreitbaren Zweck-
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 111. Ebd. 105. 307 Ebd. 113. – Vgl.: »Aber für Kant ist der Denkprozeß mit der Zuweisung des Zweckbegriffs an die reflektierende Urteilskraft nicht zu Ende: die Dynamik, ja das Dynamit, welches in dieser Fassung steckt, läßt sich im § 77 der ›Kritik der Urteilskraft‹ verorten. Da heißt es, wir würden anläßlich bestimmter Erscheinungen genötigt, auf den Begriff des Zweckes zu reflektieren. Wie das, wenn doch der kategorial konstituierte Verstand und die Anschauungsformen gemäß der ›Kritik der reinen Vernunft‹ den Dingen definitiv vorschreiben, wie sie zu erscheinen haben? Eine Nötigung von seiten der Erscheinungen ist nichts weniger als ein Wink aus dem Reich der Dinge an sich!« – Löw, Herder und die Evolution, in: Ders. (Hrsg.), ΟΙΚΕΙΩΣΙΣ. Festschrift für Robert Spaemann, 144. 308 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 113. 309 Ebd. 114. 310 Ebd. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Ein prinzipiell nicht zu erreichendes telos verdient seinen Namen nicht.« – Ebd. 274. 311 Ebd. 114. 305 306
264 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
3.
mäßigkeitsphänomene in der lebendigen Natur Kausalaussagen zur Erklärung prinzipiell ungeeignet sind« 312. Die teleologische Betrachtungsweise bleibt immer »Interpretation«: »Zwecke lassen sich in der Natur nicht als solche beobachten, sondern nur ›in der Reflexion über ihre Produkte … hinzudenken‹ (V, 399). […] Bei Naturzwecken kann prinzipiell weder der Beweis geleistet werden, daß sie mechanisch erklärbar, noch daß sie es nicht sind«. 313
Innerhalb dieser vom erkennenden Subjekt ausgehenden Betrachtung scheint Kant »bezüglich der Teleologie schließlich ein Agnostiker zu sein« 314; ontologisch »ergibt sich jedoch eine ganz andere Folgerung« 315, wenn das Verhältnis von »Natur als Erscheinung« zu unserem »Erkenntnisvermögen« 316 bedacht wird: Unsere Erkenntnis ist dabei in dem Sinne abstrakt, als die konkrete Natur zwar an diese Vermögen gebunden ist, ohne doch durch sie vollständig konstituiert zu werden. […] Diese Abstraktion wird durch den Zweckbegriff aufgehoben. Er beseitigt nachträglich die Zufälligkeit des Besonderen, indem er das fehlende Prinzip der Einheit angibt, unter welchem sich die Kausalprozesse zum Naturzweck geordnet haben. Erst dadurch bekommen wir Phänomene des Organischen als bestimmte in den Blick. Von daher läßt Kant keinen Zweifel an der ontologischen Vorordnung der teleologischen Natursicht vor der kausalmechanischen […]. 317
Es bleibt für Kant dennoch dabei, dass »wir den Zweckbegriff nicht dogmatisch handhaben« 318 können, so dass die Teleologie »im theoretischen Teil der KU« keinen »definitiven ontologischen Status erhält« 319. Im praktischen Teil dagegen erscheint der Mensch »als moralisches Wesen, als noumenon« als »Endzweck der Schöpfung« 320, womit sich bei Kant der Schritt in Richtung Universalteleologie, den bereits die Stoa vollzogen hatte, wiederholt. 321 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 115. Ebd. 314 Ebd. 315 Ebd. 116. 316 Ebd. 317 Ebd. 318 Ebd. 319 Ebd. 117. 320 Ebd. 118. 321 Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung, 242–243. 312 313
265 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Die dritte und für ihre Argumentation entscheidende Phase der Entwicklung von Kants Position sehen Spaemann und Löw »im Werk der späten Kant (nach 1796)« 322, wobei Ausgangspunkt der Darlegung noch einmal der Organismus ist: Das skandalon für das Vernunftinteresse an der Einheit von Natur und Erfahrung ist der Organismus 323. Er ist einerseits ein Naturgegenstand und unterliegt dem kategorialen Zugriff des Verstandes, andererseits wird er bestimmt als Totalität von Zweck-Mittel-Beziehungen, die aus der kategorial konstituierten Natur nicht herleitbar ist. Der Organismus ist gleichsam jenes nichtgegebene (und also erst von der reflektierenden Urteilskraft aufzusuchende) Allgemeine, welches in der Erfahrung gegeben ist. 324
Weiterhin geht es damit also um das Problem der »theoretischen Verhältnisbestimmung von kausalmechanischem und teleologischem Denken« 325. Das »Konzept zur Lösung des Problems findet sich in den zwischen 1796 und 1803 niedergeschriebenen Entwürfen des Opus postumum« 326. Die Naturwissenschaft ist für Kant die »Wissenschaft von den bewegenden Kräften der Materie« 327. Diese bewegenden Kräfte entstammen der Erfahrung, die aber nicht im Sinne der Kritik der reinen Vernunft als kategorial konstituiert gedacht werden kann. Dies führt zur Frage, wie dann aber überhaupt ein »Begriff der bewegenden Kraft« 328 möglich sein kann. Kants Antwort: »der Begriff der bewegenden Kraft stammt aus der Selbsterfahrung des Subjekts« 329, das durch seine eigene Fähigkeit zur Bewegung immer schon mit den von außen kommenden, »entgegenwirkende[n] bewegende[n] Kräfte[n] der Materie« 330 vertraut ist:
322 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 119. – Diesem war auch die von Spaemann betreute Dissertation Reinhard Löws gewidmet, die 1980 unter dem Titel »Philosophie des Lebendigen« publiziert wurde. 323 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Vgl. H. Jonas (1973, S. 33): ›So bezeichnet der organische Körper die latente Krise jeder bekannten Ontologie, und das Kriterium ‘jeder künftigen, die als Wissenschaft wird auftreten können’.‹« – Ebd. 274. 324 Ebd. 119. 325 Ebd. 326 Ebd. 327 Ebd. 328 Ebd. 120. 329 Ebd. 330 Ebd.
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5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
Die Einheit der Erfahrung kann nicht im kategorial strukturierten Verstand liegen, sondern sie liegt in der psychophysischen Einheit des Subjekts, das durch Selbstaffektion und Selbstkonstitution den sicheren Grund für die Welterfahrung legt und diese nach Analogie der Grundlegung vollzieht. […] Das eigene Leib-Haben und Ursachesein-Können ist a priori Bedingung für die Möglichkeit einer dynamisch-physikalisch strukturierten Welterfahrung. 331
Spaemann und Löw weisen auf die zentrale Bedeutung dieses Gedankengangs hin, durch den »Kant auch unter Absehung von der Dimension des Sittlichen den Zweckbegriff apriorisch verankert« 332. Gerade in ihm liegt demnach auch das bleibende Vermächtnis Kants im Rahmen der Teleologieproblematik: »Insofern weisen Kants späte naturphilosophische Entwürfe einen Weg, wie eine teleologische Natursicht argumentieren müßte, wenn sie die drohende Universalteleologie vermeiden will, die aus einem Rekurs auf den Menschen als Endzweck einer Schöpfung resultiert.« 333 Die Überlegungen zur möglichen Wiederbelebung des teleologischen Denkens 334 und die Schlussfolgerungen aus dem Programm der Gegenkritik am Antiteleologismus 335 werden an diesen Gedanken anknüpfen.
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 120. Ebd. – Vgl. auch: »Die Gewissenserfahrung ist für Kant die einzige Erfahrung, die Selbstsein impliziert. Damit ist sie die einzige Erfahrung, die jene ontologische Leerstelle eines ›Dinges an sich‹ füllt, die im Rahmen der ›Kritik der reinen Vernunft‹ nur einen theoretischen Grenzbegriff darstellt. Alle Gegenstände der Erfahrung in Raum und Zeit sind nicht von der Art des Selbstseins. Sie sind uns nur in bestimmten Vermittlungsstrukturen gegeben, das heißt in der Form des Bedingtseins des einen durch das andere, als ›Fall‹ von Gesetzen. In der ›Kritik der Urteilskraft‹ hatte Kant gezeigt, daß wir so Organismen gar nicht zu Gesichte bekommen. Wir müssen sie als natürliche Systeme, das heißt immanent-teleologisch betrachten. Kant war der Meinung, daß eine Reduktion dieser Betrachtung auf bloße Teleonomie niemals möglich sein werde, aber er begründete diese Auffassung nicht. Gleichwohl hielt er zunächst diese Betrachtung für ein unvermeidliches Als-ob, bis er dann im Opus postumum unsere eigene organische Natur als konstitutives, daher prinzipiell nicht rekonstruierbares Apriori jeder objektiven Erkenntnis begriff […]. Dann aber nehmen wir offenbar, wenn wir Organismen, wenn wir Leben wahrnehmen, so etwas wie Selbstsein nach Analogie unseres eigenen wahr.« – Ebd. 244. 333 Ebd. 120. 334 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 273–279. 335 Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 286–291. 331 332
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Ateleologische Teleologie und das Ende des Denkens bei Nietzsche Spaemann und Löw leiten ihr Kapitel über Friedrich Nietzsche ein mit den Worten: »Mit Nietzsche beschließen wir die Reihe der ausdrücklich philosophischen Positionen zum Problem des teleologischen Denkens im Gang der Geschichte der Philosophie.« 336 These dieses Kapitels ist, dass Nietzsche in einem besonderen Sinn Abschluss des teleologischen Denkens in der Geschichte der Philosophie ist. Um diesen besonderen Sinn darzulegen, wird zunächst ein Blick geworfen sowohl auf Nietzsches Teleologiekritik als auch auf seine Kritik am Antiteleologismus, bevor Grundzüge seiner ateleologischen Teleologie erläutert werden und schließlich das Denken Nietzsches strukturell betrachtet und als eine Art Inversion der Hegel’schen Philosophie gedeutet wird. Nietzsche wendet sich gegen das teleologische Denken in seiner neuzeitlichen Form als invertierte Teleologie der Selbsterhaltung, indem er den Gedanken der Selbsterhaltung als Interpretation ablehnt und gegen Schopenhauer 337 den Willen neu deutet: »alles Lebendige will sich steigern, will seine Kraft auslassen (III, 504); aller Wille ist in Wahrheit Wille zur Macht« 338. Zwar stimmt Nietzsche mit Schopenhauer darin überein, dass jedweder »Sinn der Welt« 339 verneint wird, doch versteht er »diesen Nihilismus als Durchgangsstadium zu einer neuen Zukunft« 340: Nietzsche betont gegen die Selbsterhaltungsteleologie, die »bürgerliche Ontologie«, wieder das Moment der Transzendenz, des Überschusses des eu zen, des guten und edlen Lebens, über das bloße Leben der Selbsterhaltung. Grundcharakteristikum alles Seienden 341 ist sein
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 163. Spaemann und Löw bemerken zum Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer: »Für Friedrich Nietzsche war Schopenhauer ein unvergleichlicher ›Erzieher‹. Es ist jedoch für den Rang Nietzsches als Philosoph kennzeichnend, daß er den Zusammenhang der Lebensverneinung Schopenhauers mit der neuzeitlichen Form der Selbsterhaltungsteleologie klar erkannt hat.« – Ebd. 163. 338 Ebd. 164. 339 Ebd. 165. 340 Ebd. 341 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »In der Ausweitung der Willensmetaphysik auf das Anorganische folgt Nietzsche Schopenhauer – ja, es bekommt sogar den Vorrang: ›Wo es keinen Irrtum gibt, dies Reich steht höher: das Unorganische ist die individualitätslose Geistigkeit.‹ Zitiert nach Jaspers (1974, S. 312).« – Ebd. 283– 284. 336 337
268 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
Wille zur Macht, sein Wille zur Steigerung. Dieser Wille ist ohne Sinn und Ziel. 342
Voraussetzung der Freisetzung des Willens zur Macht ist für Nietzsche die Überwindung des Nihilismus, der sich auch im naturwissenschaftlichen Antiteleologismus zeigt. In seiner Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften wirft Nietzsche diesen vor, »sich einer genauso falschen Metaphysik wie die Teleologie« 343 zu bedienen. Der »Grundirrtum«, dem auch die Naturwissenschaften erliegen, besteht für Nietzsche in der Übertragung der »Selbsterfahrung auf alle anderen Ereignisse der Welt« 344. Sobald die Selbsterfahrung »im Gedanken fixiert wird«, steht sie »in der Dimension eines ontologischen Irrtums, weil das Gedachte und denkend Festgemachte ja etwas anderes als die gemeinte Sache ist« 345. Hinter dieser Denkfigur steht Nietzsches Überzeugung, dass der »Wille zur Wahrheit«, da er stets »interpretierend bestimmte Geschehnisse voneinander« isoliert, prinzipiell zu einer Verfälschung der »wahre[n] Wirklichkeit« 346 führen muss. Dem Verdikt Nietzsches fallen die Naturwissenschaften insbesondere dann zum Opfer, wenn sie nicht nur beschreiben, sondern erklären zu können beanspruchen wie der Darwinismus, der glaubte, »die teleologischen Phänomene aus mechanistischen Verhältnissen erklärt zu haben« 347. Damit erliegt der Darwinismus der Dialektik des Willens zur Wahrheit und führt zu einer verfälschten Sicht der Wirklichkeit. Dem aussichtslosen Willen zur Wahrheit stellt Nietzsche als einzig mögliche Alternative den Willen zur Macht gegenüber, der nur »Einwirkung im Sinne einer Überwältigung eines Willens durch einen anderen« 348 kennt. Zu den Grundüberzeugungen Nietzsches gehört also, dass die »›wahre‹ Welt […] ein chaotischer Fluß des Werdens ohne Stillstand« und Leben »Wille zur Macht« 349 ist. Nachdem mit dem Tod Gottes die »größte Idee der Menschheit bisher« 350 weggefallen ist, bleibt für 342 343 344 345 346 347 348 349 350
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 163. Ebd. 166. Ebd. Ebd. Ebd. 167. Ebd. Ebd. Ebd. 169. Ebd. 170.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Nietzsche als »Äquivalent« nur die »Idee des Übermenschen« 351, in dem sich das Motiv der Steigerung – wohlgemerkt des Menschen, nicht seiner Erhaltungsfähigkeit – konkretisiert. Spaemann und Löw bemerken zu dieser Idee: Der Übermensch als Ziel der Evolution: ist das nicht Kennzeichen einer teleologischen Struktur der Wirklichkeit? Ja, zweifellos. Aber der Übermensch ist das Wesen, das ohne teleologische und ohne mechanische Vorstellungen, ohne Weltinterpretation überhaupt zu leben imstande ist. Der rezente Mensch braucht Teleologie wie Physik, um handelnd in die Wirklichkeit eingreifen zu können. Er braucht Interpretationen der Welt, Rechtfertigungen vor sich und anderen, welche er in einer Wirklichkeit bereits vorfindet. Der Übermensch ist das Wesen, das in vollem Bewußtsein der Tatsache, daß es all das nicht gibt, dennoch leben kann, weil er seine ihn verpflichtenden Werte selbst erst schafft. 352
Dem sich so ergebenden scheinbaren Widerspruch, dass der Übermensch einerseits die »Wirklichkeit unter sich als Substrat seiner Steigerung, seines Kraftauslassens behandeln soll«, er aber andererseits selbst »ihr Produkt ist, Resultat eines kontingenten Willens-Erscheinungsprozesses« 353, begegnet Nietzsche durch seine »Theorie der Ewigen Wiederkehr des Gleichen« 354, die einen »Universalprozess von Ereignissen« bezeichnet, »die sich in riesigen, epochalen Abständen wiederholen« 355. Der Übermensch kann nicht nur mit dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr leben, sondern soll aus ihr sogar den »Sinn des Lebens« schöpfen: der Übermensch ist Überwinder des Nihilismus. In Wirklichkeit mündet der gegen Spinoza erneuerte Gedanke eines Überschusses über die Erhaltung doch in eine Vorstellung eines toten Universums, dessen einziges telos darin besteht, sich unendlich oft zu reproduzieren. 356
Nietzsches Überwindung des Nihilismus kommt somit bei der Reproduktion der Selbsterhaltungstheorie »in einem gigantischen Maß-
351 352 353 354 355 356
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 170. Ebd. 169–170. Ebd. 171. Ebd. Ebd. Ebd. 172.
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5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
stab« 357 an, von der seine Kritik am teleologischen Denken ihren Ausgang nahm. Von besonderem Interesse für Spaemanns und Löws Anliegen einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens ist die strukturelle Betrachtung von Nietzsches Denken. Es geht dabei zunächst um die Gedankenfigur der doppelten Negation. Zum einen geht es um die Negation von Wahrheiten, im hier verfolgten Zusammenhang konkret der Existenz von Naturzwecken; zum anderen geht es um die Negation der Kritik an diesen Phänomenen, hier konkret der antiteleologischen Naturwissenschaft. Insofern die Wahrheiten für Nietzsche selbst noch »Ausdrucksformen des Willens zur Macht« 358 sind, ist ihre bloße »Leugnung verächtlicher als die Position selbst« 359. Die »wahre« Sicht der Dinge muß die Position wie die Negation als Irrtümer entlarven. Position wie Negation sind beide Ausflüsse des Willens zur Macht – das ist ihr Wahres –, mit ihrer Feststellung wird jedoch ihr Moment des Sich-Steigerns geleugnet. Position wie Negation drücken eine Perspektive aus, welche der Steigerung des Individuums dienlich sein soll; qua Perspektive wird die Steigerungsmöglichkeit aber schon gehemmt. 360
Da alle »Manifestationen des Willens zur Macht […] schon die Dimension des Irrtums notwendig bei sich führen«, ja Wahrheit und Irrtum selbst »beide Dimensionen des Irrtums« sind, folgt daraus, dass das Denken selbst »die ontologische Dimension des Irrtums eröffnet« 361. Spaemann und Löw ziehen einen Vergleich zwischen Nietzsche und Hegel. Für beide gilt die »Identität von Denken und Sein« 362, »aber während für Hegel die Erkenntnis im Werden des Begriffs besteht, schließen für Nietzsche Erkennen und Werden einander absolut aus« 363. Hegel erscheine, so Spaemann und Löw, »in Nietzsche wie in einem Spiegel, in welchem Hegels Wirklichkeit als entwickelte Logik des Irrtums erscheint« 364. Zu dieser Spiegelung Hegels gehört die paradoxe Konstruktion einer ateleologischen Teleologie, für die teleologisches Denken genauso falsch ist wie antiteleo357 358 359 360 361 362 363 364
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 171. Ebd. 174. Ebd. Ebd. Ebd. 175. Ebd. Ebd. 176. Ebd.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
logisches Denken, »weil Denken qua Denken schon der ontologischen Dimension des Irrtums verfallen ist« 365. Doch auch mit dieser Feststellung bringt Nietzsche sich »in innere Widersprüche – ganz einfach, weil er sich ja in ihnen selbst der Sünde des Isolierens, Feststellens, des Redens über … schuldig macht« 366. »Die These, daß Denken und Sprechen innerhalb des ontologischen Horizonts von Irrtum stattfinden, macht vor Nietzsche selbst nicht halt« 367, so dass er den unvermeidlichen inneren Widerspruch seines eigenen Denkens erkennt. Nietzsche selbst, so unterstreichen Spaemann und Löw, sei durchaus bewusst gewesen, »daß er noch von dem Pathos der Wahrheit lebt, das er bekämpft,« mit Nietzsches eigenen Worten: »daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist«. 368 In dieser Tradition stehend ist auch Nietzsches Denken ein Versuch der Überwältigung des Werdens zum Sein. »Der höchste Wille zur Macht ist: dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen: aber das gelingt auch dem Übermenschen nicht, der selbst rettungslos zum Werden gehört« 369. Es gibt nur die unendliche Iteration von Negationen: »Der Übermensch wird den Irrtum als Irrtum erkennen, und diese Erkenntnis als Irrtum, …, und sich zurückverlieren ins Werden.« 370 – Das Ende, das Nietzsche der Problematik der Teleologie bereitet, ist somit das Ende des Denkens selbst. Will man diese Konsequenz nicht mittragen, aber weder zur invertierten Erhaltungsteleologie noch zur metaphysischen Naturwissenschaft zurückkehren, bleibt nur das Nachdenken über einen möglichen Fehler der Entwicklung, der Nietzsches Folgerungen letztlich unausweichlich gemacht hat. Diesem Nachdenken ist das folgende Teilkapitel (5.3) gewidmet.
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 284 (Anm. 26 zu Kapitel VII, 164). Ebd. 168–169. 367 Ebd. 176. 368 Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 3, 577. – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 176. – Dieses Nietzsche-Zitat aus der »Fröhlichen Wissenschaft« (Aphorismus 344) gehört zu den Leitmotiven, die in Spaemanns Werken der folgenden Jahrzehnte häufig herangezogen werden. 369 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 173. 370 Ebd. 176. 365 366
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5.2.7
Plädoyer für das teleologische Denken 371
Die ersten Auflagen von »Die Frage Wozu?« schlossen zwei Kapitel ab, 372 die als »Nachruf« auf die Teleologie angekündigt werden, deren »Tenor« Spaemann und Löw mit folgenden Worten umreißen: daß, wenn es wirklich die Teleologie war, die hier zur Strecke gebracht wird, dann mit ihr alle Trauergäste und selbsternannten Erben mitverstorben sind. Da aber die Obduktion der zu Grabe getragenen ergibt, daß es nicht »die Teleologie« war, sondern eine schwache Karikatur von ihr, wird sie selbst an der Spitze der Tafel ihres Leichenschmauses Platz nehmen und, wie es immer ihre Art war, ihren Verfolgern wie Anhängern ein reiches Mahl bieten. 373
Die Trauerfeier, so muss man diese ironische Einlassung wohl verstehen, galt nicht der Teleologie selbst, sondern allenfalls den problematischen Umformungen, von denen oben die Rede war. 374 Hinter den beiden dort skizzierten Umformungen steht als eigentliches Motiv der mit der Teleologie prinzipiell nicht vereinbare Anspruch, Vorgänge erklären zu wollen. Gerade durch die Anmaßung dieses Anspruchs liefert die Teleologie sich aber der Kritik aus: »Berechtigt ist überhaupt alle Kritik an der Teleologie, wenn diese etwas im naturwissenschaftlichen Sinne erklären will. Das geht schon aus der Definition des Erklärens hervor, denn teleologisches Denken ist wesentlich nachträgliche Interpretation« 375. Die übliche Kritik an einer mit dem Anspruch erklären zu können auftretenden Teleologie zielt darauf ab, dass sie das »Modell[…] menschlichen Handelns nach Vorsätzen« 376 unzulässigerweise auf Vorgänge in der Natur übertrage. Dahinter steht die Vorstellung, dass zur Teleologie wesentlich Be-
371 Vgl.: »Was aber spricht positiv für die Annahme teleologischer Verfasstheit? Die Konzeption Spaemanns hat nicht die schlichte Gestalt einer Behauptung, die durch eine mehr oder weniger lange Reihe von Argumenten gestützt wird. Es handelt sich um ein besonders reichhaltiges Arsenal von Gründen und Gesichtspunkten, die ihrerseits von ganz unterschiedlicher Art und Reichweite sind.« – Schönberger, Das Sein des Sinnes, 37. 372 Ab der dritten Auflage von 1991 wurde der Text erweitert um ein weiteres Kapitel »Teleologie und Teleonomie«. 373 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 197. 374 Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung, 242–248. 375 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 217. 376 Ebd. 218.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
wusstsein gehöre, was Aristoteles, wie gesehen, entschieden verneinte, Thomas dagegen im Hinblick auf das Bewusstsein Gottes in eingeschränktem Sinn bejahte. Auf die entscheidende Frage, ob Teleologie aristotelisch vom Bewusstsein abgelöst werden kann oder aber die Beziehung auf ein Bewusstsein im Sinne Thomas’ beibehalten werden muss, wird zum Abschluss dieses Teilkapitels zurückzukommen sein. 377 Gegenüber der mittelalterlichen Naturteleologie wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, sie »führe zur ignava ratio, zur faulen Vernunft« 378, da die Rede von Zwecken »alle weitere Nachforschung über Naturphänomene zum Erliegen« 379 bringe. Dieser Vorwurf ist ungerechtfertigt. Das Axiom: cuiuscumque est causa finalis, eis est causa efficiens 380 (wovon immer es eine Zweckursache gibt, davon gibt es auch eine Wirkursache) besagt, daß »Zweck« ein Gesichtspunkt ist, unter welchem Kausalreihen geordnet, nicht aber dem sie geopfert werden; die anderen drei Ursachen bleiben conditiones sine quibus non. 381
Erst durch die Überschreitung ihres Zuständigkeitsbereichs in dem Anspruch der Teleologie, Vorgänge im wissenschaftlichen Sinne erklären zu können, würde dieser Vorwurf berechtigt erscheinen. Es ist daher wichtig zurückzugehen auf einen Begriff von Teleologie, der hier klar unterscheidet. Wenn man – aristotelisch – »Kausalforschung« als »Mittelforschung« interpretiert, dann tritt finale Interpretation mit dieser nicht in Konkurrenz; sie verbessert auch nicht die Effizienz unserer Naturbeherrschung, sondern sie ermöglicht uns ein Verstehen von Naturvorgängen, das sich nicht zu einem bloßen Als-ob herabsetzen läßt. 382
Im Rückgriff auf Aristoteles soll daher noch einmal knapp vergegenwärtigt werden, was unter Teleologie im eigentlichen Sinne zu verstehen ist. Da man von der teleologischen Interpretation von Vorgängen immer absehen kann und sie stattdessen auf ihre kausalen Zusammenhänge betrachten kann, lauten die Ausgangsfragen: Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 286–291. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 85. 379 Ebd. 380 Spaemann und Löw verweisen in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: Duns Scotus: Op. Ox I ist. 8 qu 5 n 6. – Ebd. 268. 381 Ebd. 85. 382 Ebd. 226. 377 378
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5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken
»wann legt es sich nahe, teleologisch zu denken? Und wann ist es notwendig, teleologisch zu denken?« 383 Zur Beantwortung dieser Fragen nennen Spaemann und Löw zwei Bedingungen: Zum einen muss »hartnäckige Zielverfolgung unter wechselnden Randbedingungen« 384 vorliegen. Das heißt, dass im Hinblick auf ein System ausgehend von einem Anfangszustand A die Erreichung eines Endzustandes C »auf verschiedenen Wegen B1 … Bn verfolgt werden kann« 385. Aufgrund dieser variierenden Mittelwahl ist eine »Plastizität des Prozesses« 386 gegeben. Da aber auch das »Gefälle des Wassers, das immer wieder dem tiefsten Punkt ›zustrebt‹« 387, unter diese Bedingung fällt und somit teleologisch interpretiert werden müsste, kommt als zweite Bedingung das »Moment der Perzeption, der Wahrnehmung« 388 hinzu: Zielverfolgung wird aber erst dort als Zielverfolgung bemerkbar, wo Mittel als Mittel ergriffen werden. Dies setzt voraus, daß erstens mit den Mitteln variiert werden kann, zweitens aber, daß wir einen Grund zu der Annahme haben, daß die Umwelt auf irgendeine Weise von dem von uns teleologisch interpretierten Gebilde registriert wird. 389
Voraussetzung dafür, dass teleologische Interpretation von Vorgängen notwendig ist, sind also Umweltwahrnehmung und hartnäckige Zielverfolgung als »voneinander unabhängige Variable« 390: Nur wo der Weg eines Systems zur Erreichung oder Aufrechterhaltung eines mindestens in einer Hinsicht identischen Zustands variiert und wo wir diese Variation als Funktion einer »Tendenz« verbunden mit der Perzeption einer wechselnden Umwelt interpretieren können, da haben wir Grund von Wahrnehmung und »hartnäckiger Zielverfolgung« zu sprechen. 391
Dabei ist noch einmal zu betonen, dass Vorgänge, die in diesem Sinne berechtigterweise als teleologisch interpretiert werden können, ihr jeweiliges Ziel nicht erreichen müssen. Teleologische Erklärung er383 384 385 386 387 388 389 390 391
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 235. Ebd. 232. Ebd. 231. Ebd. 232. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 233. Ebd.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
folgt »nicht vom erreichten, sondern vom ›erstrebten‹ Ziel her«, das »in der Bewegung bereits präsent« 392 ist. Es kann immer noch etwas dazwischenkommen, weswegen Teleologie »unbrauchbar für Prognosen« 393 und »in gewissem Sinne nachträglich« 394 ist. Epistemologisch bleibt der Status teleologischer Erklärung immer prekär, weswegen eine theoretische Entscheidung über die Zulässigkeit ihres Anspruchs wenig wahrscheinlich ist: »Nun ist das Teleologieproblem so alt wie die europäische Philosophie. Gigantomachien dieser Art legen die Vermutung nahe, daß eine Beendigung des Disputs auf der theoretischen Ebene, auf der er geführt wurde, nicht zu erwarten ist.« 395 Im folgenden Schritt geht es daher um die Frage nach den Interessen, die hinter dem teleologischen Denken und dem Antiteleologismus stehen und damit um die Frage nach der praktischen Bedeutung der Teleologie. Im Bereich der praktischen Philosophie stellt sich die Frage nach der Teleologie als Frage nach der Beweislast. »Die fundamentale Beweislastregel besagt, daß derjenige begründen muß, der Selbstverständliches in Frage stellt.« 396 Da es in der Neuzeit zum Normalfall geworden ist, dass Vertreter des teleologischen Denkens sich rechtfertigen und begründen müssen, entsteht der Anschein, dass diese Selbstverständliches in Frage stellen. Diesem Eindruck widersprechen Spaemann und Löw, da das bedeuten würde, »daß die normalen Lebensvollzüge sich als solche erst rechtfertigen müssen vor der ihrer Natur nach hypothetischen Wissenschaft« 397. Das teleologische Denken orientiert sich an menschlicher Normalität und geht von hier aus zur Betrachtung der menschlichen Umwelt über, wohingegen die hypothetische Wissenschaft von Abstraktionen ausgeht, aus denen menschliche Normalität letztlich wieder rekonstruiert werden soll. Insofern hat teleologisches Verstehen vor kausalem Erklären zumindest einen theoretischen Vorzug: in ihm kommt das Fragen zu einem Ende, ohne des Rückgriffs auf andere Kategorien zu bedürfen, während die kausale Analyse stets in einen abgeschlossenen teleologischen Kontext eingebettet ist, der vorgegeben ist entweder durch den Gegenstand der Analyse selbst oder aber durch das Ziel des Forschers, der 392 393 394 395 396 397
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 233. Ebd. Ebd. 234. Ebd. 230. Ebd. 234. Ebd. 235.
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5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken
etwas Bestimmtes wissen oder Geld verdienen will. Gerade dieses Zuendekommen kann allerdings auch als Argument gegen teleologische Betrachtungsweise gewendet werden: teleologisches Verstehen scheint nicht über sich hinauszuweisen und animiert daher nicht die Forschung. Teleologisch verstehen heißt ja, sich in der Welt schon auskennen. 398
Dass somit die Beweislast eigentlich auf der Seite der Wissenschaft liegen müsste, dieses Verhältnis aber kontrafaktisch umgedreht ist, lenkt die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Interessen, die hinter der kausal erklärenden Wissenschaft und dem teleologischen Denken stehen. Das eine Interesse, das sich in der »Reduktion unserer Erkenntnis der Natur auf deren kausale Erklärung« zeigt, besteht in dem »Willen zur Naturbeherrschung« 399. Da aufgrund seiner mangelnden Zuverlässigkeit das teleologische Denken im Sinne des Interesses an Naturbeherrschung nicht instrumentalisierbar ist, ist das in ihm sich ausdrückende Interesse von ganz anderer Art, es geht ihm um das Verstehen der Welt und des eigenen Platzes in ihr, um »oikeiosis, das Einhausen und Sich-zugehörig-Machen der Welt« 400. Im Sinne der von Spaemann und Löw mehrfach zitierten aristotelischen Unterscheidung von ›finis quo‹ und ›finis cuius‹ ist das Herrschaftsinteresse des Menschen ein von ihm gesetzter ›finis quo‹, der Gefahr läuft sich zu verselbständigen, während es dem Interesse am Verstehen darum geht, dass beide – ›finis quo‹ und ›finis cuius‹ – in einem harmonischen Verhältnis bleiben. In der gegen die fundamentale Beweislastregel umgekehrten Konstellation von naturwissenschaftlichem und teleologischem Denken zeigt sich somit ein signifikantes Ungleichgewicht der beiden genannten Interessen in der Neuzeit. 401 Allerdings verleihen Spaemann und Löw ihrer Überzeugung Ausdruck, dass inzwischen die Zeit für eine Wende des Denkens herangereift ist. Die Argumente, die sie hierfür liefern, lassen sich in zwei Gruppen einteilen, deren erste auf den Menschen als Individuum, deren zweite auf ihn als Gattungswesen zielt.
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 240. Ebd. 236. 400 Ebd. 14. 401 Vgl. Abschnitt 9.3.2, ›Summen‹ der Spaemann’schen Philosophie im Vergleich, 727–744. 398 399
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Das Interesse an Naturbeherrschung ist für den Menschen nicht nur legitim, sondern sogar für sein Überleben in der Natur notwendige Voraussetzung. Aber ist Naturbeherrschung das einzige und das höchste legitime Ziel des Menschen? Diese Auffassung hätte verhängnisvolle Konsequenzen. Sie unterstellt das menschliche Dasein selbst als Mittel dem Zweck seiner eigenen Erhaltung, und genau dies ist das Wesen des Nihilismus. Progressive Naturbeherrschung als oberstes Ziel kehrt sich dann gegen den Menschen selbst. 402
Die Orientierung an der kausalmechanischen Interpretation der Welt im Sinne des Interesses an Naturbeherrschung muss auf der individuellen Ebene mit einem hohen Preis bezahlt werden: »Die erste Rate besteht im Nicht-mehr-verstehen dessen, was in der Natur geschieht, und die zweite in der Unverständlichkeit des eigenen Wesens«. 403 Erst wird die Natur als Mechanismus interpretiert und jedes Verstehen nach Analogie zur menschlichen Selbsterfahrung als Anthropomorphismus entlarvt und unterdrückt, danach wird dieses Naturverständnis ausgeweitet auf das eigene Wesen, wobei diese Operation durch ein Wissenschaftssubjekt durchgeführt wird, das sich von unaufhebbaren Dimensionen des Menschlichen – etwa Trieb und Angst – als einem Anthropomorphismus abzulösen versucht. Nun könnte diese Konsequenz auf der individuellen Ebene noch als notwendiges Übel hingenommen werden; eine andere Dimension hat dagegen die durch den »ökologischen Schock« aufscheinende Konsequenz einer »tödliche[n] Gefährdung der menschlichen Gattung« 404. Es geht hier um die Einsicht, dass die »entteleologisierende progressive Naturbeherrschung […] selbst in bloße Natur« zurückfällt, »wo sie sich nicht in ein teleologisch bestimmtes Maß eingebettet weiß« 405. Rückfall in Natur meint hier die Rücknahme der natürlichen Selbsttranszendenz des Menschen zugunsten einer naturwüchsigen Expansion des Herrschaftsinteresses, das dann allerdings auf sein verschwindendes Subjekt – den Menschen – weiter keine Rücksicht mehr nimmt. Die ökologische Krise ist ja eine Folge jener explosionsartigen Expansion der menschlichen Naturbeherrschung, die ihre ideologische Seite im antiteleologischen Denken seit der frühen Neuzeit hat. Hobbes 402 403 404 405
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 235. Ebd. 88. Ebd. 237. Ebd.
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5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken
hatte programmatisch formuliert, daß es für den Menschen kein summum bonum als Maß gebe, sondern daß grenzenloses Fortschreiten von Bedürfnis zu Bedürfnis, von Begierde zu Begierde zum Menschen gehöre. Um dieses grenzenlose Fortschreiten zu ermöglichen, bedarf es einer wissenschaftlichen Naturbeherrschung, die in der Natur keine teleologischen Strukturen mehr zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. 406
Die ökologische Krise wird also verstanden als Konsequenz der versuchten Emanzipation des menschlichen Herrschaftsinteresses von seinen eigenen Naturgrundlagen. Das Trügerische dieser Emanzipation ist in der nicht abstreifbaren Natur des Menschen begründet: »Der Gedanke einer Befreiung des Menschen durch bloße Naturbeherrschung verkennt, daß der Mensch selbst ein Stück Natur ist und daher Naturbeherrschung immer auch Menschenbeherrschung heißt.« 407 Während auf der individuellen Ebene die Isolation des Herrschaftsinteresses zu einem inneren Widerspruch führt, der die psychische Gesundheit des Einzelnen gefährden muss, geht es auf der Ebene der menschlichen Gattung schlechthin um die Frage nach deren Überleben: Die Alternative lautet daher: entweder es gelingt, das Herrschaftsverhältnis über die Natur zu integrieren in ein neues, sich erst in vagen Zügen abzeichnendes Verhältnis von Mensch und Natur, oder der Mensch selbst wird zu einem Opfer seiner eigenen Naturbeherrschung. Entweder wir entschließen uns, die lebendige Natur anthropomorph zu interpretieren, oder wir werden uns selbst zu einem Anthropomorphismus bzw. zu weltlosen Subjekten, die sich den Boden unter den Füßen wegziehen. 408
Gegenüber dem argumentativen Patt im Rahmen der theoretischen Philosophie zeigt sich im praktischen Kontext die Frage nach der Wiederbelebung des teleologischen Denkens als Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des längerfristigen Weiterexistierens der menschlichen Gattung. Das Plädoyer für das teleologische Denken ist somit zugleich als ein Plädoyer für die Spezies homo sapiens zu verstehen.
406 407 408
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 238. Ebd. 239. Ebd.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
5.2.8
Der Einwand Rainer Isaks
Gut zehn Jahre nach der ersten Auflage von »Natürliche Ziele« veröffentlichte Rainer Isak seine an der Theologischen Fakultät Freiburg angenommene Dissertation unter dem Titel »Evolution ohne Ziel? Ein interdisziplinärer Forschungsbeitrag«. Die hier im Mittelpunkt stehende Auseinandersetzung Spaemanns und Löws mit dem teleologischen Denken ist der wesentliche Referenztext der umfangreichen Studie Isaks. In der Einführung wurde angekündigt, 409 dass im Rahmen des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit Texte der Forschungsliteratur einbezogen werden, wenn sie im Hinblick auf die sukzessive Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk Spaemanns einen Beitrag leisten. Obwohl Isaks Intention in seiner Auseinandersetzung mit der Studie Spaemanns und Löws überwiegend kritischer Natur ist, leistet sie doch, wie im Folgenden gezeigt werden soll, einen indirekten Beitrag zu dem genannten Ziel. Vorab sei ein knapper Ausblick auf die geplanten Schritte gegeben: Zunächst soll der prinzipielle Einwand Isaks gegenüber Spaemann und Löw referiert und problematisiert werden. Danach wird die Zielsetzung von Isaks Studie beleuchtet, vor deren Hintergrund seine kritische Wendung gegen Spaemann und Löw verständlicher wird. In einem weiteren Schritt wird aus der hier vorgenommenen Deutung von »Natürliche Ziele« eine Gegenkritik an Isaks Position entwickelt. Schließlich wird dargelegt, inwiefern ein prinzipielles Missverständnis Isaks in seiner Deutung Spaemanns und Löws einen indirekten Beitrag zur hier verfolgten Zielsetzung leistet. Isak wirft Spaemann und Löw in der Entfaltung der antireduktionistischen Programmatik von »Natürliche Ziele« einen »aggressiv-verletzenden« 410 Ton vor und bezeichnet sie als »Scharfmacher […]« im »Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie« 411. Das argumentative Zentrum seiner polemischen Wendung gegen Spaemann und Löw besteht in der Bestreitung des teleologischen Phänomens selbst, also eines nicht reduzierbaren Ausseins-auf, das nicht nur in der Selbsterfahrung gegeben ist, sondern auch in anderen Lebewesen wahrgenommen werden kann. Auf die »Frage, ob
409 410 411
Vgl. Teilkapitel 1.2, Der Neuansatz im Denken der Begegnung, 36. Isak, Evolution ohne Ziel?, 20, Fn. 28. Ebd. 28, Fn. 74.
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solche naturwissenschaftlich unerklärbaren Lebensphänomene wirklich existieren« 412, antwortet Isak: Wir sind der Ansicht, dass diese Frage – mit einer einzigen Einschränkung […] 413 – verneint werden kann und deshalb die meisten Naturwissenschaftler zu Recht einen Monismus von Materie und Leben annehmen, indem sie Leben »als eine besondere Organisationsform der Materie verstehen« […] 414; auch wenn sie in der Tat keine endgültige Definition von Leben besitzen. 415
Dabei argumentiert Isak vom Standpunkt des Evolutionsprogramms aus und stellt gegenüber Spaemann und Löw kritisch fest, dass der »Versuch der Rehabilitierung einer (aristotelisch-scholastischen) Naturteleologie und eines hierauf gründenden Verständnisses menschlicher Sittlichkeit […] mit der naturwissenschaftlichen Deutung der Evolution unverträglich« 416 ist. Wenn man diese Antwort Isaks auf die gestellte Frage zur Kenntnis nimmt, sollte man erwarten, dass die Auseinandersetzung mit Spaemann und Löw damit beendet ist, baut doch deren gesamte Studie darauf auf, dass der Behauptung eines solchen Phänomens etwas in der Wirklichkeit entspricht. 417 Ausgehend von der verneinenden Antwort wäre »Natürliche Ziele« allenfalls als Musterbeispiel metaphysischen Denkens zu charakterisieren, das es erlaubt, eine umfangreiche Studie auf dem aufzubauen, was es gar nicht gibt. Überraschenderweise ist jedoch trotz dieses prinzipiellen Dissenses Isaks Studie in weiten Teilen der Auseinandersetzung mit den Argumentationen Spaemanns und Löws im Detail gewidmet. Schon formal fällt die abundante Verwendung des Konjunktivs I in der Wiedergabe ihrer Gedanken und die anschließenden Floskeln der Distanzierung von ihnen auf. Um die Frage beantworten zu können, warum Isak sich mit einer scheinbar prinzipiell
Isak, Evolution ohne Ziel?, 214. Isak verweist an dieser Stelle auf eine andere Textpassage seiner Studie (Abschnitt 5.2.2.4 »Subjektivität und Leben«), in der von der Subjektivität als dieser Einschränkung die Rede ist. 414 Isak verweist auf: Eigen/Winkler 1973/1974: 54. 415 Ebd. 215. 416 Ebd. 29. 417 Vgl.: »Die Auseinandersetzung um die teleologische oder ateleologische Verfassung des Natürlichen ist somit für Spaemann keine akademische Frage, sondern betrifft eine Grundentscheidung über den Zugang zur Wirklichkeit und den Fortbestand des Humanum.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 259. 412 413
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abgelehnten Position so eingehend auseinandersetzt, soll nun ein Blick auf seine eigene Verortung im Spannungsfeld zwischen Teleologie und Evolutionismus geworfen werden. Das Ziel Isaks, zu dem er durch seine Studie den Weg freilegen will, besteht darin, einen »wirklichen Dialog« zu ermöglichen »zwischen Theologie und ›Evolutionismus‹« 418. Es geht ihm in letzter Konsequenz um einen Ausgleich zwischen dem Glauben und der Naturwissenschaft. Der Weg zu diesem Ziel umfasst drei wesentliche Etappen. 419 Erstens verteidigt Isak das von Spaemann und Löw in »Natürliche Ziele« angegriffene Evolutionsprogramm, wobei er sich die argumentative Struktur von jenen vorgeben lässt und seinen Beitrag als »Gegenkritik« 420 konzipiert. Indem minutiös die von Spaemann und Löw problematisierten Begriffe und Argumentationsweisen der antiteleologischen Naturwissenschaft auf der Grundlage des zitierten prinzipiellen Einwandes, dass es das teleologische Phänomen gar nicht gibt, verteidigt werden, wird zugleich das Programm des naturwissenschaftlichen Antiteleologismus von Isak rekapituliert. Zweitens nimmt Isak bestimmte Aspekte der antireduktionistischen Argumentation Spaemanns und Löws aus seiner Kritik aus. Es geht dabei konkret um die Begriffe ›Freiheit‹, ›Innerlichkeit‹ und ›Subjektivität‹. Zum ersten Begriff bemerkt Isak: »Freiheit ist auch für uns in einer nichtanthropomorphen objektiv-naturwissenschaftlichen Weise, die von jeder Eigenerfahrung des Menschen zu abstrahieren versucht, nicht darstellbar.« 421 Mit dem Begriff der Freiheit hängen auch die beiden anderen Begriffe zusammen, von denen Isak sagt: »Doch allein dieses Lebensphänomen […] erscheint uns prinzipiell durch naturwissenschaftliche Beschreibungen uneinholbar […].« 422 Dass Isak in diesen Aspekten mit Spaemann und Löw übereinstimmt, steht für ihn jedoch nicht im Widerspruch zu seinem Plädoyer für den Evolutionismus. Indem er ›Freiheit‹, ›Innerlichkeit‹ und ›Subjektivität‹ vom Begriff des Lebens abhebt, hält er an einer reduktionistischen Sichtweise fest, in der lediglich diese spezifisch menschlichen Aspekte des Lebensvollzugs ausgeklammert sind:
Isak, Evolution ohne Ziel?, 21. Bei diesen Etappen handelt es sich um dominierende Argumentationsstränge Isaks, ohne dass diese sukzessive abgearbeitet werden würden. 420 Ebd. 20, Fn. 28. 421 Ebd. 116. 422 Ebd. 218. 418 419
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Dadurch aber wird Leben naturwissenschaftlich rekonstruierbar. Der Hyperzyklus ist damit mehr als nur notwendige Bedingung von Leben. Wir halten die naturwissenschaftliche Unerklärbarkeit von Innerlichkeit aus diesem Grund auch nicht für einen prinzipiellen Einwand gegen die evolutionistische Annahme einer natürlichen Entstehung des Lebens […], denn Leben gibt es auch ohne Innerlichkeit. 423
Somit öffnet sich in der Sicht Isaks drittens ein Bereich, für den die Naturwissenschaft keine Zuständigkeit beanspruchen kann und den sie daher der Theologie überlassen muss. In diesem Zusammenhang beruft Isak sich auf den Physiker und Genetiker Carsten Bresch (* 1921), der »einen ›Auftrag‹ […] 424 in der Evolution entdecken zu können« 425 meinte, insofern sie auf den »Zusammenschluß der Menschen zur einen Menschheit« 426, dem »Monon« 427, zusteuere. Die Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie treibt Isak dabei so weit, dass er schließlich »Evolution als kontinuierliche Neuschöpfung« 428 bezeichnet: »Man könnte theologisch von permanenter Schöpfung (creatio continua) sprechen und die ›Evolution‹ als den ›‘Augenblick’ der Schöpfung‹ […] 429 bezeichnen.« 430 Im Rahmen dieses Programms einer Synthese von Evolution und Schöpfung 431 wird mit Bresch Gott als ›Alpha‹ und das Ziel der Evolution als ›Omega‹
Isak, Evolution ohne Ziel?, 221–222. Isak verweist hier auf die Publikation Breschs aus dem Jahre 1977: Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel? München: Piper 1977. – Bresch schreibt dort: »Die Zukunft der so kindhaft hilflosen Menschheit / ist in unsere Hände gelegt. / Wir müssen ihr helfen, sehen zu lernen. / DAS IST DER AUFTRAG.« – Bresch, Zwischenstufe Leben, 297. 425 Ebd. 244. 426 Ebd. 254. 427 Ebd. 252. – Vgl.: »Wissenschaftlich formuliert ist das Monon das Resultat der abschließenden, alles-umfassenden Integration der Evolution eines Planeten. Das Monon ist ein gigantisches, historisch gewachsenes Muster, aufgebaut auf biologischorganisierter Materie. Es ist eine überindividuelle Ganzheit, deren Organe (Teilmuster) untereinander und zum Ganzen in kooperativer Beziehung stehen. Alle Aktivitäten im Innern und nach außen sind unter der Kontrolle eines kohärenten Netzwerks intellektueller Information.« – Bresch, Zwischenstufe Leben, 261. 428 Isak, Evolution ohne Ziel?, 354. 429 Isak verweist hier auf: H. v. Ditfurth, Evolutionäres Weltbild und theologische Verkündigung. In: Riedl, Rupert J.; Kreuzer, Franz (Hrsg.): Evolution und Menschenbild. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1983, S. 244–263, hier: 256. 430 Ebd. 355. 431 Vgl. ebd. 357. 423 424
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bezeichnet. 432 Es geht Isak damit um eine Art ›Bündnis‹ zwischen der reduktionistischen Naturwissenschaft und der theologischen Weltsicht. Letztere verzichtet darauf, basale Dogmen der Naturwissenschaft wie das Evolutionsprogramm in Frage zu stellen, als Gegenleistung erbittet sie sich von der Naturwissenschaft, dass sie im Bereich ihrer blinden Flecke – Freiheit, Innerlichkeit, Subjektivität – der Theologie das Feld überlässt. Gewissermaßen durch die Hintertür rehabilitiert Isak somit wieder das teleologische Denken, das er zunächst bekämpft hat. Wohl nur aus diesem Zusammenhang heraus ist erklärbar, wie sich Isaks polemische Haltung gegenüber Spaemann und Löw mit der kontinuierlichen Bezugnahme auf ihre Argumentationen vereinbaren lässt. Versuchte man aus der Gedankenführung Spaemanns und Löws in »Natürliche Ziele« eine mögliche Erwiderung auf diesen Vorschlag einer Synthese von Evolution und Schöpfung zu entwickeln, so dürften zwei Aspekte unverzichtbar sein. Der erste ergibt sich aus Isaks prinzipiellem Einwand bzw. aus der oben hervorgehobenen zentralen Bedeutung des teleologischen Phänomens für Spaemann und Löw. Isak stellt die »Frage, ab welcher Entwicklungshöhe Subjektivität auftritt: Ab wann ›sich mit gutem Grund ein Strich ziehen‹ läßt ›mit einem ‘Null’ an Innerlichkeit auf der uns abgekehrten Seite und dem beginnenden ‘Eins’ auf der uns zugekehrten‹ 433« 434. Isak zieht diesen Strich, so muss man schließen, jenseits normal entwickelter erwachsener Exemplare der Spezies homo sapiens. Wenn dagegen mit Spaemann und Löw bewusstes menschliches Leben als Steigerung einer naturteleologischen Anlage verstanden wird, die ebenso in anderen Lebewesen, auch solchen ohne bewussten Lebensvollzug, anerkannt wird, so wird dieser Strich, falls er überhaupt gezogen werden kann, nur das ausgrenzen können, was keinerlei Lebensregungen erkennen lässt. Der zweite Aspekt ergibt sich aus dem haltlosen Schwanken der Argumentationen Isaks zwischen einem monistischen und einem dualistischen Standpunkt. Einerseits spricht Isak von einem »Monismus von Materie und Leben« 435, gegen den die Anerkennung von Subjektivität keinen Einwand darstelle: »Denn Vgl. Isak, Evolution ohne Ziel?, 374. – Isak bezieht sich hier auf das Schlusskapitel »Epilog – jenseits von Wissenschaft« in: Bresch, Zwischenstufe Leben, 295–299. 433 Isak verweist hier auf: H. Jonas, Organismus und Freiheit: Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Göttingen: Vandenhœck & Ruprecht, 1973, 84. 434 Isak, Evolution ohne Ziel?, 221. 435 Ebd. 215. 432
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die evolutionäre Entstehung von Bewußtsein und Subjektivität stellt deren Existenz auch im Falle eines strengen Monismus von Leib und Materie nicht in Frage.« 436 Andererseits spricht Isak im Hinblick auf seinen Begriff der Subjektivität selbst von einem »gemäßigte[n] Dualismus« und nennt ihn »die einzige mit den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbare dualistische Deutung des Geist-Materie-Problems« 437. Im hier betrachteten Abschnitt der Entwicklung von Spaemanns Denken deutet sich – sowohl in der Auseinandersetzung mit Rousseau als auch in der Untersuchung des teleologischen Denkens – die These an, die Spaemann dann in den 80er Jahren entfalten wird, wonach der Dualismus eines reduktionistischen Naturalismus und eines weltlosen Spiritualismus als Zerfallsprodukt der neuzeitlichen Entteleologisierung gefasst werden muss. 438 Demnach ist der innere Widerspruch, in den Isak sich in seiner Argumentation verstrickt, eine notwendige Folge derselben und nicht auflösbar ohne den Versuch einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens. Abschließend soll nun, wie eingangs angekündigt, erläutert werden, inwiefern der knapp referierte Einwand Isaks gegen »Natürliche Ziele« doch einen Beitrag im Rahmen der Untersuchung der sukzessiven Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns leisten kann. Dazu muss die Aufmerksamkeit auf ein prinzipielles Missverständnis der von Spaemann und Löw in »Natürliche Ziele« verfolgten Absicht gelenkt werden. Isak erwartet von der Studie einen »klärenden Beitrag zur genaueren Charakterisierung dessen, was die beiden Autoren unter der ›Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, von der sie in den letzten beiden Kapiteln ihres Buches sprechen, verstehen« 439, und gelangt zu der enttäuschten Feststellung: »So bleibt es nach der Lektüre ihres Buches dem Leser weitgehend unklar, wo innerhalb der recht heterogenen Teleologieentwürfe der Philosophiegeschichte […] sich die beiden Autoren selbst einordnen würden.« 440 Isak übersieht hierbei, dass es Spaemann und Löw in »Natürliche Ziele« nicht um eine bestimmte Teleologiekonzeption geht, sondern um das teleologische Phänomen selbst, Isak, Evolution ohne Ziel?, 229. Ebd. 234. 438 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 439 Isak, Evolution ohne Ziel?, 53. 440 Ebd. 436 437
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das in der Neuzeit philosophisch heimatlos geworden ist. 441 Das Nebeneinander des in der Selbsterfahrung gegebenen Phänomens und dieser historischen Faktizität liefert erst die Motivation zum philosophiegeschichtlichen Projekt der Untersuchung der Formen des teleologischen Denkens. Wie hier gesehen wurde, ist die aristotelische Fassung eine gültige, uns aber unzugängliche; Thomas’ Versuch einer neuzeitlichen Transformation aber ebnete durch ihre theologischen Implikationen gerade den Weg zur Entteleologisierung. Eine aktualisierte neuzeitliche Teleologiekonzeption, die zwischen der aristotelischen und der thomasischen Konzeption erfolgreich vermitteln würde, gibt es somit noch nicht. Die Studie von Spaemann und Löw gibt also keine Antwort, sondern wirft eine Frage auf und leistet ihr Mögliches zu deren Konkretisierung. Die im Rahmen des zweiten Teils dieser Arbeit verfolgte These besteht darin, dass die gesuchte Aktualisierung des teleologischen Denkens als das Projekt der Philosophie Spaemanns überhaupt betrachtet werden kann und dass Spaemann eine Antwort auf diese Frage erst in seinen späteren Hauptwerken »Glück und Wohlwollen« und vor allem »Personen« entwickelt hat. Erst von deren Reflexionsniveau aus kann von einem klärenden Beitrag zur genaueren Charakterisierung dieses Denkens gesprochen werden. Isak dagegen trägt schon an die Eruierung der Rahmenbedingungen einer möglichen Aktualisierung in »Natürliche Ziele« einen Anspruch heran, der in ihr nicht erfüllt werden konnte, verhilft damit aber im Rahmen dieser Untersuchung dazu, nun abschließend die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen offenen Fragen richten zu können, die für die weitere Betrachtung von Spaemanns Werk entscheidend sein werden.
5.2.9
Versuch einer Schlussfolgerung
Zum Abschluss der Auseinandersetzung mit Spaemanns frühem Hauptwerk »Natürliche Ziele« soll zunächst im Sinne der aus Isaks Einwand gewonnenen Schlussfolgerung das Programm der Gegen441 Vgl. »Eine solche Erneuerung der Ontologie als Einzelteleologie ist keine Wiederbelebung einer bestimmten Tradition, sondern ein notwendiger Versuch, die Errungenschaften der über sich noch nicht genügend aufgeklärten Aufklärung zu retten, deren ›Unaufgeklärtsein‹ an den Krisen des Personbegriffs bzw. der Trennung von Person und Natur besonders deutlich wird.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 549.
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5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung
kritik am Antiteleologismus skizziert werden. Diese Überlegungen werden noch einmal zur Frage der Bindung der Naturteleologie an das Bewusstsein und zur Hypothese eines im Bewusstsein gegebenen Präreflexiven führen, das nur anerkannt werden kann. Ausgehend vom Begriff der Anerkennung wird abschließend die Bedeutung des Unbedingten für das teleologische Denken und die weitere Entfaltung von Spaemanns Philosophieren thematisiert. Die Auseinandersetzung mit den Umbildungen des teleologischen Denkens legte Formen der abstrakten Isolierung des Finalnexus – Universalteleologie und invertierte Teleologie – frei, wie auf der anderen Seite in der Auseinandersetzung mit dem modernen naturwissenschaftlichen Denken eine abstrakte Isolierung des Kausalnexus beobachtet wurde. Die von Spaemann und Löw intendierte Wiederbelebung der Teleologie kann in dieser Antinomie nicht votieren, sondern muss von einer anderen Ebene ausgehen: »Unsere Gegenkritik soll gerade jene ›Negation der Negation‹ darstellen, welche Kausalnexus und Finalnexus als zwei Seiten in ihrer Wahrheit in sich aufgehoben enthält. Falsch werden diese, wenn man sie abstrakt auseinander- und gegeneinanderhält, als isolierte für das Ganze nimmt.« 442 Was bedeutet »Negation der Negation« als Programm dieser Gegenkritik? Der Antiteleologismus negiert zunächst eine universal ausgeweitete Finaldetermination – die schon im stoischen Gedanken eines »Weltschauspiels« 443 den impliziten Bezug auf ein beobachtendes Bewusstsein enthält – durch die konsequente Rückführung auf ein Subjekt, das einem durchgängig kausal organisierten Weltmechanismus gegenübergestellt ist. Als erste Negation erscheint somit die Transformation der Universalteleologie in moderne Subjektphilosophie im Zuge der Ersetzung des Final- durch den Kausalnexus. Eine Negation dieser Negation muss das ›ich denke‹ als Ausgangspunkt der Subjektphilosophie selbst noch einmal auf seine Fundierung befragen. Ein solcher Rückgang hinter das Subjekt war ein zentrales Thema der philosophiegeschichtlichen Untersuchung des teleologischen Denkens, insofern von Aristoteles gerade das unbewusste Wirken der natürlichen Ziele betont wurde, ihre Verbindung mit dem Bewusstsein Gottes bei Thomas dagegen als Voraussetzung der Entteleologisierung benannt worden ist. Die Frage nach der Abhängigkeit der natürlichen Ziele vom Bewusstsein bzw. die 442 443
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 225–226. Ebd. 67.
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Frage, ob der Begriff des Zweckes bzw. Zieles abgegrenzt werden kann gegenüber intentionalen Begriffen wie Absicht oder Motiv, hat sich als die entscheidende Frage in der Kontroverse um die Berechtigung des teleologischen Denkens erwiesen. »Das stärkste antiteleologische Argument beruht auf der Verwechslung von Vorsatz und Zweck« 444, insofern die Behauptung von Naturzwecken gleichgesetzt wird mit der anthropomorphistischen Übertragung menschlicher Handlungszwecke in den Bereich der Natur. Ein zentrales Argument Spaemanns und Löws für die Naturteleologie ist die ursprünglich aristotelische These des unbewussten Wirkens der Naturzwecke, das zuerst im eigenen Lebensvollzug erfahrbar ist: Die menschliche Zwecksetzung als einziges Beispiel für zielorientierte Prozesse zuzulassen, ist zwar moderner wissenschaftlicher common sense; es ist dennoch falsch. Wir können Zwecke überhaupt nur setzen unter der Voraussetzung, daß wir vor der Zwecksetzung schon etwas wollen, und zwar etwas, was wir nicht setzen. Ich kann gar nicht wollen, wenn ich mich nicht immer schon wollend vorfinde. Und dieses primäre Wollen, der primäre Antrieb, bestimmte Zwecke zu setzen, ist selber nicht von der Art des Setzens, sondern von der Erfahrung eines dringenden Sollens. 445
Die Unterscheidung eines primären Wollens von bewussten Zwecksetzungen, die an die aristotelische Differenzierung von ›finis cuius‹ und ›finis quo‹ anknüpft 446, zeugt von einer Distanz des Menschen zu seiner Natur, die anderen Lebewesen nicht gegeben ist. Die Erfahrung des »organischen Sollens« 447 teilt der Mensch mit anderen Lebewesen, aber beim Sprechen über diese Gemeinsamkeit ergibt sich stets eine terminologische Schwierigkeit, insofern hier Begriffe an etwas sich der begrifflichen Erfassung Entziehendes herangetragen werden: Das Sollen zeigt das Ziel nur an, auf welches – in Zwecke transformiert – hin Dinge als Mittel zu seiner Realisierung ergriffen werden sollen. Aber in diesem Anzeigen ist das Ziel selbst präsent, es ist nur noch nicht als Zweck ausgeführt. Zweck und Mittel zeigen das begriffliche Auseinandertreten einer Einheit an, welche das Lebewesen nicht nur Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 218. Ebd. 35. 446 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 231–233. 447 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 219. 444 445
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5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung
kennzeichnet, sondern welche das Lebewesen ist. Man könnte sagen, Tier und Pflanze verhalten sich zu ihren Zielen unmittelbar. Wenn wir freilich sagen, daß sie sich unmittelbar verhalten, schreiben wir ihnen etwas zu, was wir an uns selbst erst begriffen haben, als es nicht mehr »unmittelbar« war. Die nachträgliche Reflexion versichert der vergangenen Einheit Unmittelbarkeit: aber als reflektierte ist sie nicht mehr unmittelbar. 448
Die prinzipielle Schwierigkeit, mit der jeder Versuch einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens unter der neuzeitlichen Bedingung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt konfrontiert ist und die einen schweren Nachteil im Diskurs mit dem Antiteleologismus einbringt, besteht darin, dass das Wirken natürlicher Ziele – das primäre Wollen – dem denkenden Wesen Mensch zunächst in der Selbsterfahrung gegeben ist und dass sein Zugang zu dem vor der Reflexion liegenden Phänomen, um das es geht, ihm immer schon in begrifflicher Vermittlung gegeben ist, so dass der Begriff der Unmittelbarkeit erst dann leisten kann, was er soll, wenn sein Anspruch, etwas Vorbegriffliches zu bezeichnen, anerkannt wird. Die Fundierung des Bewusstseins kann nicht aus dem Bewusstsein deduziert werden. Erst durch die Anerkennung der präreflexiven Fundierung gewinnt die Unterscheidung zwischen primären Zielen und sekundären, gesetzten Zwecken prinzipielle Bedeutung. Aus ihr folgt dann auch die Anerkennung von Grenzen möglicher Zwecksetzungen für ein natürliches Wesen, die in dem Sinne zu einer »›Finalisierung‹ der Wissenschaft« führt, als sie »wie alle menschliche Tätigkeit unter einem Ziel, einem ›Um … willen‹ als ihrer einschränkenden Bedingung steht« 449. Das mit dem Begriff der Anerkennung bezeichnete Verhältnis zu einem Präreflexiven wird ein zentrales Thema der weiteren Entwicklung von Spaemanns Philosophieren sein, insofern in ihm nach der Möglichkeit der Vermittlung des sich uns in uns Entziehenden mit dem philosophischen Denken gefragt werden wird. Eng verbunden mit dem Problem der Anerkennung ist das Thema des Unbedingten. Anerkennung bedeutet negativ Verzicht auf kausale Erklärung, auf Einfügung in den homogenen subjektiven Horizont einer Welterklärung, auf Unterjochung. Positiv bedeutet Anerkennung das Zugeständnis, dass Selbstsein einen konstitutiven
448 449
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 219. Ebd. 221.
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Gehalt hat, der sich meinem Horizont entzieht, dass in ihm etwas Unbedingtes anerkannt werden muss: Der ontologische Status der Teleologie, die teleologische Deutung des teleonomischen Phänomens entscheidet sich an der Frage nach dem Unbedingten. Denn jede Zielgerichtetheit, die nur als immanentes Organisationsprinzip eines komplexen Materiezustandes verstanden wird, so daß das Wort »gut« nur eine Relation bestimmter partieller Zustände zu diesem Organisationsprinzip meint, ist dem kausalen Reduktionismus ausgeliefert. 450
Teleologie im eigentlichen Sinne ist immer eine »die bloße Selbsterhaltung transzendierende« 451, woraus sich die entscheidende Frage nach dem Worauf dieser Selbsttranszendenz ergibt. Für eine nicht invertierte Teleologie ist das Ziel nicht das nackte Leben, die Selbsterhaltung, sondern das gute Leben, insofern es jeweils »Ereignisse und Zustände gibt, die besser sind als andere Ereignisse und Zustände« 452. Die Unterordnung des Guten unter das Bessere führt aber letztlich zur problematischen Frage nach dem ›finis cuius‹ der Selbsterhaltung, die Aristoteles mit dem Gedanken der μέθεξις, der Teilhabe am Göttlichen, beantwortet hat 453: Die Kategorie der Darstellung, der repraesentatio, ist die Weise, wie die platonisch-aristotelische Tradition die »absolute Teleologie« zur Sprache brachte. Sagen, daß etwas »zur Ehre Gottes« existiert, heißt ja nicht, es als Mittel einem äußeren Zweck unterordnen, denn niemand war ja der Meinung, es handle sich hier um ein zweckrationales Maximierungsprogramm. Es heißt vielmehr, daß es in einem absoluteren Sinne Selbstzweck ist, als wenn es nur »um seiner selbst willen« existierte, also nur »für sich« oder »für anderes«, nicht aber »an sich selbst« wertvoll, ein »Gut« wäre. 454
Teleologisches Denken kann also nicht ›bei sich‹ bleiben, sondern ist gezwungen eine Sprache zu sprechen, in der »Worte wie ›göttlich‹ und ›heilig‹ vorkommen« 455. Ohne diesen konstitutiven Bezug auf das Unbedingte degeneriert es: Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 242. Ebd. 245. 452 Ebd. 243. 453 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 233, Fn. 104. 454 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 245. 455 Ebd. 243. 450 451
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5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung
Wir haben gesehen, was folgt, wenn Teleologie zur obersten Kategorie wird, wenn sie nicht in so etwas wie Sinn übergeht. Sie invertiert dann zur bloßen Selbsterhaltungsteleologie, die entweder in einer schopenhauerschen Metaphysik des Absurden als das zu Überwindende verstanden wird, oder aber sie löst sich in teleologischen Schein, in Teleonomie auf. 456
Selbstsein als teleologisches Verfasstsein ist Symbolisierung des Unbedingten. 457 Jedes Sprechen darüber führt »an die Grenze des sprachlich Vermittelbaren« 458. Das zweite zentrale Thema, das sich somit neben dem der Anerkennung aus dem Programm der Gegenkritik am Antiteleologismus ergibt, ist die Frage der philosophischen Fassung des Unbedingten. Spaemann liegt eine unkritische Vermischung von Theologie und Philosophie, wie sie von Isak betrieben wird, fern. Welche genuin philosophischen Wege zu einer Annäherung an das Unbedingte führen können, soll im abschließenden Teilkapitel betrachtet werden.
456 457 458
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 247. Vgl. ebd. 246. Ebd. 245.
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5.3 Zugänge zum Absoluten
Wenn es abschließend um Zugänge zum Absoluten gehen soll, muss vorab gezeigt werden, inwiefern Spaemanns Philosophieverständnis selbst einen konstitutiven Bezug auf das Absolute immer schon voraussetzt. In dem aus dem Jahre 1981 stammenden Vortrag »Die kontroverse Natur der Philosophie« wendet Spaemann die philosophische Reflexion auf die innere Struktur des Denkens selbst: Jede mögliche Antwort auf eine Frage setzt einen Horizont von Ungesagtem voraus, einen Horizont von Selbstverständlichem, das in dieser Frage gerade nicht in Frage steht. Die Reflexion kann dieses thematisieren. Die Unendlichkeit solcher Reflexion ist für das Denken konstitutiv. Platon sagt deshalb, daß man über das, was selbst nicht mehr Gegenstand innerhalb eines Horizontes ist, sondern dieser selbst ist – er nannte es das Gute – gar nicht reden, sondern nur an den Punkt führen könne, wo man es ohne Worte versteht. 1
Für jede mögliche Reflexion gilt also einerseits, dass sie auf nicht thematisierten Voraussetzungen aufbaut, andererseits ist sie in der Lage, durch sukzessive Horizontverschiebung jeden zunächst stillschweigend vorausgesetzten Horizont zu thematisieren. Die spezifisch philosophische Reflexion hebt Spaemann von dieser potentiell unendlichen Denkbewegung dadurch ab, dass sie eine Metareflexion dieser Denkbewegung ist, die sich gleichwohl im selben Medium wie die erste Reflexion bewegen muss und daher den Bedingungen des Diskurses ausgesetzt ist. Die Reflexion ist älter und universeller als die Philosophie. Die Philosophie beginnt bei Platon damit, daß die Reflexion, insofern sie naturwüchsig aufbricht und das κοινόν, das stillschweigend Gemeinsame auflöst, noch einmal zum Gegenstand einer zweiten Reflexion gemacht und kritisch distanziert wird. […] Die Reflexion auf die Notwendigkeit des Selbstverständlichen, die reflektierte Wiederherstellung von Unmittelbarkeit ist selbst nicht selbstverständlich, sondern eine kontroverse Position, jedenfalls solange sie in Reden besteht, d. h., solange ihre Position eine theoretische ist und mit dem Willen auftritt, argumentativ zu überzeugen. 2 1 2
Spaemann, Die kontroverse Natur der Philosophie (1981), 114–115. Ebd. 116.
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5.3 Zugänge zum Absoluten
Man muss sich klar machen, dass Spaemann hiermit im Rahmen eines Vortrags über die kontroverse Natur der Philosophie seinerseits wiederum eine kontroverse Position vertritt, insofern er ein ausgesprochen emphatisches Philosophieverständnis – als Frage nach der ἀρχή 3 – zum Ausdruck bringt. Die Philosophie thematisiert als Metareflexion den Horizont des Selbstverständlichen, nicht um ihn durch Horizontverschiebung aufzulösen wie die erste Reflexion, sondern um auf ihn als das Selbstverständliche zu zeigen. Zwar ist die Philosophie als Metareflexion nicht davor gefeit, von einer weiteren Reflexion wieder aufgehoben zu werden, worin sich nur die Unabschließbarkeit des philosophischen Diskurses zeigt; mit »ihrem Ideal der Entdeckung dessen, was sich von selbst versteht« 4, ist jedoch der Anspruch verbunden, als Metareflexion in einem Bezug zum Absoluten zu stehen, der der ersten Reflexion prinzipiell unzugänglich ist, und somit die Bewegung der Reflexion aufhalten zu können. Kehrseite dieses emphatischen Philosophieverständnisses ist, dass sie für kein bestimmtes Interesse vereinnahmbar ist, weil für sie der absolute Bezug konstitutiv ist. Darum ist der Philosoph in ideologischen Auseinandersetzungen immer nur zeitweise brauchbar. Seine ideologiekritische Tendenz kann zeitweise mit der Tendenz einer ideologischen Position konvergieren, aber er ist kein unzuverlässiger Bundesgenosse, weil sein Interesse ein anderes ist. Er ist gewissermaßen naiv und meint wirklich, was alle sagen, daß es nämlich um das Wahre und Gerechte, also um das Gemeinsame geht. 5
Der Bezug auf das Absolute ist in diesem Philosophieverständnis also vorausgesetzt als negative Bedingung der Möglichkeit, zu einem Denken zu gelangen, das nicht der endlosen Iteration von Reflexionsbewegungen ausgesetzt ist. Im Folgenden sollen konkrete Zugänge zum Absoluten thematisiert werden, die Spaemann in den Schriften zwischen 1964 und 1981 erschlossen hat.
Vgl. Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81. Spaemann, Die kontroverse Natur der Philosophie (1981), 116. 5 Ebd. 124. – Dass Spaemanns emphatischer Philosophiebegriff mit seiner christlichreligiösen Grundhaltung korreliert, wird daran deutlich, dass er an anderer Stelle die besagte ideologische Unzuverlässigkeit als Kennzeichen von Christen beschreibt. Siehe den Abschnitt »Der Ideologieverdacht der Christen« in: Spaemann, Ethische Aspekte der Energiepolitik (1980), 52–53. 3 4
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Den ersten Zugang bildet eine geschichtsphilosophische Reflexion, in der vor dem Hintergrund der klassischen antiken Philosophie das neuzeitliche Denken unter dem Vorzeichen einer Entzweiung gedeutet wird, für die der Bezug zum Absoluten – und sei es der fehlende – konstitutiv ist. Hier geht es sowohl um negative Erscheinungsformen des Absoluten als auch um die Frage nach einer möglichen Überwindung dieser Negativität. Im Mittelpunkt stehen hier Texte Spaemanns aus dem 1977 veröffentlichten Band »Einsprüche. Christliche Reden« 6 (5.3.1). Den zweiten Zugang bildet eine ethische Reflexion, in der sich auf verschiedenen Wegen Bezüge zum Absoluten ergeben. Zum einen führt die Frage nach möglicher praktischer Gewissheit zum Gedanken der Gründung des Ethischen in einem Unvordenklichen und damit erneut zur Frage nach einem möglichen Zugang zu einem Negativen (5.3.2); zum anderen führt die Reflexion der Krisen der Gegenwart zur Frage nach der Erneuerbarkeit des Naturrechts und damit zur Auffassung der Natur als absolutem Maßstab (5.3.3).
5.3.1
Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
In der 1964 unter dem Titel »Theologie und Pädagogik« veröffentlichten Festschrift für Karl Rahner geht es nur indirekt um Philosophie und im Wesentlichen um die Frage, woraus eine Orientierung für pädagogisches Handeln gewonnen werden kann. Der Text ist wohl zu sehen im Zusammenhang mit den Studien über Fénelon, in denen, wie gesehen wurde, die mit der Überwindung der Reflexion gegebene Abwertung der Philosophie durch Spaemanns Weise der philosophischen Betrachtung dieses Vorgangs kompensiert wurde. Auf ähnliche Weise ist auch dieser Text philosophisch ergiebig, wenn die Gedankenführung zum Thema der Orientierung pädagogischen Handelns als existenzphilosophische Positionierung verstanden wird. Spaemann geht hier in seinen Überlegungen aus von dem Anspruch, der von Platon für die Philosophie und die Philosophen erhoben wird: Sie sollen allein befugt sein, den Staat zu regieren, die Erziehung zu leiten und die Maßstäbe für die Beurteilung aller kulturellen BetätiVgl.: »It would be entirely wrong to read these theological and religious writings as mere by-products of his philosophy or as independent of his philosophical thought.« – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 238.
6
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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
gungen zu formulieren. Und zwar deshalb, weil sie allein imstande sind, sich über das eigene Meinen zu erheben und des an sich Wahren ansichtig zu werden. Die Wahrheit selbst ist es, die durch sie hindurch regieren und das ganze Leben, vor allem aber die Erziehung normieren soll. Die Philosophie ist das Organ dieser Wahrheit. 7
Da ein solcher Anspruch von der neuzeitlichen Subjektphilosophie nicht mehr vertreten werden kann, stellt sich die Frage, worin unter neuzeitlichen Bedingungen dieses Organ der Wahrheit gesehen werden kann. Im Sinne des Diktums ›philosophia ancilla theologiae‹ wäre es naheliegend, dieses Organ nun in der Wissenschaft von Gott zu sehen. Das, so Spaemann, ist aber nicht der Fall: Der Theologe ist nicht der, der das weiß, was der einfache Gläubige bloß glaubt. Er steht vielmehr wie jeder Gläubige glaubend dem gegenüber, der allein den Vater gesehen und uns Kunde von ihm gebracht hat (Jo 1,18). Das »Selig, die nicht sehen und doch glauben« gilt prinzipiell für ihn wie für jeden Gläubigen. Wissenschaftstheoretisch gesehen steht so die Theologie durchaus auf einer niedrigeren Stufe als die Philosophie, als die Metaphysik, die ihre eigenen Axiome begründet. Die Theologie vermag ihre Axiome nicht selbst zu begründen, sondern entnimmt sie dem Wort Christi. Dieses aber gewinnt seine Evidenz nur im Glauben. Der Glaube ist also durchaus vor der Theologie, nicht nur in einem zeitlichen Sine, so wie die doxa vor der episteme ist, sondern auch sachlich: Theologie normiert nicht den Glauben, sondern interpretiert, systematisiert und reflektiert ihn. Sie ist deshalb wesentlich hermeneutische Wissenschaft, Hermeneutik des kirchlichen Glaubens. 8
Wenn somit die Rolle der antiken Philosophie als Organ der Wahrheit unter neuzeitlichen Bedingungen individualisiert worden ist und sich in den persönlichen Glauben verlagert hat, stellt sich zunächst die Frage, was aus dem Bezug der Philosophie zur Wahrheit geworden ist und in welchem Verhältnis sie unter neuzeitlichen Bedingungen zum Glauben steht. »Sofern Philosophie als Lebenslehre, als ›Existenzphilosophie‹ auftrat, wie in allen antiken Philosophenschulen, trat das Christentum zu ihr in Konkurrenz. Und wo sie sich als solche wieder etablieren will, steht sie in einem notwendigen Gegensatz zum biblischen Glauben.« 9 Wie eingangs angedeutet, muss der 7 8 9
Spaemann, Theologie und Pädagogik (1964), 95. Ebd. 96. Ebd. 100.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Begriff einer Philosophie, die in diesem Sinne zum Glauben in Konkurrenz tritt, unterschieden werden von dem anderen Begriff einer Philosophie als einer zweiten Reflexion, die die Rolle des Glaubens bzw. der ihn in Frage stellenden Philosophie in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit reflektiert; um eben diese Reflexion geht es im Rahmen dieses Essays. Der scheinbare radikale Bedeutungsverlust der Philosophie gegenüber der Antike wird insofern durch die Weise der philosophischen Betrachtung kompensiert, wobei diese Kompensation sich wieder durch eine christliche Inspiration der Philosophie ergibt. Die Verlagerung des Organs der Wahrheit in den einzelnen Gläubigen wirft nämlich die zweite Frage auf, welchen Anspruch dieser individuelle Glaube gegenüber der Gesellschaft haben kann. In diesem Zusammenhang bezieht sich Spaemann auf Rousseau, der »das Christentum als Religion der Entzweiung begriffen« 10 hat. Die Entzweiung – das Christentum »ist nicht religion du citoyen, sondern religion de l’homme« 11 – besteht zunächst darin, dass das Christentum den Menschen befreit, ihn jedoch von der Gesellschaft entfremdet. Gegenüber einer christlichen Welt der Frühneuzeit wird diese Entzweiung verschärft in der pluralistischen Gesellschaft der Neuzeit. Die Frage, was in dieser Welt das »Koinon, das schlechthin Allgemeine« 12 sei, könnte in zwei Richtungen beantwortet werden: entweder im Sinne einer »Theorie des Pluralismus«, die sich auf die »indifferenten technischen Strukturen« und Toleranz als »oberste Tugend« 13 beschränkt oder im Sinne der »Wahrheit des christlichen Glaubens«, die »gegen ihr Anerkanntsein gleichgültig« ist und der gegenüber der Staat sich auf die »Rolle des Verkehrsreglers« 14 zu beschränken hat. Beide Versuche der Auflösung der Entzweiung führen nach Spaemann in die Irre: Ohne die Reflexion auf die unaufhebbare Entzweiung im Begriff des Koinon, des »Allgemeinen« in unserer Welt wird der christliche Rückzug aus der Indifferenz der modernen Kultur um seine mögliche Frucht gebracht. Wo die Christen nicht das Andere ihrer selbst voll in ihr Bewußtsein aufnehmen, wo sie das fieri aliud inquantum aliud
10 11 12 13 14
Spaemann, Theologie und Pädagogik (1964), 104–105. Ebd. 105. Ebd. 108. Ebd. 109. Ebd. 109–110.
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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
nicht zu leisten vermögen, da fallen sie, ohne es zu wissen und zu wollen, dem Anderssein der Welt zum Opfer, da verlieren sie ihre christliche Identität. Es ist eine unverlierbare Einsicht Hegels, daß nur die Identität der Identität und Nichtidentität dem Verlust der Identität enthebt, daß nur die Thematisierung der Dialektik das blinde Verhängnis aufhebt. 15
Eine irgendwie geartete Aufhebung der Entzweiung liegt nicht im Bereich des Möglichen und so ist die »gehorsame Annahme der entzweiten Wirklichkeit« 16 durch den Einzelnen der einzige Ausweg und die existentialistische Verlagerung des Problems in die Person, die die Entzweiung aushält, die philosophische Antwort auf das Problem, die dieser Essay anbietet. Die Bedeutung dieser Antwort für die Philosophie wird in seinem Rahmen im Sinne einer Selbstreflexion dieser Position nicht thematisiert, es dürfte aber im Sinne Spaemanns sein zu ergänzen, dass das Rousseau’sche »Ecce homo« 17 und seine in Teilkapitel 5.1 dargelegte »existenzphilosophische[…] Interpretation« 18, die zum Teleologieproblem hinführte, eine solche Reflexion der umrissenen Position leistet. Der Vortrag »Mystik und Aufklärung« aus dem Jahre 1967 19 knüpft an die hier dargelegten Gedanken an, indem das Verhältnis des Gläubigen als Organ der Wahrheit zur pluralistischen Gesellschaft in den Begriffen Mystik und Aufklärung gefasst wird. Wenn der Glaube aufhört, Bestandteil des κοινόν, des Allgemeinen zu sein, wird die Frage nach ihm allein in das Subjekt verlegt: »Der Glaube aber wird zu einem blinden, unverantwortlichen Akt der Flucht der Subjektivität vor sich selbst, oder er setzt irgendein unmittelbares Verhältnis dieser Subjektivität zu dem Geglaubten voraus.« 20 Da somit der unmittelbare subjektive Zugang zum Geglaubten entscheidend wird, gewinnt für den Glauben in der Neuzeit die Tradition der Mystik zunehmende Bedeutung. Als deren Vertreter nennt Spaemann hier »Plotin, Eckhart, Ruysbroeck oder Johannes vom Kreuz«, denen es um ein »Unaussprechliches« geht, das »sich zeigt«: »Es zeigt Spaemann, Theologie und Pädagogik (1964), 111–112. Ebd. 114. 17 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 15. 18 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 25. 19 Vgl. Quellenhinweise: Vortrag auf dem Jahrestag der Görresgesellschaft am 19. 10. 1967 in Mainz. Zuerst erschienen in Concilium 1969. – Spaemann, Einsprüche (1977), 135. 20 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 43. 15 16
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
sich als Grund, nicht im Sinne einer Kausalität, sondern als Transparenz des Sagbaren auf einen Sinn hin, der schlechthin jenseits dieses Sagbaren liegt, außerhalb der Welt.« 21 Die mystische Tradition des »Entwerdens« (Eckhart, Tauler), die den Weg zu Gott in einem Verschwinden von Welt und Ich findet, bringt Spaemann in einen Zusammenhang mit der Aufklärung: »Es ist nicht von ungefähr, daß die Epoche der Frühaufklärung, das 17. Jahrhundert, zugleich die Epoche ist, die Bremond 22 als ›mystische Invasion‹ hat bezeichnen können.« 23 Der Aufklärung als Rationalisierung der Beziehungen des Menschen zur Welt und zu sich selbst und als Ausdehnung der Herrschaftsansprüche instrumenteller Vernunft korreliert eine Religiosität, die ohne jedes Interesse an dieser aufgeklärten Welt auf ihr ganz Anderes zielt: Die religiöse Subjektivität sagt ihrer Besonderheit ab. Damit freilich zugleich dem tiefsten Impuls der Aufklärung, dem Selbstbehauptungswillen des neuzeitlichen Subjekts. Mystik betreibt das Geschäft der Aufklärung nicht aktiv, sondern durch »Indifferenz«. Sie ist Verwirklichung und Überwindung der Aufklärung in einem, Überwindung, indem sie dem Willen zur Macht absagt, der die aufklärerische Naturbeherrschung zur Ideologie werden läßt. Das Ich, auf das der Mystiker sich aus dem Bereich der Objektivität zurückzieht, wird selbst zum Gleichgültigen bis hin zur Resignatio in infernum. 24
Die Gegenüberstellung von Mystik und Aufklärung ist somit ein weiterer Versuch, den neuzeitlichen Vorgang der Entzweiung zu durchdenken. In diesem Zusammenhang stellt Spaemann einen Bezug zur modernen Philosophie her, der aufschlussreich ist im Hinblick auf die oben 25 aufgeworfene Frage nach dem Bezug der Philosophie zur Wahrheit. Die Transzendentalphilosophie, die ihrerseits den Anspruch hat, die Entzweiung denken zu können, postuliert ein weltloses Ich, das in einer gewissen Analogie zum mystischen Entwerden steht.
Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 38. Henri Bremond (1865–1933), französischer Theologe und Philosoph. 23 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 42. 24 Ebd. 45. – In diesem Zusammenhang bezieht sich Spaemann auch auf seine Studien über Fénelon, dessen Überwindung der Reflexion durch die reine Liebe das Verhältnis von Aufklärung und Mystik zum Ausdruck brachte. – Vgl. ebd. 45–46. 25 Vgl. im vorliegenden Abschnitt, 295. 21 22
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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
[…] müssen wir den Gedanken einer transzendentalen Subjektivität bereits einen mystischen Gedanken nennen? Weil wir dies nicht müssen, bleibt Transzendentalphilosophie in ihrem Inhalt stets zweideutig und in ihrer Möglichkeit problematisch. Sie ist kein zwingender Gang des Denkens. Sie hintergeht alle Tatsächlichkeit, aber sie ist ebenso ihrerseits von Faktizität umgriffen. Das transzendentale Ego, das sich in der Reflexion konstituiert, ist zweideutig. Es erfährt sich als außer der Zeit und vor aller Psychologie stehend. Aber es ist doch gleichzeitig nur ein bestimmtes Moment in einem individuellen geschichtlichen Reflexionsprozeß. Es ist gegen eine psychologische Interpretation nicht gefeit. 26
Während die Mystik auf die Erfahrung von Selbsttranszendenz verweisen kann, die nicht vermittelt, sondern nur nachvollzogen werden kann, erhebt die transzendentalphilosophische Reflexion den Anspruch einer Weltkonstitution, der jedoch von der Faktizität des Ego unterlaufen wird. Eine von der Transzendentalphilosophie also nicht leistbare mögliche Vermittlung zwischen der religiösen Erfahrung und dem philosophischen Denken steht daher nach Spaemann unter einer bestimmten Voraussetzung: »Um aber das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das Verhältnis von Transzendenz und Faktizität zu vermitteln, ist, wie Hegel in der Einleitung zur ›Phänomenologie des Geistes‹ sagte, stets schon die unmittelbare Präsenz des Absoluten vorausgesetzt.« 27 Wie in »Theologie und Pädagogik« wird in »Mystik und Aufklärung« über diese kritische Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie hinaus die Frage nicht explizit verfolgt, welche Gestalt eine Philosophie, die das Absolute denkt, annehmen könnte. Wie dort bleibt es hier bei einer Art Phänomenologie der Entzweiung, durch die der Bezug zum Absoluten in einer aufgeklärten Welt als Möglichkeit bewahrt bleibt: »In dieser mystisch distanzierten und zugleich erinnernd festgehaltenen Weise aber könnte Religion in einer durch wissenschaftliche Aufklärung bestimmten Welt Bestand haben, ohne sich von dieser Welt abzukapseln oder sich in ihren Kategorien definieren zu müssen.« 28 Der hier hergestellte Zusammenhang von Mystik und Aufklärung zeigt, dass die Entzweiung sich gewissermaßen ständig perpetuiert. Die Bewegungen der aufklärerischen Vernunft führen – zu Ende gedacht – immer wieder zur mystischen Erfahrung zurück. 26 27 28
Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 46–47. Ebd. 47. Ebd. 50.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Abschließend soll es nun noch um einen dritten Vortrag 29 aus dem Jahre 1970 mit dem Titel »Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ›Gott‹« gehen. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, wie aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts ein genuin philosophischer Zugang zu Gott bzw. zum Absoluten gefunden werden kann. Spaemann bezieht sich zunächst auf die »Sprachphilosophie, die die vormalige Transzendentalphilosophie in gewisser Weise abzulösen im Begriff ist« 30, und im engeren Sinne auf eine Religionsphilosophie, die »sich dieser sprachanalytischen Richtung angeschlossen hat« 31 und versucht, »einen eigenen Bereich religiösen Sprechens aufzuzeigen, der ebenso sinnvoll oder sinnlos ist wie andere Arten von Sprechen« 32. Die Grenze dieser Religionsphilosophie liegt nun aber, so scheint mir, darin, daß das Gebet zwar selbst mit Worten ein Verhältnis zu realisieren versucht, daß aber der Adressat dieses Verhältnisses, so wie er vom Betenden gemeint ist, keineswegs selbst dadurch konstituiert wird, daß der Betende zu ihm spricht. Er ist davon, ob ich zu ihm bete oder nicht, ganz unabhängig, und das heißt: er ist nicht angemessen beschrieben in einer Theorie performativer Sätze. 33
Zweitens bezieht er sich auf die universale »Funktionalisierung« als »Signum des Zeitalters« 34, die »grundsätzliche Austauschbarkeit von allem gegen alles« 35 durch funktionale Äquivalente. Die Tendenz zur Funktionalisierung aller Lebensbereiche hat auch vor der Religion nicht Halt gemacht und funktionale Äquivalente für Gott gefunden. 36 Da es bei dieser funktionalistischen Interpretation darum geht, dass Gott für den Menschen zu etwas gut ist, womit dieses Etwas größer ist als Gott selbst, spricht Spaemann von anthropologischer Theologie, die aber nach seiner Überzeugung zu kurz greift:
Vgl. Quellenhinweise: »Vortrag zur Eröffnung der Salzburger Hochschulwochen im August 1970. Zuerst erschienen in: Internationale Katholische Zeitschrift I (1972).« – Spaemann, Einsprüche, 135. 30 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 14. 31 Ebd. 16. 32 Ebd. 33 Ebd. 16–17. 34 Ebd. 17. 35 Ebd. 36 In diesem Zusammenhang verweist Spaemann auf de Bonald, »der 1793 bereits das Thema einer politischen Theologie anschlug und die Wahrheit der christlichen Lehre aus ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft beweisen wollte«. – Ebd. 18. 29
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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
Wir können natürlich dem anthropologischen und damit dem funktionalen Ansatz nicht durch einen Salto mortale in die Naivität entgehen. Aber wir können sehen, daß er, wo von Gott ernsthaft die Rede ist, sich selbst aufhebt: weil hier die »Funktion« gerade darin liegt, nicht durch die Funktion definiert, also nicht austauschbar zu sein. Und das »religiöse Bedürfnis« ist Bedürfnis nach etwas, was nicht als Korrelat von Bedürfnissen bestimmbar ist. 37
Ausgehend von dieser antifunktionalistischen Glaubensüberzeugung, dass es »kein Äquivalent für das Sich-Zeigen Gottes« 38 gibt, stellt Spaemann dann die Frage nach der »Bedeutung des Wortes ›Gott‹« 39. Die einzige Antwort auf diese Frage, die verhindert, dass Gott durch funktionale Äquivalente ersetzbar wird, ist die Verbindung der Prädikate »Macht« und »Liebe«, die »Einheit von Sein und Sinn« 40. Spaemann betont, dass Gott als postulierte Einheit von Sein und Sinn eigentlich nur theoretisch in Zweifel gezogen werden kann. »Als handelnde Wesen haben wir uns stets schon für dieses Postulat entschieden. Wir können nur sinnverstehend existieren.« 41 Spaemann unterscheidet also im Hinblick auf die Infragestellung Gottes und der Einheit von Sein und Sinn den praktischen Vollzug dieser Handlung von ihrem theoretischen Gehalt: Hinter jeder Vernunftaufklärung steht noch die konstitutive Naivität des Handelnden, und das heißt: sinnverstehende Existenz. Die theoretisch verfremdende Reflexion, die Sinn als Epiphänomen entlarvt, erhebt sich nicht über diese Naivität, sondern fällt unter sie. Sie ist Ausdruck der Ohnmacht, sich als handelndes Wesen selbst anzueignen, sie ist Ausdruck der Identitätsschwäche. Die Reduktion der Welt auf pure bedeutungslose Faktizität durch die instrumentelle Vernunft der Wissenschaft dient der Ausdehnung der Macht und Verfügungsgewalt über die Natur. Aber die Totalisierung der instrumentellen Vernunft läßt das Subjekt dieser Verfügungsgewalt verschwinden. Wir beherrschen die Natur, aber es ist eigentlich niemand mehr, der sich wirklich als Herr über die Natur wüßte. 42
Folgerichtig widmet Spaemann sich dann weiter nicht der Frage nach möglichen Erwiderungen auf die theoretische Leugnung der Einheit 37 38 39 40 41 42
Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972),19. Ebd. 20. Ebd. 21. Ebd. 25. Ebd. 26–27. Ebd. 27–28.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
von Sein und Sinn, sondern der Frage nach den positiven Erscheinungsformen von Sinn und der Weise ihrer Erschließung. Die primäre Erschließung von Sinn geschieht deshalb nicht durch Argumentation, sondern durch fundamentalere Weisen der Kommunikation. Sie geschieht letzten Endes durch Liebe. Darum ist der Begriff des Gottesbeweises so irreführend. Erkenntnis Gottes ist eine Sache höchster selbstloser Aufmerksamkeit. Ihr Gegenteil aber, Müdigkeit und Zerstreutheit, werden nicht durch Beweise beseitigt. Die Therapie ist von anderer Art. 43
Erschließung von Sinn geht nicht aus einer Betrachtung der Welt der Objekte durch ein ihr gegenüberstehendes abstraktes Subjekt der Erkenntnis hervor, sondern setzt eine Form der Intentionalität voraus, die dieses abstrakte Subjekt-Objekt-Verhältnis aufhebt. Sinn, so betont Spaemann, bedeutet symbolische Repräsentation: »Nur in symbolischer Repräsentation wird die krude Faktizität des begrifflos Einzelnen transzendiert« 44. Der aus der platonisch-aristotelischen Tradition stammende Begriff der repraesentatio weist darauf hin, dass Erkenntnis im Sinne von Verstehen nur möglich ist durch Anerkennung von Selbstsein, das sich zeigt und in diesem Sich-Zeigen über sich hinausweist auf das Absolute, an dem es teilhat. Insofern hier aber der intentionale Akt solchen Erkennens thematisiert wird, geht dieser Gedanke wesentlich über die platonisch-aristotelische Tradition hinaus: Die These von der ontologischen Ursprünglichkeit von Sinn oder, um mit den Scholastikern zu sprechen, von der Intelligibilität des Seins, die im Gedanken Gottes gedacht wird, impliziert deshalb die ontologische Ursprünglichkeit der Sphäre symbolisch vermittelter Interaktion. Diese ganz und gar nicht selbstverständliche These wird in der christlichen Trinitätslehre ausgesprochen. Denn in der Trinitätslehre ist von einer symbolischen, nämlich durch ein Wort sich vollziehenden Selbstvermittlung Gottes die Rede. 45
Der wesentliche Unterschied zum antiken Teilhabe-Gedanke ist also die Reflexion der Interaktion, innerhalb deren sich eine wechselseitige Sinnerschließung vollzieht. Durch die in diesem Zusammenhang ins Gespräch gebrachte Trinitätslehre taucht hier der Begriff der Per-
43 44 45
Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 29. Ebd. Ebd.
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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
son auf, die nur im Plural gedacht werden kann, ohne dass dieser Begriff an dieser Stelle von Spaemann näher reflektiert wird. 46 Inwiefern kann dies aber noch als Gegenstand philosophischen Denkens betrachtet werden? Reine Philosophie bringt es nicht etwa zur Erkenntnis eines persönlichen Gottes, sondern zugleich zu mehr und weniger. Sie bringt es zu einer gewissen intellektuellen, von Philosophie selbst nicht mehr definitiv entscheidbaren Schwebe zwischen Pantheismus auf der einen Seite und Trinitätslehre auf der anderen Seite. 47
Reine Philosophie bringt es zu mehr als zur Erkenntnis eines persönlichen Gottes, da die nur theoretisch bestreitbare Annahme eines »seinsmächtigen Sinn[es]« 48 als »symbolische Selbstvermittlung, also trinitarisch« 49 gedacht werden muss. Sie bringt es zu weniger als zur Erkenntnis eines persönlichen Gottes, da die pantheistische Vorstellung der Welt als »Selbstvermittlung Gottes« faktisch mit der atheistischen Vorstellung zusammenfällt. Die Philosophie bringt es nur bis zur Schwebe zwischen beidem, weil sie an eine Grenze des Denkens, »vor die Schwelle der Entscheidung« 50 führt. Auf den Gesamtzusammenhang von Spaemanns Werk betrachtet führen die hier dargelegten Gedanken aus Aufsätzen und Reden der 60er und frühen 70er Jahre weit über diese Phase der Entwicklung seines philosophischen Denkens hinaus. Im eigentlichen Sinne philosophisch eingeholt werden sie erst in seinen Hauptwerken »Glück und Wohlwollen« (1989) und »Personen« (1996). Im Kontext seiner Schriften des Zeitraums zwischen 1964 und 1981 stehen wesentliche hier angeschnittene Positionen isoliert da. Dennoch dokumentieren sie, wie gezeigt werden sollte, Spaemanns Orientierung am Absoluten und Richtungen des Denkens, durch die diese Orientierung im Weiteren philosophisch fruchtbar gemacht werden wird.
Die hier angeschnittenen Gedanken weisen voraus auf Spaemanns drittes Hauptwerk »Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹«. S. Kapitel 8, Ontologie der Person, 509–650. 47 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 30. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 31. 46
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
5.3.2
Das Absolute in ethischer Perspektive
Spaemanns Ansatz in der Ethik soll vor allen Dingen anhand der im Januar 1964 gehaltenen Stuttgarter Antrittsvorlesung mit dem Titel »Die zwei Grundbegriffe der Moral« 51 dargelegt werden. Spaemann geht in ihr aus von der Unterscheidung des italienischen Soziologen Vilfredo Pareto zwischen Residuen und Derivationen: »Unter ›Residuen‹ verstand Pareto nichtlogische Handlungsschemata, unter ›Derivationen‹ die nachträgliche theoretische Begründung und Rechtfertigung solcher Handlungsschemata.« 52 Die allmähliche Entstehung von Derivationen bedeutet den Übergang von einer Ethik der »Traditionslenkung« zu einer der »Innenlenkung«. Dieser Übergang ist gleichbedeutend mit dem Versuch, die ethischen Verhaltensregeln auf so etwas wie einen letzten Grund oder Zweck hin zu rationalisieren, auf ein »höchstes Gut«, wie es in der Sprache der philosophischen Tradition heißt. 53
Angesichts dieses Übergangs stellen sich zwei Fragen: 1. Sind die Derivationen den Residuen adäquat, so dass diese »Rationalisierung oder Formalisierung der Ethik« 54 als gelungen bezeichnet werden kann? 2. In welchem Verhältnis stehen die Derivationen zu den Residuen: Werden sie zur funktionalen Deduktion eingeführt oder gibt es eine »andere Art von Begründungszusammenhang« 55? In die Sprache der platonischen Philosophie übertragen geht es bei diesen Fragen um das Verhältnis der Begriffe des Schönen und des Guten. »Schön« nennt Plato Handlungsweisen, insofern sie sich allgemeiner Anerkennung und Billigung erfreuen, also moralisch im landläufigen Sinne sind. »Gut« dagegen nennt er Handlungen, insofern mit ihnen der Handelnde jenen Zweck erreicht, um den es ihm im Handeln eigentlich geht, gut ist also das Wünschbare, Nützliche, Erstrebenswerte, Förderliche. 56
Zuerst erschienen in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), 368–384. Wiederabdruck in: Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, 1–22, und in: Ders., Grenzen, 64–82. 52 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 65. 53 Ebd. 67. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd. 51
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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
Das Schöne also steht als Oberbegriff für die Residuen, das Gute als Oberbegriff für die rationalen Derivationen. »Die Frage, die in der Auseinandersetzung mit den Sophisten immer wieder erörtert wird, ist die, ob das Schöne auch gut sei«. Damit wird die erste Frage, ob die Derivationen den Residuen adäquat sind, thematisiert. Spaemann legt die konträren Antworten der Sophisten und Platons dar. Die Position der Sophisten – Kallikles und Thrasymachos – besteht darin, dass das Schöne »nicht gut und deshalb auch nur aufgrund einer tückischen Konvention, aber nicht in Wirklichkeit, nicht von Natur schön« 57 sei. Wünschenswert für den Einzelnen sei es dagegen, die »eigenen Begierden so groß als möglich werden« zu lassen, »ohne sie im Zaum zu halten« 58. Die Antwort der Sophisten auf die gestellte Frage ist demnach eine »Kritik des Schönen, also der sittlichen Konvention, die mit den natürlichen Bedürfnissen und Strebungen des Menschen nicht im Einklang sei« 59. Eine Identität des Schönen und Guten ist demnach zwar möglich, aber nur wenn das Schöne nach Konvention durch das Schöne von Natur ersetzt wird, wobei der einzige Maßstab das starke Individuum ist. Platon stellt dieser Position eine »kritische[…] Revision der Begriffe des Nutzens, der Lust und des Guten« 60 entgegen, indem er das Gute so bestimmt, »daß die Schönheit eines menschlichen Verhaltens selbst ein integrierender Bestandteil jenes eigentlichen und letzten Handlungszweckes wird« 61. Platon bejaht also die unbedingte Identität des Schönen und des Guten dadurch, »daß das Interesse, das dem Handelnden unterstellt wird, bereits selbst als durch jene Inhalte bestimmt gedacht wird, die aus ihm abgeleitet werden sollen« 62. Es entsteht somit eine Zirkelstruktur: Die Inhalte, also das nach Konvention Schöne bzw. die Residuen, bestimmen das Interesse, also das Gute bzw. die rationalen Derivationen, aus dem jene Inhalte wiederum abgeleitet werden. Diese Argumentationsstruktur liefert zugleich die Antwort auf die zweite Frage, insofern klar wird, dass sich kein »deduktiver Zusammenhang« 63 zwischen dem Interesse und den Inhalten herstellen lässt:
57 58 59 60 61 62 63
Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 68. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 69.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Dies ist die Entdeckung der platonischen und aristotelischen Ethik gewesen: Alle inhaltlich eindeutigen, alle materialen Interpretationen des höchsten Gutes, das heißt des obersten Handlungszweckes beziehungsweise der höchsten Wünschbarkeit, führen zum Verschwinden des Schönen, das heißt des Sittlichen, wenn nicht die Inhalte des Sittlichen schon von vornherein in diesen obersten Zweck hineininterpretiert worden sind. […] Die moralischen Normen werden nicht aus dem Begriff des Glücks abgeleitet, sondern der Begriff des Glücks meint den Inbegriff eines geglückten Lebens, wobei das geglückte Leben unter anderem dadurch bestimmt ist, daß es ein sittliches Leben ist. Und was dies heißt, wird nicht deduziert, sondern im sittlichen Bewußtsein der Polis vorgefunden. 64
An die Stelle eines deduktiven Ableitungsverhältnisses der moralischen Normen aus dem Begriff des Glücks tritt also ein hermeneutisches Verständnis von Ethik, die die jeweiligen Inhalte bzw. Normen auf ihre Einfügbarkeit »ins Ganze eines guten Lebens« 65 zu prüfen hat, wobei dieses Ganze im sittlichen Bewusstsein der Zeit bereits vorausgesetzt wird. Ihm entspricht bei Aristoteles auf subjektiver Seite ein »natürliche[r] Impuls zum Schönen«. Spaemann zitiert aus der »Großen Ethik« des Aristoteles: Es ist nicht der Logos, wie die andern meinen, Anfang und Führer der Tugend, sondern vielmehr nichtrationale Leidenschaft. Denn Voraussetzung ist, daß ein gewisser irrationaler Impuls in uns entsteht, was ja in der Tat der Fall ist, und dann muß, auf dieser Basis, als zweite Instanz der Logos die Sache zur Abstimmung und Entscheidung bringen. 66
In diesem Verhältnis der Vernunft zu einem Natürlichen bzw. Irrationalen erkennt Spaemann die »formelle Struktur ethischen Handelns« 67: Auf der einen Seite steht die »Unmittelbarkeit der Wertschätzung, die sich nicht durch Gründe vermittelt« 68, auf der anderen Seite die »ausschlaggebende Entscheidung durch die Vernunft, die die Impulse zum Schönen koordiniert und am Ziel des guten Lebens im Ganzen kritisch mißt« 69. Spaemann verweist an dieSpaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 69. Ebd. 70. 66 Ebd. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Zitats: Große Ethik, 1206b. – Ebd. 541. 67 Ebd. 68 Ebd. 70–71. 69 Ebd. 71. 64 65
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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
ser Stelle auf die klassische Darstellung dieser Struktur in »den ›Eumeniden‹ des Äschylus« 70, in denen es am Ende der Orestie um den »Ursprung der Polis« und damit indirekt um den »Ursprung des Philosophie« 71 geht. 72 Die Rachegeister der Erinnyen werden zwar von Athene vor einem Gerichtshof zurückgewiesen, gleichwohl wird ihnen ein dauerhafter Platz in der Polis garantiert: »Das der Polis zugeordnete Prinzip der Rationalität erweist […] darin seine humanisierende und friedensstiftende Kraft, daß es sozusagen offen ist nach unten und rückwärts, das heißt offen für das, was nicht durch es selbst gesetzt ist.« 73 Das Verhältnis der beiden Seiten, des Natürlichen und des Vernünftigen, ist aber kein prästabiliertes, sondern läuft Gefahr, in eine Richtung aufgelöst zu werden: »Nun wohnt allerdings dem Prinzip der rationalen Integration eine Tendenz inne, sich gegen seine eigenen natürlichen und geschichtlichen Voraussetzungen zu kehren und sie aufzulösen beziehungsweise sie zu funktionalisieren.« 74 Spaemann spricht daher von einer »grundsätzlichen Ambivalenz […] des ethischen Prinzips der Rationalität überhaupt« 75. In Zeiten der einsetzenden Reflexion leistet dieses Prinzip die Integration konkreter Inhalte, die es selbst nicht generieren kann; das rationale Prinzip hat jedoch die Tendenz, sich von diesem Unverfügbaren zu emanzipieren und »das Dasein total den Bedingungen seiner Erhaltung zu unterwerfen« 76. Als Gegenbeispiel zur Vermittlung von Natürlichem und Vernünftigem durch Athene führt Spaemann den »Friedenspriester Sarastro« 77 an: »Aber die Vernunft, die er repräsentiert, hat die Kraft eingebüßt, das Andere ihrer selbst in seinem Anderssein zu belassen und zu bestätigen. Sie ist nicht mehr dialektisch, sondern abstrakt, und das heißt: totalitär.« 78 Es geht hier also um den Prozess, der mit dem Schlagwort »Dialektik der AufkläSpaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 71. Ebd. 72 Die »Eumeniden« des Aischylos werden von hier an ebenso wie das kontrastierende Beispiel Sarastros und der Königin der Nacht (siehe unten) ein im Werk Spaemann leitmotivisch wiederkehrendes Motiv zur Bezeichnung einer ihre Wurzeln erinnernden und präsent haltenden Aufklärung bzw. einer solchen, die diese vergisst und der Dialektik der Aufklärung anheimfällt. 73 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 71. 74 Ebd. 72. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd. 74. 78 Ebd. 70 71
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
rung« bezeichnet werden kann: 79 »Vernunft, die nicht ihre natürlichen und geschichtlichen Voraussetzungen erinnernd bewahrt, fällt selbst in bloße Natur zurück.« 80 Bereits die Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten hat aber gezeigt, dass die erinnernde Bewahrung der natürlichen und geschichtlichen Voraussetzungen zweideutig zu werden droht, insofern das Natürliche von Platon als das κοινόν, von den Sophisten aber als egozentrischer Wille zur Macht gedeutet wurde. Die Zirkelstruktur der platonischen Argumentation und das hermeneutische Verständnis der Ethik bei Aristoteles bewahren zwar den Ausgleich zwischen dem Natürlichen und dem Vernünftigen durch den Bezug auf die Wirklichkeit der Polis; aus der Perspektive einer autonomen Vernunft betrachtet, die ihre Maßstäbe nicht aus der Natur, sondern nur aus sich selbst schöpft, trifft beide jedoch der Vorwurf einer petitio principii, womit sie dem Verdikt gegenüber jeder eudämonistischen Ethik verfallen. Die antieudämonistische Pflichtethik Kants erneuert einerseits paradoxerweise die inhaltliche Unbestimmtheit des obersten Zwecks der eudämonistischen Ethik Platons und Aristoteles’, andererseits ist sie selbst auch eine petitio principii, insofern der kategorische Imperativ bereits das Bewusstsein davon voraussetzt, »was man wollen kann, daß es Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung wäre«: Was das ist, läßt sich allerdings, wie dann Hegel bemerkt hat, aus dieser formalen Maxime nicht herleiten, wenn man es nicht schon wüßte, wenn also der tatsächlich bestehende way of life nicht genügend sittliche Substanz enthielte, um den Formalismus des kategorischen Imperativs mit geschichtlichem Inhalt zu füllen. Die Philosophie ist wesentlich retrospektiv, wenn sie nicht durch die Anmaßung, Wege in die Zukunft zu weisen, Ideologie werden will. 81
Spaemanns Überlegungen aus der Vorlesung »Über die zwei Grundbegriffe der Moral« verdeutlichen also einerseits die Bewegung, die zur Überwindung eudämonistischer Ethiken, denen er in Gestalt der platonischen und aristotelischen Konzeptionen offen Sympathie entgegenbringt, geführt haben, weisen andererseits aber auf das in der In seiner »Autobiographie in Gesprächen« betont Spaemann die Bedeutung, die das Buch Adornos und Horkheimers, das er bereits 1949 rezipierte, für die Entwicklung seines Denkens entwickelte. – Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 110– 112. 80 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 74. 81 Ebd. 79. 79
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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
Emanzipation von den natürlichen Voraussetzungen begründete Problem der reinen Pflichtethik Kants hin. 82 Zu einer Lösung geführt wird dieser Gedankenkomplex von Spaemann erst 25 Jahre später in »Glück und Wohlwollen« 83. An dieser Stelle ist als entscheidende Erkenntnis festzuhalten, dass die Ethik ihren Bezug auf das »Unvordenkliche, immer schon Vorauszusetzende« 84, mit anderen Worten: auf das Absolute, bewahren muss, wenn sie nicht in Irrationalität umschlagen soll. In dem Essay »Praktische Gewißheit. Descartes’ provisorische Moral« aus dem Jahre 1968 betrachtet Spaemann das erörterte Problem der Ethik aus einer anderen Richtung, nämlich aus der neuzeitlichen Perspektive. Er bezieht sich im Wesentlichen auf das dritte Kapitel von Descartes’ »Discours de la méthode«, in dem Descartes Regeln einer ›morale par provision‹ entwirft: Diese Moral besteht aus »drei oder vier Maximen«, die alle den Zustand des Nichtwissens mit Bezug auf so etwas wie absolute Normen zur Voraussetzung haben. Die drei ersten dieser Maximen besagen: Am Rande sei hier auch auf den aus dem Jahre 1977 stammenden Vortrag »Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben« hingewiesen, in dem Spaemann eine Einseitigkeit der kantischen Pflichtethik hervorhebt und die notwendige Verankerung der Sollens im Wollen betont: »Der Sinn also der Frage nach dem, was wir eigentlich letzten Endes wollen, ist offenbar der, in unser Wollen eine Einheit zu bringen, die vorher nicht darin war. Wir können also auch fragen: Was sollen wir eigentlich wollen? In dieser Form ist uns die Frage als moralische geläufig seit Kant. Aber in dieser Form bringt sie nicht zum Ausdruck, daß Einheit in unser Wollen nur kommen kann, wenn es zugleich Einheit mit dem ist, was wir schon, ehe wir zu fragen beginnen, sind, das heißt Einheit mit unserer Natur. Die Frage, was wir sollen, läßt sich, da sie auf Identität zielt, nur so stellen, daß wir zugleich fragen, was wir im Grunde immer schon wollen. Kein Sollen würde uns überhaupt erreichen, wenn es nicht Ausdruck von etwas wäre, was wir schon wollen, oder Ausdruck einer Tendenz, die schon in unserer Natur läge.« – Spaemann, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben (1977), 83. – Es geht also um die Erneuerung der Naturteleologie, insofern ein natürliches Wollen (finis cuius) vorausgesetzt wird, das uns mit anderen natürlichen Lebewesen verbindet und zu dem unsere bewussten Zwecksetzungen (finis cui) sich in ein Verhältnis setzen müssen und zu dem sie sich nicht ohne ernste Folgen für die seelische Gesundheit in einen Widerspruch setzen können. In diesem Vortrag finden sich auch Gedanken über den »intentionalen Charakter des Glücks« – ebd. 89 – bzw. die Wirklichkeit erschließende Kraft von Gefühlen – ebd. 90 – sowie über das »Sein für andere« – ebd. 94 –, die Vorausdeutungen auf Positionen in »Glück und Wohlwollen« darstellen. 83 S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik, 415–508. 84 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 73. 82
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
1. Gehorsam gegen die Gesetze und Gewohnheiten des Landes und der angestammten Religion; Vermeidung von Extremen, Anpassung; 2. Wahl des »probablen«, wo nichts gewiß ist, und Festhalten am einmal eingeschlagenen Weg, sogar, wenn dieser mangels Probabilität »blind« gewählt werden mußte. Einmal gewählt, sollte er behandelt werden, als ob seine Richtigkeit feststünde. Descartes bringt hier den Vergleich mit einem im Walde Verirrten, der auf jeden Fall gut daran tut, geradeaus weiterzugehen; 3. Unterordnung der eigenen Wünsche unter das Unvermeidliche, Beschränkung auf das, was in der eigenen Macht liegt: die eigenen Gedanken. 85
Spaemann legt dar, dass ›provision‹ zu verstehen ist als ›Proviant‹ im Sinne der Antwort auf die Frage: »Wie ist ein komplett gerechtfertigtes Handeln möglich unter den Bedingungen einer nicht kompletten Wissenschaft?« 86 Da eine »partielle Rechtfertigung« 87 keine ist, geht es also »um eine absolute Gewißheit, die auf praktischem Feld immer schon dort angelangt ist, wohin die theoretische Wissenschaft als nach ihrem Ideal strebt« 88. Was absolute Gewissheit im praktischen Bereich bedeutet, lässt sich anhand eines Vergleichs mit theoretischer Gewissheit zeigen: Der Begriff der theoretischen Gewißheit gewinnt bei Descartes seine spezifische Bedeutung durch den Gegensatz zur Zweifelsmöglichkeit. Gewiß ist, was nicht bezweifelt werden kann. Nun kann aber doch die Richtigkeit einer Handlung sehr wohl bezweifelt werden. Was heißt also moralische Gewißheit? Auch dies muß vom Gegenbegriff her verstanden werden, und zwar steht hier an der Stelle des Zweifels der Gewissensbiß, die Reue, der Vorwurf. Moralisch gewiß ist, was unmöglich nachträglich, auch wenn es als falsch eingesehen wird, Ursache für Selbstvorwürfe werden kann. 89
Praktische Gewissheit bezieht sich also einerseits auf die Eignung von Handlungen, »die Glückseligkeit als das höchste Gut zu befördern« 90, die jedoch »im besten Fall immer nur wahrscheinlich« 91 sein kann, andererseits aber darauf, dass »es richtig ist, im Handeln das objektiv nur Probable für gewiß zu halten, dies aber ist auf eine nicht zu über85 86 87 88 89 90 91
Spaemann, Moral, provisorische, in: HWPh VI, col. 173. Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 85. Ebd. Ebd. 86. Ebd. Ebd. 87. Ebd.
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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
bietende Weise wahr und gewiß« 92. Praktische Gewissheit wird also von Descartes abgelöst von theoretischer bzw. objektiver Gewissheit. Spaemann weist darauf hin, dass der Begriff der moralischen Gewissheit, der certitudo moralis, »keine Erfindung Descartes’« ist, sondern »im Rahmen der moraltheologischen Diskussion« 93 des 16. Jahrhunderts geläufig war. Die Differenz zwischen moralischer und objektiver Gewissheit drückte sich aus im »Problem des sogenannten irrenden Gewissens«, das nach Lehre der maßgebenden Autoren seine Verbindlichkeit nicht einfachhin verlieren kann. Und diese Lehre vom irrenden Gewissen ist das eigentliche missing link zwischen der klassischen naturrechtlichen Ethik und der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. Denn wenn das Gewissen auch da bindet, wo es hinsichtlich der objektiven Verpflichtungen irrt, so kann ja, wie es scheint, die Quelle der Verbindlichkeit nicht in jenen objektiven Verpflichtungen liegen. 94
Den entscheidenden Schritt zur neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie tut Descartes, insofern bei ihm »das Problem der objektiven Richtigkeit des Handelns, d. h. seiner Angemessenheit an ein zu erreichendes höchstes Gut, ausdrücklich als zur Zeit unlösbar ausgeklammert und vertagt« 95 wird. Es geht hier also wesentlich um die Überwindung der eudämonistischen Ethik zugunsten einer Ethik des reinen guten Willens, wie sie dann bei Kant entfaltet wird. 96 Die aristotelische Eudämonie wird bei Descartes »ihrer Wirklichkeit in der polis entkleidet«, verwandelt sich zu einem »utopisch-universalen Prinzip totaler Menschheitswohlfahrt« und verliert so schließlich »jede konkret-praktische Bedeutung« 97. Der Grund für Spaemanns Interesse an Descartes’ provisorischer Moral, der man, wie er hervorhebt, im Allgemeinen »kein besonderes sachliches Interesse zuzuwenden« 98 pflegt, besteht darin, dass die »gesamte politische Ethik der westlichen Welt […] im Sinne DesSpaemann, Praktische Gewißheit (1968), 87. Ebd. 94 Ebd. 89–90. 95 Ebd. 90. 96 Bei Kant ist der Übergang vollzogen, weswegen der Gedanke eines irrenden Gewissens für ihn seinen Sinn verliert: »Bei Kant sehen wir denn auch konsequenterweise den Begriff des irrenden Gewissens als eine contradictio in adjecto behandelt.« – Ebd. 90. 97 Ebd. 98 Ebd. 83. 92 93
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
cartes’ provisorische Moral« 99 ist und die Krisen der moralischen Gewissheit in der Gegenwart auf den Ansatz Descartes’ zurückgeführt werden können. Theorie und Praxis sind in Descartes’ Idee einer Universalwissenschaft auf seltsame Weise verschränkt. Während für Aristoteles θεωρία »Selbstzweck, höchste Form menschlicher Praxis« 100 war, dient sie für Descartes einem praktischen Ziel, nämlich »den Menschen zum maître et possesseur de la nature zu machen« 101. Umgekehrt besteht ein solches funktionales Verhältnis aber auch zwischen Praxis und Theorie: Die vorsorgliche Moral, die Descartes im »Discours de la méthode« entwickelt und die auf Suspendierung des eigenen Urteils in moralischen Dingen beruht, ist deshalb ausschließlich gerechtfertigt durch die zugrundeliegende Absicht, »mich weiter zu instruieren«, das heißt methodische Wissenschaft zu betreiben. Dies ist der einzige reell mögliche Beitrag des einzelnen zum allgemeinen Besten, solange dessen Bedingungen noch nicht mit absoluter Gewißheit theoretisch und praktisch verfügbar sind. Wer Wissenschaft betreibt, leistet jenen einzig möglichen Beitrag zu einer künftigen rationalen Universalzivilisation, der ihn für die gegenwärtige Praxis allen auf die Veränderung des Ganzen zielenden Engagements enthebt. 102
Dieser Dienst an der Wissenschaft ist die vierte Maxime, durch die die Gültigkeit der anderen drei begründet wird. 103 Aus heutiger Perspektive ist diese Rechtfertigung der vorsorglichen Moral allein schon dadurch nicht mehr gegeben, dass die »Idee der Vollendbarkeit der Universalwissenschaft« 104 ebenso überwunden ist wie Descartes’ Vorstellung eines »akkumulativen Fortschreitens von Gewißheit zu Gewißheit« 105 in der Wissenschaft. Abgesehen von diesem veränderten Bild der Wissenschaft erscheint aus heutiger Perspektive aber auch Descartes’ Absicht, »Existenzentscheidungen nicht von dem jeweiligen Stand der Wissenschaft abhängig machen, sondern aus dem Wissenschaftsprozeß gänzlich ausklammern« 106 zu wollen, aufgrund der engen Verflechtungen von Wissenschaft und menschlicher ExisSpaemann, Praktische Gewißheit (1968), 92. Ebd. 82. 101 Ebd. 102 Ebd. 91. 103 Vgl.: Spaemann, Moral, provisorische, in: HWPh VI, col. 173. 104 Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 84. 105 Ebd. 106 Ebd. 92. 99
100
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5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten
tenz als unrealistisch. Darüber hinaus stellt Spaemann die Suspendierung der eigenen Meinung zugunsten des Vorgefundenen in Descartes’ provisorischer Moral und die fortschreitende Auflösung von gemeinsamen Überzeugungen in der pluralistischen Gesellschaft gegenüber. Welche Bedeutung kann unter diesen Umständen die in der ersten Maxime geforderte Anpassung noch haben? Die zur Zeit der Entstehung des Textes virulenten Entwürfe einer »neue[n] revolutionäre[n] Moral« als »auf die Herstellung einer rationalen Weltzivilisation […] unmittelbar bezogene Praxis« 107 deutet er dabei als ein dialektisches Umschlagen dieser Erosion von Überzeugungen. Angesichts dieser Entwicklungen erscheint Descartes’ Vorsatz, durch die provisorische Moral »niemals Grund zur Reue haben zu wollen« 108, als nicht mehr zeitgemäß. Die Suspendierung der eigenen Meinung führt vor dem Hintergrund der fortschreitenden Auflösung des κοινόν in einer funktionalistisch organisierten Gesellschaft zu Hilflosigkeit angesichts einer krisenhaften Selbsterfahrung: »Was aber, wenn die nicht planbare Erfahrung des Menschen mit sich selbst ebenjenen Vorsatz betrifft?« 109 Um solche Erfahrung geht es im abschließenden dritten Abschnitt.
5.3.3
Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten
In seinem 1973 veröffentlichten Essay »Die Aktualität des Naturrechts« geht Spaemann aus von einer reductio ad absurdum, derzufolge die Leugnung des Naturrechts nur theoretisch möglich ist 110: »Gäbe es kein von Natur Rechtes, so könnte man über Fragen der Gerechtigkeit gar nicht sinnvoll streiten.« 111 Spaemann bezieht sich auf Joachim Ritters Schrift »›Naturrecht‹ bei Aristoteles« 112 aus dem Jahre 1963, in der Ritter forderte, »zur aristotelischen NaturrechtsSpaemann, Praktische Gewißheit (1968), 93. Ebd. 94. 109 Ebd. 110 Die Argumentation zugunsten des Naturrechts hat somit im Ansatz eine der Argumentation zugunsten der Existenz Gottes analoge Struktur, insofern Spaemann auch dort den Atheismus nur als theoretische Möglichkeit sieht und auf seine praktischen Konsequenzen hinweist. – Vgl. den ebenfalls 1973 veröffentlichten Essay »Christliche Religion und Ethik«. 111 Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 60. 112 S. Ritter, Metaphysik und Politik, 133–179. 107 108
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
konzeption zurückzukehren« 113 und diese auf die Spezifik der Gegenwart zu übertragen, die von Ritter als Entzweiung gefasst wurde: Entzweiung des gesellschaftlichen, auf die abstrakte, egalitäre Bedürfnisnatur reduzierten Daseins von der nicht durch diese Gesellschaft definierbaren geschichtlich-ethischen Substantialität, die durch die moderne Gesellschaft als private Sphäre »freigesetzt« wird. Indem Recht und Staat diese Freisetzung gewährleisten, heben sie – das ist Ritters These – die Entzweiung nicht auf, sondern versöhnen das Entzweite. Naturrecht im aristotelischen Sinne, übersetzt in unsere Lebenswirklichkeit, wäre also Hermeneutik des bestehenden Rechts auf seinen Versöhnungscharakter hin. 114
Spaemann bringt diesem Projekt Ritters viel Sympathie entgegen, beurteilt die Gegenwart jedoch skeptischer als dieser, insofern er eine »immanente Tendenz zur Totalität« 115 erkennt in einer Gesellschaft, die »jede ethische Motivation […] in der homogenisierten Form des ›Bedürfnisses‹ – des kulturellen, sittlichen, religiösen usw. – artikuliert« 116, und insofern das System der Bedürfnisse des Menschen »kein ›natürliches‹ System« sei, »aus dem sich, wie es ursprünglich schien, ein neues Naturrecht entwickeln ließe« 117. Während Ritter also das Rechtssystem, das die Entfaltung der Subjektivität ermöglicht, in den Mittelpunkt stellt, geht es Spaemann um eine Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung, die dieses Rechtssystem aufzulösen droht. Spaemann betont: »Um jedoch von Aristoteles lernen zu können, muß man sich zuvor schon klar werden über das, was uns von ihm trennt« 118; die Differenz zwischen Ritter und Spaemann scheint mir in der Interpretation dieses Trennenden zu bestehen. Ritter sah, was uns sozialgeschichtlich von Aristoteles trennt: die Entzweiung, aber er unterschätzte, was uns ontologisch von ihm trennt, nämlich die Teleologie, die als »Zerfallsprodukt« eine »Zwei-WeltenLehre in ihren verschiedenen Formen« hinterlassen hat: »Reich der Ursachen und Reich der Zwecke, Sein und Sollen, Tatsachen und Werte.« 119 Da der aristotelische Naturrechtsgedanke den »ontologiSpaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 64. Ebd. 65. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Ebd. 66. 118 Ebd. 64. 119 Ebd. 67. – Vgl.: »Die Unterscheidung von Sein und Sollen ist bei den antiken Denkern kaum zu finden, ja im Griechischen schwer zu formulieren.« – Rémi Brague, 113 114
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5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten
schen Begriff eines gerichteten Seinkönnens« 120 zur Voraussetzung hat, hätte Ritters Projekt in Spaemanns Augen nur eine Chance unter der Bedingung der Wiederbelebung eines teleologischen Denkens. Was sollte aber unter der Voraussetzung der bestehenden Entzweiung eine solche Wiederbelebung als Leben in »Übereinstimmung mit der Natur« 121 heißen? Inwiefern kann Natur ein Maß des Handelns sein? Dieses Maß kann offenbar nicht mehr in einer positiven Bestimmung dessen liegen, was das Glück des Menschen ausmacht. Eine solche Bestimmung, die unvermittelt einen teleologischen Naturbegriff des Menschen ins Spiel brächte, würde die Preisgabe des modernen Subjektbegriffs bedeuten. Sie würde den Zusammenhang von Glückseligkeit und Freiheit preisgeben, der für das menschliche Selbstbewußtsein seit dem Christentum konstitutiv ist. Das erzwungene Glück ist kein Glück. Und da eine Rückkehr ins Archaische nicht möglich ist, würde ein solcher teleologischer Eudämonismus in der politischen Wirklichkeit nichts anderes bedeuten als die uneingeschränkte Tyrannei der Intellektuellen, die das Glück definieren: die Parodie der platonischen πολιτεία. 122
Unter den Bedingungen der freigesetzten Subjektivität und ihrer gesellschaftlichen Entzweiung ist damit eine Rückkehr zur teleologischen Naturrechtskonzeption nur möglich als Akt der Freiheit, durch den der Zusammenhang von Freiheitsrecht und Naturbedingungen erst realisiert wird: Da der Zusammenhang heute nicht unmittelbar als teleologischer darstellbar ist, zerfällt Naturrecht in zwei Momente: einerseits in ein Freiheitsrecht als Gesamt der apriorischen Bedingungen gegenseitiger Anerkennung und Rechtfertigung handelnder Wesen bzw. der notwendigen, aus der »Natur der Sache« folgenden Bedingungen jeder Konsensbildung, andererseits in ein Naturrecht in sensu stricto, das diejenigen Bedingungen des Handelns betrifft, die aller Konsensbildung vorausliegen und nur um den Preis der Selbstzerstörung verletzt werden können. […] Naturrecht in sensu stricto impliziert also die Forderung, daß Freiheit sich zu ihren Naturbedingungen in ein aus-
Zur Vorgeschichte der Unterscheidung von Sein und Sollen, in: Buchheim/Schönberger/Schweidler, Die Normativität des Wirklichen, 32. 120 Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 66. 121 Ebd. 73. 122 Ebd. 73–74.
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
drückliches, sie respektierendes und kontrollierendes Verhältnis setzt. 123
Naturrecht bedeutet daher, so die Schlussfolgerung des Essays, keinen »Normenkatalog«, sondern eine »alle rechtlichen Handlungslegitimationen noch einmal kritisch prüfende Denkweise« 124, durch die die drohende Selbstzerstörung des menschlichen Geschlechts aufgehalten werden könnte. Zur Charakterisierung dieser Denkweise sei abschließend noch einmal Bezug auf den Essay »Natur« aus dem Jahre 1973 genommen, der oben im Zusammenhang mit Rousseau 125 bereits herangezogen wurde. In ihm wird aus einem teleologischen Begriff der Natur jene Denkweise abgeleitet, die nach Spaemann allein geeignet sein kann, die selbstzerstörerischen Tendenzen der Moderne aufzuhalten. Seinen Ausgang kann der Gedankengang nehmen beim Verhältnis des Menschen zu seiner Natur, das ihn von anderen Lebewesen unterscheidet, insofern die unmittelbaren Lebensregungen für ihn im Selbstbewusstsein immer schon durch Reflexion vermittelt sind. Als reflektierendes Lebewesen geht der Mensch über die Natur hinaus. Das bedeutet: Natur kommt überhaupt erst zum Begriff im Hinausgehen über sie. Die Verweigerung dieses Hinausgehens, die Berufung auf die eigene Natur als Erklärung des eigenen Handelns ist ein Widerspruch, wenn es sich um eine Rechtfertigung handeln soll. Gerechtfertigt werden können nämlich nur Handlungen, insofern sie Handlungen, also nicht Naturgeschehen sind. Das bewußte Bleiben in der Natur nennt Hegel deshalb das »Böse«. 126 Das Böse aber war in der philosophischen Tradition immer gerade als Handeln gegen die Natur begriffen worden. Daß das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist, diese Paradoxie löst sich nur, wenn wir den Begriff der »Natur« teleologisch fassen und den Menschen als von Natur auf Überschreiten der Natur angelegtes Wesen verstehen. 127
Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 75. Ebd. 78. 125 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, 196–206. 126 Spaemann verweist an dieser Stelle in einer Fußnote auf eine Textstelle bei Hegel: Z. B.: G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke [Jubiläumsausgabe], hrsg. von Hermann Glockner, Bd. 19, Stuttgart-Bad Cannstatt 41965, S. 369. – Spaemann, Natur (1973), 39. 127 Spaemann, Natur (1973), 32–33. 123 124
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5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten
Paradigma des Bleibens in der Natur ist für Spaemann wiederum paradoxerweise die »pure Naturwüchsigkeit« 128 der progressiven Naturbeherrschung. Zwar tritt der Mensch als Subjekt der Naturbeherrschung aus der Natur heraus; wo diese Herrschaft jedoch zum »Selbstzweck« 129 wird und sich, wie spätestens durch die ökologische Krise sichtbar wurde, »gegen den Menschen selbst wendet« 130, fällt sie in die Natur zurück: Ausdehnung der Herrschaft über die Natur ist deshalb immer zugleich Ausdehnung der Beherrschbarkeit von Menschen. Aber der Prozeß dieser Ausdehnung ist selbst noch naturwüchsig. Und eine Geschichte des Menschen, die als bloße Geschichte der Naturbeherrschung verstanden wird, ist selbst bloße Naturgeschichte. 131 D. h. aber: In ihr hat die Unterscheidung »natürlich–unnatürlich« gar keinen Ort. […] Der vollendete Technizismus ist so zugleich vollendeter Naturalismus. 132
Was aber bedeutet es dann, das Hinausgehen aus der Natur, das mit dem Selbstbewusstsein schon zur conditio humana gehört, bewusst zu ergreifen und den Rückfall in die pure Naturwüchsigkeit zu vermeiden? »Herausgehen aus der Natur findet nur statt,« so Spaemann, »wo Natur als sie selbst erinnert wird« 133. Erinnerung bedeutet zunächst Reflexion auf die »natürlichen Voraussetzungen menschlicher Existenz« 134. Insofern die Natur nun dem Menschen auf unterschiedlichen Ebenen Grenzen setzt, lässt Freiheit sich nicht als absolute Autonomie eines Herrschaftssubjekts realisieren, sondern nur als Gestaltung eines Spielraums, der von einem Unverfügbaren umgrenzt ist: »Freiheit ist nicht ein ›Kern‹, der zurückbleibt, wenn alle Natur unterjocht ist. Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzichtes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akt des ›Seinlassens‹. In ihrer gegenseitigen Anerkennung und Freilassung allein überschreiten natürliche Wesen die Natur.« 135 Die naturrechtliche Denkweise, von der Spaemann spricht, ist also ein mit dem menschlichen Herrschaftsinteresse konkurrierendes und als Korrektiv dessen fatale Spaemann, Natur (1973), 33. Ebd. 130 Ebd. 36. 131 Spaemann verweist an dieser Stelle in einer Fußnote auf: S. Moscovici, Essai sur l’histoire humaine de la nature, Paris 1968. – Ebd. 40. 132 Ebd. 35–36. 133 Ebd. 36. 134 Ebd. 37. 135 Ebd. 128 129
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Folgen abwendendes zweites menschliches Interesse, das hier noch ganz negativ als Verzicht gefasst wird. Der Appell zum Seinlassen ist gewissermaßen das ethische Äquivalent der teleologischen Ontologie. Somit steht hier wie in allen in diesem Teilkapitel betrachteten theologischen, ethischen und naturrechtlichen Überlegungen der Bezug zu einem nicht verlustfrei kürzbaren Absoluten im Mittelpunkt. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist der zuletzt im Kontext der naturphilosophischen Überlegungen gefallene Begriff der Anerkennung ein zentraler Gesichtspunkt, von dem aus Spaemann in der weiteren Entfaltung seines Denkens das hier noch negativ gefasste zweite Interesse der menschlichen Vernunft weiterverfolgen und inhaltlich konkretisieren wird.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
– Я думаю, что все должны прежде всего на свете жизнь полюбить. – Жизнь полюбить больше, чем смысл ее? – Непременно так, полюбить прежде логики, как ты говоришь, непременно чтобы прежде логики, и тогда только я и смысл пойму. Ф. М. Достоевский, Братья Карамазовы, Книга пятая, третья глава 1
Das vorangestellte Zitat ist ein Auszug aus dem Dialog zwischen Iwan und Alexej Karamasow im fünften Buch von Dostojewskijs letztem Roman, in dem der rastlose Analytiker Iwan seinem Bruder Alexej von seinem leidenschaftlichen Lebensdrang berichtet. Alexej provoziert durch sein Fazit die ungläubige Nachfrage Iwans, bevor er noch einmal den Gedanken präzisiert, wonach der Sinn nicht Voraussetzung, sondern Folge der Liebe zum Leben ist. Die zentrale These des vorliegenden Kapitels über die weitere Entfaltung von Spaemanns Denken besteht darin, dass ein ähnlicher Gedanke der Überordnung des Lebens über den Begriff Charakteristikum der Philosophie Spaemanns ist. Diese These kann insofern problematisch erscheinen, als der Novize Alexej in Dostojewskijs Roman ihn als intuitive Einsicht vertritt, ohne ihn gegenüber Iwan argumentativ stützen zu können; bei Spaemann hingegen kann es sich dabei nur um eine philosophische Argumentation handeln. Für eine solche aber scheint dieser Gedanke prinzipiell ungeeignet, insofern er das begriffliche Denken selbst abwertet. Nun ist eine ähnliche Gedankenfigur in den ersten Kapiteln – im Zusammenhang beispielsweise mit de Bonald 2, mit »›Ich glaube, jedermann sollte über alles auf der Welt das Leben lieben.‹/ ›Soll man das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?‹/ ›Unbedingt; man soll es vor der Logik lieben, wie du sagst, unbedingt vor der Logik, dann erst wird man auch den Sinn begreifen. […]‹« – F. M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Fünftes Buch, Drittes Kapitel. 2 Vgl. z. B. Bonalds Kritik am cartesischen Ansatz der Reflexionsphilosophie: »Philosophie […] vermag nicht mit sich selbst anzufangen. Der Versuch, ›in uns selbst den 1
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Fénelon 3 oder dem teleologischen Denken 4 – mehrfach begegnet, wobei es immer wieder ein Gefüge sich wechselseitig stützender Thesen war, das die den Begriff in Frage stellenden Argumentationen jeweils in einen Kontext einfügte, der eine genuin philosophische Bedeutung des Gedankens der Unterordnung des Begriffs unter ein unvordenkliches Prinzip ermöglichte. »Jedes Sollen«, so heißt es in Spaemanns 1982 erschienenen »Moralischen Grundbegriffen«, »muß an irgendein schon vorhandenes Wollen anknüpfen, sonst hätten wir gar keinen Grund, uns dieses Sollen zu eigen zu machen.« 5 Im hier zu untersuchenden nächsten Schritt der Entfaltung von Spaemanns Denken geht es um die Weiterführung, vor allem aber um die Verbindung der Motive, die aus den vorangegangenen Kapiteln bekannt sind, um den »Gesichtspunkt, unter dem sich alle anderen Hinsichten ordnen« 6, wie Spaemann in den zitierten »Moralischen Grundbegriffen« mit Bezug auf den Begriff des Guten schreibt. Alexej Karamasows ›Liebe zum Leben vor der Logik‹ kann als dieser Gesichtspunkt begriffen werden, der seine philosophische Bedeutung freilich erst aus dem zu entwickelnden Gefüge von Argumentationen erhalten wird, um das es im Folgenden gehen wird. Gegenstand des sechsten Kapitels sind Spaemanns Schriften der 80er Jahre nach der Veröffentlichung der mit Reinhard Löw verfassten Studien über die »Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens« im Jahre 1981 und vor der Veröffentlichung seines nächsten Hauptwerkes »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik« im Jahre 1989. Von besonderer Bedeutung in diesem Zeitraum Stützpunkt zu nehmen, von dem aus wir uns erheben wollen‹ (III 34), führt nicht über den Ausgangspunkt selbst hinaus.« – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 44–45. – Vgl. Abschnitt 3.2.1, Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt, 107. 3 Vgl. z. B. Spaemanns Aussage: »Fénelons Absage an die Reflexion entspringt ja nicht der Hoffnung, einen höheren spekulativen Boden zu gewinnen, sondern ist gleichbedeutend mit Absage an Philosophie überhaupt.« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 303. – Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 173, Fn. 7. 4 Vgl. z. B. Spaemanns und Löws Aussage in Bezug auf teleologisch verfasstes Selbstsein: »Es ist ein Unmittelbares, das man überhaupt nicht erklären und in gewissem Sinne auch nicht verstehen oder eben nur so verstehen kann, daß es den Horizont seines möglichen Verstandenwerdens selbst erst in seinem Sich-Zeigen eröffnet.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 247. 5 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 25. 6 Ebd. 20.
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ist die 1987 unter dem Titel »Das Natürliche und das Vernünftige« erschienene Sammlung von Essays, die als eine Summe seines Denkens der 80er Jahre bezeichnet werden kann, sowie der Text »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹«. Auch wenn in dem nun zu betrachtenden Abschnitt die zuvor nur schwach vermittelten Linien von Spaemanns Denken zusammengeführt werden und eine einheitliche Spaemann’sche Philosophie Konturen gewinnt, ist es dennoch sinnvoll, die im dritten Kapitel vorgenommene Dreiteilung in einen philosophiehistorischen, einen stärker systematisch orientierten und einen – religionsphilosophischen und ethischen Fragen gewidmeten – im weitesten Sinne praktischen Teil beizubehalten. Diese Gliederung kann zum einen der Übersichtlichkeit des zu strukturierenden Materials dienen und zum anderen transparent machen, auf welche Weise in den 80er Jahren die zuvor nur implizit verbundenen Linien von Spaemann zusammengeführt werden. In der Einleitung 7 zu seinen 1983 erschienenen »Philosophischen Essays« schreibt Spaemann, er habe »zum Verständnis jenes Geschehens der Moderne, in das wir alle verwickelt sind, stets zwei Weisen des Zugangs gesucht. Die eine ist die Geistesgeschichte.« 8 In Fortführung der philosophiehistorischen Untersuchungen über de Bonald, Fénelon und Rousseau der vorangegangenen Kapitel wird in Teilkapitel 6.1 eine Gedankenbewegung Spaemanns verfolgt, die von der Gegenwart in die Antike und von dort zurück in die Neuzeit führt. Neben Aristoteles und Thomas von Aquin werden hier vor allem Descartes, Leibniz und Whitehead im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Sein »zweiter Zugang zum Phänomen der Moderne« ist nach Spaemann »ein spontaner Widerwille gegen die Uminterpretation unseres natürlichen Selbstverständnisses« 9 und damit sein Projekt der Wiederbelebung des teleologischen Denkens. Im Teilkapitel 6.2 wird es daher um die in den 80er Jahren von Spaemann hergestellte Verbindung des teleologischen Denkens mit dem Thema der Selbsttranszendenz gehen, die anhand der Begriffe Anerkennung Spaemann, Einleitung (1983), 3–18, unter dem Titel »Versuche, das Ganze zu denken. Anstelle eines Vorworts« mit leichten Veränderungen übernommen in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 7–23. 8 Spaemann, Einleitung (1983), 10. 9 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken (2010), 17. – Diesen Satz hat Spaemann erst in der Ausgabe von 2010 in den Einleitungstext eingefügt; der darin ausgedrückte Gedankenzusammenhang war gleichwohl in der Ausgabe von 1983 bereits implizit vorhanden. 7
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und Repräsentation zu entfalten sein wird. Die bis dahin ausgeklammerten Gedanken Spaemanns zu religionsphilosophischen Themen und Fragen der philosophischen Ethik werden abschließend auf die zuvor dargelegte metaphysische Konzeption bezogen, wobei die Anschlussfähigkeit dieser Gedanken an das metaphysische Fundament gezeigt werden soll, so dass Teilkapitel 6.3 die wesentlichen Ergebnisse der beiden vorangegangenen aufnehmen und eine Zusammenschau und Schlussfolgerung des gesamten sechsten Kapitels bilden wird.
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6.1 Das philosophiehistorische Projekt einer Erneuerung der antiken Substanzontologie
Spaemanns philosophiehistorisches Projekt einer Erneuerung der antiken Substanzontologie kann anhand des erst 2010 erschienenen Texts »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹ 1 erschlossen werden, der die spezifische Denkbewegung der Spaemann’schen Philosophie paradigmatisch vor Augen führt. In seiner »Autobiographie in Gesprächen« bemerkt Spaemann über die Vorgeschichte dieses Textes: Meine Vorlesungen waren meistens sehr gut besucht. Eine Ausnahme war die Vorlesung »Über die Bedeutung der Worte ›Ist‹, ›Existiert‹ und ›Es gibt‹«, an der mir selbst besonders gelegen war. Sie fiel aus dem Rahmen meines übrigen Vorlesungsprogramms zu sehr heraus, leider. Am liebsten hätte ich nur solche Vorlesungen gehalten. 2
In der 2011 erschienenen Ausgabe seiner »Gesammelten Reden und Aufsätze« versieht Spaemann den Text mit der Jahresangabe »1980/81« und fügt hinzu: »Dieser Beitrag geht auf Bemerkungen zum Thema eines Münchner Oberseminars im Wintersemester 1980/81 zurück.« 3 Der Text besteht aus drei, Heidegger, Aristoteles und Descartes gewidmeten Teilen und beschreibt die doppelte Bewegung aus der Gegenwart in die Antike und wieder zurück in die Neuzeit, die Spaemann in den 80er Jahren wiederholt vollzieht. Im Folgenden werden zunächst die ersten beiden Teile dieses Texts im Mittelpunkt stehen, wobei es um den Blick aus dem 20. Jahrhundert auf die klassische antike Philosophie und um das Problem der Rezeption der Antike geht, das für Spaemanns Denken von prinzipieller Bedeutung ist (6.1.1). Ausgehend vom aristotelischen Begriff der φύσις wird anschließend anhand des Essays »Über den Begriff einer Natur des Menschen« der fundamentale anthropologische Dualismus erläutert und die Geschichte dieses Dualismus von der Antike bis zur Gegenwart nachgezeichnet (6.1.2). Danach kehren die Untersuchungen zurück zu einem bestimmten, für Spaemann wesentlichen MoZuerst veröffentlicht in: Philosophisches Jahrbuch 117 (2010), 5–19. Danach in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 27–49. 2 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 219. 3 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 48. 1
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ment der Entwicklung dieses Dualismus, nämlich zur cartesischen Unterscheidung der res cogitans und ihrer cogitationes und damit zur Frage nach der Bedeutung des Fortschrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹. Hier steht der dritte Teil von »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« sowie der aus dem Jahre 1987 stammende Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« im Mittelpunkt (6.1.3). Als Weiterführung des spekulativ-dialektischen Gedankengangs Descartes’ deutet Spaemann die Leibniz’sche Monadologie (6.1.4) und als Alternative zu diesem Gedankengang die Whitehead’sche Kosmologie (6.1.5), die zum Abschluss betrachtet werden. Mit diesen philosophiehistorischen Betrachtungen soll der notwendige Hintergrund rekonstruiert werden, vor dem die stärker systematisch orientierten Ausführungen im folgenden Teilkapitel 6.2 zu sehen sind.
6.1.1
Das Problem der Antikenrezeption
In »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« geht Spaemann aus von der »Frage nach dem Sein und ihre[r] Bedeutung« 4, wobei er sich zunächst auf Heidegger und dessen Vorwurf bezieht, wonach die Geschichte des Seins eine »Verstehens- und Vergessensgeschichte« 5 ist, die mit der klassischen griechischen Philosophie bereits begonnen habe: »Die Metaphysik, die das Seiende als Seiendes thematisiert, ist zugleich von Anfang an eine Verdrängung des ursprünglich Gemeinten.« 6 Heideggers Denken wird hier jedoch nur knapp umrissen und dient im Rahmen des Textes eher als Hinführung zur entscheidenden Fragestellung: »Wie steht es mit Heideggers These von der Seinsvergessenheit der griechischen Metaphysik? Und zwar fragen wir mit Bezug auf Aristoteles. Was will Aristoteles eigentlich wissen, wenn er das on he on thematisiert?« 7 Die folgenden wenigen Seiten über die aristotelische Metaphysik sind stark verdichtet und enthalten in nuce eine kultur- bzw. geschichtsphilosophische These, die für Spaemanns Verständnis der antiken Philosophie und sein Denken im Allgemeinen von zentraler Bedeutung ist. An diese These he4 5 6 7
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 27. Ebd. 28. Ebd. Ebd. 31. – Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Γ, 1003 a 21–26.
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6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption
ran kann zunächst die Einsicht führen, dass Spaemann die selbst gestellte Frage nach der Bedeutung der Thematisierung des ὄν ᾗ ὄν bei Aristoteles nicht direkt beantwortet, sondern vielmehr in einer Reihe von Negationsschritten aus neuzeitlicher Perspektive naheliegende Antworten als anachronistisch zurückweist. Als erste Zurückweisung kann Heideggers Frage selbst nach der Bedeutung von Sein genannt werden: »Die Frage nach dem on he on bei Aristoteles ist nicht eigentlich die Frage nach dem, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas ist – das setzt Aristoteles in der Tat als das gnorimotaton, als das Allerbekannteste voraus 8 –, sondern es ist die Frage, wodurch und warum das ist, was ist.« 9 In Bezug auf die Bedeutung von Sein wird bei Aristoteles also Selbstverständlichkeit unterstellt und vielmehr nach den Prinzipien und Ursachen (ἀρχαί und αἴτια) des Seins gefragt. Die zweite Zurückweisung betrifft die kantische Fassung der Frage: Wir könnten versucht sein, es kantisch als die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit zu übersetzen. Aber diese Frage ist nicht die aristotelische. Die Bedingung der Möglichkeit ist nämlich, so wiederholt Aristoteles immer wieder, die Wirklichkeit. Möglichkeit ist ein teleologischer Begriff. Möglichkeit ist etwas am Wirklichen, und zwar etwas, das in seiner Art, wenngleich nicht an diesem Wirklichen, entweder selbst schon wirklich oder einem schon Wirklichen verwandt sein muss, um überhaupt möglich zu sein. Die Frage, warum das ist, was ist, ist daher die Frage nach dem Grund seiner Wirklichkeit. 10
Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit stellt also die für Aristoteles gültige Unterordnung der Genesis unter die Geltung auf den Kopf und verfehlt damit das Sein als Wirklichkeit im aristotelischen Sinn. Eine dritte Zurückweisung betrifft die Frage nach dem Sosein 11 und dem Dasein bzw. nach dem Wesen und der Existenz.
Spaemann fügt hier folgende Anmerkung ein: »Siehe Metaph. III 4, 1001 a 18–24: ›Seiendes‹ und ›Eines‹ sind das am meisten Allgemeine; wenn sie nichts beitragen zur Erkenntnis der Dinge, dann auch nicht alle anderen Allgemeintermini; vgl. IV 3, 1005 b 6–34: Das ›allerbekannteste Prinzip‹ ist die Unterscheidung zwischen Sein und Nichtsein verbunden mit der Gewissheit, dass nicht beides zugleich auf dasselbe zutreffen kann.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 48. 9 Ebd. 32. 10 Ebd. 11 Spaemann verwendet in unterschiedlichen Publikationen die Schreibweisen ›SoSein‹ und ›Sosein‹. Im Sinne der Einheitlichkeit wird hier abgesehen von wörtlichen Zitaten durchgehend die Schreibweise ›Sosein‹ verwendet. 8
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Geht es bei der Frage nach dem Sein um das Dass oder das Was des Seienden? »Aristoteles«, so betont Spaemann, »unterscheidet diese beiden Fragen ausdrücklich nicht: ›Es ist Sache derselben Überlegung, zu zeigen, was etwas ist und ob es ist.‹ (Metaph. VI 1, 1025 b 17 f.) […] Quia unumquodque habet suum esse per quidditatem, wie Thomas sehr genau die aristotelische Sicht wiedergibt.« 12 Sosein und Dasein sind für Aristoteles also untrennbar und die reale Unterscheidung zwischen ihnen ist ein erst im Mittelalter entstandener Gedanke. 13 Insofern Aristoteles eine erste οὐσία (z. B. Sokrates) von einer zweiten οὐσία (z. B. Mensch) unterscheidet, ergibt sich die Möglichkeit einer weiteren Zurückweisung eines modernen Missverständnisses: Wirklich ist eine individuelle Substanz. Aber sie ist als individuelle Substanz nur als Instantiierung einer allgemeinen ousia. So liegt es nahe, Aristoteles in die Nähe zu Quine zu rücken: Sein heißt: Instantiierung eines generellen Terminus zu sein. 14 Aber diese Formulierung bringt gerade nicht zum Ausdruck, was Aristoteles sagen will. Sie verwechselt Logik und Sprachanalyse mit Ontologie. Sie unterscheidet nämlich nicht Prädikatausdrücke und Subjektausdrücke, oder wie Aristoteles sagt: Substanzbegriffe. 15
Diese Reihe von Negationsschritten ließe sich fortsetzen; stattdessen soll aber nun gefragt werden, welches Ziel Spaemann mit ihnen verfolgt: Welchen Begriff von Sein will er freilegen, der von allen diesen Fragen aus moderner Perspektive verfehlt wird? In einem ersten Vorgriff auf die Ausführungen in Abschnitt 6.2.2 zu Spaemanns metaphysischer Konzeption kann diese Frage dahingehend beantwortet werden, dass er gar keinen Begriff von Sein freilegen will: »Sein ist nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung.« 16 Welches Ziel verfolgt er dann aber in der Annäherung an Aristoteles in einer Reihe von Negationsschritten? Das Ziel Ebd. 32–33. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Thomas-Zitats: Thomas von Aquin, In XII libros Metaphysicorum VI, 1 (ed. M-R. Cathala, Turin 1950, nr. 1150). – Ebd. 48. – Deutsch: Weil jedes Einzelne sein Sein hat in der Washeit. 13 Vgl. Hoffmann, Wesen, II. Mittelalter, in: HWPh XII, col. 628. 14 Spaemann verweist in einer Anmerkung auf: W. V. O. Quine, »On What There Is«, in: Ders., From a Logical Point of View. Nine logico-philosophical Essays, New York, 2. Aufl. 1963, 1–19, bes. 12–14. – Ebd. 48. 15 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 33–34. 16 Ebd. 42. 12
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6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption
besteht darin, die abgrundtiefe Fremdheit der aristotelischen, oder allgemeiner, der klassischen antiken Philosophie darzulegen. Aus dieser Zielsetzung ergeben sich gleich zwei weitere Fragen. Erstens: Worin ist diese abgrundtiefe Fremdheit begründet? Und zweitens: Welche Bedeutung kann die klassische antike Philosophie angesichts einer solchen Fremdheit für uns überhaupt haben? Um auf die erste Frage zu antworten, muss man sich zunächst klarmachen, dass auf die Frage nach der Bedeutung der Thematisierung des ὄν ᾗ ὄν bei Aristoteles gar keine positive Antwort möglich ist und dass eine Annäherung an den aristotelischen Substanzbegriff, um den es bei der Frage nach dem ὄν ᾗ ὄν geht, aus unserer Perspektive nur per viam negationis möglich ist: […] der aristotelische Begriff eines wesentlichen Was, das zugleich Grund des »Dass« ist, hat seinen Ursprung nicht in der Logik. Er hat seinen Ursprung in der Erfahrung von Lebendigem, die ihrerseits die Selbsterfahrung eines Wesens voraussetzt, dem es, um mit Heidegger zu sprechen, in seinem Sein um dieses selbst geht. Die aristotelische erste Philosophie reflektiert dies nicht. Sie geht nicht vom Subjekt aus. Sie fasst vielmehr das Subjekt selbst als natürliche Substanz […]. […] Die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt hat noch nicht stattgefunden. 17
In diesen Sätzen ist die Einsicht enthalten, dass das antike Denken sich in einem Raum bewegt, der, sobald das Denken über diesen Raum hinausgegangen ist, aus der Außenperspektive nicht mehr Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 34–35. – Vgl.: »Die griechischen Klassiker, Platon und Aristoteles, haben neben dem diskursiven Denken, der διάνοια, ein intuitives Denken, die νόησις, anerkannt. […] Weil ihr [der Noesis] die propositionale Gliederung in Subjekt und Prädikat abgeht, denkt (beansprucht) sie nicht etwas von etwas (τί κατὰ τινός), sondern einfachhin etwas. Sie kann daher, wie Aristoteles Metaphysik Θ 10 ausführt, nicht falsch sein, sondern ist wahr in einem Sinn von Wahrheit, der tiefer liegt als der Kontrast von Aussagewahrheit und -falschheit. Die Noesis erhebt keine Ansprüche auf Wahrheit und braucht daher keine Beweislasten oder Begründungspflichten zu übernehmen; sie ist wahr vor aller Möglichkeit des Irrtums und der Täuschung. Sie erfaßt Seiendes, indem sie es, wie Aristoteles sagt, gleichsam ›berührt‹ [Verweis auf: Aristoteles, Metaph. Θ 10; 1051 b 24 f.]. Ihre Wahrheit ist daher nicht normativ, als epistemische Richtigkeit zu verstehen, sondern ursprünglicher: als Unverborgenheit des Erfaßten für die Noesis, d. h. als ἀλήθεια in dem von Heidegger hervorgehobenen Sinn. Die Wahrheit der Noesis und die Unverborgenheit des von ihr erfaßten Sachverhaltes sind ein und dasselbe.« – Anton Friedrich Koch, Die Antinomie des Lügners und der Satz des Protagoras, in: Buchheim/Schönberger/Schweidler, Die Normativität des Wirklichen, 239–243.
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nachvollzogen und nicht mehr verstanden werden kann ohne die simultane Reflexion auf die prinzipiell verschiedenen Denkvoraussetzungen innerhalb und außerhalb dieses Raumes. 18 Die nicht in Subjekt und Objekt geteilte antike Wirklichkeit können wir nicht nachvollziehen und nur indirekt verstehen. Aber ein solches indirektes Verstehen ist an die Bedingung geknüpft, dass wir unsere normalerweise unreflektierten modernen Denkvoraussetzungen als uns notwendigerweise vom antiken Denken Trennendes bewusst machen, um dann per viam negationis solche Aspekte dieser antiken Wirklichkeit auszumachen, denen ungeachtet ihrer spezifischen Fremdheit eine gewisse Aktualisierbarkeit für uns eignet. Die oben angeführten Fragen aus moderner Perspektive zum aristotelischen Seinsverständnis erwiesen sich deswegen als Anachronismen, weil sie dieser Bedingung nicht genügten, weil in ihnen gerade diese simultane Reflexion unterblieben ist und auf verschiedenen Ebenen moderne Denkweisen in die Antike hineinprojiziert wurden. Es gehört nach meiner Einschätzung zu den großen Vorzügen Spaemanns als Denker, dass er in diesem Sinne an das antike Denken stets mit einem sehr feinen Gespür für dessen Fremdheit herangetreten ist, ohne durch diese kognitive Distanz den Blick auf das zeitlose Gemeinsame von Antike und Moderne zu verlieren. 19 Eben auf dieses zeitlose Gemeinsame richtet sich die zweite Frage nach der möglichen Bedeutung der antiken Philosophie für uns. Grundsätzlich kann die antike Philosophie aufgrund der genannten Rezeptionsbedingungen für uns keinen unmittelbaren Orientierungsrahmen bilden. Wenn sie dennoch auch für uns eine bleibende Inspirationsquelle ist, dann kann das nur in Aspekten begründet sein, die Ausdruck der conditio humana selbst und dem Wandel der Zeiten gegenüber indifferent sind. In Bezug auf solche Aspekte kann dann zwar die Notwendigkeit bestehen, sie in das Bedingungsgefüge unseres neuzeitlichen Denkens zu übersetzen, Christoph Riedel bemerkt in seiner Studie »Subjekt und Individuum«, in der er zunächst Vorformen der Reflexivität in der griechischen Antike untersucht, im Sinne dieses Befundes: »Bei Aristoteles verstärkt sich das heuristische Problem, das sich bei der Darstellung des Ich-Gedankens in der griechischen Philosophie grundsätzlich stellt: Nirgends ist der Begriff des Ich explizit Thema der Reflexion, weil dafür das Interesse der Denker noch zu sehr an der allgemeinen Prinzipienebene haftet.« – Riedel, Subjekt und Individuum, 39. 19 In diesem Sinne werden sich Spaemanns die Antikenrezeption betreffende Gedanken weiterentwickeln und in den folgenden Kapiteln eine wichtige Rolle spielen, so etwa im Zusammenhang mit dem Denken der Person. – Vgl. Spaemann, Personen, 27–29. 18
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6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption
aber eben eine solche Übersetzbarkeit kann für sie vorausgesetzt werden. Wesentliche Aspekte dieser Art, die Spaemann im Rahmen dieses Textes ins Auge fasst und die für sein philosophisches Denken von zentraler Bedeutung sind, sind die Auffassung des Subjekts als natürliche Substanz und damit verbunden dessen teleologische Verfasstheit. Der Begriff Substanz bezeichnet bei Aristoteles ein erstes Prinzip, da es nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, sondern vielmehr alles andere von ihm 20; Paradigma der Substanz ist für Aristoteles der Mensch als Selbstsein, dem es um etwas geht: […] Aristoteles versteht den Menschen als natürliche Substanz. […] Aber das bedeutet gleichzeitig, dass der Begriff der Substanz im Ausgang von der Selbsterfahrung des Lebendigen gebildet ist, d. h. desjenigen Seienden, dessen Sein nicht Vorhandensein ist für ein Subjekt, sondern dessen Sein den Charakter des Selbstseins hat, dem es »um etwas geht«. Worum geht es diesem Seienden? Es geht ihm darum, zu sein. Und zwar nicht irgendwie zu sein, sondern als dieses Bestimmte zu sein, dieses bestimmte eidos zu verwirklichen. Sein ist für Aristoteles – wie für Platon – jene Bewegung und Anstrengung, in der sich aus dem mê on der hylê ständig Gestalten aktualisieren und diese substanziellen Gestalten wiederum um ihrer eigenen Selbstverwirklichung willen tätig sind. 21
Dieses Prinzip der Bewegung, d. h. die teleologische Verfasstheit lebendiger Wesen, ist ein solcher zeitloser Aspekt, der sich unter der Bedingung der Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt gewiss in anderer Form zeigen muss als in der antiken Welt, dessen Sich-Zeigen in der Moderne gleichwohl in einer Analogie zu seinem SichZeigen in der Antike stehen muss. Der fundamentale Aspekt schlechthin ist der aristotelische Gedanke der natürlichen Substanz, die ins neuzeitliche Denken übersetzt als Subjekt auftaucht und der gerade durch diese Übersetzung die Auflösung droht. An anderer Stelle – in dem Essay »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie?« 22 aus dem Jahre 1984 – spricht Spaemann von der nicht trivialen »Trivialisierung der Subjektivität« 23 in der Moderne, Vgl. z. B. Aristoteles, Metaphysik, 1017 b 10–14 und 1028 b 36–1029 a 2. – Vgl. Teilkapitel 2.1, Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz, 44–54. 21 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35. 22 In: Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 43–73, auch in: Ders., Philosophische Essays, 185–231, u. in: Ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 60–81. 23 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 52. 20
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die darin besteht, dass die Subjektivität »als überlebensdienliche Funktion des komplexen Regelsystems« 24 rekonstruiert wird und damit als solche zum Verschwinden gebracht wird. Was wir als Subjektivität missverstehen, ist demnach nur ein funktionaler Zusammenhang innerhalb des gesellschaftlichen Selbsterhaltungsmechanismus. Gegenüber dieser Bedrohung des menschlichen Selbstverständnisses kann die aristotelische Auffassung des Subjekts als natürlicher Substanz ein Modell darstellen, das modifiziert auch unter der Bedingung der Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt zu bewahren sein muss: Wollen wir daran festhalten, uns als Subjekte zu denken, und wollen wir daran festhalten, mit dem Begriff der Menschenwürde irgendeinen Sinn zu verbinden, dann wird die Aufgabe einer entsprechenden Ontologie in Abwandlung eines bekannten Hegelwortes wohl so formuliert werden müssen: »Es kommt darauf an, Subjekte als Substanzen zu denken.« 25
Es ist damit nicht präjudiziert, wie ein Subjekt unter neuzeitlichen Bedingungen als Substanz gedacht werden kann; lediglich wird als selbstverständlich angenommen, dass dies möglich sein muss. Ein moderner Substanzbegriff müsste sich dann durch analoge Merkmale, die er mit dem antiken teilt, auszeichnen. Die Frage nach dem Sein führt bei Aristoteles also nicht zu einer begrifflich fixierbaren Antwort, sondern zur Naturteleologie und ihren Instantiierungen, den Substanzen, als erstem Aussagengegenstand: »Sein ist ein Verbum und insofern ein Ausdruck mit teleologischer Konnotation. Sein heißt: zu sein. Von einem Wesen sagen: ›Es ist‹, heißt sagen, dass es ihm um sein Sein geht.« 26 Berücksichtigt man die hier knapp dargelegten Rezeptionsbedingungen der klassischen antiken Philosophie, so verlangt der dargestellte Rückbezug von Heidegger bzw. allgemein der neuzeitlichen Philosophie auf Aristoteles eine zweifache Bewegung. Erstens wird der Blick zurückgelenkt auf die antike Philosophie als einen Gegenstand, an den heran nur eine negative Annäherung möglich ist, deren positiver Gehalt in der In-Frage-Stellung moderner Denkansätze und in der Wahrnehmung solcher Aspekte, die eine analoge Übersetzbarkeit für uns vermuten lassen, besteht. Zweitens aber muss der Blick 24 25 26
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 53–54. Ebd. 72–73. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44.
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
im Sinne der notwendigen Übersetzung solcher uns über die beschriebene Distanz hinweg betreffender Aspekte in die Neuzeit zurückkehren, als philosophiehistorische Betrachtung oder als selbständiges Denken. Erst durch diese zweite Bewegung können die Potentiale, die der Rückbezug auf die klassische antike Philosophie in sich birgt, aktualisiert werden und die negative Annäherung an jene in philosophische Positionen verwandelt werden. Dieser zweiten Bewegung sind die folgenden Abschnitte gewidmet.
6.1.2
Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
Im 1985 zuerst erschienenen Essay »Über den Begriff einer Natur des Menschen« 27 geht es im Wesentlichen um ein in der Geschichte der Philosophie dauerhaft virulentes Deutungsproblem des Menschen. Spaemann geht aus von seiner in den 80er Jahren entwickelten Zeitdiagnose, wonach als Zerfallsprodukt der neuzeitlichen Entteleologisierung zwei komplementäre Weltanschauungen entstanden sind, die wechselseitig gegen die ihren eigenen Erklärungswert auflösende Rekonstruktion durch die konkurrierende Sichtweise wehrlos sind. Diesen Antagonismus, den er später mit den Begriffen Transzendentalismus und Naturalismus bezeichnen wird 28, fasst er hier mit dem Begriffspaar Hermeneutik vs. Szientismus: Der Dualismus von Hermeneutik und Szientismus in der Frage »Was ist der Mensch?« scheint die Form eines unüberwindbaren Patt zu haben. […] Eine Anthropologie, die sich als reine Phänomenologie solipsistischer Selbsterfahrung einer wesenlosen Subjektivität versteht und jede Objektivierung durch den »Blick des anderen« als für die Selbstdeutung entweder bedeutungslos oder destruktiv ablehnt, eine solche Anthropologie kann nicht mehr Wahrheit beanspruchen als jene szientistische Reduktion, die sie nur ignorieren, aber nicht integrieren kann. Und umgekehrt: Der Reduktionist kann eine Selbstdeutung ruhig stehenlassen, die für sich gerade nicht »Objektivität« beansprucht. Er kann dieser Selbstdeutung jene Absolutheit ohne weiteres zugestehen, die sie sich selbst vindiziert, da es ja nur eine »Absolutheit« des Für-sich-Seins ist, das kein An-sich-Sein beansprucht Erschienen zunächst in: Michalski, Krzysztof (Hrsg.): Der Mensch in der modernen Gesellschaft (= Castel Gandolfo-Gespräche [1]), Stuttgart 1985, 110–116. Wiederabdruck in: Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 13–39. 28 Vgl. z. B. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138–139. 27
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und das sich so gegen seine naturalistisch-relativierende Erklärung immunisiert, ohne mit ihr in eine Kontroverse zu treten. Sie kann diese Reduktion als »andere Wahrheit« über den Menschen durchaus zur Kenntnis nehmen. 29
Indem er die Entstehung dieses Antagonismus auf die Überwindung des teleologischen Denkens zurückführt, formuliert er die These, dass ihm letztlich ein in der menschlichen Natur begründeter fundamentaler Dualismus zugrunde liegt: »Nun ist allerdings dieser anthropologische Dualismus nicht einfach ein kontingenter Unfall der Denkgeschichte. Er gründet vielmehr seinerseits in der Struktur menschlicher Selbsterfahrung, und auf die eine oder andere Weise war er immer präsent.« 30 Spaemann verbindet somit seine Zeitdiagnose mit dem Grundgedanken seiner Studien zur Teleologie, wonach es die Selbsterfahrung des Menschen als eines Wesens, dem es um etwas geht, mit sich bringt, dass ein vollständiger Begriff des Menschen immer jenes andere, das er gerade nicht ist, in sich fassen muss, dass der Dualismus somit in der Natur des Menschen selbst begründet ist. Die »menschliche Natur«, so Spaemann, »wird also durch etwas definiert, was sie selbst nicht ist, durch eine Antizipation« 31. Im vorliegenden Essay beschreibt nun Spaemann exakt die Gedankenbewegung, die im vorherigen Abschnitt als charakteristisch für sein Denken im hier betrachteten Zeitraum bezeichnet worden ist: Er geht aus von den Erscheinungsformen des anthropologischen Dualismus in der Neuzeit, springt dann anhand des eben dargelegten Gedankens der Verwurzelung des Dualismus in der menschlichen Natur in die klassische antike Philosophie, um von dort aus über die mittelalterliche Philosophie in die Moderne zurückzukehren und die Frage der Aktualisierbarkeit der aristotelischen Fassung des Dualismus zu prüfen. Von besonderer Bedeutung im Rahmen dieses Gedankengangs ist die mittelalterliche Aneignung und Umformung der aristotelischen Fassung des Dualismus, da gerade sie mögliche Bahnen einer modernen Aktualisierung vorzeichnet. Auch wenn die Bedeutung Thomas von Aquins für Spaemanns Denken sich in den vorangegangenen drei Kapiteln durchaus schon ankündigte, vollzieht sich im vorliegenden Essay nach meiner Überzeugung ein entscheidender Schritt, mit dessen Deutung Spaemann noch bis weit in die 29 30 31
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 17–19. Ebd. 26. Ebd. 34.
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
90er Jahre hinein beschäftigt war. Im Folgenden wird die Bewegung von Aristoteles zur Gegenwart in den wesentlichen Grundgedanken knapp wiedergegeben. Der anthropologische Dualismus gründet in der menschlichen Selbsterfahrung und ist Teil der conditio humana: »Irgendeine Unterscheidung von Leib und Seele ist offenbar eine Kennzeichnung schon der archaischsten Formen des Menschseins.« 32 Insofern das Nachdenken des Menschen über sich selbst eine Bemühung um die Darstellung der Einheit des eigenen Wesens ist, liest sich die Geschichte der Selbstverständigung des Menschen wie ein fortwährender Versuch der Überwindung des Dualismus, der jedoch immer nur neue Dualismen hervorbringt. Wenn Aristoteles die Unterscheidung von Leib und Seele aufhebt, indem er die Seele als forma corporis begreift, so führt er doch sogleich einen neuen Dualismus ein: Der nous poietikos, das Prinzip der Intelligibilität ist überhaupt nicht im eigentlichen Sinne Teil der menschlichen Seele, sondern ragt als das »allein Göttliche« »von außen« in den Menschen hinein 33. Er allein ist »unsterblich und ewig« 34, nicht der Mensch und seine individuelle Seele. 35
Über das »Eigentümliche« dieses göttlichen Prinzips des νοῦς ποιητικός bemerkt Spaemann an anderer Stelle: Das Eigentümliche wird in »De anima« 430 a 14 als die Fähigkeit bezeichnet, alle Dinge zu »machen«, und zwar so zu machen, dass der menschliche Geist selbst sie werden kann: »Wirkliches Erkennen ist identisch mit seinem Gegenstand.« Eben insofern der nous gerade nicht eine natürliche Substanz ist, kann er alle natürlichen Substanzen erkennen, und zwar als sie selbst. 36
Zum Problem wurde diese aristotelische Form des Dualismus in christlicher Zeit, da der von außen – θύραθεν – in den Menschen hineinragende Intellekt im Widerspruch stand zur Lehre von der individuellen Unsterblichkeit. Spaemann zitiert hierzu aus dem Kommentar zu »De anima« von Thomas von Aquin:
32 33 34 35 36
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 26. Spaemann verweist als Quelle auf: Aristoteles, De gen. anim. 736 b. – Ebd. 39. Spaemann verweist als Quelle auf: Aristoteles, De anima, 430 a. – Ebd. 39. Ebd. 26–27. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.
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Wäre nämlich, so schreibt Thomas 37, der intellectus agens eine substantia separata, so wäre der Mensch »von Natur nicht hinreichend ausgestattet«. Denn »er besäße nicht in sich selbst die Prinzipien, durch die er die Tätigkeit des Erkennens ausführen könnte … darum verlangt die Vollkommenheit der menschlichen Natur, daß beide – aktive und passive Vernunft – etwas im Menschen sind«. 38
Zunächst vollzieht sich nun die erneute Verschiebung des Dualismus: »Der anthropologische Dualismus, den Thomas zu überwinden sucht, taucht allerdings unvermeidlich an anderer Stelle wieder auf und führt nun zum Begriff des ›Übernatürlichen‹, dem gegenüber auch noch die Vernunft zur ›Natur‹ gerechnet werden muß.« 39 Da »die vollendete Seligkeit in der in diesem Leben unerreichbaren visio Dei besteht« und da »der Mensch dieses Ziel nicht ›per sua naturalia‹ erreichen« 40 kann, wird so das Übernatürliche zur notwendigen Ergänzung des natürlichen Menschen. Gegen diese neue Form des Dualismus führt Thomas selbst den Einwand an: »natura non deficit in necessariis.« 41 Die Antwort auf diesen Einwand enthält nun ein zentrales anthropologisches Argument. Sie lautet: »Die Natur versagt dem Menschen gegenüber nicht im Bereich des Notwendigen, obgleich sie ihm nicht, wie den Tieren, Waffen und Schutzwehren verliehen hat; denn sie hat ihm Vernunft und Hände gegeben, mit denen er sich diese Dinge selbst verschaffen kann. Ebenso versagt sie nicht dem Menschen gegenüber hinsichtlich des Notwendigen, wenn sie ihm kein Prinzip verlieh, durch das er die Seligkeit erreichen kann. Das war nämlich unmöglich. Dafür gab sie ihm den freien Willen, durch den er sich zu Gott bekehren kann, daß dieser ihn selig mache.« 42 Und dann fügt er
Spaemann verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin. In Arist. De anima, III, 10. – Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 39. 38 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 27. 39 Ebd. 28. 40 Ebd. 41 Ebd. – Das Zitat lautet bei Thomas im Kommentar zu »De anima« vollständig: »natura nihil facit frustra, neque deficit in necessariis.« – Deutsch: »Die Natur tut nichts Überflüssiges und bleibt hinter dem Notwendigen nicht zurück.« – Sentencia De anima, lib. 3, lectio 14 n. 17. 42 Spaemann verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin, Summa theologica, I a, II ae, V, 3, ad 1. – Ebd. 39. 37
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
als Zitat des Aristoteles an: »Was wir durch unsere Freunde können, können wir gewissermaßen durch uns selbst.« 43
Die Erwiderung von Thomas enthält zwei Übersetzungen aristotelischer Positionen im Sinne der Ausführungen des vorangegangenen Abschnittes. Zum einen wird die aristotelische Überzeugung, wonach die Natur des Menschen sich erst in der Wirklichkeit der Polis entfaltet, übertragen auf das Verhältnis des Menschen zu Gott; zum anderen – und das ist das zentrale anthropologische Argument, von dem Spaemann spricht – wird die Bedeutung der menschlichen Vernunft als Kompensation physischer Schwäche erläutert durch ihr Potential einer spezifisch menschlichen Realisierung natürlicher Selbsttranszendenz: Wie die Isolierung einer selbstgenügsamen individuellen »Natur« und ihrer Vermögen für Aristoteles eine Abstraktion von der sozialen Natur des Menschen ist, zu welcher Natur immer die Freundschaft gehört, so ist für Thomas die Isolierung einer natura pura eine Abstraktion von der religiösen Natur des Menschen, einer Natur, die zur »Gottesfreundschaft« führt. Selbsttranszendenz der menschlichen Natur aber wird in Analogie gesetzt zu der Überwindung der Mängellage, in der der Mensch sich als Naturwesen befindet, durch Hände und Vernunft, was schon ein antiker Topos war. Natur – das ist die Grundstruktur des Gedankens – bringt im Menschen etwas hervor, was mehr ist als Natur, »nobilior«, heißt es bei Thomas. Der Mensch ist nicht dieses Mehr, er ist das Wesen, in dem Natur sich selbst auf das Mehr überschreitet. »L’homme transcend infiniment l’homme«, wird Pascal sagen. 44
Dieses zentrale anthropologische Argument, in dem die reflektierte Selbsttranszendenz als Wirken der Natur im Menschen begriffen wird, kann als die vielleicht bedeutendste philosophische Entdeckung Spaemanns im hier betrachteten Zeitraum gelten. 45 Dieses Argument Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 28–29. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1112 b 25. – Ebd. 38–39. 44 Ebd. 29. – Das Pascal-Zitat lautet im Original: »l’homme passe infiniment l’homme«. – Vgl. URL: hhttp://www.penseesdepascal.fr/Contrarietes/Contrarietes 14-moderne.phpi 45 Vgl.: »Wenn nun aber selbst der trotz aller naturphilosophischen und methodischen Kritik traditionelle Descartes seine Begriffe, Definitionen, Axiome, Distinktionen etc. der mittelalterlichen Scholastik (und der des Barock) verdankt, dann scheint offenbar das Mittelalter ebendiese tiefgreifende Epochenschwelle darzustel43
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enthält den Schlüssel für die Verbindung seiner metaphysisch-naturphilosophischen Überlegungen 46 und seiner anthropologischen Ansätze 47 und damit, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, für die weitere Entfaltung der Spaemann’schen Philosophie. Spaemann bezieht sich an dieser Stelle erneut 48 auf die beiden Axiome des mittelalterlichen Aristotelismus: »omne ens est propter suam propriam operationem« und »omne ens agit propter finem« 49, in denen die teleologische Verfasstheit der natürlichen Wesen ausgedrückt ist. Als Ziel des Strebens der natürlichen Wesen wird erneut μέθεξις, »Teilhabe am Ewigen und Göttlichen« 50, genannt. Neu gegenüber Aristoteles ist in der mittelalterlichen Philosophie nun der mit der christlichen Schöpfungslehre – »homo est finis totius generationis« 51 – verbundene Gedanke, dass »der Mensch allein dieses Ziel ausdrücklich als sein Ziel zu thematisieren vermag« 52, dass die natürliche Selbsttranszendenz in ihm also reflexiv gewendet wird. Mit Bezug auf die Ausführungen zur Fremdheit der antiken Philosophie aus neuzeitlicher Sicht kann erstens festgestellt werden, dass in der mittelalterlichen Philosophie, konkret bei Thomas von Aquin, eine Übersetzung des Aristoteles stattfindet, die »die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt« 53 zu reflektieren beginnt. Die zweitens in dieser Übersetzung zum Ausdruck kommende Bewahrung aristotelischer Grundeinsichten bringt Spaemann mit folgenden Worten auf den Punkt: Der Mensch, indem er die Natur übersteigt, bringt diese gewissermaßen erst zu sich selbst. In ihm erst wird das, was Natur eigentlich len, auch wenn sie als solche von den großen neuzeitlichen Autoren der Philosophie nahezu durchweg verkannt worden ist – und nicht nur von solchen, die es in seinen Textdokumenten nicht zur Kenntnis genommen haben.« – Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 10. 46 Vgl. Teilkapitel 5.2, »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive, 215– 291. 47 Vgl. Teilkapitel 5.3, Zugänge zum Absoluten, 292–318. 48 Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 60–61, u. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 139. 49 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 29–30. – Deutsch: »Alles Seiende ist um der ihm eigenen Tätigkeit willen.« »Alle Tätigkeit geschieht um eines Zieles willen.« 50 Ebd. 30. 51 Ebd. – Deutsch: »Der Mensch ist das Ziel der ganzen Schöpfung.« – Spaemann verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin, Summa Contra Gentes, III, 22. – Ebd. 39. 52 Ebd. 30. 53 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
und von sich her ist, sichtbar, weil ihre Um-willen-Struktur erst in ihm die Zweideutigkeit des Als-ob verläßt und als freies Wollen und freie Anerkennung des nicht selbstgesetzten Grundes und Zieles hervortritt. 54
Auch wenn die natürliche Selbsttranszendenz im klassischen antiken Denken bereits wirksam war, geschieht im Mittelalter doch ein entscheidender Schritt darüber hinaus, insofern dieses Denken nun erst reflexiv gewendet wird und die Selbsttranszendenz ausdrücklich setzt. 55 Es ist auffällig, dass die Gedanken zu dieser mittelalterlichen Übersetzung aristotelischer Grundgedanken sich in den 80er Jahren verstreut in verschiedenen Schriften Spaemanns finden, ohne dass er selbst hier schon explizit die Zusammenhänge herstellt und die Deutung dieser Übersetzung im vollen Umfang entwickelt. Was sich in seinen Schriften der 80er Jahre andeutet und ansonsten an impliziten Zusammenhängen ablesbar ist, wird später in »Glück und Wohlwollen« und »Personen« explizit ausgeführt. An dieser Stelle sei nur auf zwei weitere Texte der 80er Jahre hingewiesen, die Beiträge zu dieser Übersetzung beinhalten. Bei beiden Textauszügen geht es um das Problem, wie in der mittelalterlichen Philosophie aristotelische Grundgedanken in den durch den christlichen Schöpfungsglauben gesetzten Orientierungsrahmen übersetzt werden können. Erst im Gedanken der Schöpfung wird die Setzung eines Objekts durch ein Subjekt denkbar, dessen Gegenstück aus subjektiver Perspektive die reflexiv gewendete Selbsttranszendenz ist. Der platonische Demiurg ist ebenso wie der aristotelische unbewegte Beweger ein Weltgestalter, der mit einem vorgegebenen Material arbeitet, wohingegen der jüdisch-christlich-islamische Schöpfergott ohne ein vorgegebenes Material die Welt aus dem Nichts erschafft. Genau diese Differenz ist der Hintergrund eines weiteren Aspektes der oben als zentrales anthropologisches Argument bezeichneten Übersetzung der aristotelischen Position: Erst im Kontext des Schöpfungsglaubens wird übrigens überhaupt jener spezifische Begriff von Existenz entwickelt, der wiederum eine Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 30. Vergleiche hierzu die Bemerkung Spaemanns in den Studien über Fénelon über das Problem der Reflexion und die »scholastische Unterscheidung von einer Reflexion im vollzogenen Akt und im ausdrücklich gesetzten Akt – in actu exercito und in actu signato« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 69 – u. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 176–177.
54 55
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Adäquationstheorie der Wahrheit erfordert. Für Aristoteles gilt: esse sequitur formam. Avicenna formuliert erstmals den Begriff von Existenz, der das Sosein, die forma der Welt als ganzer noch einmal in Klammern setzt, so daß mit Bezug auf sie sinnvoll gesagt werden kann, sie könne sein oder auch nicht sein. 56
Es stellt sich dann aber die Frage, wer das sinnvoll sagen kann. Die Rede ist von einem Wesen, das zur Selbsttranszendenz fähig ist und sich dessen bewusst wird, das also die Differenz von Wesen und Existenz als eigene Daseinsform zu erleben beginnt. Die Differenzierung von Sosein bzw. Wesen und Existenz, die in der mittelalterlichen Philosophie aufkam, steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit jener reflektierten natürlichen Selbsttranszendenz des Menschen, da durch sie das Sosein, das bei Aristoteles gleichbedeutend mit Wirklichkeit ist, zu einem kontingenten Faktum in einem Wirklichkeitsraum wird: Es ist die Eigentümlichkeit gerade der Schöpfungsreligionen, die Kontingenzerfahrung so zu steigern, daß auch das So-und-nicht-anderssein der Welt noch einmal als kontingentes Faktum, als vérité de fait begriffen wird. Erst unter dem Einfluß der Schöpfungsidee hat Avicenna und nach ihm folgend die mittelalterliche Philosophie einen Existenzbegriff entwickelt, der nicht – wie in der Antike – im Begriff der Substanz bereits impliziert ist, sondern sich zu diesem noch einmal kontingent verhält. 57
Die Übersetzung des aristotelischen Gedankens einer im Menschen sich verwirklichenden Naturteleologie in einen durch die christliche Schöpfungslehre inspirierten Orientierungsrahmen, der die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt zu reflektieren beginnt, Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 175. Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 221–222. – Vgl.: »Die Frage der Kontingenz, die hinter der Unterscheidung von Sein und Wesen steht, ist bei Aristoteles im Rahmen der antiken Voraussetzungen hinreichend, und zwar ebenfalls mit einer Theorie von einander komplementären Prinzipien gelöst: nämlich der von erster und zweiter Substanz. Daraus ergibt sich die Kontingenz der Dinge; die Ewigkeit der Formen und der Materie ist naturgemäß keines Grundes mehr bedürftig. Erst die Schöpfungslehre wird die Kontingenzfrage auch an die Prinzipien selbst stellen.« – Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 243–244. – Vgl. auch: »… das antike Kontingenzproblem betraf nur die Welt des Werdens und Vergehens; die neue und radikalere Frage entsteht dadurch, daß die Prinzipien, die das antike Problem lösen sollten (Hylemorphismus), nun selbst unter dem Maßstab des Schöpfungsbegriffes kontingent werden.« – Ebd. 384.
56 57
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
führt also zur Aristoteles fremden Unterscheidung von esse und essentia, die das Charakteristikum der Selbsterfahrung eines Wesens ist, das auf die eigene Fähigkeit zur Selbsttranszendenz zu reflektieren beginnt. Im dritten Teil von »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« bemerkt Spaemann in diesem Zusammenhang: Die berühmte These von der Realdistinktion zwischen esse und essentia ist nur so verständlich: Meine essentia, mein So-Sein ist es, Subjekt zu sein, und alles, was ist, in meinem Bewusstseinsraum zu konstituieren. Aber wir wissen uns so, dass wir unsere Existenz nicht schlechthin als inneres Moment unseres So-Seins erfahren. Dies unterscheidet gerade die Existenz eines vernünftigen Lebens vom bloßen Leben eines Lebewesens. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das Leben als Leben nicht kontingent ist: Leben macht ja das So-Sein des Lebendigen aus, wie wir gesehen haben. 58 Darum hat das Lebendige bloß als Lebendiges keine Kontingenzerfahrung. Von ihm als von einem Kontingenten sprechen heißt: von ihm als »Seiendem« sprechen, und dies können nur vernünftige Wesen, die einer echten Selbsttranszendenz fähig sind. 59
Die Bedeutung dieser inneren Differenz und der Kontingenzerfahrung wird in den beiden folgenden Kapiteln auf dem Weg zur Personenphilosophie Spaemanns von größter Bedeutung sein. Die Fortsetzung der Geschichte des anthropologischen Dualismus nach dem Hochmittelalter führt direkt zu dem am Anfang dieses Abschnitts beschriebenen Antagonismus von Transzendentalismus und Naturalismus, für dessen Anbahnung die im Spätmittelalter einsetzende Invertierung der Teleologie von entscheidender Bedeutung war. »Die spezifisch anthropologischen Überlegungen bei Thomas, nach welchen die Natur im Menschen sich selbst übersteigt, entfallen.« 60 Diesen Abschnitt der Entwicklung des anthropologischen Dualismus hatte Spaemann zuvor im Rahmen seiner AuseinanderDiese Einsicht wird Spaemann später in einer entscheidenden Hinsicht modifizieren, insofern er in »Personen« unterstreicht, dass Leben – auch das von Tieren – nicht in seinem Sosein aufgeht, sondern wesentlich Existenz ist, auch wenn diese innere Differenz auf der Stufe nicht selbstbewusster Lebewesen latent bleibt. – Vgl. Spaemann, Personen, 80–81, u. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 590–591. 59 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 45–46. 60 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 31. 58
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
setzung mit Rousseau 61 bereits untersucht. Der Dualismus des ›Natürlichen‹ und des ›Übernatürlichen‹ führt nach Wegfall des Letzteren zu einem Totalbegriff der Natur, infolgedessen der Dualismus sich erneut einschleicht in Form der Gegenüberstellung dieser Natur und eines abstrakten Erkenntnissubjektes. 62 Zum unlösbaren Problem wird in dieser neuen Form des Dualismus die Frage nach der Einheit der beiden Seiten im Menschen selbst, der seine Zugehörigkeit zur Natur nicht vollständig leugnen kann. Bei Descartes entspricht der Verbindung von res cogitans und res extensa im konkreten Menschen »keine clara et distincta perceptio; sie ist nur sinnlich erlebbar« 63, weswegen eine »philosophische Anthropologie im eigentlichen Sinne […] für Descartes unmöglich« 64 ist. Kant sprach »von einem fundamentalen Dualismus der Hinsichten, der unsere anthropologische Fragestellung charakterisiert, der ›physiologischen‹ und der ›pragmatischen‹ Hinsicht« 65. Als weitere Stationen auf dem Weg nennt Spaemann die Hermeneutik Diltheys und auch die Philosophie Heideggers: »Einerseits ist der Mensch in ›Sein und Zeit‹ transzendentale Voraussetzung von Welt und seine Sprache ›das Haus des Seins‹, anderseits findet er sich in seiner Welt als Vorkommnis unter Vorkommnissen.« 66 Es ist offensichtlich, dass für Spaemann die Möglichkeit der Überwindung dieser modernen Form des anthropologischen Dualismus geknüpft ist an eine Wiederbelebung des teleologischen Denkens und damit an die Anerkennung der zur conditio humana gehörenden Struktur menschlicher Selbsterfahrung als eines natürlichen Wesens, das sich zu seiner eigenen Natur noch einmal verhält. Um diesen spezifisch Spaemann’schen Ansatz wird es in Teilkapitel 6.2 gehen. Zuvor jedoch soll der Blick noch einmal zurückVgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive, bes. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriff im 18. Jahrhundert«, 196–206. 62 Fast wörtlich wiederholt Spaemann hier eine bereits zuvor getroffene Feststellung: »Das sich hier anmeldende Naturverständnis bewegt sich in der Richtung auf die cartesisch-spinozistische Definition der Substanz als dessen, was begriffen werden kann ohne den Begriff eines anderen. Die anthropologische Fiktion einer »natura pura« beginnt ihren folgenreichen Siegeszug.« – Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 31. – Vgl. Spaemann, Natur (1973), 26, u. Ders. Zur Vorgeschichte des Naturbegriff im 18. Jahrhundert, 95, u. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriff im 18. Jahrhundert«, 200, u. ebd., Fn. 80. 63 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 15. 64 Ebd. 16. 65 Ebd. 14. 66 Ebd. 16. 61
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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
gewandt werden auf den Beginn der Neuzeit, auf den Moment in der Geschichte der Philosophie, in dem die in der mittelalterlichen Realdistinktion von esse und essentia bedachte Kontingenzerfahrung des vernünftigen Lebewesens radikal zu Ende gedacht wird, nämlich im Denken Descartes’.
6.1.3
Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
Die Frage nach dem Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ steht im Mittelpunkt des dritten Teils des Essays »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« und des aus dem Jahre 1987 stammenden Essays »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« 67, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen werden. Vorab sei noch einmal an den vorbereitenden Gedankengang 68 erinnert. Ausgehend von Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit wurde nach der Bedeutung des ὄν ᾗ ὄν bei Aristoteles gefragt und ermittelt, dass Sein bei Aristoteles kein logischer Begriff ist, sondern ein von der Selbsterfahrung des Menschen als natürlicher Substanz abgeleiteter »Ausdruck mit teleologischer Konnotation« 69. Im Übergang zur Neuzeit hat gerade dieser in der menschlichen Selbsterfahrung liegende paradigmatische Ort der Seinserfahrung einen tiefgreifenden Wandel erfahren, der im an die Stelle der aristotelischen Substanz rückenden modernen Subjektbegriff seinen Ausdruck findet. In der Verschiebung vom Substanz- zum Subjektbegriff verliert das Sein den unmittelbaren Bezug zur menschlichen Selbsterfahrung und wird zu einem Objektbegriff distanziert. Sein heißt neuzeitlich »Gegenständlichkeit für ein Bewusstsein« 70. Als abschließende Formulierung dieses Gedankens zitiert Spaemann häufig Quines Formel: »To be [is] to be the value of a bound variable« 71 bzw. »Sein heißt: Wert einer gebundenen Variablen sein.« 72 In dieser Formel vollendet sich die Reduktion der Wirklichkeit auf die Gegenständlichkeit für ein Subjekt. Descartes gilt SpaeZuerst erschienen in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 41 (1987), 373–382. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 136–148. 68 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331. 69 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44. 70 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137. 71 Ebd. 72 Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 172. 67
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
mann als einer der geistigen Väter dieses modernen Denkens, das bei ihm stets unter einem kritischen Vorzeichen steht. 73 Er spricht in diesem Zusammenhang von einem »cartesische[n] Typus« der Wissenschaft, deren Kennzeichen »die radikale Reduktion ihrer Gegenstände auf ihre Gegenständlichkeit, der Ausschluß aller Ähnlichkeit der res extensa mit der res cogitans, das Verbot des Anthropomorphismus zugunsten eines radikalen Anthropozentrismus« 74 ist. Zugleich fällt jedoch auf, dass Spaemann schon seit seiner frühen Arbeit über de Bonald eine gewisse Ambivalenz der Bewertung des cartesischen Denkens erkennen lässt. 75 Einerseits steht Descartes für eine radikale neuzeitliche Entteleologisierung und die Auffassung der Natur als Mechanismus – die Seite der res extensa –, andererseits entfaltet Spaemann, wie im Folgenden ausführlich dargelegt werden soll, die These, wonach der Zweifelsbeweis im ›cogito ergo sum‹ als eine Übersetzung der aristotelischen Rede vom Sein ins neuzeitliche Denken unter den Bedingungen der Entteleologisierung verstanden werden kann – die Seite der res cogitans. Über die Schwelle der Entteleologisierung hinweg, so lautet also die These, lässt sich von Descartes ein Bezug zur aristotelischen Rede vom Sein herstellen. Descartes greift nach Spaemann die Frage auf, die Aristoteles selbst explizit nicht gestellt hat: Wir abstrahieren aus der Erfahrung des bewussten Lebensvollzuges jenes Moment, das uns sozusagen zu einem Element der Allklasse macht, und nennen dies »Sein«. Aber was ist es denn, was wir da abstrahieren? Und was wir dann dem Denken als ein ihm Voraus- und ihm Entgegengesetztes gegenüberstellen? 76
Aristotelisch verstanden zielt diese Frage auf das Analogon, das unseren bewussten Lebensvollzug mit allen natürlichen Dingen verbinDie kritische Auseinandersetzung mit Descartes beginnt in der Studie über de Bonald, in der Descartes’ Gründung der Philosophie im reinen Denken, die Abstraktheit des individuellen ›cogito‹ abgelehnt wird – vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), z. B. 36, 44–45, 207 – sie setzt sich fort in den Studien über Fénelon, in denen im Zusammenhang mit dem Cartesianismus vom »Ring der Reflexion« und der »Isolation des Verstandessubjektes« die Rede ist – vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), z. B. 69, 108 – und bildet im Weiteren ein Leitmotiv seines Denkens bis in seine späten Publikationen hinein. 74 Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985/86), 102. 75 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 36, u. Abschnitt 3.2.1, Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt, 105–107. 76 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 37. 73
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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
det. Für Aristoteles könnte man antworten, dass dieses Analogon die φύσις ist »als inneres teleologisches Prinzip spezifischen Bewegtseins« 77. Diese Antwort ist, wenn sie Menschen, Lebewesen und natürliche Dinge verbinden soll, an die analoge Verwendung von ›Sein‹ gebunden: »pollachōs légetai – ›es wird auf vielfältige Weise ausgesagt‹« 78. Unter der Voraussetzung von Descartes’ Streben nach Gewissheit, für das der »univoke[…] Begriff«, die »clara et distincta perceptio« 79 das Ideal ist, scheidet diese Antwort aus und muss die Frage völlig neu gestellt werden. Mit Bezug auf diese Frage beginnt Spaemann den Descartes gewidmeten dritten Teil des Essays »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« mit den Worten: »Um die Frage zu verdeutlichen, bitte ich den Satz des Descartes zu vergegenwärtigen: ›Ich denke, also bin ich.‹ Was fügt das ›ich bin‹ dem ›ich denke‹ hinzu?« 80 Dieser Frage muss nun intensiv nachgegangen werden. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass im ›cogito sum‹ in Bezug auf die res cogitans die Begriffe cogitare und esse nicht gleichbedeutend sein dürfen, wie es diese Begriffe in Bezug auf die res extensa sind, für die ja gilt, dass Sein Gegenstand für ein Bewusstsein ist, wenn das ›cogito sum‹ nicht rein tautologisch sein soll: Wodurch unterscheiden sich diese Begriffe? Im Cogito sum bezeichnen sie ja denselben Gegenstand. Sie dürfen jedoch nicht bedeutungsgleich sein, denn es soll ja im Cogito sum ein Fortgang des Gedankens stattfinden, wenn auch nicht in der Form des Syllogismus. Worin besteht dieser Fortgang? Wieso folgt aus dem Cogito überhaupt etwas, und wie unterscheidet sich das, was folgt, von dem, woraus es folgt? Offenbar sind die beiden Begriffe extensional identisch, solange wir den Ring des Zweifels, den Ring des Solipsismus, nicht gesprengt haben. Intensional identisch jedoch dürfen sie nicht sein, wenn das Cogito sum einen Sinn haben soll. 81
Auch im Falle des einsamen Denkers der cartesischen Meditationen muss es also einen intensionalen, d. h. inhaltlichen Mehrwert des ›sum‹ gegenüber dem ›cogito‹ geben, nach dem hier zu fragen ist. Bei der Analyse des ›cogito sum‹ unterscheidet Spaemann vier Stufen 77 78 79 80 81
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137. Ebd. – Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch Γ, 1003 a 33, 122. Ebd. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 38. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 136–137.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
des Bewusstseins, indem er die Vorgeschichte dieser Schlussfolgerung in den ersten beiden Meditationen einbezieht. 82 Es geht Descartes dabei um »die Überwindung des Skeptizismus: die Suche nach Gewissheit, nach Überwindung des Zweifels. Worauf bezieht sich der Zweifel? Darauf, ob die Dinge so sind, wie sie uns scheinen.« 83 Ausgangspunkt ist das naive Bewusstsein, das in Frage gestellt wird durch den Zweifel, den Spaemann als erste Reflexionsstufe bezeichnet. Beim ›cogito sum‹ geht es dann um die zweite und dritte Reflexionsstufe bzw. dritte und vierte Stufe des Bewusstseins. Diese Interpretation soll durch das folgende Schema verdeutlicht werden: Stufe des ReflexionsBewusstseins stufe
Horizontbewusstsein (Horizont alles Gedachten)
Gegenstandsbewusstsein (Vorkommnis in der Welt)
1
–
naives Bewusstsein
–
2
1
–
Zweifel
3
2
Subsumtion des Zweifels unter die cogitatio
–
4
3
–
Reflexion auf das cogito, sum
Auf der ersten Reflexionsstufe, der des Zweifels, führt Descartes einen fiktiven Täuschegeist, den genius malignus ein, der dem Menschen eine falsche Welt vorspiegelt: Der Genius malignus selbst hat offenbar ein von seinen Opfern unterschiedenes Bewusstsein. Er sieht die Sache anders, als er sie die Opfer sehen lässt. Und offenbar ist er es, der sie richtig sieht. Descartes aber kommt zu dem berühmten Schluss, dass mindestens an einem Punkt er, Descartes, sie auch so sehen muss, wie sie ist, nämlich wo er sich seines Bewusstseins bewusst wird. 84
Dieser Schluss bildet die dritte Stufe des Bewusstseins bzw. die zweite Reflexionsstufe. Die zweite Reflexion dubito ergo cogito (ich zweifle, also denke ich) steht in sich selbst und ist unhintergehbar. Aber sie ist ebenso leer. Der Horizont des Bewusstseins ist nun geschrumpft auf den zeitlich und 82 83 84
Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia, 32–67. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 38. Ebd. 39.
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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
inhaltlich ausdehnungslosen Punkt des Zweifels. Das Cogito bleibt als Form ohne Inhalt, als Horizont ohne Gegenstand. 85
Um diese Inhaltslosigkeit der zweiten Reflexionsstufe exakt zu fassen, muss hier, genau besehen, statt von ›cogito‹ von ›cogitatur‹ – es wird gedacht – die Rede sein, da das in der Flexionsendung des ›cogito‹ enthaltene ›ego‹ »nicht als logischer Eigenname verstanden werden darf« 86, ohne dass der Satz ›cogito ergo sum‹ eine Tautologie würde. Vielmehr ist das ›ego‹ »als eine prädikative Bestimmung des cogitatur« zu verstehen, die erst im Übergang von der zweiten zur dritten Reflexionsstufe hinzukommt: »Es gibt cogito« bzw. »cogitare in der Form des cogito findet statt« 87. In der Aufeinanderfolge dieser Stufen beobachtet Spaemann eine »eigentümliche Dialektik von Horizontbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein« 88: Das naive Bewusstsein ist Horizont, »Grenze der Welt« 89, wie Wittgenstein sagt. Der Zweifel vergegenständlicht diesen Horizont. Für den Zweifel wird Evidenz zu möglicher Idiosynkrasie, zu einem sich möglicherweise selbst missverstehenden Zustand eines innerweltlichen Dings oder Systems. Das Cogito ist nun die Entdeckung, dass, wie Hegel sagt, Misstrauen ins Misstrauen gesetzt werden kann 90, weil nämlich der Zweifel selbst noch eine Gestalt jenes Bewusstseins ist, das er in Klammern setzen möchte. Er bleibt in dem Horizont, den er zu vergegenständlichen sucht. Im sum aber – im Sinne von: »es gibt ein cogito« – wird das Cogito erneut zu einem Faktum in der Welt, einem Gegenstand, einer res. 91
Im Schritt von der dritten zur vierten Stufe des Bewusstseins findet bei Descartes also ein Fortschritt vom Denken zum Sein statt, wobei dieser Schritt allerdings geradezu eine Depotenzierung der res cogitans bedeutet:
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 144. Ebd. 140. 87 Ebd. 88 Ebd. 140–141. 89 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: L. Wittgenstein, Tractatus LogicoPhilosophicus, 5.6. Schriften Bd. 1, Frankfurt/M. 1969, S. 65. – Ebd. 148. 90 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, ed. Glockner, Bd. 2, Stuttgart 1951. Vgl. auch: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in Werke, ed. Glockner, Bd. 15, 136: »Wird der Zweifel Gegenstand des Zweifels, … so verschwindet der Zweifel.« – Ebd. 148. 91 Ebd. 141. 85 86
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Diese res füllt damit nicht mehr a priori den Raum aus, der durch das Cogito aufgespannt ist. Sie ist ja selbst ein Vorkommnis in diesem Raum. Sogar wenn sie das einzige Element der Klasse aller Dinge ist, ist sie nicht mit dieser Klasse identisch. Daher wird nun das Sein dieser res cogitans vom Denken selbst unterschieden. Descartes interpretiert diese Unterscheidung mit Hilfe der aristotelischen Begriffe von Substanz und Akzidens. Für das Sein der Substanzen gilt, dass sie etwas anderes sind als ihr Gedachtsein: »Wir erkennen die Substanz nicht unmittelbar durch sie selbst, sondern nur weil sie Subjekt bestimmter Akte ist.« 92 Das aber heißt: Die Unmittelbarkeit der Selbstgewissheit des Cogito geht wieder verloren im Übergang zum sum. Es gibt keine Unmittelbarkeit der Erkenntnis der endlichen Substanz. 93
An dieser Stelle sei an den im ersten Teil untersuchten neuzeitlichen Subjekt-Wechsel und die dort konstatierte eigentümliche Zwischenstellung Descartes’ erinnert. Es ist für den weiteren Gedankengang zunächst wichtig festzuhalten, dass Descartes, indem er das antike Substanz/Akzidens-Schema auf das Verhältnis der cogitationes – als Akzidentien – zur res cogitans – als Substanz – bezieht, eine Differenz mit diesem Schema zu bezeichnen versucht, die sich Aristoteles noch gar nicht erschlossen hatte. 94 Der Schritt vom Denken zum Sein im ›cogito sum‹, von der cogitatio zur Substanz ist somit ein Akt freiwilliger Selbstbeschränkung, der Fragen aufwerfen muss. Erstens: Welche Motivation kann hinter einem solchen Schritt stehen? – Spaemann bemerkt zur Rezeptionsgeschichte dieses Satzes: »Husserl hat eben diesen Schritt kritisiert. 95 Das transzendentale Ego ist für ihn wesentlich letzter Horizont und gerade deshalb nicht möglicher Gegenstand, nicht ein Seiendes in der Welt.« 96 – Zweitens stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit dieses Schrittes: »Von welchem Standpunkt aus ist diese erneute Objektivierung des Cogito möglich, durch
Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Descartes, Méditations, Réponses aux troisièmes objections. Obj. II; A.-T. IX 136. – Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 148. 93 Ebd. 141. 94 Vgl.: »Die aristotelischen Aussagen der Metaphysik als Wissenschaft betreffen das Wesen der Dinge; alles andere hat den Status eines esse per accidens: sein Zukommen oder Nichtzukommen kann aus dem Wesen der Sache nicht erklärt werden.« – Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 249. 95 In einer Anmerkung verweist Spaemann auf: E. Husserl, Cartesianische Meditationen, in: Husserliana Bd. I, Haag, 1950. – Ebd. 148. 96 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 141–142. 92
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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
die dieses endgültig als Seiendes stabilisiert wird?« 97 – Und kann nicht das Sein des ›sum‹ erneut in den Horizont des Gedachten hineingenommen werden, so dass es zu einem »unendlichen Regress« kommt, »der nie bei so etwas wie Sein ankommen kann« 98? Die dritte Frage lautet also: »Wie entgeht Descartes dem unendlichen Regress der Reflexion, in welchem immer wieder das Cogito sich vergegenständlicht, um als ungegenständlicher Horizont hinter seiner Vergegenständlichung wieder aufzutauchen?« 99 Wie im Folgenden gezeigt wird, ist es eine Antwort, die Descartes auf diese drei Fragen gibt. Zu der gesuchten Antwort hin kann die Beobachtung führen, dass es eine Parallele zwischen der ersten und der dritten Reflexionsstufe, dem Zweifel und dem ›sum‹ gibt. Der Zweifel auf der ersten Reflexionsstufe, den Descartes in der ersten Meditation durchspielt, ist ein absoluter Zweifel. Selbst die Arithmetik – »zwei und drei miteinander addiert ergeben fünf« 100 – und die Geometrie – »das Quadrat besitzt nicht mehr als vier Seiten« 101 – können vom genius malignus uns vorgegaukelt sein. Es ist wichtig zu sehen, dass es hier nicht um den Gedanken einer relativen Täuschung geht, die immer als ein Noch-nicht-Erfassen der Wahrheit gedeutet werden könnte, sondern um eine absolute Täuschung. Eine solche ist aber nur möglich durch ein Subjekt, das uns täuscht. Der Wirklichkeitsraum, der in Descartes’ Zweifel eröffnet wird, ist also auch im Falle des Solipsismus zumindest von zwei Subjekten bewohnt, wobei das zweite Subjekt des Täuschegeistes als unendlich gedacht wird. Und genau diese Vorstellung vom Wirklichkeitsraum ist es auch, die dem Schritt zum ›sum‹ auf der dritten Reflexionsstufe zugrunde liegt: Was den Zweifel ermöglicht, ist das Gleiche, was seine definitive Überwindung möglich macht, nämlich die Antizipation eines absoluten Bewusstseins und damit einer definitiv wahren Welt. Nur auf dem Hintergrund dieser Antizipation ist ja meine Welt möglicherweise die falsche. […] Nur ein endliches Bewusstsein kann irren. Die Idee Gottes ist der Horizont, auf dem das Cogito seinen absoluten Horizontcharakter verliert, zu einem endlichen Faktum, einer res wird und damit zum möglichen Opfer des Täuschungsversuchs eines genius malignus. Gott wird von Descartes eingeführt als der, »der alles kann Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 141. Ebd. 142. 99 Ebd. 143. 100 Descartes, Meditationes de prima philosophia, 39. 101 Ebd. 97 98
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
und durch den ich geschaffen und hervorgebracht bin, so wie ich bin«. Erst aber, wenn ich »un tel«, ein »So-und-so« bin, stellt sich die Frage nach meiner Täuschbarkeit. »Un tel« aber bin ich nur, wenn es den Blick gibt, der mich zu einem solchen macht. Erst die Antizipation des Unendlichen ermöglicht die Transformation des Cogito vom umgreifenden Horizont zum Gegenstand, zu einem endlichen Ding. Nur unter der Voraussetzung Gottes ist der »génie trompeur«, der Täuschegeist möglich. 102
Descartes’ Argumentation liegt zunächst die Einsicht zugrunde, dass ich mir ein fremdes Bewusstsein vorstellen kann, das mich selbst vergegenständlicht. Damit dieses nicht seinerseits von einem dritten Bewusstsein vergegenständlicht werden kann, stellt Descartes es sich als unendliches Bewusstsein vor. Eine solche Vorstellung bilden zu können, ist Ausdruck natürlicher Selbsttranszendenz, der Fähigkeit, im Denken einen Standpunkt außerhalb des eigenen Gesichtskreises einnehmen zu können. Von dieser Fähigkeit zur Selbsttranszendenz schließt Descartes spekulativ auf die Idee Gottes, womit er die »Theologisierung der Ontologie« 103 betreibt. An dieser Stelle wird nun deutlich, dass der cartesische Gedankengang sich anschließt an die in Abschnitt 6.1.2 erläuterte mittelalterliche Übersetzung der aristotelischen Fassung des anthropologischen Dualismus. Dort wurde die im Kontext der christlichen Schöpfungslehre fundierte Einführung des Übernatürlichen in den Dualismus in einen Zusammenhang gebracht mit der reflexiven Wendung der natürlichen Selbsttranszendenz, 104 durch die erst die Wahrnehmung von Kontingenz – der eigenen wie der der Schöpfung – möglich wurde. Die damit verbundene Realdistinktion von esse und essentia wird nun von Descartes in klaren – von Aristoteles übernommenen! – Begriffen nachvollzogen, wobei allerdings die Selbsttranszendenz den für die mittelalterliche Philosophie konstitutiven Bezug auf die teleologisch verstandene natürliche Substanz verliert. An ihre Stelle tritt bei Descartes als Substanz die res cogitans, deren Akzidens die cogitationes bzw. das ›cogitatur‹ sind, das, wie gesehen, die zweite Reflexionsstufe darstellt. Dieses ›cogitatur‹ als reines Horizontbewusstsein, das sich seiner selbst gewiss, jedoch auch völlig leer ist – »ein Wissen des Wissens, in dem nichts Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 143–144. Ebd. 139. 104 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333– 339. 102 103
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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
gewusst wird« 105 –, kann als die cartesische Fassung der denkbar werdenden Existenz, also des ›esse‹ der mittelalterlichen Realdistinktion, aufgefasst werden. Die Selbsterkenntnis bzw. die Erkenntnis der eigenen Substanz, zu der der Mensch in diesem Akt der Selbsttranszendenz gelangt, ist jedoch immer schon eine vermittelte. Der Schritt von der zweiten zur dritten Reflexionsstufe besteht in der Wahrnehmung einer inneren Differenz des erkennenden Wesens in sich selbst: Das cartesische Cogito ergreift sich erst dadurch als Seiendes, dass es sich aufspaltet in die Antizipation eines absoluten, schlechthin mit sich identischen Seins, das es selbst nicht ist, und in ein durch dieses göttliche Sein be-dingtes »Ding«, die res cogitans, die es selbst ist und deren Substanzialität gerade nicht identisch ist mit seiner cogitatio. 106
Die Selbsterkenntnis der res cogitans als Substanz geschieht also erst in der Vermittlung durch ein absolutes Sein, das das Worauf des Aktes der Selbsttranszendenz ist. Dieser Akt der Selbsttranszendenz ist somit die reflexive Wendung auf eine innere Differenz zwischen dem Sosein als Subjekt, das alles, was ist, in seinem Bewusstsein konstituiert, und der die Grenzen dieses Subjekts überschreitenden Ahnung des Seins, des absoluten und des eigenen. 107 Erst aus dieser inneren Differenz enthüllt sich die Kontingenz des Soseins, das in den Seinsakt hineingezogen wird: In ihm kann die res cogitans als Seiendes sich zum eigenen Sosein noch einmal verhalten. Zu sein bedeutet für ein der Selbsttranszendenz fähiges Lebewesen also die Spannung zwischen dem Sosein und dem absolut Offenen, an dem es im Seinsakt teilnimmt. Der Raum, der durch das Denken eröffnet wird, transzendiert – das ist das Wesen des Denkens – die Immanenz der endlichen Subjektivität, so dass das diesen Raum eröffnende Denken innerhalb dieses Raumes selbst als ein Seiendes vorkommt, als res cogitans. Es ist »an sich«, dass ich »für mich« bin, und das heißt: Es ist für jedes Denken, dass ich für mich bin, d. h. denke! Der Seinsraum konstituiert sich nicht durch die einfache Intentionalität meines Bewusstseins, sondern durch die Reziprozität eines durch Sprache bestimmten Bewusstseins. Sprechend Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 144. Ebd. 147. 107 Vgl.: »Meine essentia, mein So-Sein ist es, Subjekt zu sein, und alles, was ist, in meinem Bewusstseinsraum zu konstituieren. Aber wir wissen uns so, dass wir unsere Existenz nicht schlechthin als inneres Moment unseres So-Seins erfahren.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 45. 105 106
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
muss das Subjekt auf seine Gegenständlichkeit für ein anderes Subjekt reflektieren. […] So sieht es die Welt nicht aus der Perspektive seiner eigenen Mitte, sondern aus einer Perspektive, die überhaupt keinen Mittelpunkt in einem Bewusstsein hat. 108
Mit dem ›cogito ergo sum‹ liefert Descartes also eine spekulative Theorie reflexiv gewendeter Selbsttranszendenz, die unter den Vorzeichen des neuzeitlichen – entteleologisierten – Denkens dennoch die als Übersetzung der antiken Form des anthropologischen Dualismus zu verstehende Realdistinktion von ›esse‹ und ›essentia‹ in klaren Begriffen ausdeutet. Es sei an dieser Stelle an die bemerkenswerte Tatsache erinnert, dass Fénelon diese Theorie im Sinne seines amour-pur-Gedankens ablehnte und die Evidenz des Schlusses in Frage stellte. 109 Was Fénelon dabei nicht bewusst war, ist die Tatsache, dass Descartes spekulativ einen mittelalterlichen Gedanken interpretierte, der seinerseits wieder eine Übersetzung jenes substanzontologischen Denkens darstellte, das Fénelon selbst in seiner Lehre von den direkten Akten zu erneuern versuchte. 110 An dieser Stelle kann nun auch, der Ankündigung in Abschnitt 3.2.5 entsprechend, an die dort zitierte Bemerkung Spaemanns über de Bonald angeknüpft werden. Dort hieß es: Gerade durch seinen absoluten Gegensatz zu dem individualistischen Cogito erweist Bonald sich als noch unter der gleichen Voraussetzung stehend. Das Ergebnis ist paradox: Gerade weil er die in diesem Ansatz verborgene Wahrheit nicht wahrzunehmen vermochte, wurde er zu einem Glied in dem geschichtlichen Prozess der Vollstreckung seiner Unwahrheit. 111
Oben wurde bereits dargelegt 112, inwiefern Bonalds Position bei gleichen Voraussetzungen einen absoluten Gegensatz darstellt. Vor dem Hintergrund der hier durchgeführten Untersuchung der Bedeutung des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ wird nun auch erkennbar, worin die »in diesem Ansatz verborgene Wahrheit« besteht. Es geht dabei 108 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 40–41. 109 Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 111, u. Abschnitt 4.3.1, Fénelon und Descartes: Radikalisierung und Überwindung des Rationalismus, 153–158. 110 Vgl. ebd. 75, u. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 149–151. 111 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 207. 112 Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstaufhebung der Vernunft, 120–121.
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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
um die konstitutive Rolle des Anderen im Prozess der Selbsterkenntnis. 113 Auch wenn diese von Descartes nur im Sinne einer »spekulative[n] Dialektik von endlichem und unendlichem Bewusstsein« 114 gedacht werden kann, ist damit ein fundamentaler Gedanke einer möglichen Philosophie der Begegnung bei Descartes angelegt. Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ ist mit diesen Ausführungen noch nicht abgeschlossen. Hier bestand die Aufgabe darin, im Zuge einer philosophiehistorischen Betrachtung die Bedeutung des cartesischen Gedankens im Grundzug darzulegen. Im Zusammenhang mit der Entfaltung von Spaemanns eigenem Ansatz in Teilkapitel 6.2 wird auf den Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ zurückzukommen sein. Zunächst aber werden noch zwei für Spaemann wichtige Repräsentanten des neuzeitlichen Denkens in die Betrachtung aufgenommen.
6.1.4
Leibniz: Ontologie sub specie Dei
Spaemanns Haltung zu Leibniz 115 (1646–1716) kann als zwiespältig bezeichnet werden. Sie schwankt zwischen der Skepsis gegenüber einem spekulativen Höhenflug, für den menschliche Denkbedingungen außer Kraft gesetzt zu sein scheinen, und der Faszination angesichts der Universalität seines Gedankengebäudes. Spaemann spricht mit Bezug auf Leibniz von einer »Theologisierung der Ontologie« 116, die er schon im Denken Descartes’ beobachtete und die in Leibniz’ Philosophie »den Höhepunkt einer Sicht der Welt als System« 117 113 Vgl.: »Erst durch die Antizipation des Anderen und seines Blicks wird [der Prozess der Reflexion] zum Stehen gebracht. Wenn der Andere sich nicht selbst täuschen will, muss er denken, dass ich denke. In diesem cogitat me cogitare weiß sich das Cogito als sum.« – Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 147. 114 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139. 115 Leider ist bislang nur ein Text veröffentlicht, der Spaemanns Beschäftigung mit Leibniz dokumentiert: der den folgenden Ausführungen zugrunde liegende, im Rahmen einer Ringvorlesung der Universität München 1987 gehaltene Vortrag »Leibniz’ Begriff der möglichen Welten«. Zuerst erschienen in: V. Schubert (Hrsg.), Rationalität und Sentiment, St. Ottilien 1987, 7–36. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 149–170. Eine Edition von Spaemanns Leibniz-Vorlesung steht noch aus. – Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 219–220. 116 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 169. 117 Ebd. 168.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
erreichte, von einer »Philosophie sub specie Dei« 118, einer »Ontologie sozusagen vom Standpunkt Gottes aus« 119. Im Folgenden wird ausgehend von Leibniz’ Begriff der möglichen Welten 120 die Vorgeschichte dieses Theorems, wie Spaemann sie rekonstruiert, knapp dargelegt, bevor seine philosophischen Implikationen näher erläutert und die Ausführungen zu diesem Thema in den Kontext der philosophiehistorischen Untersuchungen Spaemanns – nicht zuletzt seiner Überlegungen zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Naturbegriffs 121 – eingeordnet werden. Die Entstehung und Verbreitung des Begriffs möglicher Welten ist eng verbunden mit der Frage nach der ›Allmacht Gottes‹ 122 und der Problematik menschlicher Freiheit. »Eingeführt wurde der Begriff nach herrschender Ansicht durch Leibniz.« 123 Spaemanns These ist, »dass Leibniz nicht der erste Erfinder« 124 dieses Begriffes war, dass er ihn aber »vor allem dadurch so berühmt gemacht« habe, »dass er ihn in den Rahmen der These stellte, nach der unsere Welt die beste aller möglichen Welten ist« 125. Leibniz Grundgedanke kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die tatsächliche Welt ist nur eine von unendlich vielen möglichen Welten, die existiert haben könnten 126. Genau diejenige Folge oder Kombination von Dingen, bzw. – wie man einfacher sagen kann – diejenige mögliche Welt wird von Gott geschaffen, die insbesondere in der Hinsicht am vollkommensten ist, daß in ihr mehr Individuen zur Existenz kommen als in irgendeiner anderen möglichen Welt: »Ich sage daher, daß ein Seiendes existierend ist, wenn es mit der größten Anzahl von Dingen kompatibel ist« 127. Unsere Welt ist damit die beste
Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 169. Ebd. 168. 120 Vgl. zu diesem Thema auch: Buchheim, Zum Verhältnis von Existenz und Freiheit in Leibniz’ Metaphysik. 121 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, 196–206. 122 Vgl. Max, Welt, mögliche, in: HWPh XII, col. 443. 123 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 149. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Verweis durch Anmerkung [4] auf: Remarques sur la lettre de M. Arnauld [1686], a.O. 40; vgl Art. ›Optimismus I.‹. Hist. Wb. Philos. 6 (1984) 1240–1246. 127 Verweis durch Anmerkung [5] auf: Generales inquis. de analysi notionum et veritatum (73) [1686], in: Opusc. et fragm. inéd., hg. L. Couturat [COp] (Paris 1903, ND 1961) 376. 118 119
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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
der möglichen Welten, da jede beliebige Veränderung eine Veränderung zum Schlechteren wäre. 128
In seinem Vortrag »Leibniz’ Begriff der möglichen Welten« versucht Spaemann eine Rekonstruktion der Vorgeschichte dieses Grundgedankens, die – entsprechend der oben dargelegten charakteristischen Gedankenbewegung Spaemanns – von Leibniz zunächst zurückgeht zur klassischen antiken Philosophie, um von dort über die mittelalterliche christliche Philosophie schrittweise in die Neuzeit zurückzukehren. Zum ersten Mal findet sich der Gedanke nach Spaemann in Platons »Timaios« als Gestaltung des Kosmos durch den Demiurgen. Von diesem Mythos unterscheidet sich die »jüdischchristlich-islamische[…] Schöpfungsidee« 129 in dreifacher Hinsicht: Für sie gibt es keine der Schöpfung vorausliegende Materie. Es gibt keine dem göttlichen Schöpferwillen entgegenstehende blinde Notwendigkeit wie bei Platon. Die einzige Notwendigkeit ist diejenige, die mit dem Wesen Gottes selbst gegeben und gesetzt ist, z. B. die des Widerspruchsprinzips. Und schließlich wird die Welt als Geschichte gedacht, als einmaliges Geschehen mit Anfang und Ende. 130
Unter diesen neuen Denkbedingungen wurde die These von der »Unmöglichkeit einer besseren Welt als der bestehenden« 131 zunächst von Abaelard (1079–1142) vertreten und vom Konzil von Sens 1141 »als häretisch verurteilt […], weil sie die Freiheit Gottes leugne« 132, woraufhin auch Thomas von Aquin sich eingehend mit dieser Frage auseinandersetzte und sich von Abaelard distanzierte, ohne sich antithetisch zu dessen These zu positionieren: Thomas verwirft als Irrtum sowohl die Meinung derer, die die göttliche Macht einschränken, indem sie sagen, Gott könne nur das tun, was er wirklich tut, weil sich nur dies zu tun ziemt; wie die Meinung derer, die sagen, »dass alles nur die Folge einer Willenssetzung ist, ohne einen anderen in den Dingen selbst zu suchenden oder ihnen zuzuschreibenden Grund«. 133
Vgl. Max, Welt, mögliche, in: HWPh XII, col. 443. Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 153. 130 Ebd. 153–154. 131 Ebd. 154. 132 Ebd. 133 Ebd. 154. – Die These findet sich »im Sentenzenkommentar, in der 25. Quaestio im 1. Teil der ›Summa theologica‹ und in der ›Summa contra gentiles‹.« – Ebd. 128 129
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Thomas stellt sich damit sowohl gegen eine rationalistische Interpretation der Schöpfung, die die Welt auf einen »zureichenden und zwingenden Grund« 134 zurückzuführen versucht, als auch gegen eine voluntaristische Interpretation, die eine vernünftige Betrachtung der Welt unmöglich machen würde. Thomas zielt dabei auf die bereits erörterte perspektivische Unterscheidung zwischen dem Absoluten an sich und quoad nos 135, also auf die Betonung der endlichen Perspektive des Menschen auf die Schöpfung: »im Bereich des Endlichen gibt es keinen Maßstab dessen, was das Beste heißen dürfte. Man kann nur analog zu Platon sagen, dass die Ordnung der Dinge positis his rebus, so wie die Dinge stehen, nicht besser sein kann, als sie ist.« 136 Der Ordnung der Dinge haftet also aus menschlicher Perspektive eine unaufhebbare Kontingenz an, die das Äquivalent des Bewusstseins von Freiheit im Vollzug der menschlichen Existenz ist. Spaemann zitiert den »erstaunliche[n] Satz« 137 von Thomas von Aquin: »›Die Dinge, insofern sie in Gott sind, haben keine Ordnung, sondern nur, insofern sie in sich selbst sind. Deshalb wird die Ordnung der Dinge nicht der göttlichen Weisheit zugeschrieben, sondern allein seinem Willen.‹ (ver. 23, 2, ad. 3)« 138 Es geht hier also um die Unterscheidung zwischen Possibilien, in Gottes Sein gründenden ideellen Möglichkeiten bzw. ewigen Ideen, und der kontingenten Verknüpfung der Dinge in der Welt, die in Gottes Willen begründet sind. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich folgende Frage: Wie kann dann aber Gott unter der Voraussetzung, dass die contingentia futura, die kontingenten Ereignisse und Dinge der Zukunft, nicht den Charakter ewiger Wahrheit haben, alles Künftige, insbesondere die freien Handlungen der Menschen vorauswissen? Denn dass er sie vorausweiß, gehört zum unverzichtbaren Bestand der christlichen Lehre. Hierauf war die traditionelle, die augustinische, thomistische, scotistische Antwort die, dass alles, was geschieht, von Gott schon immer gewusst wird, weil Gott selbst dessen letzte Ursache ist, unbe-
Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 155. S. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131. 136 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 155. – Dieser Gedanke korrespondiert dem in Teilkapitel 3.3 dargelegten Begriff einer ›bedingten Notwendigkeit‹ (necessarium ex suppositione). – Vgl. 128–131. 137 Ebd. 163. 138 Ebd. 134 135
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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
schadet der Kontingenz und Freiheit der menschlichen Handlungen im Verhältnis zu allen innerweltlichen Kausalgesetzlichkeiten. 139
An der Schwelle zur Neuzeit vollzog sich im Zuge der Entteleologisierung jedoch ein tiefgreifender Wandel im Verständnis des Verhältnisses des Menschen zu Gott, der im Rahmen des Leibniz-Vortrags von Spaemann nicht explizit thematisiert wird, auf den weiter unten aber im Rahmen des Versuchs, die hier dargelegten Gedanken in den übergreifenden Kontext von Spaemanns Denken einzufügen, zurückzukommen sein wird. Aus der zitierten traditionellen Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Gottes Vorauswissen und menschlicher Freiheit zogen die Reformatoren im 16. Jahrhundert den Schluss, dass »von menschlicher Freiheit […] im Verhältnis zu Gott überhaupt nicht die Rede sein« 140 könne, dass somit auch »die Verdammten ihr Schicksal sich nur zuziehen können, weil er sie hierzu prädestiniert habe und ihnen infolgedessen die entscheidende Hilfe eben nicht gewährt« 141. Dieser Schluss wurde vom Trienter Konzil, das als Reaktion auf die Lehren der Reformation einberufen wurde, abgelehnt. Das Konzil von Trient (1545–1563) hatte entschieden, daß der von Gott erweckte und bewegte freie Wille des Menschen etwas zur Vorbereitung auf den Empfang der Rechtfertigungsgnade beitragen und, wenn er wolle, seine Zustimmung versagen könne. Die nachtridentinische Theologie versuchte nun, das Zueinander von Gnade und Freiheit durch eine umfassende Concordia aller Faktoren zu klären und von einem einheitlichen Grundprinzip her verständlich zu machen. So entstanden die Gnadensysteme, vor allem der von L. de Molina SJ (1535–1600) begründete und von den meisten Jesuiten vertretene Molinismus und das nach dem Dominikaner D. Báñez (1528–1604) benannte báñezianisch-thomistische Gnadensystem. 142
Während in diesem Gnadenstreit die thomistischen Dominikaner an »ihrer Lehre von der praemotio physica, der ›physischen Determination‹« 143 festhielten und die »Priorität und Souveränität Gottes als der causa prima alles Seins und Wirkens« 144 betonten, entwickelte 139 140 141 142 143 144
Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 163. Ebd. Ebd. 163–164. Reinhardt, Gnadenstreit, in: HWPh III, col. 713. Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 164. Reinhardt, Gnadenstreit, in: HWPh III, col. 714.
355 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Molina eine Theorie, die einen »indeterministischen Freiheits-Begriff« 145 sichern sollte: Aufgabe dieser Theorie war es, ein göttliches Vorherwissen freier Handlungen zu denken, das einerseits nicht darauf beruht, dass Gott selbst unmittelbar Urheber dieser Handlungen ist, und das doch nicht gedacht werden darf als ein passives Zur-Kenntnis-Nehmen dessen, was geschieht. Denn das war wiederum mit dem Begriff Gottes nicht vereinbar. Der Gedanke Molinas war nun der: Gott hat in sich nicht nur Ideen möglicher Dinge, sondern Ideen möglicher Weltverläufe, möglicher series rerum oder ordines rerum, also Ketten von Dingen und Ordnungen von Dingen. In jeder dieser Ereignistotalitäten, in jeder dieser series rerum haben die Menschen völlige Handlungsfreiheit. Aber jede dieser series rerum ist dadurch definiert, dass in ihr die Menschen diesen oder jenen Gebrauch von ihrer Freiheit machen, dass sie sich durch dieses oder jenes Motiv bestimmen lassen. […] Gott wählt nun unter allen ordines rerum einen aus und überführt ihn in die Wirklichkeit. Und da er selbst ihn geschaffen hat, weiß er natürlich, was in ihm geschieht, ohne dass er selbst eingreifen müsste, um die Menschen zu dieser oder jener Handlung zu bestimmen. Er hat mit der Auswahl der bestimmten Konstellation die Bedingung gewählt, die faktisch diese bestimmte Handlungsweise auslöst, wenn auch nicht mit irgendeiner metaphysischen oder kausalen Notwendigkeit. Schöpfung reduziert sich so auf eine rationale Auswahl unter gegebenen möglichen Welten. 146
Molina erweitert damit den Bereich der Possibilien, der in Gottes Sein gründenden ideellen Möglichkeiten, durch Aufnahme alles Kontingenten in die series rerum. Menschliche Freiheit wird also ontologisch mit der scientia media Gottes begründet, deren Gegenstand »das bedingt Wirkliche, ein Zwischenreich zwischen dem rein Möglichen und dem kategorisch Wirklichen« 147 ist: Molina nennt Gottes Wissen um das bedingt Wirkliche jedoch nicht deshalb »scientia media«, weil es in der Mitte steht zwischen Möglichkeitserkenntnis (»scientia simplicis intelligentiae«) und Wirklichkeitserkenntnis (»scientia visionis«); vielmehr steht für Molina die scientia media in der Mitte zwischen dem Gott schon durch sein Wesen eigenen Erkennen alles notwendigen Seins (»scientia naturalis«) und dem erst nach seiner freien Willensentscheidung möglichen Erfassen kon145 146 147
Spaemann, Freiheit, IV, in: HWPh II, col. 1089. Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 164–165. Reinhardt, Scientia media, in: HWPh VIII, col. 1507.
356 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
tingenter Akte. Sie gründet in der alle kontingenten Ursachen bis in ihre bedingten Entscheidungen hinein durchdringenden »supercomprehensio« des göttlichen Wesens. 148
Molina versucht also, die Verbindung von Weisheit und Wille Gottes, um die es Thomas von Aquin ging, nach der Seite des Vorauswissens Gottes hin aufzulösen. Dem Menschen wird eine »Spontaneität des Willens« 149 zugestanden, die von Gottes Wissen noch einmal umgriffen wird: »Durch diese scientia media weiß Gott voraus, wie sich die freien Zweitursachen unter beliebigen Bedingungen verhalten.« 150 Im Báñezianismus dagegen bedeutet das Festhalten an der thomistischen These der praemotio physica den umgekehrten Versuch der Auflösung der Verbindung nach der Seite des Willens Gottes hin: »Für den Báñezianismus ist Gottes Vorherwissen der freien Akte leicht zu erklären: Sie entstehen, weil Gott von Ewigkeit her dekretiert hat, bestimmten Menschen wirksame praemotiones zu geben; dieses Dekret geht Gottes Wissen voraus.« 151 Im Báñezianismus wird die Freiheit des Menschen praktisch zum Verschwinden gebracht, aber auch im Molinismus bleibt ihr Status gegen die Absicht Molinas prekär. Im Grunde bedeutet seine Theorie »einen noch radikaleren Determinismus als die traditionelle Prädestinationslehre« 152, insofern das »Handeln des Menschen, der einmal einer solchen series rerum angehört, […] seit aller Ewigkeit« 153 festliegt. Keines der beiden großen Gnadensysteme konnte sich daher durchsetzen und der Gnadenstreit blieb unentschieden, worin »die Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens« gesehen werden kann, »wenn es die in Gottes Offenbarung verborgene Ordnung in ein System fassen will« 154. Leibniz dagegen glaubte an eine mögliche Lösung mit den Mitteln des Denkens und bot »seiner irenischen Natur entsprechend und auch aufgrund seiner Überzeugung, dass bei großen Kontroversen beide Parteien Recht haben in dem, was sie behaupten, und Unrecht in dem, was sie bestreiten,« 155 eine Vermittlungslösung an, die beide Theorien zu verbinden sucht: 148 149 150 151 152 153 154 155
Reinhardt, Scientia media, in: HWPh VIII, col. 1507. Specht, Molinismus, in: HWPh VI, col. 95. Ebd. 96. Ebd. Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 166. Ebd. Reinhardt, Gnadenstreit, in: HWPh III, col. 714. Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 164.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Er übernimmt den Begriff der series rerum als einer ideellen Einheit. Gott schafft, indem er eine solche series rerum in die Realität überführt, und wenn dies, dann natürlich die beste – das ist die Leibniz’sche Zutat. Die Frage aber, wie die series rerum sich zu der Kontingenz der Einzelereignisse verhält, ob sie also den Menschen, der ihr angehört, zu bestimmten Handlungen determiniert oder nicht, beantwortet Leibniz damit, dass er sagt: Jede Monade ist definiert durch die Gesamtheit ihrer Prädikate. Sie muss nicht determiniert werden, weder durch die series rerum noch durch Gott, denn es gehört zu ihrem Wesen, dieser und keiner anderen series rerum anzugehören. Sie ist, wie sie ist, weil die Welt so ist, wie sie ist. Und umgekehrt, die Welt ist, wie sie ist, weil jede einzelne Monade ist, wie sie ist. Gott bestimmt nicht den einzelnen von außen zu irgend etwas, sondern jeder ist von Anfang an der, der das tut, was er tut. Dieser nominalistische Begriff der Monade bedeutet eine Dynamisierung des Wesensbegriffs. 156
Zuvor hatte Spaemann in seinem Vortrag bereits darauf hingewiesen, dass Leibniz’ Begriff der Monade exakt nach dem Modell der thomistischen Engelslehre konzipiert ist: »wo die Materie, wie im Aristotelismus des Mittelalters, als das principium individuationis gilt, da folgt, dass es nicht zwei immaterielle Wesen der gleichen Art geben kann. Jeder Engel ist eine eigene Spezies.« 157 Entsprechend gilt für die Monaden: »Jede Monade […] ist ihre eigene Spezies«, »sie ist definiert durch die Gesamtheit ihrer Prädikate« 158. Leibniz’ Vermittlungslösung ist also der Versuch einer »Ontologie […] vom Standpunkt Gottes aus« 159: So übernimmt Leibniz von den Molinisten den Gedanken der Welt als einer bestimmten, sozusagen nach einer einheitlichen Formel zu konstruierenden Ereigniskurve. Von den Thomisten übernimmt er das Theorem von der vollständigen Ursächlichkeit Gottes für alle Ereignisse. Aber diese Ursächlichkeit scheint nun nicht die Freiheit der Monade zu beeinträchtigen, weil Gott sie nicht sozusagen von außen zu etwas bewegt, sondern weil ihre Substanz identisch ist mit einer bestimmten Repräsentation des gesamten Weltverlaufs. Erschaffung des Individuums und Erschaffung einer Welt ist identisch. 160
156 157 158 159 160
Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 166–167. Ebd. 158. Ebd. 159. Ebd. 168. Ebd. 167.
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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
Da es »für Leibniz immer nur in der Begrenztheit unserer Perspektive begründet« ist, »dass wir überlegen, was denn unter anderen Umständen gewesen wäre« 161, bedeutet die Aufhebung der menschlichen Perspektive in einer Philosophie sub specie Dei für ihn die endgültige Lösung des Problems. Die im Leibniz-Vortrag im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehende Entwicklung der Theologie im 16. Jahrhundert war zuvor bereits Gegenstand von Spaemanns Nachdenken über den Naturbegriff 162, weswegen es sich lohnt, den Zusammenhang zwischen beiden Gedankenkomplexen herzustellen. Im Essay »Natur« (1973) betrachtete Spaemann die Rolle der Theologie im Wandel des Naturbegriffs zwischen dem Hochmittelalter und der frühen Neuzeit. Ausgangspunkt kann wieder Thomas von Aquin sein, der, wie in Abschnitt 5.2.3 gezeigt, durch die Verknüpfung der Teleologie mit dem Bewusstsein Gottes 163 eine wichtige Voraussetzung der Entteleogisierung geschaffen, seinerseits aber an einer teleologischen Naturvorstellung festgehalten hatte. Der Mensch hat nach Thomas in seiner »natura intellectualis« eine natürliche Ausrichtung auf ein Ziel, das er aber nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch Gnade erreichen kann. Die Natur, konkret die menschliche, ist demnach nicht immer in sich zurückgebogen, 164 sondern entwickelt im Menschen eine spezifische Form der Selbsttranszendenz. Diese teleologische Naturvorstellung »haben die späteren Scholastiker – gerade die thomistischen – unter Berufung auf Aristoteles aufgegeben« 165. Im 16. Jahrhundert entstand dann »die folgenreiche Konzeption einer ›natura pura‹« 166, einer vollkommen sich selbst genügenden Natur, der der Bezug zu Gott ganz äußerlich ist: »Das System der ›natura pura‹ wurde dann in der Auseinandersetzung mit Bajus 167 in der katholischen Theologie herrschend. Um der Gratuität der Gnade willen wird von den Theo-
Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 157. S. Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), u. Ders., Natur (1973). 163 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam, 235–237. 164 Vgl.: »Für Albert den Großen zwar gilt die totale Selbstbezüglichkeit der Natur als Axiom, wenn er, einen Terminus Augustinus’ aufnehmend, schreibt: ›Natura semper re curva in se ipsa.‹« – Spaemann, Natur (1973), 25. 165 Spaemann, Natur (1973), 25. 166 Ebd. 26. 167 Michael Bajus (1513–1589), ein katholischer Theologe. 161 162
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
logen die Autonomie der Natur zu einem Postulat gemacht, der gegenüber die Gnade nur den Charakter eines ›superadditum‹ hat.« 168 Für den hier verfolgten Gedankengang ist nun entscheidend, welche Bedeutung die Konzeption der natura pura für das Verständnis des menschlichen Handelns hat: »Die Freiheit des Handelnden liegt nicht in einer Unabhängigkeit vom Determinismus, der die Natur durchwaltet, sondern nur im Erkennen der eigenen Knechtschaft und in der Zustimmung zu dem, was ohnehin geschieht.« 169 Insofern eine positive menschliche Freiheit nach dem hier in Erinnerung gerufenen Gedankengang in der teleologisch verstandenen menschlichen Natur fundiert ist, wird klar, dass die dem im Mittelpunkt des Leibniz-Vortrags stehenden Gnadenstreit zugrunde liegende Problematisierung der menschlichen Freiheit ihrerseits ein Resultat der im Mittelalter einsetzenden Entteleologisierung ist. Aus dieser Sicht fällt nun ein neues Licht auf Leibniz’ Vermittlungslösung zwischen Molinismus und Báñezianismus, die keine Aktualisierung des thomasischen teleologischen Naturbegriffs versucht, sondern auf spekulative Weise durch eine Theologisierung der Ontologie die im Gnadenstreit auseinander getretenen Positionen versöhnen will. Für die Rettung des menschlichen Freiheitsanspruchs bedarf es dabei keines geringeren metaphysischen Konstrukts als der prästabilierten Harmonie, durch die jedes Individuum den gesamten Weltverlauf in sich trägt, was aber nur dem göttlichen Bewusstsein gegeben ist. Hierin zeigt sich – bei allen sonst bestehenden Differenzen – eine Parallele zwischen Descartes und Leibniz, insofern beide unter den Bedingungen der Entteleologisierung Errungenschaften der mittelalterlichen Philosophie spekulativ verarbeitet haben. Dies galt wie oben gesehen 170 für Descartes, insofern er die in der mittelalterlichen Realdistinktion von esse und essentia zum Ausdruck kommende natürliche Selbsttranszendenz unter Ausklammerung der natürlichen Substanz in eine rein spekulative Sprache übertrug. Dies gilt nun für Leibniz, insofern er die kontroversen Positionen im Gnadenstreit durch eine spiritualistische Konzeption zu versöhnen versucht: »Leibniz kann nicht den aristotelischen Gedanken denken, dass die Seele das Formprinzip des Körpers ist. Er denkt das Verhältnis daher wieder nach der 168 Spaemann, Natur (1973), 27. – Als »Theoretiker der natura pura« nennt Spaemann die Molinisten Suarez und Bellarmin. – Ebd. 169 Ebd. 28. 170 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
spiritualistischen Konzeption der Engellehre.« 171 Von Thomas von Aquin trennt beide, Leibniz wie Descartes, die mechanistische Naturerklärung. Das mit der mittelalterlichen Realdistinktion von esse und essentia gesetzte Bewusstsein der Freiheit hebt Leibniz durch seine »Dynamisierung des Wesensbegriffs« 172 wieder auf bzw. er führt es auf unsere unzureichende und nicht maßgebliche menschliche Perspektive zurück: Die Prädikate A, B, C, D entscheiden nicht über das folgende Prädikat E, was Fatalismus wäre, »Determinismus« im üblichen Sinne, sondern der vollständige Begriff der individuellen Monade, also des konkreten Diesda, den nur Gott vollständig kennt, enthält die ganze Serie ihrer Zustände, also auch das Prädikat E. 173
Diese vollständige Kenntnis Gottes aller Monaden wird von Leibniz in den Dienst seines philosophischen Gebäudes gestellt. Spaemann schließt seinen Vortrag über Leibniz mit der Bemerkung: »Die Reaktion auf diese Philosophie sub specie Dei war Kant. Seine Kopernikanische Wende kann als Versuch gesehen werden, die Intention jenes griechischen, dem Epicharm zugeschriebenen Satzes zu erneuern: ›Sterbliche Gedanken soll der Sterbliche denken, nicht unsterbliche der Sterbliche.‹« 174
6.1.5
Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
Der britische Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) ist in Spaemanns Augen eine einzigartige Erscheinung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Von allen vorherrschenden Tendenzen unterscheidet er sich dadurch, dass er überhaupt von der Natur, perí tēs physeōs handelt, während doch für die herrschende Meinung Naturphilosophie nur noch Naturwissenschaftsphilosophie sein kann, Erforschung der psychischen, sprachlichen, logischen Voraussetzungen und Implikationen natur-
171 172 173 174
Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 159. Ebd. 167. Ebd. Ebd. 169.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
wissenschaftlicher Theorien bzw. naturwissenschaftlicher Beobachtungen und Experimente. 175
Im Rahmen seines Essays »Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt verstehen?« 176 rekapituliert Spaemann aus der Perspektive von Whiteheads Denken wesentliche Etappen der Entwicklung der Philosophie seit Kant, um die besondere Stellung Whiteheads zu verdeutlichen. Im Folgenden wird dieser diachrone Längsschnitt in großen Zügen nachgezeichnet, um vor diesem Hintergrund die fundamentalen Einsichten Whiteheads in Spaemanns Deutung zusammenzufassen. Abschließend wird dann die Kritik Spaemanns an Whiteheads Denken erläutert, aus der als Schlussfolgerung eine Stellungnahme zu den in seinen Augen wesentlichen Aufgaben der Gegenwartsphilosophie abgeleitet wird, die den Übergang bereitet zur Darstellung der von Spaemann in den 80er Jahren entwickelten eigenständigen metaphysischen Konzeption. »Was Whitehead von aller gegenwärtigen Naturphilosophie unterscheidet und ihn mit Aristoteles verbindet,« so Spaemann, »ist der Versuch, auch noch die anorganische Natur, ja gerade diese zu verstehen.« 177 In einem kurzen Exkurs zur Frage, was in diesem Zusammenhang eigentlich ›verstehen‹ bedeutet, arbeitet Spaemann die Unterscheidung zwischen einem Verstehen als »Sich-vertraut-Machen, oikeíōsis, Einverwandeln in das Selbstverständliche« 178 und einem anderen, am »Ideal […] des göttlichen Verstehens« orientierten Begriff heraus: Verstehen heißt für die Philosophie nicht: Zurückführen auf die Selbstverständlichkeit unserer Normalsituation, sondern Erweiterung, Universalisierung dieser Situation, die uns den Maßstab für Normalität vorgibt. Spinoza hat in der Neuzeit vielleicht am besten
175 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 171. 176 Der Essay »Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt verstehen? Bemerkungen zum Paradigma von Whiteheads Kosmologie« (1983) wurde zuerst veröffentlicht in: F. Rapp, R. Wiehl (Hrsg.), Whiteheads Metaphysik der Kreativität. Internationales Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983, Freiburg / München 1986, 169–181. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 171–188. 177 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 172. 178 Ebd. 173.
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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
verstanden, dass Philosophie primär eine Umdefinition unserer Lebenssituation ist. Philosophie ist eine Lebensweise, ein Bios. 179
Worum es Spaemann in dieser Aussage geht, ist nichts anderes als jene Orientierung am »absolute[n] Inhalt des Glaubens in seiner alle geschichtliche Realisierung transzendierenden Gestalt« 180, von dem schon am Ende der Bonald-Studie die Rede war. Die in den vorangegangenen beiden Abschnitten betrachteten Denker Descartes und Leibniz waren ohne Zweifel an einem solchen fundamentalen Begriff des Verstehens orientiert. Aber gerade ihr spekulativer Höhenflug provozierte die kritische Revision, die mit Kants kopernikanischer Wende eingeleitet wurde und die moderne Philosophie zu einem Verzicht auf ein absolutes Verstehen verpflichtete. Aus diesem nachkantischen Konsens bricht Whitehead nach Spaemann aus, insofern er Philosophie wieder als »Aufbruch ins Unabsehbare« 181 begreift: »Die Menschheit«, so schreibt Whitehead, »stolpert mit unsicheren Schritten dem Ziel entgegen, die Welt zu verstehen.« Die Bedeutung Whiteheads liegt m. E. darin, dass er das Schiff dieser Fahrt ins Unbekannte im 20. Jahrhundert wieder flott gemacht hat, nachdem die Philosophie seit zwei Jahrhunderten durch den Versuch gekennzeichnet ist, die Fahrt abzubrechen und endgültig vor Anker zu gehen. 182
Mit Bezug auf die kantische Philosophie spricht Spaemann von einem »Programm der Etablierung einer definitiven, durch die Natur der Vernunft vorgezeichneten Normalität als des letzten möglichen Verstehenshorizontes des Menschen« 183, wobei jedoch Kant noch ein Bewusstsein geblieben sei für die »Kontingenz auch dieser Normalität« 184 und das Jenseits derselben, das sie verstellt. Dies sollte sich im 19. und 20. Jahrhundert ändern, wie Spaemann durch eine freie Variation des Höhlengleichnisses mit Bezug auf Comte und Quine veranschaulicht:
179 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 176. 180 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 192. – Vgl. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 125. 181 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 176. 182 Ebd. 176–177. 183 Ebd. 177. 184 Ebd.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Der Positivismus versuchte, auch diese Erinnerung an das Offene zu liquidieren und die Rede von diesem Offenen bei den Bewohnern der platonischen Höhle unter die Strafe kognitiver Ächtung zu stellen. Einmal daran gewöhnt, dass die Welt nur das Höhlenkino ist, kann man dann schließlich die Rede vom Sein, die Ontologie innerhalb der Höhle wiederherstellen. Sein heißt dann nämlich nur noch, auf der Leinwand dieses Kinos vorkommen: »to be the value of a bound variable«, Wert einer gebundenen Variablen sein. 185
Die übermächtige Vorstellung von Normalität, die die Philosophie letztlich zu einer solchen Reduktion des Verstehens-Begriffes, zur Formel: »Sein heißt: Gegenstandsein« 186 drängte, war zunächst »das physikalistische Weltbild des Newton’schen Zeitalters« 187, das über die Verwerfung der traditionellen »Naturansicht der Antike und des Mittelalters« 188 als anthropomorphistisch zum »Objektivismus der neuzeitlichen Philosophie« führte, der die »transzendentale Wende der Philosophie« 189 als Gegenreaktion vorbereitete. Das Resultat dieser Entwicklung ist, solange noch an einem Wahrheitsanspruch festgehalten wird, die wechselseitige Rekonstruktion der konkurrierenden Weltanschauungen im Rahmen des eigenen Ansatzes und damit das dialektische Umschlagen der einen Position in die andere. 190 Die Transzendentalphilosophie schaltet dem Objektivismus »eine Reflexion vor, die es dem Menschen erlauben soll, sich selbst nicht im Rahmen dieses deterministischen und materialistischen Weltbildes verstehen zu müssen« 191, während der Objektivismus die »Rückzugsposition der Transzendentalphilosophie« »nun evolutionstheoretisch als ›Rückseite des Spiegels‹ interpretiert« 192 und die Transzendentalphilosophie wiederum die Frage aufwirft, wie der Objektivismus als »Anpassungsprodukt« 193 im Prozess der Evolution überhaupt einen 185 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 177. 186 Ebd. 187 Ebd. 178. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 191 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 179. 192 Ebd. – Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung, 251, Fn. 226. 193 Ebd.
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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
Wahrheitsanspruch rechtfertigen will. Die mögliche Alternative zu dieser unabschließbaren Dialektik ist die schlechthinnige Aufgabe eines Wahrheitsanspruchs, wie Spaemann wiederum mit Bezug auf Quine darlegt: Übrig bleibt das sich selbst erzeugende Universum der arbeitsteiligen Wissenschaft, in welcher die Physik die psychische Welt erklärt und die Psychologie das Unternehmen der Physik. […] Jede Frage nach dem Status des Ganzen dieses arbeitsteiligen Systems wird zur systemimmanenten Frage umformuliert und zum Zwecke der Beantwortung von einer der Abteilungen zur anderen weiterverwiesen. 194
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung in Richtung einer radikalen Reduktion des Verstehens-Begriffes ist die von Spaemann hervorgehobene einzigartige Stellung Whiteheads in der modernen Philosophie zu sehen, die wesentlich in dem Bemühen besteht, Natur wieder zu verstehen. In der Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie war es die der klassischen Antike unbekannte Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt, durch die die Dynamik der Entwicklung des anthropologischen Dualismus 195 jene Wendung genommen hat, die zur Dialektik von Transzendentalismus und Naturalismus führte. Ein Ausweg aus dieser Entwicklung muss daher an dieser Zweiteilung ansetzen, worin Spaemann den Schlüssel zum Verständnis Whiteheads sieht: Die fundamentale Einsicht Whiteheads liegt darin, dass Konkretheit nur als Subjekt-Objekt-Einheit, als erlebte Innerlichkeit gedacht werden kann. […] Unter dieser Voraussetzung – dass nur Subjekt-ObjektEinheiten konkret und wirklich sind – wird eine These wie die, dass sekundäre Sinnesqualitäten »nur subjektiv« seien, zu einer nichtssagenden Trivialität. Sie besagt nämlich dann nur, dass diese Qualitäten nur als erlebte wirklich sind. Wenn jedoch der Begriff einer nichterlebten Wirklichkeit ein Unbegriff ist, wenn jeder erlebte Inhalt als erlebter Inhalt Wirklichkeit gewinnt, ist jeder erlebte Inhalt ein »actual event«, ein aktuales Ereignis im Sinne Whiteheads, und aus solchen »actual events« besteht die Welt. 196
194 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 179. 195 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 196 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 181.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Mit diesem Grundsatz revidiert Whitehead die gesamte neuzeitliche Subjektphilosophie und setzt ihr als Ausgangspunkt der Philosophie eine Tätigkeit entgegen, die Subjekt und Objekt verbindet. Spaemann zitiert aus Whiteheads »Adventures of Ideas« den Satz: »Die letzte wirkliche Wesenheit ist eine organisierende Tätigkeit, welche die Bestandteile so zu einer Einheit verschmilzt, dass diese Einheit die Wirklichkeit ist.« 197 Wesentlich für das Verständnis Whiteheads ist, dass diese Vorstellung der ›erlebten Wirklichkeit‹ nicht, was naheliegend erscheinen könnte, auf die Seinsweise von Lebewesen beschränkt wird, sondern als universales Prinzip für alles Seiende gelten soll, was bedeutet, dass allem Seienden »so etwas wie Selbstsein und Für-sich-Sein zugesprochen« 198 werden muss. Den Grundgedanken einer solchen Universalisierung der Teleologie, die doch immer auf Individuen bezogen bleibt und damit den Übergang in Universalteleologie vermeidet, erläutert Spaemann wie folgt: So vor die Alternative gestellt, dem Nichtlebendigen entweder die Wirklichkeit ab- oder das Für-sich-Sein zusprechen zu müssen, entscheidet Whitehead sich für das zweite. Alles, was ist, ist von der Art, dass anderes für es ist, dass anderes von ihm in Umwelt verwandelt wird. Alles, was ist, ist ein jeweils eigener teleologischer Entwurf, innerhalb dessen alles andere eine jeweils neue und eigene Bedeutung gewinnt. Die Gesamtheit der Relationen, in denen ein Seiendes zu allem anderen steht, definiert dieses Seiende, und wir haben nur die Wahl, diese Relationen als bloß logische zu verstehen, deren ontologische Realisierung vom Gedachtwerden durch ein dem Gedachten äußerliches Subjekt nicht verschieden ist, oder aber das so Gedachte selbst als »Suprajekt« im Sinne Whiteheads zu verstehen. Das letztere bedeutet, dass die Welt auch ohne den Menschen bereits konkret ist und dass die Kategorien, die das Konkrete definieren, immer schon als instantiiert gedacht werden müssen. Je ferner ein Seiendes uns selbst ist, desto abstrakter und leerer an Vorstellungsgehalt ist für uns freilich diese Instantiierung. Was »erfassen«, »fühlen«, »Befriedigung«, »streben« in einem von uns sehr weit entfernten »actual event« wirklich bedeutet, bleibt für uns ganz abstrakt. Aber das ist ja nun gerade die Pointe des Whitehead’schen Denkens, dass die Welt überhaupt nur
197 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 183. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Zitats: Vgl. Adventures of Ideas, New York: Macmillan 1933, S. 201. – Ebd. 188. 198 Ebd. 182.
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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
aus aktuellen Weisen ihres Erfahrenwerdens und damit Konkretwerdens besteht. 199
Daher bezeichnet Spaemann Whiteheads Denken als »universale Sozialontologie« bzw. als »Ontologie des Mitseins«, insofern Intersubjektivität für ihn nur der aus menschlicher Perspektive bekannteste Fall ist »desjenigen Verhältnisses, in dem ohnehin alles mit allem steht« 200. Hierbei ist Whiteheads Denken nach Spaemann jedoch von einer Merkwürdigkeit gekennzeichnet, insofern er die Seinsverfassung der höheren Tiere allem zuspricht, was ist, um sie am Ende eben den höheren Tieren selbst, ja allen Organismen abzusprechen: »The real Actual things that endure (such as stones and animal organisms) are all societies. They are not actual occasions.« (»Die wirklichen aktualen Dinge, die dauern [wie Steine oder tierische Organismen], sind sämtlich Gesellschaften. Sie sind nicht aktuale Ereignisse.«) 201
Warum spricht Whitehead gerade »den Organismen, den höheren Tieren und den Menschen ab[…], ›actual entities‹, letzte ontologische Einheiten zu sein« 202? Spaemann vermutet, dass es die Absicht ist, »alle Deutung fernzuhalten und nur das, was sich unmittelbar als es selbst zeigt, als ein Selbst, also als Letztes, Konkretes gelten zu lassen« 203. Ein weiterer Grund ist mit dem Problem der Identität verbunden. Die »zeitüberdauernde, eine Folge von Erlebnissen und Wahrnehmungen übergreifende Identität eines Wahrnehmungssubjekts« 204 setzt die Verknüpfung einer Vielzahl von Akten voraus und die Vorstellung einer »den Akten ihrer Erfahrung voraufgehende[n] Substanzialität […] scheint dann wiederum der Whitehead’schen Definition von Konkretheit zu widersprechen« 205. Diese Merkwürdigkeit seines Denkens ruft nach Spaemann zwei Schwierigkeiten hervor: Erstens die Schwierigkeit, die teleologisch strukturierte Totalität eines »actual event« aus dem kontinuierlichen Erlebnisstrom herauszuheben und als distinkte Totalität zu erfassen. Zweitens die UnmöglichSpaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 183. 200 Ebd. 184. 201 Ebd. 181–182. 202 Ebd. 184. 203 Ebd. 204 Ebd. 205 Ebd. 185. 199
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
keit, die spezifisch humanen Phänomene: Reflexion, Wollen und moralische Verantwortung kategorial zu fassen, d. h. die Phänomene der Selbstvermittlung, in welchen sich Identität konstituiert. 206
Beide Schwierigkeiten beziehen sich aus unterschiedlicher Perspektive auf denselben Sachverhalt, dass nämlich diese Isolierung einzelner Akte dem subjektiven menschlichen Erleben nicht gerecht zu werden vermag, worin sich für Spaemann zeigt, dass »auch seine Ontologie noch eine Form von Reduktionismus« 207 ist: »Wenn wir seiner antidualistischen Grundintention folgen, so ergäbe sich die Notwendigkeit, das kategoriale System so zu fassen, dass es seine konkret paradigmatische Erfüllung in der höchsten Form unserer Selbst- und Welterfahrung gewinnt.« 208 Da dies von Whitehead nicht gesehen wurde, versucht Spaemann, gegenüber Whiteheads Reduktionismus den »aristotelische[n] Begriff der Substanz« 209 erneut ins Spiel zu bringen, womit bereits der kritische Teil seiner Auseinandersetzung mit Whitehead eingeleitet ist. Whitehead hat, so der prinzipielle Vorwurf Spaemanns, kein hinreichendes Verständnis der aristotelischen Substanz entwickelt, insofern er sie nur »als Hypokeimenon, als Materie« 210 versteht. Tatsächlich unterscheidet jedoch Aristoteles von gewöhnlichen Prädikaten diejenigen, die wir heute als sortale Ausdrücke zu bezeichnen pflegen, und die eine Substanz bereits als eine prōtē enérgeia, als actus primus definieren, d. h., um es in Whiteheads Sprache zu sagen, als ein fundamentales, durch ein und nur ein »ewiges Objekt« strukturiertes Ereignis. Dieses Ereignis schließt eine Folge von actus secundi, von mit diesem Ereignis kompatiblen sekundären »actual events« zu einer letzten ontologischen Einheit zusammen, d. h. zu etwas, von dem aus alles ausgesagt, was selbst jedoch von nichts anderem ausgesagt wird. Das Fundamentalereignis »Substanz« integriert nicht nur, wie die »actual entity« Whiteheads, andere Ereignisse gleicher Art zur Einheit eines Aktes der Erfassung, es integriert vielmehr die Akte der Erfassung selbst noch einmal zu einer übergreifenden Einheit. Und diese Einheit kann nicht als »Gesellschaft« verstanden werden, weil sie jene
206 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 185. 207 Ebd. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 Ebd.
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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
welterfassenden »actual events« erst als deren Ermöglichungsgrund aus sich hervorgehen lässt. 211
Die aristotelische Substanz – das ist der Sinn der Schlussfolgerung im letzten Satz – ist das letzte Aussagensubjekt aller konkreten Akte und kann ihrerseits nicht mehr von einem Zugrundeliegenden – den isolierten Akten Whiteheads – ausgesagt werden. Damit ist Spaemann wieder bei dem unhintergehbaren Ausgangspunkt angelangt, von dem oben im Zusammenhang mit dem Problem der Antikenrezeption die Rede war, 212 nämlich der paradigmatischen menschlichen Selbsterfahrung eines Lebewesens, dem es um etwas geht. Es ist leicht zu sehen, was das Paradigma für diesen Substanzbegriff ist: Es ist die Einheit des Subjektes als einer Folge von Akten und Zuständen, die sich selbst als ein diese Einzelereignisse übergreifendes, teleologisch-strukturiertes Geschehen erfährt. Aristoteles versteht dieses Subjekt als Substanz, weil er die Substanz immer schon nach Analogie des Subjekts verstanden hat. Und wenn dieser paradigmatische Ursprung einmal klar ist – Kant hat ihn als erster klar gemacht –, dann ist auch klar, warum Whitehead beim Aktualismus des »actual event« als letzter »entity« stehen geblieben ist. Er ist bei ihm stehen geblieben, weil er bei der Kosmologie stehen geblieben ist. 213
Die letzten drei Sätze sind in dieser Verknappung erläuterungsbedürftig. Zunächst ist die Rede vom aristotelischen Substanzbegriff, der, wie oben gezeigt, 214 uns nicht direkt, sondern nur per viam negationis zugänglich ist. Wenn es dann heißt, dass Kant diesen paradigmatischen Ursprung als erster klar gemacht hat, geht es bereits um die moderne subjektphilosophische Übersetzung des aristotelischen Substanzbegriffs, in der »die ursprünglich-synthetische Einheit des Ich-denke« zum »alles bestimmenden Ausgangspunkt« 215 der Transzendentalphilosophie wird. Der Sprung danach von Kant zur Kosmologie ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der am Anfang dieses Abschnitts erläuterten grundsätzlichen Revision der subjektphilosophischen Denkbedingungen durch Whitehead zugunsten einer ver211 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 185–186. 212 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327–330. 213 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 186. 214 Vgl. Fn. 212. 215 Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452.
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mittelnden Tätigkeit in den »actual events«, aufgrund deren der kosmologische Ansatz für ihn alternativlos zu sein schien. Genau hierin sieht Spaemann nun die entscheidende Schwäche Whiteheads. Sein gegen den zum abstrakten Bewusstseinssubjekt führenden Reduktionismus gerichtetes Projekt einer Aktualisierung der aristotelischen Substanzontologie baut ganz wesentlich auf der Verbindung von Teleologie und reflexiv gewendeter natürlicher Selbsttranszendenz auf, die hier im zweiten Abschnitt 216 als die wesentliche gedankliche Errungenschaft Spaemanns im hier betrachteten Zeitraum der Entfaltung seines Denkens bezeichnet wurde: Um über die Kosmologie hinaus zu einer Fundamentalontologie vorzudringen, bedürfte es wohl der Orientierung an denjenigen Weisen der Erfahrung, die nicht den Charakter der »presentational immediacy«, des unmittelbaren Vorstellens haben, sondern den der reflektierten Vergegenwärtigung des Anderen als des Anderen und der Selbstidentifikation in der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit. […] Erst jener freie Akt der Anerkennung, der seinen adäquaten Ausdruck im Wort »Sein« findet, erst also die »absolute Position«, die im Urteil vollzogen wird, stellt das Erfasste als Erkanntes wieder dort hin, wo es zuerst war. Und erst in diesem Akt der Anerkennung nimmt das Subjekt seine sinnliche Erfassung des Anderen sozusagen zurück und realisiert, dass es seinerseits ebenso durch das Andere erfasst wird, das heißt, dass es selbst Umwelt für Anderes ist. Und in diesem Seinlassen erst konstituiert es sich selbst als schlechthin seiend. Das aber lässt sich in Begriffen Whiteheads nicht denken. 217
Aus diesen Worten geht hervor, dass die gesuchte Aktualisierung des aristotelischen Substanzbegriffes nur aus einem intersubjektiven Geschehen hervorgehen kann, in dem durch die wechselseitige Anerkennung von Subjekten die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Problematik überschritten wird, ohne dass – wie bei Whitehead – der Bezug zur menschlichen Selbsterfahrung aufgegeben werden müsste. »Die Grenze von Whiteheads Kosmologie liegt darin, dass sie ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen nicht selbst noch kategorial zu interpretieren erlaubt.« 218 Mit den Möglichkeitsbedingungen spielt Spaemann gerade auf die menschliche Selbsterfahrung des Lebendigen an, zu 216 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 335– 336. 217 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 186–187. 218 Ebd. 187.
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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
der Whiteheads Philosophie dann aufgrund ihrer freiwilligen Selbstbeschränkung keinen Zugang hat: Entgegen ihrer tiefsten Intention kann daher Whiteheads Philosophie ihr eigenes Paradigma, den Organismus in seiner fundamentalen Identität, nicht festhalten, weil sie Vernunft nur als Funktion organischer Kreativität, nicht als deren freies Zu-sich-selbst-Kommen begreift. Sie versucht, was wir sind, am Organismus abzulesen und nicht, was dieser ist, an denjenigen »actual events«, in denen wir uns ausdrücklich als freies Selbstsein begreifen. Den Szientismus hat Whitehead überwunden. Seine Kosmologie wartet nur noch auf eine sie fundierende, ihre Möglichkeit begreifende Ontologie. 219
Die These, die im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels entfaltet werden soll, ist, dass es Spaemann im hier betrachteten Zeitabschnitt ausgehend von den in diesem ersten Teil dargestellten philosophiehistorischen Orientierungspunkten um eine erste umrisshafte Darstellung einer eigenständigen ontologischen Konzeption geht, die genau den hier zuletzt genannten Anspruch erhebt. 220
219 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verstehen? (1983), 187. 220 Ein detaillierter Vergleich der philosophischen Konzeptionen Whiteheads und Spaemanns liegt außerhalb der Möglichkeiten dieser Arbeit. Ein solcher würde eine intensive Auseinandersetzung mit den wichtigsten Werken Whiteheads – insbesondere »The Concept of Nature« (1920), dt. »Der Begriff der Natur«, »Science and the Modern World« (1925), dt. »Wissenschaft und moderne Welt«, »Process and Reality. An Essay in Cosmology« (1929), dt. »Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie«, »Adventures of ideas« (1933), dt. »Abenteuer der Ideen« – voraussetzen. Auch sollte ein solcher Vergleich die bislang unveröffentlichten Skripte zu Spaemanns Vorlesung über Whitehead Anfang der 80er Jahre in München einbeziehen. – Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 249.
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6.2 Die Konturen einer eigenständigen metaphysischen Konzeption
Die folgenden, die Mitte des zweiten Teiles der vorliegenden Arbeit bildenden Abschnitte stellen insofern ein Novum im Rahmen der bisherigen Ausführungen zu Spaemanns Denken dar, als in ihnen weder eine philosophiehistorische Untersuchung bestimmter Repräsentanten der Philosophiegeschichte noch eine systematische Betrachtung eines konkreten Problemfeldes der philosophischen Reflexion im Mittelpunkt stehen. Die im Folgenden zu entwickelnde These ist, dass sich in Spaemanns Schriften der 80er Jahre – in nuce und an verstreuten Stellen – die Konturen einer eigenständigen metaphysischen Konzeption abzeichnen, die in seinen späteren Hauptwerken »Glück und Wohlwollen« und »Personen« maßgeblich entfaltet wird. In Anknüpfung an die dargelegten philosophiehistorischen Orientierungspunkte soll versucht werden, diese metaphysische Konzeption in ihren wesentlichen Grundgedanken darzulegen. Zunächst wird ausgehend von der alternativen metaphysisch-analogen Deutungsmöglichkeit des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ der darzulegende Spaemann’sche Ansatz in dem zuvor entworfenen philosophiehistorischen Orientierungsrahmen verortet, wobei es zentral um den Lebensbegriff und die Bedingungen seiner Denkbarkeit gehen wird (6.2.1). Danach wird der Kerngedanke Spaemanns einer Verbindung von Naturteleologie und Selbsttranszendenz anhand der für seine Essaysammlung der 80er Jahre namensgebenden Schlüsselbegriffe des ›Natürlichen‹ und des ›Vernünftigen‹ entwickelt und die metaphysischen Kategorien der Anerkennung bzw. der Repräsentation präzisiert (6.2.2). Schließlich wird die Bedeutung der genannten Verbindung und dieser metaphysischen Kategorien dargelegt, indem das Paradigma einer Philosophie der Person abgehoben wird von dem der Transzendentalphilosophie und somit die Selbstpositionierung Spaemanns im entworfenen philosophiehistorischen Orientierungsrahmen nachvollzogen wird (6.2.3).
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6.2.1
Das metaphysisch-analoge Denken
In seinem Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« aus dem Jahre 1987 spricht Spaemann in Bezug auf den Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ von zwei Deutungsmöglichkeiten: »Ich möchte die eine die metaphysisch-analoge nennen, die andere die spekulativ-dialektische.« 1 Bei der oben dargelegten Deutung 2, die sich in den Bahnen der cartesischen Meditationen bewegte, handelte es sich um die zweite Deutungsmöglichkeit. Im genannten Essay 3 skizziert Spaemann nun die alternative metaphysisch-analoge Deutungsmöglichkeit, die Descartes selbst aus Gründen, die nun erläutert werden sollen, nicht möglich war. Dazu muss noch einmal am Begriff des Seins angesetzt werden. Oben wurde Spaemanns Deutung wiedergegeben, wonach Descartes im ›cogito sum‹ eine Übersetzung der aristotelischen Rede vom Sein unter den Bedingungen der Entteleologisierung leistet, indem er eine spekulative Theorie der Selbsttranszendenz entwickelt. Spaemann nahm damit nicht nur Aristoteles vor dem Heidegger’schen Vorwurf der Seinsvergessenheit in Schutz, sondern dehnte diese Apologie auch auf das ›cogito sum‹ aus. 4 Vor diesem Hintergrund geht es nun um eine alternative Deutungsmöglichkeit des Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137. Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351. 3 Es ist auffällig, dass in den Überlegungen »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« (1980/81) die spekulativ-dialektische cartesische Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ und die metaphysisch-analoge Spaemann’sche Deutung nicht klar auseinandergehalten werden. Erst in dem Essay aus dem Jahre 1987 arbeitet Spaemann diesen Unterschied in aller Deutlichkeit heraus. 4 Den Descartes-Essay aus dem Jahre 1987 beginnt Spaemann mit einem Zitat aus »Sein und Zeit«: »Mit dem Cogito beansprucht Descartes, der Philosophie einen neuen und sicheren Boden bereitzustellen. Was er aber bei diesem radikalen Anfang unbestimmt lässt, ist die Seinsart der res cogitans, genauer der Seins-Sinn des ›sum‹!« – Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 24. – Dieses Zitat kommentiert Spaemann dann mit folgenden Worten: »Die Frage ist, ob es hier überhaupt etwas zu bestimmen gibt, ob nicht ›Sein‹ als erster Begriff, als primum notum jeder näheren Bestimmung unbedürftig und unfähig ist. Descartes hat es zweifellos so gesehen, wenn er auf die 6. Entgegnungen antwortet, die Kenntnis der ›Natur des Denkens und der Existenz‹ sei ›allen Menschen natürlich‹, sie sei eine ›innere Erkenntnis, die der erworbenen stets vorausgeht‹. [Anmerkung mit Quellenangabe: Descartes, Meditations, Réponses aux sixièmes Objections, § 1; A.-T. VII, 422., ebd. 147] Cogitare und esse seien, so antwortet er im Brief an Clerselier, ursprüngliche Begriffe, ›die erkannt werden ohne irgendeine Affirmation oder Negation‹. [Anmerkung mit Quellenangabe: ›qui se connaissent sans aucune affirmation ni négation‹: A.-T. IX, 206.]« – Ebd. 136. 1 2
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Seinsbegriffs, den Versuch einer neuzeitlichen Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein bei gleichzeitigem Festhalten am Grundgedanken der Teleologie: Sie unterscheidet sich von der cartesischen dadurch, dass in ihr »Sein« nicht ein univoker Begriff, nicht eine clara et distincta perceptio ist, sondern dass von ihr gilt: pollachōs légetai – »es wird auf vielfältige Weise ausgesagt«. Sein heißt hier nicht primär Gegenständlichkeit für ein Bewusstsein; »to be« ist nicht, wie nach der berühmten Definition von Quine, »to be the value of a bound variable«, sondern umgekehrt: Bewusstes Leben ist das fundamentale Paradigma des Seienden. 5
In der Aussage des letzten Satzes ist bereits eine dreifache Aussagemöglichkeit von Sein impliziert. Die analoge Rede vom Sein bedeutet, dass die Selbsterfahrung als Zugang zum Sein zugleich eine Verbindung herstellt zu anderem Sein. Um diesen Gedanken in seiner vollen Bedeutung nachzuvollziehen, ist es zunächst nötig, sich die dreifache Aussagemöglichkeit von Sein in voller Deutlichkeit vor Augen zu führen: Sein ist actualitas. Die actualitas des Lebendigen ist das Leben. Vivere viventibus est esse – »Leben ist das Sein der Lebewesen« –, dieses Aristoteleszitat aus »De anima« 6 wird das ganze Mittelalter hindurch weitergereicht, und Albertus Magnus folgert aus ihm: Ex quo posuit vitam, superfluum fuit addere ›esse‹ – »Wo leben statuiert wird, ist es überflüssig, zusätzlich von ›Sein‹ zu sprechen.« 7 Erkennen aber ist nicht ein Accidens des Lebens, sondern dessen höchster Modus. So schreibt Thomas von Aquin im Kommentar zur Nikomachischen Ethik: Qui non intelligit, non perfecte vivit sed habet dimidium vitae – »Wer kein Bewusstsein hat, lebt nicht im vollen Sinn, sondern nur halb.« 8 Wir können unbewusstes Leben nur nach Analogie bewussten Lebens verstehen und Nichtlebendiges nur nach Analogie von Lebendigem. Dies tun wir, indem wir sogar dem Nichtlebendigen eine physis zuerkennen, eine natura als inneres teleologisches Prinzip spezifischen Bewegtseins. 9
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137. Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Aristoteles, De anima II, 4; 415 b 13. – Ebd. 147. 7 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Albertus Magnus, In Dionys. de div. nom., ed. Col. 37,1 col. 135a. – Ebd. 147. 8 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Thomas von Aquin, In Eth. Arist. ad Nicom., lib. IX lect. 11, Nr. 1902. – Ebd. 147. 9 Ebd. 137. 5 6
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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
Leben ist also eine andere Aussageweise des Seins, eine dritte ist das Erkennen. Dabei verweisen diese Aussageweisen auf eine Hierarchie: Was erkennt, lebt; was lebt, ist. Diese Aussagen lassen sich nicht einfach umkehren, da es Seiendes gibt, das nicht lebt, und Lebendiges, das nicht erkennt. Wesentlich ist es nun festzuhalten, dass der Mensch in seiner Selbsterfahrung zum Sein immer nur Zugang hat als Erkennender, aus der Perspektive bewussten Lebens. »Der Schluss vom Denken aufs Sein ist daher in dieser Sicht ein Schluss a fortiori« 10, ein Schluss vom Stärkeren her. Das metaphysisch-analoge Denken thematisiert also einerseits das allen Seienden Gemeinsame, andererseits gibt es den Blick frei auf die Stufen der Entfaltung des Seins und ihre Ordnung, die es mit sich bringt, dass in der Betrachtung des Seins keine Stufe übersprungen werden kann, das heißt, dass Erkennen als Aussageweise des Seins nicht begreifbar ist ohne die Zwischenstufe des Lebens als einer vermittelnden Aussageweise: Die Trias Sein – Leben – Denken, die auf Platons »Sophistes« 11 zurückgeht und in der neuplatonischen Tradition zentrale Bedeutung gewinnt 12, bleibt bestimmend bis ins 14. Jahrhundert. Das Verhältnis von Bewusstsein und Sein als ein Verhältnis der Analogie zu denken setzt den Mittelbegriff des Lebens voraus. Die subjektiven Erfahrungen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz, Lust, Begierde, Streben, Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch einen vektoriellen Sinn charakterisiert sind. Sie transzendieren das Bewusstsein, und zwar nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins. Wir finden uns durch sie immer schon in einer teleologischen Struktur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die uns mit allem Lebendigen verbindet. 13
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137. Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Vgl. Platon, Sophistes 248 e. – Ebd. 148. 12 Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Z. B. Augustinus, De ver. rel. XXXI, 57, De Civ. Dei VIII, 4. Vgl. auch P. Hadot, Être, vie pensée chez Plotin et avant Plotin, in: Les Sources de Plotin. Genf 1960. – Ebd. 148. 13 Ebd. 138. – Mit Bezug auf unser Verhältnis zu dieser teleologischen Struktur bemerkt Eduard Zwierlein treffend: »Das bewußte Wollen vermittelt sich erst über ein natürliches ›Sollerleben‹ der Triebe und Bedürfnisse, deren wir im Modus des wiederholenden Bewußtseins gewahr werden, die wir aber als dem Vorbewußten entstammendes Unwillkürliches und Vorgegebenes verstehen. Über die Leibhabe und die ihr nachfolgende teleologische Handlungserfahrung, die der naturphilosophische, anthropologische und hermeneutische Fokus des teleologischen Denkens sind, erfährt das vernünftige Bewußtsein seine vorgängige Lebendigkeit als zielgerichtete und sinnvolle Selbstbewegung.« – Zwierlein, Das höchste Paradigma des Seienden, 123. 10 11
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Auffallend und von besonderer Bedeutung ist in der zitierten Textstelle die Aussage, wonach die Lebensäußerungen das Bewusstsein »nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins« transzendieren. Rein logisch betrachtet ist das Unsinn, da die Bedeutung von ›transzendieren‹ gerade das Überschreiten der Grenze auf ein Jenseits hin ist. Diese Paradoxie ist jedoch bewusst gewählt, da anders von Lebensäußerungen nicht die Rede sein kann. Transzendieren des Bewusstseins auf ein Diesseits desselben bedeutet eine Erweiterung des Bewusstseins, die nicht Resultat intentionaler Akte der autonomen Vernunft ist, sondern in der teleologischen Struktur des Ausseins-auf 14 eines Lebewesens, dem es um etwas geht, begründet ist. Bei dieser Paradoxie des Transzendierens auf ein Diesseits des Bewusstseins geht es also um denselben Sachverhalt, der an einer früheren Stelle als Unterscheidung von finis cuius im Sinne eines primären Wollens, das den Menschen mit anderen Lebewesen verbindet, und finis quo im Sinne bewusster Zielsetzung beschrieben wurde. 15 Dort wurde bereits auf die prinzipielle Schwierigkeit des Sprechens über Phänomene des primären Wollens hingewiesen, die einerseits als präreflexiv begriffen werden müssen, andererseits aber nur vermittelt durch bewusste Selbsterfahrung in einen rationalen Diskurs eingehen können. Aus diesem Sachverhalt – der sich direkt aus den drei Aussageweisen des Seins im metaphysisch-analogen Denken ergibt – folgt die Unvermeidbarkeit der Paradoxie im Sprechen über die Selbsterfahrung des bewussten Lebewesens, aus der auch die Erklärung entwickelt werden kann, warum Descartes selbst die metaphysisch-analoge Deutungsmöglichkeit des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ nicht möglich war:
Der Begriff des ›Ausseins-auf‹ bezeichnet bei Spaemann die teleologische Struktur von Lebewesen. Er erscheint bei Spaemann, soweit ich sehe, zum ersten Mal im Essay »Teleologie und Teleonomie« – zuerst in: Henrich/Horstmann (Hrsg.), Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1987, Stuttgart 1988, 545–556 –, der in die dritte Auflage von »Natürliche Ziele« aufgenommen wurde. Spaemann benutzt in verschiedenen Texten die unterschiedlichen Schreibweisen ›Aus-Sein-auf‹, ›Aussein-auf‹ und ›Aussein-auf‹. Hier wird durchgängig die von Spaemann unter anderem in »Glück und Wohlwollen« und »Personen« verwendete Schreibweise ›Aussein-auf‹ benutzt. 15 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 225–233, Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277, u. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 288–289. 14
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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
Dieser Mittelbegriff des Lebendigen ist für Descartes verschwunden. So schreibt E. Gouhier: »Alles, was nicht zur res cogitans gehört, wird auf die Seite der res extensa verwiesen. Es gibt also keinen Platz für das Leben als eine spezifische Ordnung zwischen dem Sein der mens und dem des Leichnams.« 16 Der entscheidende Grund hierfür ist die bereits längst vor Descartes erfolgte programmatische Preisgabe jeder teleologischen Naturbetrachtung als idolatrisch, als wesentlich unklar, weil nur per analogiam aussagbar, und als unnütz, »unfruchtbar und wie eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebiert« 17. Durch die Preisgabe des teleologischen Lebensbegriffs ist für die Ontologie der Weg der Analogie verschlossen. Descartes zieht als Erster daraus die Konsequenzen. An die Stelle der Analogie tritt die Dialektik. 18
Die aus der Entteleologisierung folgende Dialektik kann dabei zwei Formen annehmen: Entweder es entsteht jener Antagonismus der Positionen des Naturalismus und des Transzendentalismus – »zwei prinzipiell inkommensurable methodische Ansätze« 19 –, der oben im Zusammenhang mit dem anthropologischen Dualismus näher beschrieben wurde. 20 Oder an »die Stelle der Analogie tritt die spekulative Dialektik von endlichem und unendlichem Bewusstsein« 21, wie sie mit Bezug auf Descartes als »Theologisierung der Ontologie« dargelegt wurde. 22 Im Folgenden soll nun zunächst verdeutlicht werden, worin im Grundzug die metaphysisch-analoge Deutungsmöglichkeit des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ besteht, bevor auf die mit dieser Deutung verbundenen Denkschwierigkeiten und deren mögliche Lösung eingegangen wird. Um auf metaphysisch-analogem Weg vom ›cogito‹ zum ›sum‹ zu kommen, bedarf es einer Vorgehensweise, die sich von der oben dargelegten cartesischen bereits im Grundsatz unterscheidet, insofern die Preisgabe des teleologischen Lebensbegriffs hier rückgängig gemacht wird. Bevor der Gedankengang skizziert wird, soll verdeutlicht Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: E. Gouhier, Cartésianisme et Augustinisme au 17ième siècle. Paris 1978, S. 175. – Ebd. 148. 17 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Fr. Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum III, 5. In: The Works of Lord Bacon Bd. II, London 1984, S. 340. – Ebd. 148. 18 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138. 19 Ebd. 139. 20 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 21 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139. 22 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 348. 16
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
werden, aufgrund welcher Denkvoraussetzungen das cartesische ›cogito sum‹ eine solche Umdeutung überhaupt ermöglicht. Wie oben gezeigt wurde, 23 überträgt Descartes das aristotelische Substanz/Akzidens-Schema auf das Verhältnis der res cogitans zu ihren cogitationes. Obwohl Descartes also den teleologischen Substanzbegriff verloren hat, hält er an der Vorstellung der res cogitans als Substanz fest, durch die in dem von Aristoteles übernommenen Schema der Platz der verlorenen φύσις gewissermaßen freigehalten wird. Die metaphysisch-analoge Deutung des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ bedeutet daher im Kern, das ›cogito‹ als Distanz zur menschlichen Natur zu verstehen und wieder in der menschlichen Natur – anstelle der res cogitans – fundiert zu denken. Auf metaphysisch-analogem Weg lässt sich der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ allerdings nicht analog der spekulativ-dialektischen Deutung als Folge von Reflexionsstufen darstellen, sondern ist als Revision der problematischen Denkvoraussetzungen Descartes’ zu verstehen, durch die dieser Fortschritt vielmehr als ein komplexer Schritt erscheint, in dem gleichwohl zwei Ebenen unterschieden werden können. Durch die Anknüpfung an den teleologischen Substanzbegriff im Sinne der φύσις wird zum einen die den Menschen mit allem Lebendigen verbindende »organische Zentralität« 24 eines Wesens, das die Welt »aus der Perspektive seiner eigenen Mitte« 25 sieht, als eine Ebene der Betrachtung des Menschen hervorgehoben. Auf dieser Ebene geht es um die oben im Zusammenhang mit dem »Mittelbegriff des Lebens« erwähnte »teleologische[…] Struktur […], die aller Bewusstheit voraufliegt und die uns mit allem Lebendigen verbindet« 26. Zu seiner damit bezeichneten Natur steht der Mensch zweitens durch die reflexive Wendung auf die Selbsttranszendenz in einer Distanz, durch die er die Welt »aus einer Perspektive, die überhaupt keinen Mittelpunkt in einem Bewusstsein hat« 27, zu sehen vermag. Der Mensch ist demnach zugleich ein Lebewesen mit seiner organischen Zentralität und ein Wesen, das über diese hinaus ist, indem es sein natürliches Transzendieren mit Bewusstsein vollzieht. In diesem Zusammenhang spricht Spaemann auch vom Menschen als ›Person‹ : »Der Mensch ist das Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 346. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 45. 25 Ebd. 40. 26 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138. 27 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 40–41. 23 24
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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
Wesen, das sich selbst zurücknehmen, sich relativieren kann. […] Eben in dieser Relativierung des eigenen endlichen Ich, der eigenen Begierden, Interessen und Absichten erweitert sich die Person und wird ein Absolutes.« 28 Der Schritt zum ›sum‹ durch Überschreiten des bloßen ›cogito‹ vollzieht sich auf metaphysisch-analogem Weg also nicht durch eine Theologisierung der Ontologie, sondern durch eine innerweltlich vermittelte Distanznahme zur eigenen Natur. 29 Die metaphysisch-analoge Deutung hat damit gegenüber der cartesischen den Vorzug, dass sie eine genuin philosophische Argumentation bleibt. Die Schwäche dieser Deutung besteht allerdings darin, dass sie als konstitutives Element ihrer Argumentation ein Präreflexives einbeziehen muss, das in der Argumentation nie als es selbst gegenwärtig kann sein, sondern auf das nur als nicht begründbare Voraussetzung der Deutung verwiesen wird. Das teleologische Phänomen, das hier zu einer tragenden Säule der Argumentation wird, kann nur im eigenen Daseinsvollzug erlebt und im Hinblick auf andere Lebewesen anerkannt werden. Die kausal-mechanische Deutung der Objektwelt ist von dieser Argumentation aus so wenig widerlegbar wie der Idiosynkrasie-Verdacht in Bezug auf das eigene Erleben. 30 Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985/86), 90. Der hier skizzierte Gedankengang wird von Spaemann in voller Klarheit erst entfaltet in seinem späteren Hauptwerk »Personen«, in dem er von einer doppelten Negation spricht, durch deren Ineinandergreifen das ›Haben einer Natur‹ sich realisiert, wobei der Ort dieser Distanzierung von der eigenen Natur die Begegnung von Personen ist. – Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 548–561. 30 Für das Verständnis dieses metaphysisch-analogen Denkens ist es von größter Bedeutung, das Verhältnis der Reflexion zum Präreflexiven genau zu bedenken. Ute Kruse-Ebelings Spaemann-Deutung scheitert, wie mir scheint, gerade an dieser Aufgabe. Sie versucht »zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: Der Ebene der ›einfachen‹ Wahrnehmung des Seins als Selbstsein und der Ebene der ›metaphysischen‹ Wahrnehmung des Seins als Selbstsein.« – Kruse-Ebeling, Liebe und Ethik, 358. – In Bezug auf die erste Ebene spricht sie von einer »vorreflexiven, leiblichen Erfahrung des eigenen und anderen Selbstseins«. – Ebd. 360. – In Bezug auf die zweite Ebene spricht sie »von der von [Spaemann] für evident erachteten metaphysischen Wahrnehmung von Selbstsein als Unbedingtes«. – Ebd. 374. – Dabei kritisiert sie, dass Spaemann mit der zweiten Ebene einen aus ihrer Sicht nicht notwendigen ›Überbau‹ konstruiere: »Selbst Spaemann scheint, trotz allen Eintretens für die Ansicht, dass sich der positive Sinn des Seienden, dass Selbstsein als Unbedingtes sich ganz ursprünglich im Horizont der spontanen, alogischen liebenden Bejahung und Wahrnehmung erschließt, für die Fundierung seiner Ethik des Wohlwollens denn doch noch einen zusätzlichen Rahmen zu benötigen, in den er die Bejahung von Selbstsein als Unbedingtes einbettet.« – Ebd. 393. – Dass dieser Vorwurf eines metaphysischen Überbaus Spaemanns Sichtweise verfehlt, kann anhand ihrer Analyse der konkreten 28 29
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Es kann somit keine zwingende Argumentation geben für das skizzierte metaphysisch-analoge Denken. Was es behauptet und wofür es gute Gründe anführen kann, kann immer in Zweifel gezogen werden. Nun kann der Zweifel, wie an Descartes’ Gedankenführung abzulesen ist, einen festen Halt nur bieten durch die spekulative Einführung eines absoluten Bewusstseins, das die Universalität des Zweifels erst ermöglicht. Eine gewisse Immunisierung gegen den Zweifel kann daher erreicht werden, indem das Gefüge der guten Gründe, die für das metaphysisch-analoge Denken angeführt werden können, dargelegt wird. Dies soll hier versucht werden, indem Argumente, die bereits in den Ausführungen zu »Natürliche Ziele« genannt wurden, kurz in Erinnerung gerufen werden und wesentliche Wahrnehmung von Selbstsein am Beispiel einer Katze gezeigt werden: »Zwar kann ich mir das Tier als bewusstes Leben abzüglich des Selbstbewusstseins vorstellen und entsprechend auf diese Weise sein Selbstsein rekonstruieren. Gleichwohl scheint meine Wahrnehmung von ihm als Selbstsein sich nicht in diesem Denken zu erschöpfen, geschweige denn in ihm seinen Ausgangspunkt zu nehmen: Das Selbstsein der Katze, der ich begegne, ist mir immer schon auf leiblicher Ebene aufgegangen, lange bevor ich in meinem Selbstbewusstsein darüber nachgedacht habe, ob sie über Subjektivität, Leben oder andere Dinge verfügt, die sie mit mir teilen könnte.« – Ebd. 364. – Nach dieser Analyse gibt es also die präreflexive Wahrnehmung des Selbstseins der Katze und danach, in einem sekundären Schritt, die Reflexion auf dieses Selbstsein. Diese Analyse greift aber zu kurz, wie leicht gezeigt werden kann. Wenn es richtig ist, dass ich für die Katze meinerseits nur Teil ihrer Umwelt bin und sie daher meinen Schmerz, wenn sie mich kratzt, nicht wahrnimmt, dann folgt daraus, dass ich die Katze als ein Zentrum der Bedeutsamkeit, das seinerseits über Schmerzempfindung verfügt, nur wahrnehmen kann, weil ich meine Zentralität überwunden habe. Das Überwinden der Zentralität ist aber ein Akt der Reflexion. Was sich mir beim Anblick der Katze mit intuitiver Evidenz erschließen kann, dass sie nämlich Schmerzen empfindet, hat dennoch epistemologisch zur Voraussetzung, dass ich in einem Akt der Reflexion meine eigene Zentralität durch die Übernahme einer Außenperspektive verlassen habe und mir als schmerzempfindungsfähiges Wesen selbst zum Gegenstand geworden bin. Dies ist die conditio sine qua non jeder Wahrnehmung fremder Schmerzen als Schmerzen, d. h. als Negativität und damit als Selbstsein. Dass dies dann in einem konkreten Wahrnehmungsakt nicht mehr über eine bewusste Reflexionskette geschehen muss, ist selbstverständlich, widerspricht aber nicht der Spaemann’schen Deutung, dass jeder Wahrnehmung von Selbstsein ein ursprünglicher Reflexionsakt zugrunde liegt. Es kann keine ›präreflexive Wahrnehmung von Selbstsein‹ geben, weil das in dieser Wahrnehmung Wahrgenommene noch nicht als Selbstsein erkannt wäre. Kruse-Ebelings Darstellung zielt zwar auf den wesentlichen Sachverhalt, dass es eine der Katze und mir gemeinsame lebendige Zentralität geben muss als Voraussetzung ihrer reflexiven Überwindung, aus der die Wahrnehmung von Selbstsein erst hervorgehen kann, ihre Unterscheidung von ›einfacher‹ und ›metaphysischer‹ Wahrnehmung verfehlt aber im Kern den Ansatz Spaemanns.
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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
neue Argumente dazu referiert werden. Die Argumentation für eine Wiederbelebung der Teleologie, die die Voraussetzung des um den Mittelbegriff des Lebens kreisenden metaphysisch-analogen Denkens ist, bestand im Wesentlichen aus einem theoretischen und einem praktischen Argument. Das zentrale praktische Argument für die Wiederbelebung des teleologischen Denkens war die mit der Beweislastfrage verbundene Berufung auf die menschliche Normalität, die von der hypothetischen Wissenschaft in Frage gestellt wird. 31 Die Bedrohung des Menschen, die in seinem naturwissenschaftlich erzeugten Selbstverständnis als Anthropomorphismus zum Ausdruck kommt, fasst Spaemann im Essay »Ende der Modernität« 32 1986 noch einmal mit folgenden Worten zusammen: Das vorneuzeitliche Denken hatte den Menschen stets als »natürliches Wesen« angesehen, wenngleich als das »höchste«, sozusagen als Vizekönig in einer Lebenspyramide. Das moderne Bewußtsein emanzipierte zunächst den Menschen aus dem gesamten Naturzusammenhang und stellte ihn diesem gegenüber. Es verbietet, Natur unter dem Aspekt ihrer Ähnlichkeit mit unserer Selbsterfahrung zu betrachten. Solch eine Betrachtungsweise gilt ihr als »Anthropomorphismus«. Wenn nun aber entdeckt wird, daß der Mensch selbst Teil der Natur ist, nun aber Teil einer Natur, die wir uns zuvor verboten haben anthropomorph zu betrachten, dann bedeutet die »natürliche« Betrachtung des Menschen seine unmenschliche Betrachtung, seine Reduktion auf eben jenen Status bloßen Objektes, den er zuvor allem Natürlichen gegeben hat. So wird der Mensch sich selbst zum Anthropomorphismus. 33
Insofern die Alternative zum metaphysisch-analogen Denken in der realen historischen Entwicklung zur Selbstgefährdung des Menschen führt, gibt es im Sinne der Umkehr der Beweislast auch ohne zwingende Argumentation ein schwerwiegendes Argument, den Szientismus zurückzuweisen und zu einem Denken zurückzukehren, das mit der menschlichen Normalität in Einklang zu bringen ist. Das theoretische Argument für die Wiederbelebung der Teleologie wurde entwickelt aus der Freilegung von petitiones principii, auf Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 276–279. Vgl. dazu: »Diskussion über die These vom Ende der Modernität« (Zusammenfassung von Tanja Neumann, Vorsitz: Dieter Henrich), in: Koslowski/Spaemann/ Löw (Hrsg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, 41–43. 33 Spaemann, Ende der Modernität? (1986), 239–240. 31 32
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
denen wissenschaftstheoretisch die naturwissenschaftliche Argumentation in unterschiedlichen Zusammenhängen aufbaut, 34 und besteht wesentlich in der Feststellung, dass die naturwissenschaftliche Interpretation lebendiger Systeme, da sie an Mechanismen orientiert ist, deren Identität durch eine menschliche Zielverfolgung gestiftet wird, ein natürliches Aussein-auf bereits uneingestandenermaßen in die lebendigen Systeme hineinprojiziert und sie dann als komplexen Mechanismus reduktionistisch interpretiert. Was die naturwissenschaftliche Interpretation dabei unterschlägt, ist, dass »Negativität, […] das Bewußtsein möglichen Andersseins«, »zur Bestimmung von Identität gehört« 35, dass sie den menschlichen Lebensvollzug als Bedingung wissenschaftlicher Beobachtung voraussetzt, ohne diese Voraussetzung zu reflektieren. Dieses Argument wird von Spaemann in einem Essay 36 aus dem Jahre 1984 in einem wesentlichen Punkt weiter ausgebaut, indem er ausgehend von der Feststellung, dass Negativität naturwissenschaftlich ohne petitio principii nicht rekonstruierbar ist, drei Stufen unterscheidet, auf denen Negativität auftritt: »1. als Schmerz, 2. als Andersheit, als Nicht-ich, 3. als der Gedanke des Absoluten.« 37 Für den hier verfolgten Zusammenhang ist vor allen Dingen die erste Stufe von Bedeutung, 38 da sie verdeutlicht, dass Negativität nicht erst erfahrbar ist für ein Lebewesen, dem es um sein Sein geht, sondern ein allgemeines Charakteristikum von Leben ist: »Für ein Wesen, das unter Schmerzen leidet, hat der Schmerz wesentlich die Bedeutung des Negativen, des Nicht-seinSollenden.« 39 Dass Schmerz etwas ist, was vor seiner bewussten Wahrnehmung schon irgendwie da gewesen sein muss, ist gleichermaßen einleuchtend, ob es sich um die eigene Körperwahrnehmung oder die Beobachtung der Schmerzäußerung eines anderen Lebewesens handelt. Das Faktum des Schmerzes als erster Stufe des Auftretens von Negativität liefert also ein eindringliches Argument, S. Abschnitt 5.2.5, Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms, 252–261. 35 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 208. 36 »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie?« – Vgl. Abschnitt 5.2.5, Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms, 258–259, Fn. 273. 37 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62. – Vgl. Nusser, Der blinde Fleck der Evolutionstheorie, 249–252. 38 Auf die zweite Stufe wird in Abschnitt 6.2.2, 392, auf die dritte in Abschnitt 6.3.1, 406, zurückzukommen sein. 39 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62. 34
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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
insofern der Analogieschluss auf andere Lebewesen in der Selbsterfahrung bereits antizipiert ist. Ein drittes gewichtiges Argument, das bereits auf das spätere Buch »Personen« vorausdeutet, 40 ist in »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« enthalten. Ähnlich wie in dem zuletzt erörterten theoretischen Argument geht es um das Selbstverhältnis des Menschen, wobei diese Thematik hier aber substantiell erweitert wird: Zu einem Seienden wird das Bewusstsein nicht nur durch seine Endlichkeit im Verhältnis zu anderem Bewusstsein, sondern auch im Verhältnis zu sich selbst in der Zeit. Die absolute Selbstgewissheit des punktuellen »Ich denke« ist hergeleitet von einer ebenso absoluten Ohnmacht der Selbstbehauptung. Das »Ich denke« ist seiner selbst nicht mächtig, sondern wird sich selbst im Verlaufe der Zeit fortwährend zu einer äußeren gegebenen Sache. Ja, der Wille zur Selbstgewissheit, zur absoluten formalen Autonomie der Subjektivität ist selbst unmittelbar der Grund dafür, dass dieses Subjekt hinsichtlich seines Gehaltes ganz ohnmächtig wird: Seine Erinnerung wird ihm ebenso zur Außenwelt wie seine Zukunft, überhaupt seine Kontinuität in der Zeit. 41
Im bewussten Lebensvollzug geht das Bewusstsein also stets dadurch über seine punktuelle Instantiierung hinaus, dass es sich zu der Wahrnehmung seiner Vergangenheit und der Antizipation seiner Zukunft in ein Verhältnis setzt. Die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung anderer bewusster Lebewesen und der Selbstwahrnehmung wird also weiter relativiert durch eine Reflexion auf die zeitliche Struktur des Selbstverhältnisses, aus der sich im Umkehrschluss auf die hohe Plausibilität analoger Wahrnehmung – nicht nur bewusster – anderer Lebewesen schließen lässt.
Spaemann verweist in einer Fußnote zu der im Folgenden zitierten Textstelle auf die ersten beiden Abschnitte des 9. Kapitels »Zeit« aus »Personen«. 41 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 41. 40
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
6.2.2
Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung
Mit der zuletzt angestrebten Vergegenwärtigung und Problematisierung des metaphysisch-analogen Denkens sollen für die folgenden Ausführungen die Grundlagen gelegt sein im Hinblick auf die philosophische Methodik und die zu beachtenden Vorzeichen. Gegenüber dieser programmatischen Hinführung wird im Folgenden die dezidiert inhaltliche Ausrichtung auf den, wie Spaemann betont, »Gedanke[n], der die Philosophie konstituiert« 42, im Mittelpunkt stehen. Die Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf die 1987 veröffentlichte Essay-Sammlung »Das Natürliche und das Vernünftige«, insbesondere auf den gleichnamigen vierten Essay derselben. 43 Das philosophische Anliegen, um das es dabei geht, wird, wie Spaemann unterstreicht, »nicht nur die Anstrengung des Begriffs, sondern auch die Aktivierung aller menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten einfordern« 44, insofern es hier im Sinne des diesem Kapitel vorangestellten Mottos um eine begrifflich vermittelte Relativierung des Begriffs selbst geht, die nicht umhinkann, an vorausgesetzte menschliche Erfahrungen anzuknüpfen. Auch wenn es hier nicht mehr primär um die philosophiehistorische Perspektive geht, die in Teilkapitel 6.1 im Vordergrund stand, wiederholt sich im Folgenden dennoch die dort beschriebene charakteristische Gedankenbewegung. Ausgehend von Beobachtungen zum neuzeitlichen Naturbegriff wird der Blick zurückgelenkt auf die klassische Antike, um von Platon aus wieder in die Moderne zurückzukehren und der Frage nach der Aktualisierbarkeit jenes Gedankens, der die Philosophie konstituiert, unter ihren Bedingungen nachzugehen. In diesem Kontext werden die programmatischen Überlegungen zum metaphysisch-analogen Denken erst ihre volle Bedeutung entfalten. Der Gedankengang setzt bei der Geschichte des Naturbegriffs an, die bereits im Zusammenhang mit Rousseau 45 und zuletzt mit
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. Vortrag zur 600-Jahrfeier der Universität Heidelberg, erschienen zuerst in: Scheidewege, Jahresschrift für skeptisches Denken, 16. Jahrgang 1986/87. – Vgl. ebd. 137. 44 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20. 45 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, 196–206. 42 43
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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
dem anthropologischen Dualismus 46 und Leibniz 47 thematisiert wurde. Über das dort Dargelegte hinaus richtet Spaemann in »Das Natürliche und das Vernünftige« seine Aufmerksamkeit auf die Zweideutigkeit von Begriffen wie ›natürlich‹ und ›künstlich‹ im modernen Sprachgebrauch: »Wie können die Begriffe ›natürlich‹ und ›künstlich‹ eine Antithese bilden, wenn doch das Künstliche um so vollkommener ist, je mehr es sich dem Natürlichen annähert?« 48 Den Grund für diese Verwirrung erkennt Spaemann darin, dass beide Begriffe einerseits eine genetische Bedeutung haben, insofern »eine bestimmte Ursprungsrelation bezeichnet« 49 wird, andererseits eine normative, die »einen Beurteilungsmaßstab für Bestrebungen, Handlungen oder Zustände nennt« 50: »Erst wo das Wollen sich von dem Natürlichen im genetischen Sinne ganz losgerissen hätte, wäre es ›natürlich‹ im vollen normativen Sinne.« 51 Ursache der Zweideutigkeit sind die konkurrierenden Erklärungsansätze von Genesis und Geltung, in denen man unschwer die moderne Form des anthropologischen Dualismus von Naturalismus und Transzendentalismus wiedererkennen kann, der seinerseits eine unmittelbare Konsequenz der »programmatische[n] Preisgabe jeder teleologischen Naturbetrachtung« 52 darstellt. Das genetische Erklärungsprinzip wird vor allem vom Evolutionismus vertreten, der mit dem Anspruch auftritt, die »Subjektivität im Rahmen einer ateleologischen Wissenschaft erstmals zu rekonstruieren« 53, das normative wiederum vom Transzendentalismus, der der nicht trivialen »Trivialisierung der Subjektivität« 54 durch den Evolutionismus den Anspruch entgegenstellt, »die menschliche Subjektivität als Bedingung der Vergegenständlichung der Welt zu begreifen und eben deshalb den Menschen den Gesetzen der gegenständlichen Welt dann und nur dann unterworfen zu denken, wenn er sich zum Gegenstand theoretischer Betrachtung
Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 47 Vgl. Abschnitt 6.1.4, Leibniz: Ontologie sub specie Dei, 351–361. 48 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 115. 49 Ebd. 112. 50 Ebd. 51 Ebd. 117. 52 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138. 53 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 51–52. 54 Ebd. 52. 46
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macht« 55. Einen Ausweg aus diesem Dualismus sieht Spaemann im Rückgriff auf die antike Philosophie: Die Versöhnung eine[r] genetischen und einer geltungstheoretischen Betrachtungsweise wäre nur unter einer platonischen Voraussetzung möglich. Wenn wir nämlich Evolution so verstehen, daß die funktional-bedingte Einübung in bestimmte Verhaltensweisen die Bedingung dafür ist, daß sich plötzlich eine ganz neue Dimension des Erlebens eröffnet, die Dimension der Unbedingtheit des Schönen. So haben es Platon und Aristoteles gesehen, wenn sie übereinstimmend schreiben, der Staat entstehe aus der Notwendigkeit bloßen Lebens, aber, einmal entstanden, bestehe er um des guten Lebens willen. Und was das gute Leben ist, läßt sich aus diesen Entstehungsbedingungen überhaupt nicht mehr herleiten. 56
In dieser avisierten platonischen Versöhnung wird also Geltung behauptet, ohne dass die Genesis negiert würde; allerdings deutet das Adverb ›plötzlich‹ bzw. die Verneinung der Herleitbarkeit darauf hin, dass die genetische Betrachtung an die neue Dimension nur heranführen kann, aus Gründen, die zu erläutern sein werden, aber prinzipiell keine Erklärung für sie liefern kann. Bevor er zur platonischen Philosophie kommt, betrachtet Spaemann jedoch zunächst eine frühe Form der Invertierung von Teleologie in der Antike selbst. In der Sophistik des fünften vorchristlichen Jahrhunderts wurde »der Nomos als eine Ordnung des Geschehens gedacht, der mit der Ordnung ›von Natur‹ nicht in eins fällt« 57. Zwar ist der »Ursprung des Nomos […] sehr wohl natürlich, d. h. physei, von Natur« 58; wenn jedoch »jemand gegen sein eigenes Interesse überzeugt wurde, d. h. wenn eine sittlich-rechtliche Überzeugung die Geltendmachung seines Kraftpotentials einschränkt statt fördert, dann wird man sagen können, daß für ihn dieser Nomos unnatürlich ist« 59. Die Sophistik zerstört damit »die Illusion eines gemeinsamen Interesses, die Illusion des Gemeinwohls« 60. In diesem Denken treten die beiden Seiten von Genesis und Geltung im Begriff des Natürlichen zum ersten Mal deutlich auseinander:
55 56 57 58 59 60
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 49. Ebd. 57–58. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 118. Ebd. Ebd. 119. Ebd.
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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
»Natürlich«, das kann einerseits den Ursprung bezeichnen und also meinen: »von Natur«; und in diesem Sinne ist für die Sophistik letztlich jeder Nomos natürlich. Es kann aber andererseits einen bestimmten Maßstab meinen, den Maßstab des »Naturgemäßen«, und dann ist es eine Frage des Standpunkts und der Interessenlage, ob ein Nomos natürlich oder unnatürlich genannt wird. Der gewaltsame Tod ist für den, der ihn erleidet, vom natürlichen Tod verschieden. Für den Löwen, der den Menschen frißt, ist die Verursachung dieses Todes natürlich. 61
Der sophistischen Argumentation liegt die hedonistische Überzeugung zugrunde, dass das, was »wir eigentlich und im Grunde wollen und weshalb wir alles andere wollen, […] Lustgewinn und Unlustvermeidung« 62 ist. Es besteht daher eine direkte Verbindung zwischen der Sophistik des fünften vorchristlichen Jahrhunderts und der bürgerlichen Ethik der frühen Neuzeit 63: »Der Nomos der Natur, das kann nach Auffassung des Kallikles, die im 16. Jahrhundert erneuert wird, immer nur eine Variante des selfish systems sein, Resultat eines Parallelogramms natürlicher Kräfte.« 64 Um vor diesem Hintergrund das platonische Denken zu charakterisieren, bedarf es einiger klärender Vorbemerkungen. In einem anderen Text aus dem hier betrachteten Zeitraum gibt Spaemann ein kurzes Resümee der platonischen Philosophie, das hier vorangestellt werden soll: Wissen, das heißt […] bei Platon nicht irgendein bloß kognitiver, bloß intellektueller Zustand. Wissen ist jenes unmittelbare Einswerden mit der erkannten Sache von Grund auf, die einen Zweifel unmöglich macht. Für Descartes war die Gewißheit, daß ich existiere, eine solche letzte Gewißheit, die ich nicht durch Zweifel noch einmal distanzieren kann. Für Platon ist diese letzte, keiner weiteren Begründung mehr fähige und bedürftige Einsicht die in das Gute – wobei wir uns immer vergegenwärtigen müssen, daß »das Gute« für die Griechen immer auch, ja zuerst und vor allem, das Nützliche, das für den Handelnden selbst letzten Endes Zuträgliche meint. Wer, so denkt Platon, von dem, was das Wort »gut« meint, ein wirkliches Wissen hat – also eine Evi-
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 119. Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 26. 63 Vgl. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 138–142. – Vgl. dazu auch: Schröder, Moralischer Nihilismus. Radikale Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche. 64 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. 61 62
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denz, die vergleichbar, ja noch fundamentaler ist als die Evidenz dessen, was wir meinen, wenn wir »Ich« sagen –, der brauchte keine weiteren Tugenden. Sein Handeln wäre der unfehlbare Ausdruck dieser Evidenz. Das Wahre einzusehen heißt, ihm zuzustimmen. Das Gute wirklich einsehen heißt, es wünschen. Tatsächlich aber besitzen die meisten von uns eine solche geradezu mystische Evidenz nicht. 65
Gegenüber der sophistischen Argumentation macht Platon geltend, dass »es ein koinon agathon, ein gemeinsames Gutes gibt, und dies nicht nur als Resultat eines Kompromisses, solange die Kräfte sich die Waage halten, sondern als spezifisches Interesse des vernünftigen Menschen: ›Das Gute, wenn es an den Tag kommt, ist allen gemeinsam.‹« 66 Da die Sophisten die entsprechende Evidenz nicht besaßen und das gemeinsame Gute für eine Illusion hielten, stellt sich allerdings die Frage, was das Einswerden mit der erkannten Sache, um das es beim platonischen Wissen geht, verhindern kann. »Der entscheidende Grund dafür […], daß wir das für uns Gute, d. h. Zuträgliche nicht von Natur, d. h. von selbst wissen, liegt darin, daß unserer Natur die Indirektheit des Selbstverhältnisses wesentlich ist.« 67 Damit spielt Spaemann an auf die antike Vorstellung des Menschen als ζῷον πολιτικόν, das erst wird, was es von Natur ist, indem es aus der Natur heraustritt, also eine Sprache lernt und ein gesellschaftliches Wesen wird. Die Natur des Menschen ist es, so könnte man pointiert formulieren, den Antagonismus der Natur zu überwinden: Die Schlüsselstelle für die Aufhebung des Antagonismus der Natur, in welcher Fressen natürlich, Gefressenwerden aber unnatürlich ist, ist das Gespräch des Sokrates mit Polos im »Gorgias«, wo Sokrates den Satz verteidigt: »Wie das Handelnde handelt, so leidet das Leidende« (476 d). Daß dies für die Härte des Schlagens, die Hitze des Brennens und die Schärfe des Schneidens gilt, das gesteht jedermann leicht zu. Aber daß Polos zugesteht, es gelte auch für die Gerechtigkeit, also Schönheit, also Gutheit des Strafens, damit ist er nach Ansicht des Kallikles in die Fußangeln getappt, die Sokrates ihm gelegt hat. Denn hier habe Sokrates gerade den Nomos der Natur mit dem von Menschen gemachten Nomos fälschlich identifiziert. 68
65 66 67 68
Spaemann, Disziplin und das Problem der sekundären Tugenden (1988), 251–252. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. Ebd. 121. Ebd. 122–123.
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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
Sokrates’ Anliegen ist jedoch nicht eine bloße Identifikation des von Menschen gemachten Nomos mit dem Nomos der Natur, sondern eine analoge Interpretation jenes durch diesen. Die vernünftige Einsicht in die mögliche Gerechtigkeit des Strafens enthält den Gedanken eines gemeinsamen Guten, der sich über den hedonistischen Kalkül erhebt: »Bedenke aber, o Kallikles, ob nicht das Edle und Gute etwas anderes ist als retten und sich retten lassen.« 69 Der Antagonismus der Natur hebt sich also deswegen auf, weil die Natur des Menschen die Vernunft ist: Das An-den-Tag-Kommen des für alle gemeinsamen Guten heißt: Vernunft. Und insofern Vernünftigkeit zur Natur des Menschen gehört, ist die Aufhebung des natürlichen Interessenantagonismus nicht unnatürlich. Vernunft ist nicht identisch mit Natur. Aber erst das Vernünftige ist auch das An-den-Tag-Kommen der Wahrheit über das Natürliche, und dieses An-den-Tag-Kommen liegt selbst in der Teleologie der Natur. Natürliches als bloß Natürliches verhält sich antagonistisch zu anderem Natürlichen. Aber die Wahrheit über das Natürliche ist eine gemeinsame, und wo natürliche Wesen als vernünftige an dieser Wahrheit Interesse nehmen, da hebt sich der unmittelbare Antagonismus auf. 70
Es ist also gerade Kennzeichen teleologischer Verfasstheit für ein seiner selbst bewusstes Wesen, dass in ihm eine Spannung besteht zwischen dem Natürlichen und dem Vernünftigen, die so zu verstehen ist, dass das Natürliche erst eigentlich zu sich kommt im Vernünftigen. Die Vernunft selbst ist Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur. »Dieser platonische Grundgedanke ist nicht irgendein philosophischer Gedanke, es ist der Gedanke, der die Philosophie konstituiert.« 71 Im Folgenden muss es nun um die Frage gehen, wie dieser platonische Grundgedanke in der Moderne aktualisiert werden kann, wobei zugleich die Frage mitgemeint ist, wie sich Philosophie in diesem fundamentalen Sinn überhaupt unter den Bedingungen neuzeitlichen Denkens aktualisieren lässt. Spaemann weist darauf hin, dass dieser Grundgedanke immer wieder bestritten wurde, und führt als Beispiel aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts Michel Foucault an: 69 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20. – Vgl. Platon, Gorgias, 512 d 5. 70 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. 71 Ebd.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Wahrheit ist, so schreibt Foucault, gerade nicht ein Gemeinsames, sondern ein Instrument der Diskursdisziplinierung, der Ausschließung und Grenzziehung, dem gegenüber er den sophistischen Diskurs als »wirksamen Diskurs«, »rituellen Diskurs«, »mit Mächten und Gefühlen ausgezeichneten Diskurs« verteidigt 72. Vernunft enthüllt nicht Natur, sondern vergewaltigt sie. »Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis… Man muß den Diskurs als Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun« 73. 74
In seiner Solidarisierung mit den Sophisten scheint Foucault das Argument auf seiner Seite zu haben, dass sich hinter dem Begriff Vernunft im modernen Denken immer eine subjektive Perspektive verbirgt. Es ist daher ratsam, an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen, was oben über die Schwierigkeiten einer möglichen Aktualisierung von Positionen der klassischen antiken Philosophie gesagt wurde. 75 Nach dem dort Festgehaltenen müsste erstens angesichts der prinzipiellen Fremdheit des antiken Denkens beim Blick auf Platons These, wonach die Vernunft Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur ist, die uns von Platon trennenden Denkvoraussetzungen bewusst gemacht werden. Unter der Bedingung der Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt steht prinzipiell in Frage, ob die subjektive Vernunft ein κοινόν sein kann oder nicht vielmehr in einem antagonistischen Verhältnis zu anderen subjektiven Instantiierungen der Vernunft steht. Der – aus moderner Perspektive naive – Schluss Platons von der menschlichen Natur auf eine gemeinsame Vernunft scheint unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich zu sein. Die Frage nach der Aktualisierbarkeit des platonischen Grundgedankens muss daher zweitens dieses uns von Platon Trennende so berücksichtigen, dass die mögliche Aktualisierung den unterstellten zeitlosen Kern des Gedankens an die Bedingungen des modernen Denkens anpasst. Über das, was dies heißt, kann zunächst nur so viel gesagt werden, dass die gesuchte Vernunft, die Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur sein soll, die Grenzen einer nur subjektiven Instantiierung der Vernunft überschreiten muss, dass also der subjektphilosophische Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: »Die Ordnung des Diskurses«, Frankfurt am Main 1979, S. 39. 73 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: S. 36/37. – Vgl. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 34. 74 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 124. 75 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331. 72
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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
Perspektivismus überwunden werden muss. Um die Frage, um die es geht, auf den Punkt zu bringen, kann also formuliert werden: Wie lässt sich eine in der Natur verwurzelte Vernunft denken, die sich zwar durch die reflexive Wendung auf sich selbst als Anfang begreifen muss, gleichzeitig aber jene Fundierung erinnert? Mit der somit gesuchten Aufhebung des subjektphilosophischen Perspektivismus geht es erneut um die Frage nach einem Vernunftbegriff, der Selbsttranszendenz einschließt. In den philosophiehistorischen Ausführungen insbesondere zu Descartes wurde gezeigt 76, wie ein Denken der Selbsttranszendenz auf spekulativem Weg möglich ist; wenn es im Sinne der Aktualisierung des platonischen Grundgedankens jedoch um ein in der Natur verwurzeltes Denken der Selbsttranszendenz gehen soll, dann kann dies im Folgenden nur auf metaphysisch-analogem Weg geschehen. Doch zunächst zurück zu Foucault als Beispiel einer modernen Philosophie, die den platonischen Grundgedanken bestreitet: So ergibt sich die Alternative: Entweder die Diskurspartner sind nur Dinge, und Dinge sind radikal opak, oder die Dinge sind auch Partner in einem Lebenszusammenhang, sie haben auch den Charakter des Mit-Seins und nicht nur den Status von Zuhandenheit oder Vorhandenheit. D. h. sie sind Natur. Nur wenn es das Natürliche, von sich selbst her und mit eigenem Um-willen Seiende gibt, kann es Vernunft geben. Denn nur solches Seiendes kann sich enthüllen. Die Enthüllung des Natürlichen, die Enthüllung natürlichen Selbstseins aber, das ist es, was wir das Vernünftige nennen. Das Natürliche und das Vernünftige sind streng korrelative Begriffe. Keiner ist aus dem anderen ableitbar: Vernunft nicht aus Natur, denn das Seinlassen des Seienden ist nicht aus jener Ursprünglichkeit des Selbstseins ableitbar, die wir natürlich nennen. 77
Wenn man sich für die Alternative entscheiden möchte, anderem Seienden den Charakter des Mit-Seins zuzugestehen, und die Vernunft in dem mit diesem Anspruch verbundenen fundamentalen Sinn dadurch gekennzeichnet ist, dass Seiendes sich ihr enthüllt, liegt auf der Hand, dass das hier gemeinte In-Beziehung-Treten zu einem Seienden zunächst den Charakter eines Verzichts hat, des Verzichts auf Vergegenständlichung, auf die Reduktion des Seienden auf den Status eines Objekts für ein Subjekt. Hier ist daher der Ort, um, wie 76 77
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 126.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
oben angekündigt, 78 zur zweiten Stufe der Negativität, der »Negativität des Erkennens, also des fieri aliud inquantum aliud« 79 zu kommen: In diesem Sinne verstanden, sprengt der Akt der Erkenntnis jede naturalistische und damit auch jede anthropologische Deutung. Von Natur bildet jeder Organismus ein System, das mit seiner Umwelt im Austausch steht. Jedes Lebewesen steht im Mittelpunkt seiner Welt. Welt erschließt sich ihm als Raum von Bedeutsamkeiten, und etwas gewinnt Bedeutsamkeit im Hinblick auf das, was es für diesen Organismus ist. Den anderen als anderen, mich selbst als dessen Gegenüber, als »Umwelt« für andere Zentren wahrnehmen und so aus dem Mittelpunkt meiner Welt heraustreten, diese »exzentrische Position« (Helmut Plessner) erschließt ein Reich epekeina tes ousias – wie Platon sagte, um den Ort des Guten zu bestimmen – »jenseits des seienden Wesens«. 80
Negativität des Erkennens bedeutet also zunächst die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz in dem Sinn, dass jenseits des eigenen Horizonts ein ihn relativierender hypothetischer Standpunkt eingenommen werden kann. Danach aber bedeutet es die nicht erzwingbare, aber wohlbegründete Anwendung dieser Fähigkeit in Bezug auf anderes Seiendes. Spaemann benutzt zur Veranschaulichung dieses Gedankens häufig das Beispiel der Wanderung mit einem Freund: Der Unterschied zwischen einer geträumten und einer wirklichen Wanderung mit einem Freund liegt darin, dass bei der wirklichen auch mein Freund mit mir die gleiche Wanderung gemacht hat. Es kommt dabei nicht darauf an, ob ich das jemals erfahre. Es kommt überhaupt nicht auf die Kohärenz in meinem theoretischen Weltkonzept an. Die Sache ist vielmehr die: Ich bin überhaupt nicht der, der darüber entscheidet, ob der Andere mit mir gegangen ist. Eben dies macht den Begriff der Anerkennung aus. Dieser Begriff sprengt jede systemphilosophische Aufhebung des Seinsbegriffs. Sein ist nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung. 81
Vgl. 382, Fn. 38. Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62. 80 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 33. – Vgl. zur Wendung ἐπέκεινα τῆς οὐσίας Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins, 581, u. Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 654, Fn. 16. 81 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 41–42. 78 79
392 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
Könnte die Annahme eines den eigenen Horizont relativierenden hypothetischen Standpunkts zunächst rein spekulativ erscheinen, so zeigt dieses einfache Beispiel, dass dieser Gedanke keineswegs spekulativ ist, sondern in der Erfahrung von menschlichem Mit-Sein fundiert ist. Als zweites Beispiel nennt Spaemann das Beispiel eines Kranken, der, »vielleicht auf dem Sterbebett, unfähig sich zu äußern, eine Äußerung über seine Schmerzen hört, die falsch ist, dann weiß er und nur er, dass sie falsch ist. Er nimmt sein Wissen mit ins Grab.« 82 Der Anspruch auf Wirklichkeitswahrnehmung schließt aus menschlicher Perspektive immer schon das Gebot der exzentrischen Position ein. »Existenz«, sagt Spaemann an anderer Stelle mit Kant 83, »ist kein reales Prädikat« 84. Jedes Prädikat bleibt im Bereich des subjektiven theoretischen Weltkonzepts, Sein bzw. Existenz dagegen liegen außerhalb dieses Bereichs. Der Schlüssel zu diesem Seinsverständnis und damit der Schlüssel zu der gesuchten Aktualisierung des platonischen Grundgedankens der Vernunft als Ausdruck der Teleologie menschlicher Natur liegt im Begriff der Anerkennung. Die Anerkennung bezieht sich, das ist ganz wesentlich, nicht auf so etwas wie einen Diskurspartner, sondern auf ein natürliches Lebewesen: Anerkennung eines fremden Vernunftwesens kann sich nur realisieren als Anerkennung dieses Wesens in seiner Natürlichkeit. Denn wenn ich es nur qua Vernunftwesen anerkenne, dann ist es ja gerade nicht das andere Subjekt, das ich anerkenne, sondern es sind meine eigenen Kriterien der Vernünftigkeit, die ich in ihm instantiiert finde. 85
Einmal mehr wird so verständlich, was mit dem eingangs zitierten Hinweis Spaemanns auf die im hier verfolgten Zusammenhang nötige »Aktivierung aller menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten« 86 gemeint war. Der in der Natur verankerte Vernunftbegriff, um den es geht, ist nicht instrumentell verfügbar, sondern wird verstanden als Ausdruck einer Sammlung der ganzen Person, die allerdings, das ist ganz wesentlich, ihren Fokus gerade nicht in dieser Person selbst hat. Spaemann unterstreicht einerseits die Naturverwurzelung der Ver-
82 83 84 85 86
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42. Vgl. Kant, KrV, B 626–627. Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 132. Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20.
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
nunft mit der Metapher »Erwachtsein zur Vernunft« 87, hebt andererseits hervor, dass die diese Vernunft kennzeichnende »Umkehr der Perspektive« 88 die Überwindung der instrumentellen Vernunft, das »Verlassen der rein theoretischen Einstellung« 89 bedeutet: Denn in dieser bleibt der andere unvermeidlich immer Gegenstand, der sich im Verhältnis zum vergegenständlichenden Subjekt definiert. Etwas nicht als Gegenstand, sondern als schlechthin wirklich, als Selbstsein realisieren, das ist das, was in der Sprache der philosophischen Tradition vernünftige Liebe oder amor benevolentiae heißt. Amor benevolentiae im Unterschied zum amor concupiscentiae intendiert nicht primär Vereinigung, sondern er vereinigt, indem er distanziert. Er läßt das Für-sich-Sein des anderen für mich sein. Jede naturalistische Deutung dieser Transzendenz ist notwendigerweise eine reduktionistische Umdeutung. […] Vernünftige Liebe im Sinne des amor benevolentiae läßt erst Wirklichkeit für uns entstehen und mit ihm einen Nomos, der gerade in dem Maße natürlich ist, wie er nicht von Natur ist. Daß er göttlich sei, diese Formel drückt nur aus, daß er den endlichen Perspektivismus verläßt, indem er ihn enthüllt und allem Endlichen seine eigene Perspektive zugesteht. 90
Die im Begriff der Anerkennung sich kristallisierende Aktualisierung des Grundgedankens der platonischen Philosophie wird also durch die der antiken Tradition unbekannte wirklichkeitserschaffende Kraft der vernünftigen Liebe realisiert, die den subjektphilosophischen Perspektivismus aufhebt. Für das Verständnis von Spaemanns metaphysischer Konzeption ist es nach meiner Überzeugung entscheidend, den Zusammenhang der beiden Seiten des Natürlichen und des Vernünftigen festzuhalten und ihn nicht, was vielleicht naheliegend erscheinen könnte, zur Seite des Vernünftigen als des vermeintlich eigentlich Menschlichen hin aufzulösen. Das Argument für die unaufhebbare Bedeutung des Natürlichen lässt sich wiederum in zwei Richtungen wenden: Erstens ist das Natürliche der Ursprung der Bewegung, die zum Vernünftigen hinführt: Natur prinzipiell unter der Form der Selbsttranszendenz – also teleologisch – verstehen ist nun auch die Bedingung dafür, daß sie als Me-
87 88 89 90
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 127. Ebd. 129. Ebd. Ebd. 129–130.
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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
dium der Selbstdarstellung von Personalität verstanden werden kann. Nur dann kann es so etwas wie »Sprache des Leibes« geben, und nur dann kann die Würde der Person auf physische Weise verletzt werden. Die Form des Gerichtetseins auf fällt nicht erst in der Form des rationalen Willens vom Himmel, wir finden sie in uns bereits vor in der Weise des Triebes, des eigenen und desjenigen anderer, der nach Befriedigung drängt. 91
Das Vernünftige bleibt damit auf das Natürliche als seine Voraussetzung angewiesen. Zweitens wird das Natürliche, indem es im Vernünftigen zu sich selbst kommt, nie Mittel zu einem höheren Zweck. Die Marx’sche Vision des »Gattungswesen[s]« 92 wird von Spaemann ebenso abgelehnt wie die nietzscheanische des »Übermenschen« 93, insofern es sich hier um Versuche handelt, die natürliche »Selbsttranszendenz des Menschen in einer definitiven Autarkie« 94 zurückzunehmen. Die menschliche Selbsttranszendenz eröffnet vielmehr »eine kognitive und voluntative Unbedingtheit, die weder soziologisch noch kosmologisch einholbar ist« 95 und für die ihre natürliche Grundlage von unaufhebbarer Bedeutung bleibt. Das Verhältnis des Menschen zu diesem Unbedingten ist nicht das des Mittels zu einem erst zu realisierenden Zweck. »Das Gute selbst« im Sinne Platons und der jüdisch-christlichen Tradition, Gott also als letztes Um-willen ist immer schon wirklich, und er bedarf des Menschen nicht zu seiner Realisierung. Das Verhältnis zu diesem finis ultimus kann nur das des Bildes, der Repräsentation sein. 96
Mit dem Begriff der Repräsentation ist der zweite zentrale Begriff nach dem der Anerkennung genannt. »Repräsentation ist eine letzte Kategorie, jenseits von Selbstbehauptung und Selbstmediatisierung zum Mittel für Künftiges oder für andere.« 97 Gerade weil der »terminus ad quem der Transzendenz« 98 sich nicht auf einen Begriff bringen lässt, ist die Repräsentation des Unbedingten im natürlichen Bild des Menschen eine letzte der Philosophie zugängliche Kategorie, hinter der Gott gedacht werden kann, womit das Nachdenken an die Grenze 91 92 93 94 95 96 97 98
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 35. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 36. Ebd. Ebd. 37. Ebd. 35.
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zur Theologie gelangt. Bleibt man dagegen im Bereich der Philosophie, so ist die »Repräsentation des Absoluten« 99 im Menschen und damit, da Repräsentation nicht ohne ihre Wahrnehmung denkbar ist, das Ereignis der Begegnung der Brennpunkt der metaphysischen Konzeption Spaemanns, nach dem hier gesucht wird. Und dieser Brennpunkt ist direkt aus seinem fundamentalen philosophischen Anliegen einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens entwickelt: Wenn wir auf das blicken, »was die Natur aus dem Menschen macht«, so treiben wir Biologie und sprechen unvermeidlich von etwas, was weniger ist als der Mensch. Denn die Natur »macht« keine Person. Fragen wir aber, »was er als frei handelndes Wesen aus sich selbst macht oder machen kann und soll«, so müssen wir vom Unbedingten sprechen, also von dem, was mehr ist als der Mensch. Eine Einheit der Hinsichten kann deshalb nur dann gedacht werden, wenn wir dieses Mehr als das Wohin des Menschen und zugleich als das Woher der Natur denken. 100
Philosophisch ist die Spannung zwischen dem Natürlichen und Vernünftigen damit ein letzter Gedanke, durch den der Grundgedanke der Teleologie mit der Dimension des Geistes verbunden wird. Zum Abschluss soll unter der Voraussetzung des unaufhebbaren Zusammenhangs des Natürlichen und des Vernünftigen noch einmal nach dem genauen Verhältnis der beiden Seiten gefragt werden. Wie gesehen wurde, hat die Aktualisierung des platonischen Grundgedankens bei Spaemann die Form einer Verbindung von Naturteleologie mit einem ersten Ansatz zu einer Personenphilosophie. Die damit intendierte Aufhebung des neuzeitlichen anthropologischen Dualismus versucht den Widerspruch von Genesis und Geltung, von dem die Ausführungen in diesem Abschnitt ihren Ausgang nahmen, aufzulösen. Dies ist jedoch nicht vollständig möglich: Man kann eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren. Sie führt sozusagen in unendlicher Approximation an ihn heran. Aber am Ende bleibt immer ein Sprung, ein plötzlicher Wechsel der Position, auch wenn dieser empirisch kaum, allenfalls physiognomisch bemerkbar wird. Vernunft kommt, wie Aristoteles sagt, letzten Endes immer thyrathen, von außen. Es gibt auch keinerlei vernünftiges Ar-
99 100
Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985/86), 91. Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 37–38.
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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
gument für diesen Positionswechsel. Das heißt nicht, daß er irrational wäre. Nur: Man muß ihn schon vollzogen haben, um seine Vernünftigkeit zu begreifen. Alle Ethik, die den Namen verdient, setzt diesen Positionswechsel schon voraus. 101
Der Verweis auf einen ›Sprung‹ kann jedoch ebenso wenig zufriedenstellen wie der Bezug auf das aristotelische θύραθεν, das ja selbst wieder eine Gedankenfigur darstellt, die erst einer neuzeitlichen Aktualisierung bedürfte, um in diesem Zusammenhang aussagekräftig zu werden. Das hier aufscheinende Problem bleibt im betrachteten Zeitraum ungelöst und wird erst in »Glück und Wohlwollen« weiterverfolgt, 102 indem das Verhältnis von Ontologie und Ethik bedacht wird. Diese Reflexion ist implizit schon in »Das Natürliche und das Vernünftige« da, wenn Spaemann mit den Mitteln des metaphysischanalogen Denkens einen Imperativ der praktischen Vernunft formuliert: Tatsächlich können wir überhaupt kein von Natur Wirkliches denken, das nicht durch ein Moment von Innerlichkeit und damit von Totalität und Unendlichkeit konstituiert wäre. Darum kann der Imperativ reiner praktischer Vernunft nur so gefaßt werden: »Handle so, daß du die Natur sowohl in deiner Person als auch in jedem anderen natürlichen Wesen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck gebrauchst.« Nur in diesem Imperativ erweist sich der Mensch als mehr als Natur. Denn nur in diesem Imperativ überschreitet er die bloße Solidarität der Gattung, die er mit allem Lebendigen gemeinsam hat. 103
Die Erschließung der Wirklichkeit von Denken, Leben und Sein verbindet sich mit dem universalisierten Gebot der exzentrischen Position. Der Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, gilt die weitere Entfaltung von Spaemanns Denken.
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 130–131. Vgl. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik, 415–508. 103 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 133. 101 102
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
6.2.3
Die Überwindung der Transzendentalphilosophie in einer Philosophie der Person
Abschließend soll ein Fazit aus den vorangegangenen beiden Abschnitten aus der Perspektive Spaemanns gezogen werden, indem seine Selbstpositionierung, wie sie sich in einigen Texten angedeutet findet, knapp dargestellt wird. Das Programm seiner Gedankenbewegung, wie sie sich in dieser Untersuchung seiner Werke in den 80er Jahren abzeichnete, hatte Spaemann bereits 1983 in der Einleitung zu seinen »Essays« formuliert: Philosophie ist antidialektisch, indem sie die Dialektik der modernen Abstraktionen sichtbar macht, ihr haltloses Umkippen ins jeweilige Gegenteil. Der Hegel’sche Gedanke, dass das Konkrete, das Wahre als Resultat dieser Dialektik der Abstraktionen zu denken sei, ist selbst nur wahr unter der teleologischen Voraussetzung, dass »das Absolute an und für sich schon bei uns ist und sein will« 104. Aus »non-A« folgte nämlich in alle Ewigkeit gar nichts und schon gar nicht B, wenn das Ganze, von dem A abstrahiert wurde, nicht bereits als offenbares Geheimnis da wäre und vor aller Augen läge. Dialektik bringt nicht das Wahre hervor, sie überführt nur den Irrtum des Selbstwiderspruchs, und auch dies nur, weil wir das Wahre im Grunde schon wissen und deshalb nie konsequent und vollständig irren, d. h. nie aus der Wahrheit des Seins gänzlich herausfallen können. Ich kann daher Hegels Logik nur verstehen, wenn ich sie als moderne Propädeutik zu Aristoteles, Aristoteles aber als Scholion zu Platon lese. 105
Wiederholt wurde in den Schriften der 80er Jahre eine Gedankenbewegung beobachtet, in der Spaemann von der erwähnten Dialektik der modernen Abstraktionen aus- und – der Wahrheit des Seins gewiss – auf die antike Philosophie zurückging, um sich dann der Frage nach der Aktualisierbarkeit antiker Positionen als eigentlicher philosophischer Aufgabe zu widmen. Auch die kritische Auseinandersetzung Spaemanns mit der neuzeitlichen Philosophie war wesentlich von dieser Gedankenbewegung inspiriert, was Spaemann im selben Text treffend zusammenfasst: Für Aristoteles galt als Axiom, dass das Wirkliche vor dem Möglichen ist. Möglichkeit war verstanden als Spielraum, der mit jedem wirklich 104 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf die Einleitung zur »Phänomenologie des Geistes«. 105 Spaemann, Einleitung (1983), 13.
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6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie
Seienden eröffnet ist. Möglichkeit hieß: »Können«. Nur Wirkliches »kann«. Der Primat der Möglichkeit in der Philosophie der Neuzeit hatte die christliche Theologie zur Voraussetzung, nach welcher Gott alles kann, was widerspruchsfrei denkbar ist. Wenn aber hinter der Gleichsetzung von Möglichkeit und Denkbarkeit nicht mehr diese Prämisse steht, was heißt dann »möglich«? Der transzendental-philosophische, weder theologisch noch anthropologisch fundierte Raum des Apriorismus spiegelt philosophisch die Bodenlosigkeit der Moderne. Es konnte nicht ausbleiben, dass sie vom Kopf auf die Füße gestellt wurde. 106
Aus der neuzeitlichen Umkehrung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit folgt unter der Bedingung der Absage an die christliche Theologie ein radikaler Seinsverlust der Subjektphilosophie, der als »unvermeidliche dialektische Kehrseite« 107 den ebenso abstrakten Naturalismus hervorbringen musste. Die angekündigte Selbstpositionierung Spaemanns erfolgt daher im Wesentlichen gegen die Transzendentalphilosophie, wobei dies im Sinne des Programms seiner Gedankenbewegung keine dialektische Gegenbewegung meint, sondern die moderne Aktualisierung des antiken substanzontologischen Grundgedankens. In »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« bemerkt er zu diesem Thema: Transzendentalphilosophie ist also gewissermaßen die prima philosophia des Menschen qua Lebewesen, das die Bedingungen der Möglichkeit dessen, was für es Welt ist, analysiert, insofern diese Bedingungen in seinen eigenen gegenstandskonstituierenden Leistungen liegen. Als Personen haben wir die Transzendentalphilosophie als Möglichkeitsphilosophie immer schon transzendiert. Denn der Möglichkeitsraum, den diese eröffnet, setzt die Wirklichkeit von Personen voraus, die sich sprachlich miteinander verständigen. Und dieser Verständigung wiederum geht jene fundamentale Anerkennung voraus, in der wir Menschen, Lebewesen und Dinge als selbst existierend setzen, mich ebenso durch sie wie sie durch mich gesetzt, und zwar als von meinem Setzen unabhängig gesetzt, d. h. in einem Sein, das mich und sie umgreift. 108
Der Anspruch der Transzendentalphilosophie, prima philosophia zu sein, 109 verkennt die noch in der Neuzeit von Descartes erfasste refle106 107 108
Spaemann, Einleitung (1983), 14–15. Ebd. 15. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
46. 109
Spaemann nimmt mit Kant den eigentlichen Schöpfer der Transzendentalphiloso-
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
xive Wendung der Selbsttranszendenz, die im ›Wesen des Denkens‹ 110 begründet liegt. Durch die metaphysisch-analoge Deutung desselben Gedankens wird das Mit-Sein ausgedehnt auf Lebewesen und Dinge. Bereits hier rückt der Personen-Begriff, dessen inhaltliche Präzisierung von Spaemann erst später geleistet wurde, in den Mittelpunkt des Interesses. Die Personen – der Pluralgebrauch ist wohlbedacht 111 – rücken, das wird hier deutlich, an die Stelle der aristotelischen Substanz. Der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Personen ist die Anerkennung. Anerkennung aber ist: Seinlassen dessen, was anerkannt wird als eines solchen, das von dieser Anerkennung in dem Sinne unabhängig ist, dass es nicht durch sie konstituiert wird. Der Akt der Anerkennung ist der Akt, in dem die Freiheit ihre höchste Verwirklichung findet, und zwar deshalb, weil in ihm das Subjekt sich und seine natürliche Teleologie zurücknimmt und ein anderes Umwillen gelten lässt, welches für das eigene Maß und Begrenzung bildet. Der Begriff der Anerkennung sprengt die Grenzen der Transzendentalphilosophie, die – phie partiell aus der Kritik aus: »Wo Kant den Begriff des Dinges an sich über die bloße Grenzbestimmung eines Gegenstandes überhaupt, eines x hinaus bestimmt, da bestimmt er es als Freiheit. Freiheit rückt in die Leerstelle, die in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ durch den Begriff des Dinges an sich geschaffen wurde. Sein ist nur insofern ein Gegenstand der Erkenntnis, als es ein Korrelat des in jedem Erkenntnisakt implizierten Aktes der Anerkennung ist.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 43. – Er expliziert seine Kritik am Beispiel Heideggers: »Auch Heidegger bleibt in ›Sein und Zeit‹ noch in diesem transzendentalphilosophischen Ansatz stecken. Er gewinnt den Gedanken des Seins – den er insofern durchaus noch als eine Art transzendentalen Begriff konzipiert – durch eine Analyse des Seins des nach dem Sein fragenden Daseins, bestimmt aber dann das Sein des innerweltlich Begegnenden, insofern es sich nicht um Menschen handelt, als Zuhandenheit bzw. Vorhandenheit statt Mitsein. Beim späteren Heidegger kehrt sich diese Sicht allerdings um, und die Dinge beginnen zu ›dingen‹. D. h. ihr Sein wird nach Analogie des menschlichen Daseins als Vollzug ihres So-Seins gedacht. Das So-Sein ist diesem Vollzug nicht vorgeordnet, sondern ist selbst nur eine Weise des Seins, sich anwesend zu machen. Hier scheint mir allerdings die Transzendentalphilosophie unmittelbar in Mythologie umzuschlagen, und zwar deshalb, weil Heidegger bei der Bestimmung des Dinges den klassischen Begriff der physis übergeht und das Sein der Dinge daher doch weiterhin an die Lichtung des Seins im Menschen bindet.« – Ebd. 43–44. 110 Vgl.: »Der Raum, der durch das Denken eröffnet wird, transzendiert – das ist das Wesen des Denkens – die Immanenz der endlichen Subjektivität, so dass das diesen Raum eröffnende Denken innerhalb dieses Raumes selbst als ein Seiendes vorkommt, als res cogitans. Es ist ›an sich‹, dass ich ›für mich‹ bin, und das heißt: Es ist für jedes Denken, dass ich für mich bin, d. h. denke!« – Ebd. 40. 111 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 9, 87, 144: »Personen gibt es nur im Plural.«
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6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie
wie mir scheint – als Philosophie der Intentionalität in einer Theorie des Lebendigen gipfelt. 112
Der letzte Satz ist stark verkürzt. Was Spaemann meint, ist wohl so zu verstehen: Jeder intentionale Erkenntnisakt muss, wenn er nicht im Raum der Gegenstände für ein Subjekt bleiben, sondern zum Sein vordringen möchte, einen Akt der Anerkennung implizieren. Anerkennung von Sein ist aber nur möglich in der Vermittlung durch die φύσις, weil sie es ist, durch die unser Bewusstsein auf ein Diesseits seiner selbst transzendiert wird. Die eigentliche prima philosophia, um die es Spaemann geht, die dem Menschen als Person gerecht werden kann, muss daher um den Begriff des Lebens herum aufgebaut sein. In freier Paraphrase des diesem Kapitel vorangestellten Mottos lässt sich dieser Gedanke auch so formulieren: Man muss das Leben vor der Logik lieben, um seinen Sinn zu begreifen.
112
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
44.
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6.3 Der metaphysische Hintergrund der Religionsphilosophie und der philosophischen Ethik
Aufgabe des abschließenden dritten Teilkapitels zu Spaemanns Schriften der 80er Jahre ist es nicht, der theoretischen Entfaltung seiner metaphysischen Konzeption Wesentliches hinzuzufügen, sondern mit der Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zum Glauben und der nach der praktischen Philosophie zwei Linien seines Denkens, die bisher in diesem Kapitel ausgeblendet wurden, wieder aufzunehmen und in ein Verhältnis zur dargelegten metaphysischen Konzeption zu setzen. Dabei wird die These verfolgt, dass in der konkreten Weiterführung dieser Gedankenlinien in Spaemanns Texten der 80er Jahre gegenüber älteren Publikationen zu diesen Themen 1 nun eine direkte Anschlussfähigkeit von Spaemanns Thesen an seine metaphysische Konzeption erkennbar wird. Seine Gedanken zu diesen Themen sind zumindest implizit auf ein metaphysisches Fundament bezogen, so dass sie den Anspruch einer Religionsphilosophie bzw. einer philosophischen Ethik erheben können. Zunächst wird mit Bezug auf seine Essays aus den 80er Jahren zum Thema Religion gezeigt, dass Spaemanns religionsphilosophische Überlegungen als Anwendung grundlegender Positionen verstanden werden können, die in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt wurden (6.3.1). Danach werden vor allen Dingen anhand von Spaemanns populärstem 2 Werk »Moralische Grundbegriffe« aus dem Jahre 1982 wesentliche Grundgedanken seiner philosophischen Ethik skizziert und auf die metaphysische Konzeption bezogen, nicht ohne in diesem Zusammenhang auch eine kritische Frage zu stellen, die auf die Weiterentwicklung von Spaemanns ethischen Reflexionen im nächsten Kapitel vorausweist (6.3.2). Mit den abschließenden Ausführungen zur Religionsphilosophie und zur philosophischen Ethik werden somit auch die wesentlichen Ergebnisse des vorliegenden Kapitels noch einmal gebündelt. Vgl. Teilkapitel 5.3, Zugänge zum Absoluten, 292–318. Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 125. – Vgl. auch folgenden Kommentar Spaemanns: »Die ›Moralischen Grundbegriffe‹, Rundfunkvorträge, die ich – ohne den Gedanken an Veröffentlichung – geschrieben habe, wurden in 14 Sprachen übersetzt.« – Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 220. 1 2
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6.3.1
Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit der metaphysischen Konzeption
Philosophie erhebt als Metaphysik bzw. Ontologie den Anspruch, philosophia prima zu sein, die jede funktionalistische Interpretation ihrer selbst in einem übergeordneten Zusammenhang prinzipiell ablehnt. Konstitutiv für die so verstandene Philosophie ist der Bezug auf das Unbedingte, durch den sie schon immer in einer Beziehung zur religiösen Sphäre steht: »Nun lebt der spezifische Unbedingtheitsgedanke philosophischer Theorie davon, daß die Dimension von Unbedingtheit in der Weise des Ethischen und des Religiösen schon vor ihrer theoretischen Reflexion im menschlichen Lebensvollzug präsent ist« 3. Der Anspruch auf Unbedingtheit und die Ablehnung funktionalistischer Interpretationen haben – zumindest im neuzeitlichen Kontext – ihre spezifische Form im religiösen Denken: Religion ist eine Verwandlung der Perspektive, innerhalb derer die Frage nach Funktionen erst Sinn macht. Der paulinische Satz »Der geistliche Mensch beurteilt alles, er selbst aber wird von niemandem beurteilt« 4, muß in diesem Sinne verstanden werden. Religion ist mit diesem Anspruch so eng verbunden, daß man ihn nicht in Frage stellen kann, ohne Religion selbst in Frage zu stellen. 5
Unter den Vorzeichen der neuzeitlichen Subjektphilosophie ist das Verhältnis von Religion und Philosophie problematisch, insofern die Philosophie entweder diesen genuinen Anspruch der Religion in Zweifel ziehen oder aber sich ausdrücklich zu ihm in ein Verhältnis setzen muss. Wittgenstein schrieb: »Wenn das Christentum die Wahrheit ist« – und Wittgenstein wünschte, daß es die Wahrheit sei –, »dann ist alle Philosophie darüber falsch.« 6 Das gilt freilich nur, wenn man den skeptischen Philosophiebegriff Wittgensteins zugrunde legt; sicher aber gilt es für alle funktionalistischen Typen von Religionsphilosophie. Die Wahrheitsansprüche der christlichen Religion sind, wenn philosophisch, dann nur in ontologischen Kategorien interpretierbar.
Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 216. Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: 1. Kor. 2,15. – Ebd. 230. 5 Ebd. 219. 6 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, hrsg. von G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1977, S. 159. – Ebd. 231. 3 4
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Sie erfordern als kognitives Interpretationsinstrumentarium eine Metaphysik. 7
Um im Folgenden der Frage nachzugehen, inwiefern die dargelegte metaphysische Konzeption Spaemanns als ein solches »kognitives Interpretationsinstrumentarium« für die christliche Religion verstanden werden kann, sollen zunächst einige Gedanken Spaemanns aus seinen religionsphilosophischen Texten der 80er Jahre kurz zusammengefasst werden, bevor diese auf die philosophiehistorischen Überlegungen und die Darlegung seiner metaphysischen Konzeption in den ersten beiden Teilen dieses Kapitels bezogen werden. In seinem Essay »Religion und ›Tatsachenwahrheit‹« aus dem Jahre 1986 thematisiert Spaemann vor dem Hintergrund einer pantheistischen Religiosität, »die der Welt eine bestimmte Tiefendimension gibt«, den spezifischen Wahrheitsanspruch der Schöpfungsreligionen: Gott wird hier nämlich als freie Subjektivität gedacht und insofern als Maß für die Wahrheit unseres Glaubens, ein Maß, das von diesem Glauben selbst ganz unabhängig ist. Was der Schöpfungsglaube glaubt, ist, daß diese Tiefendimension der Welt nicht bloß darin besteht, daß in der Welt Subjekte leben, die die Welt auf eine bestimmte Weise erleben und erfahren, sondern daß umgekehrt diese Erfahrung ihren Grund darin hat, daß der Welt vorauf eben diese Tiefe einer unendlichen Freiheit liegt. […] Die Schöpfungsreligion, die Gott als freie Subjektivität denkt, denkt Gott so, daß er selbst das Maß dafür ist, ob unsere Rede über die Tiefe der Welt wahr ist oder nicht. Die Wahrheit des Schöpfungsglaubens ist daher nicht daran gebunden, daß sie geglaubt wird. Dieser Glaube glaubt nämlich ein Subjekt, das selbst weiß, ob es die Welt geschaffen hat oder nicht. 8
Schöpfungsreligionen denken das Verhältnis des Menschen zu Gott im Unterschied zu pantheistischen Religionen als Verhältnis freier Subjekte, in dem es aus der Sicht der menschlichen Subjekte kein anderes Wahrheitskriterium für die Existenz des göttlichen Subjektes gibt als die Existenz der von ihm geschaffenen Welt selbst, die ihrerseits aber zum Glauben an ihren Schöpfer nicht zwingt, sondern diesen zu einem freien Akt macht:
7 8
Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 225–226. Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 171–173.
404 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
6.3.1 Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit
Offenbarungsreligion ist in einem bestimmten Sinne im Unterschied zu anderen Religionen »totale Religion«. Sie ist nämlich nicht Zurückführung von Tatsachenwahrheiten auf Vernunftwahrheiten, sondern sie ist umgekehrt die Verwandlung der Welt als ganzer in eine Tatsachenwahrheit. […] Insofern wird die Kontingenzerfahrung auf eine unüberbietbare Weise radikalisiert. 9
Tatsachenwahrheiten lassen sich etwa im Christentum insofern nicht auf Vernunftwahrheiten zurückführen, als Gott sich nicht in konkreten Erscheinungen in der Welt zeigt, sondern die Welt insgesamt »als ›zufällige Geschichtswahrheit‹ […] auf eine freie Handlung Gottes« 10 zurückgeführt wird. Die menschlichen Subjekte wiederum, die ein göttliches Schöpfer-Subjekt denken und damit die gesamte Welt als kontingentes Faktum begreifen können, verfügen über eine reflexiv gewendete Selbsttranszendenz, durch die sie sich selbst als kontingentes Sosein (essentia) erfahren, zu dem sie sich durch ihre Existenz (esse) noch einmal in ein Verhältnis setzen. Dass der Gedanke der Selbsttranszendenz bzw. der Realdistinktion von esse und essentia im Mittelalter aus dem Bemühen entstand, aristotelisches Denken und christlichen Glauben miteinander zu verbinden, wurde oben im Zusammenhang mit der Geschichte des anthropologischen Dualismus dargelegt. 11 Durch Descartes wurde dann in der neuzeitlichen Philosophie eine spekulative Theorie der Selbsttranszendenz entwickelt, 12 die exakt den oben dargelegten Grundgedanken der Schöpfungsreligion als Verhältnis freier Subjekte abbildet. Gegenüber der mittelalterlichen Philosophie wurde bei Descartes der Ausgang der Philosophie vom Subjekt zum ersten Mal in begrifflicher Schärfe gedacht, wobei allerdings der konstitutive Bezug auf die teleologisch verstandene natürliche Substanz fallen gelassen wird. Das Subjekt, um das es geht, ist eine res cogitans, die mit dem Körper nur durch göttliche Vermittlung verbunden ist. Descartes’ spekulative Theorie der Transzendenz wurde, wie gesehen, durch eine »Theologisierung der Ontologie« 13 erkauft. In Bezug auf Descartes kann daher nicht die Rede davon sein, dass für die »WahrheitsansprüSpaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 174. Ebd. 174. 11 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 12 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, bes. 350–351. 13 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139. 9
10
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
che der christlichen Religion […] als kognitives Interpretationsinstrumentarium eine Metaphysik« 14 gefunden wäre, sondern die Metaphysik transzendiert hier umgekehrt zur Theologie. Spaemanns metaphysische Konzeption wurde in Teilkapitel 6.2 dargelegt im Ausgang von der alternativen metaphysisch-analogen Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ und damit der reflexiv gewendeten Selbsttranszendenz, die sich von der cartesischen im Wesentlichen durch Wiedereinsetzung des in der frühen Neuzeit weggefallenen Lebens-Begriffes als analoger Aussageweise des Seins und damit durch die Rückkehr zum teleologischen Naturbegriff unterscheidet. Als Kern der metaphysischen Konzeption Spaemanns zeigten sich dann die Begriffe der Anerkennung und der Repräsentation. Im Akt der Anerkennung von Sein überschreitet der Mensch seine bloße Natur, insofern diese in der Vernunft als Ausdruck der Teleologie menschlicher Natur erst zu sich kommt und andere Wesen sein lassen, d. h. ohne Reduktion auf ein Objekt für ein Subjekt wahrnehmen kann. Im natürlichen Bild des Menschen als zu solcher Anerkennung fähigen Wesens zeigt sich das Unbedingte, wird der Mensch zur Repräsentation des Absoluten. Der Gedanke des Absoluten wird hier als dritte Stufe der Negativität in der Seinsweise lebendiger Wesen verankert. 15 Die Rede vom Unbedingten bzw. Absoluten ergibt sich im metaphysisch-analogen Denken nicht auf spekulativem Wege wie bei Descartes, sondern aus einer Rückführung des Vernünftigen auf die Naturteleologie, für deren Berechtigung sich ein Gefüge guter Gründe anführen lässt, auch wenn hier aus den dargelegten Gründen eine strenge Beweisbarkeit nicht möglich ist. 16 Die mit der Selbsttranszendenz verbundene Auffassung der Welt im Ganzen als kontingentes Faktum erweist sich als anschlussfähig an religionsphilosophische Überlegungen. So schreibt Spaemann im Zusammenhang mit der Radikalisierung der Kontingenzerfahrung in den Schöpfungsreligionen: Die Welt im Ganzen als kontingentes Faktum sehen, das setzt die Antizipation eines Sinnes schon voraus, der dieses Faktum übergreift. Es ist schwer zu sehen, welche »innerweltliche Funktion« diese TransSpaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 225–226. Vgl. Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62, Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 382, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 392. 16 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 380–383. 14 15
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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
zendenz der Welt als Ganzes haben sollte, außer jener, in der Welt selbst deren Sinn zu vergegenwärtigen. Aber das ist selbst schon eine religiöse Antwort, denn es setzt voraus, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. 17 Dies »sehen« heißt für Wittgenstein, »an einen Gott glauben«. 18
Nach Spaemann ist nun gerade »die Struktur von Antizipation auf irgendeine Weise in der generellen Struktur der Natur vorgezeichnet« 19, die, weil sie keine Funktion mehr erfüllt, das Unbedingte in der Weise der Repräsentation vergegenwärtigt. Die um die Kerngedanken von Anerkennung und Repräsentation aufgebaute metaphysische Konzeption Spaemanns kann somit als mögliche Ausprägung des gesuchten kognitiven Interpretationsinstrumentariums für die Wahrheitsansprüche der christlichen Religion aufgefasst werden.
6.3.2
Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
In den »Moralischen Grundbegriffen« – der Buchausgabe von acht Rundfunkvorträgen zum Thema der philosophischen Ethik – geht es, wie Spaemann im Vorwort bemerkt, um »das Selbstverständliche« 20, über das es eigentlich nichts zu sagen gibt. »Wenn dennoch vom Selbstverständlichen immer wieder die Rede sein muß, so nur deshalb, weil es immer wieder bestritten wird.« 21 Entsprechend dieser Vorbemerkung variieren die Vorträge im Grunde immer wieder einen Grundgedanken und sind ansonsten der Entlarvung von Denkweisen gewidmet, die diesen in Frage stellen. Ausgehend von der Frage nach der Relativität von Gut und Böse hebt Spaemann vom mehrwertigen Gebrauch des Wortes ›gut‹ – »gut für jemanden in einer bestimmten Hinsicht« 22 – seine Verwendung »in einem ›absoluten‹ Sinn« 23 als Thema der philosophischen Ethik ab, womit er gleich zu Anfang eine de facto höchst umstrittene These als selbst17 Spaemanns verweist als Quelle auf: Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1960, S. 167. – Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 231. 18 Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 222. 19 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 34. 20 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 7. 21 Ebd. 22 Ebd. 12. 23 Ebd.
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verständlich ausgibt. Ein erstes Argument für die absolute Bedeutung des Wortes ›gut‹ entwickelt er im Rückgang auf die klassische Antike und den dort gefundenen Maßstab der φύσις 24, ohne an dieser Stelle die Problematik der Bezugnahme auf die Antike zu reflektieren. Aus antiker Sicht leitet er zunächst die Schlussfolgerung ab, dass das Wort ›gut‹ nicht im Sinne des naturalistischen Fehlschlusses »durch irgendeinen speziellen Gesichtspunkt« 25 ersetzt werden darf, sondern den Gesichtspunkt bezeichnet, »unter dem sich alle anderen Hinsichten ordnen, die uns veranlassen, dieses oder jenes zu wollen« 26. Denn eigentlich, das ist der nächste Schritt der Argumentation, geht es bei der ethischen Frage nach dem Sollen um das Wollen: »Wenn wir etwas sollen, dann heißt das, wir sollen es wollen.« 27 Und eben dies, »was wir eigentlich und im Grunde wollen und weswegen wir alles andere wollen und tun, was wir tun, nannten die Griechen das Gute oder das höchste Gut.« 28 Die Frage nach der Aktualisierbarkeit dieses antiken Denkens stellt Spaemann indirekt durch Bezugnahme auf Freuds »Begriffe Lustprinzip und Realitätsprinzip« 29, durch die eine nach seiner Überzeugung verzerrte Auffassung der Realität als »Hindernis unserer Lebenserfüllung« 30 suggeriert wird. Ausdrücklich gegen diese Sichtweise formuliert er dann in einer ersten Fassung den Grundgedanken, um den es in dem ganzen Buch geht: Wer verstanden hat, daß wir gerade Realität – Wirklichkeit – wollen, daß wir in dem Erlebnis der Realität und in der aktiven Auseinandersetzung mit ihr zu uns selbst kommen, der wird es anders sehen. Der wird verstehen, daß das Gute etwas damit zu tun hat, Wirklichkeit zu erfahren und der Wirklichkeit gerecht zu werden. 31
Hier ist deutlich der Grundgedanke einer Philosophie der Begegnung – die Vermittlung des Selbst durch das Begegnende – formuliert. Der Zugang zur Wirklichkeit ist dabei zunächst kein kognitiver, sondern ein affektiver: »Die Leidenschaft erschließt uns einen Wert oder Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 14. Ebd. 21. 26 Ebd. 20. 27 Ebd. 25. 28 Ebd. – Vgl. zu dem hier angedeuteten Gedankengang auch die wesentlich differenziertere Darlegung in Spaemanns Vortrag »Die zwei Grundbegriffe der Moral«, s. Abschnitt 5.3.2, Das Absolute in ethischer Perspektive, 304–313. 29 Ebd. 29. 30 Ebd. 31. 31 Ebd. 34. 24 25
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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
Unwert, aber sie verstellt uns gleichzeitig die Proportionen, in denen er gesehen werden muß.« 32 Die Werte der Wirklichkeit – verstanden als »Inhalte oder Gegenstände gerichteter Gefühle« 33 – stehen dabei nach Spaemann in einer hierarchischen Rangordnung, als deren »präzises Kriterium« er die »Intensität der Freude« 34 nennt, die sich aus der jeweiligen Wirklichkeitsbegegnung ergibt. Um die eigene Fähigkeit zur Freude zu steigern und damit höhere Werte wahrnehmen zu können, bedarf es der Bildung: Die Aufdringlichkeit von Werten steht fast immer in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Höhe. Gerade deshalb bedarf es einer gewissen Selbstdisziplin, um der höheren, das heißt derer, die die größere Freude machen, überhaupt ansichtig zu werden. Sie bedürfen erhöhter Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit aber ist Selbsttätigkeit. Alles aber, was mit Selbsttätigkeit verbunden ist, macht die tiefere und dauerhaftere Freude. 35
Insofern also der Grundgedanke der philosophischen Ethik, der Wirklichkeit gerecht zu werden, bedeutet, seine Interessen »durch den Wertgehalt der Wirklichkeit formen« 36 zu lassen, ist ein »weiteres Element des richtigen, des gelingenden Lebens« 37 die Bereitschaft, diese Interessen »allgemeinen Maßstäben [zu] unterstellen« 38 und von der eigenen subjektiven Perspektive zu abstrahieren: »denn die Wirklichkeit, der wir gerecht zu werden haben, das sind vor allem die anderen Menschen.« 39 Mit der Fähigkeit dazu ist nichts anderes als die Negativität des Erkennens bzw. die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz gemeint, 40 die hier mit dem Begriff des Gewissens in Zusammenhang gebracht wird: Das Gewissen ist die Gegenwart eines absoluten Gesichtspunktes in einem endlichen Wesen; die Verankerung dieses Gesichtspunktes in einer emotionalen Struktur. Weil dadurch im einzelnen Menschen selbst schon das Allgemeine, das Objektive, das Absolute gegenwärtig Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 43. Ebd. 37. 34 Ebd. 42. 35 Ebd. 36 Ebd. 48. 37 Ebd. 49. 38 Ebd. 48. 39 Ebd. 49. 40 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 392. 32 33
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
ist, darum sprechen wir von der Würde des Menschen und aus keinem anderen Grunde. 41
Mit dem Begriff des Gewissens ist keine über den ethischen Grundgedanken der Öffnung für die Wirklichkeit hinausgehende Hypostasierung des Absoluten im Menschen intendiert: »Gewissen ist der Ruf zur Aufmerksamkeit.« 42 Dieser Ruf ist unendlich und darum nicht erfüllbar, ihm entspricht auf menschlicher Seite die Liebe: Es ist eine Haltung der grundsätzlichen Bejahung der Wirklichkeit. Aus ihr entspringt ein universelles Wohlwollen, für das wir selbst nicht mehr im Mittelpunkt der Welt stehen, das sich aber sehr wohl auch auf uns selbst erstreckt: man muß mit sich selbst in Freundschaft leben, um gut zu leben. Gemessen an diesem Maßstab der Liebe allerdings sind wir alle nur bedingt gut. 43
Es besteht daher eine unaufhebbare Unzulänglichkeit des Menschen gegenüber der Wirklichkeit, der er immer nur teilweise gerecht werden kann, wobei diese Unzulänglichkeit als Kontingenzerfahrung bewusst ist, angesichts deren der aus der mittelalterlichen Mystik stammende Begriff der Gelassenheit für Spaemann die einzig vernünftige Antwort enthält: »Unter Gelassenheit verstehen wir die Haltung dessen, der das, was er nicht ändern kann, als sinnvolle Grenze seines Handelns in sein Wollen aufnimmt, der die Grenzen akzeptiert.« 44 Es geht Spaemann in »Moralische Grundbegriffe« nicht um eine metaphysische Fundierung seiner Thesen, sondern unter Berufung auf ein intuitiv Selbstverständliches um die theoretische Widerlegung von Argumentationen, die dieses in Frage stellen, und um praktische Aussagen zum gelingenden Leben. Daher hängen wesentliche, in diesem Text einfach gesetzte Prämissen gewissermaßen in der Luft, wenn man ihn isoliert betrachtet. Liest man die »Moralischen Grundbegriffe« jedoch vor dem Hintergrund der im vorigen Abschnitt dargelegten metaphysischen Konzeption Spaemanns, wird klar, dass diese Prämissen in ihr eine Fundierung finden. Ich greife zur Verdeutlichung hier nur die wichtigsten Prämissen und die ihnen entsprechenden Momente der metaphysischen Konzeption heraus. Als erste Prämisse kann die moderne Aktualisierbarkeit von Positio-
41 42 43 44
Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 75. Ebd. 86. Ebd. 94–95. Ebd. 104.
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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
nen der platonischen und aristotelischen Ethik genannt werden; aus ihr folgt der Grundgedanke der »Moralischen Grundbegriffe«, wonach die Wirklichkeit der modernen Ethik einen ebenso unverbrüchlichen Maßstab gibt, wie es die φύσις für die antike tat. Diese Prämisse wird, wie gesehen, von Spaemann methodisch durch die prinzipielle Reflexion auf das Problem der Antikenrezeption und inhaltlich durch die Deutung der Selbsttranszendenz als neuzeitliche Weise, wie die menschliche Natur in der Vernunft zu sich selbst kommt, begründet. Als zweite Prämisse kann angeführt werden, dass diese Wirklichkeit nicht als auf ein Subjekt bezogener transzendentaler Entwurf verstanden werden kann, sondern dass Wertqualitäten in ihr zunächst affektiv erschlossen werden müssen, bevor sie erst in einem zweiten Schritt diskursiv geordnet werden können. Diese Prämisse wird hauptsächlich durch das metaphysisch-analoge Denken und den Mittelbegriff des Lebens fundiert, durch die wiederum alle bewussten Setzungen des Menschen in einem primären Wollen verankert werden, das ihn mit anderen Lebewesen verbindet. Als dritte und wohl wichtigste Prämisse wäre schließlich die Setzung eines Absoluten zu nennen, die im Begriff des Guten bereits Ausgangspunkt der Überlegung war, im Kontext des Gewissensbegriffs wiederkehrt und aus dem Bezug zu dem schließlich die menschliche Kontingenzbejahung möglich wird. Diese fundamentale Prämisse findet in Spaemanns den Gedanken von Naturteleologie und Selbsttranszendenz verbindender Konzeption von Repräsentation und Anerkennung eine Fundierung, der aufgrund des konstitutiven Bezugs auf etwas Vorbegriffliches zwar keine stringente Beweisbarkeit zukommt, die jedoch ohne jeden theologischen Überbau als ein Gefüge direkt aus der conditio humana abgeleiteter Argumente für sich stehen kann. Abschließend sei auf eine Frage hingewiesen, auf die aus Spaemanns metaphysischer Konzeption nach meiner Auffassung noch keine Antwort ableitbar ist und die mit dem oben bereits erwähnten Problem des ›Sprungs‹ von der Genesis zur Geltung bzw. von der Natur zum vernünftigen amor benevolentiae verbunden ist. 45 Für das Verhältnis zur Wirklichkeit hat die Freude für Spaemann als intentionales Gefühl besondere Bedeutung, insofern sie gewissermaßen einen äußersten Rahmen darstellt, der nicht noch einmal von einem weiteren Zusammenhang funktional umfasst werden kann. Daher Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396–397.
45
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
habe es keinen Sinn zu fragen, was man von der Freude hat. »Von der Freude hat man nämlich nichts, sondern etwas von etwas haben, das heißt eben: sich darüber freuen. Mehr als Freude kann man nicht von etwas haben.« 46 Dieses fundamentale Verständnis der Freude könnte man als idealistische Überhöhung abtun und die Macht der Abstraktion entgegenstellen in dem Sinne, dass ein Wissen, wie jede Freude beliebig generierbar ist, mehr ist als bloße Freude. So kommentiert Mephisto im zweiten Teil des »Faust« das von ihm zum Zwecke grenzenloser Wunscherfüllungen am Kaiserhof eingeführte Papiergeld mit den Worten: Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt, Ist so bequem, man weiß doch, was man hat; Man braucht nicht erst zu markten, noch zu tauschen, Kann sich nach Lust in Lieb’ und Wein berauschen. 47
Die Entgegnung, wonach es hier nur um Lust, nicht um Freude gehe, könnte ihre Entkräftung in der Betonung des Interesses an der Wirklichkeit finden, das aber gegenüber dem kritisierten Begriff der Freude noch einmal beliebig gesteigert werden kann. Zu wissen, welche Freuden man sich jederzeit generieren kann, wäre in dieser Logik mehr als die bloße Freude, die man nur als Geschenk empfangen kann. Auch wenn also zugestanden würde, dass man nicht mehr als Freude von etwas haben kann, kann man doch, so der Einwand, immer noch mehr Freude haben. Um gegen diesen Einwand wirksam zu argumentieren, müsste ein Argument, das in den »Moralischen Grundbegriffen« erst anklingt, ausgebaut und systematisch entfaltet werden. Spaemann erwähnt »die Tatsache, daß kein Mensch sich über seine egozentrische Sicht der Welt völlig erhebt« 48, und spricht in diesem Zusammenhang von einer Schuld, die einen noch unbestimmten Status hat, »weil die Unaufmerksamkeit, die dem Bösen zugrunde liegt, gerade auf einer Verdrängung beruht« 49. Wie ich meine, liegt hier die Wurzel eines in Spaemanns ethischem Denken der 80er Jahre noch offenen Problems, das er dann in »Glück und Wohlwollen« durchdenken wird. Es zeigt sich hier eine gewisse Parallele zwischen den Grundproblemen der theoretischen und der praktischen Philosophie. Mit Bezug 46 47 48 49
Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 37. Goethe, Werke (HA), Bd. 3, 188 (Faust, 6119–6122). Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 96. Ebd.
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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
auf jene schreibt Spaemann: »Religionsphilosophie kann es nur geben als ›Theorie des Absoluten‹. Pascal hat gezeigt, wie funktionale Überlegungen bis zu dieser hypothetischen Einsicht führen können. Von dieser bis zur wirklichen Wahl dieses Rahmens oder besser: zu seiner wirklichen Evidenz ist immer ein Sprung.« 50 Mit Bezug auf die praktische Philosophie bemerkt er, wie oben bereits zitiert 51: »Man kann eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren. Sie führt sozusagen in unendlicher Approximation an ihn heran. Aber am Ende bleibt immer ein Sprung, ein plötzlicher Wechsel der Position« 52. In beiden Bereichen bedarf es, wie Spaemann betont, eines Sprunges. Im theoretischen Bereich ergibt sich diese Notwendigkeit aus der Nichtdeduzierbarkeit des Absoluten, im praktischen Bereich daraus, dass der Positionswechsel schon vollzogen sein muss, bevor er verstanden werden kann. Aus der in dieser Parallele erkennbaren Differenz könnte man folgern, dass das mit den Mitteln diskursiven Denkens nicht vollständig lösbare Problem der theoretischen Philosophie seine eigentliche philosophische Thematisierung erst in der praktischen Philosophie finden kann: »Ontologie und Ethik werden durch die Intuition des Seins als Selbstsein – des eigenen ebenso wie des anderen – uno actu konstituiert.« 53 Die im folgenden siebten Kapitel verfolgte These ist, dass Spaemann Ende der 80er Jahre genau diesen Schluss zog und daher in »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik« den Schwerpunkt seines Denkens in die philosophische Ethik verlagerte.
Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 229. S. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396–397. 52 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 130. 53 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11. 50 51
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Im Mittelpunkt des siebten Kapitels steht Spaemanns »Hauptwerk in Sachen praktischer Philosophie« 1, das 1989 in erster Auflage erschienene Buch »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik«, neben dem gelegentlich noch verschiedene Aufsätze aus der Zeit zwischen 1989 und Mitte der 90er Jahre herangezogen werden. An dieser Stelle sollen zunächst einige Bemerkungen erfolgen über das Verhältnis der im Weiteren zu entfaltenden Gedankenentwicklung zu der im vorangegangenen Zeitabschnitt, bevor auf die im Vorwort zu »Glück und Wohlwollen« benannten Vorzeichen eingegangen wird, unter denen Spaemanns »Versuch über Ethik« zu sehen ist und die Einblicke vermitteln in die leitenden Intentionen ihres Autors. Schließlich wird ein knapper Ausblick auf die geplanten Gedankenschritte gegeben. In seiner »Autobiographie in Gesprächen« antwortet Spaemann auf die Frage, was ihn zu seinem Buch »Glück und Wohlwollen« angeregt habe: Unbefriedigend fand ich immer, dass die Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben zwei ganz verschiedene Arten des Denkens ausdrücken. Man könnte die eine aristotelisch und die andere kantisch nennen. Bekannt ist der kantische Ausgang von der Ur-Erfahrung des Sollens. Ihm gegenüber wird der Einwand immer lauten: Ein Sollen, das den Pflichttreuen nur unglücklich macht, kann niemanden motivieren. Ein Leben unter dem kategorischen Imperativ »lohnt sich nicht«. Umgekehrt verhält es sich genauso. Wenn jemand offenbar ein glückliches Leben führt auf Kosten eines anderen, den er im Stich lässt und in dem er dadurch Verwüstungen anrichtet – wie will er das verantworten? Er hat ein schlechtes Gewissen – und wenn nicht, umso schlimmer. 2
1 2
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 275. Ebd. 251.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
»Glück und Wohlwollen« ist angesichts dieses Dualismus dem Versuch gewidmet, den antiken Begriff der εὐδαιμονία in einem solchen Sinn zu aktualisieren, dass dessen antagonistische Stellung zum Begriff der Pflicht aufgehoben wird. Somit wird die Gedankenbewegung, die im vorangegangenen Kapitel 3 als charakteristisch für Spaemanns Denken der 80er Jahre gekennzeichnet wurde, durch die leitende Intention von »Glück und Wohlwollen« fortgesetzt. Es geht um die zweifache Bewegung, in der zum einen auf die »klassische[…] Sicht« der antiken Philosophie als »unaufgebbare Entdeckung« 4 zurückgegangen wird, was aufgrund ihrer in Abschnitt 6.1.1 explizierten Fremdheit im Wesentlichen auf dem Weg der Negation möglich ist, in der zum anderen in der Gegenbewegung eine Aktualisierung zeitloser Aspekte jener klassischen Sicht unter neuzeitlichen Denkbedingungen versucht wird. Waren es zunächst die Begriffe Substanz und Bewegung (Teleologie), auf die sich in den 80er Jahren diese Denkbewegung konzentrierte, so ist es in »Glück und Wohlwollen« der Begriff der εὐδαιμονία. Spaemanns Überlegungen in seinem »Versuch über Ethik« gehen aus der Überzeugung hervor, dass der Gedanke der εὐδαιμονία in seiner allgemeinsten Fassung »als das unser Dasein konstituierende Um-willen« 5 eine anthropologische Konstante ist, der eine Aktualisierbarkeit eignen muss auch unter den Bedingungen eines Denkens, dem sich schwerwiegende Einwände gegen den historisch konkreten Begriff der Eudämonie ergeben. Für das Gelingen der Aktualisierung gibt so die kantische Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben zunächst ein negatives Kriterium, insofern ein Zurückbleiben hinter dem Sollen mit diesem Gelingen nicht vereinbar sein kann. Die Idee einer neuzeitlichen Aktualisierung der eudämonistischen Ethik entspringt der Intuition, dass entweder der Gegensatz zwischen dem aristotelischen und dem kantischen Denken ein scheinbarer oder eine philosophische Ethik überhaupt unmöglich ist. Im Kern besteht das aufgeworfene Problem somit in der Vermittlung zweier vermeintlich antagonistischer Ansätze: Der Wunsch nach Gelingen des eigenen Lebens kann der Ursprung der Idee der sittlichen Verantwortung nicht sein. Er kann allenfalls die Verwirklichung dieser Idee in sich aufnehmen. Aber die Evidenz bei3 4 5
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 330–331. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 17. Ebd. 21.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
der Lebensimpulse scheint prinzipiell verschiedener Herkunft zu sein. Wenn dieser Anschein der Wirklichkeit letztlich entspräche, wäre allerdings so etwas wie philosophische Ethik gar nicht möglich. 6
An sein Ziel gelangen kann das in »Glück und Wohlwollen« unternommene Projekt nur, wenn eine gemeinsame Herkunft der zunächst antagonistisch erscheinenden Lebensimpulse erweisbar ist und die Idee der sittlichen Verantwortung sich in das Streben nach εὐδαιμονία integrieren lässt. Bereits im Vorwort stellt Spaemann die Vorzeichen heraus, unter denen sein gesamter »Versuch über Ethik« zu sehen ist. Diese Vorzeichen betreffen eine bestimmte Perspektivierung des Gegenstandes der Untersuchungen, die auf den Einheitspunkt von theoretischer und praktischer Philosophie zielt und ihren lapidaren Ausdruck in der Feststellung findet: »Es gibt keine Ethik ohne Metaphysik«. 7 Es ist wichtig, sich schon zu Beginn der Beschäftigung mit den wichtigsten Gedankenlinien von »Glück und Wohlwollen« klarzumachen, um welche Art von Perspektivierung es hier geht, da sie das formale Prinzip der gesamten Gedankenführung darstellt. Ausgangspunkt der Reflexion in der praktischen Philosophie ist eine bestimmte Weise subjektiver Wirklichkeitswahrnehmung, der eine objektive Geltung zugestanden wird und die Spaemann »Wahrnehmungsevidenz« 8 nennt. Da es hier um keine Vergegenständlichung der Wirklichkeit aus subjektiver Perspektive geht, wird der theoretische Zweifel an dieser Evidenz von vornherein ausgeschlossen. Als »Basis aller Ethik« erscheint die »Evidenz der Wirklichkeit des Anderen« 9, die eine »Verpflichtung ihm gegenüber« 10 hervorbringt: Und die Erfahrung dieser Verpflichtung ist letzten Endes nichts anderes als jene Wirklichkeitserfahrung. Denn diese wiederum ist nichts rein Theoretisches. Rein theoretisch haben wir nur qualitative Erfahrung, nie die Erfahrung von Existenz, von Selbstsein, also von dem, was gerade per definitionem nicht Gegenstand ist. 11
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 94. Ebd. 11. – Diese Aussage wird im Rahmen von »Glück und Wohlwollen« mehrfach wiederholt. Vgl. ebd. 132 u. 150. 8 Ebd. 132. 9 Ebd. 10 Ebd. 150. 11 Ebd. 150–151. 6 7
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Mit der Setzung dieses Ausgangspunktes ist eine wesentliche Vorentscheidung getroffen, insofern der zentrale Grundgedanke der in Kapitel 6 entfalteten metaphysischen Konzeption Spaemanns – die Anerkennung von Selbstsein als Repräsentation des Absoluten 12 – als nicht begründungspflichtig unterstellt wird, obwohl dort doch von ihm selbst betont worden ist, dass es eines Sprunges bedarf, um zu ihm zu gelangen. In »Glück und Wohlwollen« nun wird für ihn eine unmittelbare Evidenz in Anspruch genommen, die jeder Forderung nach einem Beweis übergeordnet ist. Dieser bemerkenswerte Sachverhalt bedarf hier einer näheren Betrachtung. In seiner »Autobiographie in Gesprächen« antwortete Spaemann auf die Frage, ob »metaphysische Überzeugungen beweisbar« sind: »Nicht beweisbar, aber begründbar, so wie das Widerspruchsprinzip nicht beweisbar ist, weil jeder Beweis es voraussetzt. Aber eben deshalb ist es wohl begründet.« 13 Worin, so ist also zu fragen, besteht die Begründung für diesen in »Glück und Wohlwollen« gewählten Ausgangspunkt seiner Untersuchungen? Letzte Instanz für die unmittelbare Evidenz, auf die Spaemann sich bei dieser Wahl beruft, ist das Gewissen: Die theoretisch unentscheidbare Frage nach dem, was »in Wahrheit ist«, wird an jenem Punkt entschieden, wo theoretische und praktische Philosophie, wo Metaphysik und Ethik ursprünglich eins sind, im Gewissen. Ich darf den Anderen nicht als bloße »Erscheinung« betrachten, wenn ich mir des Anspruchs bewußt werde, der von seiner Wirklichkeit ausgeht, und ich darf mich selbst nicht als bloße Erscheinung betrachten, wenn ich mich als Adressat dieses Anspruchs erfahre. 14
Denselben »Horizont des Unbedingten« 15, den das Wort ›sein‹ eröffnet – »insofern es gerade nicht meint: Gegenständlichkeit, Seinfür, sondern Selbstsein, das aller Objektivität zugrundeliegt« 16 –, eröffnet das Wort ›gut‹ – »insofern es gerade nicht meint ›gut für‹ und damit der Reflexion erlaubt, die weitere Frage zu stellen, ob es denn gut sei, daß das geschehe, was für diesen oder jenen gut ist« 17. Der innere Zusammenhang der Worte ›sein‹ und ›gut‹ in ihrer unbeding-
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 393–396. 13 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 282. 14 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 194. 15 Ebd. 112. 16 Ebd. 17 Ebd. 12
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
ten Bedeutung – und damit der Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik – ist in der Evidenz der Wahrnehmung fundiert, womit eine bestimmte Perspektivierung ihres Gegenstandes zum Prinzip der praktischen Philosophie wird: »Nur wo Seiendes als unbezüglich, als Selbstsein wahrgenommen wird, gewinnt der unbezügliche Gebrauch des Wortes ›gut‹ seinen Sinn.« 18 Diese erste Beobachtung, dass in einem publizierten und damit auf den philosophischen Diskurs ausgerichteten Werk über Ethik die argumentative Letztbegründung Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 112–113. – Vgl. dazu E. Levinas’ Konzept der ›Exteriorität‹ : »Weil es Gegenwart der Exteriorität ist, wird das Antlitz niemals Bild oder Intuition. Alle Intuition hängt ab von der Bedeutung, die nicht auf die Intuition zurückgeführt werden kann. Diese Bedeutung kommt von weiter als die Intuition, und sie allein kommt von weit her. Die Bedeutung, die nicht auf Intuitionen zurückgeführt werden kann, hat ihr Maß am Begehren, an der Moral und an der Güte – sie ist eine unendliche Forderung, die an mich gerichtet ist, oder Begehren des Anderen oder Beziehung mit dem Unendlichen.« – Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 431. – Ungeachtet der im Gedanken der Wahrnehmungsevidenz anklingenden Nähe Spaemanns zu Levinas’ Begriff der ›Exteriorität‹ zeigt sich in dem von Spaemann behaupteten Zusammenhang von Ethik und Metaphysik, die bei ihm ganz im Gegensatz zu Levinas ein Synonym für Ontologie ist – vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11 – zugleich das Trennende zwischen beiden Denkern. Im Vorwort zur zweiten Auflage von »Reflexion und Spontaneität« aus dem Jahre 1990 stellt Spaemann einen Zusammenhang zwischen dem Denken Levinas’ und dem amourpur-Streit her: »Inzwischen fordert Emmanuel Levinas mit einer jüdischen Variante des amour pur systemtheoretische Ontologie, naturalistische Philosophie des Geistes und die im Begriff der Sorge kulminierende Daseinsanalyse heraus. Seine These von der theoretischen Uneinholbarkeit des Anderen und vom radikalen Primat der Ethik vor der Ontologie setzt in kritischer Absicht das gleiche Paradigma der Selbstbehauptung voraus, von dem nun gesagt wird, es liege aller europäischen Ontologie zugrunde. Wenn es sich so verhält, dann wäre es in der Tat besser, die Wahrheit au-delà de l’être zu suchen. Mein Vorschlag, die Prämisse in Frage zu stellen und den Gedanken der Teleologie auf anfänglichere, nicht ›invertierte‹ Weise neu zu denken, ist bisher überwiegend auf höfliche Skepsis gestoßen. Ich sehe zwar nicht, wie ohne einen solchen Neuanfang die Dialektik der zwei Kulturen, die eskalierende Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus zum Stehen gebracht werden kann, die die Humanität unserer Zivilisation in der Tiefe bedroht. Aber noch übertrifft offenbar der Schrecken vor den theoretischen und praktischen Folgelasten einer solchen Revision die Sorge vor dem, was von selbst geschieht, wenn weiter gedacht wird wie bisher.« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 13–14. – Spaemann versteht Levinas’ Konzept der ›Exteriorität‹ selbst noch als dialektische Gegenbewegung gegen das durch die Invertierung der Teleologie freigesetzte ›Paradigma der Selbstbehauptung‹. Indem Spaemann die Prämisse der Entteleologisierung in Frage stellt, geht er hinter den Gegensatz von ›Selbstbehauptung‹ und ›Exteriorität‹ zurück und kann im Gegensatz zu Levinas in der Wahrnehmung des Anderen gerade den weiterhin unverlorenen Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik bzw. Ontologie sehen.
18
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durch den Verweis auf eine Wahrnehmungsevidenz als Prinzip der praktischen Philosophie ersetzt ist, führt dicht an den fundamentalen Ansatz von »Glück und Wohlwollen« heran, dessen Bedeutung noch klarer wird, wenn man ihn vor dem Hintergrund der ihn vorbereitenden philosophischen Entwicklung Spaemanns in den 80er Jahren betrachtet. Zweierlei fällt bei einer solchen Betrachtung auf. Insofern die metaphysische Konzeption Spaemanns in seinen Essays der 80er Jahre in den Begriffen der Anerkennung und der Repräsentation kulminierte, durch die ein ontologischer, wesentlich aus der Naturteleologie entwickelter Gedanke erst in einem intersubjektiven Begegnungsgeschehen seine volle praktische Bedeutung erlangte, 19 war die untrennbare Verbindung von Metaphysik und Ethik implizit auch dort schon mitgedacht. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Abschnitten der Entfaltung seines Denkens liegt dagegen darin, dass Spaemann erst in »Glück und Wohlwollen« diese Verbindung ausdrücklich reflektiert und sie zum Ausgangspunkt und zur gedanklichen Klammer seines gesamten »Versuchs über Ethik« macht. In diesem Nexus drückt sich gegenüber den vorangegangenen Essays eine veränderte Zielsetzung Spaemanns aus. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchungen im vorangegangenen sechsten Kapitel bestand darin, dass sowohl im Bereich der theoretischen als auch in dem der praktischen Philosophie jeweils die Notwendigkeit eines Sprungs konstatiert wurde, um in jener von der genetischen zur geltungstheoretischen Betrachtungsweise, um in dieser vom selfish system zum amor benevolentiae zu gelangen. Zum Abschluss des sechsten Kapitels wurde die Aufmerksamkeit auf die in dieser Parallele erkennbare Differenz gelenkt. Während im Bereich der theoretischen Philosophie der Gedanke der Anerkennung zunächst ein negativer ist, der gerade in einem Verzicht auf Erkenntnis besteht und zu positiven Aussagen nur über den analogen Begriff des Lebens gelangt, weswegen hier der prinzipielle Einwand, dass dieser Gedanke nicht auf einer clara et distincta perceptio aufbaut und nach einem Sprung verlangt, immer möglich bleibt, kann im Bereich der praktischen Philosophie eine unmittelbare Evidenz geltend gemacht werden, für die zwar auch keine Beweisbarkeit in Anspruch genommen werden kann, die sich aber gegenüber der Beweisforderung dadurch immunisiert, Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 393–396.
19
420 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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dass sie sich auf die Fundierung des die Beweisforderung einschließenden Denkens in einer vorgängigen Wahrnehmungsevidenz beruft. Im Bereich der praktischen Philosophie ist damit die prinzipielle Möglichkeit einer das diskursive Denken selbst noch einmal begründenden Argumentation denkbar. Dies allein ist noch nichts anderes als das, was sich bereits im kantischen Dualismus einer auf ihre Grenzen reflektierenden theoretischen und einer im sittlichen Gebot das Unbedingte denkenden praktischen Vernunft gezeigt hatte. Demgegenüber ist es der entscheidende Schritt, den Spaemann mit »Glück und Wohlwollen« gehen will, dass er in seiner spezifischen Perspektivierung die Identität von theoretischer und praktischer Philosophie zu denken versucht, wodurch die theoretische Aporie in eins mit dem sittlichen Schlüsselproblem des Solipsismus überwunden wird. Die wahrgenommene Evidenz von Selbstsein wird nicht nur zum Ausgangspunkt der praktischen Philosophie, sondern durch sie vermittelt auch zu einer Position der theoretischen Philosophie, indem der Gedanke des Sprungs zurückgewiesen, der Spieß umgedreht und die den Sprung erst nötig machende Beweisforderung aus dieser Perspektive suspendiert wird. Wesentlich für diesen Ansatz ist die durchgängig einheitliche perspektivische Ausrichtung aller gedanklichen Linien auf die Wahrnehmungsevidenz. Diese ist gewissermaßen der Nukleus aller Gedanken sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie: »Ethik geht so wenig der Ontologie als erste Philosophie vorauf wie diese jener. Ontologie und Ethik werden durch die Intuition des Seins als Selbstsein – des eigenen ebenso wie des andern – uno actu konstituiert.« 20 Um im Folgenden gemäß dieser veränderten Zielsetzung Spaemanns die zentralen Gedankenlinien von »Glück und Wohlwollen« nachvollziehen zu können, müssen daher mit der ethischen Konzeption des als Aktualisierung des Eudämonismus verstandenen Wohlwollens auch die von ihr nicht abtrennbaren ontologischen Implikationen beleuchtet werden. Letztlich geht es damit um die Prüfung der Leistungsfähigkeit dieses auf den Einheitspunkt von Ethik und Ontologie ausgerichteten Ansatzes und um die Reflexion auf seine Grenzen. Abschließend sei nun ein Ausblick gegeben auf die hier gewählte Struktur, mit der die für den Zusammenhang dieser Arbeit wesentlichen Gedankenlinien aus »Glück und Wohlwollen« dargelegt werden sollen. Die Untersuchung teilt sich zunächst in zwei Hauptteile, 20
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11.
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wobei die ethische Fragen thematisierende Schwerpunktsetzung des ersten gegenüber einer stärker ontologisch bzw. metaphysisch orientierten des zweiten im Widerspruch zu stehen scheint zu der hier als gedankliche Klammer ausgewiesenen Ausrichtung des gesamten »Versuchs über Ethik« auf den Einheitspunkt von Ethik und Ontologie. Diese Strukturierung ist aber dadurch gerechtfertigt, dass sich in »Glück und Wohlwollen« deutlich zwei Hauptzüge erkennen lassen, die sich auch im Wesentlichen in der von Spaemann vorgenommenen Gliederung seines Buches in zwei Teile widerspiegeln. Im Mittelpunkt vor allen Dingen des ersten Teils steht eine auf den Begriff der εὐδαιμονία hin ausgerichtete philosophiehistorische Untersuchung ethischer Konzeptionen im Wesentlichen von Platon bis Kant. Im ersten Hauptteil des vorliegenden Kapitels wird diese Untersuchung mit der dezidierten Konzentration auf die eingangs erwähnten antagonistischen Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben – die aristotelische und die kantische –, also im Hinblick auf Eudämonismus und Pflichtethik als wesentliche Orientierungspunkte nachvollzogen. Dabei kommt dieser philosophiehistorischen Untersuchung nach der hier vorgelegten Interpretation die doppelte Aufgabe zu, einerseits die im historischen Wandel und der Rezeption des εὐδαιμονία-Gedankens entstehenden Antinomien zu analysieren und zu deuten, andererseits die als Reaktion auf diese Entwicklung entstandene Pflichtethik vor dem Hintergrund der klassischen Sicht der εὐδαιμονία auf ihre Aporien hin zu untersuchen, wobei beide Linien auf die Notwendigkeit einer Aktualisierung des Eudämonismus bzw. auf seine Vermittlung mit der Pflichtethik hinauslaufen. Der andere Hauptzug von »Glück und Wohlwollen«, der vor allen Dingen im zweiten Teil hervortritt, unterscheidet sich vom ersten dadurch, dass er weit weniger philosophiehistorisch orientiert ist, sondern wesentlich in Fortführung der zunächst in »Natürliche Ziele« und danach in den Essays der 80er Jahre entfalteten metaphysischen Konzeption diese als möglichen Ansatz zur Entwicklung der gesuchten Vermittlung von Eudämonismus und Pflichtethik durchdenkt. Im zweiten Hauptteil des vorliegenden Kapitels wird daher in Anknüpfung an wesentliche Ergebnisse des fünften und sechsten Kapitels die Weiterentwicklung von Spaemanns metaphysischer Konzeption anhand einer neuen Untersuchung des Verhältnisses von bloßer Lebendigkeit und bewusstem Leben dargelegt. Der wesentliche neue Beitrag von »Glück und Wohlwollen« in diesem Zusammenhang wird anhand der Konzeption des Wohlwollens entwickelt, deren zentrale Bedeutung 422 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
für die praktische Philosophie Spaemanns durch die skizzierte Perspektivik seines »Versuchs über Ethik« umschlägt in eine ontologische. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht gleichwohl die von ihrem ontologischen Aspekt nicht trennbare Frage, wie das Wohlwollen im Rahmen der praktischen Philosophie als neuzeitliche Aktualisierung des antiken Eudämonismus verstanden werden kann. Nachdem diese beiden Hauptteile die für den hier verfolgten Zusammenhang wesentlichen Gedankenlinien von Spaemanns »Versuch über Ethik« dargelegt haben, widmet sich der dritte Teil einer abschließenden Betrachtung des spezifisch ethischen und des spezifisch ontologischen Beitrags von »Glück und Wohlwollen«. Zunächst wird nach der Bedeutung dieses »Versuchs über Ethik« nun ganz konkret im Rahmen des ethischen Diskurses der Gegenwart gefragt, wobei sein Verhältnis zum Utilitarismus und zur Diskursethik eine Rolle spielen wird. Zum anderen wird der metaphysische Gehalt von »Glück und Wohlwollen« auf seine Grenzen hin reflektiert, indem zum einen Textstellen thematisiert werden, an denen der Autor selbst Fragen stellt, die über den Rahmen des Buches hinausweisen, und zum anderen die Aufmerksamkeit auf das gewissermaßen unterbestimmt erscheinende Verhältnis von antiker und neuzeitlicher Philosophie gelenkt wird. Diese Überlegungen sollen den Horizont eröffnen für mögliche Weiterentwicklungen über den Rahmen dieses Kapitels hinaus.
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7.1 Eudämonismus und Pflichtethik
Der Nachvollzug der philosophiehistorischen Untersuchung vor allen Dingen im ersten Teil von »Glück und Wohlwollen« erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt geht es um den zentralen Begriff der εὐδαιμονία, zu dem zunächst der Weg gebahnt werden muss durch eine Problematisierung des Begriffs der Handlung: eine Unterscheidung mehrerer Bedeutungen dieses Begriffs und die Ausweisung des in diesem Kontext zentralen Sinnes von Handlung. Darauf aufbauend werden die wesentlichen eudämonistischen Thesen dargestellt und deren phänomenale Grundlagen expliziert. Die Problematisierung des Begriffs der εὐδαιμονία erfolgt anschließend anhand der mit ihm seit antiker Zeit verbundenen Missverständnisse, die, wie gezeigt wird, auch mit der neuzeitlichen Distanzierung von ihm zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund wird versucht, den formalisierten Allgemeinbegriff der εὐδαιμονία durch ein Gleichnis zu konkretisieren, wobei die Potentiale und Grenzen dieses Versuchs anhand der möglichen Übersetzungen des Begriffs verdeutlicht werden (7.1.1). Im zweiten Schritt geht es um die beiden entscheidenden klassischen Ausprägungen des Begriffs der εὐδαιμονία, die platonische und die aristotelische. Im Zusammenhang mit der ersten wird der Begriff des platonischen Intellektualismus expliziert und gezeigt, dass er nur bedingt geeignet ist, um die Position Platons zu charakterisieren. Eine Problematisierung des ekstatischen Charakters der platonischen Philosophie leitet über zur dezidierten Gegenposition des Aristoteles, die anhand der Unterscheidung verschiedener Begriffe der εὐδαιμονία zu einer Hermeneutik des Gelingens führt, in deren Mittelpunkt die Wirklichkeit der Polis steht. Die aristotelische Ethik wird als Kompromiss zwischen der radikalen Position Platons und der menschlichen Normalität gedeutet, durch die wesentliche Aspekte der von Spaemann verfolgten Konzeption des Wohlwollens vorbereitet werden (7.1.2). Ausgehend von einer als Ringen um eine mögliche Verortung des gelingenden Lebens verstandenen Geschichte der ethischen Reflexion in der Antike wird im dritten Schritt die durch den christlichen Einfluss verursachte »kopernikanische Wende des Eudämonismus« 1 thematisiert, als deren philosophische Konsequenz 1
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 85.
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7.1.1 Εὐδαιμονία
schließlich die Pflichtethik kantischer Prägung zu betrachten ist. Zur Erhellung dieses Übergangs werden vielfältige Bezüge zu älteren Überlegungen Spaemanns hergestellt, die in »Glück und Wohlwollen« weitgehend implizit bleiben, für das Verständnis der Zusammenhänge aber von Bedeutung sind. Abschließend wird das mit der kantischen Pflichtethik bezeichnete Auseinandertreten von Moral und Eudämonie anhand der Folgerungen problematisiert, die im 19. Jahrhundert aus ihm gezogen wurden, und die bleibende Aktualität der eudämonistischen Reflexionsform unterstrichen (7.1.3).
7.1.1
Εὐδαιμονία
Von Ethik überhaupt zu sprechen ist nur sinnvoll, wenn es Handeln gibt, das heißt, wenn »Handeln das ist, wofür der Handelnde es hält: die bewußte und willentliche Realisierung einer Absicht« und wenn »derjenige, der eine Handlung unter dem Aspekt ihres immanenten, also subjektiven Sinnes beurteilt, sie unter dem für sie wesentlichen Gesichtspunkt beurteilt« 2: Die moralische Beurteilung der Handlung bezieht sich auf den subjektiven Handlungssinn, das heißt auf das, was die Handlung zur Handlung macht. Sie betrachtet diesen Sinn als autonom, als solchen, der zu seinem Verständnis und zu seiner Würdigung keines weiteren Kontextes bedarf. Diese Autonomie des Handlungssinnes ist nur ein anderes Wort für das, was wir Freiheit nennen. Ist Autonomie des Handlungssinnes eine Illusion, so ist Freiheit es auch. Denn frei handeln heißt wissen, was man tut und warum man es tut. 3
Dass dieses »Selbstverständnis des Handelns […] heute auf eine Weise gefährdet« ist, »die in der bisherigen Geschichte ohne Beispiel ist« 4, führt Spaemann auf den praktischen Grund akkumulierter Folgen individueller Handlungen im technischen Zeitalter und auf den theoretischen Grund der funktionalistischen Deutung unseres Handelns durch die Wissenschaften zurück. 5 »Der erste, der sich diesem Problem des Gegensatzes von wissenschaftlicher Weltanschauung
2 3 4 5
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 186. Ebd. Ebd. 190. Vgl. ebd. 190–192.
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und Selbstinterpretation des Handelnden gestellt hat, war Kant.« 6 Dieser »glaubte im Unterschied zur gesamten vorkantischen Tradition, den gefährdeten Handlungs- bzw. Freiheitsbegriff nur noch durch die sittliche Erfahrung retten zu können« 7, also durch die Prüfung der Handlung auf ihre Konformität mit dem moralischen Gesetz. Die Problematik dieses kantischen Verständnisses der praktischen Vernunft wird an späterer Stelle thematisiert; zunächst kommt es darauf an zu sehen, dass die Rede vom Handeln keine von außen kommende Relativierung erlaubt, sondern eine konstitutive Unbedingtheit einschließt: In jeder Handlung, die ihrem Begriff entspricht, beziehen wir uns auf das Ganze der Wirklichkeit. Nur partieller Sinn ist in der Tat nur der Schein von Sinn. Handlung ist daher nur dann, was ihr Begriff meint und als was der Handelnde sie versteht, wenn Verstehbarkeit, Intelligibilität die umfassende Struktur der Wirklichkeit ist, wenn also der Satz wahr ist: »Im Anfang war der Logos«. 8
Erst unter dieser Voraussetzung wird es möglich, in Bezug auf Handlungen von Irrtümern bzw. Fehlern zu reden und verschiedene Bedeutungen von Handlung und des sie konstituierenden Handlungszwecks zu unterscheiden: Wir haben es nun also mit drei Bedeutungsstufen dieser Worte und damit auch des Begriffes »Fehler« zu tun: 1. dem »objektiven«, soziokulturell vorgeprägten Handlungsziel – dem finis operis, 2. dem subjektiven Ziel des Handelnden – dem finis operantis und 3. dem objektiv-subjektiven Ziel, dem Gelingen des Lebens. 9
Die erste Bedeutungsstufe zielt auf zweckrationales Handeln, das im Sinne des aristotelischen Begriffs der ποίησις 10 auf das Machen, die Herstellung von etwas zu einem bestimmten Zweck zielt. Hier ist die Bedingung des Handelns ein bestimmtes Können und das Nichterreichen des intendierten Zwecks ein Fehler. »Reines Machen ist indessen eine Abstraktion«, da in Wirklichkeit »jede poiesis eingebettet [ist] in eine praxis, jedes Machen in einen Lebenszusammenhang« 11.
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 193. Ebd. 198. 8 Ebd. 196–197. 9 Ebd. 19. 10 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140 a 1. 11 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 223. 6 7
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7.1.1 Εὐδαιμονία
Das subjektive Ziel des Handelnden als zweite Bedeutungsstufe bezeichnet die »im engeren Sinne moralische Dimension« des Richtigen, die »Dimension des verantwortlichen Umgangs mit der Wirklichkeit« 12. Formal betrachtet kann diese in einem bloßen Unterlaufen einer äußeren Zwecksetzung bestehen: »Der, der etwas absichtlich schlecht macht, erreicht nämlich in der Verfehlung des objektiven Zweckes gerade seinen subjektiven Zweck.« 13 Inhaltlich wird diese Dimension des Handelns bestimmt durch den »Umgang mit anderem Lebendigen«: Umgang nennen wir die Weise des Handelns, in der der Handelnde sich nicht allein Zweck ist und Zwecke setzt oder verfolgt, sondern in einem Wechselverhältnis mit Anderem steht, das in diesem Verhältnis sich in seiner eigenen Teleologie entfaltet und so als es selbst erscheint. Der Umgang enthüllt das, womit wir umgehen. 14
Ein Fehler auf dieser Stufe bedeutet, dem Anspruch eines Lebendigen, mit dem wir umgehen, nicht gerecht zu werden. Nun kann auf der dritten Bedeutungsstufe Handeln im Sinne von πρᾶξις noch einmal integriert werden in einen übergeordneten Zusammenhang und gefragt werden, inwiefern es zum Gelingen des Lebens als Ganzen beiträgt: »Der gute Techniker, der eine Bombe absichtlich schlecht macht, kann eben deshalb in diesem dritten Sinne besser sein und der gute Mediziner, der absichtlich krank macht, in diesem Sinne schlechter, nämlich als ›Arzt‹.« 15 In dieser dritten Bedeutung – der objektiv-subjektiven, wie Spaemann sagt – geht es im Unterschied zu den ersten beiden nicht um die bewusste Zielsetzung, sondern um das, was alle Ziele eines Menschen zu einem Ganzen integriert. Dieses Ziel ist das »des Menschen, insofern er Mensch und insofern er sittlich ist«. Im Unterschied zu den partikularen Zielen ist es nicht »gesetzt«, nicht »ausgedacht«, sondern immer schon vorgefunden als das unser Dasein konstituierende Um-willen, die eudaimonia. Dieses Ziel kann gar nicht absichtlich verfehlt werden. 16
12 13 14 15 16
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 223. Ebd. 20. Ebd. 224–225. Ebd. 20. Ebd. 20–21.
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Wohl aber ist es möglich, dass der Mensch sich irrt in Bezug auf dieses immer schon vorgefundene Umwillen 17 und dass seine subjektiven Handlungsziele zu ihm in einen Gegensatz treten. Bevor diese Problematik weiterverfolgt werden kann, muss nun der Begriff, mit dem in der antiken Philosophie dieses Umwillen bezeichnet wurde, in seiner Bedeutung entfaltet werden: εὐδαιμονία. Eudämonistische Ethiken sind im allgemeinen Verständnis solche, die in der Glückseligkeit das Ziel des menschlichen Handelns bzw. im Streben nach Glückseligkeit den Grund der Sittlichkeit sehen. Der Gedanke lässt sich folgendermaßen konkretisieren: »Alle Menschen möchten glücklich sein.« In diesem Satz drückt sich die gemeinsame Überzeugung aus, auf der alle antiken Lehren vom richtigen Leben beruhen, wie unterschieden sie im übrigen auch sein mögen. Alle Menschen wollen, daß ihr Leben gelingt. Weiter geht die zweite These, daß alle Menschen alles, was sie sonst wollen, letzten Endes um dieses Zieles willen wollen. Die dritte, im engeren Sinne »eudämonistische« These besagt dann, daß die Richtigkeit und Verkehrtheit menschlicher Handlungen sich letzten Endes danach beurteilt, ob sie geeignet sind, dieses Ziel zu fördern oder nicht. 18
Als Grundgedanke des Eudämonismus kann man also zunächst herausstellen, dass es eine hierarchische Überordnung eines Lebenszieles über partikulare Ziele gibt und dass diese sich nur am Maßstab von jenem beurteilen lassen. Spaemann weist auf die mit diesem Grundgedanken bereits gesetzten Implikationen hin: Er impliziert erstens, daß Leben überhaupt so etwas wie ein Ganzes sein kann oder daß es zumindest darum geht, es als ein solches Ganzes begreifen zu können. Er impliziert zweitens, daß das Verkehrte im moralischen, das heißt auf das »gemeinsame Ziel des ganzen menschlichen Lebens« bezogenen Sinn auf Mangel an Einsicht in die Bedingungen des Gelingens beruht. […] Die dritte Implikation schließlich ist, so scheint es, daß im moralischen Sinne schlechte Handlungen »falsche Handlungen« sind, also gar keine wirklichen Handlungen, weil wir mit ihnen nicht das tun, was wir tun wollen. 19
Spaemann benutzt in verschiedenen Texten im freien Wechsel die Schreibweisen ›Um-willen‹ und ›Umwillen‹. Hier wird, außer in Zitationen, durchgängig die Schreibweise ›Umwillen‹ benutzt. 18 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 32. 19 Ebd. 22. 17
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7.1.1 Εὐδαιμονία
Diese dritte Implikation, die bereits ein wesentliches Gegenargument gegen den Eudämonismus vorbereitet, würde zu der problematischen Konsequenz führen, dass es die »besondere Art der Verkehrtheit oder Schlechtigkeit, die wir ›böse‹ nennen« 20, nicht gäbe. Spaemann geht es in seinem »Versuch über Ethik« um beides: zu zeigen, wie diese Konsequenz die klassische antike Sicht verfehlt, 21 und zugleich zu untersuchen, durch welche veränderten Vorzeichen diese dritte Implikation zu einem Verdikt des Eudämonismus führen konnte. 22 Vor einer Auseinandersetzung mit Einwänden gegen den Eudämonismus soll es zunächst um eine positive Ausleuchtung des Begriffs εὐδαιμονία gehen, indem dessen »phänomenale Grundlage« 23 vergegenwärtigt wird: »Es ist die häufig erfahrbare Tatsache, daß sich, wenn wir etwas Gewolltes erreicht haben, das Gefühl einstellt, wir hätten das, was wir eigentlich wollten, doch nicht erreicht.« 24 Diese Grundtatsache kann in ganz verschiedenen Gestalten auftreten. Das Gewollte kann sich als Mittel zu einem weiterführenden Zweck als ungeeignet erweisen, so dass wir einen Fehler in der Mittelwahl begangen haben. Oder das Gewollte kann als unbedingter Zweck verfolgt werden, wobei man versäumt, »das Ziel in seiner Relativität zu sehen« 25, was erst im Erreichen nachgeholt wird. Auch »kann es geschehen, daß das Ziel erst, wenn es erreicht ist, sich in seinem wahren Wesen enthüllt« 26. Das Gemeinsame all dieser Erfahrungen ist »das Phänomen der Relativierung unserer Handlungsziele durch ein umgreifendes Wozu« 27, durch das sich ein Horizont unserer möglichen Handlungen eröffnet, der »unsere konkreten Einzelziele umgreift« 28 und in der antiken Sicht als εὐδαιμονία bezeichnet wurde: »Im Gedanken gelingenden Lebens konstituieren wir ein umfassendes Ziel, das es uns ermöglicht, gegenüber unseren verschiedenen HandlungsSpaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 22. Vgl. die Problematisierung des sogenannten ›platonischen Intellektualismus‹ in Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss, 435–445. 22 Vgl. die Unterscheidung von zwei Begriffen des Wollens im Kontext der deontologischen Ethik in Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 451–452. 23 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 32. 24 Ebd. 33. 25 Ebd. 26 Ebd. 34. 27 Ebd. 35. 28 Ebd. 20 21
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zielen die Freiheit der Disposition zu behaupten.« 29 Da die Entdeckung dieses Horizontes aber bereits in der Antike von verschiedenen Missverständnissen begleitet war, sollen diese nun vor einer weiteren Klärung der Frage, welche konkrete Bedeutung er für den Handelnden haben kann, betrachtet werden. Spaemann erörtert drei mit dem Gedanken der εὐδαιμονία zusammenhängende Missverständnisse, die eng beieinander liegen. 30 Zwei von ihnen stehen in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander, während das dritte als deren Fundierung verstanden werden kann. Das erste Missverständnis ist vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass Zwecke stets eine Selektion vornehmen: »Ein physisches Geschehen ist erst dadurch eine Handlung, daß aus der komplexen Folgenkette ein Ereignis oder wenige Ereignisse als Zwecke hervorgehoben oder ausdrücklich gewollt, alle anderen Folgen aber zu Mitteln, Kosten oder Nebenwirkungen herabgesetzt werden.« 31 Da die εὐδαιμονία als gelingendes Leben das alle Mittel, Kosten und Nebenwirkungen integrierende »übergreifende Maß« und damit inkommensurabel ist, kann sie nicht in diesem Sinn als Handlungszweck verstanden werden. »Denn es fehlt hier offensichtlich die selektive Funktion des Zwecks.« 32 Das Missverständnis, um das es hier geht, besteht gewissermaßen in der »Verkennung des Unterschieds zwischen eudaimonia und Geschäftsgewinn« 33: Für den Geschäftsmann ist dieser Gewinn ein Teil seines Lebens, das Gelingen des Lebens aber kann für den Menschen nicht im gleichen Sinne noch einmal Teil sein. Das spiegelbildlich dazu stehende zweite Missverständnis ergibt sich aus einer Umkehr der Blickrichtung. Die konkreten Handlungszwecke können »nicht zu bloßen Mitteln« 34 herabgesetzt werden, ohne den übergreifenden Zweck des Gelingens des Lebens dadurch zu entwirklichen: »Es gibt keine Handlung, die nur Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 35. S. ebd. 35–41. 31 Ebd. 36. 32 Ebd. 37. – Der klassisch verstandene antike Eudämonismus klammert die Möglichkeit einer egozentrischen Vorstellung vom Gelingen des Lebens aus. Vgl.: »[E]xterne Kosten für das Gelingen des Lebens« könnte es nur als Kosten geben, »die andere zu tragen haben in Gestalt einer Minderung ihres Lebens«. – Ebd. 38. – Dieser Einwand zielt aber am Grundgedanken des Eudämonismus vorbei, dem es gerade darum geht, »alle externen Kosten zu verinnerlichen und so den Begriff einer eudaimonia zu denken, die als Inbegriff des Gelingens keinen Preis mehr hat«. – Ebd. 33 Ebd. 38. 34 Ebd. 29 30
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durch die Absicht definiert wäre, das Leben gelingen zu lassen, ohne irgendeine besondere partikulare Absicht.« 35 Das Missverständnis, um das es hier geht, ist somit die »Instrumentalisierung der besonderen Inhalte des guten Lebens« 36. Demgegenüber ist es wichtig festzuhalten, daß die Inhalte des guten Lebens sich zu diesem nicht verhalten wie bloße Mittel, sondern eher wie die Teile zu einem Ganzen. Im ZweckMittel-Verhältnis ist der Zweck unabhängig von den Mitteln definierbar und bestimmt als solcher die Suche nach den Mitteln. Was ein gelungenes Leben ist, wissen wir hingegen nicht unabhängig von den Inhalten, die dieses Leben ausmachen. Diese Inhalte werden durch die Hinordnung auf ein solches Ganzes nicht zu »Mitteln« funktionalisiert und dadurch prinzipiell austauschbar gemacht. 37
Diese beiden Missverständnisse des Begriffs der εὐδαιμονία können als fundiert verstanden werden im »Doppelsinn des Begriffes ›Ziel‹, telos«, der im Rahmen dieser Arbeit zuerst bei der Betrachtung von Platon und besonders Aristoteles in »Natürliche Ziele« thematisiert wurde: 38 die Unterscheidung zwischen finis quo und finis cuius. Es geht dabei um die fundamentale Unterscheidung zwischen vom Menschen gesetzten Zielen und vorgefundenen Zielen: Bestimmte Handlungsziele verweisen zunächst auf fernere Ziele, um derentwillen sie als Mittel gewollt werden. Aber auch wenn wir ein letztes Ziel ins Auge fassen, bleibt immer noch die Differenz zwischen diesem und demjenigen, »dem zuliebe« wir das Ziel zu erreichen wünschen. Wenn wir das Gelingen des eigenen Lebens wünschen, so handelt es sich um ein äußeres Ziel. Wem aber, oder wem zuliebe wünschen wir die Erreichung dieses Zieles? 39
Die Antwort des Aristoteles besteht, wie oben bereits gesehen, 40 in der μέθεξις, der ›Teilnahme‹ am Göttlichen. Ein anderes Umwillen des übergreifenden Zieles des gelingenden Lebens ist nicht denkbar, Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 38. Ebd. 37 Ebd. 39. 38 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 231–232; Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277; Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 288–290, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 376. 39 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 35. 40 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 225–233. 35 36
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was hier als erster Hinweis auf die religiöse Dimension der Frage nach dem Gelingen des Lebens festgehalten werden sollte. 41 Die beiden zuerst erörterten Missverständnisse sind eine direkte Folge der Tatsache, dass der Gedanke des Gelingens des Lebens für den Menschen nicht noch einmal operationalisierbar ist, was darin begründet ist, dass es auf die Frage nach dem Umwillen dieses Gelingens keine andere als eine im weitesten Sinne religiöse Antwort geben kann. Das Erschließen der konkreten Bedeutung des mit dem Begriff der εὐδαιμονία eröffneten Horizonts für den Handelnden wird also dadurch erschwert, dass der begrifflichen Annäherung eine kaum überwindbare Abstraktheit anhaftet: »Der ›Eudämonismus‹ nennt nicht ein bestimmtes inhaltliches Um-willen des Lebens, sondern stellt eine bestimmte Reflexionsform dar, aus der ein solches Umwillen erst entspringt.« 42 Εὐδαιμονία ist ein »bestimmter, reflexiv gewonnener Inbegriff, der alles Wünschbare in seiner Vielfalt zu einer wünschbaren Ganzheit zusammenwachsen läßt« 43. Insofern also der begrifflichen Annäherung an ihn offenbar Grenzen gesetzt sind, wählt Spaemann zu seiner konkreteren Erhellung ein Verfahren, das Verhältnis von Handlungen und Handlungszweck in einem bestimmten Lebensbereich als Modell des Lebens im Ganzen zu verstehen: »Aber das Gelingen des Lebens hat vielleicht etwas damit zu tun, daß es uns gelingt, es als Ganzes nach Analogie eines Spiels zu verstehen.« 44 Konkret denkt Spaemann dabei an das Schauspiel, in dem »das Ganze von Handlung und Handlungszweck in Klammer gesetzt und als dieses Ganze ›gezeigt‹« 45 wird. Die Handlung, die der Schauspieler auf der Bühne zeigt, ist einerseits »konstituiert durch ihren unmittelbaren Zweck«, andererseits aber ist »dieser Zweck […] nicht mehr ihr Grund. Grund ist vielmehr, daß sie gesehen werden soll« 46. Das »tertium comparationis dieser Analogie von Leben und Schauspiel« 47 besteht nach Spaemann nun darin, dass
In einem neuen Licht erscheinen wird dieser Zusammenhang im Rahmen von Spaemanns Entwicklung des Begriffs Wohlwollen, s. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479. 42 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 21. 43 Ebd. 28. 44 Ebd. 41. 45 Ebd. 42. 46 Ebd. 47 Ebd. 41
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7.1.1 Εὐδαιμονία
jede Handlung, wenn sie aufs Gelingen des Lebens als ein Ganzes bezogen und von daher beurteilt wird, von der unmittelbaren Fixierung auf ihren Zweck abgelöst und mit diesem zusammen als Teil des Gelingens von etwas anderem betrachtet wird, einmal des Spiels und einmal des Lebens. Und dabei verlagert sich der Sinn der Handlung auf sie selbst, auf ihr Stattfinden. Dies wird wichtiger als der unmittelbare Zweck. Diese Verwandlung gilt in einem viel radikaleren Sinn für das Leben als für das Theater. 48
Wie das Handeln des Schauspielers ist jedes menschliche Handeln, das in seinem Bezug auf das Gelingen des Lebens betrachtet wird, letztlich symbolisch. 49 Es ist nicht nur bloßes Handeln, sondern immer zugleich auch ein rituelles: 50 Handlungen auf das Gelingen des Lebens als ganzes beziehen heißt, sie genau das sein und bleiben zu lassen, was sie sind, und ihre intentio recta nicht durch eine intentio obliqua, wie die des Zeigens im Theater zu »entwirklichen«. Es wird ihnen vielmehr eine neue, höhere Dimension hinzugefügt, durch die die intentio recta relativiert wird, ohne ihre Realität zu verlieren. Es kommt nicht mehr unbedingt auf die Erreichung des handlungskonstituierenden Zweckes an, sondern auf die richtige Handlung. Sie soll wirklich stattfinden, und nicht bloß ihr Schein. Denn beim Gelingen des Lebens geht es um einen absoluten Zuschauer, der durch keinen Schein zu täuschen ist. 51
Da diese Analogie von Leben und Schauspiel als die konkreteste Fassung des antiken Begriffs der εὐδαιμονία gelten muss, die Spaemann zu seiner Erhellung gibt, muss hier noch einmal gefragt werden, was diese Fassung leistet bzw. welche Fragen sie offenlässt. Einerseits ist dieses Gleichnis, wie man es mit einigem Recht nennen könnte, 52 solange als tertium comparationis die Ablösung der jeweiligen HandSpaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 42. Vgl. ebd. 142 u. 238, u. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 482–483. 50 Vgl.: »[…] jeder die sittliche Identität des Menschen begründende unmittelbare Bezug des Handelns ist ein symbolischer. Daher ist alles sittliche Handeln ein rituelles, also nicht rein zweckrationales Handeln.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 142. 51 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 43. 52 Vgl. folgende Erläuterung des Begriffs Gleichnis: »poetische Veranschaulichung eines Sachverhalts, Vorgangs, Gedankens durch Vergleichung eines analogen Vorgangs oder Zustands aus einem anderen, anschaulicheren, konkret-alltäglichen Lebensbereich, der sich […] nur in einem wesentlichen Punkt (tertium comparationis) einleuchtend mit dem Gemeinten berührt, so daß Sachsphäre und Bildsphäre wech48 49
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lungen von ihrer Fixierung auf Zwecke festgehalten wird, aussagekräftig, insofern anhand seiner sehr klar die oben dargelegten Missverständnisse abgewiesen werden können; andererseits aber legt es doch eine Übersetzung von Elementen der als Bildsphäre dienenden Theaterwirklichkeit in die ihr entsprechende Sphäre der Lebenswirklichkeit nahe, was zu fragwürdigen Konsequenzen führen würde. Denn das Schielen im Lebensvollzug auf den absoluten Zuschauer müsste ja doch die intentio recta der Handlungen entwirklichen. 53 Man müsste also erst ergänzen, dass, so wie der Schauspieler erst vollkommen spielt, wenn er vergessen hat, dass er spielt, der Mensch erst vollkommen lebt, wenn er den religiösen Lohngedanken überwunden hat; aber damit würde ja gerade die Pointe dieses Gleichnisses wieder aufgegeben. Diese Überlegung weist auf das Problem hin, das schon mit der von Spaemann gewählten Übersetzung des Begriffs εὐδαιμονία als ›Gelingen des Lebens‹ erkauft ist, denn »in dieser Übersetzung erscheint Leben wie eine objektiv zu lösende Aufgabe« 54, die durch die Außensicht auf das Leben entwirklicht zu werden droht. Die umgekehrte Problematik wird durch die übliche Übersetzung als ›Glückseligkeit‹ bezeichnet, die den Anschein erweckt, dass »es bei der Einschätzung des Lebens eigentlich nur auf die subjektive Perspektive des Einzelnen ankomme« 55. Beide Übersetzungen und die in ihnen enthaltenen Deutungen leisten insofern nicht, was sie sollen, und verfehlen den vollen Umfang ihres Gegenstands. Und so schließt Spaemann das mit »Eudaimonia« überschriebene Kapitel von »Glück und Wohlwollen« mit der Frage: »Was heißt eudaimonia?« 56
selseitig die Bedeutung erhellen, die ausdeutend direkt hinzugefügt wird«. – Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, s. v. Gleichnis. 53 Diese Problematik lag dem Streit zwischen Fénelon und Bossuet über den amour pur zugrunde, insofern jeder eudämonistische Lohngedanke aus Fénelons Sicht die reine Liebe zerstören müsste, welche Konsequenz Bossuet ebenso dezidiert ablehnte. – Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133–184. 54 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 44. 55 Ebd. 56 Ebd.
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7.1.2
Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
Zwei Ausprägungen des antiken Eudämonismus haben für Spaemanns eigenen Ansatz in der Ethik eine nachhaltige Bedeutung, die platonische und die aristotelische, die daher im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Die Annäherung an die platonische Ausprägung kann über die Problematisierung der Verkehrtheit von Handlungen erfolgen. Eine Handlung wird Fehler genannt, wenn mit ihr das Ziel der Handlung nicht erreicht wird. Ihr liegt eine falsche Annahme oder eine falsche Mutmaßung über die Wirklichkeit, also ein Irrtum zugrunde. Somit ergibt sich, dass die auf einer »falsche[n] Erkenntnis« beruhende Handlung eine »falsche Handlung« ist, also »etwas, was aussieht wie eine Handlung und auch als Handlung gemeint ist, in seinem Handlung-Sein aber mißlungen ist« 57. Dieses Verständnis der Verkehrtheit von Handlungen liegt dem »sogenannten ›Intellektualismus‹ der platonischen Philosophie« zugrunde, »nach der alles schlechte Handeln auf Irrtum beruht, so daß niemand freiwillig verkehrt handelt und also jede verkehrte Handlung den Charakter des ›Fehlers‹ hat. Richtiges Handeln und wirkliches Handeln wären demnach ein und dasselbe.« 58 In dieser Denkweise kann geradezu das Paradigma des Eudämonismus gesehen werden: Voraussetzung dieses Gedankens ist, daß es so etwas wie eine äußerste Handlungsintention gibt, ein letztes Um-willen all unseres Handelns, daß dieses Um-willen nicht das Resultat einer Option ist, sondern »von Natur« unser Aussein auf etwas bestimmt, daß wir uns indessen über das Wissen um dieses Um-willen und über die Mittel zu seiner Erreichung täuschen und deshalb etwas »Falsches« erstreben können. […] Das Falsche besteht darin, daß das, was wir für das letzte Umwillen des Strebens halten, es im Grunde nicht ist. Damit aber geraten wir in einen Widerspruch mit uns selbst. Wir wollen, was wir nicht wollen. 59
Um Spaemanns Haltung zu Platon zu verstehen, ist es wichtig, die Differenz zu sehen zwischen dem, »was an dieser klassischen Sicht unaufgebbare Entdeckung ist« 60, und dem, was sie aus ihrer inneren 57 58 59 60
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 16. Ebd. Ebd. 16–17. Ebd. 17.
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Logik heraus ausblendet. Einerseits ist Spaemanns gesamter »Versuch über Ethik« tief von einem platonischen Geist durchdrungen, dem er beispielsweise in der Aussage Ausdruck verleiht: »Platons These, niemand wisse das Gute, der es nicht wolle, trifft den Sachverhalt genau. Amor oculus est.« 61 Andererseits weist er darauf hin, dass in Platons Lehre kein Platz zu sein scheint für den Unterschied zwischen der Verkehrtheit einer Handlung aus Mangel an Einsicht, also Irrtum, und »anderen Formen der Verkehrtheit, wie Verirrung, Schuld, Verbrechen, Bosheit« 62. Es geht also um den Einwand, wonach eudämonistische Ethiken das Böse im Menschen ausblenden und damit, wenn sich dies bestätigt, offensichtlich zu kurz greifen. Nach Spaemann trifft dieser Einwand Platon nur bedingt. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Dialog »Hippias Minor«, in dem Sokrates im Gespräch mit dem Sophisten Hippias aus Elis über die homerischen Gestalten Achill und Odysseus zunächst die These widerlegt, wonach Achill der Wahrhaftige, Odysseus der Lügnerische sei, indem er zeigt, dass das Lügen die Kenntnis der Wahrheit voraussetzt und somit zwischen Achill und Odysseus kein Unterschied bestehe. Ausgehend von Hippias’ Zugeständnis führt Sokrates ihn über die Feststellung, dass auch Achill zumindest unabsichtlich lüge, zu der provokativen These: »Eines guten Mannes Sache ist es also, absichtlich Unrecht zu tun, eines schlechten aber, unabsichtlich« 63. Der absichtlich lügende Odysseus ist also besser als der unabsichtlich lügende Achill. Sokrates spielt hier zum Zweck der Bloßstellung des ›weisen‹ Hippias mit der Äquivokation von ›gut‹ einerseits im technischen – das absichtliche Verfehlen des Handlungszieles setzt das Wissen um die Verkehrtheit der Handlung voraus –, andererseits im moralischen Sinn – die Verkehrtheit der Handlung ist Folge eines Mangels an Wissen. Dabei zielt Platon als Pointe des Dialogs auf die Erkenntnis, dass, da ein absichtliches Verfehlen des Guten nach dem Grundsatz seiner Lehre nicht möglich, sondern das Verfehlen des Guten immer eine Folge von Nichtwissen ist, das sittlich Gute als das ›Schöne‹ (καλόν) sich nicht unterscheiden kann vom Guten als dem ›Zuträglichen, Förderlichen, Erstrebenswerten‹ (ἀγαθόν), dass lediglich in Bezug auf dieses ein Irrtum bestehen kann. Das absichtliche Verfehlen des Handlungszieles (Odysseus) kann also im Dienste des sittlich 61 62 63
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 151. Ebd. 17. Ebd. 18. – Vgl. Platon, Hippias Minor, 376 c.
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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
Guten stehen, andererseits kann der Irrtum (Achill) durch Belehrung überwunden und die Identität von ἀγαθόν und καλόν wiederhergestellt werden. Platons Intention geht nun daraufhin, zu zeigen, daß das Schöne nicht sekundär und aus irgendwelchen externen Gründen, sondern als es selbst »gut« ist, das heißt in unserem wahren Interesse liegt, ja dieses wahre Interesse definiert. Das Wort »gut« ist letzten Endes für Platon nur so lange äquivok, wie dieses wahre und ursprüngliche Interesse noch nicht zum wohlverstandenen Interesse geworden ist. Es dazu zu machen, ist Sache der Philosophie. 64
Am Beispiel des »Hippias Minor« lässt sich nach Spaemann somit zeigen, dass der Intellektualismus Platons »Theorie keineswegs hinlänglich charakterisiert« 65. Dieser Begriff enthält immer eine »pejorative Konnotation« im Sinne der »Überbetonung des Intellekts gegenüber Willen, Tat, Gefühl, Glauben« 66. Platon geht es aber nicht um ein intellektuelles Wissen, sondern um »einen emphatischen Begriff des Wissens«: »Er verstand unter Wissen jene Art von Evidenz des Guten, des Zuträglichen, die es dem Wissenden unmöglich macht, sich ihr in seinem praktischen Urteil über das, was jetzt und hier zu tun ist, zu entziehen.« 67 Charakteristisch für Platons Theorie ist daher, dass der intellektuelle und damit zugleich moralische Gesichtspunkt alle übrigen Gesichtspunkte – emotionale, voluntative, technische – immer schon integriert hat. Von außen betrachtet haftet der »Ekstase der Vernunft« 68, um die es Platon geht, allerdings immer etwas von der oben beschriebenen Abstraktheit des Eudämonismus als einer reinen Reflexionsform an: Platons These, daß niemand absichtlich das Schlechte tue, meint zunächst den rein formalen Sachverhalt, daß niemand absichtlich gegen die Grundstruktur von Absichtlichkeit handeln kann, ohne den Handlungscharakter seines Handelns aufzuheben. Es ist unmöglich, so ist der Gedanke, das Ziel des gelungenen Lebens nicht zu wollen. Es gibt kein Motiv, das uns dazu bewegen könnte, denn sollte uns etwas dazu bewegen, alle übrigen Ziele zu opfern, dann bildet gerade dieses Etwas
64 65 66 67 68
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 18. Ebd. 17. Borsche, Intellektualismus, in: HWPh IV, col. 442. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 82. Ebd. 75.
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offensichtlich einen wesentlichen Bestandteil dessen, was wir als gelungenes Leben ansehen. 69
Wenngleich Spaemann also den Vorwurf des Intellektualismus gegenüber Platon auf der einen Seite relativiert, sieht er in der für seine Lehre charakteristischen Ausblendung der Normalität der menschlichen Existenz doch ein ernsthaftes Problem: »In seiner radikalen Form ist der Eudämoniebegriff wesentlich überschwänglich.« 70 Als notwendiges Korrektiv der platonischen Sicht begreift Spaemann daher die aristotelische Ausprägung des Eudämonismus, auf die nun hingelenkt werden soll. Die von Spaemann zur Erhellung des Begriffs εὐδαιμονία bemühte Analogie zwischen Schauspiel und Leben hatte zum Ziel, ein Mittleres zwischen zwei Verfehlungen des gelingenden Lebens als Idealvorstellung zu bezeichnen, die Mitte zwischen dem Aufgehen in der »besinnungslose[n] Absolutheit« 71 der Handlungsintentionen auf der einen Seite, dem Entwirklichen der Handlungen durch die intentio obliqua ihrer Beziehung auf das Gelingen des Lebens auf der anderen. Beide Verfehlungen sind Formen der Unfreiheit, die ein Gelingen des Lebens verhindern: Unfrei ist einerseits derjenige, der sich in einem bestimmten Strebensinhalt so verliert, daß dieser für ihn unbedingt wird. Unbedingt aber wird dieser Inhalt, wenn er prinzipiell jeder Abwägung entzogen wird und der Handelnde für ihn jeden Preis zu zahlen bereit ist. […] Unfrei macht aber auch die Unfähigkeit zur Leidenschaft, zur ungebrochenen intentio recta, die Zwanghaftigkeit jener Reflexion, die von allen Inhalten des guten Lebens abstrahiert und diese allenfalls in der abgetöteten Form bloßer Mittel für einen guten Zweck existieren läßt, einen Zweck, der den Inhalten immer äußerlich bleibt. 72
Zwischen diesen beiden Unfreiheiten wird die »antinomische Verfassung des Gedankens der eudaimonia« 73 sichtbar, wobei die platonische Lehre als die Utopie verstanden werden kann, beiden Unfreiheiten dadurch zu entgehen, dass die Idee des Guten von allen bestimmten Strebensinhalten befreit und die Teilhabe an ihr gleichzeitig als höchste Form der Leidenschaft begriffen wird: 69 70 71 72 73
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 21. Ebd. 94. Ebd. 43. Ebd. 73–74. Ebd. 74.
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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
In dieser Teilhabe aber ist der Mensch seiner selbst nicht Herr. Sie ist eine Art Ekstase, eine Weise des Eros. Nicht im Sinne eines irrationalen Untertauchens, eines Außersichseins nach Art der poetischen Intuition, sondern als eine Ekstase der Vernunft selbst, die im Guten das berührt, was als äußerstes Umwillen aller Wirklichkeit die Vernunft selbst nicht ist, sondern das, was sie als ihren Grund und ihre höchste Möglichkeit ergreifen kann. Gelingen des Lebens heißt, sich von dieser höchsten Möglichkeit ergreifen lassen, und dieses Sich-ergreifenLassen heißt: Philosophie. 74
Der Gefahr des Abgleitens in eine der beiden Unfreiheiten entgeht nach der platonischen Lehre damit allein der Philosophie Treibende, und zwar durch eine äußerste Steigerung seiner menschlichen Möglichkeiten, wobei sowohl die Frage nach der individuellen Begabung als Voraussetzung einer solchen als auch die nach der Möglichkeit, sich dauerhaft in einem solchen Zustand zu halten, keine Beachtung finden. In bewusster Absetzung von Platon stellte Aristoteles diesem Maximalismus »die Herabminderung des Glücksanspruchs und die Überwindung der Antinomie durch den Kompromiß« 75 entgegen: Aristoteles hat den Gedanken des philosophischen Glücks nicht aufgeben wollen. Aber er hat gegen Platon eingewandt, das »Gute«, »Eine« und »Unbedingte« sei kein Maß, an dem das spezifisch menschliche Gelingen des Lebens sich orientieren könne. Aristoteles lehnt es ab, den Menschen als ein Wesen zu denken, dessen Leben nur gelingen kann, wenn es sich von dem Unbedingten, das es selbst nicht ist, ergreifen läßt und darin seine höchste Möglichkeit realisiert. So entwirft er in der Nikomachischen Ethik die Hermeneutik eines Gelingens, das sich an der Normalität, der conditio humana orientiert und an deren Zweideutigkeit teilhat. 76
Der Mensch ist ein zweideutiges Wesen durch das Spannungsverhältnis zwischen seiner lebendigen Natur und seiner Vernunftbegabung. Diese Zweideutigkeit zeigt sich im Nebeneinander einer Innenperspektive des Lebewesens und eines Blicks von außen auf dieses, deren Vermittlung problematisch erscheint. Überall, wo Aristoteles beginnt, über menschliches Glück nachzudenken, stößt er auf Paradoxien. So ist Glück einerseits das »Erlebnis von Glück« aus der Innenperspektive, andererseits nur von außen beurteilbares »Ge74 75 76
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 74–75. Ebd. 74. Ebd. 75.
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lingen« 77. Der Begriff des Glücks scheint zu zerfallen in zwei unvermittelte Aspekte, wenn keine andere als die utopische Vermittlung beider bei Platon gedacht werden kann. Die Antwort des Aristoteles auf diese Paradoxien besteht darin, daß er – im Unterschied zu aller sonstigen antiken Philosophie – zwei Weisen der eudaimonia unterscheidet. Die eine ist im eigentlichen Sinne menschlich, hält sich im Rahmen bürgerlicher Normalität und beruht auf einem Kompromiß. Die andere ist radikal im Sinne der Platonischen Vernunftekstase, und sie wäre vollkommen, wenn sie die conditio humana hinter sich ließe und von dieser nicht immer wieder eingeholt würde. 78
Aristoteles unterscheidet sich von Platon also nicht in der Bewertung der Philosophie als »Vergegenwärtigung des Immerseienden«: »Theoria ist selbstgenügsame, göttliche Tätigkeit und insofern eudaimonia, Glückseligkeit im äußersten Sinne.« 79 Ihm geht es aber im Unterschied zu Platon um die Einbeziehung der conditio humana und damit der oben erwähnten Fragen nach der individuellen Begabung und der Dauerhaftigkeit der Vernunftekstase, die bei diesem ausgeklammert sind. »Wenn Aristoteles […] gelingende theoria nicht mit Gelingen des Lebens gleichsetzt, so deshalb, weil die philosophische Kontemplation eben nicht das Ganze des menschlichen Lebens ausmachen kann.« 80 Um nun die Tragweite der aristotelischen Unterscheidung zwischen einer menschlichen εὐδαιμονία und einer unbedingten zu verstehen, ist es wichtig, sich die »zweifache[…] Rolle« zu vergegenwärtigen, »die die Vernunft im menschlichen Leben spielt« 81: Vernunft ist einerseits Organ der Lebensbewältigung, Organ, das unsere Praxis orientiert und strukturiert. Andererseits ist sie die Eröffnung einer Dimension der Wahrheit, des Guten, des Heiligen, des Unbedingten, einer Dimension, die verschwinden würde, wenn man sie als lebenspraktische Funktion im Dienste der Arterhaltung verstünde. Die Eröffnung einer solchen Dimension des Unbedingten, des Göttlichen durch die Vernunft veranlaßt aber Aristoteles, von ihr zu
77 78 79 80 81
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 75. Ebd. 76. Ebd. 83. Ebd. 84. Ebd. 76.
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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
sagen, sie sei nicht eigentlich ein Teil der menschlichen Seele, sondern komme »von außen herein« (De gen. anim. 736 b). 82
Der Hinweis auf die Herkunft der Vernunft von außen – θύραθεν – verdeutlicht, dass eine die Normalität der conditio humana berücksichtigende menschliche εὐδαιμονία nur auf einer praktisch vermittelten Vernunft aufgebaut sein kann. Die Antwort auf die Frage, was für Aristoteles eine Hermeneutik des Gelingens und damit die Überwindung der mit ihm verbundenen Paradoxien ermöglicht, ist daher die menschliche Gemeinschaft der Polis: Nur die Polis ist autarke Ganzheit, und nur in einem bestimmten Verhältnis zu ihr kann von einem richtigen und gelingenden Leben die Rede sein. Nur in diesem Verhältnis werden die anfänglichen Widersprüche dieses Gedankens zu einer – relativen und prekären – Versöhnung geführt. So vor allem der Widerspruch zwischen einer Beurteilung des Lebens aus der Innenperspektive des Erlebens einerseits und aus der Perspektive des Nutzens für andere andererseits. Der Bürger einer freien Polis lebt richtig, wenn sein Leben für seine Mitbürger, für die Erhaltung und das Wohlergehen der Polis nützlich ist. […] Der Bürger der freien Polis identifiziert sich mit der Polis so, daß die Nützlichkeit für sie zugleich seine eigene Befriedigung bedeutet. 83
Der Antagonismus von Leben und Vernunft im Menschen, durch den die Vermittlung von Innen- und Außenperspektive problematisch wird, lässt sich nicht nur durch die platonische Vernunft-Ekstase überwinden, sondern auch – orientiert an der menschlichen Normalität – durch ein bestimmtes Verhältnis zum anderen Menschen: Philia, Freundschaft, ist der Grundbegriff, der den Kern der politischen Philosophie des Aristoteles bildet. Für die Freundschaft aber ist es charakteristisch, daß die Innen- und Außenperspektive des eigenen Lebens miteinander verschmelzen. Da der Freund zu meinem Leben gehört, ist die Weise, wie er mich sieht, selbst Teil meiner eigenen Wirklichkeit. Und nur in dieser Verschmelzung kann das Glück liegen […]. 84
Der platonischen Überforderung des Menschen in einer dauerhaften Vernunft-Ekstase stellt Aristoteles somit eine im eigentlichen Sinne politische Philosophie entgegen, die neben der Entlastung des Einzel82 83 84
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 76. Ebd. 77. Ebd.
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nen auch die Überwindung der Antinomien bewirkt, die mit dem Gedanken eines gelingenden Lebens verbunden sind. Das Ideal einer Mitte zwischen der Intentionalität alles Handelns und seiner Beziehung auf den Horizont des Gelingens, das im Bild des Schauspiels vergegenwärtigt wurde, wird bei Aristoteles durch die Polis als das Medium verwirklicht, in dem die normale menschliche Tätigkeit sich bewegt: Menschliches Handeln ist intentional, und diese Intentionalität scheint durch die Selbstthematisierung des Handelns vernichtet zu werden. Andererseits scheint diese Selbstthematisierung doch unvermeidlich zu sein, wenn wir das Gelingen des Lebens überhaupt thematisieren wollen. Dieser Widerspruch hebt sich dann auf, wenn der Gegenstand der Intentionalität dem Handelnden so gegenübertritt, daß er in der Selbsttranszendenz zugleich bei sich bleibt oder zu sich zurückkehrt. Eben dies ist wiederum in der Polis der Fall. 85
Es muss nun noch näher betrachtet werden, wie die Vermittlung von Leben und Vernunft im Menschen durch die Polis konkret vorzustellen ist. Zwischen der Partikularität des Individuums und der Wirklichkeit der Polis vermittelt die Tugend als »Selbst-Inbesitznahme« des Einzelnen durch eine vernünftige »Antwort auf die Kontingenzen des Daseins« 86: »Vernunft allein gewährleistet Autonomie. Tugend aber ist jene auf Erziehung und Übung beruhende habituelle Disposition, die den, der sie besitzt, in Stand setzt, sich auf sich selbst als vernünftig Handelnden zu verlassen und gegenüber anderen für sich gerade zu stehen.« 87 Die in der Tugend begründete Autonomie des Einzelnen ist aber »selbst noch einmal kontingent« 88, da sie erst erworben werden muss durch »richtige Erziehung« 89 und damit von der Verwirklichung der Vernunft in der Polis abhängig ist. Richtige Erziehung setzt wiederum die Polis voraus, »gute Gesetze«, sagt Aristoteles. Das meint nicht nur geschriebene Gesetze, sondern das Ganze einer in Sitten, Gewohnheiten und Gesetzen sich vollziehenden gemeinsamen Lebensordnung. Eine solche auf Dauer gestellte gemeinsame soziale Praxis ist diejenige Bedingung normalen, richtigen Lebens, die dessen Paradoxien bis zu einem gewissen Grade aufhebt, nämlich soweit es die conditio humana überhaupt zuläßt.
85 86 87 88 89
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 78. Ebd. 79. Ebd. Ebd. 80. Ebd.
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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
Erst der lebendige Kulturzusammenhang ist es, der die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten ausdifferenziert und den einzelnen in diese Möglichkeiten hineinwachsen läßt. 90
Die Bedeutung der Polis besteht also wesentlich darin, Vernunft in einem menschlichen Maß zu realisieren: »Die Kontingenzreduktion durch die Tugend, die habitualisierte Vernünftigkeit wird ermöglicht und verstärkt durch die Kontingenzreduktion der von der Polis garantierten Normalität.« 91 Mit dieser Konzeption einer menschlichen εὐδαιμονία gelingt es Aristoteles zugleich gegenüber dem platonischen Intellektualismus eine Form der Verkehrtheit von Handlungen zu unterscheiden, die nicht auf Nicht-Wissen, also Irrtum beruht, sondern auf einer Schuld: »ein tadelnswerter Irrtum«. Dieser Begriff ist nur sinnvoll, wenn Irrtum hier etwas anderes bedeutet als eine falsche Meinung: Einsicht oder Verblendung, die dem Gelingen oder Mißlingen des Lebens zugrundeliegen, sind offenbar nicht adäquationstheoretisch als Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Wirklichkeit zu definieren. Und zwar deshalb, weil die Einsicht, um die es hier geht, ein Element der Wirklichkeit selbst ist. Die »Sache« selbst, das Leben ist reflexiv. Nur als ein seiner selbst bewußtes kann das Leben gelingen. Und die Erkenntnis der Bedingungen gelingenden Lebens muß sich selbst als die wichtigste Bedingung erkennen. Das aber heißt: Die Bedingung kann erst erkannt werden, wenn sie schon erfüllt ist, und umgekehrt: Wenn sie erfüllt ist, ist sie auch erkannt. Jene Stabilisierung der Antriebsstruktur, die erst so etwas wie Einsicht in die Bedingungen gelingenden Lebens ermöglicht, kann sich selbst nicht derselben Einsicht verdanken. Sie ist göttliche oder menschliche Gabe. 92
Einsicht besteht demnach darin, dass die Wirklichkeit gewissermaßen Teil des Menschen selbst ist bzw. das Selbst nicht verstanden werden kann ohne den Bezug auf die Wirklichkeit; umgekehrt besteht Verblendung in einer Nichtwahrnehmung dieses Zusammenhangs. Gelingen des Lebens kann nur von der Anerkennung von Wirklichkeit ausgehen. Im Falle der reinen εὐδαιμονία im Sinne der göttlichen Tätigkeit der θεωρία ist es göttliche Gabe, die von außen – θύραθεν – in den Menschen hineinragt, im Falle der gesellschaft-
90 91 92
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 80–81. Ebd. 81. Ebd. 23–24.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
lichen εὐδαιμονία ist es menschliche Gabe in Gestalt der Normalität stiftenden Polis. Die Bedeutung der Polis, die »Normalität stiftet und ermöglicht« 93, erinnert im Kontext der vorliegenden Arbeit an die entscheidende Bedeutung, die für de Bonald die in der Gesellschaft verwirklichte Vernunft über das vermittelnde sentiment für den Einzelnen hatte. 94 In Bezug auf die Gesellschaftstheorie de Bonalds hatte Spaemann festgestellt, dass das Funktionieren des gesellschaftlichen Mechanismus zur Selbstaufhebung der Vernunft führt. Es soll daher an dieser Stelle gefragt werden, wie die um den Polis-Gedanken aufgebaute Lehre einer menschlichen Eudämonie bei Aristoteles nach Spaemann dieser Konsequenz entgeht. Der entscheidende Unterschied zur Gesellschaftstheorie de Bonalds ist, dass Aristoteles den Menschen von seiner natürlichen Substanz her denkt und die in der Normalität der Polis verwirklichte Vernunft als eine Brechung der von außen – θύραθεν – in den Menschen hineinragenden göttlichen Vernunft versteht, wohingegen de Bonald die nur in der Gesellschaft verwirklichte Vernunft als Substanz des Menschen versteht, woraus die gesellschaftliche Funktionalisierung sowohl der Metaphysik als auch der Idee Gottes resultierte. 95 Aristoteles versteht den Menschen als animal rationale, als Lebewesen, das für die Vernunft offen ist, und die Normalität der Polis als den Kompromiss zwischen der menschlichen Bedingtheit und dem durch die Vernunft sich erschließenden Unbedingten. Aristoteles geht diesen Weg in bewußter Auseinandersetzung mit Platon, aber auch im Bewußtsein der unaufhebbaren Grenze dieser Normalität. Und im Bewußtsein der Tatsache, daß die Antinomien darin nur niedergehalten, nicht zum Austrag gebracht sind. Und wenn er es auch nicht ausspricht, so muß er es doch gewußt haben, daß er in dieser Normalität bereits eine »altgewordene Gestalt des Lebens« (Hegel) vor Augen stellt. Die kleine, überschaubare, auf Freundschaft der Bürger gegründete autarke Polis gehört in der Zeit Alexanders des Großen bereits einer idealisierten Vergangenheit an. 96 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 81. Vgl. Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds, 102–125. 95 Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstaufhebung der Vernunft, 118–121, u. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung der Bonald’schen Denkens, 121–125. 96 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 81. 93 94
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
Der dargelegte aristotelische Kompromiss war also bereits in der Zeit des Aristoteles, in der »die Polis ihre Normalität stiftende Kraft verloren hat« 97, ein philosophisches Postulat; für ihn aber ist »praktische Philosophie durchaus normativ und nicht nur deskriptiv« 98. Im zweiten Hauptteil des vorliegenden Kapitels wird sich zeigen, dass die für eine menschliche εὐδαιμονία konstitutive Normalität ein wesentlicher Gedanke ist, den Spaemann von Aristoteles übernimmt und der für die Möglichkeit einer neuzeitlichen Aktualisierung des antiken Eudämoniegedankens von zentraler Bedeutung ist.
7.1.3
Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
Der Begriff der εὐδαιμονία bezeichnet den »Horizont, der unsere konkreten Einzelziele umgreift« 99. Für Platon war ein Leben in diesem Horizont möglich durch eine »Ekstase der Vernunft« 100, in der die Teilhabe an der Idee des Guten gelingt. Aristoteles dagegen ging es um einen Kompromiss »zwischen ›reiner Vernunft‹ und ›praktischer Vernunft‹, zwischen Vernunft und Leben« 101, den er in der Normalität der Polis-Wirklichkeit fand. Εὐδαιμονία bedeutet für ihn ein bestimmtes Verhältnis zur autarken Ganzheit der Polis. 102 Bei allen Unterschieden eint Platon und Aristoteles ein teleologisches Verständnis des Menschen, dessen subjektives Ziel des Strebens nach Gelingen in dem alle Einzelziele umgreifenden Horizont eine objektive Grenze findet. »Das griechische Wort telos meint ja beides: Grenze und Ziel.« 103 Diese Verbindung ist im Hedonismus etwa Epikurs ebenso aufgelöst wie in dem als logische Konsequenz aus ihm hervorgehenden stoischen Gedanken der Selbsterhaltung. »Die Spannung zwischen Lustgewinn und Selbsterhaltung ist das Zerfallsprodukt einer teleologischen Sicht von eudaimonia« 104. Beide Richtungen tendieren zur Selbstaufhebung und scheinen damit den Gedanken vom Gelingen des Lebens zum Verschwinden zu bringen. Die Geschichte Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 82. Ebd. 99 Ebd. 35. 100 Ebd. 75. 101 Ebd. 84. 102 Vgl. ebd. 77. 103 Ebd. 66. 104 Ebd. 67. 97 98
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der ethischen Reflexion in der Antike lässt sich damit als ein Ringen um eine mögliche Verortung des gelingenden Lebens verstehen: Für Aristoteles ist die Polis jener Ort, der als Ersatz für die Ortlosigkeit (utopia) des absoluten Gelingens »menschenmögliches Glück« erlaubt. Seine Ethik ist Lehre von diesem Gelingen. Mit dem Ende der autarken Polis aber wird die Philosophie zur Lehre vom utopischen, absoluten Glück, sei es, wie bei Epikur, im radikalen Rückzug auf die Endlichkeit, sei es, wie in der Stoa, in der Fiktion des Weisen, der alle individuellen Interessen überwunden und sich als Medium reiner Vernunft mit dem Weltlogos identifiziert hat. 105
Eine »kopernikanische Wende des Eudämonismus« 106 wurde durch die christliche Antwort auf die Frage nach dem Gelingen des Lebens eingeleitet, weil sie im Unterschied zu allen antiken Lehren den Ort der Erfüllung überhaupt nicht in dieser Welt sieht: »Was wir als Inbild vollkommenen Glücks in uns tragen, läßt sich unter empirischen Bedingungen prinzipiell nicht adäquat realisieren. Es ist ein alle Erfahrung transzendierender Gedanke.« 107 Diese Wende verdient besondere Aufmerksamkeit; es muss gefragt werden, warum das Gelingen des Lebens unter empirischen Bedingungen, das im aristotelischen Kompromiss zumindest im Sinne einer »prekären Balance« 108 doch möglich war, unter christlichen Bedingungen prinzipiell unmöglich zu werden scheint. Zunächst sei in diesem Zusammenhang erinnert an ältere Überlegungen Spaemanns zu dieser Frage, die in vorangegangenen Kapiteln thematisiert wurden. Für Rousseau war das Christentum die Macht, die das politische Ideal der Polis zerstört hat, da das Christentum »die ›religion de l’homme‹ [ist], die den Menschen als Menschen freisetzt und zum Bürger des Universums macht« 109. Dem Wandel der Bedingungen menschlichen Denkens im Übergang von der Antike zur christlichen Zeit, der hinter dieser Freisetzung des Menschen steht, ging Spaemann zunächst in dem Essay »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« nach, wo er mit Bezug auf die aristotelische Philosophie feststellte, dass diese nicht vom Subjekt ausgeht. 110 Wenn dementsprechend eine AnSpaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 100. Ebd. 85. 107 Ebd. 108 Ebd. 99. 109 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 29. – Vgl. Abschnitt 5.1.2, Vom politischen zum natürlichen Ideal, 191–196. 110 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327. 105 106
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
näherung an das aristotelische Denken aus neuzeitlicher Sicht nur per viam negationis möglich ist, kann dies als Erklärung dienen, warum der im Begriff der εὐδαιμονία gedachte Zusammenhang des Subjektiven und Objektiven aus aristotelischer Sicht im Sinne einer prekären Balance als möglich, aus neuzeitlicher Sicht jedoch als Antinomie erscheint. Der Wandel von der klassischen antiken zur christlichen Sicht wurde von Spaemann in der Untersuchung der Geschichte des anthropologischen Dualismus im Wesentlichen in einer neuen Deutung der Vernunft gesehen, die im christlichen Verständnis nicht mehr von außen in den Menschen hineinragt, sondern Teil seiner Natur ist, wodurch der neue Dualismus des Natürlichen und Übernatürlichen entsteht. 111 Die im – gegenüber dem antiken Denken neuen – Ausgang vom Subjekt begründete Auffassung der Vernunft als Teil der menschlichen Natur eröffnet einen Horizont des Absoluten, durch den das Gelingen des Lebens sich nicht mehr aus dem Verhältnis zur Ganzheit der Polis, sondern nur noch aus dem Verhältnis zu Gott ergeben kann. Die menschliche Vernunft erfährt also eine wesentliche Umdeutung: Sie ist nicht mehr das von außen in ihn hineinragende Göttliche, sondern sie ist das natürliche Vermögen absoluter Selbsttranszendenz. Es ist wichtig, sich noch einmal klarzumachen, in welchem Sinne die Selbsttranszendenz als ein Signum christlicher Zeit erscheint. Selbsttranszendenz gehört als Streben nach μέθεξις, nach Teilhabe am Göttlichen, durchaus schon zur antiken Philosophie; neu an der christlichen Sicht ist hingegen die reflexive Wendung auf diese Selbsttranszendenz und damit der reflektierte Ausgang dieses Denkens von einem Subjekt der Selbsttranszendenz. Durch diesen Wandel des Denkens erhält die »Idee eines absoluten Gelingens« einen »wesentlich transzendentalen Charakter« 112, d. h. die Bedingung seiner Möglichkeit wird an die Realisierung von absoluter Selbsttranszendenz geknüpft. Der Ausgang des Denkens vom Subjekt eröffnet die »›exzentrische Position‹ (Helmuth Plessner)«, die es ermöglicht, »daß sich der Mensch das eigene Leben als ein Ganzes vorstellen kann. Der Blick, der es so vorstellt, ist wesentlich ein Blick von außen. Im unmittelbaren Erleben ist menschliches Leben immer ›Aussein-auf‹, immer ›Sich-vorweg-Sein‹.« 113 In111 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333– 334. 112 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 86. 113 Ebd. 86–87.
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sofern das Gelingen des Lebens abhängt von der Realisierung absoluter Selbsttranszendenz, die ihrerseits ein Gelingen in dieser Welt unmöglich werden zu lassen scheint, verwandelt sich die Verbindung von Subjektivem und Objektivem, die in der aristotelischen Ethik als prekäre Balance möglich war, in eine Antinomie: Weder die Innenansicht noch die Außenansicht kann offenbar so etwas wie Gelingen des Lebens definieren. Die Antinomie gründet darin, daß das menschliche Leben nur vom Ende und von Außen betrachtet zu einem Ganzen wird. Subjektivität, Für-sich-Sein aber geht gerade nicht in Gestalthaftigkeit, also in das »An-sich« ein, als welches das Dasein sich dem Blick eines Anderen darbietet. Die Antizipation der Eudämonie aber ist die Antizipation eines An-und-für-sich-Seins. 114
Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass diese Antinomie des Gelingens in Latenz auch in der klassischen antiken Philosophie gegenwärtig war; sie konnte jedoch latent bleiben, insofern der Handelnde »in der Selbsttranszendenz zugleich bei sich selbst bleibt oder zu sich zurückkehrt« 115. Unter christlichen Denkbedingungen dagegen scheint die Reflexion auf das Gelingen des Lebens das Auseinanderfallen der beiden Seiten des Für-sich und des An-sich unausweichlich zu machen. Bevor nun die Konsequenz, die in der neuzeitlichen Ethik aus dem Antinomisch-Werden des Eudämoniegedankens gezogen wurde, dargestellt wird, muss an den in Spaemanns Sicht zentralen Umbruch des Denkens an der Schwelle zur Neuzeit erinnert werden, nämlich die im Spätmittelalter einsetzende Invertierung der Teleologie, durch die der Gedanke, dass »die Natur im Menschen sich selbst übersteigt« 116, aufgegeben wurde. Der daraus folgende Schluss, dass es der Natur allein um die Selbsterhaltung geht, hat im Kontext der hier verfolgten Problematik der Antinomie gelingenden Lebens entscheidende Bedeutung. Im Rahmen eines teleologischen Denkens und, wie zu ergänzen ist, unter der Bedingung des Ausgangs vom Subjekt besteht die Antinomie darin, dass das subjektive Streben nach absolutem Gelingen seine objektive Erfüllung nur jenseits der Todesgrenze finden kann. Im Leben kann die Erfüllung nur antizipiert werden. »Die Existenz dieser Antizipation als desiderium naturale in uns legitimiert jedoch für Thomas die Gewißheit seiner Erfüllbarkeit. 114 115 116
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 87. Ebd. 78. Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 31.
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
›Denn die Natur tut nichts vergeblich‹ 117.« 118 Die Quelle dieser Gewissheit ist also die natürliche Selbsttranszendenz, als deren Organ im Menschen die Vernunft wirkt. Durch diese Vernunft, die die Verbindung des Menschen zu Gott herstellt, ist die Antinomie gleichwohl immer schon aufgehoben, so dass für ihre Deutung das Verständnis der menschlichen Vernunft von entscheidender Bedeutung ist: Die Innenperspektive, die Perspektive des Erlebens kann zu so etwas wie einem Ganzen des Gelingens nicht führen. Die Außenperspektive kann, indem sie etwas als Totalität vorstellt, diese gerade nicht selbst als Glück erleben. Der Gegensatz zwischen beiden ist nur der subjektive Modus der antinomischen Struktur endlicher Erkenntnis des fieri aliud inquantum aliud, des »Im-Anderen-bei-sich-selbst-Sein«. 119
Unter der Bedingung einer auf Gott gerichteten natürlichen Selbsttranszendenz ist die Struktur endlicher Erkenntnis lediglich insofern antinomisch, als sie immer nur eine Antizipation der jenseits der Todesgrenze möglichen Gottesschau (visio intuitiva) sein kann. 120 Fällt hingegen diese Bedingung weg, droht sie in einem radikalen Sinn antinomisch zu werden. Die subjektive Wahrnehmung erfasst die Wirklichkeit als gegenständliches An-sich, über das hinaus es zu einem anderen Für-sich-Sein nur durch Identifikation mit ihm und damit die Aufgabe des eigenen Standpunktes, denen natürliche Grenzen gesetzt sind, gelangen könnte; Erkenntnis des Anderen wird so zu einer Unmöglichkeit. Aber nicht einmal in Bezug auf das eigene Selbst ist die Einheit von Für-sich und An-sich erreichbar: Unser Erleben und die Selbstreflexion dieses Erlebens führen den Dualismus in den eigenen Lebensvollzug ein. Sie kommen nicht zur Deckung. Das Zur-Deckung-Kommen, die adaequatio rei et intellectus wäre gerade das Erlöschen der Reflexion. Und Erlöschen der Reflexion, Ekstase, reines selbstvergessenes Eintauchen in die Unmittelbarkeit des Erlebens ist denn auch seit jeher synonym mit dem Traum vollendeter Seligkeit. Aber gerade dieser Traum ist mit seiner Realisierung unvereinbar. 121 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles III, 48. 118 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 101. 119 Ebd. 88. 120 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung Spaemanns mit dem Thomas-Zitat »Dato enim per impossibile …« in Abschnitt 4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität, 161–166. 121 Spaemann, Glück und Wohlwollen, 88. 117
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Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist dieses Thema der antinomischen Struktur endlicher Erkenntnis bereits ausführlich bedacht worden im Zusammenhang mit Spaemanns unter dem Titel »Reflexion und Spontaneität« veröffentlichten Studien über Fénelon, 122 für den unter den Bedingungen einer invertierten Teleologie jede menschliche Reflexion vom amour propre beherrscht ist, der nur »durch den Tod jener um sich selbst kreisenden Natur« 123 überwunden werden kann. Die aus dieser Überzeugung hervorgehende dezidiert antieudämonistische Position Fénelons war darin begründet, dass jede Reflexion auf das Gelingen des eigenen Lebens den Menschen in diesen Grenzen einschließt und damit die Gottesliebe, die die eigentliche Aufgabe des Menschen ist, unmöglich macht. Wenn Spaemann sich nun in »Glück und Wohlwollen« im Kapitel »Die Antinomien des Glücks« wesentlich mit der Problematik bewussten Glücks beschäftigt, tritt dieses Thema der Reflexion erneut in den Mittelpunkt. Das Problem der Reflexion, die nicht identisch ist mit den Vorgängen, die sie reflektiert, die aber ihrerseits wiederum nur bewusst werden in der Reflexion, führt so das Nachdenken über das Glück in eine prinzipielle Aporie: […] Unmittelbarkeit wird erst für die Reflexion als Glück erfahrbar. Die Reflexion aber hebt die Unmittelbarkeit auf, indem sie auf sie reflektiert. Ekstase ist vollkommenes Glück nur als erinnerte Unmittelbarkeit, also im Nachhinein. Das heißt: es gibt dieses Glück überhaupt nur als »erinnertes«. Es wird erst zu so etwas wie Glück, wenn es nicht mehr ist. Vollkommenes Gelingen des Lebens wäre eine erfüllte Gegenwart, die nur als Zukunft antizipiert oder als Vergangenheit erinnert werden kann, also das gerade nicht, was ihren Begriff ausmacht: Gegenwart. Gegenwart ist außerhalb der Zeit. 124
Glück ist somit etwas wesentlich sich dem Begriff Entziehendes und diese Eigenschaft ist ebenso ursächlich dafür, dass es nicht direkt intendierbar 125 und ebenso wenig beherrschbar ist: »Glück als Erfüllung reißt das Subjekt auf einen unendlichen Weg, der unter Bedingungen der Endlichkeit vom Schmerz des Ungenügens untrennbar ist.« 126 122 Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133– 184. 123 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 57. 124 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 89. 125 Vgl. ebd. 130. 126 Ebd. 92.
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
Ausgehend vom zweiten Schlüsselbegriff im Titel der Studien über Fénelon kann dieser Gedanke noch in die andere Richtung gewendet werden. Das sich im Streben nach einer Beherrschbarkeit des Glücks ausdrückende Motiv ist das Verlangen nach einer »totalen endlichen Freiheit« 127 bzw. Spontaneität, die von einer analogen inneren Antinomie beherrscht ist: »Jede Verwirklichung von Freiheit ist zugleich ›Verbrauch‹ von Freiheiten. Wer sich alle Freiheiten bewahren will, darf keine Freiheit realisieren.« 128 Jeder Versuch, eine praktische Philosophie auf die Reflexion über das Gelingen des Lebens aufzubauen, scheint damit zum Scheitern verurteilt zu sein. Die Konsequenz, die aus dieser Einsicht in der neuzeitlichen Ethik gezogen wurde, muss nun zum Abschluss des philosophiehistorischen Teils der Darstellung skizziert werden. Die antieudämonistische Gegenposition der deontologischen Ethik hat ihren klassischen Ausdruck in der Philosophie Kants gefunden, für den repräsentativ der erste Satz aus der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« stehen kann: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« 129 Nun liegt auch dem Eudämonismus ein Wille, nämlich der zum Gelingen des Lebens zugrunde, weswegen hier zwischen verschiedenen Willensbegriffen unterschieden werden muss: Kant setzt den menschlichen Willen ausdrücklich vom »heiligen Willen« ab und erhebt so die Lutherische Lehre von der fundamentalen Verderbtheit der menschlichen Natur durch die Erbsünde zu einem anthropologischen Grundbestand und damit zu einem Gegenstand der Philosophie. Liebe kann in einer durch curvatio in seipsum gekennzeichneten Natur nur als verkappter Egoismus gedeutet werden. Luthers maledicta sit caritas findet hier seinen philosophischen Widerhall. Die letztendliche Konvergenz von Wohltun und Wohlergehen, die Kant im Begriff des höchsten Gutes denkt, kann daher nur »extrinsezistisch«, als äußerliche Verknüpfung von Moralität aus »Achtung fürs Gesetz« und Befriedigung der wesentlich egozentrischen Neigungen gedacht werden. Es ist klar, daß unter dieser Voraussetzung alle Moral korrumpiert würde, wenn sie von einem Lohnmotiv getragen wäre. Sie muß vielmehr ganz unabhängig von aller Reflexion auf eigene Glückseligkeit bleiben. Die Einbeziehung der 127 128 129
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 92. Ebd. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 18.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
letzteren ins »Höchste Gut« ist deshalb bei Kant nicht ein Bestandteil der Moralität selbst, sondern ein moralisch geforderter Glaube zur Stützung der Moralität. 130
Als »menschlicher Wille« wird bei Kant das thematisiert, was in der antiken und mittelalterlichen Philosophie weitgehend ausgeklammert worden ist: das Böse. 131 Der Begriff zielt darauf, dass schlechte Handlungen nicht aus Unwissen hervorgehen müssen, sondern gewollt werden können, und damit entgegen der platonischen Auffassung echte Handlungen sind. 132 Dagegen richtet sich der »heilige Wille« auf das Gesetz der praktischen Vernunft, das sich im kategorischen Imperativ ausdrückt. An die Stelle des Glücks als leitenden Begriffs tritt somit die Pflicht. Dabei ist es wesentlich festzuhalten, dass diese Pflicht sich gerade gegen den natürlichen Willen, also auch den zum Glück, durchsetzen muss. Gut ist eine Handlung nicht aufgrund eines als gut einzuschätzenden Resultats, sondern nur dann, wenn sie aus Pflicht geschieht. Diesem kantischen Gedanken liegt ein pessimistisches Menschenbild zugrunde, wonach der Mensch wesentlich egoistisch ist und selbst die Liebe nur ein Ausdruck dieses Naturtriebes ist, weswegen allein die vernünftige Selbstbestimmung als Gesetzestreue das Sittliche hervorbringen kann. Gleichwohl kehrt der Gedanke der Eudämonie bei Kant zumindest in der Form wieder, dass das vom moralischen Gesetz geforderte Handeln nicht im Widerspruch zum Verlangen nach Glück gedacht wird, wobei allerdings »die Kriterien zur Erlangung der Glückswürdigkeit sich nicht aus dem Gedanken des Glücks herleiten lassen, sondern unabhängig davon gewonnen werden« 133. Als Postulat der Vernunft weist die Verbindung von Glückwürdigkeit und Glückseligkeit über die Todesgrenze hinaus, womit die kantische Ethik der Antinomie des Eudämonismus entgeht. Der Preis dafür ist allerdings, dass die »konstitutive Einheit und Zusammengehörigkeit von gelingendem Leben und gerechtfertigtem Handeln« 134 sich auflöst. Dies führte in der Geschichte Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 104–105. Vgl.: »Thomas von Aquin verfügt sowenig wie Platon oder Aristoteles über eine Vokabel, um Böses von Schlechtem, oder von ›Übeln‹, zu unterscheiden.« – Spaemann, Einleitung (1990), in: Thomas von Aquin, Über sittliches Handeln, 7. 132 Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss, 435–436. 133 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 102. 134 Ebd. 105. 130 131
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
der Ethik zu problematischen Konsequenzen, die nun abschließend vergegenwärtigt werden sollen. Bereits im ersten Kapitel von »Glück und Wohlwollen« bemerkt Spaemann mit Bezug auf die Deontologie, »daß der Typus von Ethik, der sich von der Frage nach dem Gelingen des Lebens loslöst und den moralischen Gesichtspunkt konsequent ausdifferenziert, seit Nietzsche seine fraglose Plausibilität eingebüßt hat« 135. Diese Krise seiner Plausibilität führt Spaemann auf die zuletzt benannte Auflösung des Zusammenhangs zwischen Moralität und Eudämonie zurück, der von Kant zwar vorausgesetzt wurde, für den Handelnden aber keine Rolle spielen durfte. 136 Als erste Stufe der Kritik an der kantischen Pflichtethik bezieht Spaemann sich auf Schillers Unterscheidung zwischen der »moralische[n] Schätzung eines Menschen von der ›vollen anthropologischen‹ Schätzung« 137 in den »Briefen zur ästhetischen Erziehung« 138. Schiller geht es dort um die Abhebung des konkreten, auf einem die Natur einbeziehenden Menschenbild beruhenden Begriffs der Sittlichkeit von dem abstrakten kantischen. 139 Um dem Menschen gerecht zu werden und ihm nicht Gewalt anzutun, muss der Begriff der Sittlichkeit die natürliche Triebgrundlage und damit die Verbindung zwischen Glücksverlangen und Moralität einbeziehen, was, wie gesehen, bei Kant ausdrücklich nicht der Fall ist. Die Eigendynamik, die der kantische Ansatz in der weiteren Entwicklung in Gang gebracht hat, erläutert Spaemann an den Folgerungen Schopenhauers und Nietzsches: Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 29. Vgl.: »Nur ist ein reiner Begriff des Sollens, der in keinem vorausgehenden Wollen gründet, ein Gedanke, der sich selbst nicht behaupten kann. Er fordert seine Entlarvung heraus.« – Spaemann, Die Zweideutigkeit des Glücks (1990), 97. 137 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 29. 138 Vgl.: »Schiller unterschied in den ›Briefen über ästhetische Erziehung‹ zwischen der ›moralischen‹ und der ›vollen anthropologischen Schätzung‹. Jemand kann ein wohlgeratener Mensch sein und doch der Versuchung unterliegen, wortbrüchig zu werden. Jemand kann ein kümmerlicher Mensch oder ein Schlawiner sein und im entscheidenden Augenblick anständig bleiben und seinen Mitmenschen nicht im Stich lassen.« – Spaemann, Wer ist ein gebildeter Mensch? (1994), 515. 139 Vgl.: »Wenn also auf das sittliche Betragen des Menschen wie auf natürliche Erfolge gerechnet werden soll, so muß es Natur sein, und er muß schon durch seine Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden, als nur immer ein sittlicher Charakter zur Folge haben kann. Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nötigung greifen.« – Schiller, Ästhetische Erziehung, 4. Brief, Werke, Bd. 5, 576. 135 136
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
In aller Radikalität hat Schopenhauer den moralischen Gesichtspunkt von jedem eudämonistischen losgelöst. Schopenhauer verspottete Kant, der erst eine Ethik der Uneigennützigkeit lehrte, um dann am Ende doch die Hand für den Lohn aufzuhalten. Aber Schopenhauer war es auch, der die Konsequenz aus einer so verselbständigten »reinen« Moralität gezogen hatte: Er konstatierte ihre Lebensfeindlichkeit und bejahte sie. Das richtige Leben besteht für Schopenhauer in der Überwindung des Lebenswillens. Dieses Moralverständnis hat Nietzsche übernommen, dann aber gegen die Moral gekehrt. Nietzsche versuchte, den Gedanken gelingenden Lebens von allen Elementen zu reinigen, die traditionellerweise als ethische galten, das heißt vor allem von dem Verallgemeinerungsgedanken und dem Postulat der »Gerechtigkeit«. Nietzsches These war, daß mindestens die traditionelle Vernunftethik platonisch-stoisch-christlicher Prägung dem Gelingen des Lebens abträglich sei. Dies aber spricht für ihn nicht, wie für Schopenhauer, gegen das Leben, sondern gegen die Moral. 140
Schopenhauer und Nietzsche haben somit die folgerichtigen Konsequenzen gezogen, die in Kants Ansatz durch die Loslösung der philosophischen Ethik vom Eudämonismus bereits enthalten waren. Dass Kant selbst diesen Konsequenzen entgehen konnte, erklärt Spaemann dadurch, dass er den Zusammenhang von Glücksverlangen und Glückswürdigkeit doch nicht so radikal aufgelöst habe, wie es den Anschein hat: »Kants formale Fassungen des kategorischen Imperativs gewinnen nur Inhalt durch die stillschweigende Voraussetzung, daß der Wille als rationale Form des Triebes, als zu sich selbst gekommener Trieb verstanden wird.« 141 Dass es sich um eine »stillschweigende« Voraussetzung handelt, zeigt sich in der gegenläufigen Schlussfolgerung Kants: »Nach vergeblichen Versuchen einer Ableitung des kategorischen Imperativs gelangte er schließlich dazu, das Gewissen als unableitbares Faktum, als ›Faktum der Vernunft‹ wie einen erratischen Block in unserem sonst so anders strukturierten Lebensvollzug zur Kenntnis zu nehmen.« 142 Die Schlussfolgerung aus dieser Betrachtung der kantischen Pflichtethik und der durch sie in Gang gesetzten Entwicklung in der Geschichte der philosophischen Ethik besteht darin, daß die Autonomie einer philosophischen Ethik, die sich unabhängig vom Eudämoniegedanken zu konstituieren sucht, immer nur eine 140 141 142
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 29. Ebd. 117. Ebd. 30.
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
scheinbare ist. Sie wird von diesem Gedanken unvermeidlich wieder eingeholt, nun aber auf eine destruktive Weise. Sie scheint als eine sich selbst mißverstehende, lebensdienliche oder lebensfeindliche Ideologie. Diese Deutung destruiert die Dimension des Sittlichen, weil sie das vom Leben abgelöste Sittliche nun definiert durch den Bezug auf ein vor- und außersittliches, das heißt naturalistisch verstandenes Leben. Die außermoralische Betrachtung des Moralischen war ja gerade das große Postulat Nietzsches. In solchen Reduktionsversuchen wird immer vorausgesetzt, es gehe um das Gelingen des Lebens, und wir wüßten bereits, worin es bestünde. Aber der Biologismus, auch derjenige Nietzsches, ist weit davon entfernt, das zu wissen. Er hat davon nur die verschwommensten Ideen, und wenn seine Ideen präzisiert werden, sind sie leicht als falsch erkennbar. Die sittliche Dimension läßt sich nicht, weder in apologetischer noch in entlarvender Absicht, funktional aus einem Begriff vom Leben oder Lebensinteresse konstruieren, in welchem diese Dimension nicht immer schon mitgedacht ist. Jede solche Rekonstruktion konstruiert etwas anderes als das Sittliche, weil es dessen eigentümliche Unbedingtheit auf diese Weise gerade beseitigen muß. 143
Eine deontologische Ethik, die sich vom Eudämonismus radikal gelöst hat, ist demnach, so das erste Fazit aus dieser philosophiehistorischen Betrachtung, nach Spaemann nicht möglich: »Pflichten sind nur ein Teil unseres Lebens, und Pflichtgemäßheit ist nur ein Aspekt unseres Handelns und Unterlassens. Der Sinn dieses Aspektes läßt sich nicht aufklären, ohne daß wir ihn auf das Leben als ganzes und auf den umfassenden Aspekt seines Gelingens beziehen.« 144 Der Versuch einer Aktualisierung des antiken Eudämonismus, die das Anliegen der weiteren Gedankenentfaltung in »Glück und Wohlwollen« ist, muss sich, so das zweite, von Nietzsche angeregte Fazit der bisherigen Überlegungen, mit einem Begriff des Lebens auseinandersetzen, der die Dimension des Sittlichen und die mit ihr verbundene Unbedingtheit bereits enthält. Für einen solchen Versuch muss die philosophiehistorische Betrachtung im Folgenden verlassen und in Anknüpfung an die vor allem anhand der Aufsatzsammlung »Das Natürliche und das Vernünftige« im vorangegangenen Kapitel umrissene metaphysische Konzeption Spaemanns ein völlig neuer Zugang zu der zentralen Frage danach, was εὐδαιμονία heißt, gefunden werden.
143 144
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 30. Ebd. 31.
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7.2 Metaphysik und Gelingen des Lebens
Die Herstellung der Verbindung der im vorangegangenen sechsten Kapiteln umrissenen metaphysischen Konzeption Spaemanns mit der Frage nach dem Gelingen des Lebens erfolgt in drei Schritten. Zunächst wird die Frage nach dem Zusammenhang des Natürlichen und des Vernünftigen neu aufgegriffen und in mehreren Anläufen das Verhältnis von bloßer Lebendigkeit und bewusstem Leben neu untersucht. Dabei geht es wesentlich um die Frage, inwiefern die im sechsten Kapitel konstatierte Notwendigkeit eines metaphysischen Sprunges in dieser neuen Perspektivierung philosophisch aufgehoben werden kann. Die Überlegung wird dahin führen, dass diese Aufhebung zunächst nicht auf dem Gebiet der theoretischen, sondern vielmehr der praktischen Philosophie möglich erscheint, die von der durchschnittlichen Verfasstheit bewussten Lebens ausgeht und zu einer Einsicht von prinzipieller Bedeutung über die in Frage stehende conditio humana gelangt (7.2.1). Ausgehend von diesen anthropologischen Vorüberlegungen wird mit dem Wohlwollen bzw. dem amor benevolentiae der Hauptbegriff von Spaemanns »Versuch über Ethik« entfaltet, wobei die phänomenologische Analyse den Weg bereitet zur Erschließung eines interpersonalen Begegnungsgeschehens, dessen theoretische Bedeutung für Spaemann in der gesuchten Aktualisierung des antiken Eudämonismus besteht. Das somit erreichte gedankliche Zentrum von »Glück und Wohlwollen« wird im Sinne einer Metareflexion näher auf seine Bedeutung im Gesamtzusammenhang des Argumentationsganges befragt (7.2.2). Der dritte Abschnitt wendet sich der Paradoxie zu, die sich ergibt, sobald das Wohlwollen in seiner prinzipiellen Universalität als Haltung eines konkreten Individuums zur Welt gedacht wird. Über eine erneute Thematisierung des Problems der Reflexion und des teleologischen Lebensbegriffs ergibt sich eine Auflösung der Paradoxie im Begriff der symbolischen Handlung, der zum Gedanken der ›Brechung‹ der Universalität des Wohlwollens im ordo amoris und dem – angesichts der dennoch fortbestehenden Gefahr der Überforderung des Menschen durch die ihm zugedachte Aufgabe – entlastenden Gedanken der ontologischen Verzeihung führt (7.2.3). Die so insgesamt herzustellende Vermittlung zwischen der metaphysischen Konzeption Spaemanns und dem Gedanken des gelingenden Lebens liefert die 456 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
7.2.1 Conditio humana
Grundlage für eine allgemeine Betrachtung von »Glück und Wohlwollen« und die Eröffnung darüber hinausgehender Perspektiven.
7.2.1
Conditio humana
Um gegenüber der philosophiehistorischen Darstellung und der Analyse der antinomischen Struktur der εὐδαιμονία im ersten Hauptteil zum stärker systematisch orientierten zweiten Hauptteil überzuleiten, muss im Sinne des eingangs erwähnten Gedankens vom »Wesen des Denkens als Erinnerung« 1 ein Leitmotiv von Spaemanns Philosophieren vergegenwärtigt werden. Die Antinomie des Glücks, das erst im Bewusstsein als bereits vergangenes erfasst wird, bildet exakt das von Spaemann seit »Natürliche Ziele« reflektierte Verhältnis von bewusstem Leben und präreflexivem Lebensvollzug ab.2 Eine Verbindung der teleologischen Gedankenlinie mit der Frage nach dem Gelingen des Lebens verspricht daher eine neue Möglichkeit, der beschriebenen Aporie des Eudämonismus zu entgehen: »Die antinomische Verfassung unserer Intuition von Glückseligkeit, die anscheinende Unmöglichkeit, Gelingen des Lebens widerspruchsfrei zu denken, läßt die Frage nach der Verfassung eines Wesens entstehen, das nicht umhinkann, in diesen Widerspruch zu geraten, sobald es nachzudenken beginnt.« 3 Diese Verfassung, die als Spannung zwischen dem Natürlichen und dem Vernünftigen bereits Thema der Essays der 80er Jahre war, wird von Spaemann nun in »Glück und Wohlwollen« erneut durchdacht, wobei der Antagonismus von Vernunft und Leben Ausgangspunkt der Überlegungen ist. Was also bedeutet Leben, und was Vernunft? Leben heißt: Zentriertheit in sich, in einer organischen Mitte. Das Lebendige ist ein Innen, das sich gegen ein Außen abschließt. Es verwandelt das Begegnende in Umwelt und verleiht ihm auf diese Weise 1 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1967), 49. – Vgl. die Einleitung zum zweiten Teil, 88. 2 Vgl.: »Leben drängt gewissermaßen danach, bewusst zu werden. Und wo es bewusst wird, da wird es bewusst als ein Aus-Sein-auf, das allem bewussten Wollen und Zwecksetzen vorausgeht. Leben ist wesentlich, wie es das aristotelische to ti en einai sagt – ein Gewesensein dessen, was ist.« – Spaemann, Zum Begriff des Lebens (zuerst erschienen 1989 unter dem Titel »On the concept of life«; deutsche, leicht erweiterte Übersetzung 1994), 84. 3 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 110.
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Bedeutsamkeit. Indem es allem Begegnendem im Rahmen der eigenen Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung eine Bedeutung gibt, »versteht« es die Welt. Das schlechthin Unverstandene ist für das Lebendige nicht da. Für das vernünftige Wesen kehrt sich die Richtung um. Fieri aliud inquantum aliud ist eine alte Definition seines kognitiven Weltverhältnisses. »Das Andere als das Andere werden«, das heißt, es als Unverstandenes realisieren, als etwas, das zunächst nicht in meiner Welt Bedeutung hat, sondern das selbst Subjekt ist, für das es Bedeutung gibt. Vernunft beginnt mit dem Wissen, daß etwas existiert, wovon man selbst nichts weiß oder das man nicht versteht. Die Worte »sein«, »existiert« und »es gibt« eröffnen einen Horizont, dessen Umfang unendlich und dessen Mitte überall ist, also gerade nicht nur dort, wo ich selbst bin. In diesem Horizont zu existieren steht in einer unaufhebbaren Spannung zu der Tatsache, daß das vernünftige Wesen zugleich ein lebendiges ist, das fortfährt, im Mittelpunkt seiner Umwelt zu stehen und die Welt aus dem Gesichtspunkt seiner Sorge um das eigenen Seinkönnen zu deuten. 4
Diese Deutung von Leben und Vernunft ist angelehnt an einen Grundgedanken von Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie, die »exzentrische Position« 5, auf die Spaemann sich in »Glück und Wohlwollen« explizit beruft. 6 Um Spaemanns anthropologische Konzeption in ihrer vollen Tragweite zu begreifen, ist es nun notwendig, intensiv über das Verhältnis von Leben und Vernunft zueinander nachzudenken. Zunächst ist zu fragen, wie überhaupt der Übergang von Leben zu Vernunft vorgestellt werden kann: Wie kommt das Leben zur Vernunft? Die Antwort auf diese Frage kann ausgehen von folgender negativen Feststellung: »Der Gegensatz von Lebendigkeit und Vernünftigkeit, organischem Leben und Reflexion ist von der Art, daß es keine kontinuierliche ›Entwicklung‹ vom einen zum anderen gibt. Entwicklung ist eine Kategorie des Lebendigen.« 7 Wenn die Vernunft sich aus dem Leben nicht entwickelt, handelt es sich bei ihrem Erscheinen um ein plötzliches Ereignis, einen »ontologischen Sprung«, Spaemann spricht auch von »Bruch«, »metanoia« und »Umkehr« 8. Die von Spaemann zur Beschreibung des Übergangs
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 111. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, Gesammelte Schriften, Bd. 8, 190– 195. 6 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 86. 7 Ebd. 111. 8 Ebd. 113. 4 5
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gewählte Metapher des Erwachens des Lebens zur Vernunft unterstreicht die in diesem Sprung zu Tage tretende Paradoxie: In seiner durchschnittlichen Verfassung ist Leben nie voll erwacht. Aber andererseits können wir auch nicht sagen, die Vernunft schlummere oder sei nur halb erwacht. Wenn nämlich Vernünftigkeit, wie wir sahen, nicht ein Entwicklungsprodukt, sondern eine Richtungsumkehr ist, dann kann der Horizont, den Vernunft eröffnet, nicht allmählich sich eröffnen. Vernunft ist wesentlich Antizipation eines Vollendeten. Und als solche ist sie, wie die Aristoteliker sagen, »semper in actu«. 9
Vernunft eröffnet also, sobald sie da ist, einen »Horizont des Unbedingten« 10, wobei die Umkehr, in der sie wesentlich besteht, nur als plötzliches Ereignis begriffen werden kann, so dass die Frage nach dem Übergang vom Leben zur Vernunft zunächst unbeantwortet bleibt, da als Antwort nur jener Verweis auf eine Grenze des Denkens steht, auf die bereits die Untersuchungen im sechsten Kapitel hinausliefen. Um im Gedankengang weiterzukommen, muss daher die Fragestellung verändert und gefragt werden, wie weit die Bewegung vom Leben zur Vernunft gehen kann: Ist ihr Ziel eine reine Vernunft, die das Leben hinter sich gelassen hat? Spaemann verneint diese Frage in aller Deutlichkeit: Hinter dieser Antizipation einer immer wachen Vernunft bleibt das Leben zurück. Es kann nicht zu reinem Bewußtsein seiner selbst werden ohne dasjenige, wovon es Bewußtsein ist, zum Verschwinden zu bringen. Es kann sich nicht in einen reinen Blick auf sich selbst verwandeln. Auch hier gilt: »Wer alles durchschaut, sieht nichts.« Subjektivität ist zwar das Paradigma für jeden Begriff von Substanzialität, aber vollkommen in Bewußtsein aufgehobenes Leben, vollkommen zu Wille gewordener Trieb würde jene Leere sein, in der aller Inhalt verschwunden wäre. Menschliche, also endliche Vernunft ist auf Rezeptivität angewiesen. Sie kann sich nicht selbst zu denken geben. Rezeptivität aber setzt eine kausale, also gerade nicht begriffliche Beziehung zum Anderen, folglich eine Dimension der Unbewußtheit voraus. 11
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 116. Ebd. 112. 11 Ebd. 116–117. 9
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Vernunft ist immer etwas an einem lebendigen Substrat. Diese Feststellung ist keineswegs trivial, sondern steht im Widerspruch zu wesentlichen Traditionslinien neuzeitlichen Philosophierens. Eben jene Entleerung des Vernunftbegriffes, von der Spaemann hier spricht, liegt dem Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie in Descartes’ Zweifelsbeweis zugrunde: »Das Cartesische cogito, vollständig erwacht, vollständig bei sich seiend, ist zugleich ebenso vollständig leer – erinnerungsloses und zukunftsloses Jetzt.« 12 Descartes konnte sich, wie oben gesehen, 13 nur durch die Theologisierung der Ontologie dieser Konsequenz entziehen, zu der er gezwungen war, weil er den »Begriff des Lebens preisgegeben« 14 hatte. Das von Spaemann dem cartesischen Ansatz entgegengestellte metaphysisch-analoge Denken hält demgegenüber ausdrücklich am Begriff des Lebens fest, der sich nicht in reine Vernunft verwandeln lässt: »Endliche Vernunft ist nicht Substanz, sondern Geschehen, das Geschehen des Substanziell-werdens eines organischen Prozesses.« 15 Dabei gilt aber, dass Leben – d. h. das, was substanziell wird, – »wesentlich nicht eine clara et distincta perceptio« ist und dass es keinen »anderen als analogen Begriff des Lebens« geben kann, was ebenso auf den Begriff der Glückseligkeit zutrifft und für den Gedanken einer Erneuerung des Eudämonismus von wesentlicher Bedeutung ist. Die Destruktion der kantischen Pflichtethik durch Nietzsche wurde ja gerade dadurch möglich, dass »das ›Faktum der Vernunft‹, die sittliche Forderung« bei Kant völlig von seiner lebendigen Grundlage abgelöst wurde: »Der Gegensatz von Vernunft und Lebendigkeit schien ihm prinzipiell unaufhebbar, eine ›Verwandlung‹ des Lebens nicht möglich.« 16 Dagegen bleibt für Spaemann Leben das – wie man in Anspielung auf sein Lewis-Zitat 17 sagen könnte – in jeder Vernunft ›Undurchschaute‹, durch das Festhalten an dem allein die Aufhebung einer ohne es wurzellos gewordenen Vernunft verhindert werden kann. Wenn Vernunft nicht von Leben abgelöst werden kann, der Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 117. Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 314–351. 14 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 117. 15 Ebd. 16 Ebd. 121. 17 Vgl.: »Es führt zu nichts, die Ersten Prinzipien ›durchschauen‹ zu wollen. Wenn man durch alles hindurchschaut, dann ist alles durchsichtig. Aber eine völlig durchsichtige Welt ist unsichtbar geworden. Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.« – Lewis, Die Abschaffung des Menschen, 82. 12 13
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Übergang vom einen zum anderen sich aber nicht widerspruchsfrei denken lässt, bleibt drittens zu fragen, in welchem Verhältnis die Vernunft zum Leben steht: Ist sie die Form eines lebendigen Inhalts? Es könnte naheliegend erscheinen, den »Dualismus von Lebendigkeit und Vernunft« nach dem »Gegensatz von Materialität und Formalität« zu verstehen und somit einen »Antagonismus vernünftiger, bloß formaler Allgemeinheit einerseits und bloß organischer Lebendigkeit andererseits« 18 anzunehmen. Eine solche Annahme verkennt nach Spaemann, dass das Verhältnis von Leben und Vernunft nicht analysierbar ist, 19 da Leben nicht ohne Vernunft und diese nicht ohne jenes gedacht werden kann. Letzteres wurde bereits mit der Antwort auf die zweite Frage gezeigt, hier geht es nun um die umgekehrte Möglichkeit der Reduktion der Vernunft als reine Form auf das Leben als ihren Inhalt. Ein solcher Gedanke unterstellt, dass »der Inhalt vernünftigen Wollens sich in individueller oder allgemeiner Trieberfüllung erschöpfe«, dass also der »materiale Gehalt des guten Lebens […] auf die Erfordernisse physischer Selbst- und Arterhaltung und auf diejenigen physischen Wohlbehagens« 20 reduzierbar wäre. Diese Sicht verkennt aber die seit den Anfängen der Menschheit sich vollziehende kulturelle Überformung des Naturtriebs: Der Trieb ist uns […] nur dann hinreichender Grund, etwas zu seiner Befriedigung zu tun, wenn wir ihn dazu machen, wenn wir den vektoriellen Sinn, der in ihm liegt, in Freiheit übernehmen. Und das können wir nur, wenn wir diesen Sinn als Sinn wahrnehmen, nicht als factum brutum, sondern als etwas, das einer Interpretation zugänglich, das schon eine Art von Sprache ist. Die Deutung des Triebes geschieht nicht von selbst. Sie ist gerade nicht Natur. Sie ist das, was wir das Vernünftige nennen. Erst in der Vernunft kommt Natur als Natur zur Erscheinung. 21
Es geht also um den Gedanken, von dem oben gesagt wurde, dass er »die Philosophie konstituiert« 22, den Gedanken der Vernunft als Ausdruck der Teleologie menschlicher Natur, 23 der sich darin ausdrückt, Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 114. Vgl.: »In [unserer spezifisch humanen Erfahrung] sind Natur und Freiheit auf eine Weise miteinander verbunden, die nicht analysierbar ist.« – Ebd. 242. 20 Ebd. 114. 21 Ebd. 214. 22 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1989), 123. 23 Vgl. Abschnitt, 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 389. 18 19
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dass sich die organische »Lebendigkeit immer schon auf das Allgemeine vernünftiger und sozialer Lebensformen hin transzendiert hat und daß umgekehrt Vernunft immer schon in solchen inhaltlich reich strukturierten Lebensformen gegenwärtig ist« 24. Nun differenziert diese dritte Antwort im Grunde nur aus, warum eine Antwort auf die erste Frage nicht möglich war. Zusätzlich hat die Antwort auf die zweite Frage durch den Verweis auf das metaphysisch-analoge Denken klargestellt, dass hier überhaupt nicht Antworten erwartet werden können, die ohne analoge Begriffe und damit den Bezug auf ein Unvordenkliches auskommen. Das angekündigte intensive Nachdenken über den Zusammenhang von Vernunft und Leben kann aber damit noch nicht zu Ende gekommen sein, wenn es hier darum gehen soll, in »Glück und Wohlwollen« einen substantiellen Fortschritt in der philosophischen Entwicklung Spaemanns gegenüber dem im sechsten Kapitel untersuchten Zeitraum zu konstatieren. Ein neuer Ansatz des Nachdenkens über das Verhältnis von Vernunft und Leben wird nun möglich durch die Besinnung auf den spezifisch ethischen Ansatz von »Glück und Wohlwollen« und durch die Frage, was dieser zur Überwindung der Aporie beitragen könnte, in die die metaphysischen Überlegungen unausweichlich zu geraten scheinen. Wenn die durchschnittliche Verfassung des Menschen als ein »Zustand der Halbwachheit zwischen bloßer Lebendigkeit und bewußtem Leben« 25 bezeichnet werden kann, stellt sich die Frage, wie es um die Verantwortung des Menschen für diese Halbwachheit bestellt ist. Für das durchschnittliche sittliche Empfinden ist ja die Berufung auf Unachtsamkeit im Falle der Verkehrtheit von Handlungen nur bedingt entschuldbar. Es ist somit nach der Bedeutung der Verkehrtheit von Handlungen – und zwar Verkehrtheit nicht aufgrund von Irrtum, sondern im eigentlich moralischen Sinne 26 – im Hinblick auf das in ihnen zu Tage tretende Verhältnis von Leben und Vernunft zu fragen. Wenn die moralische Verfehlung als defizienter Modus der Erwachtheit zur Vernunft zu verstehen ist, lässt sich die Frage dahingehend konkretisieren, wie moralische Schuld aus einem solchen Mangel an Aufmerksamkeit abgeleitet werden kann, Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 114. Ebd. 125. 26 Die folgenden Überlegungen schließen an an die Reflexionen zu diesem Thema in Bezug auf Platon und Aristoteles in Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss, 435–436 u. 443, sowie in Bezug auf Kant in Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 451–452. 24 25
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das heißt, wie überhaupt der Gedanke einer »schuldhaften Unaufmerksamkeit« 27 gedacht werden kann. Ich zitiere eine längere Textpassage, um an die Antwort heranzuführen: Auch unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene Folgen, auch das Nicht-Bedenken von Folgen, auch Unaufmerksamkeit und Vergessen fallen in die Verantwortung des Handelnden, wenn er als frei begriffen und anerkannt werden soll. Das mag verwundern, denn Nicht-Bedenken, Vergessen und Unaufmerksamkeit sind ja offenbar gerade nicht psychische Ereignisse, nicht Willenshandlungen. Wenn wir sie gleichwohl moralisch beurteilen, so deshalb, weil der Ort der Freiheit offenbar gar nicht primär die einzelne Handlung ist, sondern die Verfassung der Person, der Grad ihres Erwachtseins zur Wirklichkeit. Daß dieses Erwachtsein, diese Aufmerksamkeit selbst noch einmal zu verantworten ist, ist ein Paradox, das der Philosophie immer wieder zu schaffen gemacht hat. Denn es scheint das Problem der Freiheit in eine unendliche Iteration zu verstricken. Wenn Freiheit in Erwachtsein zur Vernunft gründet und wenn wir selbst andererseits für dieses Erwachtsein selbst Verantwortung tragen, dann scheint dies zum Postulat einer »Freiheit vor der Freiheit« zu führen. Ohne dieses Problem hier mit der erforderlichen Differenzierung anzugehen, läßt sich doch prima facie folgende Richtung für seine Lösung angeben. Das ursprüngliche Erwachtsein kann in keiner Weise als eigene Leistung des Subjekts gedacht werden. Es ist vielmehr konstitutiv für Personalität. Der höchste Grad der Wachheit – zugleich der höchste Grad des Wohlwollens – ist identisch mit dem höchsten Grad der Freiheit, wobei Freiheit hier alle sittliche Indifferenz hinter sich gelassen hat. Indifferent kann sie nur sein gegen sittliche adiaphora. Sittliche Indifferenz, Freiheit zum Guten oder zum Bösen läßt sich nur denken als Resultat eines Abfalls, in dem die endliche Freiheit ihre Wachheit nicht durchgehalten hat. Nur als sekundäre Entscheidung läßt sich die sittlich negative Entscheidung denken. Der Mensch ist frei, sich aus dem Erwachtsein zur Wirklichkeit in die Partikularität des amor sui usque ad contemptum Dei zurückzuziehen, er ist nicht ebenso frei, diese Richtung wieder umzukehren, sondern bedarf hierzu einer »Befreiung«. 28
Ausgangspunkt der Überlegung ist hier eine Verschiebung des Fokus: Die moralische Betrachtung richtet sich nicht mehr auf die Handlung, sondern auf die Verfassung der Person als Ort der Freiheit. Dies führt zunächst zur Paradoxie der schuldhaften Unaufmerksamkeit, die sich
27 28
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 243. Ebd. 188–189.
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nicht widerspruchsfrei denken lässt, weil zur Einräumung einer Schuld immer bereits ein Bewusstsein von dem, was in der Unaufmerksamkeit ausgeblendet wurde, bzw. eine »Freiheit vor der Freiheit« angenommen werden müsste. Diese aus der Perspektive der Person in der Verfassung der Unaufmerksamkeit sich ergebende Paradoxie ist nur die Kehrseite jener Paradoxie, die sich aus dem Versuch einer Antwort auf die erste Frage, wie das Leben zur Vernunft kommt, ergab. Bis zu dieser Stelle wiederholt sich also das oben Ausgeführte. Ein völlig neuer Gedanke ist dagegen mit der Idee eines »ursprünglichen Erwachtseins« als anthropologischer Grundbestimmung gegeben, die, da sie keine Leistung des Subjekts sein kann, entweder als natürliche Ausstattung oder göttliche Gabe aufgefasst werden muss. Von diesem für die Personalität konstitutiven primären Erwachtsein aus stellt sich der Normalzustand des Menschen als Abfall in Folge einer sekundären Entscheidung dar. Es ist wesentlich zu sehen, dass der Begriff einer schuldhaften Unaufmerksamkeit in diesem Bezugsrahmen seine paradoxe Implikation verliert, da es demnach eine freie und somit zu verantwortende Bewegung war, die in den Zustand der Unaufmerksamkeit geführt hat. In Bezug auf die der Person möglichen Bewegungen besteht aber eine wesentliche Asymmetrie, insofern die dem Abfall gegenläufige Bewegung, also die neuerliche Rückkehr zum Erwachtsein nicht aus freier Spontaneität erfolgen kann, sondern eine von außen kommende Befreiung voraussetzt. Diese Argumentation ist daher prinzipiell geeignet, die Aporie, in die das Nachdenken über das Verhältnis von Vernunft und Leben geführt hat, aufzulösen. Allerdings steht und fällt diese Möglichkeit mit der hier neu eingeführten anthropologischen Grundbestimmung eines »ursprünglichen Erwachtseins«, nach deren Rechtfertigung im nächsten Schritt gefragt werden muss. Als solche findet man in »Glück und Wohlwollen« aber überraschenderweise statt einer anthropologischen Theorie den Verweis auf einen biblischen Mythos: Das Phänomen, von dem hier die Rede ist, das Paradox der schuldhaften Unaufmerksamkeit ist in diesem Kontext, wo es erstmals thematisch wird, gar nicht Gegenstand einer anthropologischen Theorie, sondern Gegenstand einer kontingenten Geschichte, der Geschichte der sogenannten Erbsünde, also der Erzählung von der Entstehung eines Verstrickungszusammenhangs, der die »Verfallenheit« für jeden Einzelnen zur Ausgangsituation macht, obgleich sie »an sich« selbst bereits Folge einer Schuld ist. Sie als solche erkennen und so die Normalität der conditio humana als eine ontologische Anomalität durch-
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schauen ist selbst erst Folge einer Umkehr. Und diese Umkehr kann niemand sich selbst verdanken. 29
Bevor die volle Bedeutung dieser Textstelle expliziert werden kann, muss gezeigt werden, dass die hier vorgenommene Deutung des Sündenfalls im Gegensatz zu derjenigen steht, die in der Moderne Epoche gemacht hat. Spaemann weist zunächst auf Rousseau hin, 30 für den der Urzustand ein status naturae purae war, aus dem herauszutreten der notwendige Schritt zur Freiheit war. 31 In seinem Essay »Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre« (1991) bemerkt Spaemann hierzu: »Die von Rousseau angeregte Identifizierung von Sündenfall und Freiheitsgeschichte läuft natürlich auf eine Zerstörung des Begriffs des peccatum originale hinaus.« 32 Mit Bezug auf die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts führt Spaemann in »Glück und Wohlwollen« aus: Man sieht leicht, wie sowohl Kants oder Schopenhauers Lehre von der Wahl des intelligiblen Charakters als auch Heideggers Theorie der Verfallenheit Versuche sind, die Erbsündenlehre in eine Theorie zu transformieren und die radikale Kontingenz des Sündenfallmythos, den die Bibel erzählt, in so etwas wie eine apriorische Verfaßtheit des menschlichen Wesens zu verwandeln. Aber man sieht auch, daß der Mythos hier mehr erklärt als die Theorie, die ihn deuten soll. 33
Gegen den Gedanken, dass »der Mensch nur durch die Übertretung dieses Gebotes sich als Freiheitswesen erfahre« 34, dessen Echo er in den in der Rousseau’schen Tradition stehenden Konzeptionen der drei Genannten erkennt, stellt Spaemann die »traditionelle Auslegung des Mythos als dessen authentische Selbstauslegung« 35, die durch eine weitere Textstelle präzisiert werden soll: Dann nämlich sagt er, der Mensch sei von Anfang an herausgerufen aus der Selbstzentriertheit der natürlichen Lebendigkeit zu einer Handlungsweise, genauer: einer Unterlassung aus überindividueller, aus göttlicher Perspektive. Diesem Ruf habe er sich versagt. Zwar sei Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244. S. ebd. 113. 31 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, 202–205. 32 Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 203. 33 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244. 34 Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 203. 35 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113. 29 30
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er durch diesen Ruf zur Vernunft erwacht, aber er habe diese sogleich umgedeutet in ein Instrument jener Selbstzentriertheit, die er doch hätte verlassen sollen. Damit sei aber ihre tierische Unschuld verlorengegangen. Einmal zur Vernunft erwacht und in den Horizont des Absoluten getreten, kann die curvatio in seipsum, das Festhalten an der Mittelpunktstellung, nur noch in der Form der Hybris geschehen, nämlich als »Sein-wollen wie Gott«. Diese »unvernünftige Vernunft« aber ist zugleich unnatürliche Natur. 36
Der ursprüngliche Ruf, der sich an den Menschen richtet, wird nicht wie in der Rousseau’schen Tradition als der zur Übertretung des Gebots, sondern als der in der Naturteleologie fundierte Ruf zur Selbsttranszendenz in der Befolgung des Gebots verstanden. Es handelt sich also um eine direkte Umkehrung der Konstellation. Da das scheinbare Freiheitsgeschehen der Übertretung die Richtung auf die curvatio in seipsum einschlägt, bedeutet der Beginn der vernünftigen Reflexion auf die natürliche Selbsttranszendenz im Gegenteil den Verzicht auf die Übertretung. Der vermeintlichen Selbsttranszendenz der Übertretung wird die ursprüngliche vernünftige Selbsttranszendenz, die über sich hinausgeht, ohne das Gebot zu übertreten, entgegengestellt. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Deutungen besteht in der Antwort auf die Frage, ob die Verfallenheit als Ausgangspunkt und damit als Normalität der conditio humana angenommen wird oder ob sie als Folge einer Schuld und damit als ontologische Anomalität begriffen wird. Im letzteren Fall ist eine Umkehr – μετάνοια – möglich, die sich allerdings immer einer Befreiung von außen verdankt. Die sich im Zuge dieser Überlegung aufdrängende Frage, ob und inwiefern die Bezugnahme auf einen biblischen Mythos im Rahmen einer philosophischen Argumentation legitim ist, 37 sowie die, ob es auch genuin philosophische Mittel gibt, um das hinter dieser Bezugnahme stehende Anliegen zu vertreten, soll zunächst ausgeklammert und erst an späterer Stelle betrachtet werden. 38 Hier ist zunächst festzuhalten, dass die Idee eines »ursprünglichen Erwachtseins« zum einen die Möglichkeit bietet, die hier eingangs bedachten Paradoxien im Verhältnis von Vernunft und Leben zu überwinden, und sie sich zum anderen in dem bei Spaemann vorausgesetzten BedingungsrahSpaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113. An anderer Stelle nennt Spaemann die Erbsündenlehre einen »ätiologische[n] Mythos«, also einen solchen, der wesentlich der Erklärung eines Sachverhaltes dient. – Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 187. 38 S. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 504–505. 36 37
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7.2.2 Amor benevolentiae
men des metaphysisch-analogen Denkens im teleologischen Lebensbegriff genuin philosophisch fundieren lässt.
7.2.2
Amor benevolentiae
Die zentrale Frage, die sich nach der Darlegung der anthropologischen Grundgedanken in »Glück und Wohlwollen« stellt, besteht darin, wie ein Erwachen zur Wirklichkeit ausgehend von der als ontologischer Anomalität gekennzeichneten Normalverfassung des Menschen möglich ist. Bevor dieser Frage nachgegangen werden kann, muss man sich zunächst klarmachen, was damit gefragt ist bzw. welche Antworten überhaupt erwartet werden können. Nicht gefragt ist damit nach der Rekonstruktion des Übergangs von bloßer Lebendigkeit zu bewusstem Leben, da dieser, wie gesehen, nur als μετάνοια begreifbar ist, nicht als Überwindung bloßer Lebendigkeit verstanden werden kann und die Verbindung von Leben und Vernunft nicht analysierbar ist. Im Sinne der dargelegten Asymmetrie möglicher menschlicher Bewegungen, nach der frei wählbar der Abfall von der Wirklichkeit, die umgekehrte Richtung aber nur durch eine Befreiung von außen möglich ist, muss die Frage somit auf das Ereignis der Begegnung zielen, durch die die Befreiung bewirkt wird. Die Annäherung an das Ereignis der Begegnung erfolgt am Leitfaden der Gedankenentwicklung im Kapitel »Wohlwollen« zuerst in weitgehender methodischer Beschränkung auf das Selbst im Sinne der subjektiven Voraussetzungen – also auf das, was in dem Ereignis entgegengebracht wird; danach erst wird der Blick auf die Intersubjektivität ausgeweitet und im Sinne der Evidenz der Wahrnehmung eines anderen Selbst auf das gerichtet, was in dem Ereignis entgegenkommt. Es geht somit um eine phänomenologische Analyse der Wahrnehmung und ihre Verwandlung durch das Ereignis der Begegnung, in das der Wahrnehmende so hineingezogen wird, dass aus diesem Ereignis die Antwort auf die gestellte Frage hervorgeht. Die Frage nach der Möglichkeit eines Erwachens zur Wirklichkeit fragt danach, wie die Subjektivität welthaltig werden kann. Die subjektive Eigenschaft der Welthaltigkeit impliziert notwendig ein Interesse an der Welt. Für dieses Interesse, das, wie im Folgenden dargelegt werden soll, zur »Lösung des Eudämonismusproblems« 39 39
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führt, wählt Spaemann den Begriff des Wohlwollens als Übersetzung des lateinischen amor benevolentiae, der in der mittelalterlichen Philosophie vom amor concupiscentiae, der Begierde, unterschieden wurde. Liebe als »Wohlwollen eines vernünftigen Wesens« ist in christlichem Verständnis immer eine Gabe Gottes, wobei der Gnadencharakter der Liebe auf den oben mit dem Sündenfallmythos thematisierten Zusammenhang verweist, »daß Liebe die Normalverfassung eines vernünftigen Wesens ist und daß die Notwendigkeit einer besonderen Gnade der Umkehr ihren Grund in der sündhaften Abweichung des Menschen von seiner Normalverfassung hat« 40. Spaemann nennt zwei Voraussetzungen des Wohlwollens: Es setzt zunächst voraus die teleologische Verfaßtheit eines Lebewesens, dem es um etwas geht, für das etwas gut, zuträglich, wohltuend ist. Nur dann kann man ihm wohlwollen. Es setzt aber zweitens voraus, daß dasjenige Wesen, um dessen Wohl es zu tun ist, als es selbst sichtbar wird. Aristoteles unterschied das eine vom anderen als finis quo und als finis cuius gratia, als Wozu und als Umwillen. 41
Insofern die lebendige Grundstruktur des Ausseins-auf unter dem teleologischen Vorzeichen der Philosophie Spaemanns nicht in Frage steht, muss die Annäherung an den Begriff des Wohlwollens sich auf den zweiten Aspekt konzentrieren, also auf die Frage nach dem Sichtbarwerden des Umwillen, die direkt zur Thematisierung der Vernunft führt: »Das Tier wird seiner selbst als Umwillen seiner Triebe und Begierden nie ansichtig. Praktische Vernunft unterscheidet sich vom Trieb dadurch, daß das Umwillen des Handelns selbst hervortritt, also dasjenige, ›dem zuliebe‹ der Handelnde handelt.« 42 Spaemann weist darauf hin, dass das Hervortreten des eigenen Selbst als dieses Umwillen immer schon durch den Anderen vermittelt ist. Der reflexive Rückbezug des bewusst gewordenen Triebes auf ein Selbst als dessen Umwillen verdankt sich bereits einem Blick von außen. Dass die Thematisierung des Selbst durch ein vernunftbegabtes Wesen problematisch ist, legt Spaemann zunächst unter Verweis auf Heideggers in »Sein und Zeit« entwickelte These dar, wonach alles in der Welt Begegnende eine Bewandtnis hat für das Dasein, das »sich selbst als Grund aller Bewandtnis entdeckt« 43, mit dem es aber selbst keine Be40 41 42 43
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 123. Ebd. Ebd. 124. Ebd.
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7.2.2 Amor benevolentiae
wandtnis hat und das »selbst nicht noch einmal aus einem Umwillen heraus verstehbar ist« 44. Das »bewandtnislose Um-willen ist das schlechthin Wirkliche«, sein Sichtbarwerden ist gleichbedeutend mit dem Erwachen zur Vernunft. Was Heidegger als Entdeckung der »Eigentlichkeit« beschrieben hat und Spaemann mit »Erwachen zur Wirklichkeit« 45 übersetzt, 46 »ist mit jener Blickwendung verbunden, die aus der Perspektive des Triebes nicht ableitbar ist« 47, mit jener μετάνοια im Erwachen zur Vernunft, nach der hier gefragt wird und die genauer untersucht werden soll. Was diese Blickwendung positiv bedeuten kann, entfaltet Spaemann vor dem Hintergrund ihrer solipsistischen Zurückbiegung auf die lebendige Zentriertheit, die zuerst betrachtet werden muss. Den Schlüssel zu diesem Vorgang liefert der Begriff des Selbsterhaltungstriebes: »Die Rede von einem solchen Trieb hat etwas Problematisches. Sie ist charakteristisch für den Zustand der Zweideutigkeit, den wir als Zustand der Halbwachheit zwischen bloßer Lebendigkeit und bewußtem Leben bezeichnet haben.« 48 Die Zweideutigkeit ergibt sich daraus, dass Selbsterhaltung prinzipiell »finis cuius gratia, nicht Wozu, sondern Umwillen« 49 ist, dass ein vernünftiges Wesen in ihrer expliziten Thematisierung aus ihr aber ein Triebziel, einen finis quo zu machen versucht. Es ist wichtig, sich den inneren Widerspruch dieses Vorgangs klarzumachen: Das Erwachen zur Vernunft, in dem das Selbst als Umwillen entdeckt wird, bedeutet wesentlich die Loslösung von der Bindung an den Trieb, also eine Distanznahme zur eigenen Natur; durch die Rede von der Selbsterhaltung aber versucht nun die erwachte Vernunft sich auf das Triebziel der Erhaltung und damit auf eine Bewandtnis des Selbst zurückzubiegen. 50 Die erwachte Vernunft gerät also in Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 124. Ebd. 46 Vgl.: »Heidegger leitet daraus die Unheimlichkeit und Angst des Daseins ab. Spaemann hingegen interpretiert dieses Phänomen in Richtung auf den Kantischen Gedanken der Selbstzwecklichkeit.« – Ollig, Die Aktualität der Metaphysik. Perspektiven der deutschen Gegenwartsphilosophie, 62. 47 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 125. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Diese Analyse kann als phänomenologische Explikation desjenigen Selbstverhältnisses gelesen werden, das der oben skizzierten Rousseau’schen Deutung des Sündenfallmythos zugrunde liegt. Der vermeintliche Schritt in die Freiheit im Übertreten des Gebots erweist sich als Negierung der Selbsttranszendenz und Rückzug in die curvatio in seipsum. 44 45
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einen inneren Widerspruch, weil sie sich mit dem identifiziert, aus der Distanz zu dem sie selbst hervorgegangen ist. Dadurch kommt es aber gewissermaßen zu einem ›Kurzschluss‹, da es gerade das Wesen der Vernunft ist, vom Trieb nicht determiniert zu sein. Die Folge ist der Verlust des Selbst entweder praktisch als Rückzug aus der Wirklichkeit – die frei wählbare der beiden Bewegungen – oder theoretisch als Negation des Selbst: Der Selbsterhaltungstrieb, der das zum Triebziel macht, was doch wesentlich Umwillen des Triebes ist, entwirklicht das Selbst. Er gibt ihm eine »Bewandtnis«. Aber da diese Bewandtnis eben jenes Selbst zur Voraussetzung hat, um dessen Erhaltung es geht, kann dieses Triebziel vor der Vernunft nicht bestehen. Der Selbsterhaltungstrieb ist kein »Grund« zur Selbsterhaltung für den, der nicht an den Trieb gefesselt ist. Schopenhauer, der das Selbst nur als Ziel des Selbsterhaltungstriebs kannte, mußte es eben deshalb als durch diesen Trieb durchaus bedingt ansehen. Mit dem Erlöschen des Triebes sinkt es in die Unwirklichkeit zurück. Erwachen zur Vernunft ist daher für ihn gleichbedeutend mit dem Verschwinden des Selbst. Der Trieb kann nicht Grund seiner eigenen freien Bejahung sein. 51
Die Reflexion auf den Selbsterhaltungstrieb muss also, wenn sie sich als Reflexion erhalten will und nicht zu einem Zurücksinken in bloße Lebendigkeit führen soll, eine Position jenseits des Bewandtniszusammenhangs einnehmen, um sich von diesem ›Nichts‹ aus zu ihm noch einmal verhalten zu können. Der Moment des Erwachens zur Wirklichkeit, in dem das Selbst als Umwillen erfahren wird, bleibt damit als Ereignis eines Richtungswechsels ambivalent und offen für zwei gegensätzliche Deutungen. Die hier zuerst betrachtete Deutung »aus der Perspektive des Triebhangs« bezeichnet Spaemann als »Position des Nihilismus«; sie besteht in der Möglichkeit, die in der μετάνοια sich zeigende Unbezüglichkeit des Selbst als das zu interpretieren, »was – weil selbst bewandtnislos – seine Bedeutung erst in seiner Relation auf anderes, ebenso Bedeutungsloses gewinnt, wobei der Bedeutungszusammenhang als Ganzer wiederum bedeutungslos ist« 52. Das Erwachen zur Wirklichkeit, die Erfahrung des Selbst als Umwillen erlaubt jedoch auch eine entgegengesetzte Deutung: Sie »läßt dieses Subjekt in einem Glanz erscheinen, der nicht
51 52
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 125. Ebd. 127.
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7.2.2 Amor benevolentiae
sein eigener ist« 53. Das bedeutet, dass der den Bewandtniszusammenhang transzendierende Bezug zur Wirklichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Diese Deutung knüpft an den Gedanken der Repräsentation an, der bereits im sechsten Kapitel als Schlüsselbegriff der Spaemann’schen metaphysischen Konzeption ausgewiesen wurde 54 und hier als Repräsentation des Unbedingten in der Weise des Bildes 55 wiederkehrt. 56 Was ist ein Bild? Ein Bild ist etwas, das nicht selbst ist, was es zeigt. Es ist ein physisches Objekt. Bild ist es nicht durch eine physische Existenz, sondern dadurch, daß es zeigt. Mit dem Bild des Unbedingten verhält es sich noch einmal anders. Bild des Unbedingten ist etwas gerade dadurch, daß es in einem emphatischen Sinne ist, durch seine Substantialität, die es dem Prozeß des Werdens enthebt und seine »Geltung« mit seiner Genesis inkommensurabel macht. 57
Um diesen Gedanken im vollen Umfang verstehen zu können, muss die Bedeutung von »zeigen« und »sein« genau verstanden und zusammengedacht werden. Zur Bedeutung von »sein« im für Spaemanns Denken zentralen Sinn ist Grundlegendes im sechsten Kapitel gesagt worden: »Sein ist nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung.« 58 In »Glück und Wohlwollen« liest man in Ergänzung dazu: Sein ist nicht Gegenständlichkeit. Sein ist Substantialität, Selbstsein, das aller Gegenständlichkeit zugrunde liegt. Der paradigmatische Fall solcher Substantialität aber ist Subjektivität. Für sie gilt, was AristoSpaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127. Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 384–397. 55 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127. 56 Vgl.: »Die ›Repräsentation des Bildes‹ und das ›Unbedingte‹, von denen Spaemann hier spricht, müssen im Zusammenhang mit dem mittelalterlichen Gedanken der repraesentatio gesehen werden. Gemäß der alten schon bei Pseudo-Dionysius sich findenden Idee, dass sich das Gute mitteilt […,] wird die Frage, ob Gott Außergöttliches will, bei Thomas ähnlich wie im gesamten Mittelalter dahingehend beantwortet und bejaht, dass sich Gott als das Gute mitteilen will, das heißt, dass er sich in der Weise der Mitteilung seiner Güte realisiert. Durch die Darstellung des Göttlichen im Endlichen ist dieser Vorstellung zufolge alles geschöpfte Seiende immer schon eine Weise der Repräsentation bzw. des Ausdrucks des Unbedingten, Heiligen, Guten, vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, q. 47, a. 1, resp.« – Kruse-Ebeling, Liebe und Ethik, 331. 57 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127. 58 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42. 53 54
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teles von der Substanz sagt: Von ihr wird alles ausgesagt, sie selbst aber wird von nichts anderem ausgesagt. Sie ist nicht Eigenschaft eines Seienden, sondern sie ist schlechthin. Und gerade in diesem schlechthinnigen Sein ist sie Bild, sie ist das Absolute in der Weise des Bildes. 59
Während die wesentlich negative Bedeutung von ›sein‹ als Verzicht auf einen vereinnahmenden subjektiven Zugriff auf der Hand liegt, stellt sich aber die Frage, was das Bild der für das Sein paradigmatischen Subjektivität als Substanz ›zeigt‹. Die Antwort kann nur lauten: Alles. Es geht um das Bild der Welt, das angeschaut wird, indem das Bild angeschaut wird. Das Bild ist zugleich das Angeschaute – ›sein‹ – und das Sehen – ›zeigen‹. Entscheidend ist nun aber das Ereignis der Wahrnehmung des Bildes, »das Sich-zeigen des schlechthin Unbezüglichen«, in das der Anschauende selbst hineingezogen wird: Es besteht im Sein desjenigen endlichen Seienden, in dem der Gedanke des unbezüglichen Seins ineins mit dem Dank aufgeht. Das diesen Gedanken denkende Seiende, also das bewußte Leben gewinnt darin selbst jene Unbezüglichkeit, jene »Substantialität«, durch die es zum Bild dessen wird, was es verehrt, und das in jedem anderen vernünftigen Wesen eben jenes Bild wiedererkennt. 60
Obwohl Spaemann im hier untersuchten ersten Abschnitt des Kapitels »Wohlwollen« die Fragestellung in weitgehender methodischer Beschränkung auf das singuläre Selbst anging, wird spätestens in seinen Ausführungen zum Begriff des Bildes klar, dass vom Sichtbarwerden des Selbst als Umwillen in einem anderen als nihilistischen Sinn nur im Rahmen eines reziproken interpersonalen Begegnungsgeschehens die Rede sein kann. Die Wahrnehmung des Anderen als unbezügliches Selbst, als bewandtnisloses Umwillen, verwandelt den Wahrnehmenden seinerseits in ein ebensolches unbezügliches Selbst. 61 Näher heran an das Verständnis des Wohlwollens kann daVgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127–128. Ebd. 128. 61 Vgl.: »Was macht nun die conditio humana – das absolute Novum gegenüber der tierischen Welt – aus? Sie besteht darin, diese Zentralität des Tieres hinter sich gelassen zu haben. Dieser entscheidende Schritt ereignet sich anlässlich der Entdeckung des Anderen, die mit der Entdeckung ›meiner selbst‹ einhergeht, in der man das Fundament des Miteinander sehen darf. Ich entdecke erst den Anderen, indem ich einem anderen Menschen begegne, dessen Blick auf mich ich nachvollziehe. Eine solche Perspektive einzunehmen läuft darauf hinaus, für immer die Selbstzentriertheit hinter sich zu lassen. Der Mensch entkommt der Enge seiner vitalen Umwelt, um in einen neutralen kognitiven Raum einzutreten, dessen Zentrum überall liegt. Der Mensch 59 60
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her die Thematisierung des interpersonalen Begegnungsgeschehens, des Verhältnisses von Ich und Anderem führen. Vor der Betrachtung dieses interpersonalen Begegnungsgeschehens ist zunächst das Missverständnis zurückzuweisen, wonach Selbstliebe sich zur Nächstenliebe verhalte wie Begierde (amor concupiscentiae) zum Wohlwollen (amor benevolentiae). Die Liebe zum Anderen kann ebenso auf Begierde beruhen, wie die Selbstliebe von Wohlwollen geprägt sein kann. Auch wenn Interpersonalität das Paradigma wohlwollender Zuwendung sein mag, ist sie mit dieser nicht untrennbar verknüpft. Das entscheidende Kriterium, an dem Wohlwollen zu erkennen ist, besteht vielmehr in einer konstitutiven Paradoxie, die wiederum durch ihre subjektive und ihre objektive Seite expliziert werden kann. Die subjektive Seite folgt aus der Wahrnehmung der Wirklichkeit als Selbstsein: Wer diese Wahrnehmung macht, der befindet sich in einer eigentümlichen, paradoxen Lage. Er begreift einerseits, daß nicht er selbst Grund dieser seiner Wahrnehmung ist, so als ginge ihr noch irgendetwas wie ein sittlicher Entschluß voraus, wo doch jeder sittliche Entschluß erst in dieser Wahrnehmung gründet. Er kann sie nur als Gabe begreifen, und zwar als Gabe, deren Ausbleiben bedeutet, daß der Mensch noch gar nicht zum Menschsein erwacht ist, daß er trotz aller Intelligenz noch träumt und daß er in diesem träumenden Zustand allen alles schuldig bleibt. Denn Menschen, sprechende Wesen begegnen einander mit dem Anspruch, wahrgenommen zu werden. Andererseits: Das bisherige Nichtwahrnehmen als eigene Schuld zu sehen, gehört zum Erwachen. 62
Die Paradoxie besteht aus subjektiver Sicht wesentlich darin, dass der Schritt zum Selbstsein sich als Gabe erkennen lässt, dass Freiheit von der eigenen zugrunde liegenden Triebstruktur in einer bestimmten Verbindung mit der Wirklichkeit gründet und Autonomie im strengen Wortsinn unmöglich ist. Die objektive Seite der Paradoxie besteht in der Entdeckung eines Zentrums von Bedeutsamkeit, das unabhängig von jeder subjektiven Zumessung von Bedeutung existiert:
ist das ›exzentrisch‹ gewordene Lebewesen.« – Duplá, Die Theorie der Person und die Bioethik bei Robert Spaemann, 254–255. – Der Schluss, dass der Mensch damit die Selbstzentriertheit für immer hinter sich lasse, blendet allerdings die menschliche Fähigkeit zu einer curvatio in seipsum aus. – Vgl. Abschnitt 7.2.1, Condito humana, 466, u. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 507–508. 62 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 222.
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Ein Anderer ist für mich vielmehr bedeutsam durch das, was er nicht für mich, sondern an sich selbst ist. Hinter diesem Paradox verbirgt sich das, was wir als Erwachen zur Wirklichkeit beschrieben haben. Das Ich im Triebhang hat weder sich noch den Anderen entdeckt. Es bleibt in der Zentralstellung alles Organischen sich selbst verborgen. Im Akt des Erwachens zur Vernunft wird die eigene Wirklichkeit und die des Anderen gleichzeitig sichtbar. Das Sichzeigen der Wirklichkeit des Anderen ist gleichbedeutend mit dem Mitvollzug dieser Wirklichkeit als einer teleologischen, der Wirklichkeit eines Ausseins-auf. Nur in diesem Mitvollzug wird uns der Andere wirklich. 63
Die das Wohlwollen konstituierende Paradoxie ist somit ein Interesse, das nicht durch das eigene Interesse definiert ist, – die Realisierung reiner Selbsttranszendenz. Ein solches Interesse wird möglich aufgrund des Nachvollzugs des teleologischen Ausseins-auf des Anderen, also seines finis quo, bei gleichzeitigem Sichtbarwerden seines Selbst, also seines finis cuius gratia. Die Paradoxie des Wohlwollens besteht darin, dass der auf Identifizierung zielende Mitvollzug der teleologischen Wirklichkeit des Anderen durch das Sichzeigen dieser Wirklichkeit zugleich wieder distanziert wird. Was im Verhältnis zu sich selbst, wie gesehen, zur Entwirklichung dieses Selbst führt, nämlich die Thematisierung des Umwillen, lässt im Verhältnis zum Selbst des Anderen die mitvollzogene Wirklichkeit erst als solche hervortreten. Eine Paradoxie stellt das im Wohlwollen sich äußernde Interesse am Anderen solange dar, wie die beiden Seiten des Ich und des Anderen als Gegensätze betrachtet und Wahrnehmung des Anderen als Gegenstandswahrnehmung aufgefasst wird. Die Wirklichkeit des Wohlwollens kann daher nicht als Welt von Objekten für ein Subjekt aufgefasst werden, sondern erscheint als Wirklichkeit von Menschen, die diese einander erst zeigen, was Spaemann mit dem Begriff der Person ausdrückt: Die unzweideutige Wirklichkeit aber ist die der Person. In der Liebe wird mir der Andere nun so wirklich, wie ich mir selbst in eben diesem Erwachen werde. Er und ich gewinnen die Wirklichkeit des Bildes. Das Bild soll etwas. Es soll nicht verschwinden, sondern zeigen, erscheinen lassen. Es als Bild wahrnehmen heißt sein Zeigen wahrnehmen, sich von ihm etwas zeigen lassen. Was erscheint in der Subjektivität? Sein, Wirklichkeit. Und zwar gerade deshalb, weil Subjektivität selbst nicht Positivität, sondern Negativität ist, nicht vorfindbares Faktum, son-
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Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 130.
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dern Reflexion. Nur in dem, was nicht von der Art des positiven Faktums ist, kann das Faktum erscheinen. Der Mensch ist der Ort der Erscheinung des Seins. 64
Zum Ort der Erscheinung des Seins wird der Mensch im Erwachen zur Vernunft, das aus einem Begegnungsgeschehen hervorgeht. Im Sinne der Aussage, dass Sein Korrelat eines Aktes der Anerkennung ist, bedeutet die interpersonale Begegnung, in der der Andere als Bild – verstanden sowohl als Antlitz als auch als Blick auf die Welt – einen vom eigenen Interesse freien Zugang zur Welt ermöglicht, die Überwindung der individuellen Bedingtheit. Aus der Perspektive der in »Glück und Wohlwollen« leitenden ethischen Fragestellung ergibt sich aus der hier versuchten Explikation des Begriffs Wohlwollen eine Schlussfolgerung von fundamentaler Bedeutung: Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart. Und dieses Sichzeigen geht allem Sollen voraus. Es ist die Gabe, die jeder möglichen Aufgabe zugrundeliegt. Das Wohlwollen ist für den Wohlwollenden selbst Geschenk. Es ist die eudaimonia, das Gelingen des Lebens, das uns auf der Ebene der bloßen Lebendigkeit und des Triebes mit unauflöslichen Antinomien behaftet schien. Erst das zur Vernunft erwachte Leben ist eines solchen Gelingens fähig. 65
Was es bedeutet, dass das Wohlwollen das Gelingen des Lebens ist, kann erst aus einer Betrachtung hervorgehen, in der die Brechung der Idee des Wohlwollens im konkreten menschlichen Leben untersucht wird. 66 An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass Spaemann den Anspruch vertritt, mit dem Wohlwollen die gesuchte Aktualisierung der antiken εὐδαιμονία gefunden zu haben. Zum Abschluss dieser Untersuchung des Wohlwollens ist die Frage nach der Bedeutung dieses Begriffs im Gesamtzusammenhang von Spaemanns »Versuch über Ethik« zu stellen. Zwischen der Wahrnehmung des Anderen als Gegenstand und dem Sichtbarwerden seines Selbst im Wohlwollen gibt es keinen Übergang, sondern liegt jener Sprung, um dessen Einholung im Denken es hier wesentlich geht. Möglich ist diese Einholung entweder durch den Imperativ der praktischen Vernunft oder aber im Sinne einer Neuverteilung der Beweislast durch den Ausgang von der
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Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137. Ebd. 137–138. S. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 479–489.
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Wahrnehmungsevidenz. Diese Alternative entscheidet über die Grundlegung der Ethik. »Gegenüber der Kantischen Engführung der Ethik muß nur gesagt werden, daß nicht die Forderung der Unparteilichkeit das Fundament aller sittlichen Entscheidung ist, sondern die Wahrnehmung der Wirklichkeit des Anderen ebenso wie des eigenen Selbst.« 67 Eine »Engführung« stellt der Ausgang vom Imperativ der praktischen Vernunft deshalb dar, weil es um ein Sollen geht, das nicht in einem Wollen begründet ist und darum seine Entlarvung herausfordert. 68 Mit der Orientierung am antiken Eudämonismus geht es Spaemann um eine Alternative zu dieser Engführung: So erscheint dann am Grunde jeder sogenannten Letztbegründung doch eine Dezision. Anders wenn die Forderung der Unparteilichkeit, das heißt Gerechtigkeit in einer Wahrnehmungsevidenz gründet, in der Evidenz der Wirklichkeit des Anderen und der eigenen Wirklichkeit als der eines Subjektes und nicht nur des ersten Triebobjektes. Diese Evidenz ist tatsächlich Basis aller Ethik. Es gibt daher keine Ethik ohne Metaphysik. 69
Der Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik, um den es in »Glück und Wohlwollen« wesentlich geht, ist die Evidenz der Wahrnehmung von Selbstsein. Damit ist das gedankliche Zentrum von Spaemanns »Versuch über Ethik« erreicht und es muss an dieser Stelle verdeutlicht werden, welche Funktion diesem Einheitspunkt im Rahmen des gesamten Argumentationsganges zukommt. Der Ausgang von der Wahrnehmungsevidenz bedeutet zunächst die Gründung jeder ethischen Reflexion auf einem Anspruch der Wirklichkeit an uns. Durch diesen Ausgang wird der Gedanke eines Sprungs in der praktischen Philosophie ersetzt durch die als ontologische Normalität begriffene menschliche Selbsttranszendenz, der gegenüber es allerdings eine freie Bewegung des Abfalls gibt, deren erneute Inversion nur durch ein Entgegenkommen von außen möglich ist. Wesentlich für den auf die praktische Philosophie ausgerichteten Teil dieser Reflexion ist, dass die zuvor als Sprung bezeichnete Inversion der Bewegung ein Sekundäres ist, das auf die primäre teleologische Verfasstheit eines Lebewesens verweist. Das aus ihr hervorgehende Wohlwollen ist kein Grundsatz, sondern Ursprung – ἀρχή – der ethischen Reflexion: Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 131. Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 453 u. ebd., Fn. 136. 69 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 132. 67 68
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7.2.2 Amor benevolentiae
Wohlwollen ist nicht aus einem Imperativ ableitbar. Es liegt jedem sittlichen Imperativ voraus und zugrunde. Aber das heißt nicht, alle sittliche Verbindlichkeit, jede sittliche Norm gründe in einer letzten Endes irrationalen, grundlosen, subjektiven »Option«. Wohlwollen ist nicht eine grundlose Option, sondern das unmittelbare Resultat einer Wahrnehmung, der Wahrnehmung der Wirklichkeit als Selbstsein. 70
Nun hat diese Reflexion, wie die Rede vom Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik ausdrückt, zugleich eine ontologische Flanke, deren Kern das Verständnis der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur ist. Dass der Mensch durch die Vernunft sich selbst transzendiert und anderen Selbstseins in seiner Geltung ansichtig wird, die nicht rekonstruierbar ist, ist ein durch den Ausgang von der Wahrnehmungsevidenz vorausgesetzter Gedanke. Für die ontologische Flanke der Reflexion ergibt sich daraus, dass die Beweisforderung, die dem Gedanken des theoretischen Sprungs zugrunde liegt, durch den hier nachvollzogenen argumentativen Zusammenhang suspendiert wird, da eine Vernunft, die durch die Forderung nach der Rekonstruktion der Geltung von Selbstsein von dessen Nichtwahrnehmung ausgeht, sich als Instrument der Selbstzentrierung zu erkennen gibt. Die Wahrnehmungsevidenz selbst wird somit zu einem Schlüsselargument auch der ontologisch-metaphysischen Argumentation. Der Zweifel an ihr bleibt möglich, setzt aber immer den Rückfall hinter das Erwachtsein voraus: Diese fundamentale »metaphysische« Evidenz ist nicht eine solche, die jeder Zweifelsmöglichkeit absolut unzugänglich wäre. Nietzsche hat gezeigt, wie weit der Zweifel reicht. Er ist imstande, sogar den Sinn jeder sprachlichen Äußerung in Frage zu stellen. Wer indessen daraus folgert, nach Nietzsche sei Metaphysik nicht mehr möglich, weiß nicht, was er sagt. Denn wenn er Nietzsches Logik folgt, muß er jeden Gedanken des Sinnes von irgendetwas, auch den der Leugnung der Möglichkeit von Metaphysik preisgeben. Die Folgerung aus dem, was bei Nietzsche Einsicht heißen darf, lautet daher anders. Aus der Möglichkeit alles zu bezweifeln, folgt nicht, daß es gut sei, das zu tun. Die Notwendigkeit, die Wirklichkeit des Lebendigen zu setzen, ist nicht theoretischer Zwang, sondern selbst von der Art sittlicher Evidenz. 71 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 222. Ebd. 132–133. – Vgl. im Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche, die Ausführungen zur ›ateleologischen Teleologie und dem Ende des Denkens bei Nietzsche‹, 268–272.
70 71
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Die Reaktion auf den Zweifel an der metaphysischen Evidenz besteht in der Berufung auf eine sittliche Evidenz, die die metaphysische Evidenz selbst wieder aus sich hervorgehen lässt und eine Immunisierung gegen den metaphysischen Zweifel bewirkt. An die Stelle der Dezision tritt somit das Faktum der praktischen Vernunft selbst, das zwar wieder bezweifelt werden kann, aber nur um den Preis der Selbstaufhebung der Vernunft. Spaemann weist darauf hin, dass aus dieser Argumentationsstruktur auch wesentliche, aus seinen früheren Schriften bekannte Gedanken eine nachträgliche Stützung erfahren, insbesondere der teleologische Lebensbegriff 72 und die daraus hervorgehende anthropomorphe Weltwahrnehmung. 73 Erst durch diesen Zusammenhang von praktischer und theoretischer Reflexion wird der aristotelische Gedanke der von außen – θύραθεν – kommenden Vernunft, auf den sich Spaemann schon in »Das Natürliche und das Vernünftige« zur Rechtfertigung der Notwendigkeit des Sprunges berief, 74 so aktualisiert, dass er zum Bestandteil einer schlüssigen philosophischen Argumentation unter neuzeitlichen Denkbedingungen werden kann: Die Vernunft kommt deshalb immer von außen, weil ihr Kommen nur aus der Perspektive der ontologischen Anomalität thematisiert werden kann, die auf eine Befreiung angewiesen ist. 75 Inwieweit allerdings die erwähnte Suspendierung der Beweisforderung allein durch den Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik möglich ist bzw. eine über den Rahmen von »Glück und Wohlwollen« hinausgehende Argumentation verlangt, soll am Ende dieses Kapitels Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 133–134. Vgl. ebd. 134–136. – »Ein Objekt unserer Erfahrung zugleich als ein von dieser Erfahrung unabhängiges, an sich Seiendes zu denken heißt, es nach Analogie des Lebendigen zu denken, so daß es nicht in der augenblicklichen Wahrnehmung, die ich von ihm habe, aufgeht, sondern verschiedene Zustände und Widerfahrnisse in die Einheit eines mit sich Identischen versammelt.« – Ebd. 134. 74 Im Essay »Das Natürliche und das Vernünftige« schreibt Spaemann, dass man »eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren« könne, die aber nie bis zu ihm selbst führe, da »am Ende […] immer ein Sprung« bleibe. In diesem Zusammenhang verweist Spaemann auf den aristotelischen Gedanken, dass die Vernunft »letzten Endes immer thyrathen, von außen« komme. – Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 130, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396. 75 Vgl.: »[…] wenn die Vernunft nicht eine Phase der Evolution des Lebens, nicht ein Schritt in Richtung auf eine größere Angepasstheit des Lebens, sondern eine Wende, ein Richtungswandel ist, muss man das Erwachen zur Vernunft notwendigerweise als ein Ereignis verstehen, das von außen eingeführt wurde.« – Duplá, Die Theorie der Person und die Bioethik bei Robert Spaemann, 257. 72 73
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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
gefragt werden. Hier ging es darum, den erwähnten Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik in seiner Tragweite zu erfassen.
7.2.3
Ordo amoris und ontologische Verzeihung
»Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart.« 76 Das Wohlwollen vermittelt somit zwischen der partikularen Perspektive des Wohlwollenden und dem Unbedingten und es stellt sich die Frage, wie eine solche Vermittlung vorstellbar ist. Die im vorangegangenen Abschnitt gegebene Antwort auf diese Frage bestand wesentlich im Hinweis auf die Repräsentation des Unbedingten in der Weise des Bildes, dessen Wahrnehmung im Erwachen zur Vernunft möglich wird. Diese Antwort scheint aber problematisch zu sein und zu einer Paradoxie zu führen: Das, was als Bild erscheint, ist »einzig, inkommensurabel, unvergleichlich, unbezüglich, nur mit sich identisch. Aber gerade darin ist es eben doch vergleichbar, denn es steht in einer Ähnlichkeitsbeziehung mit allem, was ebenfalls es selbst und mit sich identisch ist.« 77 Die Wahrnehmung von Selbstsein ist also immer begleitet von der Möglichkeit einer sie relativierenden Betrachtung, selbst wenn diese Relativierung nur in der vergleichenden Feststellung der gemeinsamen Unvergleichlichkeit von Selbstsein besteht. Diese Paradoxie der Wahrnehmung lässt sich konkretisieren zu einer Paradoxie des Wohlwollens: Es ist so universell wie der Horizont, den es eröffnet. Es gilt jedem Seienden als einem Einmaligen, Inkommensurablen. Und doch muß der Wohlwollende als endliches Wesen spätestens dann Kommensurabilität herstellen und das Begegnende relativieren, wenn er zu handeln beginnt. Denn als Handelnder ist er wesentlich endlich. Handeln ist selektiv. 78
Das Wohlwollen scheint sich im Übergang von der reinen Betrachtung zur Handlung ebenso aufzuheben wie die Wahrnehmung von Selbstsein in der Reflexion auf diese selbst. Es scheint damit so, als gäbe es Wohlwollen nur als auf die gesamte Welt gerichtete »transzendentale optio fundamentalis«, die »den ›kategorialen‹ Anwendun-
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Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137. Ebd. 141. Ebd.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
gen immer transzendent« 79 bleibt. Wenn dem so wäre, folgte daraus aber, »daß die Liebe, der amor benevolentiae, eigentlich überhaupt nicht real wird. Die fundamentale Option, der ›gute Wille‹, ist, solange er allgemein bleibt, nur abstrakt, und wo er konkret wird, da ist er gar nicht mehr er selbst.« 80 Das Wohlwollen hätte mit anderen Worten danach keine »wirklichkeitserschließende Kraft« 81. Ist die »Universalität des Wohlwollens« also überhaupt »nur eine kontemplative, nicht eine tätige« 82? – Diese Überlegung führt wieder auf das prinzipielle Problem der Reflexion zurück, das Spaemann zuerst in seinen Studien über Fénelon durchdacht hat: Wenn jede Reflexion die Unmittelbarkeit der Liebe zerstört, könnte Liebe nur aus der Selbstaufhebung der Reflexion hervorgehen. 83 Wie die Untersuchung des Fénelon’schen Denkens oben gezeigt hat, war es in Spaemanns Interpretation die Überwindung des teleologischen Denkens in der frühen Neuzeit und damit der Verlust des nicht reduktionistisch verstandenen Lebensbegriffs, die als notwendige Voraussetzung von Fénelons amour-pur-Gedanken gesehen werden müssen und die dann gleichermaßen dem kantischen Dualismus von reinem guten Willen und ›pathologischer‹ Neigung zugrunde liegen. 84 Unter diesen Voraussetzungen ist Wohlwollen als Erwachen zur Vernunft nicht denkbar: Lebendigkeit und Vernünftigkeit wären wieder getrennt, das »Faktum der Vernunft« ein in das Leben einbrechendes fremdes Element, welches das Leben nicht verwandelt, sondern nur seine Äußerungen bestimmten Bedingungen unterwirft, ohne daß ersichtlich wäre, was ein lebendiges Wesen dazu veranlassen könnte, sich diesen Bedingungen zu unterwerfen. 85
Solange an dem Dualismus von Lebendigkeit und Vernünftigkeit festgehalten wird, ist es unausweichlich, dass jede konkrete Handlung immer nur ein unvollkommener Ausdruck des guten Willens ist und ihre Rechtfertigung nur aus der subjektiven Motivation erhält, diesem zu folgen, den sie nicht repräsentieren kann. Es ist wichtig, sich an dieser Stelle noch einmal bewusst zu machen, dass zwischen dieser Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 142. Ebd. 81 Ebd. 143. 82 Ebd. 141. 83 Vgl. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 143– 152. 84 Vgl. Teilkapitel 4.4, Fénelons Niederlage und sein Fortwirken, 167–171. 85 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 144. 79 80
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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
Position, für die etwa Kant steht, und der hier verfolgten Konzeption des Wohlwollens ein entscheidender Schritt liegt. Zum inneren Zusammenhang »zwischen der Erfahrung einmaliger und exklusiver Liebe und der Universalität des Wohlwollens« 86 führt erst die Anknüpfung an Spaemanns der Wiederbelebung des teleologischen Denkens gewidmete metaphysische Konzeption, deren Erweiterung in »Glück und Wohlwollen« ausgehend vom teleologischen Lebensbegriff oben im Abschnitt »Conditio humana« dargelegt wurde. 87 Im Mittelpunkt der Überlegungen stand dort der Gedanke des »ursprünglichen Erwachtseins« als anthropologischer Grundbestimmung, auf den die Unmöglichkeit, das Verhältnis von Lebendigkeit und Vernünftigkeit in der durchschnittlichen Verfassung des Menschen zu analysieren, zurückgeführt wurde. Dabei fand diese anthropologische Grundbestimmung, wie gesehen, ihre Fundierung in der Berufung auf den Mythos von der Erbsünde und damit auf ein ursprüngliches Verhältnis des Menschen zu Gott. Aus eben dieser Fundierung wiederum entwickelt Spaemann die Überwindung der skizzierten Paradoxie des Wohlwollens, insofern das abstrakte Verhältnis von Allgemeinem und Konkretem durch diese Fundierung eine Vermittlung erfährt: »Das Verhältnis von Gottesliebe und ›Nächstenliebe‹ hingegen ist nicht das von transzendentaler Form und kategorialem Anwendungsfall, sondern von Präsenz des Absoluten und dessen realem Symbol. Das Bild ist nicht eine ›Anwendung‹ dessen, wovon es Bild ist. Es stellt das, wovon es Bild ist, dar.« 88 Durch den Begriff der Darstellung wird nun also versucht, die Doppeldeutigkeit des Bildes als Sein und Zeigen, 89 als Angeschautes und Sehen zugleich, neu zu denken. Sobald das Wohlwollen die kontemplative Position verlässt und sich handelnd auf die Welt bezieht, verwandelt es sich, so schien es, entweder in einen »Kult reiner Spontaneität« und »Fanatismus der Leidenschaft« oder in den »Imperativ der Unparteilichkeit und die Verallgemeinerungsforderung« 90. Diese Antinomie, in die das praktisch werdende Wohlwollen zu geraten scheint, soll nun aufgehoben werden durch eine Vermittlung zwischen dem Konkreten, dem das Wohlwollen gilt, und dem Ganzen der Wirklichkeit,
86 87 88 89 90
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 144. Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 457–467. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 142. Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 471–472. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 143.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
die durch das Konkrete repräsentiert wird, in der symbolischen Darstellung des Ganzen durch das Konkrete, als deren Urbild wiederum das Verhältnis des Menschen zu Gott dient: Handelnd können wir uns auf Gott gar nicht beziehen, sondern nur auf Endliches – mit Ausnahme der rituellen Formen der Gottesverehrung, deren endliche, partikulare, »konventionelle« Gesten das Göttliche symbolisch thematisieren. Aber jeder die sittliche Identität des Menschen begründende unmittelbare Bezug des Handelns ist ein symbolischer. Daher ist alles sittliche Handeln ein rituelles, also nicht rein zweckrationales Handeln. Es ist Darstellung des Wohlwollens, nicht dieses selbst. In dieser Darstellung wird aber die Universalität des Wohlwollens gebrochen. 91
Symbolisch ist also nicht nur jede handelnde Bezugnahme auf Gott, sondern überhaupt jeder Bezug des Menschen auf das Unbedingte im Handeln und damit jedes Handeln aus Wohlwollen, wie es hier verstanden wird. Durch diese Kennzeichnung wird die Paradoxie zum wesentlichen Unterscheidungsmerkmal eines bestimmten Handlungstyps gemacht. Jedes Handeln, das nicht rein zweckrational ist, sondern dem es um etwas geht, was nicht durch das eigene Interesse definiert ist, ist symbolisch in dem Sinne, dass es einerseits die je eigene Handlung bleibt, andererseits aber einen Blick von außen auf diese Handlung antizipiert und damit einen Mittelpunkt der Welt, der mit dem eigenen Subjekt nicht identisch ist. Das in der Handlung sich realisierende Wohlwollen wird damit zum Symbol in dem paradoxen Sinn, durch den Goethe diesen Begriff bestimmt hat: »Es ist die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache; ein im geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild, und doch mit dem Gegenstand identisch.« 92 Die unauflösbare Paradoxie des Wohlwollens hat ihren Grund im Wesen der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur. Als Darstellung des Wohlwollens ist die symbolische Handlung der Kompromiss zwischen der vernünftigen Universalität des Wohlwollens selbst und seiner dem lebendigen Menschen möglichen endlichen Konkretisierung. ›Brechung‹ des Wohlwollens meint also keinesfalls seine Aufhebung, sondern, vergleichbar der Lichtbrechung zu einem Farbspektrum im Prisma, seine zunächst kontingente Konkretisierung in der Begegnung mit dem
91 92
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 142. Goethe, Nachträgliches zu Philostrats Gemälde, Weimarer Ausgabe, Bd. 49.1, 142.
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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
Anderen; es bleibt Wohlwollen in seiner ganzen Universalität und konkretisiert sich doch an einem einzigen Gegenüber: Das ursprünglich kontingente Wohlwollen erweist nun aber gerade darin seine Echtheit, das heißt seinen kognitiven Charakter, seine wirklichkeitserschließende Kraft, daß es in dem Einen, dem es sich zuwendet, die ganze Welt erlebt und in neuem Licht sieht. Eben dadurch hebt die anfängliche Kontingenz sich auf. Der Eine repräsentiert das Ganze. 93
Nur in einem solch eingeschränkten Sinn kann Wohlwollen unter den »Bedingungen der Endlichkeit« 94 sich verwirklichen. Im Folgenden muss nun näher betrachtet werden, welche Einschränkungen der Universalität des Wohlwollens möglich sind, ohne dass dieses selbst verschwindet, und welche ontologischen Folgen sich aus diesen Einschränkungen ergeben. Zunächst muss hierzu der Gedanke der ›Brechung‹ des Wohlwollens im konkreten Lebensvollzug in rationalen Kategorien ausgedrückt werden: Das Wohlwollen in seiner Universalität muß sich für endliche Lebewesen in eine Struktur gliedern, die der Endlichkeit ihrer Perspektive ebenso wie der Endlichkeit der Gegenstände des Wohlwollens entspricht. Mit anderen Worten: Es gibt das, was Augustinus den ordo amoris genannt hat. Jeder hat im ordo amoris des Anderen einen eigenen Ort. Die Universalität der Vernunft läßt uns selbst realisieren, daß wir nicht jedem so wichtig sein können, wie wir es uns selbst sind. Und eben weil jeder Mensch das weiß, hat jeder Mensch einen Anspruch darauf, niemandem als ein Niemand zu gelten. 95
Es besteht zunächst eine Kluft zwischen einem rein theoretischen und einem lebendigen Wissen, um deren Überbrückung es geht: »Wir können also als Halberwachte nur in dem Sinne aufwachen wollen, daß wir das, was wir wissen, für uns erlebbar machen, indem wir einen ordo amoris ausbilden.« 96 Die Forderung nach Anerkennung jedes Anderen in seinem Selbstsein markiert das sittliche Minimum, über das hinaus der ordo amoris »eine gestufte Rangordnung innerhalb des universalen Wohlwollens« 97 enthält, für die zunächst die »in 93 94 95 96 97
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 144. Ebd. 142. Ebd. 145. Ebd. 148. Ebd. 146.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
der sinnlichen, räumlich-zeitlichen Verfassung des Lebens« gründende »Relation größerer Nähe und Ferne« 98 von zentraler Bedeutung ist: Wenn Vernunft das Zusichkommen eines Lebendigen ist, sein Erwachen zur Wirklichkeit, dann heißt das: Praktische Vernunft ist nicht eine zweite Realität neben der des lebendigen Organismus, sondern dessen »Form«. Die Zentralität des Triebes, dem die Welt wesentlich Umwelt ist, wird für das vernünftige Wesen daher nicht gleichgültig. Menschliche Interaktion ist nicht eine Verschmelzung füreinander transparenter Vernunftwesen, die alle im Medium vernünftiger Allgemeinheit existieren. Das Medium vernünftiger Allgemeinheit setzt ja, wenn es nicht leer bleiben soll, die konkrete Lebendigkeit partikularer Individuen voraus, die wir deshalb, weil sie als diese Individuen zugleich des Wohlwollens und der wohlwollenden Relativierung der eigenen Interessen fähig sind, Personen nennen. Die Individualität und endliche Perspektivität der Person ist nicht das Unvernünftige und zu Überwindende, sondern das, was den Überstieg in die universelle Perspektive trägt und ermöglicht. Personen sind nur als Individuen. Und so ist die Ordnung von Nähe und Ferne eine sittlich relevante Ordnung. 99
Jeder Versuch, das Wohlwollen aus seiner Verwurzelung im lebendigen Organismus zu lösen, müsste erneut zu einer rein deontologischen Ethik führen, für die die oben im Zusammenhang mit Kants Pflichtethik beschriebenen Konsequenzen unausweichlich wären. 100 Durch diese Verwurzelung im lebendigen Organismus ist das Wohlwollen aber an eine Rangordnung gebunden, die zunächst aus den kontingenten Relationen der Nähe und Ferne eines Individuums zu der es umgebenden Welt hervorgeht und sich auch im Prozess der vernünftigen Überformung mit entsprechenden Modifikationen erhält. Neben diesem Gesichtspunkt der Nähe und Ferne gibt es auch eine »Rangordnung der Wirklichkeiten« 101, zu deren Abstufungen Spaemann in »Glück und Wohlwollen« nur einige Andeutungen macht. Die höchste Stufe nehmen die anderen Menschen ein, nicht aufgrund der »biologischen Gattungssolidarität«, sondern weil der
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 146. Ebd. 100 Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 453–455. 101 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 150. 98 99
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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
Andere »ein Verhältnis zu sich selbst hat, also ein Selbst ist« 102. Darüber hinaus antwortet Spaemann auf die Frage, »ob es ein sittliches Verhältnis des Menschen, ein Verhältnis des Wohlwollens und des Zuhilfekommens, auch jenseits zwischenmenschlicher Beziehungen gibt« 103, mit einem klaren Ja, ohne auf die weiteren Abstufungen in der Tier-, der Pflanzen- und der anorganischen Welt an dieser Stelle einzugehen. Um den Gedanken der ›Brechung‹ des Wohlwollens im Lebensvollzug weiter mit Inhalt zu füllen, muss noch ein zweiter Aspekt thematisiert werden, der von der Herausbildung einer Rangordnung des ordo amoris vorausgesetzt ist und durch den ein Bezug zur Bedeutung der Polis in der oben dargelegten aristotelischen Kompromissfassung des Eudämonismus hergestellt wird: 104 […] Traditionen, Sitten, normative Orientierungen haben die Funktion, die Unbedingtheit des Wohlwollens, in der die Wirklichkeit des Selbstseins erscheint, zu vermitteln mit den vielfältig bedingten Situationen, in denen endliches Handeln geschieht. In ihnen muß sich Wohlwollen »brechen«, um sich äußere Realität zu geben. Diese strukturellen Vorprägungen unserer Erwartungen und Pflichten stellen dem Wohlwollen gewissermaßen eine »Sprache« zur Verfügung. 105
Die Bedeutung, die Spaemann Traditionen, Sitten und normativen Orientierungen beimisst, entspricht sehr genau der von ihm beschriebenen Funktion der Polis-Wirklichkeit in der Ethik des Aristoteles, die wesentlich in der Kontingenzreduktion durch die von ihr garantierte Normalität bestand. Traditionen, Sitten und normative Orientierungen bieten somit einen für die Entfaltung des Individuums wesentlichen Rahmen, ohne die Verantwortung des Einzelnen für diese Entfaltung aufzuheben: Sitte ist zur Darstellung des Wohlwollens unentbehrlich, doch eine adäquate Darstellung wird dieses in der Sitte nie finden können. Gerade deshalb ist Sitte, Konvention für menschliches Handeln unerläßlich. Sie stiftet Normalität, die für alles Lebendige konstitutiv ist. 106 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 151. Ebd. 153. 104 Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss, 440–444. 105 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 203. 106 Ebd. 204. 102 103
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Lebendige Wesen zeichnen sich gemäß Spaemanns Grundüberzeugung durch ein teleologisches Aussein-auf aus, weswegen für sie Normalität von zentraler Bedeutung ist: »Das Äquivalent für Gesetzmäßigkeit in Kausalaussagen ist Normalität in teleologischen Aussagen.« 107 Der Begriff der Normalität bezeichnet den für lebendige Wesen notwendigen Rahmen möglicher Orientierung und Entfaltung der eigenen Anlagen. »Sitte ist eine […] zweite Normalität, die durch Erziehung vermittelt wird.« 108 Der Vergleich dieser zweiten Normalität mit einer »Sprache«, die dem Wohlwollen zur Verfügung gestellt ist, unterstreicht einmal mehr die nicht analysierbare Verbindung von Natur und Vernunft in der menschlichen Wirklichkeit: Man kann das Natürliche und das Vernünftige nicht als Gegensätze begreifen. Wenn wir einsehen, daß die Stabilität der Verhaltenserwartungen und des Verhaltens selbst nicht durch ständige Reflexion gesichert werden kann, sondern der Tradition und der Sitte bedarf, so heißt das, daß Tradition und Sitte gerade wegen ihrer reflexionsentlastenden Funktion wiederum vernünftig sind. Diese Einsicht bedeutet jedoch nicht Rückkehr zu unaufgeklärtem Traditionalismus. Im Gegenteil. Gerade weil Tradition und Sitte als solche durch ihre Funktion rational gerechtfertigt sind, sind sie auch in ihrem jeweiligen Gehalt der Kritik durch vernünftige Reflexion zugänglich. Gerade weil Konventionen nicht als solche unvernünftig sind, können wir vernünftige und unvernünftige Konventionen unterscheiden. 109
Die zweite – kulturelle – Normalität bezeichnet so schon dem Begriff nach die nicht analysierbare Verbindung des Natürlichen und des Vernünftigen, 110 durch die für das Individuum ein Strukturzusammenhang des Handelns insgesamt, gewissermaßen ein Modell des ordo amoris, bereitgestellt wird, der von jedem Einzelnen neu gefüllt werden muss, wobei diese zweite Normalität im konkreten Einzelfall immer wieder neu in Frage gestellt und modifiziert wird. Gleichwohl ist die Ausbildung des konkreten ordo amoris des Einzelnen auf diese entlastende Kontingenzreduktion durch Tradierung von bewährten Formen menschlichen Miteinanders in einer bestimmten Umwelt angewiesen.
Spaemann, Naturteleologie und Handlung (1978), 50. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 205. 109 Ebd. 206. 110 Vgl.: »Kultur heißt ursprünglich Ackerbau, Kultur ist humanisierte, nicht abgeschaffte Natur.« – Ebd. 215. 107 108
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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
Doch trotz Kontingenzreduktion durch gesellschaftliche Normalität und die Herausbildung eines individuellen ordo amoris bleibt der mit der Idee des Wohlwollens gesetzte Anspruch durch seine nicht abstreifbare Universalität zwangsläufig eine Überforderung des Einzelnen. Es »bleibt die Spannung bestehen zwischen der Unendlichkeit des Horizontes der Verantwortung, der sich dem vernünftigen Wesen erschlossen hat, und der Endlichkeit des Lebewesens Mensch, das dieser Verantwortung handelnd gar nicht entsprechen kann« 111. Wenn die Überforderung des Menschen somit im Verhältnis von Lebendigkeit und Vernünftigkeit begründet ist, die die conditio humana ausmacht, so müsste sich aus derselben conditio humana auch die entsprechende Entlastung entwickeln lassen, durch die diese Überforderung aufgefangen werden kann. Dies geschieht bei Spaemann durch eine eingehende Analyse des Aktes der Anerkennung. Da es sich um einen wesentlichen Gedankengang handelt, zitiere ich eine längere Textpassage: Anerkennung der Wirklichkeit des Anderen, amor benevolentiae gibt es, so hatten wir bereits früher gesehen, nur als Anerkennung des Anderen in seiner natürlichen Lebendigkeit, also seiner Zentralität. Der Grund dieser Anerkennung kann aber nur darin liegen, daß er seine Zentralität immer schon transzendiert hat. Die Potenz zu dieser Transzendenz liegt jedoch in der lebendigen Zentralität selbst, die deshalb zwar nicht Grund, aber Gegenstand der Anerkennung und des Wohlwollens ist. Wir können auch sagen: Form und Inhalt der Anerkennung endlicher Wesen fallen nicht zusammen. Darum enthält diese Anerkennung immer das Moment der Verzeihung dafür, daß niemand hält, was er durch sein Wesen verspricht. Auf allem liegt ein geborgter Glanz. Aber diese Verzeihung – in einem sozusagen vormoralischen, ontologischen Sinn – ist eben zugleich Anerkennung. Denn die endliche Natürlichkeit, die wir verzeihen müssen, ist zugleich das Sein dessen, dem die Verzeihung gilt, also der Grund seiner Selbsttranszendenz. Auf ihr liegt der Glanz, um dessentwillen wir einem Seienden wohlwollen. Verzeihung in diesem fundamentalen, vormoralischen Sinn bedeutet, daß wir unseresgleichen nur dann gerecht werden und ihn in seiner Würde achten, wenn wir ihn nicht vollkommen ernst nehmen. Einen Menschen vollkommen ernst nehmen heißt ihn vernichten. Denn vollkommen ernst genommen zu werden überfordert uns. Die Vernunft eröffnet uns eine Dimension,
111
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 147.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
von der wir zugleich erkennen, daß sie von uns nicht ausfüllbar ist. Niemand ist vollkommen erwacht. Natürlichkeit ist Unbewußtheit. 112
Bevor eine Deutung der die Überforderung des Menschen kompensierenden Entlastung gegeben werden kann, müssen einige Vorbemerkungen zur Einordnung der hier verwendeten Begriffe in den übergreifenden Kontext der Spaemann’schen Gedankenentwicklung gemacht werden. Bedeutsam scheint mir an dieser Stelle der Bezug auf die Unterscheidung von Sein und Wesen bzw. esse und essentia zu sein, die oben im Zusammenhang mit der beginnenden Reflexion auf die natürliche Selbsttranszendenz in der mittelalterlichen Philosophie thematisiert und mit der Kontingenzerfahrung in einen Zusammenhang gebracht wurde. 113 An der hier zitierten Stelle wird als Ort der Kontingenzerfahrung zur reflektierten Selbsttranszendenz fähiger Wesen das reziproke interpersonale Begegnungsgeschehen ausgewiesen. Die Wahrnehmung von Selbstsein als »Grund« und »Form« der Anerkennung, die in der vollzogenen Selbsttranszendenz die eigene Verwandlung in ein Selbstsein bewirkt, geht einher mit dem Bewusstsein der Kontingenz des eigenen Soseins bzw. Wesens als »Gegenstand« und »Inhalt« der Anerkennung. Der entscheidende Gedanke, der nun an dieser Stelle entwickelt wird, ist, dass die aus der lebendigen Zentralität hervorgehende Selbsttranszendenz als natürliche nicht durchgehalten werden kann. Es wäre nicht richtig zu sagen, sie könne sich nur teilweise entfalten, denn, wie gesehen wurde, 114 ist Vernunft »wesentlich Antizipation eines Vollendeten« 115. Selbsttranszendenz ist, wo sie gelingt, vollendete Selbsttranszendenz. Aber wie Vernunft »nicht Substanz, sondern Geschehen« 116 ist, so ist Selbsttranszendenz Ergebnis der Anstrengung eines natürlichen Lebewesens, der zeitliche Grenzen gesetzt sind. Da diese aus der conditio humana hervorgehende Beschränkung ein Teil der Selbsterfahrung eines jeden ist, kann im Akt der Anerkennung die natürliche Lebendigkeit des Anderen als ihr Gegenstand und Inhalt nicht verleugnet werden, ohne dass dieser Akt sich selbst aufhöbe. Diese konstitutive, die Entlastung realisierende Komponente der Anerkennung Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 241–242. Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 338– 339. 114 Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 458–459. 115 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 116. 116 Ebd. 117. 112 113
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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
nennt Spaemann Verzeihung: »Die Verzeihung, von der hier die Rede ist, nenne ich deshalb ›ontologisch‹, weil sie unser Sein zum Gegenstand hat, die Tatsache, daß wir sind, wie wir sind.« 117 Wir sind aufgrund des unauflösbaren Spannungsverhältnisses von Natürlichkeit und Vernunft in der »Situation der Zweideutigkeit«: Was am »Bleiben in der Natur« ist Natur? Wir müssen dieses Bleiben dem anderen als Person zurechnen, falls wir ihn als freies Subjekt anerkennen. Wir können es ihm nicht zurechnen, wenn wir ihn als freies Subjekt weiterhin respektieren wollen. Derjenige Akt, der diese Situation der Zweideutigkeit in die sittliche Eindeutigkeit bringt und die Einheit von Zurechnung und Nichtzurechnung vollzieht, ist die Verzeihung. In der »ontologischen« Verzeihung erlauben wir es dem anderen, das Versprechen nicht zu halten, das er als vernünftiges Wesen ist. Wir erlauben ihm die Perspektivität eines endlichen ordo amoris, in dem wir ihm weniger wirklich sind, als wir uns selbst erfahren, und der deshalb mit dem unsrigen nur darin identisch ist, daß er um seine eigene Endlichkeit und Perspektivität weiß, sie anerkennt und sich selbst auf Bedingungen der Koexistenz mit anderen Ordnungen des Wohlwollens zurücknimmt. 118
Spaemanns Theorie des Wohlwollens, wie sie in ihren Grundzügen hier expliziert wurde, nimmt also aufgrund der konkreten Brechung im ordo amoris und der menschlichen Normalität sowie der die ontologische Überforderung kompensierenden ontologischen Verzeihung die Gestalt eines Kompromisses an, wodurch die Form der Aktualisierung des antiken εὐδαιμονία-Gedankens im Wohlwollen, die von Spaemann entwickelt wird, eine deutlich größere Nähe zu Aristoteles erkennen lässt als zur reinen Lehre Platons.
117 118
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 242. Ebd. 245.
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7.3 Wohlwollen: Ethische Bedeutung und ontologische Konsequenzen
Nachdem in den beiden Hauptteilen des vorliegenden Kapitels versucht wurde, in zwei aufeinander aufbauenden Schritten die wesentlichen Intentionen Spaemanns zu erfassen und die auf sie zielenden Argumentationen in einer möglichst stringenten Gedankenführung wiederzugeben, soll im abschließenden dritten Teil auf zwei verschiedene Weisen ein Blick gewissermaßen von außen auf diese Argumentationen geworfen werden. Mit der Sicht von außen ist damit vor allen Dingen das Absehen gemeint von der für »Glück und Wohlwollen« charakteristischen Zielsetzung, Ethik und Ontologie als zwei Seiten derselben Sache zu betrachten. Gewissermaßen im Sinne einer Gegenprobe sollen die wesentlichen Gedanken Spaemanns aus der Sicht der Ethik auf der einen, aus der der Ontologie auf der anderen Seite geprüft werden. Zunächst geht es dabei um die Frage, worin der Beitrag von »Glück und Wohlwollen« zum ethischen Diskurs der Gegenwart zu sehen sein kann. Hierzu wird ausgehend von Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Konsequenzialismus und der Diskursethik geprüft, inwieweit seine Gedanken als ›metaphysikfreie‹ Ethik gelesen werden können bzw. inwieweit ein ontologischer Subtext aus seinen ethischen Aussagen nicht entfernt werden kann. Ziel dieser Überlegung ist eine Einschätzung der Potentiale und der Grenzen von Spaemanns ethischer Argumentation (7.3.1). Den Abschluss des Kapitels bildet der Blick auf die ontologische Seitenlinie der Argumentation in »Glück und Wohlwollen« und die aus ihr hervorgehenden philosophischen Potentiale. Dabei können sich die Gedanken zunächst auf Fragen stützen, die Spaemann selbst aufwirft und die über den Rahmen seines »Versuchs über Ethik« hinausweisen. In ihrem Zusammenhang tritt der Begriff der Person in den Mittelpunkt, dessen Verbindung mit den philosophiehistorischen Untersuchungen Spaemanns thematisiert wird, woraus sich abschließend Hinweise auf die im folgenden Kapitel leitende Fragestellung ergeben (7.3.2).
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7.3.1
»Glück und Wohlwollen« als Beitrag zum ethischen Diskurs der Gegenwart
Die beiden wesentlichen Bezugspunkte der kritischen Auseinandersetzung Spaemanns mit dominierenden Ethikmodellen der Gegenwart sind der Utilitarismus bzw. Konsequenzialismus und die Diskurstheorie, denen bereits lange vor »Glück und Wohlwollen« verschiedene Veröffentlichungen Spaemanns galten. 1 Ihnen ist im zweiten Teil von »Glück und Wohlwollen« jeweils ein Kapitel gewidmet, in denen ein Fazit dieser kritischen Auseinandersetzung zu sehen ist. Beide Modelle sollen hier in Nachzeichnung von Spaemanns Gedanken knapp im Hinblick auf ihre Stärken charakterisiert werden, bevor die Einwände gegen sie dargelegt und somit die Bezüge zu Spaemanns ethischer Position hergestellt werden. Das »Prinzip des Utilitarismus oder Konsequentialismus, das von seinen Vertretern auch als teleologisches Moralprinzip bezeichnet wird« 2, fügt sich ein in den Rahmen des naturwissenschaftlich orientierten Denkens und des technischen Fortschrittsverständnisses der Moderne, indem es sich im Geist der Aufklärung von überkommenen Lasten befreit und entschieden die rationale Selbstbestimmung in den Mittelpunkt rückt: Es versteht sich als ein Prinzip, aus dem sich für jede denkbare Situation ohne Rekurs auf Traditionen, Konventionen und Sitten die einzig pflichtgemäße Handlungsweise deduzieren läßt. Außerdem erlaubt dieses Prinzip die Auflösung aller vorrationalen Tabuisierungen und damit aller Hindernisse, die sich einer voll durchrationalisierten, funktionalen Gesellschaftsplanung in den Weg legen. Das Prinzip schließt nämlich, im Unterschied zu jeder bisherigen Ethik, keine Handlungsweise a priori davon aus, als eine deduzierte Pflicht in Frage zu kommen. 3
Mit dem Utilitarismus beschäftigen sich beispielweise die Publikationen »Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik« (1981), »Wer hat wofür Verantwortung? Kritische Überlegungen zur Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik« (1982) und »Teleologische und deontologische Moralbegründung« (1983). Zum Thema Diskurstheorie sind vor allen Dingen zu erwähnen »Die Utopie der Herrschaftsfreiheit« (1972) und der unter dem Titel »Die Utopie des guten Herrschers« ebenfalls 1972 veröffentlichte Briefwechsel zwischen Spaemann und J. Habermas. 2 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 159. 3 Ebd. 158–159. 1
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Dieses Prinzip besteht wesentlich im utilitaristischen Nutzenkalkül, also der Betrachtung jeder Handlung nach dem Kriterium des größtmöglichen Nutzens für die größtmögliche Zahl der Betroffenen. Es versteht sich, dass unter dieser Voraussetzung »die Worte ›gut‹ und ›Wert‹ hier nur in einem außermoralischen Sinne verstanden werden dürfen, da sonst die Definition zirkulär wäre. (Moralisch gut wäre dann eine Handlung, die das moralisch Gute zur Folge hätte.)« 4 Der Utilitarismus tritt also mit dem Anspruch auf, ein »eindeutiges und überprüfbares Moralkriterium« 5 und damit eine Antwort auf die schnellen Wandlungen unterworfene und damit permanent kontingenzreduzierende Bestände abbauende technische Zivilisation zu besitzen: »Moralische Gesichtspunkte begrenzen hier nicht die zweckrational-technische Handlungsorientierung, sondern vollenden sie.« 6 Prinzipiell spricht aus der Perspektive des Utilitarismus für ihn selbst, dass er eine metaphysikfreie Ethik zu sein beansprucht bzw., wie Spaemann es polemisch formuliert, 7 dass »er den Gottesgedanken entbehrlich macht, nämlich dadurch, daß er selbst durch die Übernahme der Universalverantwortung den Gottesstandpunkt einnimmt« 8. Die Argumentation Spaemanns gegen den Utilitarismus besteht zunächst aus einem intuitiven Einwand, der dann in einem zweiten Schritt argumentativ untermauert wird. Der intuitive Einwand richtet sich gegen die aus dem utilitaristischen Nutzen- bzw. »Optimierungskalkül« 9 hervorgehende Konsequenz, dass ein guter Zweck jedes Mittel heiligt: Die sittliche Qualität von Handlungen hängt für diese Ethik ausschließlich ab von ihrer Eignung als Mittel für das Optimierungsziel. Der Einwand, unsittliche Mittel könnten dieses Ziel niemals fördern, verfehlt das Problem: Ob ein Mittel sittlich oder unsittlich ist, kann man ja nach dieser Theorie vor der Kenntnis seiner Eignung gar nicht wissen. Es ist nichts anderes als diese Eignung.
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 159. Ebd. 162. 6 Ebd. 163. 7 Diese polemische Haltung zum Utilitarismus macht Oliver Hallich Spaemann zum Vorwurf. Seiner Behauptung, dass Spaemann »seine Thesen nicht in Form einer Kritik des Utilitarismus formuliert«, sondern »sich zu ihrer Begründung auf basale ›sittliche Intuitionen‹ beruft«, soll jedoch im Folgenden widersprochen werden. – Hallich, Grenzen (Rezension). 8 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 164. 9 Ebd. 4 5
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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
Diese Auffassung läßt keinen Platz für das, was für alle bisherige Ethik charakteristisch war und was die Griechen als αἰδώς, als Scheu oder Scham bezeichneten, also ein Gefühl dafür, daß dem Menschen bei der Verfolgung seiner Ziele Grenzen gesetzt sind. 10
Die für Spaemann entscheidende Frage in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus lautet daher: »Gibt es nun Grenzen der Güterabwägung oder gibt es sie nicht?« 11 Aus Spaemanns Sicht erfordert diese Frage ein klares Ja, wobei seine Argumentation in zwei Richtungen geht. Die erste wird markiert durch einen Gedankengang, der zeigen soll, dass ein »universaler Nutzenkalkül« 12 eine Überforderung des Menschen sowohl im theoretischen als auch im praktischen Sinn darstellt. Die theoretische Überforderung ergibt sich schlicht aus der kognitiven Unmöglichkeit, sämtliche Folgen einer Handlung zuverlässig zu antizipieren. Sittlichkeit wird so »zu einer Sache von Experten für möglichst umfassende Nutzenkalküle«, was gleichbedeutend ist mit einer »Entmündigung des Einzelnen« 13. Die praktische ergibt sich als Verlust jeder Handlungsfähigkeit aus der theoretischen und »besteht darin, daß jeder in jedem Augenblick, um sittlich zu handeln, genötigt ist, das Bestmögliche zu tun, um das Weltbeste zu fördern« 14. Die zweite Richtung der Argumentation geht von der Betrachtung der einzelnen Handlung aus. Dass jede beliebige sittliche Überzeugung und die daraus folgende Handlungsregel »durch die utilitaristische Reflexion geschwächt« 15 wird, indem sie sich der kritischen Prüfung durch den universalen Nutzenkalkül stellen muss, führt nach Spaemann »zu einer sittlichen Unterforderung der Person« 16 durch Reduktion des Menschen auf seine vitalen Bedürfnisse, die zeigt, dass es dem Utilitarismus nicht gelingt, die beiden Seiten des Menschen als Lebewesen und Vernunft in ihrer Vermittlung zu denken. In utilitaristischer Perspektive ist der Mensch einerseits als Vernunft Instrument des universalen Optimierungsprogramms, andererseits als Lebewesen Teil der zu optimierenden Welt:
10 11 12 13 14 15 16
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 165. Ebd. Ebd. 166. Ebd. 169. Ebd. 170. Ebd. 167. Ebd. 170.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Als Vernunftwesen ist der Mensch nicht lebendig, als Lebewesen nicht vernünftig. Das gilt natürlich auch für den Umgang des Menschen mit sich selbst. Als Lebewesen ist er selbst ein Teil der Welt, die es zu optimieren gilt. Für den Umgang mit sich selbst kann daher nur folgende Doppelregel gelten: 1. Vervollkommne deine Fähigkeiten, als Instrument des vernünftigen Willens zur Verbesserung der Welt beizutragen. 2. Sorge für dich als Teil dieser zu verbessernden Welt dadurch, daß du es dir als Lebewesen so gut wie möglich gehen läßt, – wobei zu diesem Wohlbefinden sittliche Vollkommenheit, sittliches Erwachtsein definitionsgemäß nicht gehört. Die beiden Imperative bleiben unvermittelt, und es ist auch nicht zu sehen, wie eine Abwägung zwischen ihnen aussehen sollte. Als sittlich Handelnder bin ich reines, auf das Optimierungsziel verpflichtetes Vernunftwesen. Als Teil der Welt, die es zu optimieren gilt, kann meine anzustrebende Vervollkommnung nur in der Entfaltung meiner selbst im außersittlichen Sinne liegen. 17
Sittliche Überzeugungen sind in dieser Sicht nur tradierte Vorurteile, die einer vernünftigen Überprüfung zu unterziehen sind. Das eigene Wohlergehen als Lebewesen hängt danach nicht ab von sittlichen Intuitionen, sondern von als vernünftig erkannten Regeln, die wesentlich außersittlicher Art sind, also auf Selbsterhaltung und Lustmaximierung zielen. Damit aber verfehlt der Utilitarismus – in den begrifflichen Kategorien Spaemanns gedacht – gerade das Menschliche am Menschen, nämlich die Vernunft als »Geschehen des Substanziell-werdens eines organischen Prozesses« 18 und damit das Selbstsein: »Die utilitaristische Ethik bringt nicht nur das Selbstsein des Anderen, der von unserem Handeln betroffen ist, durch Relativierung zum Verschwinden, sondern auch das Selbstsein des Handelnden.« 19 Selbstsein ist, wie oben gezeigt wurde, 20 nach Spaemann Repräsentation des Unbedingten, dessen Wahrnehmung ihrerseits nur einem Selbstsein möglich ist und mit der erwähnten, dem Utilitarismus fremden Scheu (αἰδώς) verbunden ist: Der eigentliche Endzweck alles sittlichen Handelns erweist sich nämlich als schon präsent, ehe wir zu handeln beginnen. Aus diesem Seinlassen erst folgt der Impuls des Zuhilfekommens. Aber jede Hilfe, die aus diesem Impuls hervorgeht, wird – bei aller erforderlichen tech17 18 19 20
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 170–171. Ebd. 117. Ebd. 169. Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479.
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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
nischen Perfektion – doch umgriffen bleiben von dieser Haltung der Ehrfurcht vor dem, was ist – und das[,] indem es ist, allem, was sein und geschehen soll, vorausgeht. 21
Spaemanns Einwand gegen das utilitaristische Ethikmodell besteht also darin, dass die universale Güterabwägung einerseits unsere kognitiven Kapazitäten überfordert, dass in diesem Ethikverständnis andererseits die entscheidende Evidenz der Wahrnehmung von Selbstsein negiert und der Mensch als zu sittlichem Handeln fähiges Wesen damit unterfordert wird. Das zweite von Spaemann näher betrachtete Ethikmodell der Gegenwart, die Diskursethik, »versucht dem gegenüber, den Kantischen Gedanken vernünftiger Verallgemeinerung, in der die Subjektstellung jedes vernünftigen Wesens gewährleistet ist, in einer modernen Variante zu erneuern« 22. Die vernünftige Verallgemeinerung besteht dabei zunächst in der »Anerkennung des Anderen« 23 als Selbstsein bzw. Selbstzweck. »Die Diskursethik ist ein Versuch, den Kantischen Begriff der praktischen Vernunft zu operationalisieren und zu entindividualisieren.« 24 Welche Konsequenzen der kantischen Ethik ließen eine solche Operationalisierung und Entindividualisierung als geboten erscheinen? Der kategorische Imperativ der praktischen Vernunft ist als bloß formales Prinzip der Handlungsbeurteilung einerseits abhängig von der »Interessenlage des Einzelnen« 25, andererseits »ergibt sich, so scheint es, kein Prinzip, das es erlauben würde, den Grad der Individualisierung bestimmter Handlungs- oder Situationstypen festzulegen, auf die sich unsere moralischen Regeln beziehen können« 26. Da somit das Kriterium der Sittlichkeit nur durch die Selbstgewissheit der Vernunft verbürgt ist, scheint eine Operationalisierung der praktischen Vernunft nur möglich zu sein durch die Überwindung des individualistischen Ausgangspunkts: Es ist nun der Vorschlag gemacht worden, die individuelle Konsultation der eigenen praktischen Vernunft oder auch die individuelle Wünschbarkeit einer allgemeinen Verteilungsordnung zu ersetzen durch das Ergebnis eines realen Diskurses mit allen, die von den Fol21 22 23 24 25 26
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 171. Ebd. 173. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 174.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
gen meiner Handlung betroffen sind. Das Prinzip des Wohlwollens erfordert danach nicht nur, deren Wohl zu berücksichtigen, sondern auch sie selbst bei der Definierung dieses Wohls und bei der Ausarbeitung von Normen, die jedermann zumutbar sind, zu Wort kommen zu lassen. 27
Das individuelle »Mit-sich-zu-Rate-Gehen[…]« 28 soll also im Sinne der Überwindung des kantischen Formalismus ersetzt werden durch ein echtes Miteinander-zu-Rate-Gehen der vernünftigen Wesen in einem realen Diskurs: Ein solcher Diskurs muß drei Bedingungen genügen, wenn er als Äquivalent für das Selbstgespräch des Vernünftigen gelten soll. Er muß herrschaftsfrei sein, das heißt, die Ungleichverteilung von Durchsetzungschancen, die im wirklichen Leben vorhanden sind, darf es in ihm nicht geben, da ja hier die Kriterien entwickelt werden sollen, an denen diese Verteilung auf ihre Gerechtigkeit hin überprüft werden kann. In diesem Rechtfertigungsdiskurs muß jeder Betroffene ohne Druck seine Interessen artikulieren und an ihrer Umformung zu einem kompatiblen Ganzen chancengleich mitwirken können. Allerdings, das ist die zweite Bedingung, müssen alle Beteiligten über die erforderliche Kompetenz verfügen. Sie müssen über ihre Interessen aufgeklärt sein und über die geistige Fähigkeit verfügen, unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten »umzudisponieren«. Die dritte Bedingung ist schließlich eine gewisse moralische Qualifikation aller Beteiligten. Sie müssen bereit sein, ihre Interessen wirklich zur Disposition einer eventuellen Umformulierung zu stellen. 29
In Spaemanns Darstellung leitet bereits die Aufzählung dieser Bedingungen eines gelingenden Diskurses seine Kritik an der Diskursethik ein, da als Modell hier offensichtlich kein faktischer Diskurs dient, sondern »vielmehr ein kontrafaktisch angenommener idealer Diskurs, dessen Ergebnis wir in unseren moralischen Überlegungen zu antizipieren haben« 30. Spaemann zeigt, dass alle drei Bedingungen von realen Diskursen nicht erfüllt werden und dass umgekehrt ihre Voraussetzung den Diskurs überflüssig machen würde. Erstens sind »[r]eale Diskurse, die praktische Fragen zum Gegenstand haben, […] nie herrschaftsfrei. Sie privilegieren z. B. Intellektuelle, die gut reden
27 28 29 30
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 174 Ebd. 176. Ebd. 175. Ebd. 176.
496 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
können.« 31 Aber auch abgesehen von einer solchen persuasiven Machtausübung setzt der Gedanke der Herrschaftsfreiheit voraus, dass sich im Diskurs eine überpersönliche Vernunft durchsetzt. Gerade diese wurde aber durch die Annahme einer notwendigen Operationalisierung und Entindividualisierung des kantischen Begriffs der praktischen Vernunft in Zweifel gezogen 32: »Unter der nominalistischen Voraussetzung, die dem Paradigmenwechsel von der Vernunft zum Diskurs zugrundeliegt, verfällt der Diskurs schließlich demselben Verdikt wie die mit sich selbst sich verständigende Vernunft.« 33 Das aber bedeutet, dass der Diskurs »nur eine andere Form von Gewalt, Gewalt mit Worten« 34 ist. Hält man dagegen »kontrafaktisch an der Idee eines nur an Wahrheit oder Gerechtigkeit orientierten herrschaftsfreien Diskurses« fest, heißt das, dass sein Ergebnis antizipiert werden kann, so dass er gar nicht mehr stattzufinden braucht. Denn »die Antizipation seines Ergebnisses ist nichts anderes als das Resultat eben jenes vernünftigen Mit-sich-selbst-zu-Rate-Gehens, das durch die Fiktion des idealen Diskurses abgelöst werden sollte« 35. Mit den beiden anderen Kriterien, also der sittlichen Kompetenz der Beteiligten und ihrer moralischen Qualifikation bzw. Aufrichtigkeit, verhält es sich ähnlich: »Wo diese Bedingungen erfüllbar sind, da ist eigentlich die Aufgabe schon gelöst, die durch den Diskurs angeblich erst lösbar werden sollte.« 36 Die damit aufgewiesene »sekundäre Stellung des Diskurses im Bereich der sittlichen Urteilsbildung« 37 belegt Spaemann darüber hinaus durch drei weitere Argumente. Wenn erstens dem Diskurs die Antizipation seines Ergebnisses sowie die Bereitschaft, sich ihm zu stellen, vorhergehen muss, ist der Diskurs »nie sittliche Entscheidungsinstanz, sondern immer nur Durchgangsstadium in der persönlichen sittlichen Urteilsbildung« 38. Er dient der Überprüfung der »prätendierte[n] Unparteilichkeit unserer sittlichen
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 176. Die historische Ursache dieser Entwicklung sieht Spaemann wiederum in der neuzeitlichen Entteleologisierung: »Es ist vor allem der antiteleologische Nominalismus der Neuzeit, der die Umdeutung der klassischen Vernunft- zu einer Diskursethik nahelegt.« – Ebd. 175. 33 Ebd. 176. 34 Ebd. 177. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 179. 38 Ebd. 31 32
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Urteile«, wobei die »Bereitschaft, das eigene Urteil einer solchen Prüfung zu unterziehen, […] der Test auf die Aufrichtigkeit dieser Prätention« 39 ist. Die sittliche Urteilsbildung unterscheidet sich von politischen Entscheidungsprozessen eben dadurch, dass eine politische Mehrheitsentscheidung, die den eigenen Überzeugungen widerspricht, aufgrund der Respektierung demokratischer Meinungsfindungsprozesse akzeptiert werden kann, ohne dass diese Respektierung diskursiv erzeugt wäre: Der Gehorsam gründet vielmehr, wenn er mehr ist als Anpassung aus Furcht vor Sanktionen, in jenem fundamentalen Wohlwollen, in dem mir die Wirklichkeit meiner selbst und der Anderen wirklich wird. Und unter den inhaltlichen Konsequenzen dieses Wohlwollens ist die Bereitschaft zur diskursiven Verständigung über das Gute und das Schlechte nur eine unter anderen und nicht einmal die primäre. 40
Zweitens weist Spaemann darauf hin, dass aus einem Diskurs, beispielsweise dem der Wissenschaft, eine sittliche Verantwortung erst dann hervorgeht, wenn der Teilnehmer des Diskurses in ein persönliches Verhältnis zu einem Anderen tritt, etwa der am medizinischen Diskurs teilnehmende Arzt in eines zu seinem Patienten: »Ethik ist keine ars longa, Ethik hat es immer mit der vita brevis zu tun.« 41 Drittens führt Spaemann als Argument für die sekundäre Stellung des Diskurses im Bereich der sittlichen Urteilbildung die definitorische Beschränkung auf die Diskursteilnehmer an: Aber was ist mit Kindern, was ist mit Geisteskranken, was ist mit den kommenden Generationen, die von unseren Entscheidungen betroffen, aber in keinem Diskurs präsent sind, der ihre Interessen betrifft? Was ist mit der Verantwortung für Leben und Tod der Ungeborenen? Spätere Diskursteilnehmer werden nur diejenigen sein, die man am Leben ließ. Und was ist mit der Verantwortung für das Andenken und die Fortsetzung des Werkes derer, die vor uns waren? Die Diskursethik kann die Verantwortung für diejenigen, die nicht am Diskurs teilnehmen können, nicht begründen. Diese liegt vor dem Diskurs. Und Verantwortung, also jenes praktisch werdende Wohlwollen, das »Hilfe« heißt, liegt allem Diskurs zugrunde. 42
39 40 41 42
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 178. Ebd. 179. Ebd. 181. Ebd. 182.
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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
Spaemanns Kritik an der Diskursethik lässt sich also dahingehend zusammenfassen, dass der Versuch der Operationalisierung des kantischen Begriffs der praktischen Vernunft an denselben Denkvoraussetzungen scheitert, die diese Operationalisierung zuallererst nötig erscheinen ließen, und dass die jedem Diskurs notwendig vorausgehende sittliche Urteilsbildung ihren Grund in einer nicht reduzierbaren Evidenz der Wahrnehmung hat. Abschließend soll es nun vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus und der Diskursethik um die Frage gehen, welche über diese kritischen Einlassungen hinausgehende Konkretisierung der spezifisch ethischen Position Spaemanns aus »Glück und Wohlwollen« abgeleitet werden kann. Diese Überlegung muss in dem Bewusstsein geschehen, dass jeder Versuch, aus Spaemanns »Versuch über Ethik« ein neues »Ethikmodell« herauslesen zu wollen, den Intentionen seines Autors zuwiderlaufen müsste. Spaemann beginnt das Vorwort zu »Glück und Wohlwollen« mit den Worten: »Dieser Versuch über Ethik enthält hoffentlich nichts grundsätzlich Neues. Wo es um Fragen des richtigen Lebens geht, könnte nur Falsches wirklich neu sein.« 43 Die Einwände gegen die Diskursethik und den Utilitarismus sind somit nicht Hinweise auf die Notwendigkeit eines neuen Modells der Ethik, sondern rufen vielmehr selbst zu einer μετάνοια auf, um die es, wie gesehen, 44 für Spaemann in der Ethik wesentlich geht. Eine solche Wendung kann zunächst auf Kants Auffassung des Menschen als Selbstzweck zurückgehen, dessen Erscheinung »Repräsentation seiner eigentlichen, ›noumenalen‹ Wirklichkeit ›in der Sinnenwelt‹« 45 ist, womit das Selbstsein für Kant, wie Spaemann schon früher betonte, »in die Leerstelle, die in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ durch den Begriff des Dinges an sich geschaffen wurde« 46, einrückt. Spaemann teilt mit Kant diese Auffassung des menschlichen Selbstseins, stellt sie aber in einen gegen die kantische Philosophie gerichteten naturteleologischen Begründungszusammenhang, durch den Kants Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs 47 bei Spaemann, wie bereits im Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 9. Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 458. 45 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 194. 46 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 43. 47 »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« – Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 61. 43 44
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
sechsten Kapitel gezeigt, 48 eine Erweiterung über die menschliche Spezies hinaus erfährt: »Handle so, daß du die Natur sowohl in deiner Person als auch in jedem anderen natürlichen Wesen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck gebrauchst.« 49 Die Differenz zu Kant zeigt, dass die philosophiehistorische Rückwendung hier nicht stehen bleiben kann; es bedarf weiter der Rückkehr zu Platon und Aristoteles und dem, was an der »klassischen Sicht unaufgebbare Entdeckung« 50 war, nämlich die Idee vom gelingenden Leben. Insofern diese wiederum sich unter neuzeitlichen Denkbedingungen in Antinomien verstrickte, kann sie erst durch eine mit der Idee der sittlichen Verantwortung vermittelte Aktualisierung erneuert werden, die in Spaemanns Denken den Namen Wohlwollen trägt. Dieses Wohlwollen ist wesentlich Geschenk, das Erwachen zur Wirklichkeit. Die Fundierung des ethischen Grundgedankens Spaemanns ist daher nicht möglich, ohne auf die Evidenz einer Wahrnehmung zu rekurrieren, die nicht auf Gegenständlichkeit für ein Subjekt zielt, sondern sich allein einem Akt der Anerkennung erschließt. Damit kann als Schlussfolgerung des Gedankengangs in diesem Abschnitt festgehalten werden, dass Spaemanns ethische Position, wiewohl sie durchaus eine deutliche Schnittmenge mit der kantischen Sicht hat, sogleich beginnt, die Grenzen des Ethischen im engeren Sinne in Richtung einer Ontologie zu überschreiten, sobald über rein normative Gesichtspunkte hinaus nach den Beweggründen für sittliches Handeln in der menschlichen Natur gefragt wird. Akzeptiert man die Forderung, dass eine zeitgemäße Ethik ›metaphysikfrei‹ sein müsse, ergibt sich daraus ein schwerwiegender Einwand gegen Spaemanns »Versuch über Ethik«. Dieser Einwand jedoch würde den Gedankengang Spaemanns bereits im Ansatz verfehlen, insofern eine solche Forderung durch seine erste Prämisse als in sich widersprüchlich und darum unhaltbar zurückgewiesen wurde: »Es gibt keine Ethik ohne Metaphysik.« 51
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 397. 49 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 133. 50 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 17. 51 Ebd. 11. 48
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7.3.2
Ontologische Fragen und Perspektiven
Im zweiten Teil von »Glück und Wohlwollen« gelangen Spaemanns Argumentationen gelegentlich an einen Punkt, an dem er entweder auf sich aus dem Gedankengang ergebende Fragen hinweist, die den Rahmen seines »Versuchs über Ethik« sprengen würden, oder in Erwägung zieht, dass die Überlegungen hier prinzipiell an eine Grenze des theoretischen Denkens rühren. Regelmäßig ist dieser Punkt mit dem Thema der Person verbunden, das allmählich im Gang der Gedanken in den Vordergrund rückt, offenbar aber Implikationen mit sich führt, die quer zu Spaemanns Intentionen in »Glück und Wohlwollen« stehen. Im Folgenden sollen nun einige der entsprechenden Textstellen unter der leitenden Fragestellung untersucht werden, aus welcher inneren Logik heraus der Gedankengang in Spaemanns »Versuch über Ethik« zum Thema der Person führt und wodurch diese Thematik den hier gesetzten Rahmen zu sprengen droht. Als zentrale Entdeckung Spaemanns in »Glück und Wohlwollen« kann die Freilegung des eigentlichen Ausgangspunktes seiner ethischen Reflexion in der Evidenz einer Wahrnehmung aufgefasst werden, der das radikal Unbezügliche bzw. Unbedingte »in der Weise der Repräsentation des Bildes« 52 gegeben ist. Auf diesen innersten Punkt seiner Überlegungen, der im Kapitel »Wohlwollen« zuerst erreicht wird, bereiten der erste Teil und die ersten Kapitel des zweiten Teils vor; von diesem Punkt gehen danach die weiteren Überlegungen zu seiner Ausdeutung aus. Über das hierzu oben in den Abschnitten 7.2.2 und 7.2.3 Gesagte hinaus soll es im Folgenden einerseits um theoretische Fragen gehen, die sich aus dieser Wahrnehmungsevidenz ergeben, zum anderen um das zentrale praktische Problem von »Glück und Wohlwollen«, das in der Wahl der selbstverschuldeten Unaufmerksamkeit als Ausgangspunkt einer praktischen Philosophie besteht. Die theoretischen Fragen ergeben sich aus dem Missverhältnis zwischen der Universalität des Wohlwollens, das unmittelbare Reaktion auf die Evidenz der Wahrnehmung ist, und der Endlichkeit des Menschen. Diesem Missverhältnis widmet Spaemann seine Überlegungen zum ordo amoris und zur ontologischen Verzeihung, die jedoch nur vorläufig sein können und auf eine Ontologie vorausweisen:
52
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Der ordo amoris strukturiert unser Verhältnis zu der Vielzahl der Individuen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nähe und Ferne, sondern vor allem der Rangordnung der Wirklichkeiten, denen wir begegnen. Was begründet eine solche Rangordnung? Die ausführliche Rechtfertigung einer Antwort könnte nur im Rahmen einer Ontologie geschehen. Gleichwohl kann im Rahmen einer Ethik auf sie nicht verzichtet werden. Es gibt keine Ethik ohne Metaphysik. Wir sahen das bereits hinsichtlich der Notwendigkeit, den Anderen als wirklich, als »Ding an sich« betrachten zu müssen, um überhaupt so etwas wie eine Verpflichtung ihm gegenüber zu erfahren. Und die Erfahrung dieser Verpflichtung ist letzten Endes nichts anderes als jene Wirklichkeitserfahrung. Denn diese wiederum ist nichts rein Theoretisches. Rein theoretisch haben wir nur qualitative Erfahrung, nie die Erfahrung von Existenz, von Selbstsein, also von dem, was gerade per definitionem nicht Gegenstand ist. 53
Im Rahmen seines »Versuchs über Ethik« beschränkt Spaemann sich also auf die Wirklichkeit des Selbstseins anderer Menschen und streift die Frage, inwiefern es ein Verhältnis des Wohlwollens auch gegenüber der außermenschlichen Welt geben muss, nur am Rande. 54 Die ausführliche Begründung einer »Rangordnung der Wirklichkeiten« wäre dagegen Sache einer Ontologie. Doch auch die Beschränkung auf das Selbstsein wird Spaemann im Zuge der Entfaltung seiner Gedanken problematisch, insofern »wir so etwas wie Personalität oder Selbstverhältnis niemals direkt empirisch feststellen können« 55 und damit kein Kriterium für Selbstsein haben: »Es gehört zum Wesen der menschlichen Person, daß sie im Unvordenklichen gründet.« 56 Damit aber ist jede einzelne Person immer schon angewiesen auf eine vorausgesetzte Personengemeinschaft, ohne die sie erst gar nicht wirklich werden kann: »Ohne Interpersonalität gibt es keine Person.« 57 Diese Gemeinschaft kann unter diesen Voraussetzungen nicht durch gegenseitigen Nutzen definiert sein, sondern muss eine prinzipielle Achtung aller ihrer Mitglieder zur Voraussetzung haben: »Was das heißt, läßt sich wiederum gar nicht oder nur in Begriffen explizieren, die nicht der Ethik im engeren Sinne entstammen, son-
53 54 55 56 57
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 150–151. Vgl. ebd., Abschnitt IV des Kapitels »Ordo amoris«, 153–156. Ebd. 152. Ebd. 152–153. Ebd. 235.
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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven
dern einer Theorie des Absoluten angehören.« 58 Eine solche liegt außerhalb der Möglichkeiten von »Glück und Wohlwollen«, wenngleich häufige Vorgriffe auf sie nicht vermeidbar sind. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass für die ethische Reflexion sittliches Handeln »jederzeit aus der Präsenz einer Totalität von Sinn lebt« und dass diese Reflexion somit ohne »eine religiöse Implikation« 59 kaum möglich ist. Am klarsten tritt diese Implikation in den Überlegungen zu einer Verantwortung sich selbst gegenüber hervor: Die Entscheidung darüber, ob von einer solchen Verantwortung sinnvoll die Rede sein kann, ist eine metaphysische. Sie hängt davon ab, als was wir die Person, als was wir uns selbst verstehen. Die sittliche Erfahrung ist die Erfahrung einer eigentümlichen Art von Unbedingtheit, ähnlich wie die Erfahrung von Wahrheit. Diese Erfahrung kann nicht auf das kontingente Faktum der Existenz eines Exemplars der species homo sapiens als auf ihren Grund zurückgeführt werden, ohne sich damit als Mißverständnis, als Illusion zu enthüllen. Jede soziologische, psychologische oder biologische Ableitung des Phänomens ist gleichbedeutend mit seiner Destruktion. Nur unter der Voraussetzung, daß die endliche Subjektivität sich als Ort der Erscheinung, des Unbedingten als dessen Bild oder Repräsentation versteht, das sie selbst nicht ist, läßt sich der Gedanke einer Verantwortung vor und für sich selbst denken. 60
Es geht hier um die entscheidende Frage des Selbstverständnisses, die durch die Differenz zwischen Autonomie und Freiheit präzisiert werden kann: Liegt es im Sinne eines autonomen Selbstverständnisses »im Belieben des Handelnden […], sich selbst von einer Verantwortung zu dispensieren, die er auch nur sich selbst auferlegen kann« 61, oder kann im Sinne eines Freiheitsbegriffs, der ein gewissermaßen reflexives Verhältnis der Anerkennung impliziert, Verantwortung sich selbst gegenüber nur auf das Unbedingte als Adressat zielen, dessen Repräsentation im Selbst erblickt wird. Es ergibt sich somit eine klare Alternative: »entweder ich bin für mich verantwortlich oder ich bin eine res nullius, deren sich jeder bemächtigen kann, wie er will« 62. Dies freilich ist, wie Spaemann bemerkt, ein »religiöser
58 59 60 61 62
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 237. Ebd. 201. Ebd. 236. Ebd. Ebd. 253.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Gedanke« 63, allerdings ein unvermeidlicher, da es, wie gesehen, zur conditio humana gehört, dass »niemand hält, was er durch sein Wesen verspricht« 64, und die mit der Verantwortung für sich verbundene Selbstachtung nur durch ein Entgegenkommen möglich ist, durch das eine metaphysische Dimension eröffnet wird. Der letzte Satz von »Glück und Wohlwollen« lautet: »Der Gedanke der Verantwortung gegen sich selbst ist deshalb nur durchzuhalten, wo eine mögliche Verzeihung, also auch ein Subjekt dieser Verzeihung gedacht wird.« 65 Die Möglichkeit, dass ein konkreter Anderer als Repräsentation dieses Subjekt vertreten kann, relativiert die religiöse Dimension des Gedankengangs, ohne sie aufzuheben. 66 Die Überlegungen von »Glück und Wohlwollen« führen somit zum Mysterium der Person, die nur im Plural gedacht werden kann, womit der fokussierte Einheitspunkt von Ethik und Ontologie in Richtung Letzterer verlassen und eine über den gesetzten Rahmen hinausgehende Thematik eröffnet wird. Zu einer ganz ähnlichen Verschiebung führt das erwähnte praktische Problem, auf das Spaemann in seinem Gedankengang stößt. Dieses Problem besteht darin, dass die für Spaemanns ethischen Ansatz primäre Evidenz der Wahrnehmung des Unbedingten in der Weise der Repräsentation des Bildes mit der Normalität der conditio humana gerade nicht zusammenfällt. Daraus ergibt sich, wie oben gesehen, »ein Paradox, das der Philosophie immer wieder zu schaffen gemacht hat« 67, nämlich das »Paradox der schuldhaften Unaufmerk-
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 253. Ebd. 241. 65 Ebd. 254. 66 Kristina Klitzke bemerkt in »Das ›Heiligtum‹ der Person« mit Bezug auf das »Wovor der Verantwortung«: »Dass bei einem Christen Gott das Wovor der Verantwortung ist, mag richtig sein. Gleichwohl beantwortet Spaemanns Sichtweise m. E. nicht hinreichend, weshalb nicht auch bspw. die autonome praktische Vernunfterkenntnis und das von ihr als normativ erkannte praktische Vernunftgesetz letzter Gegenstand der sittlichen Verantwortung des Menschen sein kann.« – Klitzke, Das »Heiligtum« der Person, 73, Fn. 203. – Warum die autonome Vernunft und das praktische Vernunftgesetz mit dieser Rolle überfordert sind, wurde in Abschnitt 7.1.3 gezeigt. Klitzke verkennt zudem, dass die Alternative ›Glaube an Gott‹ oder ›autonome Vernunft‹ die Sicht Spaemanns unzulässigerweise verkürzt. Der in »Glück und Wohlwollen« entwickelte Gegenentwurf zur autonomen Vernunft baut auf dem ›Erwachen zur Wirklichkeit‹ auf, das trotz religiöser Konnotationen im reziproken interpersonalen Begegnungsgeschehen eine phänomenologische Beschreibungsebene hat. 67 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 188. 63 64
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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven
samkeit« 68, von dem Spaemann sagt, dass er es nicht mit der »erforderlichen Differenzierung« 69 angehen kann: Das bisherige Nichtwahrnehmen als eigene Schuld zu sehen, gehört zum Erwachen. Als selbstverschuldet erscheint dem Aufgeklärten nach Kant die Unmündigkeit, die er hinter sich gelassen hat. Wenn die Wahrnehmung Gabe ist, dann scheint darin ein Widerspruch zu liegen. Dieser Widerspruch kann hier nicht aufgelöst werden. Er hat in Europa seit den Tagen Augustins bis zu den Religionskriegen der frühen Neuzeit die Geister beschäftigt, und wenn er zur Ruhe kam, so nur deshalb, weil er schließlich den Fragen zugezählt wurde, von denen Kant sagte, daß die menschliche Vernunft genötigt sei, sie zu stellen, aber unfähig sie zu beantworten. 70
Über den Hinweis hinaus, dass dieses Paradox im Rahmen von »Glück und Wohlwollen« nicht aufgelöst werden kann, stellt Spaemann seine Auflösbarkeit prinzipiell in Frage: »Die theoretische Deutung dieses Phänomens führt über unsere Absicht an dieser Stelle hinaus. Und es ist auch die Frage, ob eine theoretische Deutung nicht aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist.« 71 An die Stelle der theoretischen Auseinandersetzung mit diesem Paradox tritt in »Glück und Wohlwollen«, wie oben gezeigt, an mehreren Stellen als letzte Berufungsinstanz der Hinweis auf den Mythos des Sündenfalls, der »hier mehr erklärt als die Theorie, die ihn deuten soll« 72. Ausgehend von dieser ›Sackgasse‹ der praktischen Argumentation und der oben dargelegten theoretischen Aporie soll im Folgenden, ohne Spaemanns gedankliche Bahnen in »Glück und Wohlwollen« zu verlassen, eine Auffälligkeit der Gedankenführung hervorgehoben werden, die meines Erachtens in ursächlichem Zusammenhang mit diesen Grenzen der Reichweite von Spaemanns »Versuch über Ethik« steht und deren Thematisierung zugleich vorauszuweisen vermag auf den bevorstehenden Schritt der Entfaltung von Spaemanns Philosophie im achten Kapitel. Als eine Konstante von Spaemanns philosophischem Denken, die sich in »Glück und Wohlwollen« unvermindert durchhält, kann die große Bedeutung philosophiehistorischer Untersuchungen in der 68 69 70 71 72
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244. Ebd. 189. Ebd. 222. Ebd. 244. Ebd.
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Genese seiner eigenen philosophischen Konzeptionen gesehen werden. In seinem »Versuch über Ethik« bedeutet dies konkret die kritische Auseinandersetzung vor allen Dingen mit der kantischen Pflichtethik, die Anknüpfung an die klassische Sicht Platons und Aristoteles’ und das Projekt der Aktualisierung des Eudämonismus in seiner Fassung des Wohlwollens. Das Verhältnis von neuzeitlicher und antiker Philosophie und die prinzipiellen Schwierigkeiten einer Annäherung an letztere und des Versuchs einer Aktualisierung antiker Positionen wurde von Spaemann bereits Anfang der 80er Jahre in »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« reflektiert. 73 Im Rahmen der Argumentation von »Glück und Wohlwollen« ist nun einerseits erkennbar, dass die Fortsetzung der dort grundgelegten Reflexion des problematischen Verhältnisses von neuzeitlicher und antiker Philosophie für das zentrale Anliegen von größter Bedeutung ist, andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass dieses Verhältnis stellenweise unterbestimmt zu sein scheint. So betont Spaemann etwa auf der einen Seite im Hinblick auf die Korrekturbedürftigkeit der individuellen praktischen Vernunft gegenüber der auch im Individuum zumindest potentiell voll gegebenen theoretischen Vernunft die abgrundtiefe Differenz zwischen der neuzeitlichen und der antiken Perspektive: Platon dachte auch die praktische Vernunft als eine solche überpersönliche Instanz. Diese Auffassung setzt so etwas voraus wie eine teleologisch gedachte allgemeine Menschennatur, deren Strebungen mit gleichen Maßen gemessen werden können, so daß, wo es darum geht, sie miteinander kompatibel zu machen, jeder vernünftig und gerecht Denkende im Prinzip die notwendige Entscheidung allein und stellvertretend für alle anderen treffen kann. 74
Umgekehrt zeigt er im Hinblick auf das erörterte Phänomen der schuldhaften Unaufmerksamkeit, dass dieses eine genuin christliche Erscheinung ist, die dem antiken Denken fremd ist: Die Antike hat dem Problem nicht ins Auge gesehen. Sie hat die Tatsache, daß ein Mensch nicht tut, was die recta ratio gebietet, auf Unvermögen zurückgeführt, auf Unwissenheit, schlechte Natur, schlechte Erziehung. Das Christentum erst hat eine neue Sicht der
73 74
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 175.
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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven
Dinge inauguriert, indem es die Verblendung noch einmal als Folge des Nichtwollens deutete. 75
Auf der anderen Seite aber bringt Spaemann das Erwachen zur Wirklichkeit, das sonst ein anderer Name des Wohlwollens ist, mit Platon in Verbindung, womit indirekt suggeriert wird, dass es das Paradox der schuldhaften Unaufmerksamkeit auch für ihn schon gegeben habe: »Das Sich-zeigen des Guten selbst ist für Platon gleichbedeutend mit dem Erwachen zur Wirklichkeit, mit dem Wirklichwerden des Wirklichen für den, dem es sich zeigt.« 76 Ähnlich gelagert ist sein Gedankengang, in dem die mit Wohlwollen überschriebene Selbstverwandlung in der Wahrnehmung des Selbstseins als Bild in einen Zusammenhang mit Aristoteles gebracht wird: »Solcher amor amicitiae ist nach Aristoteles nur möglich als gegenseitiges Wohlwollen unter Menschen, deren Willensrichtung füreinander nachvollziehbar ist, weil sie beide sich über den bloßen Trieb erhoben und das Gute als das Allgemeine in ihren Willen aufgenommen haben.« 77 Textstellen wie diese stehen nach meinem Dafürhalten in einer offensichtlichen Spannung zu dem in »Glück und Wohlwollen« allmählich hervortretenden Gedanken, wonach das interpersonale Geschehen, in dem das Wohlwollen sich zeigt, allenfalls in einer sehr weit gefassten Analogie zum antiken Wirklichkeitsverständnis gesehen werden kann und daher die Person selbst als eine geschichtlich gewordene und darum die christliche Zeit von der klassischen Antike trennende begriffen werden muss: Person ist nicht das, was in der Antike als Vernunft des Menschen seiner sinnlichen Natur entgegengesetzt wurde, wobei dann die partikulare Besonderheit, die Individualität auf die Seite des Unvernünftigen geriet, das zu überwinden war. Personalität meint die vernünftige Individualität. Die Rede von der Person geht davon aus, daß die menschliche Natur als Natur sich nur verwirklicht, wenn sie »erwacht«, wenn sie ihre Zentralität transzendiert, genauer gesagt, wenn sie die Selbsttranszendenz, die ihr wesentlich ist, bewußt ergreift und nicht wieder »zurückbiegt« zu einem Instrument bloß natürlicher Selbstbehauptung. Diese curvatio in seipsum ist das Böse, nicht also
75 76 77
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244. Ebd. 119. Ebd. 130.
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
das natürliche Sosein, sondern die gegen dessen natürlichen Richtungssinn gehende Fixierung des Soseins. 78
An dieser Stelle kündigt sich deutlich der Gedanke einer Entdeckung der Person an, der im folgenden Kapitel eine zentrale Rolle spielen wird und im Grunde nichts anderes ist als die Reflexion auf das historische Gewordensein des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie, der hier als Leitlinie der Untersuchung von »Glück und Wohlwollen« diente. Im Verlauf der hier durchgeführten Untersuchung wurde die Konzentration auf die Wahrnehmungsevidenz und das Ereignis des gegenseitigen Wirklichwerdens im Wohlwollen zusehends durch die ontologische Frage nach der Person abgelenkt, die, wie gesehen, den gesetzten Rahmen zu sprengen drohte. In den Bereich dieser Frage gehört auch die im Zusammenhang der ontologischen Seitenlinie der Argumentation in »Glück und Wohlwollen« in Abschnitt 7.2.2 erwähnte Suspendierung der Beweisforderung, deren Begründung über die Berufung auf die Wahrnehmungsevidenz als Anfangspunkt der philosophischen Reflexion hinaus nach einer ontologischen Argumentation verlangt. Das explizite Durchdenken der Differenz von Antike und Neuzeit im Hinblick auf die Spannung zwischen εὐδαιμονία und Wohlwollen und damit eine geschichtliche Theorie der Person könnte ebenso aus der praktischen Sackgasse helfen, in die die Argumentation sich durch die Berufung auf einen Mythos gebracht hat, wie sie die theoretische Aporie überwinden könnte durch die Fundierung einer Theorie des Absoluten in der Reflexion auf das historische Gewordensein des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie. Diesem Vorhaben und dem hier noch mit zahlreichen Fragezeichen versehenen Mysterium der Person widmet sich das nun folgende achte Kapitel.
78
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 248.
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8 Ontologie der Person
Eine erste Vorstellung von den Schwierigkeiten, die sich aus der Wahl des Begriffs der Person als zentrales Thema eines philosophischen Werks ergeben, kann der Artikel zu diesem Begriff im Historischen Wörterbuch der Philosophie vermitteln. Von den fast 70 Spalten des Artikels ist weniger als ein Drittel seiner spezifisch philosophischen Bedeutung gewidmet, was bereits darauf hindeutet, dass seine genuin philosophische Thematisierung die Auseinandersetzung mit den Grenzen der Philosophie selbst implizieren muss. Das Historische Wörterbuch geht aus von der bereits umstrittenen Etymologie des Begriffs, um danach seine außerphilosophische Bedeutung im »allgemeine[n] Sprachgebrauch der Römer« 1 zu skizzieren: Aufbauend auf der Grundbedeutung der ›Maske‹ des Schauspielers geht es dabei zum einen um die »Rolle, die der Schauspieler darstellt«, und zum anderen um die »Rolle, die der Mensch in der Gesellschaft spielt« 2. Eine wissenschaftliche Bedeutung erlangte der Begriff zuerst zur Bezeichnung der »Sprecherrollen« 3 in der Grammatik. Der größte Teil des Artikels aber ist der Reflexion des Begriffs in der christlichen Tradition von der Spätantike über die Scholastik bis hin zu Luther gewidmet. Seine theologische Bedeutung erlangte der Personbegriff in der Frage, »wie man sich das Verhältnis der drei in der Trinität vereinigten göttlichen Instanzen vorzustellen habe« 4. Da für »das umfassende Eine der Göttlichkeit« – in griechischer Terminologie die οὐσία – lateinisch bereits der Begriff substantia verwendet wurde, kam »für ὑπόστασις das genaue Äquivalent nicht mehr in Betracht«, so dass der Begriff persona als »anthropologische Vorstellungen« 5
1 2 3 4 5
Fuhrmann, Person. I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in: HWPh VII, col. 269. Ebd. Ebd. 272. Ebd. 277. Ebd.
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8. Ontologie der Person
hervorrufendes Surrogat fungierte. Verstärkt wurde die Bedeutung des Begriffs durch seine Funktion bei der Lösung des Problems der »göttlich-menschliche[n] Doppelnatur« 6 Christi. Auch wenn diese Fragen seit dem Chalcedonense im Jahre 451 abschließend beantwortet waren, blieb die Vermittlung des Verhältnisses der Personen – die »Relationalität« – mit dem umfassenden Einen – der »Substantialität« 7 – durch das Mittelalter hindurch Gegenstand intensiver theologischer Bemühungen, durch die »das Substanz-Akzidens-Schema, das sonst die gesamte Ontologie beherrschte, durchbrochen« 8 wurde. Zunehmend deutete sich in dieser Entwicklung die Möglichkeit an, »die aus der Christologie und Gotteslehre gewonnenen Erkenntnisse für eine Anthropologie fruchtbar zu machen« 9. Die genuin philosophische Thematisierung des Personbegriffs seit der frühen Neuzeit stellt gegenüber dieser mehr als 1000 Jahre umfassenden theologischen Tradition einen Bruch dar und führte zu einer Degradierung des traditionellen Begriffs der Person. 10 Vor diesem Hintergrund knüpft Spaemann, wie zu zeigen sein wird, mit seinem Personbegriff weit eher an die christliche Tradition als an die genuin philosophische Thematisierung des Begriffs an. Um nichts weniger verlangt aber der Rahmen eines philosophischen Werks zum Thema der Person die kritische Auseinandersetzung mit dieser genuin philosophischen Verarbeitung des Begriffs im neuzeitlichen Denken, die den negativen Teil von Spaemanns Untersuchungen ausmacht. Dabei ergeben sich jedoch, insbesondere in der Philosophie des 20. Jahrhunderts – es seien an dieser Stelle nur die Namen Max Scheler und Harry Frankfurt genannt –, für Spaemann auch Anknüpfungspunkte für den positiven, auf die Entfaltung einer eigenen Konzeption gerichteten Teil seiner Personenphilosophie. Ihr eigentlicher Gegenstand, darauf zielt diese Vorbemerkung, liegt aber nicht einfach zu Tage, sondern wird zunächst in mehreren Schritten freizulegen sein. Spaemanns 1996 in erster Auflage erschienenes Buch »Personen« ist, wie schon seine Einleitung verdeutlicht, mit dem Anspruch geschrieben, die angedeutete zweitausendjährige Geschichte dieses Begriffs zu reflektieren und einen neuen Beitrag zur menschFuhrmann, Person. I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in: HWPh VII, col. 277. Kible, Person. II. Hoch- und Spätscholastik; Meister Eckhart; Luther, in: HWPh VII, col. 284. 8 Ebd. 292. 9 Ebd. 295. 10 Vgl. Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300. 6 7
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8. Ontologie der Person
lichen Selbstverständigung zu leisten. Seinem Verständnis von Philosophie entsprechend verzichtet Spaemann in seinem wohl wichtigsten Werk, das den Untertitel »Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹« trägt, weitgehend auf eine Systematisierung der eigenen Ergebnisse. In den 18 relativ selbständigen »Versuchen« werden nur sparsam Bezüge zwischen den Kapiteln hergestellt, so dass es in der Verantwortung des Lesers bleibt, aus ihrem Zusammenhang die übergreifenden Intentionen des Autors zu rekonstruieren. Bei seinem relativ geringen Umfang baut das Buch in hohem Maß auf wesentlichen Gedanken aus früheren Werken auf, die hier nur teilweise rekapituliert, ansonsten beim Leser vorausgesetzt werden. 11 Die Auseinandersetzung mit diesem Hauptwerk Spaemanns stellt den Leser damit vor die doppelte Herausforderung, zum einen die impliziten Bezüge zu Gedanken seines Autors aus früheren Werken zu rekonstruieren und zum anderen das dadurch weiter angereicherte Material als komplexes Gefüge von Aussagen auf eine mögliche Gesamtdeutung hin zu befragen. 12 Im Folgenden gebe ich einen knappen Ausblick auf die wesentlichen Schritte, durch die im folgenden Kapitel eine solche Rekonstruktion der leitenden Intentionen Spaemanns versucht wird. In einem ersten Schritt wird Spaemanns allmähliche Annäherung an den Personbegriff in den Anfangskapiteln von »Personen« nachvollzogen, wobei zunächst von außen auf die Person geblickt und danach die Innenperspektive der Person untersucht wird. Da Personalität sich dabei als ein sowohl aus der Außen- als auch aus der Innenperspektive sich der begrifflichen Erfassung Entziehendes erweisen wird, besteht die Aufgabe der vorbereitenden Überlegungen in der Klärung der besonderen Denkbedingungen, unter denen ein Begriff der Person entwickelt werden kann, und der Richtung, in die Beispielsweise wird Spaemanns Deutung des cartesischen ›cogito sum‹ im Rahmen des Personen-Buchs an mehreren Stellen recht ausführlich rekapituliert. – Vgl. die Kapitel »Transzendenz« – Spaemann, Personen (1996), 72–77 –, »Zeit« – ebd. 111– 113 –, »Das Sein von Subjekten« – ebd. 144–147 – und »Seelen« – ebd. 158–161 –, wohingegen die für das Personen-Buch grundlegenden Vorarbeiten Spaemanns zur Naturteleologie vorausgesetzt und kaum eigens thematisiert werden. 12 Jörg Splett bemerkte in einer Rezension zu »Personen«: »Das Buch macht es dem Rezensenten ähnlich schwer wie der Vorgänger von 1989 [scil. »Glück und Wohlwollen«]: unmöglich, die Fülle an Einsichten und Ausblicken zu referieren; vielleicht nicht unmöglich, doch ungehörig, aus der durchmessenen Denklandschaft den – mitunter in Tunneln verschwindenden – Gleisstrang der zielstrebigen Argumentation rein für sich herauszupräparieren.« – Splett, Personen, 454. 11
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die Untersuchung im Sinne dieser Bedingungen gehen muss. Insofern von Spaemann eine erste schemenhafte Bestimmung der Person als ›Haben einer Natur‹ vorgenommen wird, ergibt sich aus den ersten Überlegungen die Frage, welcher Begriff der Natur für das Verständnis der Person grundlegend ist (8.1). Zu dieser ›gehabten Natur‹ führt im zweiten Schritt zunächst ein Umweg im Ausgang von der Geschichte der Destruktion des Personbegriffs. Die kritische Auseinandersetzung mit Vertretern der neuzeitlichen Philosophie – Descartes, Locke, Hume – lenkt dabei die Aufmerksamkeit zurück auf das für Spaemann grundlegende Thema des teleologischen Denkens und den Begriff des Lebens, der als Schlüsselbegriff seiner Philosophie auch im Kontext des Personbegriffs von zentraler Bedeutung ist. Als anthropologisches Analogon zu diesem rückt der ebenfalls in der neuzeitlichen Philosophie weggefallene Begriff der Seele in den Mittelpunkt, zu dessen Aktualisierung es einer aufwendigen vorbereitenden Spurensuche bedarf. Indem Spaemann seine auf verschiedene Versuche im Rahmen des Personen-Buches verteilten Überlegungen zum Naturbegriff entfaltet, führt er Ideen aus »Natürliche Ziele«, den Essays der 80er Jahre und »Glück und Wohlwollen« weiter und bringt seine Konzeption auf den Begriff des »metaphysischen Realismus« 13, der als Endpunkt der Entwicklung dieses Ideenkomplexes bei Spaemann begriffen werden kann (8.2). Der metaphysische Realismus, der im Sinne Putnams der spekulative Gegenentwurf zum internen Realismus ist, demzufolge Sätzen Wahrheit nur im Rahmen eines Bezugssystems zugeschrieben werden kann, 14 verweist erneut auf die Problematik eines notwendigen ›Sprunges‹, die hier zuerst am Ende des sechsten Kapitels thematisiert wurde. In »Glück und Wohlwollen« hatte Spaemann insofern eine Antwort auf diese Problematik entwickelt, als er aus der als Einheitspunkt von Ethik und Ontologie qualifizierten Evidenz der Wahrnehmung von Selbstsein als ontologischer Normalität eine Suspendierung der theoretischen Beweisforderung ableitete, 15 deren ontologische Fundierung er allerdings im Rahmen seines »Versuchs über Ethik« schuldig bleiben musste. Die leitende These im dritten Schritt des folgenden Kapitels besteht darin, Vgl. Spaemann, Personen (1996), 75–76 und 88–89. – Über »Personen« hinaus findet sich der Begriff häufig in Spaemanns späten Essays, vgl. z. B. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 194–195, u. Ders., Wahrheit und Freiheit (2009), 311–316. 14 Vgl. Abel, Realismus. III. Analytische Philosophie, in: HWPh VIII, col. 166–167. 15 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 475–479. 13
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dass eine solche Fundierung möglich wird durch die Reflexion auf das historische Gewordensein jenes Einheitspunktes von Ethik und Ontologie, um den es in »Glück und Wohlwollen« ging. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die in »Personen« von Spaemann nachgeholte explizite Bestimmung des Verhältnisses von antikem und neuzeitlichem Denken, durch die er an frühere grundsätzliche Überlegungen vor allem aus der Vorlesung »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« anknüpft. 16 Unter der Bezeichnung »Entdeckung der Person« 17 wird von Spaemann in »Personen« ein historischer Umbruch rekonstruiert, durch den sich die apriorischen Voraussetzungen des Denkens geändert haben, indem die Vernunft als das dem Individuellen gegenübergestellte Allgemeine von einer personal gefassten Vernunft abgelöst wurde. Zur Rekonstruktion dieses Umbruchs wird Spaemanns hermeneutische Untersuchung der anthropologischen Entdeckung des ›Herzens‹ analysiert, das als eine die menschliche Natur transzendierende Instanz eines primären Wollens Ausgangspunkt der Entdeckung der Person ist. Da der Personbegriff selbst in seiner in diesem Kontext interessierenden Bedeutung in der Theologie entwickelt wurde, wird anschließend Spaemanns Exkurs in die Trinitätslehre und die Christologie nachvollzogen, dessen philosophische Bedeutung in einer Transformation der aristotelischen Metaphysik besteht. Die eigentliche Schwierigkeit des zu entfaltenden Gedankengangs besteht darin, den in der Theologie gebildeten Personbegriff in die Philosophie zu übertragen und überzeugend in ihr zu fundieren. Hierzu wird das Verhältnis von Personalität und Teleologie untersucht mit dem Ziel, den Personbegriff in Spaemanns metaphysischem Realismus zu verankern. Der Zusammenhang, der so entwickelt wird, erweitert seine Konzeption des teleologischen Denkens, indem die analogen Begriffe ›Person‹, ›Leben‹ und ›Sein‹ in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden (8.3). Auf der Grundlage dieser Klärung der genuin philosophischen Denkbarkeit des Personbegriffs und eines Blicks auf die praktischen Konsequenzen kann die zentrale Frage nach dem »Vollzug des Habens, das unsere Identität ausmacht« 18, gestellt werden und zur konkreten inhaltlichen Bestimmung des Personbegriffs übergegangen werden. Hierzu wird im vierten Schritt die personale Perspektive thematisiert, 16 17 18
Vgl. 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331. Vgl. Spaemann, Personen (1996), 29, 127, 161. Ebd. 48.
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8. Ontologie der Person
indem anhand verschiedener »Versuche« Aspekte des ›Habens einer Natur‹ analysiert werden. Die personale Distanzierung von der eigenen Natur kann zunächst rein formal im Hinblick auf die personale Identität betrachtet werden, die entsteht, indem der Mensch sich in der Zeit selbst äußerlich wird, wobei diese Veräußerung zugleich die Voraussetzung der Entstehung einer personalen Zeitgestalt ist. Das Haben der Natur drückt sich auf einer weiteren Ebene durch die Distanzierung von jeder Reflexion aus, die durch den Begriff des Gewissens bezeichnet wird und der Person eine unendlich vermittelte Unmittelbarkeit ermöglicht. Die Distanzierung von der Natur bedeutet Inkommensurabilität und Kontextunabhängigkeit der Person, die schließlich zur Frage führt, wie sich die Freiheit von ihrer Natur, die die Person wesentlich ist, exakt bestimmen lässt. Diese Freiheit realisiert sich, wie zu zeigen sein wird, wesentlich in einem Geschehen der Begegnung, das als konkreteste Bestimmung des gesuchten Personbegriffs gelten muss (8.4). In einem letzten Schritt werden schließlich zwei über die inhaltliche Darlegung der Ontologie der Person hinausgehende Überlegungen nachgereicht. Zum einen wird angesichts der neuzeitlichen Destruktion des Personbegriffs 19 die Frage nach den spezifischen Gefährdungen der Person gestellt, deren Hintergründe betrachtet und die Möglichkeit, diesen Gefährdungen zu entgehen, reflektiert. Zum anderen muss die Bedeutung der Bezugnahme auf das Absolute in »Personen« Ausgangspunkt einer abschließenden Reflexion des Verhältnisses von Philosophie und Religion und der Rechtfertigung religiöser Positionen in einem philosophischen Werk werden (8.5).
19
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 146.
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
In den ersten Kapiteln seines Personen-Buches arbeitet Spaemann die Inkommensurabilität des Begriffs der Person heraus, an die als Voraussetzung alles Folgenden zunächst herangeführt werden muss. Aus der Sicht des Alltagsverstandes könnte man die Gleichung aufstellen, dass Menschen Personen sind. Diese Gleichung scheint den sortalen Term 1 ›Mensch‹ in ein Verhältnis zu einem zweiten sortalen Term ›Person‹ zu setzen, wobei jener entweder als Teilmenge von diesem oder als mit ihm extensional identisch aufgefasst werden kann. Diesem Anschein widerspricht Spaemann jedoch sogleich, indem er betont, dass ›Person‹ »kein sortaler Ausdruck« 2 und die »Rede von einer Klasse der Personen […] logisch einwandfrei, doch ontologisch unangemessen« 3 ist. Bis zu einer umfassenden Begründung dieser Unangemessenheit ist es ein weiter Weg, aber schon aus einer rein logischen Erwägung ist ein erstes Argument für sie leicht einzusehen: Wenn im gleichen Alltagsverstand keine Personen geläufig sind, die nicht Menschen sind, wenn somit ›Person‹ kaum als Oberbegriff verstanden werden kann und wenn Personsein nicht als reine Tautologie des Menschseins aufgefasst wird, läge es nahe, die Bestimmung des Personseins als Konkretisierung der Bestimmung des Menschseins, also als Hinzufügung einer Eigenschaft zu verstehen. Dann aber wäre ›Person‹ ein engerer Begriff als ›Mensch‹ und die Gleichung müsste durch eine adverbiale Bestimmung wie ›oft‹ oder ›manchmal‹ eingeschränkt werden, da eben nicht jeder Mensch die Eigenschaft besitzen müsste, die eine Person ausmacht. Gerade diese mit Namen wie Peter Singer, Derek Parfit, Norbert Hoerster verbundene These brachte Spaemann nach eigener Auskunft dazu, das Personen-Buch zu schreiben. In seiner »Autobiographie in Gesprächen« bemerkt er dazu: Vgl.: »Als ›Sortale‹ oder ›sortale Prädikate‹ werden in der neueren Sprachphilosophie solche Prädikate bezeichnet, deren Gegenstände (d. h. die Gegenstände, auf die die Prädikate zutreffen) als von einander räumlich verschieden zählbar sind. Beispiele für Sortale sind daher insbesondere Prädikate, die ›Sorten‹ von materiellen Gegenständen bestimmen wie z. B. ›Tisch‹ und ›Stuhl‹ oder ›Apfel‹ und ›Birne‹.« – HWPh, s. v. Sortal, IX, col. 1099. 2 Spaemann, Personen (1996), 14. 3 Ebd. 25. 1
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Anlass für mich war eine wachsende Zahl von Stimmen, die nicht mehr allen Menschen den Personenstatus zuerkennen wollen, sondern nur noch solchen Exemplaren der Spezies homo sapiens, die über bestimmte zusätzliche Eigenschaften verfügen, also Neugeborenen nicht, Embryonen nicht, Dementen, auch Altersdementen nicht. 4
Die explizite Auseinandersetzung mit dieser These ist im PersonenBuch in das letzte Kapitel unter dem Titel »Sind alle Menschen Personen?« 5 verlegt, in dem Spaemann sechs Argumente rekapituliert, warum im Ergebnis seiner Untersuchungen alle Menschen Personen sind. Zu verstehen, worum es in »Personen« wesentlich geht, bedeutet daher nachzuvollziehen, wie Spaemann die zitierte Gleichung des Alltagsverstandes philosophisch begründen kann, ohne dabei ›PerSpaemann, Über Gott und die Welt (2012), 285. In seinem Gespräch mit Hanns-Gregor Nissing aus dem Jahr 2007 bemerkt Spaemann zu diesem Abschlusskapitel des Personen-Buchs: »… diese Frage und die dahinter stehende Auseinandersetzung mit Peter Singer war eigentlich die Herausforderung, die mich veranlaßt hat, tiefer nachzudenken über den Begriff der Person. Das ganze Buch erschöpft sich natürlich nicht in der Diskussion dieser Frage. Sie ist nur eine Art Appendix. Als ich das Buch schrieb, habe ich daran gar nicht mehr gedacht, und die Gedanken, die ich entwickle[,] sind ganz frei davon. Daher hat es mich nicht sehr gefreut, daß die Frankfurter Allgemeine Zeitung seinerzeit Norbert Hoerster mit der Rezension beauftragt hat, der nur dieses letzte Kapitel zur Grundlage seiner Besprechung nahm, so daß die Leser denken mußten, es handle sich ausschließlich um eine Diskussion dieser Frage.« – Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 131. – Hoerster spricht in seiner Rezension von einem »theologisch inspirierten Denken« Spaemanns, geht dabei auf seine philosophischen Argumentationen kaum ein bzw. bleibt, wo er dies ansatzweise tut, unter Spaemanns Niveau, wenn er etwa die Fundierung der Personalität in teleologischen Strukturen durch den Verweis auf universalteleologische Vorstellungen ad absurdum führen möchte: »Offenbar hat Gott die teleologischen Strukturen auf der Erde so eingerichtet, daß die Menschen aus klimatischen Gründen in einigen Gegenden prosperieren können, in anderen Gegenden jedoch darben und frühzeitig sterben müssen. Würden die Privilegierten hier nicht geradezu die Zwecke Gottes beziehungsweise der Natur verletzen, wenn sie ihren Mitmenschen etwa unter utilitaristischem Aspekt zu Hilfe kommen wollten? Falls Spaemann hier jedoch die Unterstützung billigt: Wie in Gottes Namen läßt sich ein derartiges Ergebnis ›aus der Natur‹ ableiten?« – Hoerster, Der göttliche Funke entzündet das Lebenslicht. – Hoersters Rezension kann hier stellvertretend für zahlreiche Einwände gegen Spaemanns »Personen« stehen. Ganz ähnlich versucht etwa Reinhard Merkel Spaemanns Argument, wonach menschliche Embryonen Personen sind, dadurch ad absurdum zu führen, dass ebenso durch jede Verhinderung der Befruchtung »ein Potential […] an der Entwicklung gehindert« würde, womit er das individualteleologische Argument Spaemanns durch eine universalteleologische Pauschalisierung auszuhebeln versucht. – Vgl. Merkel, Rechte für Embryonen.
4 5
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
son‹ als ein Prädikat zu verstehen, das dem ›Menschen‹ eine bestimmte Eigenschaft hinzufügte. 6 In seiner Autobiographie bemerkt Spaemann zu diesem allgemeinen Rahmen seines Personen-Buchs weiter: Um das aber wirklich zu begründen, musste ich weit ausholen zu einer Theorie der Person, in der der genannte Anlass nur noch eine entfernte Schlussfolgerung darstellt. Im Kern der Theorie steht das Verhältnis von menschlicher Natur und Personalität, ein Verhältnis, das ich als »Haben einer Natur« zu beschreiben suche. 7
Die Schwierigkeit beim Nachvollzug von Spaemanns Gedankengang besteht darin, dass erst im Lauf der Untersuchung der begriffliche Status von ›Person‹ aufgeklärt werden kann, dass gleichwohl von Anfang an mit diesem sich entziehenden Begriff operiert werden muss, um an diese Aufklärung heranzuführen. Die vorläufige Annäherung an den Begriff soll hier in zwei aufeinanderfolgenden Betrachtungen zunächst aus der Außenperspektive auf die Person und danach aus der Innenperspektive der Person vollzogen werden, um aus dem Ineinandergreifen dieser beiden Überlegungen eine Propädeutik des hier gesuchten philosophischen Ansatzes zu entwickeln, aus der sich die entscheidenden Fragen ergeben werden, durch die dann in den folgenden Abschnitten zur Freilegung des gesuchten Begriffs und damit zu einer Ontologie der Person zu gelangen sein wird. Spaemann geht aus von alltagssprachlichen Verwendungen des Wortes ›Person‹ und konstatiert dabei zunächst einen auffälligen Gegensatz. Auf der einen Seite drückt das Wort eine distanzierte oder zumindest neutrale Haltung gegenüber Mitmenschen aus: »Wir rechnen heute mit acht Personen zum Abendessen«: In diesem Satz ist »Personen« keineswegs ein emphatischer Ausdruck. Im Gegenteil. »Wir erwarten acht Menschen« klingt gewählter und ein bißThomas Buchheim und Jörg Noller sprechen von einem Dilemma, in das die Behauptung, alle Menschen seien Personen, führe, da dies entweder zu einem Speziesismus – vgl. den Abschnitt »Racism and speciesism« in: Singer, Practical ethics, 55–62 – oder zu einem Selbstwiderspruch führe: »Wenn also ›Mensch‹ und ›Person‹ nicht gleichbedeutend sind, sondern der eine Term eine biologische Spezies, der andere zumindest auch eine ethische Vorrangstellung bezeichnet, wie kann man dann an dem Satz ›alle Menschen sind Personen‹ gerechtfertigt festhalten, ohne entweder Speziesist oder ethisch-religiös motivierter Phantast zu sein?« – Buchheim/Noller, Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen?, 146–147. – Auf die Antwort Buchheims und Nollers auf diese Frage wird weiter unten kritisch Bezug genommen. – Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 558–560, Fn. 139. 7 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 285. 6
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8. Ontologie der Person
chen feierlicher. »Acht Personen«, das klingt dagegen abstrakter, unpersönlicher. Von Personen spricht man, wenn man aufs rein Numerische abhebt. 8
Ganz anders klingt es, »wenn das Wort ›Person‹ prädikativ gebraucht, wenn also von einem bereits anderweitig identifizierten Wesen ausdrücklich gesagt wird, es sei eine Person« 9. Da Spaemann kein Beispiel anführt, sei hier zu diesem Zweck auf die letzten Worte von Helenas Dienerin Panthalis in Goethes »Faust« verwiesen, die einer Fortexistenz in den Elementen der Natur den freiwilligen Gang in den Hades vorzieht: »Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person.« 10 Hier erscheint das Wort als »nomen dignitatis« 11, der Person wird der »Status der ›Unantastbarkeit‹« 12 zuerkannt: »Die Verwendung des Begriffs ›Person‹ ist gleichbedeutend mit einem Akt der Anerkennung bestimmter Verpflichtungen gegen denjenigen, den man so bezeichnet.« 13 Diese Gegenüberstellung zweier scheinbar gegensätzlicher Verwendungsweisen des Wortes gibt einen ersten Aufschluss zum Personbegriff: Einerseits sprechen wir dem, den wir so nennen, eine besondere Würde zu, andererseits dient das Wort zu einer rein numerischen, von aller weiteren Bestimmtheit abstrahierenden Bezeichnung. […] Wenn wir nun diese beiden Verwendungsweisen nicht als bloße Äquivokation nehmen, sondern auf ihre Zusammengehörigkeit achten, dann erhalten wir schon einen ersten Hinweis auf die Richtung, in der wir zu suchen haben. Person wäre dann jemand, der das, was er ist, auf andere Weise ist, als andere Dinge oder Lebewesen sind, was sie sind. 14
Diese andere Weise, das zu sein, was sie ist, kann ausgehend von der Feststellung nachvollzogen werden, dass ›Person‹ im Unterschied zu »Lampe«, »Hund« oder »Mensch« 15 kein sortaler Ausdruck ist. Sortale Ausdrücke können »in zweifacher Absicht« 16 verwendet werden, entweder um ein Exemplar einer Klasse zu identifizieren – z. B.: »die-
Spaemann, Personen (1996), 13. Ebd. 10 Goethe, Werke (HA), Bd. 3, 301 (Faust, Vers 9984). 11 Spaemann, Personen (1996), 13. 12 Ebd. 25. 13 Ebd. 26. 14 Ebd. 14–15. 15 Vgl. ebd. 14–15. 16 Ebd. 43. 8 9
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
ser Apfel« oder »dort liegt ein Apfel« 17 – oder um die Zugehörigkeit eines Dings zu einer Klasse zu bestimmen – z. B.: »dies ist ein Apfel« oder »es ist ein Apfel, was dort liegt« 18. Dass ›Person‹ kein sortaler Ausdruck ist, hat daher zunächst eine zweifache negative Bedeutung: Der Begriff der Person dient nicht der Identifikation von etwas als etwas, sondern sagt etwas aus über ein bereits als ein So-und-so Bestimmtes. Es handelt sich aber andererseits auch nicht um ein Prädikat, das dem bereits in seiner Art Qualifizierten eine bestimmte zusätzliche Eigenschaft zuspricht. Es gibt keine Eigenschaft, die »Personsein« hieße. Es ist vielmehr so, daß wir von Wesen aufgrund bestimmter Eigenschaften, die wir zuvor identifiziert haben, sagen, sie seien Personen. 19
Bezogen auf den Ausgangssatz des Alltagsverstandes, wonach Menschen Personen sind, bedeutet dies, dass Menschen jeweils ein als ein ›So-und-so Bestimmtes‹ sind, aufgrund dessen der Begriff der Person auf sie angewandt wird, wobei dieser allerdings dem als einem ›Sound-so Bestimmten‹ nichts hinzufügt. Wenn diese Aussage sinnvoll sein soll, muss der Begriff ›Person‹ eine andere Bedeutung haben als der Begriff ›Mensch‹, wobei der Bedeutungsunterschied jedoch nicht prädikativer Art sein kann. Dies kann nur heißen, dass der Begriff der ›Person‹ in einem sehr engen Verhältnis zum Begriff ›Mensch‹ stehen und dass der Unterschied zwischen beiden in der Art des Begriffs bestehen muss. ›Person‹ ist, wie Spaemann sagt, »kein deskriptiver Ausdruck« 20; es handelt sich aber auch nicht um einen normativen Ausdruck, auch wenn er »eine normative Implikation hat«: »Tatsächlich gehört er, wie wir später sehen werden, zu einer dritten Art von Begriffen.« 21 Spaemann, Personen (1996), 43. Ebd. 19 Ebd. 14. 20 Ebd. 26. 21 Ebd. – Die damit angedeutete, für Spaemann zentrale Problematik blendet beispielsweise Thorsten Jantschek völlig aus, der ausgehend von einer biologisch-deskriptiven und einer moralischen Verwendung des Begriffs ›Mensch‹ zu dem Schluss gelangt: »Der Personenbegriff ruht systematisch auf dem Begriff des Menschen auf, statt ›‘Mensch’ im moralischen Sinne‹ können wir auch ›Person‹ sagen. Insofern sind alle Menschen auch Personen in demselben Sinne wie jeder Stab eine Länge hat. ›Alle Menschen sind Personen‹ ist ein logisch-grammatischer Satz, d. h. er bringt das interne begriffliche Verhältnis von ›Mensch‹ und ›Person‹ zum Ausdruck.« – Jantschek, Von Personen und Menschen, 475. – Jantschek glaubt, damit auf sprachanalytischem Weg eine Alternative zur metaphysischen Bestimmung des Personbegriffs 17 18
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8. Ontologie der Person
Die Betrachtung aus der Außenperspektive scheint mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten, weswegen nun versucht werden soll, in der Überlegung weiterzukommen durch den Wechsel in die Innenperspektive der Person. Die Frage lautet dann, wie die gegenüber Dingen und anderen Lebewesen sich abhebende Weise der Person, das zu sein, was sie ist, in der Selbstwahrnehmung des Menschen gegeben ist. Diese Besonderheit läßt sich daran verdeutlichen, wie wir uns mit Hilfe des Personalpronomens »Ich« auf uns selbst beziehen. »Ich« ist ein referentieller Ausdruck. »Ich« sagend, meinen wir nicht etwa so etwas wie »ein Ich« – eine Philosophenerfindung –, sondern ein be-
gefunden zu haben. Jantscheks Kritik bezieht sich hauptsächlich auf »Spaemanns Neigung, die deskriptive Seite des Ausdrucks ›Mensch‹ biologistisch zu bestimmen«. – Ebd. 476 – Dieser Vorwurf läuft also auf den oben erwähnten Speziesismusverdacht hinaus. – Vgl. im vorliegenden Teilkapitel, 517, Fn. 6. – Nach Jantschek »ist gegen die Ausdehnung des Personbegriffs über den Menschen im alltäglichen, phänomenologischen Sinne hinaus auf die biologische Struktur mit menschlichen Genen einzuwenden, daß eine solche Redeweise Teile unserer Praxis verfehlt und dem Metaphysikverdacht ausgesetzt ist, weil sich die wissenschaftliche Bestimmungspraxis allzu weit von der Alltagspraxis entfernt hat.« – Ebd. 477. – Gegenüber dem damit implizierten Naturalismusverdacht in Bezug auf Spaemanns Position stellt Damian Pietrowski berechtigterweise fest: »Jantscheks Vorwurf, Spaemanns Identifikation von Mensch und Person sei naturalistisch, lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn man seine Ausführungen über den teleologischen Charakter der Natur einfach ignoriert. Wenn Jantschek die biologische bzw. deskriptive Dimension von der normativen geschieden wissen will, trennt er aus Spaemanns Sicht, was bei aller Unterschiedenheit doch untrennbar ist. Der Mensch ist als das Lebewesen, als das ihn die Biologie beschreibt, immer schon mehr als das, was sich deskriptiv erfassen lässt: nämlich ein Subjekt, das seine Natur gewissermaßen hat. Und weil Spaemann nicht erst dem Menschen, sondern letztlich jedweder unterscheidbaren Kreatur einen gewissen Grad von Subjektivität (ein gewisses ›Selbst‹) zuspricht, ist der Vorwurf des Speziesismus bei ihm an der falschen Adresse. Für einen Naturalisten ist die Natur das unhintergehbar Letzte; Spaemann aber versteht die Natur teleologisch, weil sie nicht ihr eigenes Sollen (telos) bestimmt.« – Pietrowski, Alles, was ist, ist auf etwas aus, 199. – Sieht man von der im abschließenden Kausalsatz enthaltenen schöpfungstheologischen Prämisse ab, deutet Pietrowski hier den Weg zur genuin philosophischen Deutung des Personbegriffs, um die es Spaemann geht. Demgegenüber ist anhand Jantscheks ›metaphysikfreier‹ Alternative nicht zu sehen, wie die daraus sich zwangsläufig ergebende Kooptationspraxis für Personen, die im Einzelnen immer an die konkrete Ausdeutung des Begriffs ›Mensch‹ im moralischen Sinn geknüpft ist, von willkürlichen Grenzziehungen abgehoben werden könnte. – Vgl. zu Jantscheks Kritik an Spaemann auch: Zaborowski, Personen, Menschen und die Natur jenseits des Biologismus, und die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Jantschek und Zaborowski in: Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 406–411.
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
stimmtes Lebewesen, einen bestimmten Menschen in der Welt: denselben Menschen, den andere mit einem bestimmten Eigennamen nennen. Und zwar bezeichnet jeder mit »ich« den Menschen, der er, der Sprecher, selbst ist. 22
Diese Selbstbezugnahme des Menschen durch das Personalpronomen hat nun nach Spaemann zwei wesentliche Besonderheiten. Zum einen bezieht sich das Personalpronomen der ersten Person im Unterschied zu den anderen grammatischen Personen immer »auf etwas Wirkliches«: »Wer ›ich‹ sagt, den gibt es.« 23 Zum anderen aber ist mit dem Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person im Unterschied zu jedem begrifflichen Erfassen kein notwendiges Wissen über jenes Wirkliche verbunden, das durch es bezeichnet wird: Etwas […] kann nur identifiziert werden, wenn es als ein So-und-so, als ein qualitativ Bestimmtes identifiziert wird: als ein solches, das mittels eines sortalen Ausdrucks einer bestimmten Art zugeordnet wird. Das gerade gilt nun für die Identifikation durch das Personalpronomen »ich« nicht. Jemand kann sich sehr wohl darüber täuschen, wer und was für einer er ist. Er kann sich auch über seine räumliche und zeitliche Lage in Unkenntnis befinden. […] Dennoch haftet der Referenz des »Ich« keine Unbestimmtheit an. Denn diese Referenz ist eine rein numerische, von allen qualitativen Bestimmungen unabhängige. »Ich« bezieht sich auf den, der »ich« sagt, unabhängig von allem, was er sonst noch ist. 24
Dieses personale Selbstverhältnis, das durch eine eindeutige, jedoch rein numerische Referenz, also gewissermaßen durch eine ›bestimmte Unbestimmtheit‹ gekennzeichnet ist, kann dann zur Ursache eines Missverständnisses werden 25, wenn diese ›bestimmte Unbestimmtheit‹ als ›unbestimmte Bestimmtheit‹ missverstanden wird, d. h. wenn von dem Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person auf eine formale Bewusstseinsentität geschlossen wird, – ein Missverständnis, das nach Spaemann in der »Philosophie der Subjektivität Spaemann, Personen (1996), 17. – Vgl.: »Selbstbewußtsein ist nicht ein innerer Reflexionsakt auf ein sog. Ich, sondern erfolgt, indem ich meine bewußten Zustände – die Absichten, Gefühle usw. – mittels Prädikaten mir und damit einer Person zuspreche, die innerhalb des realen Universums unterscheidbarer Gegenstände einer unter allen ist.« – Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 28. 23 Spaemann, Personen (1996), 17. 24 Ebd. 17–18. 25 Vgl. dazu Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526– 528 u. 534–536. 22
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8. Ontologie der Person
von Descartes bis zur philosophy of mind, die auf unmittelbare Selbstgegebenheit als Kriterium der Ich-Identität baut« 26, wirkungsmächtig geworden ist und gegen das Spaemann sich explizit wendet: Das darf nun nicht so verstanden werden, als beziehe sich »ich« auf eine reine res cogitans oder auf eine wesenlose Existenz, die sich erst, sozusagen aus nichts, zu etwas Bestimmtem, Wesenhaftem zu machen habe. Das ist eine falsche Interpretation des Phänomens. Nicht von ungefähr fragt der von Amnesie Befallene: »Wer bin ich? Wo bin ich?« Er setzt voraus, daß er nicht »ein Ich«, sondern ein so und so beschaffener Jemand ist, der sich irgendwo in der Welt befindet. Sobald er überhaupt Bewußtsein hat, weiß er, daß er nicht nur Bewußtsein ist. Aber sein Wissen, daß er ist, geht der Kenntnis des Wer und Wo voraus. Seine Selbstidentifikation ist nicht durch irgendeine qualitative Bestimmung vermittelt. Ich weiß, daß ich ein irgendwie bestimmtes, so und so beschaffenes Wesen habe. Aber ich bin nicht unmittelbar dieses Wesen, und der Ausdruck »Ich bin« ist nicht gleichbedeutend mit der Lokalisierung an einer bestimmten Raum-Zeitstelle, sondern er verlangt nach einer solchen Lokalisierung. Der Mensch ist nicht, was er ist, auf die gleiche Weise, wie alles, was uns sonst begegnet. 27
Die Philosophie der Subjektivität verkennt die für das personale Selbstverhältnis konstitutive Relation der ›bestimmten Unbestimmtheit‹, indem sie von der vom menschlichen Wesen abgelösten, selbständigen Entität eines Ich ausgeht. Demgegenüber kann die aus der personalen Innenperspektive erschließbare eindeutige numerische Referenz zum Ausgangspunkt einer Überlegung werden, die näher an den gesuchten begrifflichen Status der Person heranführt. Der Gedanke der numerischen Referenz drückt aus, dass die Person in einer Distanz steht zu dem Wesen, auf das sie bezogen ist, und zwar so, dass sie zugleich – entgegen der Deutung der Philosophie der Subjektivität – sich von diesem Wesen nicht ablösen kann. Das, was auf Distanz geht, ist keine selbständige Entität, sondern ein von diesem Wesen aus sich Entlassenes. Daher muss zum So-und-so der Bestimmtheit dieses Wesens ein Moment der Negativität gehören, durch das es sich selbst transzendieren kann. Person muss demnach das Ergebnis der zum So-und-so des Menschseins gehörenden Fähigkeit zur Selbsttranszendenz sein, die dieses aus sich entlässt und durch die das Menschsein überschritten wird. 26 27
Spaemann, Personen (1996), 45. Ebd. 18.
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
Die bisherigen Überlegungen haben ergeben, dass Personsein sich aus der Außenperspektive entzieht und aus der Innenperspektive als bestimmte Unbestimmtheit erlebt wird, die auf das menschliche Lebewesen verweist, das paradoxerweise Person ist und zugleich nicht ist, sofern es diese erst aus sich entlässt. Die Frage nach der Person und ihrem begrifflichen Status lässt sich, dies wird aus dem Ineinandergreifen beider Überlegungen deutlich, weder durch den Versuch beantworten, sie als objektives Vorkommnis zu erfassen, noch durch den entgegengesetzten, ihre subjektive Gegebenheit nachzuvollziehen. Zum Begriff der Person ist nur jenseits des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu gelangen. Sie ist das, was sich der Zugänglichkeit definitiv entzieht. Und es entzieht sich nicht nur, wie alles innerpsychische Geschehen, der Außenwahrnehmung. Es entzieht sich ebenso der inneren Wahrnehmung. Denn auch der inneren Wahrnehmung sind nur »reale Prädikate«, das heißt sachhaltige Bestimmungen, zugänglich. Auch in der inneren Wahrnehmung sehen wir uns, wie Kant sah, nur als Phänomen. Aber in diesem Phänomen ist zugleich der Verweis auf das Gehabtsein dieser Eigenschaften und Zustände enthalten, nicht aber der Vollzug des Habens, das unsere Identität ausmacht. Er entzieht sich der inneren ebenso wie der äußeren Wahrnehmung. Wir kennen uns selbst nicht unbedingt und notwendigerweise besser, als andere uns kennen, obgleich wir uns »von innen« kennen. Die Person ist weder innen noch außen. Sie transzendiert die für alles Psychische konstitutive Innen-Außen-Differenz. 28
Einerseits gelangt somit dieser vorbereitende Gedankengang an jene Grenze der Reflexion, die als Problem eines notwendigen ›Sprunges‹ bereits in der Auseinandersetzung mit Spaemanns Essays der 80er Jahre erreicht wurde. Als das Sich-Entziehende ist die Person »nur zugänglich im Akt der Anerkennung« 29. Anerkennung ist in Spaemanns Denken seit den 80er Jahren eine zentrale metaphysische Kategorie, die den Akt der Selbsttranszendenz bezeichnet, in dem die Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur verstanden wird. 30 Andererseits aber geht Spaemann in »Personen« von einem anderen Reflexionsniveau aus, das sich oben bereits in der Differenzierung der Begriffsarten andeutete. Auch wenn der Begriff Spaemann, Personen (1996), 48. Ebd. 30 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 384–397. 28 29
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8. Ontologie der Person
der Person in seiner Spezifik hier noch nicht voll erfasst werden kann, ist doch deutlich geworden, dass es sich um einen Metabegriff handelt, für dessen Verständnis seine Relation auf das negative Moment eines zugrunde liegenden Bezugsbegriffes wesentlich ist. Nur als Aussage über ein negatives Moment des So-und-so der Bestimmtheit des Menschen eröffnet sich für den Begriff der Person ein gewissermaßen ›nicht-prädikatives‹ Feld der Bedeutung im Sinne einer Steigerung der Negativität. Personsein könnte somit, so die Schlussfolgerung aus dem Gedankengang, ein Verhältnis ausdrücken, das als bestimmte Negation eines Momentes der begrifflichen Unbestimmtheit des Menschen verstanden werden kann. Als solche bestimmte Negation könnte der Begriff, ohne sortaler Ausdruck zu sein, eine neue Dimension der Bedeutung eröffnen, an die aber nur auf Umwegen herangeführt werden kann. Der erste Umweg besteht in der Erneuerung der Frage nach dem So-und-so der menschlichen Natur als einer solchen, die, wie dieser propädeutische Gedankengang nahelegt, die Person aus sich entlassen kann. Da Personalität der »einzige Status« ist, der »jemandem natürlicherweise zukommt« 31, wird zu klären sein, welche natürliche Eigenschaft den Menschen zur Person werden lässt. Dazu muss Spaemanns Naturphilosophie in ihren wesentlichen Grundgedanken rekapituliert bzw. im erweiterten Rahmen des Personen-Buches ergänzt werden. 32 Der zweite Umweg wird danach in der Frage nach der prinzipiellen philosophischen Denkbarkeit jenes aus der Natur Entlassenen bestehen, als das in dieser Vorüberlegung die Person erscheint. 33 Inwiefern aus dem Denken der Person als doppelter Negation ein Positives hervorgehen kann, muss an dieser Stelle zunächst offengelassen werden.
Spaemann, Personen (1996), 26. S. Teilkapitel 8.2, Historische Voraussetzungen und ›negative‹ Philosophie, 525– 561. 33 S. Teilkapitel 8.3, Die Entdeckung der Person, 562–599. 31 32
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8.2 Historische Voraussetzungen und ›negative‹ Philosophie
Bevor eine Annäherung an Spaemanns Begriff der Person möglich wird, müssen zunächst durch die Fortsetzung der kritischen Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie die notwendigen Voraussetzungen für die metaphysische Konzeption Spaemanns reflektiert werden, auf deren Grundlage zunächst seine ›negative‹ Philosophie, die zum personalen Selbstsein immer nur durch eine Negation gelangt, abschließend gefasst wird. Der erste Schritt hierzu besteht in der Reflexion derjenigen Prämissen der neuzeitlichen Philosophie, die zur Krise des Personbegriffs und zu seiner Destruktion geführt haben. Im Mittelpunkt steht hier die Neubegründung der Philosophie durch Descartes, die von Spaemann seit seiner Dissertation kritisch reflektiert und hier im Zusammenhang mit den aus ihr abgeleiteten, für den Personbegriff entscheidenden Konsequenzen betrachtet wird, die Locke und Hume gezogen haben (8.2.1). Nachdem die Auseinandersetzung mit Descartes im Kontext des Personbegriffs zum Problem des teleologischen Denkens zurückgeführt hat, steht im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts der Begriff der Seele als anthropologisches Analogon zum ontologischen Begriff des Lebens. Vor dem Hintergrund der zu entfaltenden wechselvollen Geschichte des Seelenbegriffs wird die Frage nach der nicht zu schließenden Lücke gestellt, die durch die Abschaffung des klassischen, teleologisch konnotierten Begriffs hinterlassen wurde (8.2.2). Eine Aktualisierung dieses Begriffs durch die Darlegung seiner konstitutiven Bedeutung für das Verständnis des Menschen als vernünftiges Lebewesen kann, wie im dritten Schritt gezeigt wird, nur aus einer doppelten Negation hervorgehen. In Anknüpfung an das metaphysisch-analoge Denken wird dazu der Zusammenhang zwischen dem teleologischen Ausseinauf und der Rede vom Sein als Jenseits des Denkens entwickelt, wobei zentrale Ergebnisse aus dem siebten Kapitel über »Glück und Wohlwollen« eine weitere argumentative Stützung erfahren und in der Konzeption des ›metaphysischen Realismus‹ in eine letztgültige Form gebracht werden (8.2.3).
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8. Ontologie der Person
8.2.1
Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
Spaemanns Auseinandersetzung mit Descartes, die bereits in seiner Dissertation begann und sich seither wie ein roter Faden durch sein Denken zieht, erreicht in »Personen« eine neue Stufe. An dieser Stelle soll zunächst seine kritische Haltung zu Descartes ausgehend vom Personbegriff konkretisiert werden. »Im vielzitierten Neueinsatz des spezifisch neuzeitlichen Denkens bei R. Descartes spielt der Begriff der Person kaum eine Rolle; er wird von Descartes nur am Rande verwendet.« 1 Entsprechend seinem Verständnis von Wissen als cognitio certa 2 gehört für Descartes die im Begriff Person gedachte Einheit von Geist und Körper »zu den ›notions primitives‹, die in einer vorphilosophischen, vorwissenschaftlichen Alltagserfahrung gründen« 3. Stattdessen gilt ihm als Ausgangspunkt sicherer Erkenntnis, als archimedischer Punkt der Philosophie, die Selbstgegebenheit des Bewusstseins im ›cogito‹, die jedem Zweifel gegenüber gewiss sein soll. Doch mit diesem Ausgang vom ›cogito‹ unterstellt Descartes, »daß Bewußtsein immer schon die Form eines Bewußtseins von sich hat, eines Vertrautseins mit sich selbst« 4, obwohl ein solches Selbstverhältnis aus dem reinen Denken keineswegs ableitbar ist. Der Ausgangspunkt müsste im Sinne des Ideals der Gewissheit nicht im ›cogito‹, sondern unter Ausscheidung des ›Ich‹ in einem bloßen cogitatur – es wird gedacht – bestehen. 5 »Die Bedeutung des ›Ich‹ im cartesischen cogito ist zunächst die einer reinen Form.« 6 Das heißt, ›denken‹ hat die Form des ›ich denke‹, das ›Ich‹ ist reiner Ausdruck des ›Für mich‹ des Denkens. Das im ›cogito‹ unterstellte Selbstverhältnis wird in Spaemanns Analyse des ›cogito sum‹ wesentlich erst durch den zweiten Schritt hergestellt 7:
Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300. Vgl. Meier-Oeser, Wissen. IV. Frühe Neuzeit, in: HWPh XII, col. 881. 3 Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300. 4 Spaemann, Personen (1996), 111. 5 Vgl.: »Lichtenberg meinte, was uns zunächst gewiß sei, müsse eher so formuliert werden: ›Es wird gedacht‹. Schon Avicenna dachte so: Ein Mensch, der, blind und ohne sich selbst berühren zu können, im Raum schwebte, würde, mangels irgendeiner sinnlichen Erfahrung, nur denken können: ›Cogitatur‹.« – Ebd. 111. 6 Ebd. 7 Es geht also um die dritte Reflexionsstufe, von der im sechsten Kapitel die Rede war. Vgl. dazu Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341– 351. 1 2
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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
Mit dem Gedanken »Ich bin« habe ich die Dimension des »Für mich« überschritten, und zwar zunächst einfach dadurch, daß ich sie ausdrücklich denke. Sie ausdrücklich denken heißt, sie unterscheiden von einem »An-sich«, und sei es auch nur in der formalen Bedeutung, daß es an sich ist, daß es ein Für-mich gibt. Der Raum der Differenz zwischen Für-mich und An-sich ist identisch mit der Möglichkeit eines Gegenüberseins für andere. Für andere aber kann ich nur sein, wenn ich nicht nur Bewußtsein bin, wenn ich also eine »Außenseite«, eine »Natur« habe, die dem anderen als ein »etwas« gegeben ist. 8
Daraus, dass das »Ich« erst aus dieser Überschreitung der Dimension des »Für mich« hervorgeht, folgt, dass die Identität des Ich in Descartes’ Gedankengang nur als intersubjektiv vermittelt begriffen werden kann. Das Gegebensein des Ich für andere durch seine Außenseite ist zwar nicht konstitutiv »für Subjektivität als instantanes Vertrautsein mit sich, wohl aber für jede Selbstidentifikation, also für das Bewußtsein, selbst zu sein« 9. Doch wie ist die für Descartes noch vor der Selbstidentifikation liegende reine Selbstgegebenheit des Denkens vorzustellen? Die Antwort ist, dass sie eben nicht vorstellbar, sondern nur denkbar ist, weil es sich um eine reine Abstraktion handelt: Es handelt sich bei einem solchen Ausgang vom »Subjekt« um die Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die tatsächlich der Subjektivität immer schon vorausliegt. Das instantane cogito ist eine Abstraktion aus dieser Wirklichkeit. Die Möglichkeit dieser Abstraktion ist in der Eigenart der Person begründet. Es ist für Personen, wie wir gesehen haben, charakteristisch, daß ihre numerische Identität einerseits eindeutig, andererseits durch keinen qualitativen Bestand definierbar, ihre Identifikation also durch keine Beschreibung erreichbar ist. Die Versuchung liegt nahe, diese abstrakte, alle inhaltlichen Bestimmungen distanzierende Identität als Entität zu hypostasieren und sie das »Selbst« zu nennen. 10
Spaemann unterscheidet also erstens eine ›unvordenkliche‹ Wirklichkeit, zweitens eine Subjektivität, die zu dieser Wirklichkeit in einem näher zu bestimmenden Verhältnis steht, und drittens das abstrakte cartesische Subjekt als Rekonstruktion der Wirklichkeit. Der Anspruch Descartes’, mit dem Ausgang vom Subjekt auf ein der WirkSpaemann, Personen (1996), 111–112. Ebd. 112. 10 Ebd. 114–115. 8 9
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8. Ontologie der Person
lichkeit zugrunde liegendes Prinzip zurückgegangen zu sein, beruht also auf der Verkennung der Priorität dieser Wirklichkeit selbst, aus der der Gedanke des Subjekts durch Abstraktion gewonnen ist. 11 Spaemanns Interpretation der cartesischen Neubegründung der Philosophie führt zu der Feststellung, dass die Descartes’ Neuansatz zugrunde liegende Absicht, auf eine reine Subjektivität als Ausgangspunkt des Denkens zurückgehen zu wollen, dadurch selbstwidersprüchlich wird, dass aus dem Zweifelsbeweis selbst die intersubjektive Vermitteltheit dieser Subjektivität hervorgeht. Gleichzeitig erkennt Spaemann in diesem selbstwidersprüchlichen Versuch einer Neubegründung der Philosophie wesentliche Charakteristika des Personbegriffs wieder, die aber, wie zu zeigen sein wird, falsch interpretiert wurden. An dieser Stelle kann zunächst nach dem zentralen Motiv gefragt werden, das Descartes’ Ausgang vom instantanen Selbstbewusstsein und der unzutreffenden Interpretation dessen, was die Person ausmacht, zugrunde liegt. Ziel dieses Verfahrens ist Gewißheit, also Stabilisierung des Subjektes gegenüber allem nicht mit ihm Identischen, um dann dieses Nichtidentische in dauerhaften Besitz zu nehmen, den Menschen zum »Herrn und Besitzer der Natur« zu machen. 12 Indem Descartes die Gesamtheit des Soseins – also alles, was der Mensch ist, indem er es hat – von der Subjektivität distanziert und dieser entgegenstellt, macht er den entscheidenden Zug dessen, was Personsein heißt, sichtbar und verdeckt ihn doch zugleich wieder. Was er sagt und was er, indem er es sagt, zeigt, klafft auseinander. Er bestimmt nämlich das Haben der eigenen Natur als Herrschaft. Zweck der Distanzierung ist die definitive Stabilisierung des Herrschaftssubjektes – als Selbstgewißheit – einerseits, Herrschaft über die Natur andererseits. 13
Am Rande sei hier auf die Nähe des Spaemann’schen Ansatzes einer Philosophie der Person zu dem Paul Ricœurs hingewiesen, dem es in »Das Selbst als ein Anderer« um eine Hermeneutik des Selbst geht, in der die Person ähnlich wie bei Spaemann in einer unvordenklichen Wirklichkeit fundiert ist: »Selbst sagen heißt nicht ich sagen. Das Ich setzt sich – oder es wird abgesetzt. Das Selbst ist als reflektiertes in Operationen impliziert, deren Analyse der Rückkehr zu sich selbst vorausgeht.« – Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 29. 12 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: R. Descartes: Discours de la méthode, 6. Teil. AT VI, 62. – Ebd. 271. 13 Ebd. 144–145. 11
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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
Das gesuchte Motiv ist das dem Bedürfnis nach οἰκείωσις entgegenstehende Herrschaftsinteresse, dessen Subjekt als reine Selbstgegebenheit des Bewusstseins nicht nur der Außenwelt, sondern ebenso allem zu diesem menschlichen Subjekt Gehörenden gegenübergestellt wird, was qualitativ bestimmbar ist, also ein Sosein hat. Inwiefern Descartes damit eine wesentliche Besonderheit des Personseins für einen Moment sichtbar gemacht hat, soll weiter unten verfolgt werden. Hier interessiert zunächst die »Geschichte der Destruktion des Personbegriffs« 14, die in einem engen Zusammenhang steht mit der cartesischen Neubegründung der Philosophie, das heißt mit der Wahl der reinen Selbstgegebenheit des Bewusstseins als Ausgangspunkt. Der von Descartes vorbereitete Gedanke entfaltete seine Dynamik im englischen Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts. 15 Spaemann konzentriert in diesem Zusammenhang seine Aufmerksamkeit auf die Behandlung des Problems der Identität in Lockes »Abhandlung über den menschlichen Verstand« und Humes »Abhandlung über die menschliche Natur«. Locke geht aus von der »Frage der Reidentifizierbarkeit einer Entität nach Ablauf einer Zeit« 16, wobei Dinge ihm zufolge identisch sind, »wenn sie einen einzigen Anfang haben, den sie mit keiner anderen Sache gemeinsam haben« 17. Dies bedeutet, dass es nach Locke zwar »[d]auernde Wesen« 18, also zum Beispiel menschliche, geben kann, die reidentifizierbar sind; dass sie es sind, liegt aber nicht an ihrer personalen Identität, also an ihrer lebendigen Einheit. Es gibt nämlich nach Locke keine »zeitübergrei-
Spaemann, Personen (1996), 146. Die Ausführungen zum englischen Empirismus orientieren sich an dieser Stelle eng an der Darstellung Spaemanns in »Personen«. Im elften Kapitel der vorliegenden Arbeit wird anhand der Publikationen zur Philosophie der Person von Dieter Sturma und Michael Quante eine alternative Sichtweise dargelegt, in der insbesondere Lockes Denken nicht im Kontext einer Destruktion des Personbegriffs, sondern affirmativ als wesentlicher Beitrag zur Herausbildung eines spezifisch neuzeitlichen Verständnisses der Person gedeutet wird. – Vgl. zu Sturma Abschnitt 11.2.2, Zur Geschichte des Begriffs der Person, 818–824, und zu Quante Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität, 839–847. 16 Spaemann, Personen (1996), 148. 17 Ebd. – Spaemann verweist in einer Anmerkung auf: J. Locke: An Essay on Human Understanding II, 27, § 1. – Ebd. 271. 18 Ebd. 14 15
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8. Ontologie der Person
fende Identität« 19, sondern nur »eine Folge unendlich vieler instantaner Einzelereignisse« 20: Wenn Leben das Sein des Lebendigen ist, dann gibt es dieses Sein nicht. Es gibt nur einzelne, diskrete Zustände von Organismen. Leben ist also nicht das Sein dieser Organismen. Was ihre Identität ausmacht, ist nur die Invarianz einer Struktur, die vom Austausch der materiellen Teile unberührt bleibt. Auch Maschinen besitzen eine solche Struktur. […] Für den Begriff der Person macht es, so schreibt Locke, keinen Unterschied, ob wir ihre Einheit als die einer Maschine oder als die eines beseelten Wesens verstehen. 21
Dass die Identität der Person somit nur in ihrem physischen Substrat – der invarianten Struktur – begründet sein kann, rührt daher, dass Gedanken, also verschiedene geistige Regungen bzw. Tätigkeiten, nie identisch sein können, »weil jeder ihrer Teile einen verschiedenen Anfang seiner Existenz hat« 22. Während also die Identität eines menschlichen Wesens durch die Invarianz seiner Struktur gewährleistet ist, kann personale Identität nur in einem aktualen Bewusstsein bestehen, das verschiedene Dinge aufeinander bezieht und durch die Erinnerung dabei in die zeitliche Dimension ausgreift: »Das Bewußtsein«, schreibt Locke, »vereinigt die getrennten Handlungen zu einer und derselben Person.« Alle Handlungen, die in einem Bewußtsein vereinigt werden, sind Handlungen dieser Person, aber auch nur diese Handlungen. »Soweit dieses Bewußtsein rückwärts auf vergangene Taten oder Gedanken ausgedehnt werden kann, so weit reicht die Identität dieser Person.« 23
Eine Unterbrechung des Bewusstseins bedeutet somit auch eine zumindest temporäre Aufhebung personaler Identität; Spaemann zitiert Locke: »Es ist gewiß, daß der schlafende Sokrates und der wache Sokrates nicht dieselbe Person sind.« 24 Personale Identität hat aktuales Bewusstsein zur Voraussetzung: »Identität des Bewußtseins ist also
Spaemann, Personen (1996), 148. Ebd. 149. 21 Ebd. 22 Ebd. 148–149. – In der Anmerkung verweist Spaemann auf: J. Locke: Essay on Human Understanding II, 27, § 2. – Ebd. 271. 23 Ebd. 150. – In Anmerkungen verweist Spaemann als Quelle der Zitate auf: J. Locke: An Essay on Human Understanding II, 27, §§ 9–10. – Ebd. 271. 24 Ebd. 153. – In der Anmerkung verweist Spaemann auf: A. a. O., § 19. 19 20
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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
nichts anderes als Bewußtsein der Identität.« 25 Die Identität des menschlichen Wesens und die der Person, der es als physische Grundlage dient, haben sich voneinander getrennt. Die von Descartes ausgehende allmähliche Abkehr vom substanzontologischen Denken wurde oben als »Subjekt-Wechsel« 26 beschrieben, 27 in dem Locke ein Stadium des Übergangs bezeichnet. »Die Konsequenzen aus dieser Konzeption Lockes hat David Hume gezogen« 28, indem er unter ausdrücklicher Ablehnung der »cartesische[n] Idee einer res cogitans, einer seelischen Substanz« 29, die Frage nach der personalen Identität radikalisiert hat: Gibt es eine Vorstellung, die dem »Ich« entspricht, das sich in allen Perzeptionen angeblich durchhält? Hume antwortet: nein. Was es gibt, sind immer nur Perzeptionen. Das Selbst ist keine solche Perzeption. Abgesehen von einigen Metaphysiker[n], »die sich eines Ich zu erfreuen meinen«, sind alle übrigen Menschen nur »ein Bündel oder eine Ansammlung von Perzeptionen«, die mit großer Schnelligkeit aufeinander folgen. 30 Sogar das instantane Bewußtsein ist ein Komplex aus verschiedenen Perzeptionen. 31
Obwohl Hume den »Personbegriff, nachdem er ihn zur Fiktion erklärt hat, wieder dem common sense annähern« 32 kann, gelangt er am Ende in dieser Frage zu einer »Kapitulation«: »Personale Identität ist für mich eine zu harte Aufgabe«. 33 Wie Spaemann dazu bemerkt, ist diese Aufgabe, »[w]enn man nicht bereit ist, die Prämissen auf-
Spaemann, Personen (1996), 151. Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 380. 27 Vgl. Teilkapitel 2.1, Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz, 50. 28 Spaemann, Personen (1996), 153. 29 Ebd. 30 In der Anmerkung verweist Spaemann als Quelle des Zitats auf: David Hume: A Treatise of Human Nature, Book I, part IV, sect. VI. – Ebd. 271. 31 Ebd. 154. 32 Ebd. – Vgl.: »Der ›schwache‹ Begriff von Identität erlaubt es nun aber Hume, im Unterschied zu Locke, Identität über das selbst Erinnerte hinaus durch kausale Rückschlüsse auszuweiten. Kausalbeziehungen sind zwar, wie alle Beziehungen, unsere Fiktionen. Aber mit Hilfe dieser Fiktionen können wir eine Vergangenheit rekonstruieren, deren wir uns selbst nicht unmittelbar erinnern. Wir können auch Erzählungen anderer über uns in unser Selbstverständnis aufnehmen.« – Ebd. 33 Ebd. 155. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: D. Hume: A Treatise of Human Nature, Appendix – Ebd. 271. 25 26
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8. Ontologie der Person
zugeben, […] nicht nur hart, sondern per definitionem unlösbar« 34. Die wesentliche Prämisse ist dabei die in cartesischer Tradition stehende solipsistische Vorentscheidung im Ausgang von einem instantan gegebenen Bewusstsein, durch den Erinnerung als »schwächere Reproduktion früherer Vorstellungen« interpretiert und damit als Ausdruck der intersubjektiven Vermitteltheit des Bewusstseins ausgeschlossen wird: 35 »Um uns aber erinnernd als Personen aneignen zu können, müssen wir ›aus uns herausgehen‹. Und eben dies ist uns nach Hume nicht möglich: ›We never really advance a step beyond ourselves.‹« 36 Der cartesische Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, in dem durch einen Akt der Selbsttranszendenz die Seelensubstanz der res cogitans gefunden wird, wurde von Locke und Hume also zugunsten der reinen Selbstgegebenheit des Bewusstseins wieder aufgegeben, was personale Identität letztlich unmöglich macht: »Der Solipsismus Spaemann, Personen (1996), 155. Vgl.: »Zeiterfahrung setzt Erinnerung voraus. Erinnerung aber ist für Hume die schwächere Reproduktion früherer Vorstellungen. Als frühere erweisen sie sich dadurch, daß sie schwächer sind. Das ist bezweifelbar. Beiläufige gegenwärtige Eindrücke können schwächer sein als erinnerte starke Eindrücke. Vor allem aber definiert das Schwächersein nicht das Frühersein. Das ist schon deshalb ausgeschlossen, weil ja gegenwärtige Eindrücke als frühere dann auch schwächer sein müssen als erwartete künftige, was ganz sicher Humes Auffassung widerspricht.« – Ebd. 156. 36 Ebd. 156. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: A. a. O., Book I, part II, sect. VI. – Vgl.: »Wenn nun dem Geiste nichts gegenwärtig ist als Perzeptionen, und Vorstellungen immer aus etwas entstanden sein müssen, das zuvor schon dem Geiste gegenwärtig gewesen ist, so folgt, daß es uns unmöglich ist, eine Vorstellung von etwas zu bilden oder zu vollziehen, das von Vorstellungen und Eindrücken spezifisch verschieden wäre. Man richte seine Aufmerksamkeit so intensiv als möglich auf die Welt außerhalb seiner selbst, man dringe mit seiner Einbildungskraft bis zum Himmel, oder bis an die äußersten Grenzen des Weltalls; man gelangt doch niemals einen Schritt weit über sich selbst hinaus, nie vermag man mit seiner Vorstellung eine Art der Existenz zu erfassen, die hinausginge über das Dasein der Perzeptionen, welche in dieser engen Sphäre [des eigenen Bewußtseins] aufgetreten sind. Dies ist das Universum der Einbildungskraft; wir haben keine Vorstellung, die nicht darin ihr Dasein hätte.« – Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 91–92. – Der zitierte Satz wird von Spaemann seit dem Personen-Buch häufig als Ausdruck der szientistischen Weltanschauung angeführt und liegt dem Titel »Schritte über uns hinaus« seiner 2010 bzw. 2011 erschienenen »Gesammelten Reden und Aufsätze« zugrunde. – Vgl.: »Dass wir niemals einen Schritt über uns hinaus tun, diesen Satz David Humes finde ich bei der Durchsicht meiner Texte aus den letzten Jahren immer wieder zitiert. Er erscheint mir als ein Schlüssel zur modernen Weltanschauung. Allerdings ist er widersprüchlich, denn wenn er wahr wäre, könnten wir ihn nicht aussprechen und von seiner Wahrheit nicht wissen.« – Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken (2010), 7. 34 35
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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
ist immer zugleich ›Instantanismus‹. Die Verwerfung des Gedankens der Transzendenz des Subjekts impliziert die Verwerfung der Realität der Zeit und macht damit den Gedanken personaler Identität als Selbstobjektivierung unmöglich.« 37 Das cartesische Ideal der Gewissheit, das von Locke und Hume unter Absehung von seinen metaphysischen Prämissen weiterverfolgt wurde, führt also zu einer klaren Trennung der Identitätskriterien von Menschen und Personen, die nach erheblicher Inkubationszeit im 20. Jahrhundert von Philosophen wie Parfit und Singer aufgegriffen und für Spaemann zum Auslöser seiner philosophischen Bemühungen um den Personbegriff wurde. 38 Die Entwicklung, die von Descartes über den englischen Empirismus zum Personbegriff des 20. Jahrhunderts führt, kann somit auch als Freilegung des cartesischen Ausgangspunktes durch Entfernung allen metaphysischen Beiwerks verstanden werden. Da dieser Ausgangspunkt, wie gesehen wurde, nach Spaemann in einem engen Zusammenhang steht mit dem, was Personsein heißt, muss nun der Blick noch einmal auf ihn zurückgelenkt werden, um den entscheidenden Punkt zu benennen, an dem unabweisbare Charakteristika der Person von Descartes falsch interpretiert wurden. Spaemann greift damit in »Personen« auf Gedanken zurück, die er zuerst in seinem Descartes-Essay aus dem Jahre 1987 entwickelt hat und die hier im sechsten Kapitel im Kontext des metaphysischanalogen Denkens erläutert wurden. 39 Es sei hier vorab noch einmal an die wesentlichen Zusammenhänge erinnert. Descartes orientierte sich an dem aristotelischen Substanz/Akzidens-Schema, insofern er die cogitationes als Akzidenzien der zugrunde liegenden Seelensubstanz der res cogitans deutete. Spaemanns alternative metaphysischanaloge Deutung des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ besteht darin, dass an der bei Descartes durch die res cogitans freigehaltenen Stelle die teleologisch verstandene φύσις wiedereingesetzt wird, zu der die Person im Sinne des ›Habens einer Natur‹ auf Distanz geht. Im Rückblick vom Reflexionsniveau des Personen-Buches zeigt sich daher, dass die falsche Interpretation des personalen Ortes, die Descartes nach Spaemann vorgenommen hat, in einer direkten Inversion des Subsistenzverhältnisses besteht. Indem Descartes das Substanz/Akzidens-Schema auf die Aristoteles fremde Realdistinktion von esse und 37 38 39
Spaemann, Personen (1996), 157. Vgl. ebd. 148. Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–379.
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8. Ontologie der Person
essentia bezog, erklärte er mit der res cogitans das Sosein (essentia) zur Substanz. Demgegenüber nimmt in Spaemanns Verständnis der – von Descartes in den cogitationes erfasste – personale Ort die Stelle der aristotelischen Substanz ein, 40 insofern der in ihm zum Ausdruck kommende Akt des Seins (esse) in einer Distanz steht zur ›gehabten Natur‹ (essentia), die an die Stelle der cartesischen Seelensubstanz tritt. Der von Descartes gefundene Ausgangspunkt der Philosophie hat nach Spaemann mit dem Personsein also gemeinsam, dass er eine rein numerische Identität ohne jede qualitative Bestimmung bezeichnet. Es geht um eine ›bestimmte Unbestimmtheit‹, einen bestimmungslosen ›Jemand‹, der erst durch die Antizipation eines Gegenübers denkbar wird. Zwei Hinweise wurden erwähnt, warum Descartes im Finden dieses Punktes ihn sogleich falsch interpretierte. Erstens hypostasiert er ein aus der Wirklichkeit abstrahiertes Moment zur unabhängigen Entität eines Selbst, das dadurch eine qualitative Bestimmtheit gewinnt, von der abgelöst zu sein gerade sein Charakteristikum war. 41 Diese ›unbestimmte Bestimmtheit‹ kann Vgl. »Insofern kann man sogar sagen, daß Personen erst im vollen Sinn den Begriff natürlicher Substanz erfüllen. Und tatsächlich hat Aristoteles seinen Begriff der Substanz wohl am Paradigma des Menschen gewonnen.« – Spaemann, Personen (1996), 42. – Ausgehend von diesem Zitat gelangt Raphael Bexten in seiner Studie »Was ist menschliches Personsein?« zu der Schlussfolgerung, dass Spaemann »die ontologisch-geistige Substantialität der menschlichen Person als gegeben voraussetzt, auch wenn er dies hier nicht explizit betont«. – Bexten, Was ist menschliches Personsein?, 156–157, Fn. 6. – Wenn Bexten postuliert, »dass die Person wesensnotwendig Substanz ist« – ebd. 182 –, so rückt sein Personbegriff in gefährliche Nähe zu dem, was Spaemann als Hypostasierung des personalen Standpunkts ausdrücklich ablehnt. – Vgl. Spaemann, Personen, 115, u. im vorliegenden Abschnitt, 527. – Mit Duns Scotus spricht Bexten in Bezug auf die Person von einer »haecceitas (ein DiesesdaSein)« – Bexten, a. a. O., 222 – und bemerkt: »Diese Seinsweise wird menschliche Person oder, abstrakt gesprochen, menschliches Personsein genannt.« – Ebd. 247. – Dies widerspricht direkt der Position Spaemanns, der betont: Personen »sind nicht eine solche Weise, sondern verhalten sich zu ihr«. – Spaemann, a. a. O., 81. – Die substanzontologische Hypostasierung der Person bringt Bexten durch die damit zugeschriebene »Seinsselbständigkeit« – Bexten, a. a. O., 178 – in Schwierigkeiten bei dem Versuch, die für Spaemanns Personverständnis konstitutive Pluralität der Personen zu denken, die er eine »scheinbar paradoxe Formulierung« – ebd. 242 u. 312 – nennt. Diese Schwierigkeiten treten bei Bexten auch zu Tage, wenn es darum geht, »die Selbsttranszendenz zum personalen Du, zur anderen Person« – ebd. 277 – zu denken, die für Bexten erst aus der dritten Dimension der »Wirklichkeitsform menschlichen Personseins« hervorgeht. – Vgl. ebd. 238 u. 288. 41 Diesen Gedanken hat Spaemann im Rahmen seines Aufsatzes »Das Sum in Des40
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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
sich nur in ihrem Sein stabilisieren durch die Annahme eines absoluten Bewusstseins. Der im englischen Empirismus durchgeführte Versuch, die Hypostasierung zur Entität durch konsequente Beschränkung auf das instantane Selbstbewusstsein zurückzunehmen, brachte jedoch, wie der Blick auf die Geschichte der Destruktion des Personbegriffs bei Locke und Hume gezeigt hat, die innere Problematik dieses Ansatzes erst zur Entfaltung. Wo aber liegt der Fehler, wenn weder die Hypostasierung zur Entität noch der Verzicht auf diese eine Lösung herbeiführt? Die Richtung, in der die Antwort zu suchen ist, gibt der zweite bereits erwähnte Hinweis. Als Motiv des cartesischen Ansatzes wurde die »Stabilisierung des Herrschaftssubjektes – als Selbstgewißheit – einerseits, Herrschaft über die Natur andererseits« 42 genannt. Dieses Herrschaftsinteresse erzwingt einerseits die Hypostasierung des Selbstbewusstseins zur Entität der res cogitans, gleichzeitig führt die prinzipielle Ausgrenzung alles Soseins, also der Natur, dazu, dass die so entstehende Entität eine reine Abstraktion bleibt. 43 Indem sie als instantanes Selbstbewusstsein sich selbst besitzt, grenzt sie alles als ein Sosein aus, was sie besitzt. Dadurch, dass ihr Verhältnis zum anderen ihrer selbst als Herrschaft bestimmt ist, bleibt sie auch als hypostasierte Entität ein formales Prinzip, das alles Inhaltliche aufgrund seiner Bestimmtheit ausgrenzt. Das eigentliche Problem ist also die abstrakte Entgegensetzung des Herrschaftssubjekts, der res cogitans, und des beherrschten Objekts, der res extensa. Diese abstrakte Entgegensetzung verhindert jede inhaltlich bestimmte Selbstvermittlung, die nur möglich wird durch die Reflexion auf die natürlichen Voraussetzungen der res cogitans und das Verständnis des ›cogito‹ selbst als gesteigerten Aus-
cartes’ Cogito Sum« durchdacht: Es würde sich eine endlose Iteration ergeben, wenn die Dialektik von Horizontbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein nicht durch die Einführung des Gedankens eines absoluten Bewusstseins, also durch die Theologisierung der Ontologie, zum Stehen gebracht würde. – Vgl. dazu Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351. 42 Spaemann, Personen (1996), 145. 43 Eine vergleichbare Kritik an der auf Descartes zurückgehenden Entwicklung des neuzeitlichen Denkens findet sich bei Spaemann zum ersten Mal in der Dissertation über de Bonald, in der er von »der Selbstaufhebung der aufgeklärten Vernunft« spricht, »die das Moment der Reflexion auf ihre natürlichen Wurzeln verloren hat«. – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 207. – Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstaufhebung der Vernunft, 118–121.
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8. Ontologie der Person
drucks der lebendigen Natur, um die es Spaemann in seiner Korrektur des cartesischen Ansatzes geht: Die Krise des Personbegriffs ergibt sich aus dem cartesischen Dualismus und aus der Unmöglichkeit, im Rahmen dieses Dualismus Leben zu denken. Seit Platon und insbesondere seit dem Neuplatonismus war maßgeblich die ontologische Trias Sein-Leben-Denken. Leben war dabei der eigentliche, paradigmatische Begriff. »Leben ist das Sein des Lebendigen«, schrieb Aristoteles. 44 Nichtlebendiges Sein können wir nur nach Analogie unseres eigenen Seins denken, aber unser eigenes ist Leben. Bewußtsein ist volles, gesteigertes Leben. »Qui non intelligit non perfecte vivit sed habet dimidium vitae«. 45 Der Sein und Bewußtsein verbindende Mittelbegriff des Lebens verfällt nun dem cartesischen Verdikt, keine klare und distinkte Idee zu sein. Um zu leben, müsse man deshalb aufhören zu denken, schreibt Descartes an die Kurfürstin Elisabeth. 46 Die Geschichte der Destruktion des Personbegriffs ist die Geschichte der Destruktion des Lebensbegriffs. Und diese wiederum hängt zusammen mit der Destruktion des Gedankens einer natürlichen Teleologie. 47
Die Krise des Personbegriffs wird von Spaemann somit in einen direkten Zusammenhang mit der neuzeitlichen Abwendung vom teleologischen Denken gestellt. Der Wegfall des Lebensbegriffs ging einher mit der »Atomisierung der Bewegung« und der »Preisgabe des Begriffs des Potentiellen« 48 und führte das philosophische Nachdenken über die Person, wie gesehen, bei Locke und Hume in die Aporie: »Wo der Gedanke des Lebens undenkbar wird, da wird es a fortiori der Gedanke der Person, denn Personen sind Lebewesen. Die Identität der Person ist eine Funktion der Identität eines Lebewesens.« 49 Die Reflexion der Prämissen der neuzeitlichen Philosophie, die zur Krise des Personbegriffs geführt haben, lenkt die Aufmerksamkeit damit zurück auf das Thema der Naturteleologie, das hier vor allen Dingen im fünften Kapitel anhand Spaemanns und Löws Buch »Natürliche
Verweis auf die Quelle des Zitats: Aristoteles: De anima II, 4; 415 b 13: »vivere viventibus est esse«. – Spaemann, Personen (1996), 271. 45 Verweis auf die Quelle des Zitats: Thomas von Aquin: In Eth. Arist. ad Nic., lib IX, lectio 11, Nr. 1902. – Ebd. 271. 46 Verweis auf die Quelle des Zitats: R. Descartes: Brief an Elisabeth vom 28. Juni 1643; in: Œuvres et Lettres. Ed. A. Bridoux, Paris 1953, 1157. – Ebd. 271. 47 Ebd. 146. 48 Ebd. 150. 49 Ebd. 147. 44
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8.2.2 Genauigkeit und Seele
Ziele« behandelt wurde. 50 Im nächsten Schritt muss daher zusammengetragen werden, was Spaemann im Rahmen des PersonenBuchs über das bereits Bekannte hinaus zu diesem Thema ergänzt.
8.2.2
Genauigkeit und Seele Im ganzen entsteht so der Eindruck, daß aus allen menschlichen Beziehungen erst wieder die falsch darin sitzende Seele völlig entfernt werden müsste; und in dem Augenblick, wo Ulrich dies dachte, fühlte er, daß sein Leben, wenn es überhaupt Sinn besaß, keinen anderen hatte als diesen, daß sich die beiden Grundsphären der Menschlichkeit darin selbst zerlegt zeigten und einander in der Wirkung entgegenstanden. Solche Menschen werden offenbar heute geboren, aber sie bleiben noch allein, und allein war er nicht imstande, das Auseinandergefallene von neuem zusammenzubringen. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 116 »Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele«
Im Kontext des Personbegriffs rückt der Begriff der Seele als anthropologisches Analogon zum ontologischen Begriff des Lebens in den Mittelpunkt, dessen Geschichte zunächst betrachtet werden muss, bevor seine Bedeutung für die konstitutive Fundierung des Personbegriffs in der Natur des Menschen entwickelt werden kann. Auch im Zusammenhang mit der Geschichte des Seelenbegriffs spielt Descartes eine bedeutsame Rolle: »Der prekäre philosophische Status der Seele rührt vor allem her von der Hypostasierung einer unabhängigen Seelensubstanz durch Descartes, die auf schwer erklärbare Weise mit einer Körpersubstanz verbunden sein und zusammen mit dieser den Menschen ausmachen soll.« 51 Im Sinne der oben skizzierten Beseitigung des metaphysischen Beiwerks aus dem cartesischen Ansatz in der auf ihn zurückgehenden neuzeitlichen Philosophie trat an die Stelle der res cogitans »bei Kant die ›transzendentale Apperzeption‹, das ›Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten kön-
Vgl. Teilkapitel 5.2, »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive, 215– 291. 51 Spaemann, Personen (1996), 158. 50
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8. Ontologie der Person
nen‹« 52. Damit verlor die ehemalige Seelensubstanz allerdings gänzlich die ursprünglich mit dem Begriff der Seele verbundene Fähigkeit Individualität zu bezeichnen: »Das Subjekt der weltkonstituierenden Intentionalität ist für Kant wie Husserl nicht eine individuelle Person, sondern ein ›transzendentales Ego‹, das gerade nicht mehr individuell ist.« 53 Auch wenn es begriffsgeschichtlich wichtig ist, sich diese Wandlung zu vergegenwärtigen, die von der cartesischen Seelensubstanz ihren Ausgang nahm, muss verdeutlicht werden, dass es hier von vornherein nicht um das ging, was traditionell mit dem Begriff Seele bezeichnet wurde. Tatsächlich hatte Descartes für den klassischen Begriff der Seele gar keine Verwendung mehr. Seele war in der aristotelischen Tradition die »Form«, das heißt das Prinzip lebendiger Organismen. Descartes kennt kein solches Prinzip, weil lebendige Organismen Maschinen sind. Für das Bewußtsein, das auf irgendeine schwer verständliche Weise »in« diesen Maschinen existiert, benutzt er den freigewordenen Terminus der »Seele«, die so zu einer eigenen Entität wird. 54
Der Begriff der Seele wurde damit äquivok und es ist wichtig, den cartesischen Begriff klar von einem älteren zu trennen. Mit dem »›klassischen‹ Begriff der Seele« 55 wurde das Organisationsprinzip lebendiger Wesen bezeichnet, die im Unterschied zu Artefakten eine innere Einheit unabhängig von einem äußeren Beobachter bilden: »Lebendige Systeme sind autopoietische, sich selbst organisierende Systeme.« 56 Diese Kennzeichnung beinhaltet einen inneren Widerspruch, solange unter ›machen‹ bzw. ›organisieren‹ eine Tätigkeit verstanden wird, in der ein Agens auf etwas als seinen Gegenstand einwirkt. »Die aristotelische Formursächlichkeit dagegen ist kein solches Machen. […] Sie ist vielmehr Strukturprinzip einer lebendigen Einheit, und diese ist eine elementare Wirklichkeit, deren Teile nur noch […] virtuelle entia per se, selbständige Seiende« 57 sind. Die in enger Verbindung mit der Zweckursache stehende Formursache ist in der aristotelischen Metaphysik das Prinzip der teleologischen Organisa52 Spaemann, Personen (1996), 158. – Spaemann verweist in der Anmerkung auf: I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 131. – Ebd. 272. 53 Ebd. 159. 54 Ebd. 160–161. 55 Ebd. 164. 56 Ebd. 57 Ebd. 165.
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8.2.2 Genauigkeit und Seele
tion, wobei in Naturdingen im Unterschied zu Artefakten das ›Was‹ und das ›Wozu‹ im Sinne der ἐντελέχεια in eins fallen: 58 Dieses, daß etwas an sich selbst »etwas«, und zwar ein so und so bestimmtes Etwas, ist, heißt aristotelisch: es hat eine substantielle Form. Und wenn dieses Etwas ein autopoietisches System ist, dessen InnenAußen-Differenz nicht nur relativ auf einen äußeren Betrachter existiert, sondern an sich selbst und für sich selbst, dann nennen wir dieses System »lebendig«, und seine »substantielle Form« nennen wir »Seele«. Die Seele ist jene teleologische Struktur, jener innere »Bauplan«, der nicht, wie bei Artefakten, immer daseinsrelativ bleibt auf Beobachter oder Benutzer, die ihn und durch ihn das Artefakt als »etwas« entdecken; er macht vielmehr ein Etwas zum neuen Zentrum einer »Umwelt«, innerhalb derer etwas anderes für diese lebendige Entität bedeutsam werden beziehungsweise daseinsrelativ auf sie existieren kann. 59
Seele als Inbegriff der teleologischen Struktur autopoietischer Systeme entzieht sich prinzipiell jeder vom Subjekt ausgehenden und auf objektive Gegebenheit zielenden Betrachtung. In den Gegenständen solcher Betrachtung ist nie das teleologische Aussein-auf gegeben, sondern stets nur dessen Wirkungen, die auch kausal-mechanisch erklärt werden können. Aber auch im Akt der Introspektion bleibt die Leugnung der Fundierung des ›cogito‹ in einer teleologischen Struktur des menschlichen Lebewesens durch seine Hypostasierung zur Entität immer eine Denkmöglichkeit. Und eben für diese Denkmöglichkeit beanspruchte Descartes den Begriff der Seele, der dann in der weiteren Entwicklung des neuzeitlichen Denkens durch die Rückführung auf reine Transzendentalität liquidiert wurde. Diese Ersetzung des klassischen Seelenbegriffs durch die res cogitans Descartes’ wirft die Frage nach der Vorgeschichte auf, die sie ermöglicht hat. In der Betrachtung der Geschichte des klassischen Seelenbegriffs knüpft Spaemann an seine Gedanken zur Geschichte des anthropologischen Dualismus an, die im Zusammenhang der Essays der 80er Jahre bereits Thema waren 60 und hier nur knapp rekapituliert bzw. ergänzt werden. Ausgangspunkt der Überlegungen dort war die klassische antike Philosophie. In der Antike wurde klar unterschieden Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 225–233. 59 Spaemann, Personen, 166–167. 60 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 58
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zwischen Seele und Geist; dieser ragt nach Aristoteles von außen – θύραθεν – in den Menschen hinein: Aristoteles hatte einen ontologisch radikalen Schnitt zwischen Seele und Geist gemacht. Gott ist für ihn reiner Geist, das Sein des Geistes aber ist Leben. Seele dagegen ist das Prinzip einer niederen Form von Leben, nämlich des Lebens materieller Körper. 61 Es gibt eine Sorte von beseelten Wesen, die auch Geist besitzen, nämlich Menschen. Ihr Geist kann nicht als Eigenschaft ihrer Seele verstanden werden. Seele ist das wesentlich egozentrische teleologische, also triebhafte Lebensprinzip. Sie konstituiert eine von aller anderen Wirklichkeit getrennte Substanz. Geist aber ist über die durch die Seele konstituierte InnenAußen-Differenz gerade hinaus, indem er sie im Licht des Allgemeinen und Ewigen denkt. Er ist Teilhabe am Göttlichen. 62
Wie oben ausgeführt, wandelte sich dieser anthropologische Dualismus von Geist und Seele unter christlichem Einfluss entscheidend, wobei »zwei Motive leitend« 63 waren. Durch die in schöpfungstheologischen Prämissen gründende neue Form des Dualismus von Natur und Gnade – ›natura-gratia‹ – gelangten Seele und Geist auf die Seite des Natürlichen, so dass zum einen die vom Menschen geforderte Entscheidung zwischen »Geist und Fleisch« 64 eine Verwandlung der »Seele des Menschen zur ›Geistseele‹« 65 verlangte. Zum anderen folgte aus dem Postulat der »Unsterblichkeit der individuellen Seele« in Verbindung mit der Verwandlung der Seele in eine »Geistseele«, dass »der menschliche Geist als dieser individuelle unsterblich« 66 sein müsse. Im christlich bedingten Wandel des antiken anthropologischen Dualismus ist also das Bestreben erkennbar, »die menschliche Seele durch Geist zu definieren« 67, worin die Vorgeschichte einer neuzeitlichen »Abschaffung der Seele« 68 gesehen werden kann 69, die Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Aristoteles: De anima II, 1; 412 a 20. – Spaemann, Personen (1996), 272. 62 Ebd. 161. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd. 162. 66 Ebd. 67 Ebd. 163. 68 Ebd. 164. 69 Die Verwandlung der Seele in eine Geistseele steht in einer deutlichen Parallele zum christlichen Einfluss auf den Prozess der »Destruktion des Gedankens einer natürlichen Teleologie«: »Das erste Motiv dieser Destruktion kam aus der christlichen Theologie. Deren Argument nahm dasjenige vieler Autoren des 20. Jahrhunderts vor61
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8.2.2 Genauigkeit und Seele
durch die Reklamierung des Begriffs für die cartesische res cogitans vollendet wird: Der Seele wurde sozusagen von zwei Seiten her der Garaus gemacht. Auf der einen Seite war da das ganze Gewicht, das die christliche Tradition auf die Geistigkeit der Seele und auf ihre Unsterblichkeit legte. Die Rede von der Seele der Tiere wurde dabei fast zu einer Äquivokation, während doch für Aristoteles Seelen gerade das waren, was Mensch und Tier miteinander verbindet. Aber Tierseelen anzunehmen, wurde im 16. Jahrhundert auch von der Seite der neuen Naturwissenschaft und Naturphilosophie als abergläubisch abgetan. Um das Funktionieren lebendiger Organismen zu verstehen, so sagte man, bedarf es keiner »Formprinzipien« aristotelischer Art. Organismen müssen als Maschinen begriffen und erklärt werden. Nur Menschen haben Seelen. Und auch bei ihnen sind Seelen nicht Formkräfte ihrer organischen Konstitution, sondern nur das Substrat ihres bewußten Erlebens: res cogitans. 70
Aufgrund dieser Vorgeschichte muss der Begriff der Seele aus neuzeitlicher Perspektive im Sinne einer Aktualisierung völlig neu bestimmt werden, um im Weiteren im Zusammenhang mit dem Personbegriff eine Rolle spielen zu können. Die Frage, um die es dabei zunächst geht, lautet: In welchem Zusammenhang macht sich die Seele im neuzeitlichen Denken gerade als abwesende dadurch bemerkbar, dass sie eine Lücke hinterlassen hat, die nicht schließbar ist? Die Wiederannäherung an den Begriff der Seele kann zunächst also nur per viam negationis erfolgen. Auf der Grundlage der Beantwortung dieser Frage kann im Sinne der eigentlichen Aktualisierung des Seelenbegriffs danach gefragt werden, was der Begriff Seele als Prinzip lebendiger Organisation für das Verständnis des Menschen über seine Bestimmung als vernunftbegabtes Wesen hinaus beitragen kann. Zum Verständnis der kritischen Haltung Spaemanns gegenüber der neuzeitlichen Philosophie ist es wesentlich zu sehen, dass der anthropologische Dualismus durch die cartesische Neubegründung der Philosophie nicht überwunden wurde, sondern ausgehend vom Dualismus der res cogitans und der res extensa in der von Spaemann als Zerfallsprodukt der Entteleologisierung interpretierten Dialektik von
weg: Zielgerichtetheit heißt Antizipation. Antizipation setzt Bewußtsein voraus. Deshalb steckt das Ziel des Pfeiles nicht im Pfeil, sondern im Schützen.« – Ebd. 146. – Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam, 234–241. 70 Spaemann, Personen (1996), 164.
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Transzendentalismus und Naturalismus 71 seine neuzeitliche Erscheinungsform fand. Diese These baut erstens auf der Beobachtung auf, dass diese beiden Weltanschauungen wechselseitig der möglichen Rekonstruktion durch die Gegenseite ausgeliefert sind, und zweitens auf der Rückführung dieser komplementären Unselbständigkeit auf ein beiden gemeinsames Verdrängtes: das teleologische Aussein-auf, also Leben bzw. Seele. Wie der naturalistische Ansatz prinzipiell ein autopoietisches Organisationsprinzip als metaphysisches Konstrukt ausschließt, so der transzendentale Ansatz ein nicht daseinsrelativ auf den Betrachter bezogenes Zentrum einer eigenen Umwelt im Bereich seiner Objekte. Die neuzeitliche Form des anthropologischen Dualismus bleibt also gerade dadurch indirekt auf den Begriff der Seele bezogen, dass die beiden antagonistischen Denkweisen ihn von verschiedenen Seiten aufgrund fundamentaler Prämissen prinzipiell ausschließen. 72 Beide Ansätze können sich stringent gegeneinander behaupten, schlagen aber aufgrund der fehlenden Möglichkeit einer Letztbegründung in ihr jeweiliges Gegenteil um, wobei der unaufhaltbaren Dialektik der beiden Weltanschauungen nach Spaemann die Leugnung des teleologischen Ausseins-auf und dieser wiederum die auf Descartes zurückgehende Ausrichtung der neuzeitlichen Philosophie an der certa cognitio zugrunde liegt. Der Dualismus von res cogitans und res extensa hängt damit zusammen, daß Leben keine clara et distincta perceptio ist, sondern nur vom bewußten Leben aus privativ bestimmt werden kann. Hinzu kommt, daß die frühe neuzeitliche Philosophie mit dem Begriff der Finalität auch den der Potentionalität zu eliminieren suchte. Nun können wir aber über Leben nur angemessen sprechen, wenn wir damit potentiell bewußtes Leben meinen, mit Erleben aber potentielle Intentionalität. 73
Eine teleologische Argumentation muss sich prinzipiell auf ein der begrifflichen Vermittlung vorausliegendes Unmittelbares berufen, das nur in der Selbsterfahrung gegeben ist bzw. sich nur einem Akt der Anerkennung erschließt. 74 Wie oben im Zusammenhang mit »Natürliche Ziele« dargelegt wurde, dienen teleologische InterpretaVgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 332. 72 Vgl. Abschnitt 6.1.5, Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen, 361–371. 73 Spaemann, Personen (1996), 66. 74 Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 289. 71
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tionen nie der kausalen Erklärung, weswegen ihnen auch keine strenge Beweisbarkeit im wissenschaftlichen Sinn zukommen kann. 75 Gleichzeitig aber wurde gezeigt, dass Kausalforschung prinzipiell ungeeignet ist, um natürliche Prozesse vollständig zu erklären. 76 Das teleologische Denken kann gegenüber der Wissenschaft nicht mit dem Anspruch auf ›Erklärung‹, sondern nur mit dem auf ›Verstehen‹ auftreten. 77 In »Personen« heißt es dazu: Wem es zur Erklärung dafür, daß der Hund zum Fressnapf läuft, nicht genügt, daß der Hund Hunger hat, der sieht sich allerdings auf einen langen Weg verwiesen, den Aristoteles ebenso wie Kant für unendlich und deshalb nicht wirklich für einen Weg der Erklärung hielten. Aber die Wissenschaft ist dieser Weg. Prinzipiell ist nichts ihrer Erklärung entzogen – außer das Erleben selbst. 78
Die Argumentation zur Erneuerung des teleologischen Denkens und zur Aktualisierung des klassischen Begriffs der Seele muss in Bezug auf den Zusammenhang von bewusstem Leben und Leben, von Intentionalität und Erleben die inneren Widersprüche des wissenschaftlichen Menschenbildes aufzeigen und ihm im Sinne der Umkehr der Beweislast die eigenen spezifischen Erklärungspotentiale entgegenstellen. 79 Unmittelbare Folge des Ausfalls des Lebensbegriffs ist der für die neuzeitliche Wissenschaft und Philosophie prägende »Dualismus des Psychischen und des Physischen« 80, der »immer eine Herausforderung zu dem Versuch seiner monistischen Aufhebung« 81 enthielt. Nach dem Zusammenbruch der großen idealistischen Systeme ist es in der »gegenwärtigen philosophischen Diskussion […] vorwiegend der materialistische Monismus, der sich als Alternative zum Dualismus präsentiert« 82. Die eigentliche Herausforderung für den universalen Erklärungsanspruch des materialistischen Monismus sind MenVgl. Teilkapitel 5.2., »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive, 215–218. 76 Vgl. im Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche, die Ausführungen zum Verhältnis von kausalmechanischer und teleologischer Naturbetrachtung bei Kant, 262–267. 77 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 273–276. 78 Spaemann, Personen (1996), 167. 79 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277–279. 80 Spaemann, Personen (1996), 57. 81 Ebd. 82 Ebd. 75
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schen als geistige Subjekte: »Für den Materialismus ist das Mentale ein bloßes Epiphänomen materieller Prozesse, das als solches allerdings eindeutig von dem basalen Phänomen unterscheidbar ist.« 83 Spaemann unterstreicht dabei, dass der Materialismus den Dualismus, den er ablehnt, methodisch voraussetzt, indem er physikalische Ereignisse und mentale Prozesse als zwei Sphären konstatiert, »die unabhängig voneinander definierbar sind, um dann die mentale als Funktion der physischen zu interpretieren« 84. Die entscheidende Frage ist also gar nicht, ob es einen Dualismus des Psychischen und Physischen gibt, sondern wie er interpretiert wird: Der phänomenale Dualismus ist die Bedingung des ontologischen Monismus, eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung. Denn der Dualismus muß nicht monistisch aufgehoben werden, und es sprechen schwerwiegende Einwände gegen eine solche Aufhebung. Ob sie möglich und vernünftig ist, darüber entscheidet weitgehend die Empirie. 85
Spaemann wendet sich daher der Betrachtung konkreter Phänomene und ihrer Differenzierung zu, um zunächst gegen ihre monistische Aufhebung zu argumentieren und danach aus der Interpretation bestimmter Phänomene ein Argument für die notwendige ontologische Vermittlung zwischen den beiden Seiten des Dualismus zu entwickeln. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen mentalen Zuständen, propositionalen Einstellungen und intentionalen Akten. Unter Letzteren werden »Akte des Meinens, Wissens, Beurteilens und Wollens« 86 verstanden, zu ihnen sind menschliche Subjekte normalerweise fähig. Propositionale Einstellungen sind »Annahmen über das, was geschehen muß, damit ein gewünschter Effekt eintritt« 87; sie können auch Tieren zugesprochen werden. 88 Mentale Zustände schließlich bezeichnen psychische Prozesse »nichtintentionaler und nichtpropositionaler Art«, beispielsweise »Schmerzen, Stimmungen oder diffuse[…] emotionale[…] Erregungszustände[…]« 89. Spaemann betrachtet zunächst diese mentalen Zustände. Einerseits sind 83 84 85 86 87 88 89
Spaemann, Personen (1996), 58. Ebd. 59. Ebd. Ebd. 62. Ebd. 258. Vgl. ebd. 68. Ebd. 60.
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8.2.2 Genauigkeit und Seele
sie »beschreibbar und definierbar ohne Bezug auf irgendeine physikalische Begebenheit« 90; die Erfahrung beispielsweise von Schmerzen schafft eine subjektive Wirklichkeit, die von keiner objektiven Erklärung eingeholt werden kann. Dies bedeutet aber noch keine Widerlegung des Reduktionismus: Subjektives Erleben, so lautet die These des Epiphänomenalismus, steht in strikter Eins-zu-eins-Relation zu objektiv beobachtbaren neuronalen Prozessen. Diese Relation ist asymmetrisch. Die neuronalen Prozesse wirken auf das Erleben. Es selbst wirkt auf diese Prozesse nicht zurück. Es ist überhaupt irrelevant für irgendwelche physischen Vorgänge in der Welt, bildet aber auch kein eigenes, autonomes Reich von Ereignissen, da es vielmehr nur folgenlose Nebenerscheinung jener physischen Vorgänge ist. 91
Auf dieser Ebene besteht zwischen dem Reduktionismus und seiner Gegenposition ein theoretisches Patt. 92 »Die Diskussion um den ontologischen Status dieser Zustände, also um die Frage, ob es sich bei der Sphäre des Mentalen um ein ens per se handelt, ist auf dieser Ebene definitiv gar nicht entscheidbar.« 93 Daher wendet Spaemann sich im nächsten Schritt der Betrachtung intentionaler Akte zu. »Akte des Meinens, Wissens, Beurteilens und Wollens« 94 können im Unterschied zu mentalen Zuständen nicht reduktionistisch auf zugrunde liegende physikalische Prozesse reduziert werden, weil ihre intentionalen Gehalte wesentlich Bestandteile der vom Subjekt unabhängigen Wirklichkeit sind. Wenn diese zu bedeutungslosen Epiphänomenen herabgestuft werden, verschwindet eben die objektive Welt, die für uns überhaupt nur kraft solcher Akte da ist. Und Analoges gilt für alle Akte des bewußten Vorziehens und Ausseins-auf. […] Wo also theoretische oder praktische Intentionalität ins Spiel kommt, da wird der materialistische ReSpaemann, Personen (1996), 60. Ebd. 61. 92 Vgl.: »Eine wissenschaftstheoretische Analyse könnte zeigen, dass die Hirnforschung zum Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist nicht mehr beisteuern kann als […] Korrelationsaussagen bzw. Korrelationsgesetze. […] Fortschritt in der Hirnforschung kann nur in allmählich immer genaueren und kleinteiligeren Korrelationsbehauptungen bestehen. […] Mithin trägt die Hirnforschung nichts zu einer definitiven Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems bei.« – Tetens, Der Naturalismus: Das metaphysische Vorurteil unserer Zeit?, 12–13. 93 Spaemann, Personen (1996), 60. 94 Ebd. 62. 90 91
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duktionismus in jeder seiner Formen selbstwidersprüchlich. Intentionalität kann überhaupt nicht adäquat als psychischer Zustand beschrieben werden. Zu seiner Definition gehört das, was in einem intentionalen Zustand gemeint oder beabsichtigt ist. 95
Dem in den Akten theoretischer oder praktischer Intentionalität Gemeinten muss also der Status von Wirklichkeit zugestanden werden. Inwiefern aber beinhaltet diese Feststellung ein Argument gegen den Reduktionismus? Für diesen ist das intentional Gemeinte eine bloße positive Gegebenheit. Es fragt sich jedoch, wie diese in die subjektive Vorstellungswelt dessen gelangt, von dem die intentionalen Akte ausgehen. Deren Subjekt denkt ja mit dem Gedanken des intentional Gemeinten simultan die Differenz zwischen ihm und sich selbst. Intentionalität ist daher nicht bloße positive Gegebenheit: Gedanken sind selbst schon bestimmt durch Differenz zu dem, was bloß ist. Diese Differenz kann nicht aus dem, was bloß ist, konstruiert, Negativität nicht aus Positivität gewonnen werden, obgleich sie diese voraussetzt. Darum können Maschinen nicht denken. Die Differenz zu dem, was bloß ist, kann durch keine Simulation erreicht werden, die diese Differenz nicht immer schon voraussetzt. Alles, was Maschinen hervorbringen, sind positive Fakten in der Welt, die von lebendigen Wesen als Zeichen gelesen und in Gedankeninhalte verwandelt werden können. Das Zeichen »–« ist ebenso ein materielles Vorkommnis in der Welt wie das Zeichen »+«. Erst, wo ein lebendiges Wesen ihm eine bestimmte Bedeutung gibt, ereignet sich Negativität. 96
Das zentrale Argument besteht also darin, dass Intentionalität – nicht nur die des Wollens, sondern auch die des Wissens – aus Negativität und damit aus lebendiger Organisation hervorgeht: »Negativität, also das Andere zum bloßen Sein, gibt es nur, wo es Leben gibt, das heißt, wo es um etwas geht, und zwar ›immer schon‹, also nicht etwa erst aufgrund einer Wahl, einer Zwecksetzung oder bewußten Wollens.« 97 Das lebendige Aussein-auf ist wesentlich vorbewusst und liegt allen intentionalen Akten, auch dem Wissen zugrunde: Wissen ist eine Weise des Erlebens. Jedem Erleben aber geht es um etwas. Aussein-auf, Trieb ist die Grundstruktur des Erlebens. Durch den Trieb aber wird eine doppelte Differenz konstruiert, die InnenAußen-Differenz einerseits, also eine Differenz, die die Raumwahr95 96 97
Spaemann, Personen (1996), 62 Ebd. 50. Ebd. 56.
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8.2.2 Genauigkeit und Seele
nehmung begründet, und eine andere, die die Zeitwahrnehmung begründet, die Differenz zwischen Schon und noch-nicht, zwischen Antizipation und dem in der Antizipation Antizipierten. 98
Ein ähnliches Argument hatte Spaemann zuvor bereits in dem 1984 erschienenen Aufsatz »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie?« entwickelt, in dem die Widerlegung des Reduktionismus wesentlich mit der »Unableitbarkeit der Negativität« 99 begründet wurde. Dem in »Personen« entwickelten Argument der Nichtrekonstruierbarkeit der Intentionalität liegt die dort analysierte zweite Stufe der Negativität »als Andersheit, als Nicht-ich« 100 zugrunde, 101 die wiederum in der ersten Stufe, der im Aussein-auf sich öffnenden Innen-Außen-Differenz des Lebewesens fundiert ist. Der »Zusammenhang von Intentionalität und seelischen Zuständen« lässt sich in umgekehrter Richtung von den seelischen Zuständen her deutlich machen, deren vorbewusstes Sein ontologisch das Primäre ist, auch wenn für uns ihr Bewusstwerden primär ist und ihr vorbewusstes Sein nur sekundär erschlossen werden kann. Spaemann verdeutlicht dies am Beispiel des Hungers, der dem Bewusstsein des Hungers zugrunde liegt: Er wird nicht aufgefunden wie ein Gegenstand in der Welt, sondern als etwas, das ich habe. Und dieses Haben wird nun, im Bewußtwerden, aktualisiert. War der Hunger vorher kein von mir gehabter? Es wäre falsch, das zu sagen. Denn indem ich mir des Hungers bewußt werde, entdecke ich ja nicht irgendeinen Hunger und mache ihn zu meinem, so wie ich irgendein Huhn zu dem von mir gesehenen mache, sondern ich entdecke, daß ich es bin, der Hunger hatte, schon ehe ich mir dessen bewußt war. Und nur dieses Hungers, der von Anfang an meiner war, kann ich mir bewußt werden. 102
Während der Argumentationsgang von der Seite des intentional Gemeinten zu der Schlussfolgerung führte, dass das Denken von Wirklichkeit lebendige Organisation voraussetzt, zeigt die Betrachtung von der Seite der seelischen Zustände, warum diese als wesentlich Spaemann, Personen (1996), 51. – Auf den Gedanken der ›doppelten Differenz‹ wird gegen Ende dieser Arbeit zurückzukommen sein. Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 895–896. 99 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 59. 100 Ebd. 62. 101 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 244. 102 Spaemann, Personen (1996), 64. 98
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8. Ontologie der Person
Vorbewusstes zwangsläufig nicht beweisbar sein können. Ausgehend vom Dualismus des Psychischen und Physischen konnte somit am Problem der Intentionalität die nicht schließbare Lücke gezeigt werden, die der verlorene klassische Seelenbegriff hinterlassen hat. Eine Aktualisierung dieses Begriffs verlangt, dass die konstitutive Bedeutung des Prinzips lebendiger Organisation für das Verständnis des Menschen als vernünftiges Lebewesen dargelegt wird. Wenn Intentionalität in seelischen Zuständen, also in der Negativität von lebendigem Seienden, fundiert ist, stellt sich die Frage, wie die Anwesenheit des Seelischen im Vernünftigen konkret zu denken ist. »Intentionalität ist nicht etwas Seelisches, sondern etwas Geistiges. Sie gehört so wenig zur Innenwelt von Subjekten wie zur Außenwelt. Sie begründet einen ›view from nowhere‹.« 103 Wenn der ›Blick von nirgendwo‹ als Aufhebung der lebendigen Zentralität nicht als hypostasierte Entität der res cogitans gedacht werden soll, ist im nächsten Schritt nach der Präsenz des überschrittenen Seelischen im Vernünftigen zu fragen.
8.2.3
Metaphysischer Realismus
Die Überlegungen in Teilkapitel 8.2 zu den negativen Voraussetzungen von Spaemanns Personbegriff nahmen ihren Ausgang von der cartesischen Neubegründung der Philosophie, zu der Spaemann, wie im Rahmen dieser Arbeit schon oftmals gesehen wurde, ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis hat. Zum einen deutet Spaemann Descartes’ Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, wie oben in Abschnitt 6.1.3 dargelegt wurde, 104 als Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein durch eine spekulative Theorie der Selbsttranszendenz. Zum anderen führt er die cartesische Theologisierung der Ontologie auf die frühneuzeitliche Entteleologisierung und den Wegfall des Lebensbegriffes zurück. Die in Abschnitt 8.2.1 nachgezeichnete Geschichte der Destruktion des Personbegriffs steht unter diesen ateleologischen Denkvoraussetzungen, wohingegen die 103 Spaemann, Personen (1996), 63. – Vgl.: »The objective self that I find viewing the world through T[homas] N[agel] is not unique: each of you has one. Or perhaps I should say each of you is one, for the objective self is not a distinct entity. Each of us, then, in addition to being an ordinary person, is a particular objective self, the subject of a perspectiveless conception of reality.« – Nagel, The view from nowhere, 63–64. 104 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein, wie gesehen, als metaphysisches Beiwerk fallen gelassen wurde. Um an sie anknüpfen zu können, unterscheidet Spaemann zwischen den von Descartes freigelegten Charakteristika der Person und ihrer diese sogleich wieder verdeckenden Hypostasierung zur Entität eines abstrakten Herrschaftssubjekts, deren Ursache der Verlust des Lebensbegriffs ist. Als erste Konsequenz aus diesen historischen Voraussetzungen des modernen Denkens wurde in Abschnitt 8.2.2 nach dem verlorenen Begriff der Seele und den Möglichkeiten gefragt, diesen in der Gegenwart philosophisch zu rehabilitieren und an das teleologische Denken anzuknüpfen. Aus der Selbstwidersprüchlichkeit des Reduktionismus ergab sich so der Hinweis auf eine unableitbare Negativität des lebendigen Ausseins-auf, dessen anthropologische Konsequenz die Aufgabe einer Aktualisierung des Begriffs der Seele ist. Um deren Bedeutung als lebendiges Organisationsprinzip für den Menschen als vernünftiges Wesen zu entfalten, muss im nächsten Schritt an das in Abschnitt 6.2.1 thematisierte metaphysisch-analoge Denken angeknüpft werden, das an der cartesischen Erneuerung der aristotelischen Rede vom Sein festhält, ohne eine Theologisierung der Ontologie vorzunehmen. 105 Wie dort dargelegt wurde, ist es gerade der ausgefallene Mittelbegriff des Lebens, der im metaphysisch-analogen Denken den Weg zum Sein ohne die Voraussetzung eines absoluten Bewusstseins ermöglicht. Im nun folgenden Gedankengang soll als Abschluss der die Erschließung des Personbegriffs vorbereitenden Überlegungen einer ›negativen‹ Philosophie der innere Zusammenhang zwischen dem teleologischen Aussein-auf dieser Natur und dem Sein, das nicht Begriff, sondern Korrelat eines Aktes der Anerkennung ist, weiter präzisiert werden. 106 Vorab ist also in Erinnerung zu rufen, wie Descartes durch den Zweifelsbeweis die aristotelische Rede vom Sein erneuert. Descartes’ Ideal war eine auf univoken Begriffen aufbauende Wissenschaft. »Im Rahmen solcher Begriffswissenschaft ist das Wort ›Sein‹ der abstrakteste aller Begriffe, der umfangreichste und inhaltsärmste. Er meint ›etwas überhaupt‹ und umfaßt alles, was möglicher Gegenstand einer Intention ist.« 107 Zu einem solchen Begriff des Seins gelangt das DenVgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383. Die Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich im Wesentlichen auf das Kapitel »Transzendenz« in: Spaemann, Personen (1996), 71–90. 107 Spaemann, Personen (1996), 71–72. 105 106
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8. Ontologie der Person
ken durch »stufenweise Horizonterweiterung der Intentionalität durch begriffliche Abstraktion« 108, also durch das Transzendieren aller gegenständlichen Gegebenheit auf einen letzten Horizont hin. Descartes, einer der Begründer der Philosophie aus reinen Begriffen, hat allerdings auch am schärfsten die Grenzen ihrer Reichweite gesehen und den Weg für ein ganz anderes Verständnis von Transzendenz offengehalten. Er wurde sich nämlich der Möglichkeit bewußt, daß auch die unüberbietbare Evidenz der clara et distincta perceptio irreführen kann. Alle Evidenz ist und bleibt unaufhebbar jeweils die eigene Evidenz, der eigene Zustand. Zwar gibt es außerhalb der Evidenz keinen wie immer gearteten gangbaren Weg des Geistes. Die reductio ad absurdum ist ein Zusammenbruch, aber sie gibt keine Gewißheit des Gegenteils. 109
Wenn unter dieser Prämisse Gewissheit überhaupt nicht aus dem Denken gewonnen werden kann, geht es um das Transzendieren des Denkens selbst, d. h. um die Vorstellung eines Raumes, »den unser Bewußtsein selbst nicht ausfüllt« 110 und der Platz öffnet für die Rede vom Sein, das selbst nicht mehr Begriff ist. 111 Es geht um das Denken von »Sein« als »Jenseits des Denkens«: »Dieser Gedanke hat gar keinen eigenen Inhalt, keinen intentionalen Gehalt. Er gewinnt seine Bestimmtheit nur durch eine doppelte Negation, die Negation der Nichtigkeit bloßen Gedachtseins.« 112 Die Formel der doppelten Negation bringt eine zentrale Gedankenfigur Spaemanns, die, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, für die Argumentation seiner Personphilosophie grundlegend ist, auf den Begriff. Diese Gedankenfigur kann Spaemann, Personen (1996), 71. Ebd. 72. 110 Ebd. 111 Es ist freilich deutlich, dass hier eine Äquivokation von ›Denken‹ vorliegt. ›Transzendieren des Denkens‹ ist ein paradoxer Ausdruck, denn dieses Transzendieren ist für ein selbstbewusstes Wesen nichts anderes als ein Akt des Denkens. Es geht hier daher erstens um Denken als »stufenweise Horizonterweiterung der Intentionalität durch begriffliche Abstraktion« – ebd. 71 –, zweitens aber geht es um ein Denken, das den Horizont der Intentionalität selbst transzendiert und damit ›Sein‹ denkt, ohne es zu einem Begriff zu machen. – Vgl. dazu die Überlegungen zum Begriff der Transzendenz in Teikapitel 2.2. Dort wurde unterschieden zwischen einem intentionalen Denken einerseits, das sich in einem Horizont bewegt, innerhalb dessen alles Gegebene auf das Interesse eines Lebewesens bezogen ist, und einem Transzendieren dieses Horizonts durch die Vernunft andererseits, das selbst natürlich ist. – S. Teilkapitel 2.2, Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität, 55–67. 112 Spaemann, Personen (1996), 50. 108 109
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
am Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ entfaltet werden, und zwar in zwei verschiedenen Deutungen. In der spekulativ-dialektischen Deutung Descartes’ entspricht die erste Negation der zweiten cartesischen Reflexionsstufe, dem unhintergehbaren, aber leeren ›dubito ergo cogito‹ 113, also der Einsicht, dass Denken möglicherweise Idiosynkrasie ist und allein der Zweifel als Korrelat der »Nichtigkeit bloßen Gedachtseins« gewiss bleibt. Die zweite Negation dagegen ergibt sich bei Descartes aus der spekulativen Annahme eines absoluten Bewusstseins, durch die das Denken zu einem Vorkommnis in der Welt wird, so dass ein Raum eröffnet ist, in dem es ein Jenseits des Denkens gibt: Sein. »Descartes nennt diesen Raum das Unendliche. Es ist ein Jenseits aller möglichen Gedanken und intentionalen Gehalte. Aber nicht so, daß die Bewußtseinsinhalte einfach nur Vorkommnisse in diesem Raum wären, ohne auf ihn selbst auszugreifen.« 114 Die cartesische Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein besteht ganz wesentlich darin, dass mit ihm ein Jenseits des Denkens gedacht wird. Dieser für Spaemann entscheidende Gedanke Descartes’ hebt seinen Ansatz prinzipiell von jeder Transzendentalphilosophie und Phänomenologie ab und stellt einen wichtigen Schritt in Richtung einer Philosophie der Person dar: Das Wort »Sein« hat für Personen noch eine andere Bedeutung als die, die es für »vernünftige Lebewesen« hat, nämlich die von »etwas überhaupt«. Nur so ist der cartesische Zweifel möglich. Mit Bezug auf etwas überhaupt als Inhalt unseres Bewußtseins hätte es keinen Sinn, von einer möglichen Täuschung zu sprechen. Darum gehört es ja zu Husserls Methode, Sein in dieser anderen Bedeutung auszuschalten und Transzendenz in diesem Sinn zu suspendieren. Um den intentionalen Gehalt des Bewußtseins zu zweifelsfreier Selbstgegebenheit zu bringen, muß genau das suspendiert werden, was für Descartes Grund des Zweifels an der Evidenz ist, die »Seinssetzung«. Descartes’ Verdacht einer totalen Idiosynkrasie beruht ja noch auf einer solchen Transzendenz, einem solchen Ausgriff auf einen Raum, der mit dem des Bewußtseins nicht deckungsgleich ist und in dem dann das Bewußtsein ein sich möglicherweise irrendes Seiendes ist. Der Verdacht setzt einen Realismus mit Bezug auf den Bereich des »Psychischen« voraus. Das Psychische »gibt es«, und alle intentionalen Gehalte sind möglicherweise nur Eigenschaften dieser psychischen Entität. Husserl läßt auch diese Seinssetzung fallen. Die phänomenologische epoché 113 114
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 344. Spaemann, Personen (1996), 72.
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8. Ontologie der Person
bedeutet die Rücknahme der Transzendenz des Bewußtseins mit dem Ziel, das in der Evidenz Selbstgegebene rein als dieses selbst zu thematisieren. Die suspendierte Transzendenz ist damit freilich nicht verschwunden. Die Frage nach der »Seinsart«, dem ontologischen Status des transzendentalen Bewußtseins, mußte den methodischen Ansatz der Phänomenologie sprengen. 115
Die auf Descartes zurückgehende Alternative zum transzendentalphilosophischen Ansatz des neuzeitlichen Denkens setzt allerdings, wie es scheint, jenen »substantialistischen Sprung« voraus, den Husserl Descartes vorgeworfen hat. 116 Dieser Sprung besteht in der spekulativen Setzung von Sein als Jenseits des Denkens: Die »Seinsmeinung [ist] deshalb nie so erfüllbar, daß Sein sich als solches als es selbst zeigt. Denn Sich-Zeigen heißt eben, Inhalt des Sehens oder Denkens dessen werden, dem sich etwas zeigt. Aber wie soll das Inhalt des Denkens werden, das als Jenseits dieses Denkens gemeint ist?« 117 Vom Standpunkt der transzendentalen Reflexion aus geht »die Transzendenz des Bewußtseins auf ein solches Jenseits seiner selbst ins Leere«: »eine leere Reflexion auf die Tautologie, daß alle Gegenstände des Bewußtseins eben Gegenstände des Bewußtseins sind.« 118 Da der Schritt zum Sein hier nur durch eine Theologisierung der Ontologie möglich war, war es schon im Descartes-Essay aus dem Jahre 1987 Spaemanns Grundgedanke, die spekulativ-dialektische Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ durch eine metaphysisch-analoge zu ersetzen. 119 Der Kern dieser Deutung besteht darin, dass durch die analogen Aussageweisen des Seins als Leben und Denken die Seinssetzung kein spekulativer Gedanke mehr ist, sondern dass der zweite Schritt innerhalb der doppelten Negation – die Negation der Nichtigkeit bloßen Gedachtseins – aus seiner Fundierung im vorbewussten Erleben neu interpretiert werden kann. In der metaphysisch-analogen Interpretation ist die erste Negation vollzogen durch die Entstehung der Innen-Außen-Differenz für ein lebendiges Wesen bzw. eines autopoietischen Systems und seiner als teleologische Struktur fassbaren Seele. Im engeren Sinne geht es um ein Lebewesen, das in seiner Selbstzentriertheit eine Umwelt aus-
115 116 117 118 119
Spaemann, Personen (1996), 73. Vgl. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 146–147. Spaemann, Personen (1996), 83. Ebd. 74. Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
grenzt, deren allgemeine Gegenständlichkeit für sein reflexives Bewusstsein auf den Status der Vorstellung für ein Subjekt reduziert wird. Die zweite Negation besteht in der Transzendierung dieser Innen-Außen-Differenz und damit der Überwindung der Zentriertheit und der ihr korrespondierenden Gegenständlichkeit alles Gegebenen durch den im Denken eröffneten ›Blick von nirgendwo‹. Die so erreichte Position kann immer – entsprechend der cartesischen spekulativ-dialektischen Deutung – durch die Setzung eines absoluten Bewusstseins zu einer Entität hypostasiert und losgelöst von ihrer natürlichen Grundlage abstrakt interpretiert werden. Für die auf metaphysisch-analogem Weg in der zweiten Negation erreichte Position bleibt dagegen die im Begriff der Seele gefasste erste Negation konstitutiv. Die Pointe der metaphysisch-analogen Deutung besteht gerade darin, dass durch das Ineinandergreifen der lebendigen Selbstzentriertheit und ihrer vernünftigen Transzendenz Bewusstsein sich als Funktion von Leben, das selbst schon auf Selbsttranszendenz angelegt ist, und damit als Sein erfährt, indem es gleichzeitig der Anerkennung von Sein als Jenseits des Denkens fähig wird. 120 Der Schlüssel zum Sein aus dieser Perspektive ist, wie Spaemann an anderer Stelle mit Bezug auf Kants Opus postumum bemerkt, die »Ent120 Rudolf Langthaler spricht in Bezug auf die Seelenproblematik bei Spaemann von einer »aporetische[n] Problemsituation« – Langthaler, Über »Seelen« und »Gewissen«, 488 –, insofern es nicht gelinge, »›Seele‹ als ontologisch-konstitutives Prinzip (›anima sensitiva‹) mit der ›Geistseele‹ (›anima intellectiva‹) um der zu bewahrenden Einheit des Menschen willen zu ›vereinen‹«. – Ebd. 487. – Spaemanns Versuch, an die aristotelische Vorstellung des animal rationale anzuknüpfen, scheitere am »neuzeitlich bestimmend gewordene[n] Prinzip ›Subjektivität‹« – ebd. 488: »Treten in diesem Problemkontext mit Blick auf die menschliche Weltstellung (in ›Leiblichkeit‹ existierendes ›Ich‹) dergestalt nicht problemgeschichtliche Konstellationen zutage, die bezüglich der unumgänglichen fundamentalphilosophischen Voraussetzungsprobleme prinzipiell über den Rahmen dieses ontologischen Ansatzes hinausweisen, jedoch eben auch – mit gleichsam umgekehrten Richtungszeichen – in der neuzeitlichen ›Subjekt‹philosophie hartnäckig in Erscheinung treten? Werden in solcher Perspektive die ontologische ›Substanz‹philosophie sowie die neuzeitliche ›Ich‹philosophie nicht als jene zwei aufeinander nicht rückführbaren, vielmehr wechselseitig über sich hinausführenden Begründungsansätze erkennbar, die nur um den Preis ihrer gegenseitigen Ignorierung bzw. Vereinnahmung zu umgehen (bzw. ›aufzuheben‹) sind – ein Problemgefüge, welches (wenngleich oftmals in verdeckter Gestalt) die europäische Philosophie bis zur Gegenwart bestimmt?« – Ebd. 488–489. – Leitende These der hier verfolgten Argumentation ist, dass ausgehend vom metaphysisch-analogen Denken ein Zusammenhang von Teleologie und Personalität entwickelt werden kann, durch den die von Langthaler beschriebene aporetische Problemsituation überwunden werden kann.
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8. Ontologie der Person
deckung, dass dem transzendentalen Apriori die eigene Leiberfahrung als fundierend vorausgeht« 121. Diese Deutung enthält im Kern die neuzeitliche Aktualisierung des platonischen Gedankens, »der die Philosophie konstituiert« 122, dass die Vernunft Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur ist. 123 Die Aktualisierung besteht dabei darin, dass sie auf der über Platon hinausgehenden Entdeckung des transzendentalen Apriori aufbaut und dabei dieses Apriori als ein ›Für-uns‹ – aus der Sicht des bewussten Lebewesens – von seiner Fundierung in einem ›An-sich‹ unterscheidet, zu dem, wie die Untersuchung des Zusammenhangs von Intentionalität und seelischen Zuständen im vorangegangenen Abschnitt zeigte, zwar kein zwingender Gedankengang führen kann, ohne das jedoch, wie ebenfalls gesehen wurde, die von ihm abstrahierende Argumentation sich in eine unaufhaltbare Dialektik verstrickt. Unsere theoretische Einstellung ist eingebettet in einen Lebenszusammenhang, in dem es uns immer schon um etwas geht, das heißt in dem wir »auf etwas aus sind«. Worauf sind wir aus? Worum geht es uns letzten Endes? Was ist der äußerste Gegenstand unserer praktischen Intentionen? Irgend etwas muß es geben, wovon wir die Wirklichkeit und nicht den Schein wollen. Das nennt Platon »das Gute«. Aber könnte dieses Gute nicht wiederum etwas »nur Subjektives« sein, ein bestimmter Zustand des Subjektes, der auch durch wohltätigen Schein herbeigeführt werden kann? 124
Die neuzeitliche Aktualisierung des Gedankens der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur ruft jene Verbindung von theoretischer und praktischer Philosophie, von Ontologie und Ethik in Erinnerung, die im siebten Kapitel im Zusammenhang mit »Glück und Wohlwollen« als Aktualisierung der antiken εὐδαιμονία Thema war. Das Erwachen zur Wirklichkeit, in dem das Selbst als bewandtnisloses Umwillen hervortritt, bleibt, wie Spaemann dort Spaemann, Zum Begriff des Lebens (1994), 85. – Vgl. die Fortsetzung des Zitats an dieser Stelle: »Die erste Erfahrung von Bewegung, so schreibt nun Kant, ist die Selbstbewegung. Leben rückt also von der Seite der Gegenständlichkeit nun auf die der konstituierenden Subjektivität. Transzendentale Subjektivität ist nicht mehr das reine ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, sondern es wird zu einem transzendentalen ›Ich lebe‹.« – Ebd. 122 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. 123 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 389. 124 Spaemann, Personen (1996), 83–84. 121
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
analysierte, als Ereignis eines Richtungswechsels ambivalent und offen für zwei gegensätzliche Deutungen: 125 die nihilistische Rückbiegung auf die »Perspektive des Triebhanges« 126 oder die Entdeckung des Selbstseins in einem reziproken interpersonalen Begegnungsgeschehen, für die Spaemann den Begriff Wohlwollen bzw. amor benevolentiae gebraucht. Die Aktualisierung des Gedankens, der die Philosophie konstituiert, ist somit an das Begegnungsgeschehen geknüpft. In »Personen« unterstreicht Spaemann diesen Zusammenhang: amor extasim facit. 127 Die Liebe gilt nicht einem intentionalen Objekt, dessen ontologischer Status in der Schwebe bleiben kann, sondern dem Anderen, sofern er gerade nicht als intentionales Objekt gegeben, sondern Selbstsein jenseits aller möglichen Gegebenheit ist. Intentionale Objekte sind immer durch ihr Sosein definiert. Ihre Identität ist stets qualitative Identität. Die Liebe aber gilt dem Anderen in seiner numerischen Identität. 128
Dass das Erwachen zur Wirklichkeit bzw. zur Vernunft, in dem die anthropologische Pointe des metaphysisch-analogen Denkens gesehen werden kann, mit der »Ekstase der Liebe« 129 in engstem Zusammenhang steht – ein im höchsten Maße unkantischer Gedanke –, ist nur verständlich unter der Voraussetzung eines Kontinuums von Leben und Bewusstsein. 130 Er bedeutet, dass die im Bereich der Intentionalität verbleibende Vernunft die recurvatio auf die Zentriertheit des Lebewesens bezeichnet, der das in der Teleologie der menschlichen Natur liegende ursprüngliche Erwachtsein immer schon vorausliegt: das Transzendieren des Bereichs der Intentionalität, durch das sich Sein als Selbstsein erst zeigt. Bereits in »Glück und Wohlwollen« wurde jedoch deutlich, dass Spaemann in aristotelischer Tradition das Erwachen zur Wirklichkeit nicht auf das Ekstatische eingrenzt. In diesem Sinne bemerkt er in »Personen«:
Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 470. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127. 127 Spaemann verweist in der Anmerkung als Quelle auf: Pseudo-Dionysos Areopagita: De divinis nominibus, IV § 13; PG 3, 712. – Ebd. 268. 128 Spaemann, Personen (1996), 85. 129 Ebd. 86. 130 Vgl. ebd. 169. 125 126
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8. Ontologie der Person
So gibt es auch die »Normalform« menschlicher Transzendenz, in der das Sein des Anderen nicht im Erleben unmittelbar gegeben ist, aber doch nicht verschwindet. Die Weise, wie das Selbstsein jedes Menschen für den anderen wirklich zu sein beansprucht, ist die Anerkennung. Wahrscheinlich muß jemand, um der Anerkennung jedes anderen fähig zu sein, das Selbstsein eines anderen einmal unmittelbar erfahren, das heißt Liebe erfahren und geliebt haben. Der Rest heißt Treue. 131
Gegenüber »Glück und Wohlwollen« geht es Spaemann in »Personen« darum, den Gedanken des Selbstseins von der unmittelbaren Erfahrung bzw. der Wahrnehmungsevidenz zu lösen und zu verallgemeinern. Das interpersonale Begegnungsgeschehen kann so transformiert werden in ein verfügbares Wissen: »Sein als Selbstsein heißt: Sein ist wesentlich plural. Es gibt kein Kontinuum vom Wissen des einen zum Wissen des Anderen, so wenig wie vom Schmerz des einen zum Schmerz des Anderen. Aber es gibt das Wissen eines jeden, daß dies so ist. Es gibt das Wissen, daß es den Anderen als Anderen gibt.« 132 Dieses Wissen ist immer mit einem Akt der Freiheit verbunden, dem »Verzicht auf die Bemächtigung« bzw. dem »Seinlassen« 133, denn der »Andere ist nie in der zwingenden Unmittelbarkeit des reinen Phänomens gegeben«, sondern in seinem qualitativen Sosein. Von ihm als potentiellem intentionalen Gegenstand zu seinem Selbstsein führt nur die der Überwindung der Selbstzentriertheit analoge zweite Negation des Seinlassens. Für das Wissen um diesen interpersonalen Zusammenhang führt Spaemann in »Personen« den Begriff des metaphysischen Realismus ein: Das Sein intentionaler Gegenstände ist ihr Gehabtsein durch Subjekte. Das Selbstsein, auf das hin wir uns transzendieren, die andere Person, steht zu uns in einer Beziehung der Gegenseitigkeit. Ich bin ebenso Teil ihrer Welt, wie sie Teil der meinen ist. Ich bin für sie, wie sie für mich ist, und es ist für mich, daß ich für sie bin und daß sie weiß, daß sie für mich ist. In dieser Gegenseitigkeit gründet der metaphysische Realismus, der für die Person konstitutiv ist und für den Intentionalität zwar eine notwendige Bedingung, aber nicht auf sie reduzierbar ist. 134
Dass im metaphysischen Realismus der Seelenbegriff als unverzichtbare Voraussetzung der doppelten Negation eine bleibende Bedeu131 132 133 134
Spaemann, Personen (1996), 86–87. Ebd. 75. Ebd. 87. Ebd. 87–88.
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
tung behält, wird auch daran deutlich, dass die im Verzicht auf Objektivierung sich ausdrückende Haltung der Anerkennung nicht nur anderen Personen gilt, sondern das Verhältnis zur Welt insgesamt charakterisiert. Der »metaphysische Realismus«, der unser Verhältnis zu anderen Personen charakterisiert, läßt sich nicht auf dieses Verhältnis beschränken. Er ist vielmehr das, was menschliches In-der-Welt-sein von tierischem prinzipiell unterscheidet. Er bezieht sich nicht nur auf Personen, sondern auf alles Seiende, zumindest auf alles Lebendige. Es gibt für den Menschen gar keine reinen Subjekt-Objekt-Verhältnisse. Beziehung zur Wirklichkeit ist immer zugleich ein Verhältnis des »Mit-seins«. 135
Das Konzept des metaphysischen Realismus, der sein gedankliches Zentrum hat im »Transzendieren der Erscheinung auf ein Seiendes hin, das sich zeigt und sich zugleich verbirgt« 136, und damit einen Grenzbereich philosophischer Möglichkeiten fokussiert, kann als letztes Wort Spaemanns im Rahmen der Philosophie als bloßer Vernunftwissenschaft verstanden werden. 137 Es geht in diesem Konzept darum, an der cartesischen Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein ohne dessen spekulative Seinssetzung festzuhalten, indem durch die Überwindung der cartesischen Fehldeutung wesentlicher Charakteristika des Personseins das Fundament geschaffen wird für eine Philosophie, die zwar nicht auf einer clara et distincta perceptio Spaemann, Personen (1996), 88. Ebd. 89. 137 Vgl. den Essay »Christentum und Philosophie der Neuzeit« (1995), in dem Spaemann Philosophie als »bloße Vernunftwissenschaft«, »bloße Theorie des Notwendigen und des Möglichen« mit Bezug auf Schelling der Idee einer »positiven Philosophie« gegenüberstellt, die sich »auf das Kontingent-Faktische einläßt« und »damit zu einer Art spekulativem Empirismus« wird. – Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 85–86. – Vgl. auch: »[…] in der positiven Philosophie [geht es] darum, daß das zu Bedenkende jenes ist, womit man es wirklich zu tun hat, d. h. sie fordert den Eintritt in die praktische Beanspruchung des Denkens selbst«. – Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, 103. – Und weiter: »Robert Spaemann hat einen derartigen Eintritt ins beanspruchte Denken (was er ›erwachtes‹ oder ›aufmerksames‹ Denken nennt) erneut gefordert, aufgezeigt und in seine ethische Konsequenzen entfaltet: Die ›Intuition des Selbstseins‹, in welcher die Wirklichkeit sowohl in mir wie im Anderen ›uno actu‹ bemerkt und angenommen wird, hat nach ihm die besagte doppelte Valenz des Theoretischen und Ethischen […]; sie ist, ähnlich wie bei Schelling, der Augenaufschlag, welcher das ganze Weltverhältnis des Menschen umprägt«. – Ebd. Fn. 76. 135 136
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8. Ontologie der Person
aufgebaut sein kann, aber auf der alternativen, nämlich personalen Deutung der zwingenden Evidenz der Selbsterfahrung, die auch für Descartes Ausgangspunkt war: Die cartesische Reflexion enthält die Haben-Struktur, die für das Sein von Personen charakteristisch ist und sich auf die Gesamtheit des Soseins richtet. Die Person schafft eine Distanz zwischen sich als Subjekt und allen ihren Bewußtseinsinhalten. […] Als solche »abstrakte« Einheiten bilden Personen einen Raum. Personen haben das Personsein nicht so miteinander gemeinsam wie Menschen das Menschsein. »Person« ist kein Wesensmerkmal, sondern bezeichnet ein »individuum vagum«, also die jeweilige Einzigkeit eines individuellen Lebensvollzugs. »Person« ist deshalb ebenso wie »Sein« ein analoger Begriff. 138
An dieser Stelle erst erfolgt die Spezifikation der Begriffsart, auf die hier im Sinne einer Propädeutik des philosophischen Ansatzes vorbereitet wurde. 139 Durch die Bestimmung von ›Person‹ als analogem Spaemann, Personen (1996), 77. Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. – Buchheim und Noller versuchen den Gedanken eines analogen Begriffs zu umgehen, indem sie Spaemanns Personbegriff als einen »Hybridbegriff« beschreiben: »Wesentlich für den Begriff der Person nach Spaemann ist die Zusammenführung zweier begrifflicher Wurzeln in einem kombinierten oder, pejorativ ausgedrückt, Hybridbegriff: Zum einen ein die Natur der Person betreffender Sortalbegriff; zum anderen (und zugleich) ein die Lebenssituation der Person betreffender Ordnungsbegriff. Jede Person im ursprünglichen Sinne des Worts hat erstens eine Natur in einem noch zu erläuternden Sinn und befindet sich zweitens ab ovo in einem Ordnungssystem, das von Grund auf die Lebenssituation und dann sehr allgemein auch die Lebensform der Individuen jener Natur bestimmt.« – Buchheim/Noller, Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen?, 150–151. – Buchheims und Nollers Vorschlag ist insofern geeignet, den Spaemann’schen Personbegriff nachzuvollziehen, als durch den auf die Lebensform bezogenen zweiten Teil des Begriffs eine teleologische Komponente in den Hybridbegriff aufgenommen wird. Mit dem Begriff der Lebensform wird Normalität in Bezug auf eine bestimmte Art von Lebewesen bezeichnet. Vgl.: »Das Äquivalent für Gesetzmäßigkeit in Kausalaussagen ist Normalität in teleologischen Aussagen.« – Spaemann, Naturteleologie und Handlung (1978), 50. – In gewissem Sinn kann daher durch den vorgeschlagenen Hybridbegriff Person als Verhalten zum menschlichen Aussein-auf gedacht werden. Auf diese Weise wird jedoch der Hybridbegriff wieder zu einer Soseinsbestimmung, auch wenn deren empirische Basis vergrößert ist und die Betrachtung des normalen Zusammenlebens der Vertreter des Filiationsverbandes einbegriffen wird. Aber wie sehr durch eine solche Hybridbegriffsbildung das als Möglichkeit denkbare Sosein auch über die biologische Bestimmung hinaus erweitert werden kann, enthält dieses Verfahren doch einen reduktionistischen Zug. Die Person verhält sich als ›Haben einer Natur‹ auch noch zu diesem Hybridbegriff und kann somit durch ihn nicht erfasst werden. Dieses Problem wird von Buchheim und Noller durchaus gesehen: »Spaemann hat die gemeinte Voll138 139
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
Begriff wird der zuerst in Abschnitt 6.2.1 explizierte Grundgedanke des metaphysisch-analogen Denkens konkretisiert. 140 Was eine Person ist, kann nur verstanden werden aus ihrem Verhältnis zu ihrer zugsweise häufig beschrieben als ein ›Haben‹ ihres Wesens, aber nicht unmittelbar ›Sein‹ oder ›Sosein‹ von Personen: die Person ›habe‹ die charakteristische Natur zum Beispiel von Mensch und ›sei‹ nicht bloß mit einem solchen Wesen identisch; und sie ›habe‹ auch das Leben (zu dem sie sich zugleich verhalten könne, darüber verfügen, es sogar ›hingeben‹ könne für etwas oder jemand – im Unterschied zu allen Lebewesen, die nicht Personen sind).« – Buchheim/Noller, a. a. O., 158–159. – Diese Beschreibung, so die Autoren, sei »allerdings missverständlich« und könne »im Sinne Robert Spaemanns sogar kontraproduktiv wirken« – ebd. 158: »Wenn man behauptet, dass irgendein lebendiges Individuum insofern ›Person‹ ist, als ihm ein derartiger Existenzvollzug oder ein solcher modus existendi zukomme, dann erklärt man zugleich, dass individuell Lebendiges, dem kein solcher Existenzvollzug zukommt, keine Person ist. Wenn es aber (um diesen Einwand abzuweisen) etwa nicht deutlich zu explizieren sein sollte, wann einem lebendigen Individuum ein solcher modus existendi denn zukommt und wann nicht, dann ist die aufgestellte Behauptung sachlich leer und bringt nichts ein für eine bessere Erkenntnis des Unterschieds zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹ – wozu Spaemann in seinem Buch doch angetreten war.« – Ebd. 159. – Die Missverständlichkeit Spaemanns, von der Buchheim und Noller sprechen, ergibt sich aber erst daraus, dass sie Existenzvollzug als praktische Kategorie verstehen, während Spaemann sie doch als ontologische Kategorie versteht, die sich ebenso auf Lebewesen bezieht, die, solange sie lebendig sind, auch existieren. Person und Leben sind nach Spaemann analoge Begriffe. Den Zusammenhang zwischen den Begriffen ›Person‹ und ›Leben‹ wiederum sehen Buchheim und Noller ebenso, indem sie zwei Bedeutungen von ›Existenz‹ unterscheiden: »›Existenz‹ eines Lebewesens bedeutet zum einen, dass es ein Wesen der und der Art und Beschaffenheit ›gibt‹ oder, anders gesagt, dass mindestens eine Instanz von solcher Beschaffenheit vorkommt. […] Hier bedeutet Existenz, dass der Begriff eines so und so zu charakterisierenden Lebewesens nicht leer ist, sondern eine Erfüllung oder wirkliche Instantiierung hat. […] Aber der zweite Sinn von ›Existenz‹ eines Lebewesens besteht darin, dass es nur solange und insofern existiert, als es lebt oder lebendig ist.« – Ebd. 160. – Auch wenn dies der Sicht Spaemanns völlig entspricht, hat sich nun das Problem lediglich verschoben auf den begrifflichen Status von ›Leben‹. Buchheims und Nollers Argumentation geht dahin, Existenz als Lebendigsein durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensform zu bestimmen: »Die Antwort Spaemanns besteht […] darin zu sagen, dass eine gewisse familiäre Lebensform, in die alle Personen von ihrer Entstehung an hineinversetzt werden, der allgemeine und nicht zu beseitigende Grund ihres Seins als Personen sei.« – Ebd. 164. – Den Begriff Lebensform definieren Buchheim und Noller aber folgendermaßen: »Eine Lebensform ist […] ein durch charakteristische biographische Eckwerte begrenzter Korridor des Verhaltens von Populationen einer Sorte von Lebewesen, der sowohl individuelle Ausnahmen zulässt als auch prinzipiell an eine biographische Realisierung durch die zugehörigen Individuen geknüpft ist.« – Ebd. 165. – Existieren als Lebendigsein wird somit doch wieder als eine Soseinsbestimmung aufgefasst, so dass der Gedankengang zum Ausgangspunkt im Hybridbegriff der Person zurückgekehrt ist. Entscheidend ist somit die Frage, »ob Leben zum
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8. Ontologie der Person
Natur, die ihrerseits nur als Antizipation, also durch den analogen Begriff ›Leben‹, zu begreifen ist. An dieser Stelle wird nun deutlich, dass es der analoge Begriff ›Person‹ selbst ist, der die hier gesuchte Aktualisierung der verlorenen Seele als autopoietisches Prinzip darstellt. Die Person, die als Distanz zu ihrer Natur verstanden wird, aktualisiert erst in ihrem Verhältnis zu dieser Natur die Bedeutung des Begriffs ›Seele‹, die historisch verlorenging, als der entdeckte personale Standpunkt von seiner natürlichen Grundlage isoliert wurde. 141 Die Natur ist in ihrer teleologischen Struktur wesentlich durch eine Negation gekennzeichnet, deren zweite Negation in der Personalität jene teleologische Struktur im dreifachen Hegel’schen Sinn aufhebt: also überwindet, bewahrt und auf eine neue Stufe stellt. Insofern Person ebenso wie Sein ein Jenseits des Begriffs ist, 142 kann, was Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses Soseins meint«. – Spaemann, Personen, 80. – Wie im nächsten Teilkapitel gezeigt werden soll, gibt Spaemann auf diese Frage die klare Antwort, dass Leben selbst den Existenzvollzug bezeichnet. – Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 590–591. – Unter dieser Prämisse wird Buchheims und Nollers Argumentation aber zirkulär und es zeigt sich, dass ihr Versuch, die Rede von analogen Begriffen zu vermeiden und mit dem Konzept eines Hybridbegriffs Spaemanns Personbegriff gerecht zu werden, scheitert. 140 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 377–379. 141 Karl-Heinz Nusser verfehlt nach meinem Dafürhalten in einem Aufsatz »Zu Ursprung und Begründung des Begriffs der Person« den im vorangegangenen und vorliegenden Abschnitt entwickelten Zusammenhang. Nusser wirft Spaemann vor, »die entscheidende ontologische Voraussetzung der Person, die individuierende Seele als Form des Leibes, […] zugunsten transzendentalphilosophischer und phänomenologischer Annahmen aufgegeben« zu haben. – Nusser, Metaphysischer Realismus oder interaktionistische Anerkennung?, 75. – Zwar ist es richtig, dass Spaemann in »Personen« die Anerkennung als Normalform personaler Transzendenz bezeichnet; dennoch bleibt die Anerkennung im analogen Begriff der Person fundiert. Nusser deutet Spaemanns grundlegende These, dass ›Person‹ kein deskriptiver Ausdruck ist und Personen keine qualitative Gegebenheit haben, so, dass die Person als »ein quasi absolutes Zentrum« – ebd. 77 – und von Spaemann zudem solipsistisch gedacht werde, »da die Gewißheit, selbst eine Person zu sein, nicht die Gewißheit der Existenz anderer Personen einschließt« – ebd. 76. – Spaemanns hier rekonstruierte intensive Bemühung um den Begriff der Seele, seine Grundkonzeption der Person als ›Haben einer Natur‹ und die daraus hervorgehende prinzipielle Pluralität der Personen werden von Nusser nicht beachtet, was um so mehr verwundert, als er sich in diesem Aufsatz mit Thomas von Aquin auf denselben Inspirator seines Person-Begriffs bezieht wie Spaemann. 142 Es sei am Rande auf die Präzisierung seines Gedankens hingewiesen, die Spaemann hier vornimmt. Zuvor war die Rede von einer Trias ›Sein – Leben – Erkennen/ Denken‹. Auch um den Gedanken von der cartesischen Fehldeutung des personalen
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
die Person ist, erst in den Blick kommen, wenn ein Perspektivenwechsel vollzogen wird. Die Betrachtung der ›gehabten Natur‹, die in diesem Abschnitt auf dem neuen Niveau des Personen-Buches noch einmal nachvollzogen wurde, kann immer nur an den Punkt heranführen, an dem der Sprung zum Sein notwendig wird. Da aber Person wie Sein ein analoger Begriff ist und ihre Thematisierung als ›Haben einer Natur‹ diesen Sprung immer schon voraussetzt, stellt sich erneut die Frage, die in »Glück und Wohlwollen« durch die Ausrichtung auf die Wahrnehmungsevidenz ausgeklammert wurde: Wie ist mit philosophischen Mitteln von der ›gehabten Natur‹ zum ›Haben einer Natur‹ vorzudringen? Im vorliegenden Abschnitt wurde im Rahmen bloßer Vernunftwissenschaft das letzte Wort gesprochen; zu einer positiven Philosophie der kontingent-faktischen Person 143 führt jedoch kein direkter Weg. In »Personen« findet Spaemann, so die These, die im folgenden Teilkapitel 8.3 entfaltet werden soll, diesen Übergang durch die Reflexion auf das historische Gewordensein des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie, der im Mittelpunkt von »Glück und Wohlwollen« stand. Die Richtung der Untersuchung weist eine Akzentverschiebung: Die Frage nach dem, was Personen sind, wird gestellt als die Frage nach ihrer Entdeckung.
Ortes abzuheben, wird nun das dritte Glied nicht mehr als ›Erkennen/Denken‹ – worunter auch die autonome Vernunft zu verstehen wäre –, sondern als ›Person‹ bezeichnet, deren unaufhebbare Relationalität in Bezug auf ihre Natur hier betont wurde. – Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 374–375, u. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 536. 143 Vgl. zur Vorstellung einer ›positiven‹ Philosophie bei Schelling bzw. Spaemann: »Die Philosophie Schellings bedenkt […] das, was kontingenterweise ist. Als spekulativer Empirismus nimmt sie dabei Grundstrukturen der Philosophie des Personseins vorweg, die Spaemann entfaltet hat. Denn auch Spaemanns Philosophie des Personseins kann als ›spekulativer Empirismus‹ – als spekulative Ernstnahme und Durchdringung dessen, was unserer Erfahrung gegeben ist – verstanden werden: eine Philosophie, die selbst positiv ist und darin die historische und transzendental unableitbare Tat der Schöpfung ernst nimmt.« – Zaborowski, Göttliche und menschliche Freiheit, 79. – Vgl. dazu auch Zaborowski, Metaphysik, Ethik und die Frage nach Gott, besonders Abschnitt 1, Robert Spaemanns Philosophie als Erneuerung des Denkens F. W. J. Schellings, 120–124.
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8.3 Die Entdeckung der Person
Eine fundamentale Gedankenfigur, die im Zuge der vorliegenden Untersuchung von Spaemanns Werk nachgewiesen wurde, ist eine bestimmte Form des Rückbezugs auf das antike Denken, durch den dieses aktualisiert werden soll. Bereits die Analyse von Spaemanns Betrachtung des amour-pur-Streits in den Studien über Fénelon führte zu der These, dass ihre eigentliche philosophische Bedeutung in der indirekten Erneuerung des antiken substanzontologischen Denkens gesehen werden kann. 1 In »Natürliche Ziele« geht es Spaemann um die Klärung der Bedingungen einer Wiederbelebung des klassischen teleologischen Denkens in der Gegenwart und seiner philosophischen Potentiale. In den Essays der 80er Jahre wurde der Gedanke der Aktualisierung antiker substanzontologischer Vorstellungen programmatisch, wobei Descartes, Leibniz und Whitehead für Spaemann zu wesentlichen Referenzpunkten des neuzeitlichen Denkens werden. Schließlich setzt sich Spaemann in »Glück und Wohlwollen« die Aktualisierung des antiken εὐδαιμονία-Gedankens zum Ziel seines »Versuchs über Ethik«. Das durch den Gedanken möglicher Aktualisierung vorausgesetzte Verhältnis einer nicht vollständigen Entfremdung des neuzeitlichen Denkens von seinen antiken Wurzeln wurde von Spaemann zum ersten Mal in seinen Überlegungen »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« explizit reflektiert, 2 in denen er die für uns nur per viam negationis erschließbare antike Rede vom Sein der unumkehrbaren Eröffnung des neuen Ausgangs der Philosophie vom Subjekt im neuzeitlichen Denken gegenüberstellt. Die Problematik von »Personen« steht in engem Zusammenhang mit der Gedankenfigur der Aktualisierung antiken Denkens und geht doch über diese in einem wesentlichen Punkt hinaus. Der Begriff der Person ist eine Entdeckung, die die klassische antike Philosophie hinter sich lässt: »Nicht einmal Plato dachte das, was wir mit diesem Begriff denken.« 3 ›Entdecken‹ bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch, etwas in den eigenen Horizont zu integrieren, was Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 177–179. 2 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331. 3 Spaemann, Personen (1996), 27. 1
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8.3 Die Entdeckung der Person
außerhalb desselben lag, aber gleichwohl vorher schon da war. Bei der Entdeckung der Person muss es um einen anderen Sinn von ›entdecken‹ gehen, da Personsein ein neuer Horizont ist, so dass die Person durch ihre Entdeckung vielmehr erst entsteht. Gerade dieser spezifische Sinn von ›entdecken‹ weist aber auch darauf hin, dass es eine Art von Kontinuität zwischen dem als Person Entdeckten und dem dieser Entdeckung Zugrunde- und Voraufliegenden geben muss: Was als Person entdeckt wird, muss vorher schon dagewesen und anders interpretiert worden sein. Der Begriff der Person bezeichnet, wie sich im Verlauf der folgenden Untersuchungen nach und nach zeigen wird, sowohl als Entdecktes eine Aktualisierung antiken Denkens 4 als auch als Entdeckung das Ereignis, aus dem die Notwendigkeit neuzeitlicher Aktualisierungen sich erst ergibt und dessen Untersuchung dazu verhelfen kann, das Wesen solcher Aktualisierungen zu verstehen. Die Entdeckung der Person ist der Paradigmenwechsel, durch den die Anknüpfung an das antike Denken nur noch in der Weise der Aktualisierung möglich wird, für die die Person selbst wieder paradigmatisch ist. Die Erhellung dieser Zweideutigkeit ist eine wesentliche Aufgabe der folgenden Überlegungen. Die Person kann daher Gegenstand zweier Arten der Betrachtung sein: einer systematisch orientierten und einer auf das Ereignis der Entdeckung zielenden hermeneutischen Betrachtung. Die systematisch orientierten Überlegungen sind im vorangegangenen Teilkapitel mit der Konzeption des metaphysischen Realismus an eine Grenze gestoßen, über die mit den bislang zur Verfügung stehenden Mitteln nicht hinauszugelangen ist. Ein neuer Ansatz der Überlegungen ist daher möglich in der hermeneutischen Untersuchung des Ereignisses der Entdeckung der Person. In ihr geht es um die Analyse historischer, also kontingent-faktischer Zeugnisse dieses Ereignisses und der Geschichte der ersten Phasen seiner Verarbeitung im Denken, die zu den Brüchen führt, die in Abschnitt 8.2.1 als Geschichte der Destruktion des Personbegriffs thematisiert wurden. Die Verbindung dieser hermeneutischen Betrachtungsweise mit der systematisch orientierten wird sich dadurch herstellen lassen, dass das EreigDer analoge Begriff ›Person‹ ist im Rahmen des metaphysisch-analogen Denkens als eine Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein zu verstehen, die Spaemann zunächst unter den Bedingungen der Entteleologisierung in Descartes’ spekulativer Theorie der Selbsttranszendenz entdeckte. – Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.
4
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8. Ontologie der Person
nis der Entdeckung als das historische Gewordensein des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie ausgewiesen wird, als der in »Glück und Wohlwollen« die Wahrnehmungsevidenz bezeichnet wurde. Durch das Ineinandergreifen der hermeneutischen und der systematischen Betrachtungsweisen, so die zentrale These dieses Teilkapitels, kann die Problematik des Sprungs, die durch die Ausrichtung auf Wahrnehmungsevidenz theoretisch nicht zu bewältigen war, überwunden und der metaphysische Realismus hermeneutisch in der personalen Vernunft und ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit fundiert werden. Dazu allerdings wird es notwendig, die im letzten Teilkapitel vorläufig abgeschlossene systematische Bemühung um den Personbegriff mit den Ergebnissen der hermeneutischen Untersuchung der Entdeckung zu vermitteln. Abschließend sei ein kurzer Ausblick auf die folgenden Schritte gegeben. Zunächst wird am Leitfaden des Autonomiegedankens Spaemanns vergleichende Betrachtung Homers, Platons, der Stoa und des Neuen Testaments nachvollzogen, die als entscheidenden Umbruch die Entstehung einer Distanz des Menschen zu seiner eigenen Natur ermittelt. Durch den Rückbezug auf zentrale Gedanken aus »Glück und Wohlwollen« wird die Bedeutung dieses hermeneutischen Befundes dargelegt. Ausgehend vom Begriff des Herzens als ›grundlosem Grund‹ wird die Entdeckung der Person als fundamentale Wandlung des Verständnisses der Vernunft und ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit interpretiert (8.3.1). Die der Entdeckung zugrunde liegende anthropologische Erfahrung, zu der eine Hermeneutik ihrer Spuren im spätantiken Denken führte, wurde bis an die Schwelle der Neuzeit vor allem im Rahmen der christlichen Theologie bzw. einer von ihr geprägten Philosophie reflektiert. Die spätere philosophische Thematisierung des Begriffs der Person hat daher einen Exkurs in die Trinitätslehre und die Christologie zur Voraussetzung, aus dem sich wesentliche Elemente auch des anthropologischen Personbegriffs ergeben werden. Ausgehend von der Rekonstruktion der theologischen Implikationen des Personbegriffs wird die christliche Umformung der aristotelischen Metaphysik im Hochmittelalter und der Gedanke vom Seinsakt als prinzipiellem Jenseits des Begriffs betrachtet (8.3.2). Im dritten Schritt geht es um die angekündigte Verbindung der hermeneutischen und der systematischen Betrachtungsweisen unter Berücksichtigung der zuvor ermittelten theologischen Implikationen. Eine erste Analyse der vielschichtigen Synthese von Gedankenkomplexen in Spaemanns Personenphilo564 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
sophie wird dabei die Verbindung von Teleologie und Personalität durchdenken. Die Deutung der Personalität als Steigerung des lebendigen Ausseins-auf, durch die der sich entziehende Personbegriff in einem Zusammenhang, der erst dem personalen Standpunkt gegeben ist, denkbar wird, bereitet schließlich den Übergang zur Explikation der eigentlichen Personenphilosophie im folgenden Teilkapitel (8.3.3).
8.3.1
Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
Der Entwicklungsprozess, den Spaemann nachzeichnet und der von Homer über Platon zur Entdeckung der Person führt, ist wesentlich mit den Begriffen der Heteronomie, der Autonomie und einer von dieser noch einmal unterschiedenen Freiheit verbunden. Für das Stadium der Heteronomie steht der homerische Mensch als »Schauplatz eines Wirkens von Mächten, über die er selbst nichts vermag« 5. Heteronomie aber kann auch die Folge sein der Manipulation durch Reden, die aus Platons Sicht im Sinne des Kampfes für die Autonomie des Menschen unabhängig von der gewählten Richtung der Beeinflussung abzulehnen ist: Die Rhetorik ist die Kunst, den Schein von Wahrheit zu erzeugen und damit Menschen zu dem zu bewegen, was sie nicht wollen würden, wenn sie die Wahrheit wüßten, zu dem also, was sie nicht wirklich wollen. Nur, wer weiß, was er tut, tut, was er will. Und wenn Plato aus seiner Stadt auch die gottbegeisterten Dichter vertreibt, so deshalb, weil sie, auch wenn sie die Wahrheit sagen, nicht als Wissende reden, sondern weil sie von einer Macht ergriffen wurden. Sie selbst verfügen über kein Kriterium, um zu beurteilen, wohin diese Macht sie führt. Weil das, was sie sagen, nicht ihre Rede ist, können sie diese Rede auch nicht dem Scheidewasser des sokratischen Dialog[s] aussetzen, der die Reden auf ihre Wahrheit hin prüft. 6
Aus Platons Sicht führt zur Autonomie nur das Wissen der Wahrheit, zu der der Mensch durch die Vernunft gelangt. »Autonomie heißt Vernunftherrschaft. Die Vernunft aber ist das Gemeinsame, sie ist das Organ der allen gemeinsamen Wahrheit. Das Einzelne, das Par5 6
Spaemann, Personen (1996), 27. Ebd.
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8. Ontologie der Person
tikulare – insofern es dem Allgemeinen, der Idee entgegengesetzt ist –, ist das Unwesentliche, Nichtige.« 7 Es wird also klar getrennt zwischen dem Seelischen, das den Menschen vereinzelt und ihn mit dem Tier verbindet, und dem Geistigen, in dem die individuelle Verschiedenheit aufgehoben ist. Dass somit aus dem Wissen des Guten für Platon notwendig das Tun des Guten folgt, bedeutet, wie oben im Zusammenhang mit dem platonischen Intellektualismus dargelegt wurde, 8 dass die Verkehrtheit von Handlungen sich immer nur aus Unwissenheit erklären kann: Die Vernunft ist das Organ des Allgemeinen. Wo sie regiert, ist der Mensch frei. Aber warum regiert sie in vielen Menschen nicht? Sie ist doch zum Regieren da. Die Antwort: »Weil der Mensch nicht will«, ist bei Plato sinnlos. Jeder Mensch will das für ihn Gute. Und das für den Menschen Gute ist nur das »Gute selbst«. Wenn er dies nicht will, dann nur, weil er es nicht kennt. Warum kennt er es nicht? Hier beginnt sich die antike Philosophie im Kreis zu drehen. 9
Eine letzte Steigerung des platonischen Autonomieideals, die durch die Gleichsetzung von Weisheit und Einsicht in die Notwendigkeit an den Punkt des dialektischen Umschlags zurück in Heteronomie gelangt, kann in der Philosophie der spätantiken Stoa gesehen werden: »Es ist der Weise, und nur der Weise, der zur Freiheit gelangt.« 10 Dieser überwindet die »Partikularität der eigenen Natur« 11 durch eine »universale oikeiosis, eine Identifikation des Ich mit dem Ganzen der Welt« 12. Für Platon und in gesteigerter Form für die Stoa gilt, dass die Autonomie des Weisen nicht in einem Akt der freien Entscheidung wurzelt, sondern im Wissen des Guten bzw. in der Erkenntnis der Notwendigkeit. Das letzte Regulativ ist das Streben nach εὐδαιμονία, das selbst nicht mehr in Frage gestellt werden kann, wobei allerdings die Feststellung, dass dies nicht möglich ist, bereits von einem Standpunkt erfolgt, der den antiken Horizont transzendiert hat.
Spaemann, Personen (1996), 28. Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss, 435–445. 9 Spaemann, Personen (1996), 29. 10 Ebd. 212. 11 Ebd. 213. 12 Ebd. 214. 7 8
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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
Den Bereich der Wahlfreiheit, des liberum arbitrium, sah die antike im Mittelalter fortwirkende Tradition in dem Spielraum, den das Wollen von Zwecken bezüglich der Mittel eröffnet. Eudaimonia wurde als »letzter Zweck« verstanden, aber dieser Zweck nicht als Gegenstand einer möglichen Wahl. Ihn wollen wir vielmehr »von Natur«. Aber er eröffnet einen Spielraum, der prinzipiell durch keine Nutzenfunktion eingrenzbar ist, weil nämlich die Wahl der »Mittel« und die Interpretation des Zweckes hier in eines fallen. Und in dieser Wahl entscheiden wir zugleich darüber, wer wir sind. Oder sollen wir sagen: in ihr zeigt es sich, wer wir selbst sind? Die antike Philosophie hat diese Frage nie klar gestellt. Denn das Stellen dieser Frage führt hinter den Begriff der physis als eines ontologisch Ersten zurück. 13
Aus antiker Sicht gibt es keine innere Distanz zur φύσις, also zur eigenen Natur. Das Wirken der Vernunft ist unmittelbarer Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur. 14 Die neue Erfahrung und damit die Entdeckung einer solchen Distanz bezeichnen den Umbruch, um den es im Folgenden gehen wird. Als erstes Zeugnis des ›Ausbruchs‹ aus der geschlossenen Welt des antiken Denkens verweist Spaemann auf ein Wort des Apostels Paulus, in dem dieser Bezug nimmt auf die stoische Weisheit: »›Wenn ich alle Weisheit hätte‹, so schreibt er, ›wenn ich meine Habe den Armen austeilte und meinen Leib zum Verbrennen hingäbe, hätte aber die Liebe nicht, so nützte es mir nichts.‹« 15 Entscheidend für den zentralen Gedanken Spaemanns ist es, den Perspektivenwechsel zu verstehen, der hier stattgefunden hat. Paulus akzentuiert mit dem Begriff der Liebe gegenüber der stoischen Weisheit eine Distanzierung von der eigenen Natur, die dem antiken Denken fremd war und in einer inneren Umkehr besteht: Spaemann, Personen (1996), 217. Das Verständnis der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur wurde von Spaemann als der Gedanke bezeichnet, »der die Philosophie konstituiert«. – Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123, und hier Abschnitt 6.2.2, Der Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 389. – Auch die im aristotelischen Verständnis ›von außen‹ – θύραθεν – in den Menschen hineinragende Vernunft bedeutet keine innere Distanz zur φύσις, da der νοῦς ποιητικός die unmittelbare Erkenntnis der natürlichen Substanzen – also vor jeder Teilung der Welt in Subjekt und Objekt – ermöglicht. – Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333. 15 Spaemann, Personen (1996), 213. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: 1 Kor 13,2 f. – Ebd. 273. 13 14
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8. Ontologie der Person
Der Stoiker ist zu allem bereit, wozu der Christ bereit ist, er braucht dazu keine grundsätzliche Umkehr des Willen[s]. Es ist der natürliche Wille zur Selbstbehauptung, der schließlich, durch die Einsicht geleitet, zur kosmischen Ausweitung des Selbst, zur Überwindung der Partikularität der eigenen Natur führt. Liebe dagegen im Sinn des Neuen Testaments, agape, bedeutet nicht eine kosmische Ausweitung der oikeiosis, der Aneignung der Welt durch das Selbst, sondern einen radikalen Wechsel des Standpunkts, den Paulus mit dem Begriff des »Sterbens« bezeichnet. 16 Dieser Wechsel bedeutet, daß der Andere als der Andere – also nicht als »Teil meiner Welt« – mir ebenso wirklich und wichtig wird, wie ich mir selbst bin. 17
Wenn also in dieser Zuspitzung die nach außen hin übereinstimmenden Handlungen des Stoikers und des Christen Ausdruck zweier unterschiedlicher innerer Haltungen sein können, muss noch einmal nach der neuen Dimension gefragt werden, um die die antike Weltsicht erweitert wurde und durch die eine ihr unbekannte Differenzierung in das Verhältnis des Menschen zur Welt hineingetragen wurde. Die Antwort auf diese Frage muss ansetzen an der oben dargelegten Bedeutung der Vernunft für die Antike als Organ des Allgemeinen. Der fundamentale Umbruch zwischen Antike und Neuzeit zeigt sich in der reflexiven Wendung des Denkens auf sich selbst und damit in der Verwandlung der vormals allgemeinen Vernunft in ein individuelles Organ und dem zu ihr komplementären Hervortreten des transzendenten Anderen: Hier gibt es nicht eine universale oikeiosis, eine Identifikation des Ich mit dem Ganzen der Welt, sondern statt dessen die Beziehung zu einem unabänderlich Anderen. Und für diese Beziehung gibt es zwei aufeinander in keiner Weise reduzierbare Möglichkeiten: die der Selbstbehauptung und die der Selbsttranszendenz. Im einen Fall behauptet der Mensch seine Zentralstellung, von der aus sich alle Bedeutsamkeitsstrukturen funktional herleiten lassen, im anderen Fall erkennt er an, daß es ein anderes oder viele andere Bedeutsamkeitszentren gibt, die sich nicht ineinander integrieren lassen und zu denen er sich doch ebenso affirmativ wie zu sich selbst verhalten kann. 18
Im christlichen Kontext nahm die so entstandene Alternative die Form von Gottesliebe oder Selbstliebe an: amor Dei usque ad conSpaemann verweist in der Anmerkung auf: Vgl. z. B. Kol 3,3. – Spaemann, Personen (1996), 273. 17 Ebd. 213. 18 Ebd. 214. 16
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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
temptum sui oder cor curvatum in se ipsum, wie es bei Augustinus bzw. in der augustinischen Tradition heißt. 19 Die Kluft zwischen Antike und Neuzeit, die sich in der Entstehung dieser Alternative ausdrückt, besteht darin, dass es zwischen diesen beiden Möglichkeiten keine Abwägung mehr gibt: »Die fundamentale Entscheidung darüber, welcher der beiden Motivationen wir folgen, ist nicht eine ›Wahl‹. Um zu wählen, bedarf es eines Grundes.« 20 Eine begründete Wahl setzt den einheitlichen Raum der allgemeinen Vernunft voraus, dessen Überwindung der Entstehung der Alternative erst zugrunde liegt. »Erst bei Augustinus wird klar ausgesprochen, daß es jenseits der beiden amores nicht noch ein Drittes gibt, aus dem sich die Entscheidung zwischen den beiden Willensrichtungen ableiten ließe.« 21 Die fundamentale Entscheidung zwischen den beiden amores muss also in einer Dimension wurzeln, die die individuelle Vernunft transzendiert. An dieser Stelle sollte, um die Bedeutung des Umbruchs, um den es hier geht, weiter zu klären, der Bezug hergestellt werden zum vorangegangenen Kapitel und zu Spaemanns »Versuch über Ethik«. Den zentralen Begriff des Wohlwollens entwickelt Spaemann dort ausgehend von dem als Erwachen zur Wirklichkeit interpretierten Sichtbarwerden des ›bewandtnislosen Umwillens‹ des Menschen. 22 Dieses Hervortreten des Selbst bleibt als Ereignis eines Richtungswechsels ambivalent und offen für zwei gegensätzliche Deutungen, die nihilistische aus der Perspektive des Triebhangs und die den Bewandtniszusammenhang transzendierende, durch die die Wirklichkeit des Anderen vermittelt im ›Bild‹ zu einem eigenen Zentrum der Bedeutsamkeit wird. Das philosophische Organisationsprinzip von »Glück und Wohlwollen« ist die als Einheitspunkt von Ethik und Ontologie aufgefasste Wahrnehmungsevidenz. Zwischen den beiden Deutungen gibt es keine Wahl, für die wieder Gründe angeführt werden könnten; es gibt nur eine primäre Entscheidung zwischen der Wahrnehmung von Selbstsein auf der einen Seite und dem Verschließen der Augen vor diesem auf der anderen. Eine neuerliche Umkehr aus dieser Abwendung heraus verdankt sich immer einer Befreiung von außen, der eine innere Bereitschaft entgegenkommen muss. Im 19 20 21 22
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 214–215. Ebd. 216. Ebd. 218. Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479.
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8. Ontologie der Person
Sinne einer solchen Bereitschaft wurde der kantische Imperativ der praktischen Vernunft als bewusste Umkehr durch eine sekundäre Entscheidung verstanden. Dieser zielt damit auf die Wiederherstellung der in der Wahrnehmungsevidenz gegebenen Perspektive, die darum dem Imperativ immer schon fundierend vorausgeht. Die philosophische Begründung dieses Ausgangspunktes wurde, wie gesehen, in »Glück und Wohlwollen« ersetzt durch den Verweis auf den Sündenfallmythos, aus dem der Gedanke eines ursprünglichen Erwachtseins des Menschen abgeleitet wurde. Nach der hier vorgelegten Interpretation ist dies die Stelle, an der Spaemanns »Versuch über Ethik« über seine Grenzen hinausweist und nach einer ontologischen Argumentation verlangt, die nun in »Personen« entfaltet wird. An die Stelle der Begründungsfunktion des Mythos tritt nun eine hermeneutische Deutung der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Geistes, die darauf abzielt, den zentralen Gedanken der Wahrnehmungsevidenz in ein ontologisches Koordinatensystem einzuordnen. Für das Verständnis des entscheidenden Fortschrittes der Argumentation, der in »Personen« zu finden ist, muss im Folgenden die ontologische Bedeutung des zentralen hermeneutischen Befundes entwickelt werden. Spaemann bezieht sich auf den Begriff des Herzens, der »in der Geschichte der Philosophie als Sitz der Seele, des Lebens, des Denkund Gedächtnisvermögens« 23 gilt und im Neuen Testament »die Bedeutung eines den Menschen verborgenen, nur Gott offenbaren Zentrums, in dem das innerste Wesen der Person beschlossen liegt« 24, gewinnt. Das Herz – καρδία – wird mit dem Geist Gottes in Beziehung gesetzt 25 und damit zur Instanz jener fundamentalen Entscheidung zwischen den beiden amores, die den individuellen Horizont transzendiert: Im Unterschied zur Vernunft, die per definitionem vernünftig, aber manchmal eben unaufgeklärt und dann zu schwach zur Herrschaft ist, Biesterfeld, Herz, in: HWPh III, col. 1100. Ebd. 1104. 25 Vgl. z. B. Rö 1,21: »Denn obwohl sie von Gott wußten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.«, 2 Ko 1, 21–22: »Gott ist’s aber, der uns fest macht samt euch in Christus und uns gesalbt / und versiegelt und in unsre Herzen als Unterpfand den Geist gegeben hat.«, Gal 4,6: »Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater!« 23 24
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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
regiert das Herz immer, aber es entscheidet selbst, von wem es sich regieren lassen will. Aufgrund wovon entscheidet es? Aufgrund seines Soseins, seiner »Natur«, für die es nichts kann? Nein, das Herz in diesem Verständnis ist nicht Natur. Es gibt kein Sosein, keine qualitative Bestimmtheit, die der Grund für die Abwendung vom Guten wäre, für die Liebe zur Finsternis. Das Herz ist grundloser Grund in einem Sinn, für den es in der Antike kein gedankliches und begriffliches Äquivalent gibt. Die Identität des Herzens liegt tiefer als alle qualitative Bestimmtheit. Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine anthropologische Entdeckung, weil es einer Erfahrung entspricht. 26
Dass das Herz tiefer als alle qualitative Bestimmtheit liegt, unterstreicht erstens, dass es nicht Natur ist, sondern gerade eine Distanz zu ihr ausdrückt. Das Herz wird dabei zweitens nicht zu einer neuen Entität als Natur vor der Natur, sondern bleibt als grundloser Grund ein Mittleres zwischen der Natur und dem Anderen. Drittens kann es, wenn es einmal entdeckt ist, nicht nicht entscheiden, denn auch das cor curvatum in se ipsum hat eine Entscheidung getroffen. Dieser Begriff des Herzens ist nun der Begriff, der dem späteren der Person zugrundeliegt. Er bedeutet so etwas wie die Entdeckung der Person. Das wird noch unterstrichen dadurch, daß die Entscheidung zwischen gut und böse, zwischen Licht und Finsternis nicht eine Entscheidung gegenüber einer Idee, sondern gegenüber einer Person ist, die als unhintergehbare Offenbarung der Wahrheit gilt, so daß der johanneische Christus die eigentlich Sünde darin sieht, »daß sie nicht an mich glauben«, und an anderer Stelle sagen kann: »Wenn ich nicht gekommen wäre […], so hätten sie keine Sünde.« 27 Die Erkenntnis der Wahrheit wird als personaler Akt des »Glaubens« gedacht. Die Wahrheit selbst erscheint nicht als das überindividuell Allgemeine, sondern als konkretes Antlitz eines individuell Anderen. 28
Das Herz bedeutet insofern die Entdeckung der Person, als der Umbruch vom Verständnis der Vernunft als Organ des Allgemeinen durch die reflexive Wendung auf die natürliche Selbsttranszendenz zu einer personalen Vernunft führt, der ein gewandeltes Verhältnis zur Wirklichkeit entspricht. Da dieser Gedanke nach der hier vorgelegten Interpretation als das gedankliche Zentrum von Spaemanns Spaemann, Personen (1996), 29–30. Kürzung des Zitats so in Spaemanns Text. – Vgl. Joh. 15,22: »Wenn ich nicht gekommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde; nun aber können sie nichts vorwenden, um ihre Sünde zu entschuldigen.« 28 Spaemann, Personen (1996), 30. 26 27
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8. Ontologie der Person
Personenphilosophie bezeichnet werden kann, muss seine Bedeutung weiter entfaltet werden. Es geht um eine grundlegende Verwandlung des Verhältnisses von menschlicher Individualität und vernünftiger Allgemeinheit durch den Umbruch vom antiken zum neuzeitlichen Denken: Der Gegensatz Allgemeinheit – Individualität oder auch Klasse – Element läßt zwar bei Plato für einen individuellen Menschen die Möglichkeit offen, sich über seine bloße Individualität, sein bloßes »Element-einer-Klasse-sein« zu erheben. Er kann das Wesen, das Allgemeine selbst denken und so seine Partikularität überwinden. Was Plato nicht denkt, ist, daß derjenige, der sich selbst »allgemein macht«, damit zu einer höheren Weise des Seins kommt, als es das Allgemeine selbst ist. Die in einem gerechten Menschen realisierte und konkretisierte Gerechtigkeit ist mehr als die Idee der Gerechtigkeit, und der Mensch, der für sein Vaterland stirbt, ist mehr als sein Vaterland. Als Individuum ist er nur Teil seines Volkes. Aber indem er dieses Teilsein realisiert, ist er eine Totalität, der gegenüber das Volk nur eine Abstraktion ist. Hegel hat hierfür den Begriff des »Einzelnen« bereitgestellt, der, weil er das Allgemeine als solches in sich aufgenommen hat und realisiert, über dem Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem steht. Personen sind Individuen. Aber nicht so, daß sie »Fälle« eines Allgemeinen sind, sondern so, daß sie als die jeweiligen Individuen, die sie sind, auf individuelle, unverwechselbare Weise das Allgemeine selbst sind. Sie sind nicht Teile einer übergreifenden Ganzheit, sondern selbst Totalitäten, im Verhältnis zu denen alles Teil ist. 29
Die ›höhere Weise des Seins‹, von der hier die Rede ist, also das ›Personsein‹, stellt im spezifischen Sinn eine Aktualisierung dar, die aufgrund der anthropologischen Entdeckung der Person möglich wird. Das bedeutet, dass diese Entdeckung und der durch sie initiierte Umbruch die Bedingungen der Möglichkeit jener Aktualisierungen des antiken Denkens sind, die seit den 80er Jahren ein Hauptthema von Spaemanns Philosophieren sind und die hier noch einmal knapp ins Gedächtnis gerufen werden sollen. Die aristotelische Rede vom Sein lässt in Bezug auf zentrale Begriffe wie οὐσία und εἶδος eine logischontologische Doppeldeutigkeit erkennen, die eigentlich eine Interferenzerscheinung zwischen dem neuzeitlichen, vom Subjekt ausgehenden Paradigma des Rezipienten und dem rezipierten antiken Paradigma ist, dem diese Differenz von Subjekt und Objekt noch ver29
Spaemann, Personen (1996), 28–29.
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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
schlossen war. Um denken zu können, was auf eine uns verschlossene Weise Aristoteles gedacht hat: Substantialität bzw. Sein, bedarf es unter der Bedingung eines personalen Verhältnisses zur Wirklichkeit der Eröffnung eines Jenseits des Denkens. Ontologie kann keine reine Begriffswissenschaft mehr sein, da unter der Bedingung des Ausgangs vom Subjekt das Sein entweder verschwindet oder zu einem Jenseits des Begriffs wird. Daher kann Spaemann Descartes’ Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ als eine Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein interpretieren, wobei der verborgene Hintergrund dieser Aktualisierung erst hervortritt, wenn die Entdeckung der Person als Bedingung ihrer Möglichkeit erfasst wird. Erst die mit der Entdeckung sich ereignende reflexive Wendung auf die Selbsttranszendenz lässt ein Jenseits des eigenen Horizonts hervortreten, auf das das Denken wieder ausgreifen kann. Auf neue Weise fügt sich in diesen Kontext nun auch die Aktualisierung ein, um die es in »Glück und Wohlwollen« wesentlich geht, nämlich das Wohlwollen als aktualisierte εὐδαιμονία. Nachdem der Gedanke der εὐδαιμονία unter der Bedingung des Ausgangs vom Subjekt, wie gesehen, das Denken in Antinomien verstricken musste, stellt das Wohlwollen jene Realisierung von Selbsttranszendenz dar, durch die mit dem Bild des Anderen ein Jenseits des eigenen Horizonts erscheint und mit der Person – wie zuvor mit dem Gedanken des Seins – ein Jenseits des Denkens gedacht wird: »›Person‹ ist deshalb ebenso wie ›Sein‹ ein analoger Begriff.« 30 Zur Person führt wie zum Sein aus der Perspektive der Vernunft scheinbar nur ein Sprung. Das Neue des Gedankens der Entdeckung ist nun, dass sie ein kontingentes geschichtliches Faktum bezeichnet und dass damit das durch die Eröffnung des personalen Verhältnisses zur Wirklichkeit gesetzte Jenseits des Denkens von einem spekulativen in einen hermeneutischen Gedanken verwandelt wird: Die Entdeckung der Person hat faktisch stattgefunden und den bleibenden Maßstab personaler Vernunft gesetzt. Die reflexive Wendung auf die im Individuum instantiierte Vernunft entspringt der den Horizont des Interesses des individuellen Lebewesens transzendierenden Offenheit. Dieses Entspringen gibt der personalen Vernunft ihr Gepräge und erst in ihrer Rückbiegung auf den individuellen Horizont des Interesses geschieht die Verwandlung in die autonome Vernunft, von der aus es dann eines Sprungs bzw. einer μετάνοια bedarf, um zur ursprünglichen Offenheit der personalen Vernunft 30
Spaemann, Personen (1996), 77.
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8. Ontologie der Person
zurückzugelangen. Sobald das personale Verhältnis zur Wirklichkeit entdeckt ist, kann es im Sinne der mit dem Begriff des Herzens bezeichneten Zweideutigkeit des Selbstverhältnisses auch subjektivistisch gedeutet und damit der personale Standpunkt solipsistisch zurückgenommen werden. Aus dieser Rückbiegung führt immer nur ein Sprung im Sinne einer sekundären Umkehr der Richtung heraus. Durch das kontingente geschichtliche Ereignis der Entdeckung des Herzens ist aber im Übergang von der Vernunft als Organ des Allgemeinen zur personalen Vernunft die konstitutive Selbsttranszendenz mitgesetzt, durch die allein das Individuum als Person zur Totalität wird und jene höhere Weise des Seins erreicht, von der hier die Rede war. Auch wenn das personale Verhältnis zur Wirklichkeit jederzeit in einen Solipsismus zurückgenommen werden kann, bleibt das kontingent-faktische Ereignis der Entdeckung möglicher Ausgangspunkt einer Ontologie und Philosophie der Person.
8.3.2
Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins
Der erste Schritt der Annäherung an die Entdeckung der Person bestand in der Hermeneutik des im Begriff des Herzens sich konkretisierenden neutestamentlichen Ausdrucks der dem antiken Denken unbekannten Erfahrung, eine fundamentale Entscheidung in Bezug auf das Verhältnis zur Welt treffen zu müssen. Um von dieser Erfahrung zur Entfaltung des Personbegriffs gelangen zu können, bedarf es, wie Spaemann bemerkt, eines Exkurses in die Theologie: Die Geschichte des Personbegriffs ist die Geschichte eines Umwegs, dessen Vergegenwärtigung uns für eine Weile in den Kern der christlichen Theologie führt. Was wir heute »Person« nennen, wäre ohne die christliche Theologie unbenennbar geblieben und [–] da […] Personen ja nicht einfach natürliche Vorkommnisse sind – nicht in der Welt. Das heißt nicht, daß seine Verwendung nur unter bestimmten theologischen Voraussetzungen sinnvoll ist, wenngleich es denkbar ist, daß das Verschwinden der theologischen Dimension auf die Länge auch den Personbegriff wieder zum Verschwinden bringen würde. 31
31
Spaemann, Personen (1996), 26–27.
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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
Zunächst ist es also wieder ein kontingentes historisches Faktum, dass die geistige Auseinandersetzung mit dem Personbegriff in der Theologie begann und über Jahrhunderte in ihr fortgeführt wurde, bevor die anthropologische Reflexion des Begriffs einsetzte. Obwohl, wie Spaemann betont, ein genuin philosophischer Personbegriff entfaltet werden kann, 32 muss als Grundlage des Versuchs einer solchen Entfaltung zunächst die Vorgeschichte dieses Begriffs in der christlichen Theologie nachvollzogen werden, um zu klären, welche hier entwickelten Implikationen durch den philosophischen Begriff aufzufangen sind. Oben wurde festgestellt, dass die fundamentale Entscheidung des Herzens im christlichen Kontext »nicht eine Entscheidung gegenüber einer Idee, sondern gegenüber einer Person ist, die als unhintergehbare Offenbarung der Wahrheit gilt«, und dass die »Erkenntnis der Wahrheit […] als personaler Akt des ›Glaubens‹ gedacht« 33 wird. Die Aussagen des Neuen Testaments über die Gottessohnschaft Christi und die Erscheinung des Heiligen Geistes stellten die frühchristlichen Theologen, die »bedingungslose Monotheisten« waren, vor die »Aufgabe, die Einzigkeit Gottes so zu denken, daß sie sich mit einem solchen Unterschied von Vater, Sohn und Pneuma als einem innergöttlichen Unterschied vereinbaren ließ« 34. Die Lösung dieser Paradoxie, zu der »Worte Jesu im Johannesevangelium« 35 verhelfen können, wurde von den frühchristlichen Theologen entwickelt durch eine Synthese der jüdischen Schöpfungstheologie und der neuplatonischen Philosophie, insbesondere Plotins Emanationslehre. Um den grundlegenden Gedankengang wiederzugeben, zitiere ich eine längere Passage: An diesen Gedanken einer ewigen Emanation aus dem Einen knüpfen offenkundig die christlichen Denker an, vor allem die des griechischen
S. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 583–599. – Auf die Einschränkung, die Spaemann am Ende der zitierten Textstelle macht, wird zurückzukommen sein in Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion, 643–650. 33 Spaemann, Personen (1996), 30. 34 Ebd. 33. 35 Ebd. – Vgl.: »›Ehe Abraham war, bin ich.‹ Dieses ›Ich‹ Jesu wird im Prolog des gleichen Evangeliums identifiziert mit dem Logos, vom dem es heißt: ›Im Anfang war der Logos, der Logos war bei Gott und Gott war der Logos.‹ Und von diesem Logos heißt es dann, er sei ›Fleisch‹ geworden.« – Ebd. – Spaemann verweist in Fußnoten auf die Stellenangaben im Johannesevangelium: Joh. 8,58, Joh. 1,1 und Joh. 1,14. – Ebd. 266. 32
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8. Ontologie der Person
Ostens, Origenes und die Kappadokier. Aber in immer neuen Anläufen geht die Bemühung dahin, diesen Gedanken tiefgreifend zu modifizieren, und zwar so, daß eine radikale Zäsur angesetzt wird zwischen den ersten beiden Emanationen und allen folgenden bis hin zur Materie. Diese folgenden werden nicht mehr als Emanationen verstanden, die mit logischer und ontologischer Notwendigkeit eine aus der anderen hervorgehen, sondern sie werden nun im Sinne der biblischen Genesis als »Schöpfung« bezeichnet. Sie entspringen einem freien, kontingenten Entschluß Gottes. Das Absolute, das Eine hat sich in Freiheit, wenn auch von Ewigkeit her, entschlossen. Die Metapher der Emanation, des Ausfließens aus der Gottheit, wird ersetzt durch die des Herausrufens aus dem Nichts. Die Gottheit, um als Subjekt von so etwas wie einer freien Entschließung gedacht werden zu können, darf nun andererseits nicht als ein Eines gedacht werden, das in sich keine Selbstvermittlung enthält. Sofern es so gedacht wird, geht nämlich das Andere des Einen mit Notwendigkeit unmittelbar aus diesem hervor. Der Logos ist diese erste Emanation, die es überhaupt erlaubt, das Eine, als das Eine, zu wissen. Ohne sie kann das Eine sich selbst nicht wissen. Aber nach Plotin weiß sich das Eine auch gar nicht. Sein Gewußtwerden fällt bereits außerhalb seiner. Die christlichen Denker denken das Eine als Gott, das heißt, sie denken es so, daß es die Vermittlung in sich selbst hat, daß es also sich selbst weiß und sich selbst affirmiert. Das aber bedeutet, sie denken die beiden ersten Emanationen, die nicht den Charakter der freien Setzung, sondern den der notwendigen Selbstvermittlung haben, nicht als Abstieg zu jeweils geringerer Mächtigkeit, sondern als solche, in denen das Eine vollkommen bei sich bleibt, indem es das Andere seiner selbst in sich selbst hat. Logos und Pneuma sind sozusagen dasselbe Eine noch einmal, also nicht Instantiierungen des Oberbegriffs Gott, von dem es nun drei Exemplare, also drei Götter geben würde. Das würde dem biblischen Monotheismus widersprechen und den Begriff des Einen aufheben. 36
Um den Gedanken der Schöpfung aus dem Nichts, die im Sinne von Gottes Allmacht nicht aus einer Notwendigkeit, sondern dem freien Willen Gottes hervorgehen muss, denken zu können, bedarf es einer vorausliegenden Selbstvermittlung Gottes, für die der Gedanke der Emanation bemüht wird. Logos und Pneuma sind als notwendige Selbstvermittlung Gottes die ersten beiden Emanationen aus dem Einen, die zusammen auch in der Selbstvermittlung eine Einheit bilden. Die Zäsur nach der zweiten Emanation, aufgrund deren die 36
Spaemann, Personen (1996), 33–34.
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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
weiteren Emanationen aus einem kontingenten Entschluss Gottes hervorgehen, besteht wesentlich im Übergang von der notwendigen Selbstvermittlung zur kontingenten Schöpfung. Die in diesem Gedanken enthaltene Paradoxie war bereits das Thema von Spaemanns frühem Aufsatz »Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpfungswillens Gottes« 37, in dem er zur Bezeichnung der Differenz von menschlicher und göttlicher Perspektive den Begriff der necessitas ex suppositione einführte: Die Schöpfung ist uns nur als kontingentes Faktum gegeben; unter der Voraussetzung aber, dass Gott diese Schöpfung will, muss sie als ›bedingt notwendig‹ gedacht werden. Das ›ex suppositione‹ drückt, wie im dritten Kapitel bemerkt, 38 eine Teilhabe an der göttlichen Perspektive seitens eines Wesens aus, das sich selbst als kontingentes Sosein erlebt. Ein genuin philosophischer Personbegriff wird diesen Gedanken der Teilhabe als nicht kontingente Wahrnehmung kontingenten Seins zu denken versuchen müssen. Hier soll die Aufmerksamkeit zunächst weiter auf die Auflösung der genannten Paradoxie der Einheit Gottes und seiner Selbstvermittlung gerichtet werden. Es ist noch einmal die Frage zu stellen, wie Gott sich durch die ersten beiden Emanationen verdreifachen und gleichzeitig einer bleiben kann: Die drei »Hypostasen« der Gottheit aber, wie die Griechen sagten, sollten bloß numerisch unterschieden sein. Die unendliche Mächtigkeit des Einen erlaubt keine Vervielfältigung, sondern nur eine innere Differenzierung, aufgrund deren diese Einheit nun als Prozeß der Selbstvermittlung, als ewiges Geschehen der Einigung gedacht wird, mit anderen Worten: als Leben. Das Eine ist nicht das Unaussprechliche, das bereits aufgehört haben muß, das Eine zu sein, wenn es ausgesprochen wird. Es wird nun gedacht als sich selbst aussprechend. Diese innere Differenzierung darf nicht als qualitative gedacht werden, so als seien die Hypostasen voneinander verschieden. In diesem Fall würde ja der Ursprung sich im Logos nicht wirklich adäquat erkennen und aussprechen. Der Logos wäre irgendwie anders als der, dessen Logos er ist. Im christlichen Verständnis ist er nicht anders, sondern nur ein anderer, vom Vater nur unterschieden durch die Asymmetrie der Relation: der Vater zeugt den Sohn, nicht der Sohn den Vater. Im übrigen ist die Verschiedenheit eine rein numerische. 39
37 38 39
Vgl. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131. Vgl. ebd. 129. Spaemann, Personen (1996), 34–35.
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8. Ontologie der Person
Das Mittel, durch das es möglich wird, die numerische Unterschiedenheit der qualitativ mit dem Einen übereinstimmenden ersten beiden Emanationen zu denken, ist der abstrakte Begriff der Hypostase, »der soviel sagt wie ›selbständig Existierendes‹« 40. Im lateinischen Westen wurde dieser Begriff von Tertullian »durch den weniger abstrakten und spekulativen der Person ersetzt« 41, der durch die spezifische Verwendung seitens der Grammatiker, bei der »von jeder Verschiedenheit der Personen« abgesehen wird und vom selben Menschen »einmal in der ersten, ein andermal in der zweiten oder dritten Person die Rede ist«, besonders geeignet erschien. »Ein Wesen, drei Personen« wird schließlich die orthodoxe christliche Formel; und zwar ein Wesen nicht im Sinn der »zweiten usia« des Aristoteles, also im Sinn einer allgemeinen mehrfach instantiierten Wesenheit, die gegen ihre Instantiierungen und erst recht gegen deren Zahl gleichgültig ist, sondern im Sinn einer »ersten usia«, einer einzigen »individuellen« Wesenheit, die in der Weise existiert, daß die sie realisierenden »Personen« sie, diese Wesenheit, in einer bestimmten Ordnung einander übergeben und in diesem Prozeß des »Sich-selbstgebens und -empfangens« ihre Wirklichkeit haben. Die Differenz der Person zu ihrem Sosein, ihrer Wesenheit, hängt unmittelbar damit zusammen, daß eine so verstandene Person nur in Relation zu anderen Personen, also im Plural gedacht werden kann. 42
Die Formel von Gott als Wesen in drei Personen enthält mit dem Gedanken der inneren Differenz der Personen zu ihrem Sosein und dem der konstitutiven Pluralität wesentliche Implikationen, die von einem genuin philosophischen Personbegriff aufgefangen werden müssen. Noch näher an den anthropologischen Personbegriff heran führt die Auseinandersetzung mit der zweiten Paradoxie, die die frühchristlichen Theologen beschäftigte, nämlich die Auffassung von »Jesus Christus als Inkarnation des ewigen göttlichen Logos und zugleich als Menschen im wahren und eigentlichen Sinne« 43. Den christologischen Streit zwischen Monophysiten und Dyophysiten beendeten die griechischen Kirchenväter durch die Formel, »Jesus Christus habe zwei ›Naturen‹, die göttliche und die menschliche.« 44
40 41 42 43 44
Spaemann, Personen (1996), 35. Ebd. Ebd. 36. Ebd. Ebd.
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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
Der göttliche Logos verhält sich also als Person einerseits zur göttlichen Wesenheit, andererseits noch einmal zu einer menschlichen Natur: Daß er ganz Mensch ist, mit menschlicher Seele, menschlichem Geist und menschlichem Willen, wird nun so ausgedrückt, daß er eine menschliche »Natur« besitzt. Dem zum Personbegriff komplementären Begriff des Wesens, der usia in der Trinitätslehre, entspricht nun in der Christologie der Begriff der Natur, der physis. Physis ist die usia, das Wesen endlicher Dinge, das heißt derjenigen Dinge, die dem Werden und Vergehen unterworfen sind. 45
Der Begriff der Natur als »allgemeine Form oder Wesenheit, durch die die spezifische Differenz dieser Art von Substanz zu allen anderen festgelegt ist« 46, diente im 6. Jahrhundert »Boethius zu seiner Definition des Personbegriffs, die für ein Jahrtausend maßgeblich bleiben sollte. Danach ist Personalität die spezifische Weise ›rationaler Naturen‹, sich individuell zu konkretisieren: ›Persona est naturae rationabilis individua substantia‹.« 47 Spaemann weist darauf hin, dass Boethius in dieser Definition »›substantia‹ offensichtlich im Sinn von ›hypostasis‹ in Differenz zur Wesenheit, die er ›natura‹ nennt« 48, verwendet. 49 Wesentlich ist, dass der »Sinn der Definition bei Boethius […] ein ontologischer« 50 ist, der Begriff der Person bezeichnet Selbstsein, das »in keiner möglichen Beschreibung adäquat dargestellt werden kann« 51. Durch die christologische Vermittlung entwickelte sich so aus einem abstrakten Begriff, der zunächst zur Lösung des theologischen Problems der Trinität gebildet wurde, der anthropologische Personbegriff, der offenbar gerade dadurch das menschliche Selbstverständnis treffen kann, dass er keinen qualitativen Bestand, sondern vielmehr eine erlebte Distanz zu diesem ausSpaemann, Personen (1996), 37. Ebd. 38. 47 Ebd. – Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: A. M. S. Boethius: Contra Eutychen et Nestorium, cap. 3,74. – Ebd. 265–266. 48 Ebd. 38. 49 Vgl.: »Was er mit Substanz meint, wird im gleichen Text dadurch expliziert, daß er zwei Seiten später in der gleichen Definition ›substantia‹ durch ›subsistentia‹ ersetzt. Subsistentia aber ist gleichbedeutend mit hypostasis.« – Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. – Vgl. zur Bedeutung der Definition des Boethius: Bexten, Was ist menschliches Personsein?, Abschnitt 3.6.3, Boëthius’ Herleitung des Wortes ›persona‹, 132– 135. 45 46
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8. Ontologie der Person
drückt, und deshalb in der Lage ist, das neu Entdeckte, das mit dem Begriff des Herzens gefasst wurde, zu bezeichnen. Insofern die Person also eine Distanz zu ihrer Natur bezeichnet, unterscheidet sich dieser Begriff grundlegend von dem, was für die klassische Ausprägung der antiken Philosophie in der aristotelischen Metaphysik ein Begriff sein kann. 52 Am Ende von Teilkapitel 8.2 wurde dieser Begriff als analoger spezifiziert. Zur Konkretisierung dieser Spezifikation muss nach der Modifikation des begrifflichen Instrumentariums der klassischen Metaphysik gefragt werden, die notwendig wurde, um einen Begriff wie den der Person denken zu können. Der Wandel, um den es hier geht, ist wiederum wesentlich verbunden mit dem Gegensatz antiker und christlicher Gottesvorstellungen: Die »erste Substanz«, also das Einzelding, ist für Aristoteles das Seiende schlechthin. Die »Form«, die es zu dem macht, was es ist, macht auch, daß es ist. »Die Form gibt das Sein«, heißt es noch bei Thomas von Aquin. 53 Sein heißt, wie auch bei Platon, wesensmäßig strukturiert sein, teilhaben an der Idee. Der platonische Demiurg ist kein Schöpfer, sondern ein Gestalter. Er überführt das Chaos in geordnete Formen. Daß ein vollständig so und so bestimmtes Einzelnes noch einmal in einer inneren Differenz zu seinem Sein stehen, also sein oder nicht sein kann, das ist ein Gedanke, der erst mit der biblischen Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts möglich wird. Der Schöpfung folgt erst in einem zweiten Schritt die Überführung der amorphen Potentialität des »Tohu wa bohu« in Form und Bestimmtheit. Vgl.: »Die Subsistenz in einer Natur ist nicht vom Aspekt des Wirklichseins, der Existenz, zu trennen. Das Sein einer Person ist das Leben eines Menschen. Leben gibt es aber nur als wirkliches, nicht als mögliches. Dagegen sind die Arten, auch die Artnatur ›Mensch‹, mögliche Weisen des Soseins. Aristoteles war noch nicht mit dem Gedanken der Kontingenz vertraut: Sosein und Dasein standen für ihn nicht in der ontologischen Differenz, denn die Form, die den Dingen ihr Sosein verleiht, macht für ihn auch, dass es ist. Das Seiende schlechthin ist für Aristoteles die erste Substanz. Auf sie beziehen sich Entstehen und Vergehen, die immer nur Gestaltveränderung, das Wechseln der Form, sein können. Das Fehlen des Schöpfungsgedankens ließ noch nicht jene innere Differenz erkennen, die sich zwischen einem vollständig bestimmten Einzelding und seinem Sein auftut. Das durch Seele und Leib vollbestimmte individuelle Wesen Mensch verhält sich für Thomas gegen Sein und Nichtsein noch einmal indifferent. Anders die Person: Sie kann nie den Status des bloß Möglichen besitzen. Sie hat entweder eine je-jetzige Existenz oder sie ist überhaupt nicht. ›Person‹ nennen wir einen Menschen, sofern er aus dem Bereich des Idealen heraustritt und als lebendiges Wesen zu existieren beginnt, denn das Wirklichsein der Person ist immer Leben.« – Stickelbroek, Das cerebrale Subjekt, 211–212. 53 Vgl. Anmerkung Spaemanns: »Forma dat esse.« Thomas von Aquin, De princ. nat. 1 Nr. 339 f. – Spaemann, Personen (1996) 268. 52
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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
Das »forma dat esse« wird sozusagen noch einmal in Klammern gesetzt. Das Ganze aus Materie und Form ist für Thomas von Aquin noch einmal ideell, eine individuelle Wesenheit. Jedes Individuum besitzt eine solche ideelle Struktur, die sich gegen Sein und Nichtsein indifferent verhält. Dem entspricht, daß für Thomas von Aquin jedem Einzelwesen eine göttliche Idee entspricht. Diese Idee ist die Idee eines Menschen, nicht die einer Person. Denn »Person« nennen wir diesen Menschen, sofern er außerhalb Gottes, »extra causam«, existiert. Der Existenz haftet ein Moment unaufhebbarer Faktizität an, die, wenn sie als geschaffene gedacht wird, dazu nötigt, Gott als Freiheit zu denken. 54
Die in der hochmittelalterlichen Theologie durchgeführte Transformation der aristotelischen Metaphysik, in der die Entdeckung der Person begrifflich verarbeitet wird, besteht also wesentlich in einer Verlängerung der klassischen Potenz-Akt-Lehre, durch die die aristotelische Form noch einmal in einer inneren Differenz zum Sein und damit als potentiell gedacht wird. 55 Der Seinsakt wird so ἐπέκεινα τῆς οὐσίας – jenseits des Wesens – als ein prinzipielles Jenseits des Begriffs verstanden 56, dessen kognitive Erfassung erst durch die Entdeckung der Person möglich geworden ist: »Das Selbstverhältnis der Person ist Ursprung und Paradigma des Kontingenzgedankens, den erstmals der islamische Philosoph Avicenna als Differenz von Sosein und Dasein artikulierte. Personen sind Wesen, die diese Differenz unmittelbar erleben.« 57 Nur vom personalen Standpunkt als einer Distanz zur eigenen Natur aus ist Kontingenz im Sinne des Auchanders-sein-Könnens wahrnehmbar. Im personalen Standpunkt nimmt der Mensch damit in gewissem Sinn die Perspektive Gottes ein. Da die Person – auch die menschliche – nur so gedacht werden kann, dass sie in ihrem ›Selbststand‹ Gott gegenüber steht, 58 muss Spaemann, Personen (1996), 79–80. Vgl. zum Gedanken der Realdistinktion von esse und essentia bzw. zur Seinsaktlehre hier die Abschnitte 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 339, 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 349, 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 488, u. 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 533–534. 56 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 136, 160. 57 Ebd. 81. 58 Vgl.: Das Sein der Person »ist nicht intentionales Sein, Gewusstsein von Gott, sondern wie das Sein Gottes Selbstsein, das aller Intentionalität zugrunde liegt. Also nicht ein Traum Gottes. Personen sind Subjekte von Träumen, nicht Objekte. Es ist Teilhabe am Sein Gottes selbst. Und weil das Sein Gottes selbst als plurales Personsein 54 55
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8. Ontologie der Person
Gott selbst als Ursprung der Freiheit gedacht werden, an der der Mensch als Person partizipiert. Damit sind die wichtigsten Aspekte der theologischen Vorgeschichte des Personbegriffs nachvollzogen und die Voraussetzungen für seine genuin philosophische Konkretisierung geschaffen. 59
verstanden wird, steht die endliche Person Gott so gegenüber, wie die göttlichen Personen einander gegenüberstehen. Und eben dieser Selbststand, eben diese Nichtidentität mit Gott ist Teilhabe am Sein Gottes.« – Spaemann, Person und Wiedergeburt, 25. 59 Ausführlich untersucht die hier nur knapp beleuchtete Umformung der aristotelischen Metaphysik im Hochmittelalter Rolf Schönberger in seiner von Spaemann betreuten, 1983 in München angenommenen Dissertation unter dem Titel »Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Studien zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Seinsbegriffs im Mittelalter«. Im Sinne der von Spaemann erwähnten Einklammerung des ›forma dat esse‹ schreibt Schönberger: »Mit dem neuen Status der forma als Teil des Wesens ist nun auch ein neuer Status für das Ganze, nämlich das Wesen, gegeben: […] die forma ist nicht mehr von sich selbst her Seinsgrund; genau dies hat ihr Aristoteles aber zugeschrieben. Auf dem Hintergrund einer creatio ex nihilo, der weder eine ewige Materie noch eine ewige Formenwelt vorgegeben ist, bedarf es einer Ursache unendlicher Mächtigkeit, wie sie nur dem ipsum esse subsistens zukommen darf […]. Dieser Schöpferkraft entstammt auch die forma. […] Daraus folgt als zweites: Im Verhältnis zu einer seinsstiftenden causa muß auch die forma noch als passiv, als in Möglichkeit gedacht werden. Die Aktuierung der forma gründet also zuletzt im Sein: ipsum esse est actualitas omnium rerum et etiam ipsarum formarum. Damit ist eine Dissoziierung von forma und actus ausgesprochen, die in ihrer Tragweite kaum überschätzt werden kann.« – Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 279–280. – Mit Bezug auf die Realdistinktion von esse und quidditas schreibt Schönberger: »Damit hat Thomas von Aquin die aristotelische Lehre von der Ousia tiefgreifend modifiziert, indem er gleichsam in ihr selbst eine Differenz ansetzt, die sie bei Aristoteles nicht aufwies. Das wichtigste Motiv dafür, um es nochmals zu benennen, ist die Integration des Substanzbegriffs in eine Metaphysik der Schöpfung. Jener kann nur dann kein Fremdkörper bleiben, wenn die Substanz die Züge ihres Geschaffenseins an sich trägt. Wohl nochmals einen Schritt weiter weg von Aristoteles tut Thomas mit demjenigen Begriff, der jene Differenz fassen soll: Partizipation. Was Aristoteles für eine nichtssagende Ausrede gehalten hatte, macht Thomas zum Grundbegriff seines Denkens – allerdings nicht ohne am Ende auch diesen Begriff wiederum ›aristotelisch‹ zu interpretieren. […] Wenn das Sein weder eine Resultante verschiedener Wesensinhalte noch ein Moment an diesen selbst sein soll, dann liegt es nahe, die Differenz als ›Haben‹ zu denken, zumal dann, wenn die Ursache dieses Habens nicht mehr als statisches Relatum gedacht oder überhaupt im Dunklen bleiben soll, sondern dafür ein dator, ein aktiver und personaler Grund der Teilgabe angesetzt wird. Dieser muß […] als Koinzidenz von Sein und Wesen gedacht werden.« – Ebd. 265–266.
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8.3.3
Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
Die folgenden abschließenden Ausführungen zum Thema der Entdeckung der Person können nicht einfach kontinuierlich fortführen, was bisher zur anthropologischen Entdeckung und ihrer Verarbeitung in der christlichen Theologie dargelegt wurde. Die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie ist nicht die einer Personenphilosophie, sondern im Gegenteil eine Geschichte der Destruktion des Personbegriffs. 60 Was Spaemann im Ausgang des 20. Jahrhunderts in seinem Personen-Buch entwickelt, nimmt zwar eine Vielzahl von Traditionslinien in sich auf, stellt aber in einem solchen Maß eine originelle Synthese dieser Linien dar, dass er in der Gegenwartsphilosophie als »erratischer Solitär« 61 erscheinen kann. Um im Folgenden eine Vorstellung von dieser Synthese entwickeln zu können, müssen drei Gedankenkomplexe zusammengeführt werden: erstens die kritische Auseinandersetzung Spaemanns mit der neuzeitlichen Philosophie, die seit dem dritten Kapitel Thema der hier vorgelegten Untersuchung seines Werks war; zweitens die sukzessive entwickelte metaphysische Konzeption Spaemanns, für die er im Personen-Buch die Bezeichnung ›metaphysischer Realismus‹ findet; und drittens der im Gedanken der Entdeckung fundierte Neuansatz des Denkens im Begriff der Person, der als Schlussstein dient, durch den die metaphysische Konzeption selbsttragend wird. Der in Abschnitt 8.3.1 explizierte hermeneutische Deutungsansatz der Entdeckung der Person stellt eine zweite Argumentationsebene gegenüber der systematisch orientierten ersten Ebene dar, die in Teilkapitel 8.2 auf dem Reflexionsniveau des Personenbuchs erneut betrachtet wurde und im Konzept des metaphysischen Realismus, in dem nur durch einen Sprung zur Person als Selbstsein zu gelangen ist, ihre für Spaemann letztgültige Form gefunden hat. Insofern auf der hermeneutischen Deutungsebene dieselbe Person durch die Entdeckung zu einer historischen Faktizität wird, kann durch das Ineinandergreifen der beiden Argumentationsebenen die Problematik des Sprungs überwunden werden, wenn es gelingt, die Person als entdeckte so in die systematisch orientierte Argumentation einzubinden, dass die historische Faktizität der Entdeckung das ›Metaphysische‹ an Spaemanns Ansatz hermeneutisch fundieren 60 61
Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537. Cammann, »Ich war ein Chaot«, in: Die Zeit, Nº 19/2012.
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8. Ontologie der Person
kann. Durch ein solches Ineinandergreifen der beiden Argumentationsebenen müssen gleichzeitig die im letzten Abschnitt dargelegten, im Bereich der Theologie entwickelten Implikationen des Personbegriffs – die nicht kontingente Wahrnehmung kontingenten Seins und die konstitutive Pluralität – philosophisch aufgefangen werden. Die mit dem Personbegriff verbundene Herausforderung besteht vor allem darin, dass er sich dem begrifflichen Denken zu entziehen scheint, wie im Rückgriff auf die Überlegungen zum Seinsakt am Ende des vorangegangenen Abschnitts gezeigt werden kann. Etwas in einem Begriff im engeren Sinn zu denken heißt, es als ein Mögliches zu denken, insofern seine Denkbarkeit nicht von seiner Verwirklichung abhängig ist. ›Person‹ bezeichnet aber gerade die Verwirklichung eines denkbaren Soseins. Die Person hat eine qualitativ bestimmte Natur, wobei diese Beziehung als Akt des Seins nicht begrifflich denkbar ist. Es gibt daher keine möglichen Personen 62 und kann auch im engeren Sinn keinen Begriff der Person geben. Eine philosophische Denkbarkeit kann die Person nicht aus sich selbst, sondern nur indirekt durch ihre Funktion in einem Zusammenhang erhalten, der zu ihr in einer korrelativen Beziehung steht. Die Aufgabe der folgenden Überlegungen ist daher die Entfaltung desjenigen Zusammenhangs, in dem die sich entziehende Person dadurch gedacht werden kann, dass ihre Funktion in diesem Zusammenhang gedacht wird. Das Problem des Sich-Entziehens wird durch die Betrachtung dieses Zusammenhangs metonymisch verschoben. In ihm ist das Sich-Entziehende in seinen Wirkungen präsent, wobei die Person selbst ihre Denkbarkeit als Organ der Wahrnehmung der Wirkungen dieses sich Entziehenden erhält. Dies setzt erstens voraus, dass dieser Zusammenhang, wenn er den Personbegriff fundieren soll, vor der Person bereits da gewesen und sie in ihn eingetreten sein muss, und zweitens, dass, wenn es keine potentiellen Personen gibt, dieser Zusammenhang gleichwohl durch die Entdeckung der Person verwandelt worden sein muss. Die Funktion der Person muss daher eine doppelte sein, insofern sie einerseits die reflexive Wendung auf den ihr voraufgehenden Zusammenhang darstellt und andererseits das auf diese Wendung folgende Überschreiten dieses Zusammenhangs, durch das dieser selbst im dreifachen Hegel’schen Sinn aufgehoben, also überwunden, bewahrt und auf eine neue Stufe gestellt wird. Es muss daher zunächst der der Person voraufgehende Zu62
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 78.
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
sammenhang erfasst, zweitens das Eintreten der Person in denselben vergegenwärtigt und drittens die mit der Person verbundene Verwandlung des Zusammenhangs verdeutlicht werden. Der Schlüsselbegriff der Spaemann’schen Philosophie ist ›Leben‹. ›Leben‹ bedeutet in seiner metaphysischen Konzeption ein nicht rekonstruierbares und daher unvordenkliches Prinzip der Selbstentfaltung von Sein. 63 Lebendiges Sein unterscheidet sich von nichtlebendigem durch eine nicht ohne petitio principii rekonstruierbare Negativität. 64 Im Sinne des angekündigten Versuchs der Entfaltung eines von einem Sich-Entziehenden konstituierten Zusammenhangs soll daher die These durchdacht werden, wonach das lebendige Aussein-auf Ursprung jener ontologischen Differenz zwischen Dasein und Sosein ist, um die es in der Entdeckung der Person geht. Das Leben auch von außerpersonalen Lebewesen geht nicht in einem qualitativ bestimmbaren Sosein auf, sondern ist wesentlich durch eine innere Differenz zu diesem gekennzeichnet, wobei die Erfüllung des Ausseins-auf ungeachtet der jeweiligen Einbettung in ökologische Normalität 65 kontingent ist, auch wenn diese Kontingenz ihm selbst nicht zu Bewusstsein kommt und nur für ein Wesen da ist, das selbst über die Erfahrung von Kontingenz verfügt. 66 Eine innere Verbindung zwischen der Teleologie und dem Personbegriff lässt sich somit nachweisen, wenn die ontologische Differenz von Sosein und Dasein, die im personalen Sein zu Selbstbewusstsein erwacht, schon im bloßen Leben und a fortiori im Sein selbst angelegt ist. Die genuin phiVgl. im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem die Reflexion der Bedeutung der aristotelischen Unterscheidung von finis quo und finis cuius in Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 286–291, und im Zusammenhang mit der Darlegung des metaphysisch-analogen Denkens den Gedanken eines in der teleologischen Struktur begründeten Transzendierens auf ein Diesseits des Bewusstseins, in Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 375–376. 64 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 50, u. Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 61. 65 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 204–205, u. Spaemann, Personen (1996), 54–55. 66 Vgl. die Bemerkung Spaemanns bereits in »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹«: »In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das Leben als Leben nicht kontingent ist: Leben macht ja das So-Sein des Lebendigen aus, wie wir gesehen haben. Darum hat das Lebendige bloß als Lebendiges keine Kontingenzerfahrung. Vor ihm als von einem Kontingenten sprechen heißt: von ihm als ›Seiendem‹ sprechen, und dies können nur vernünftige Wesen, die einer echten Selbsttranszendenz fähig sind.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 46. 63
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8. Ontologie der Person
losophische Fundierung des aus der Theologie übernommenen Personbegriffs kann gelingen, wenn der Zusammenhang, in dem die Person dadurch denkbar wird, dass ihre Funktion in diesem Zusammenhang denkbar ist, durch das Leben als unvordenkliches Prinzip der Entfaltung von Sein konstituiert ist. Damit hängt die Möglichkeit einer in sich konsistenten philosophischen Deutung des Personbegriffs davon ab, dass Personalität als eine Steigerung des lebendigen Ausseins-auf verstanden werden kann. Zunächst ist daher zu fragen, wie Spaemann das Verhältnis der Begriffe ›Person‹ und ›Leben‹ zueinander genau bestimmt bzw. wie er das Personsein als Steigerung des Lebendigseins begrifflich ausweisen kann, ohne dass diese Steigerung als prädikative Erweiterung des Lebensbegriffs verstanden wird. 67 Leben ist das Sein von Lebewesen, also auch von Menschen. Personen sind also lebendige Menschen. Es gibt nicht ein eigenes vom Menschsein unterschiedenes Sein von Personen, das zum Beispiel im Denken oder in bestimmten Bewußtseinszuständen bestünde. Da es keine bloß möglichen Personen gibt, kann die Existenz nicht etwas sein, das einer Person zukommen oder nicht zukommen kann. Wirkliches Denken unterscheidet sich ja von simuliertem Denken – also dem Denken von Maschinen – dadurch, daß es als Denken erlebt wird. Bewußt erlebtes personales Leben ist für uns das Paradigma von Leben überhaupt. Wir können, was nicht personales Leben ist, nur nach Analogie personalen Lebens, also durch Subtraktion verstehen. 68
Was ›Person‹ bedeutet, wird also erklärt aus dem Begriff des ›Lebens‹, wobei dieser uns wiederum gegeben ist als ›personales Leben‹. ›Person‹ als das für uns Nächstliegende ist nur verstehbar durch ›Leben‹. Spaemann betrachtet – in genauer Umkehrung der cartesischen Hypostasierung des ›cogito‹ zur Entität einer unabhängigen Seelensubstanz – den Zusammenhang zwischen beiden ausgehend von der Seite des ›Lebens‹, wobei unser Zugang zu diesem ebenso wie der zum ›Sein‹ immer ein indirekter ist:
Vgl. die einführenden Bemerkungen zum Satz des Alltagsverstandes, wonach alle Menschen Personen sind, und den aus ihm hervorgehenden begrifflichen Schwierigkeiten in Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. – Vgl. zur Trias ›Sein – Leben – Person‹ Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 560–561, Fn. 142. 68 Spaemann, Personen (1996), 78. 67
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
Leben ist das gesteigerte, oder besser das ursprüngliche, paradigmatische Sein. Sein ist ein Derivat von Leben. Den Begriff des Seins gewinnen wir ähnlich durch Subtraktion aus dem des Lebens wie den des Lebens aus dem des erlebten bewußten Lebens. Bewußtes Leben ist volles Sein. »Qui non intelligit, non perfecte vivit« 69, heißt es bei Thomas, und man könnte in Analogie dazu sagen: »Qui non vivit, non perfecte existit.« 70
›Leben‹, d. h. gesteigertes Sein als »Aussein-auf-Sein« 71, verwandelt für das Lebewesen die Welt in Umwelt. 72 Das animal rationale erlebt das Aussein-auf als Streben nach dem Guten, wobei es seine individuelle Partikularität in Richtung auf das Allgemeine überwinden kann. 73 Worin aber besteht die entsprechende Komplexitätssteigerung gegenüber dem ›Leben‹, die sich im Begriff der ›Person‹ ausdrückt? Diese Frage wirft Schwierigkeiten auf: »Ein Löwe existiert nicht und lebt außerdem, sondern er existiert, indem er und solange er lebt. Wir verfügen nicht über ein analoges Wort für das Sein von Personen. Und wenn wir es einführen wollten, würde uns dies sofort in eine kontroverse Situation führen.« 74 Spaemann denkt hierbei an die »Schule Lockes«, die »das Sein von Personen gegenüber dem Sein von Lebewesen ebenso ablöst und verselbständigt, wie wir das Sein des lebendigen Lebewesens, also sein Leben gegenüber dem bloßen Vorhandensein des Leichnams verselbständigen« 75. Eine Ablösung des Seins von Personen vom Sein von Lebewesen führt, wie oben mit Bezug auf Locke und Hume dargelegt wurde, in letzter Konsequenz zur Aufhebung von personaler Identität. 76 Demgegenüber geht es Spaemann um die Fundierung des Personseins im vorbewussten Erleben, die, wie oben gezeigt wurde, im Rahmen des metaphysisch-analogen Denkens durch eine doppelte Negation erreicht wird. Während der erste Schritt der Negation in der Entstehung der InnenSpaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin: In Eth. ad Nic. lib. IX, lect. 11, nr. 1902. – Spaemann, Personen (1996), 268. 70 Ebd. 80. 71 Vgl. ebd. 119, 168. 72 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 111, 119, 146, 229–230. 73 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 28. 74 Ebd. 40. 75 Ebd. 76 Vgl. zum Zusammenhang von Vernunft und Leben Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 457–467, und zur angedeuteten Konsequenz die Ausführungen zum Denken Lockes und Humes in Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537. 69
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8. Ontologie der Person
Außen-Differenz für ein lebendiges Wesen bzw. eines autopoietischen Systems und seiner als teleologische Struktur fassbaren Seele besteht, führt zum analogen Begriff der Person in einem zweiten Schritt der Negation das Transzendieren der Innen-Außen-Differenz durch den im Denken eröffneten ›Blick von nirgendwo‹. 77 Insofern für die in der zweiten Negation erreichte Position die erste Negation konstitutiv bleibt, lässt sich Personsein nicht vom Lebendigsein ablösen, sondern besteht in einem Verhältnis zu diesem. Die Komplexitätssteigerung vom Begriff ›Leben‹ zum Begriff ›Person‹ besteht damit in der reflexiven Wendung auf das, was als Aussein-auf in der Natur immer schon vorausgesetzt ist, und im Transzendieren der Innen-Außen-Differenz, die Lebendiges zum Zentrum seiner Welt macht, wodurch sich der ›Blick von nirgendwo‹ eröffnet. Der teleologisches Denken und Personenphilosophie verbindende Gedanke besteht also darin, dass das lebendige Aussein-auf als metaphysisches Prinzip Personalität fundiert, wobei die Person selbst die reflexive Wendung auf dieses Aussein-auf und sein Transzendieren ist, durch das der teleologische Zusammenhang als Ausdruck der ontologischen Differenz von Dasein und Sosein überhaupt erst bewusst wird. Dass dieser Argumentation eine gewisse Zirkularität anhaftet, ist kein Argument gegen sie. Unter der Voraussetzung, dass das Aussein-auf eine Präformation der ontologischen Differenz von Dasein und Sosein ist, ist es ein folgerichtiger Gedanke, dass die Erkenntnis dieses Zusammenhangs nur durch die reflexive Wendung eines Wesens denkbar ist, das, Aussein-auf bleibend, gleichzeitig dieses transzendiert, dass die im Aussein-auf angelegte ontologische Differenz nur in seinem Transzendieren entdeckt werden kann. Der Schritt vom Aussein-auf zur Personalität soll nun näher betrachtet werden, um zu klären, wie das Eintreten der Person in den ihr voraufgehenden Zusammenhang zu denken ist. Die reflexive Wendung auf das Aussein-auf beschreibt Spaemann in »Glück und Wohlwollen« als das Sichtbarwerden des Selbst als ›bewandtnisloses Umwillen‹. 78 Dieses »Erwachen zur Wirklichkeit« 79 entspricht der ›Entdeckung der Person‹, in der die »fundamentale Entscheidung« 80 fällt,
Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 553. Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479, u. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 123–128. 79 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 124. 80 Spaemann, Personen (1996), 216. 77 78
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
ob eine Rückwendung in die bloße Natürlichkeit stattfindet oder die Wirklichkeit einen Akt absoluter Selbsttranszendenz bewirkt. Der zweiten Motivation zu folgen bedeutet, dass das natürliche Transzendieren – also das lebendige Aussein-auf – selbst noch einmal transzendiert wird. Dieses Transzendieren ist nicht mehr Natur – »das Herz in diesem Verständnis ist nicht Natur« 81 – und doch ist es von ihr nicht ablösbar, denn die »Person verfügt nicht über ein eigenes Energiepotential, das sie gegenüber dem ›natürlichen‹ Potential aktivieren« 82 könnte. Diesen nur als Paradoxie fassbaren Zusammenhang von Naturteleologie und Personalität hatte Spaemann bereits in »Das Natürliche und das Vernünftige« antizipiert: »Vernunft ist nicht identisch mit Natur. Aber erst das Vernünftige ist auch das An-denTag-Kommen der Wahrheit über das Natürliche, und dieses An-denTag-Kommen liegt selbst in der Teleologie der Natur.« 83 Die Weiterentwicklung dieses Gedankens in »Personen« kann auf folgende Formel gebracht werden: Das Aussein-auf wird durch die reflexive Wendung an den Punkt geführt, an dem das natürliche Transzendieren selbst transzendiert werden kann, indem der personale Ort erreicht wird, der nicht mehr Natur und gleichwohl nur aus der Differenz zur Natur bestimmbar ist, insofern in ihm das natürliche Aussein-auf erinnert und in eine reflektierte Form überführt wird. Um dem in dieser abstrakten Formel ausgedrückten Zusammenhang von Teleologie und Personalität zwingende Evidenz zu verleihen, formuliert Spaemann als advocatus diaboli einen Einwand, der nur vordergründig auf die reduktionistische These der Simulierbarkeit von Leben anspielt, in dem es eigentlich, wie gezeigt werden soll, um den Anfang einer Beweisführung geht, die auf eine epistemologische Schlussfolgerung zielt: Wenn das Sein von Personen das Leben von Menschen ist, welchen Sinn hat es zu sagen, der Mensch in meinem Traum sei zwar ein Mensch, aber nicht lebendig gewesen? Er war doch kein Toter. Der Löwe im Kino ist doch offensichtlich lebendig, wenn er auch nicht wirklich ist. Gehört nicht Leben noch zum Bereich des Phänomens,
Spaemann, Personen (1996), 29–30. Ebd. 233. 83 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. – Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 389. 81 82
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8. Ontologie der Person
und können wir nicht auch mit Bezug auf Leben mögliches und wirkliches Leben unterscheiden? 84
Die Frage, die damit aufgeworfen wird, besteht darin, »ob Leben zum Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses Soseins meint« 85, ob es Eigenschaft eines Seienden oder Akt des Seins ist. Nur im letzten Fall kann im Sinne des metaphysisch-analogen Denkens das Sein der Person als Steigerung des Lebens gedacht und der aus der Theologie übernommene Begriff der Person metaphysisch fundiert werden. Wenn ›Leben‹ nicht immer wirklich ist, sondern als mögliches denkbar ist, scheitert die Fundierung des Personbegriffs im lebendigen Aussein-auf. Auffällig ist nun aber, dass Spaemann diesen Einwand des Reduktionismus in eine Form kleidet, in der mit der Traumerscheinung und der Kinofiktion sehr spezifische Wahrnehmungsweisen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Offensichtlich geht es ihm gar nicht um den prinzipiellen reduktionistischen Einwand, dass Leben nicht von seiner Simulation zu unterscheiden ist, sondern um die Frage, ob diese spezifischen Wahrnehmungsweisen zu dem reduktionistischen Schluss nötigen. Diese Lesart wird dadurch bestätigt, dass er als Antwort auf die gestellten Fragen nicht in eine Diskussion des Reduktionismus eintritt, sondern vielmehr die Wahrnehmungsweise im Hinblick auf phänomenal gegebene Wirklichkeit untersucht. Seinem eigenen auf die Beispiele der Traumerscheinung bzw. der Kinofiktion hinweisenden Einwand stellt Spaemann folgende Differenzierung des Lebensbegriffs entgegen: Alles Lebendige gehört einer Art an und hat eine Gestalt. Biologische Arten sind »Weisen« des Lebens, so wie generell Wesenheiten, Soseinsformen, Weisen des Seins sind. Diese Weisen lassen sich von ihrem Vollzug abstrahieren und als ideelle Wesenheiten denken, die verwirklicht oder nicht verwirklicht sein können, so wie musikalische »Weisen« von ihrer tatsächlichen Aufführung ablösbar und zum Beispiel schriftlich fixierbar und reproduzierbar sind. Weisen des Seins sind Möglichkeiten, Sein ist Wirklichkeit. Ein geträumtes oder im Film gezeigtes Tier ist eine Weise des Lebens, mit Bezug auf die wir fragen können, ob sie wirklich gelebt wird. Leben gehört zu ihrem Begriff, aber wir können aus diesem Begriff nicht ihr wirkliches Gelebtwerden ableiten. Auch ein bestimmter Löwe kann als Weise des 84 85
Spaemann, Personen (1996), 78–79. Ebd. 80.
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
Lebens nur so aussehen, als ob er lebte. Leben als solches kann nicht sein oder nicht sein. Es ist Sein. 86
Die hier entwickelte Unterscheidung zwischen ablösbaren Weisen des Seins bzw. des Lebens und dem Leben bzw. dem Sein selbst blendet den reduktionistischen Einwand aus und fragt stattdessen nach dem Subjekt dieser spezifischen Wahrnehmungsweisen, für das die Unterscheidung zwischen Wirklichem und Unwirklichem von Bedeutung ist. Wer erinnert Träume und schafft fiktive Welten? »Wer Wiederkehr in Träumen weiss,/ den dämmt kein sterbliches Gefüge« 87 –, dichtete 1940 Gottfried Benn und fand damit einen Ausdruck für den spezifisch personalen Zugang zur Welt. Durch die in der Selbsterfahrung fundierte Fähigkeit der Person, zu allem phänomenal Gegebenen auf Distanz zu gehen, eröffnet sich ihr ein Spielraum des Umgangs mit ›Weisen des Lebens‹, der im Sich-Beziehen auf Traumerscheinungen beginnt und in den fiktionalen Welten der Künste ihren paradigmatischen Ausdruck findet. 88 Gegenüber dem phänomenal Gegebenen scheint daher ein Agnostizismus die einzige konsequente Haltung zu sein. »Alles Qualitative, alles Phänomenale ist simulierbar.« 89 Zugleich aber gilt, dass das Phänomenale über sich hinausweisen kann auf etwas, »das sich zeigt und sich zugleich verbirgt« 90. Es gibt kein Kriterium, um das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden 91, sondern nur die Auflösung von Täuschungen, also beispielsweise das Erwachen aus dem Traum oder das wiederkehrende Bewusstsein, einen Kinofilm zu sehen. Hier erhält nun die Entscheidung des ›Herzens‹, »welcher der beiden Motivationen wir folgen« 92 – der »Selbstbehauptung« oder der »Selbsttranszendenz« 93 –, ihre philosophische Deutung. Wenn man nicht die extreme Konsequenz des Solipsismus wählt, 94 in der alles phänomenal Gegebene Spaemann, Personen (1996), 80–81. Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, 293. 88 Vgl. im Kapitel »Fiktion« – Spaemann, Personen (1996), 91–101: »Menschen erweisen sich darin als Personen, daß sie die Welt der Zeichen vom Bezeichneten unterscheiden und deshalb über sie auf freiere Weise verfügen als über Dinge, die ohne uns sind, wie sie sind.« – Ebd. 97. 89 Spaemann, Personen (1996), 88. 90 Ebd. 89. 91 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189–190. 92 Spaemann, Personen (1996), 216. 93 Ebd. 214. 94 Vgl.: »Die Entscheidung gegen den Solipsismus aber ist und bleibt eine metaphy86 87
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8. Ontologie der Person
als reines Für-mich aufgefasst wird, sondern etwas anerkennt, für das gilt, dass man seinerseits zugleich für dieses ist, wenn man also Sein in irgendeiner Form anerkennt, ergibt sich jene perspektivische Inversion, um die es Spaemann in diesem Gedankengang geht. Die den Solipsismus sprengende Anerkennung von Sein zwingt zu einer perspektivischen Umkehr, insofern das phänomenal Gegebene, über das wir uns immer täuschen können, auf das hin betrachtet wird, was sich in seinem Erscheinen verbirgt. Diese Sicht sprengt das subjektphilosophische Paradigma, das noch in der Rede vom Seinsakt wirksam ist: 95 Die Vorstellung vom Sein als Akt, der einem Wesen zukommt, hat die logische Schwierigkeit, immer schon die Wirklichkeit dessen vorauszusetzen, dessen Akt das Sein ist. So werden wir dazu geführt, umgekehrt Wesenheiten zu denken als »Weisen zu sein«. Endliches Sein ist nur als Seinsweise. Die Weise hat nicht Sein, sondern das Sein hat sie. 96
Durch die perspektivische Inversion wird die Wahrnehmung von Substanzen unter den Bedingungen des neuzeitlichen Subjekt-Wechsels möglich. Dass das prinzipiell nicht phänomenal gegebene Sein die von uns im Denken und Vorstellen ablösbaren Weisen des Seins hat, dass dieses Nicht-Gegebene die Substanz der phänomenal gegebenen Weisen zu sein ist, spiegelt in der Welt des Seienden bzw. nichtpersonalen Lebendigen die spezifisch personale Wahrnehmung in negativer Form wider, insofern die ablösbaren ›Weisen des Seins‹ mit der ›gehabten Natur‹ korrelieren, das personale ›Haben einer Natur‹ aber mit der im Zeigen sich verbergenden Substanz. Diese Inversion der Wahrnehmung ist die epistemologische Spur der Entdeckung der Person, durch die sie präsent bleibt selbst in ihrer Abwesenheit. In dieser Inversion zeigt sich das Eintreten der Person in den ihr voraufgehenden Zusammenhang des Ausseins-auf.
sische Entscheidung. Es ist die metaphysische Entscheidung.« – Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248. 95 Vgl.: »Allerdings sind alle diese Redeweisen paradox. Sie sprechen vom Existieren wie von einer Tätigkeit, die von Subjekten ausgeübt wird. Aber um eine Tätigkeit auszuüben, muß ein Subjekt ja schon existieren. Bei der ›Tätigkeit‹ des Existierens scheint es vielmehr so zu sein, daß sie es ist, die das Existierende sein läßt. So daß wir eher sagen können: das, was existiert, ist eine Weise zu sein.« – Spaemann, Personen (1996), 40. 96 Spaemann, Personen (1996), 82.
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
In der personalen Wahrnehmung von Seiendem und nichtpersonalem Lebendigen spiegelt sich die Selbstwahrnehmung der Person. Ganz zu sich selbst kommen Personen jedoch erst im Ereignis der interpersonalen Begegnung, in dem die Ablösbarkeit der ›Weisen des Seins‹ vom Vollzug der Existenz vollständig überwunden wird: »Von nichtpersonalem Leben unterscheidet sich personales Leben dadurch, daß wir es nicht als ›Weise des Lebens‹ beschreiben können.« 97 Der prinzipielle Unterschied zu allem nichtpersonalen Leben, der durch den eine rein numerische Identität bezeichnenden Personbegriff gesetzt ist, besteht darin, dass dieser nur eine Distanz zu einem Sosein ausdrückt und diese Distanz entweder ist oder nicht ist, aber nicht simuliert werden kann. Es gibt nicht die Alternative zwischen einem wirklichen und einem möglichen Jemand, sondern nur die zwischen ›jemand‹ und ›etwas‹ : »Der Mensch, mit dem ich im Traum zusammen war, bleibt nach dem Aufwachen das, was er war, nämlich ein Mensch. Aber er war, wie sich zeigt, keine Person.« 98 Erst in der wirklichen Begegnung von Personen ist der Mensch, wie Spaemann bereits in »Glück und Wohlwollen« schrieb, der »Ort der Erscheinung des Seins« 99. Die Person ist die Stufe der Entwicklung des Seins, auf der das natürliche Aussein-auf-Sein transzendiert wird und zugleich Sein in der »Wirklichkeit des Bildes« 100 zuallererst erscheint. Den ihr voraufgehenden teleologischen Zusammenhang transzendiert die Person durch das Bewusstsein von Kontingenz, also dadurch, dass sie ihren »Vollzug des Existierens« unterscheidet »von dem, was da existiert« 101: Nur Personen wissen von ihrer Kontingenz und, wenn sie sich in ihrer Bedingtheit durch die Welt als ganze begreifen, von der Kontingenz der Welt. Aber der Ort, von wo aus sie diese Kontingenz wahrnehmen, kann weder dem Sosein noch dem Dasein zugeordnet werden. Personen sind nicht Wesenheiten, die darüber staunen zu existieren. Sie sind überhaupt nicht Wesenheiten, sondern sie verhalten sich zu ihrem Sosein. Sie erfahren gerade dieses ihr Sosein als kontingent. Andererseits sind sie nicht das »Sein selbst«, das sich in endlichen Weisen des Seins entäußert, sie sind nicht das Absolute, weil sie überSpaemann, Personen (1996), 81. Ebd. 78. 99 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137. – Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 475. 100 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137. 101 Spaemann, Personen (1996), 40. 97 98
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8. Ontologie der Person
haupt nur sind, sofern sie ein Wesen, ein endliches Sosein, eine Natur haben. Ihre Kontingenzerfahrung ist ein Blick von nirgendwo, Personalität eine Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem. Dieser Indifferenzpunkt ist das, was wir Freiheit nennen, also ein Nichtbestimmtsein durch das Gesamt dessen, was jemand ist, und damit die Möglichkeit, alles zur »Weise« gewordene, also die ganze Geschichte, erneut zu distanzieren, aber dies nicht aus der positiven Kraft eines eigenen Energiepotentials oder einer eigenen Struktur, von denen aus sich andere Präferenzen ergäben als diejenigen, die in der eigenen Natur vorgezeichnet sind. Sonst wäre ja Freiheit selbst wieder eine Natur vor der Natur, ein Sosein, das Entscheidungen aus eigener Vollmacht determinierte. Der Indifferenzpunkt der Freiheit ist der personale Ort, von dem aus es immer prinzipiell möglich erscheint, das eigene Denken und Wollen könnte nur das eigene Denken und Wollen als eine Idiosynkrasie sein. Nur zusammen mit diesem Bewußtsein bleibt die Transzendenz in der Bewegung, die auf Sein als das Jenseits des Gedankens geht. 102
Hier wird nun gleich durch eine Vielzahl von Varianten – ›Blick von nirgendwo‹, ›Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem‹, ›Indifferenzpunkt der Freiheit‹, ›personaler Ort‹ – der Punkt benannt, an den die doppelte Negation, das Transzendieren des natürlichen Ausseins-auf geführt hat. Von diesem Punkt aus enthüllt sich im Rückblick die ›Kontingenz der Welt‹, womit der Anspruch verbunden ist, dass sich in diesem ›Blick von nirgendwo‹ die Wahrheit auch des der Personalität voraufliegenden Zusammenhangs noch enthüllt. Bevor die mit dem Eintreten der Person verbundene Verwandlung dieses Zusammenhangs abschließend zu fassen versucht wird, sind noch einige Bemerkungen zur impliziten Auseinandersetzung Spaemanns mit dem in Descartes’ Meditationen entwickelten Neuansatz der Philosophie in dem zitierten Absatz zu machen. Dass der ›personale Ort‹ mit der Möglichkeit des ›eigenen Denkens und Wollens als Idiosynkrasie‹ verbunden wird, unterstreicht noch einmal, dass Descartes, wie oben dargelegt wurde, in seinem Ansatz wesentliche Charakteristika der Person freigelegt hat. 103 Die Person sieht sich stets der Möglichkeit ausgesetzt, einer Täuschung zu erliegen, wobei gerade dieses Bewusstsein Antrieb ist, sich zum eigenen Sosein zu verhalten. Die nach Spaemann falsche Spaemann, Personen (1996), 82–83. Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–527 u. 534–536. 102 103
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
Deutung dieser Charakteristika durch die Hypostasierung des personalen Ortes zur Entität eines geistigen ›Selbst‹ führt zu jener ›Natur vor der Natur‹, die in den einführenden Überlegungen als ›unbestimmte Bestimmtheit‹ bezeichnet wurde. 104 Die damit verbundene cartesische Theologisierung der Ontologie vermeidet Spaemann, indem der ›personale Ort‹ als Transzendieren der Innen-Außen-Differenz eines Lebewesens seine Fundierung in der Teleologie bewahrt, auch wenn der Gedankengang mit der Bestimmung der Personalität als ›Schwebe zwischen Absolutem und Endlichem‹ an eine Grenze des philosophisch Denkbaren rührt. 105 Der implizite Hinweis auf einen als ewige Selbstvermittlung, d. h. als Leben, gedachten Gott 106 ist jedoch nicht konstitutiv für die genuin philosophische Argumentation, in deren Mittelpunkt der Zusammenhang von Teleologie und Personalität steht, der nun als Fazit der Überlegungen in diesem Abschnitt rekapituliert werden soll. Das Sich-Entziehende in dem Zusammenhang, von dem eingangs die Rede war, in dem die Person dadurch denkbar wird, dass ihre Funktion in ihm gedacht werden kann, ist das ›Leben‹ als ›paradigmatisches Sein‹, das als Aussein-auf auf analoge Weise in allen Lebewesen wirkt. 107 Bewusstes Leben ist Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 521. Es geht bei dieser ›Schwebe‹ um die im Denken erreichbare Distanz zum gegebenen, qualitativ bestimmbaren Sosein, die nicht in dem Sinn verfügbar ist, dass über sie andere als rein negative Bestimmungen aufgestellt werden können. Eine Argumentation, die diesen Punkt als reine Idiosynkrasie herauszustellen versucht, verstrickt sich in Widersprüche, da wir, wenn es sich um Idiosynkrasie handelte, davon nichts wissen könnten, der Idiosynkrasiegedanke also selbst ein Argument für die Existenz dieses Punktes ist. Jeder Versuch einer positiven Bestimmung dieses Punktes muss in irgendeiner Weise mit dem Absoluten ein begrifflich Unverfügbares in die Argumentation einbeziehen. Spaemanns Argumentation zeigt aber, dass ein solcher spekulativer Gedankengang nicht notwendig ist, um im Rahmen philosophischer Reflexion diesen Punkt zu erreichen. Jeder Versuch, das Ganze zu denken, müsste dagegen in eine religiöse Reflexion führen. In diesem Sinne ist der Gedanke der ›Schwebe‹ anschlussfähig an das religiöse Denken, selbst aber ein genuin philosophischer Gedanke. 106 Vgl.: »Die drei ›Hypostasen‹ der Gottheit aber, wie die Griechen sagten, sollten bloß numerisch unterschieden sein. Die unendliche Mächtigkeit des Einen erlaubt keine Vervielfältigung, sondern nur eine innere Differenzierung, aufgrund deren diese Einheit nun als Prozeß der Selbstvermittlung, als ewiges Geschehen der Einigung gedacht wird, mit anderen Worten: als Leben.« – Spaemann, Personen (1996), 34–35. 107 Wie oben im Kontext der aristotelischen Fassung der Teleologie bemerkt wurde, darf dabei keinesfalls an einen universalteleologischen Zusammenhang gedacht werden, dessen Behauptung vielmehr einen wesentlichen Schritt zur neuzeitlichen Entteleologisierung darstellte. – Vgl. dazu Abschnitt 5.2.2, Aristoteles. Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 229–230, u. Abschnitt 5.2.4, Die Teleologie und 104 105
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8. Ontologie der Person
volles Sein, das noch einer weiteren Steigerung fähig ist in der Personalität. Die Entdeckung der Person bedeutet, dass Vernunft nicht länger Organ des Allgemeinen ist, sondern dass in der reflexiven Wendung die Vernunft als individuelle ihrer selbst bewusst wird und sie im Bewusstsein ihrer Partikularität eine Selbsttranszendenz vollzieht, durch die das Allgemeine zuallererst personal gefasst wird, also Personen selbst das Allgemeine werden, »Totalitäten, im Verhältnis zu denen alles Teil ist« 108. Diese Steigerung zum ›personalen Ort‹ bezeichnet keinen festen Standpunkt, sondern einen ›Blick von nirgendwo‹, der sich nun zurück auf den teleologischen Zusammenhang richten lässt, in den die Person dadurch eingetreten ist, dass sie ihn transzendiert und im dreifachen Sinn aufgehoben hat. Die Person hat den teleologischen Zusammenhang überwunden, insofern ihr Transzendieren der Natur selbst nicht mehr Natur ist. Sie bewahrt den Zusammenhang, insofern sie über kein eigenes Energiepotential verfügt, sondern Personalität nur ein Verhältnis zu dem von seiner Verwirklichung unabhängigen, also als potentiell erlebten teleologischen ›forma dat esse‹ ist. 109 Sie hebt den Zusammenhang drittens auf eine neue Stufe, insofern im Transzendieren der Natur die Wahrheit über das Natürliche erst zu Tage kommt. 110 Personalität ist ein Paradigma der Weltwahrnehmung, das im interpersonalen Begegnungsgeschehen erst ganz zu sich kommt, durch das aber, einmal entdeckt, die Differenz zwischen dem gegebenen Sosein und dem im Erscheinen sich verbergenden Sein sich in Abstufungen auch im nichtpersonalen Lebendigen und im nichtlebendigen Seienden enthüllt. Die Funktion der Person in dem durch sie verwandelten Zusammenhang besteht sowohl darin, dass die im Sein angelegte ontologische Differenz erst durch sie zu Bewusstsein kommt, als auch darin, dass Sein in ihr zuallererst als Sein in Erscheinung tritt. Denkbar wird ›Person‹ also nur zusammen mit ›Leben‹ und ›Sein‹ als analoge Begriffe, deren Gemeinsamkeit die ontologische Differenz von Sosein und Dasein ihre Umbildungen: Universalteleologie und invertierte Teleologie, 242–243. – Es geht hier wesentlich um eine individualteleologische Konzeption. 108 Spaemann, Personen (1996), 29. – Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 8.3.1, Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 570–574. 109 Vgl. Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins, 580–582. 110 Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 389.
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
bzw. Essenz und Existenz ist, die uns in der personalen Wahrnehmung als ›Blick von nirgendwo‹ gegeben ist, im nichtpersonalen Lebendigen aber als Aussein-auf und im nichtlebendigen Seienden als im Erscheinen sich verbergendes Sein Korrelat eines Aktes der Anerkennung ist. 111 Die Ausführungen in diesem Abschnitt verfolgten das Ziel, die genuin philosophische Denkbarkeit des aus der Theologie übernommenen Begriffs der Person darzulegen. Die von Spaemann für das neuzeitliche Denken diagnostizierte »Personvergessenheit« 112 zeugt nun davon, dass neben dieser theoretischen Problematik der Personbegriff auch Thema der praktischen Philosophie ist. Schon in der Einleitung zu diesem Teilkapitel war die Rede von der Doppeldeutigkeit der Person, die als Entdecktes eine Aktualisierung des antiken Denkens und als Entdeckung das historische Ereignis bezeichnet, aus dem sich die Notwendigkeit neuzeitlicher Aktualisierungen erst ergibt. Für die praktische Philosophie stellt sich damit die Frage, wie die Person als entdeckte latent sein kann, wie die Präsenz der Personalität zu denken ist für diejenigen, die ihren Platz im Raum der Personen nicht 111 Da Eduard Zwierlein das Teleologiekonzept Spaemanns 1987 ohne Kenntnis des Personen-Buchs und somit des hier explizierten Zusammenhangs der Ontologie der Person durchdenkt, gelangt er zu einer prinzipiellen Deutungsschwierigkeit: »Der Mensch sucht zunächst in einem kontinuierlichen, zäsurfreien Deutungsschema in fortgesetzter Reflexion jede Erscheinung als teleologisch in Analogie zur Selbstwahrnehmung zu verstehen und verwendet also die menschliche Handlung tendenziell als Schema einer paradigmatischen Universalextrapolation.« – Zwierlein, Das höchste Paradigma des Seienden, 126. – Da diese Extrapolation nach Zwierlein an die Eindrucksqualität lebendiger Prozesse gebunden ist, liegt das Anorganisch-Tote jenseits der Grenze möglicher Extrapolation: »Die genannte Extrapolationsgrenze scheint Spaemann mit Hilfe des Gottesbegriffs überwinden zu wollen. Eine teleologische Universalextrapolation müßte sich demnach für ihren abschließenden Verstehenshorizont auf ein theologisches Teleologiekonzept gründen.« – Ebd. 127. – Unter der Voraussetzung einer solchen theologisierenden Deutung der Spaemann’schen Teleologiekonzeption ergibt sich dann für Zwierlein eine »Problemverdopplung«, da die Einbeziehung des Gottesbegriffs zum klassischen Theodizee-Problem führen muss: »Im Rückgriff auf den Gottesbegriff der Synthesis von Sein und Sinn würde sich der Mensch daher den Verbund von Kausalität und Teleologie, die Problematik des Anorganisch-Toten und die Unbegreiflichkeit seiner eigenen Zweiheit begreiflich machen wollen an Hand einer noch größeren Unbegreiflichkeit.« – Ebd. 129. – Der von Zwierlein konstatierte »logische Anthropomorphismus des teleologischen Verstehens« – ebd. – kann nach meinem Dafürhalten nur überwunden werden, wenn Spaemanns Teleologiekonzept mit der hier explizierten Ontologie der Person in Zusammenhang gesetzt wird. 112 Spaemann, Personen (1996), 106.
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8. Ontologie der Person
wahrnehmen. Spaemann spricht vom »apriorischen Beziehungsraum« 113 der Personen, der sich mit dem Ereignis ihrer Entdeckung eröffnet hat. ›Apriorisch‹ nennt er diesen deswegen, weil er aus der Untersuchung der menschlichen Vernunft und ihres Weltzugangs gewonnen ist, auch wenn er sich auf die Vernunft in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung – nach der Entdeckung der Person – bezieht. Die Konstitution dieses ›apriorischen Beziehungsraums‹ bedeutet, dass nach der Entdeckung der Person eine Öffnung zur Welt aus individueller Sicht nur unter den Bedingungen der Personalität möglich ist. Sie bedeutet nicht, dass diese Öffnung selbst erzwungen wird oder dass es keine Alternative zum Eintritt in den personalen Raum gibt. »Der Eintritt in den personalen Raum ist«, wie Spaemann unterstreicht, »eine metabasis eis allo genos, also der Schritt in eine ganz neue Art der Beziehung« 114. Es geht bei diesem Schritt um die Negation der lebendigen Zentriertheit und die Wahrnehmung anderer Zentren der Bedeutsamkeit, die in einem reziproken Begegnungsgeschehen Selbstsein auf beiden Seiten hervortreten lassen. Als logische Konsequenz ergibt sich aus diesem Gedanken, dass die μετάβασις im Sinne der Doppeldeutigkeit der Person als Entdecktes und Entdeckung selbst doppeldeutig sein muss. Sie bezeichnet einerseits ein geschichtliches Ereignis, andererseits aber einen individuell immer neu zu leistenden Schritt. Es gibt ein ursprüngliches Hervorgehen der Personen aus dem apriorischen Beziehungsraum und eine immer wieder neu zu leistende Wahrnehmung des eigenen Ortes in diesem Beziehungsraum. Das geschichtliche Ereignis der Entdeckung ist die Entstehung des ›apriorischen Beziehungsraums‹ und des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie, der individuelle Eintritt in diesen Raum dagegen bedeutet, auch wenn er nicht den Charakter eines Bruches haben muss, 115 vom Ideal der certa cognitio aus betrachtet immer einen Sprung, da das ›esse‹ von Personen nicht in ihrem ›percipi‹ aufgeht und die »Anerkennung von Selbstsein […] immer ein Akt der Freiheit« 116 ist. Allerdings ergibt sich aus der herSpaemann, Personen (1996), 196. Ebd. 197. 115 Vgl.: »Das muß nicht heißen, daß dieser Schritt den Charakter eines Bruches hat. Schon die natürliche Egozentrik ist ja nicht egoistisch, sondern enthält eine Tendenz zur Selbstüberschreitung. Der amor benevolentiae kann sich so unmittelbar aus dem amor concupiscentiae entwickeln, daß der Eindruck eines Kontinuums entsteht.« – Ebd. 197. 116 Ebd. 191. 113 114
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
meneutischen Fundierung des hier dargelegten Zusammenhangs von Personalität und Teleologie im Ereignis der Entdeckung nun auch eine Rückwirkung auf dieses praktische Problem des Sprungs. Dass das historisch-kontingente Faktum der Entdeckung der Person sich philosophisch denken lässt als epistemologische Spur in der personalen, d. h. die extreme Konsequenz des Solipsismus vermeidenden Weltwahrnehmung, 117 beruht auf der im Aussein-auf der lebendigen Natur fundierten ontologischen Differenz, durch die sich ein analoger Zusammenhang zeigt, der einen Rückschluss erlaubt von der personalen Selbsterfahrung auf die analogen Begriffe ›Leben‹ und ›Sein‹. Die Analogizität der Begriffe von Sein, Leben und Person führt in Verbindung mit der Fundierung des Personbegriffs im Ereignis der Entdeckung die Überlegung an den Punkt, an dem die Beweisforderung der certa cognitio suspendiert und der metaphysische Realismus selbsttragend wird. Die Doppeldeutigkeit der Person als Entdeckung und Entdecktes und der μετάβασις als geschichtliches Ereignis und individuelle Aufgabe eröffnet damit, so das Ergebnis der Überlegungen in diesem Teilkapitel, durch ihr eindeutiges Fundierungsverhältnis die Möglichkeit, die Problematik des Sprungs, an die seit dem sechsten Kapitel das Nachdenken immer wieder herangeführt hat, hinter sich zu lassen und ausgehend vom personalen Ort, dem ›Haben einer Natur‹, Grundzüge einer positiven Philosophie zu entwickeln, denen sich die Untersuchung im nun folgenden Unterkapitel zuwendet. 118 117 Mit Bezug auf die Ausführungen zum Problem des Sprungs im Bereich der praktischen Philosophie – vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396–397 – lässt sich im Rückblick folgern, dass die epistemologische Spur der Entdeckung der Person in der personalen Wahrnehmung jene neuzeitliche Aktualisierung des aristotelischen θύραθεν-Gedankens darstellt, deren Fehlen dort beklagt wurde. – Vgl. dazu auch Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit (2009), 146–147. 118 Vgl. zum Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit in einer positiven Philosophie und zu deren Aufgabe: »Um festzustellen, dass die Dinge so, wie sie die Vernunft ableitet, tatsächlich existieren, ist die Vernunft auf die Erfahrung angewiesen. Aber selbst, wenn sich die Dinge, so wie sie apriorisch als möglich erkannt worden sind, in der Erfahrung verifizieren ließen, wären die Dinge in ihrem Dasssein nicht von der Vernunft selbst hervorgebracht. Die Vernunft muss vielmehr erkennen, dass die in ihrem Wirklichsein hervorgebrachten Dinge wiederum nur einer ursprünglicheren Wirklichkeit entsprungen sein können, die jedenfalls nicht die Vernunft selbst ist. Die Reflexion auf diese ontologische Differenz zwischen der Vernunft und einer sie begründenden und nicht in ihr selbst aufgehenden Wirklichkeit führt die Vernunft über sich selbst hinaus. Das Konzept der Vernunftwissenschaft, in der alles, was exis-
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8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung
Im folgenden Teilkapitel wird die Reflexion des Verhältnisses des Menschen zu seiner Natur auf einer Stufe fortgeführt, zu der ein prinzipieller Perspektivenwechsel geführt hat. Die Perspektive der Person als neuer Ausgangspunkt der Betrachtung ist fundiert im kontingent-faktischen Ereignis der Entdeckung und die unerfüllbare Forderung nach ihrer Rekonstruktion, die zum Problem des Sprungs geführt hatte, dadurch überwunden. Das heißt nicht, dass sich an der im Zusammenhang mit dem metaphysischen Realismus erörterten Problematik etwas geändert hätte: Das Denken kann sich selbst jederzeit dadurch absolut setzen, dass es seine eigene Bedingtheit ignoriert und die autonome Vernunft, von der zur Person immer nur ein Sprung führt, zum Ausgangspunkt des Denkens macht. Dieses Denken ist zwar, wie gesehen wurde, dadurch selbstwidersprüchlich, dass aus der hypostasierten Entität des instantanen ›cogito‹ keine personale Identität hervorgehen kann und sie sich gegenüber der ›gehabten Natur‹ als komplementäres Zerfallsprodukt eines teleologischen Verständnisses des Menschen ausweisen lässt; nichtsdestoweniger kann sich das Denken auf diese Weise immer aus dem personalen Zusammenhang herausreflektieren und so vom ›Haben einer Natur‹ auf die Dialektik von autonomer Vernunft und ›gehabter Natur‹ zurückfallen. Nur der Verzicht auf diese Reflexion macht den folgenden Gedankengang möglich. 1 Entscheidend ist, dass dieser Verzicht wieder tiert, in der Vernunft begriffen ist, bedarf also selbst der Begründung in einer Wirklichkeit, die das Wirklichsein der von der Vernunft erkannten Dinge und damit das Wirklichsein der Vernunft selbst verbürgt.« – Meier, Transzendenz der Vernunft und Wirklichkeit Gottes, 103. – In diesem Sinne gehen die Ausführungen des nächsten Teilkapitels über die Problematik des Sprungs hinaus und von der Wirklichkeit der Personen aus. Die Überlegung setzt als positive Philosophie »mit dem, was allem Denken schlechterdings transzendent ist, neu ein«: »Sie setzt an mit der absolut außerhalb der Vernunft stehenden Wirklichkeit, die diese sich in ihrem Selbstvollzug voraussetzen muss. Da in dieser Wirklichkeit nichts von der Potentialität der Vernunft ist, kann sie nur als das bloß Seiende, das nur Existierende verstanden werden.« – Ebd. 104. 1 Dabei kann allerdings aus dem Gedankengang selbst wieder eine Argumentation entwickelt werden, die einen solchen Verzicht auf Reflexion nachträglich rechtfertigt. – Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens: Gewissen und Versprechen, 613–624.
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8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung
wohl begründet ist, wobei die Begründung nicht deduziert werden kann, sondern auf dem kontingent-faktischen Ereignis der Entdeckung aufbaut, das selbst für das Denken bedeutend wird. Die Person kann – einmal geworden – in ihrer Genealogie gedacht werden. Sich selbst als Person zu denken, heißt daher, den Zusammenhang zu denken, aus dem sie hervorgeht. Dies war die Aufgabe von Abschnitt 8.3.3, in dem der Zusammenhang von Teleologie und Personalität expliziert wurde. Eine Weiterführung dieser Überlegungen muss den Weg bahnen zu einer positiven Philosophie der kontingent-faktischen Person. Die Beantwortung der Frage, welche Gestalt eine solche Philosophie konkret annehmen könnte, liegt jenseits der Möglichkeiten dieser auf das Werk Spaemanns sich konzentrierenden Arbeit. 2 Hier können lediglich Voraussetzungen geklärt werden durch den Abbau von Barrieren des Denkens, die den Übergang zu einer positiven Philosophie verhindern. Zunächst soll der Ausgangspunkt der Überlegungen rekapituliert werden. Die Person wird verstanden als ›Haben einer Natur‹. Diese abstrakte Formulierung bringt die Distanz zur qualitativ bestimmten eigenen Natur zum Ausdruck, wobei diese Distanznahme nicht aufgrund eines eigenen Energiepotentials erfolgt, durch das die Person selbst zu einem Wesen würde. 3 Denn dieses müsste wieder von einer Instanz gehabt werden und das Selbstverhältnis so in eine Iteration führen. Vielmehr ist es die Natur selbst, die in ihrem Angelegtsein auf Selbsttranszendenz an einem bestimmten Punkt der menschlichen Entwicklung diese Distanznahme zu sich selbst ermöglicht, indem das natürliche Aussein-auf infolge der reflexiven Wendung auf sich selbst zum personalen Ort hin transzendiert wird. Dieser Ort bedeutet, wie oben gesehen, als ›Blick von nirgendwo‹, als ›Schwebe zwischen Absolutem und Endlichem‹ die Entdeckung eines Zentrums der Bedeutsamkeit, das mit der eigenen lebendigen Zentralität nicht übereinstimmt. Was in »Glück und Wohlwollen« zum ersten Mal klar beschrieben und in »Personen« in einen erweiterten ontologischen Rahmen gestellt wurde, ist der Vollzug der Wahrnehmung des eigenen Ortes im apriorischen Beziehungsraum,
Am Ende dieser Arbeit werden in einem Ausblick einige Erwägungen angestellt, in welche Richtung eine solche Philosophie entwickelt werden könnte. – Vgl. Abschnitt 12.3.2, Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition und ihre literarische Verarbeitung, 916–920. 3 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82 u. 233. 2
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8. Ontologie der Person
der nur möglich ist in der simultanen Wahrnehmung der Orte anderer Personen. Das ›Haben einer Natur‹ ist damit nur die subjektive Bedingung der Möglichkeit von Begegnung. Die Entdeckung dieses Habens kann in die curvatio zurückschlagen oder Gestalt annehmen im Ereignis der Begegnung, das somit als eigentlicher Ausdruck dieses Habens erscheint. Daher ist es die Aufgabe der Untersuchungen in diesem Teilkapitel zu zeigen, wie das Geschehen der Begegnung möglich wird, wie sich dieses Geschehen gegenüber der Reflexion, die ja keineswegs überwunden ist, erhalten kann und was sich schließlich in diesem Geschehen ereignet, d. h. welche Verwandlung der Mensch als Person durchläuft. Vorab sei ein Ausblick auf die Gedankenschritte in diesem Teilkapitel gegeben. Zunächst wird nach der subjektiven Voraussetzung des Eintritts in den apriorischen Beziehungsraum der Personen gefragt, wobei sich diese Fragestellung als ebenso unbrauchbar für den Zugang zum Ereignis der Begegnung erweisen wird wie der komplementäre Versuch, von der Intersubjektivität einen Weg zur Subjektivität zu finden. In einem zweiten Anlauf wird daher personale Subjektivität als intersubjektives Vermitteltsein gedeutet, das, wie sich zeigen wird, durch die Zeitlichkeit gestiftet ist. Deren nähere Betrachtung führt zur Freilegung einer Ambivalenz der Zeit, die für die Person Entropieprinzip und zugleich Bedingung der Möglichkeit von Identität ist (8.4.1). Im zweiten Schritt geht es unter Wiederaufnahme eines zentralen Themas der Studien über Fénelon um die Frage, wie die Person als ›Haben einer Natur‹ gedacht werden kann, ohne dass die Reflexion die konstitutive Distanz zu ihrer Natur aufhebt. Die Kontextunabhängigkeit der Person wird dazu auf ihre epistemologische und sittliche Bedeutung hin befragt und im apriorischen Kontext von Personalität fundiert. Die im Durchgang durch die alle Transzendenz einholende Reflexion erreichbare vermittelte Unmittelbarkeit fasst Spaemann im Begriff des Gewissens als Ausdruck der Differenz zur eigenen Natur und damit die Person als ontologisches Versprechen (8.4.2). Abschließend wird die Frage gestellt, die noch hinter die Reflexion zurückgeht und auf den ersten Antrieb zielt, der noch vor jedem konkreten Wollen steht. Um das Problem der Willensfreiheit angehen zu können, bildet Spaemann den von Harry Frankfurt inspirierten Begriff des ›primären Wollens‹, mit dem die Möglichkeit von Freiheit im Verhältnis der Person zu ihrer Natur fundiert wird und der Gedankengang an die der Entdeckung der Person zugrunde liegende Spontaneität des Herzens anknüpft. In der 602 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
Erörterung des Begriffs geht es um die Fragen, ob dieses Wollen wirklich frei und eine Begegnung von Personen damit möglich ist und welchen konkreten Einfluss dieses primäre Wollen auf das konkrete menschliche Wollen hat (8.4.3).
8.4.1
Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung
Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Abschnitt ist die Frage, wie das mit dem Gedanken des apriorischen Beziehungsraums vorausgesetzte ursprüngliche Vermitteltsein der Personen aus der subjektiven Perspektive gedacht werden kann bzw. welche Schwierigkeiten sich aus dieser Perspektive ergeben. Auch wenn die philosophische Denkbarkeit des personalen Standpunktes oben dargelegt worden ist 4, muss noch einmal konkret nachgefragt werden, wie aus der uns gegebenen subjektiven Perspektive zu ihm zu gelangen ist. Das Problem besteht darin, dass das Personsein sich erst im Ereignis der Begegnung realisiert, wohingegen der subjektive Akt der Selbsttranszendenz nur die Bedingung der Möglichkeit der Begegnung ist. Während dieser Akt als Bedingung noch gedacht werden kann, scheint das durch ihn ermöglichte Ereignis der Begegnung durch die Eröffnung eines Zusammenhangs, in dessen Zentrum nicht mehr das eigene Subjekt steht, sich der Denkbarkeit prinzipiell zu entziehen. Es hat also den Anschein, als ob die Realität der Personen, die in ihrem korrelaten Vermitteltsein durch Begegnung – dem apriorischen Beziehungsraum – besteht, sich dem Denken entzieht, obgleich, wie das vorangegangene Teilkapitel gezeigt hat, die Person als konstitutiver Grenzbegriff von Spaemanns Ontologie durchaus denkbar ist. Das Vermitteltsein der Personen im Beziehungsraum selbst scheint durch diese Ontologie nicht mehr gedacht werden zu können. Die Möglichkeit einer Philosophie der Begegnung hängt von der Lösung dieses Problems ab. Da der Ausgangspunkt des Gedankengangs durch den eigenen unverwechselbaren Ort im apriorischen Beziehungsraum und damit auch den subjektiven Zugang zu ihm nicht zur Disposition steht, kann der Weg zur Lösung dieses Problems nur durch eine Reflexion der Spezifik dieses Zugangs gefunden werden, Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 583–599.
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8. Ontologie der Person
die das immer schon intersubjektiv Vermittelte des vermeintlich subjektiven Zugangs aufdecken und den unterstellten Gegensatz von Subjektivität und Intersubjektivität als πρώτον ψεύδος dieser Problemstellung erweisen kann. Dazu soll zunächst die subjektive Gegebenheitsweise der Person auf ihre verborgene Intersubjektivität hin befragt werden, um auf diesem Weg die abstrakte Dialektik von Subjektivität und Intersubjektivität durch den in »Glück und Wohlwollen« vorbereiteten Gedanken eines Kontinuums von Leben und Bewusstsein zu überwinden. Auf dem neuen Niveau der Philosophie der Person wird dieses Kontinuum von Leben und Bewusstsein anschließend auf der Grundlage des zeitlichen Selbstverhältnisses von Personen beschrieben. Das Selbstverhältnis von Personen in der Zeit ist die Voraussetzung der Möglichkeit interpersonaler Begegnung und damit – im Sinne der ›Zeitgestalten‹ – auch der Überwindung der Zeit als Entropieprinzip. Wie aus dem Grundgedanken des ›Habens einer Natur‹ hervorgeht, ist es »charakteristisch für Personen, daß sie Subjekte verschiedener und voneinander deutlich getrennter Aktarten sind« 5. Die Auffassung von »Personen als kontinuierlichen Aktzentren« 6 deutet auf dem Niveau der Philosophie der Person das Ereignis aus, das Spaemann in »Glück und Wohlwollen« als Erwachen zur Vernunft im Transzendieren des vitalen Bedeutungszusammenhangs des Lebewesens beschrieben hat. In »Personen« bemerkt er hierzu: Wenn es aber dasselbe Subjekt sein soll, das denkt und will, das theoretischer und praktischer Intentionalität und diesem voraus noch der Liebe, also einer Intentionalität des Vorziehens und Nachsetzens fähig ist, und wenn diese Akte als unabhängige Variable auftreten, dann muß das Subjekt dieser Akte ihnen gegenüber eine Selbständigkeit besitzen, die ausschließt, daß es nur als deren aktuelle Funktion begriffen wird. Es muß als spontaner Anfang und als Selbstsein verstanden werden. 7
Die Akte der Person selbst lassen eine Unabhängigkeit von ihrer eigenen Natur erkennen, die zur Frage nach dem Ursprung personaler Spontaneität führt. Bereits in »Glück und Wohlwollen« beantwortete Spaemann diese Frage mit dem im Gedanken der Repräsentation des Unbedingten in der Weise des Bildes enthaltenen Verweis auf ein 5 6 7
Spaemann, Personen (1996), 67. Ebd. 69. Ebd.
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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
reziprokes interpersonales Begegnungsgeschehen. 8 Analog dazu betont er in »Personen«, dass »uns unser eigenes Personsein gar nicht früher gegeben [ist] als das Personsein anderer« 9. Die subjektive Gegebenheitsweise der Person erweist sich damit als bereits durch das Begegnungsgeschehen konstituiert. Das Problem, um das es geht, scheint damit aber nur von der Seite der Subjektivität auf die der Intersubjektivität verschoben zu sein: Wenn das Begegnungsgeschehen solchermaßen als Ursprung personaler Spontaneität gesehen wird, tritt das Subjekt als reine Disponibilität – also passiv – in dieses Geschehen ein und die Begegnung entzieht sich aufgrund der fehlenden Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität weiterhin der Denkbarkeit. Der Versuch, Begegnung zu denken, scheint sich also in die Dialektik zweier unvermittelter Seiten – des Subjekts und des Zwischen – zu verstricken, in der Spaemann das Muster erkennt, wie Personalität in der Gegenwartsphilosophie gedeutet wird: Was die Genese des Selbstverhältnisses betrifft, so haben wir es heute im wesentlichen mit zwei Schulen zu tun. Die eine geht vom Faktum der Intersubjektivität aus und will Subjektivität als sekundäres Phänomen aus jener entspringen lassen. Die andere hält das für unmöglich. Subjektivität und Bewußtsein sind für sie die unhintergehbare Bedingung jeder Art von interpersonaler Beziehung. Sie versucht, Selbstbewußtsein zunächst solipsistisch zu rekonstruieren. Der Streit ist, wie mir scheint, nur beizulegen, wenn wir unterscheiden zwischen einem unmittelbaren Innesein als Erleben einerseits und einem reflexiven Bewußtsein seiner selbst andererseits. Das heißt, er ist nur beizulegen, wenn wir realisieren, daß Leben und Bewußtsein ein Kontinuum bilden. 10
Die Vorstellung von Leben und Bewusstsein als Kontinuum hatte Spaemann zuvor in »Glück und Wohlwollen« durchdacht, wo er den Antagonismus von Leben und Vernunft im Kontext des Sündenfallmythos durch die Idee des ›ursprünglichen Erwachtseins‹ auflöste. 11 Die Dialektik der beiden in der Gegenwartsphilosophie vertretenen Positionen, so der Kerngedanke der Wiederaufnahme dieser Überlegungen in »Personen«, ist überhaupt nur die Folge eines vom Leben bzw. der Natur abgelösten Vernunftbegriffs. Leben und Bewusstsein 8 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127, u. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479. 9 Spaemann, Personen (1996), 193. 10 Ebd. 169. 11 Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 457–467.
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8. Ontologie der Person
als Kontinuum zu denken bedeutet dagegen, dass die Vernunft als eine Form der Steigerung des lebendigen Ausseins-auf begriffen wird, durch die eine Identität entsteht, die immer schon intersubjektiv vermittelt ist, da Selbstbewusstsein als »zentripetale Wendung der Subjektivität auf sich selbst« 12 immer schon durch einen Blick von außen induziert ist. Dabei ist die Pointe des Gedankengangs, dass Identität durch den Schritt zur Vernunft überhaupt erst denkbar wird: »Erst indem der Mensch aufhört, unmittelbar mit seinem Erleben identisch zu sein, wird er ›mit sich identisch‹. Erst indem er aufhört, bloß Beseeltes zu sein, gewinnt seine Seele eine eigene innere Einheit, die Einheit meines Erlebens, ›meiner Seele‹.« 13 Identität ist demnach intersubjektives Vermitteltsein. An die Stelle des Verweises auf den Sündenfallmythos in »Glück und Wohlwollen« tritt hier also die Fundierung im Ereignis der Entdeckung der Person. Das πρώτον ψεύδος der Problemstellung, von der der Gedankengang hier seinen Ausgang nahm, liegt darin, dass es falsch ist, von einer ›subjektiven Perspektive‹ zu reden, von der aus das Sein der Personen im Beziehungsraum zu begreifen wäre. Wenn der Ausgangspunkt der Überlegungen somit neu gewählt werden muss, rücken zwei Aufgaben in den Mittelpunkt: Zum einen muss gezeigt werden, worin die immer schon geleistete intersubjektive Vermittlung des vermeintlich subjektiven Zugangs zum personalen Beziehungsraum besteht. Zum anderen muss das Ereignis der Begegnung dadurch in seiner Denkbarkeit expliziert werden, dass eine intersubjektiv vermittelte Aktivität des Subjekts gefunden wird, der etwas entgegenkommt, ohne dass das Subjekt von diesem in reine Disponibilität verwandelt würde. Zur Erschließung der immer schon intersubjektiv vermittelten Personalität kann die Abgrenzung vom »anfänglichen, sich unmittelbar präsenten Selbst« 14 führen, das als zur Entität hypostasiertes instantanes ›cogito‹ der cartesischen Neubegründung der neuzeitlichen Philosophie zugrunde liegt. Wie oben dargelegt wurde, stellt dieses ›reine Subjekt‹ eine Abstraktion dar, der immer schon eine intersubjektiv vermittelte Wirklichkeit vorausliegt. 15 Wenn Descartes, wie Spaemann bemerkt, mit dem Ausgang vom ›cogito‹ »den entschei-
12 13 14 15
Spaemann, Personen (1996), 169. Ebd. 170. Ebd. 114. Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 527–528.
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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
denden Zug dessen, was Personsein heißt, sichtbar« 16 macht, ihn jedoch sogleich falsch interpretiert, muss in der Vertiefung der Analyse dieser Fehlinterpretation 17 an dieser Stelle die Frage interessieren, welchen zentralen Aspekt der Konstitution personaler Identität Descartes durch seine Abstraktion ausgeblendet hat. Die Antwort ist bereits im Begriff der Instantaneität enthalten: »Die Konstitution personaler Identität ist untrennbar von dem Prozeß des Sich-selbstäußerlich-werdens, vom Prozess der Selbstenteignung durch die Zeit.« 18 Descartes interpretierte »das Haben der eigenen Natur als Herrschaft« 19; die Zeit erscheint als ein Prinzip, das dieses Interesse gerade untergräbt: Zeitlichkeit […] bedeutet, daß Subjektivität im Aussein, im Ausgreifen auf das, was sie noch nicht ist, sich selbst fortwährend zu Vergangenem, also zu einem Außen wird. Dieses Außen ist aber nicht von der Art subjektloser Gegenständlichkeit, sondern selbst ein äußerlich gewordenes Innen oder auch ein »inneres Außen«. Der erinnerte Hunger, über den ich mit mir selbst ebenso wie mit anderen sprechen kann, bleibt immer mein Hunger, obgleich ich jetzt, wo ich mich seiner entsinne, nicht hungrig bin. Durch dieses Objektivwerden des Subjektiven als des Subjektiven durch dessen Gewesensein wird es möglich, daß Subjekte auch für andere als Subjekte objektiv sein können, und das heißt, daß sie Personen sind. 20
Das Selbstverhältnis der Person als ›Haben einer Natur‹ bedeutet in seiner zeitlichen Dimension durch die »intentio obliqua der Erinnerung« 21, dass sie sich selbst immerzu zu einem Anderen wird, den sie dennoch als mit sich identisch weiß. Damit ist die Zeitlichkeit die Voraussetzung dafür, dass überhaupt von der Wahrnehmung anderer Personen die Rede sein kann. Diese Wahrnehmung kann nämlich nicht auf bloßer Rezeptivität beruhen, denn »Selbstsein ist ja per definitionem das, was nicht als Phänomen gegeben ist« 22. Person kann immer nur das Korrelat eines Aktes der Anerkennung sein: Spaemann, Personen (1996), 144. Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 534–536. 18 Spaemann, Personen (1996), 114. 19 Ebd. 145. 20 Ebd. 116. 21 Ebd. 116–117. – Vgl. »In der Erinnerung wird die intentio recta auf intentionale Gehalte zur intentio obliqua. Indem ich mich des Erlebens erinnere, erinnere ich mich zugleich, ja primär des Erlebten selbst.« – Ebd. 113. 22 Ebd. 193. 16 17
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8. Ontologie der Person
Sie setzt ein passives Gegebensein voraus. Der Andere muß mir in der sinnlichen Erfahrung und als Lebewesen »Mensch« gegeben sein, in der spezifischen Weise, wie uns Lebendiges gegeben ist. Sein Personsein aber ist wesentlich das nie Gegebene, sondern in freier Anerkennung Wahrgenommene. Der Doppelsinn des Wortes »wahrnehmen« kommt hier zum Tragen. So sagen wir, daß wir die Interessen eines Menschen wahrnehmen, wenn wir sie uns zu eigen machen und Dritten gegenüber vertreten. Nur in diesem Sinn werden Personen »wahrgenommen«. 23
Wenn jedoch die Semantik von ›wahrnehmen‹ in diesem Zusammenhang von ihrer sinnlichen Konnotation völlig gelöst würde, wären Beziehungen zwischen Personen nur möglich in der abstrakten Form der reinen Anerkennung ihrer Rechte. Daraus folgt, dass die Person erst aus dem Verhältnis zu sich selbst in der Zeit allmählich die Fähigkeit entwickeln kann, andere Personen in einem starken Sinn wahrzunehmen, das heißt über die bloße Anerkennung hinaus mit ihnen in eine Beziehung treten zu können: Das Sich-äußerlich-werden der Subjektivität als Zeitlichkeit ist also die Bedingung der für Personen wesentlichen Intersubjektivität. Wenn wir Intersubjektivität denken wollen, stehen wir ja vor dem Problem, daß uns fremde Innerlichkeit nur in symbolischer Repräsentation, also in Gestalt natürlicher Bestimmungen, aber gerade nicht als Subjektivität gegeben ist. Alles, was mir ein anderer zukehren kann, 23 Spaemann, Personen (1996), 194. – Auf das »Paradox«, von dem Spaemann hier spricht, dass Anerkennung einerseits eine Aktivität sei, der eine Rezeptivität vorausgehe, die Person aber nicht als Phänomen gegeben sei, geht Charles Larmore ein: »Wenn Philosophen von Paradoxa sprechen, geht es meist darum, daß die analytische Arbeit noch nicht weit genug getrieben worden ist. Zwei Meinungen können nicht zugleich wahr und inkompatibel sein, und wenn sich beide als unausweichlich erweisen, dann sollte man zeigen, in welchem Sinne sie sich vereinbaren lassen. Das tut Spaemann nicht.« – Larmore, Person und Anerkennung, 462. – Dem ist zu widersprechen, da Spaemann durchaus zeigt, in welchem Sinn die beiden Aussagen sich vereinbaren lassen. Vgl. die folgenden Ausführungen zum »Sich-selbst-äußerlichwerden der Subjektivität«. – Larmores Missverständnis der Spaemann’schen Konzeption scheint mir darauf zurückzuführen zu sein, dass er Spaemann in der Frage nach der Genese des Selbstverhältnisses der Schule zuordnet, die Subjektivität als sekundäres Phänomen aus der Intersubjektivität ableiten will. – Vgl. Larmore, Person und Anerkennung, 462. – Wie oben dargelegt wurde, verhilft der Gedanke des Kontinuums von Leben und Bewusstsein aber zu der Einsicht, dass Subjektivität und Intersubjektivität als mit der Entdeckung gleichzeitig entstanden zu denken sind und die Frage nach der Priorität einer der beiden Seiten das πρώτον ψεύδος dieser Überlegung ist. – Vgl. in diesem Abschnitt, 603–604.
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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
ist immer eine Außenseite. Die Kluft wäre unüberbrückbar, wenn endliche Subjekte nur instantan, als einzelne Bewußtseinsereignisse existierten. Diese könnten keine Außenseite haben. Eine solche Außenseite wäre vielmehr gerade das Gegenteil jedes »Innen«. Das Wort »Repräsentation« wäre eine bloße Vokabel, mit der wir die Unüberbrückbarkeit der Kluft verschleiern würden. 24
Der Gedanke der Repräsentation, der schon in den Essays der 80er Jahre ein Schlüsselbegriff der metaphysischen Konzeption Spaemanns war 25 und dort einen in den theologischen Bereich verweisenden Grenzbegriff philosophischer Reflexion bezeichnete, wird nun in »Personen« durch die Reflexion auf das zeitliche Selbstverhältnis zur Explikation des Ereignisses der Begegnung verwendet. Personale Subjektivität kann überhaupt nur aus einem intersubjektiven reziproken Zusammenhang begriffen werden, in dem es keine Priorität von Ich oder Anderem gibt. Einerseits kann Subjektivität im Anderen nur dadurch wahrgenommen werden, dass die eigene Subjektivität in der Erinnerung zu einem Außen wird; andererseits aber liegt diesem zeitlichen Selbstverhältnis immer schon ein internalisierter Blick von außen zugrunde. Bisher wurde die Zeitlichkeit thematisiert als »Bedingung der für Personen wesentlichen Intersubjektivität« 26; für den abschließend darzustellenden Zusammenhang wird die Zeitlichkeit ebenfalls eine Rolle spielen, jedoch in einem gegenläufigen Sinn, insofern gezeigt werden soll, dass es für die Person wesentlich ist, über der Zeit zu stehen. Dieser Gedanke mag zunächst verwundern: Wie sollte die Person als Haben einer endlichen Natur über der Zeit stehen? Im Gegenteil ist es doch so, dass das »Sich-äußerlich-werden« der Subjektivität, ohne das es Personalität überhaupt nicht gäbe, ihr eine Art Entropiegesetz zugrunde legt: »Zeit ist die Bedingung des Objektivwerdens von Innerlichkeit und damit Bedingung endlicher Personalität. Aber dieses Objektivwerden der Innerlichkeit bedeutet zugleich, daß sie unwirklich wird.« 27 Was dabei unwirklich wird, ist allerdings nur die Innerlichkeit; der Gedanke einer Überzeitlichkeit der Person beruht darauf, dass sie, obzwar sie mit dieser Innerlichkeit ein KonSpaemann, Personen (1996), 116. Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 395. 26 Spaemann, Personen (1996), 116. 27 Ebd. 118. 24 25
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8. Ontologie der Person
tinuum bildet, einen wesentlichen Schritt über sie hinaus darstellt. Der »ontologische Ursprung von Zeit« 28 liegt im seiner selbst bewusst werdenden Aussein-auf eines Lebewesens: »Zeit entsteht, indem Subjektivität sich Sein aneignet, indem Subjekte werden, was sie sind, nämlich was sie von Natur aus sind. […] Ihrer selbst bewußt sind Personen nur, indem sie sich des bereits Angeeigneten bewußt sind, also ihrer Vergangenheit.« 29 Das Bewusstsein der Zeitlichkeit gründet also in der Zentriertheit des Lebewesens, die durch das Erwachen zur Vernunft gerade überwunden wird. Aus der Sicht der Person werden die Vorzeichen in der Deutung der Zeit geradezu umgekehrt. Die Zeit erscheint so nicht als depravierendes Prinzip, sondern als Bedingung der Möglichkeit von Identität: »Erst durch die Erinnerung werden wir uns selbst enthüllt.« 30 Zur Erklärung dieses Zeitverhältnisses der Person rekurriert Spaemann auf den theologischen Hintergrund des Personbegriffs. Für den »dreipersonalen« Gott muss die »Gleichzeitigkeit mit jeder erlebten Gegenwart« 31 angenommen werden: »Dieser Gedanke eines nichtzeitlichen Gewußtwerdens des Zeitlichen sowie der Gleichzeitigkeit der Ewigkeit mit jedem Augenblick hat allerdings weitreichende Konsequenzen für das Verständnis von Zeit. Sie verliert unvermeidlich ihre ontologische Realität.« 32 Spaemann bleibt an dieser Stelle in »Personen« eine direkte Erläuterung schuldig, inwiefern dieser Rückbezug auf den theologischen Personbegriff genuin philosophisch ausdeutbar ist. Im Sinne der in Teilkapitel 8.3 vorgenommenen philosophischen Deutung der theologischen Implikationen des Personbegriffs kann eine solche Erwägung in die philosophische Argumentation einbezogen werden, sofern es gelingt, für die theologischen Postulate – in diesem Fall die wesentlich Überzeitlichkeit der Person im Beziehungsraum – eine genuin philosophische Erklärung nachzureichen. 33 Die theologische Vorstellung des Aufbewahrtseins der endlichen Person im nunc stans der göttlichen kann demnach in der philosophischen Deutung durch das Begegnungsgeschehen zwischen den Personen ersetzt werSpaemann, Personen (1996), 117. Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd. 120. 32 Ebd. 120–121. 33 Auf die religiöse Dimension des Personen-Buchs wird erst an späterer Stelle in Form eines Nachtrags eingegangen werden. – S. Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion, 643–650. 28 29
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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
den, das die Zeit vom Entropieprinzip in die Bedingung der Möglichkeit ihrer Aufhebung verwandelt. Auch wenn Spaemann diese genuin philosophische Erklärung nicht explizit ausführt, geht eine solche implizit aus den Folgerungen hervor, die er zieht: Nun wäre der Unterschied zwischen den Augenblicken tatsächlich ein wesenloser und Zeit ein pures Weggleiten von Sein, wäre die jeweilige Gegenwart nicht mit Inhalt gefüllt. Es ist ja nicht »die Zeit«, die fließt, sondern das wechselnd gestimmte und mit wechselnden Inhalten gefüllte Erleben. Personen sind nicht dem Aussein auf das stets entgleitende Sein ausgeliefert, sondern können diese Inhalte aufeinander beziehen, so daß sich eine Zeitgestalt ergibt. Die neutrale Zeit als unendlicher und unendlich teilbarer Fluß ist eine bloße Abstraktion. Die Wirklichkeit besteht aus erlebten Inhalten von wechselnder Dauer. Personen sind, indem sie solche Inhalte aufeinander beziehen, selbst Zeitgestalten. 34
Der Begriff der ›Zeitgestalt‹ ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Zeit als Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbstaufhebung. Der phänomenale Gegebenheit suggerierende Begriff der Gestalt steht als Metapher für das in der Begegnung sich ereignende Aufeinanderbeziehen von erlebten Inhalten, das die Zeit als bloßes Vergehen aufhebt. Den metaphorischen Charakter des Begriffs unterstreicht Spaemann durch den Vergleich mit musikalischen Werken: Paradigmatisch für eine Zeitgestalt ist die Musik. Die Elemente eines Musikwerkes sind nicht einzelne Töne, sondern kleine Tonfolgen, deren Länge in den Bereich der unmittelbaren Retention fällt, die also so etwas wie eine ausgedehnte Gegenwart sind. Das ganze Stück als Gestalt kann nur in bewußtem Erinnern und Aufeinanderbeziehen der Elemente realisiert werden. Oft bedarf es dazu mehrerer Wiederholungen, vielleicht sogar einer theoretischen Beschäftigung mit dem Werk. Was hier in der Zeit realisiert wird, ist etwas durchaus »Ideelles«, Zeitloses, das doch ohne Zeit gar nicht zu denken ist. 35
Es geht somit um eine fundamentale Ambivalenz der Zeit, in der sich letztlich die beiden Aspekte der ›gehabten Natur‹ und des ›Habens einer Natur‹ widerspiegeln. Als Entropieprinzip wird die Zeit wahrgenommen vom Lebewesen, genauer gesagt aus der im Bewusstsein fortwirkenden Perspektive der ihrer selbst bewusst gewordenen lebendigen Zentralität. Die Möglichkeit ihrer Aufhebung in der Bil34 35
Spaemann, Personen (1996), 121. Ebd.
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8. Ontologie der Person
dung von Zeitgestalten ergibt sich aus der Distanz zu dieser Zentralität, in der sich das Personsein ausdrückt. Die Person steht zwischen diesen beiden Zeitbegriffen: »Personen existieren zwischen dem Bewußtsein des ständigen Vernichtetwerdens durch die Zeit und dem Bewußtsein der Nichtigkeit der Zeit selbst auf dem Hintergrund der Idee eines Nunc stans.« 36 Die Ambivalenz der Zeit aus personaler Sicht ist letztlich darin begründet, dass die Person als ›Haben einer Natur‹ sich immer zwischen zwei konkurrierenden Zusammenhängen bewegt, dem durch die natürliche Zentralität des Lebewesens gesetzten vitalen Zusammenhang und dem durch die Realisierung des Personsein gegebenen Zusammenhang des personalen Beziehungsraums: […] die Befreiung vom Triebhang, die den Zusammenbruch des vitalen Bedeutsamkeitszusammenhangs ermöglicht, gibt einem anderen Zusammenhang Raum, der durch jenen ersten verdeckt wird. Das Gefühl der Absurdität gehört diesem anderen Zusammenhang an, den wir »Sinnzusammenhang« nennen. Dieser jedoch kann […] den vitalen Bedeutungszusammenhang integrieren. Sinn ist im Bewußtsein der Endlichkeit gehärtete Bedeutsamkeit. Und unter »Härtung« verstehe ich die Selbstbehauptung und damit das Zeitloswerden einer Bedeutsamkeit im Angesicht des Todes. 37
Der Antagonismus von Leben – ›Bedeutsamkeitszusammenhang‹ – und Bewusstsein – ›Sinnzusammenhang‹ – kann überwunden, Leben und Bewusstsein als Kontinuum begriffen werden, wenn durch die interpersonale Begegnung die Integration des Bedeutsamkeitszusammenhangs in den Sinnzusammenhang gelingt. Die Person, die wesentlich in einer Distanz zu ihrer ›gehabten Natur‹ besteht, ist nicht ebenso der Zeitlichkeit unterworfen wie diese Natur; sie kann sich zwar nicht zu einer absoluten Überzeitlichkeit aufschwingen, bleibt aber im Sinne der conditio humana Ausdruck einer fragilen Negentropie: »Der Gedanke der Person ist der Gedanke, die eigene Existenz als Gestalt zu verstehen, die sich nicht als invarianter Gegenstand zeitlosen Wissens in der Zeit durchhält, sondern selbst eine Gestalt von Zeit ist: Zeit-Gestalt.« 38 Trotz der intersubjektiven Vermittlung, die jeder Personalität immer zugrunde liegt, geht die Subjektivität in Spaemann, Personen (1996), 122. Ebd. 128. 38 Ebd. 122. – Vgl. Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins, 581–582, Fn. 58. 36 37
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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
das Begegnungsgeschehen somit nicht als reine Disponibilität ein, sondern als Speicher erlebter Inhalte, als eine Spontaneität, für die das Begegnende wiederum von konstitutiver Bedeutung für ihre Verwandlung in eine Zeit-Gestalt ist.
8.4.2
Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens: Gewissen und Versprechen
Die Frage, wie vom Begriff der Person zum Ereignis der Begegnung zu gelangen ist, wurde zunächst so beantwortet, dass die Person immer schon in der Begegnung steht, dass personale Identität als Zeitgestalt Ergebnis eines Begegnungsgeschehens und damit die Begegnung im Begriff der Person immer schon vorausgesetzt ist. Als Medium der intersubjektiven Vermittlung personaler Identität erwies sich die Zeit, die als Entropieprinzip der Lebewesen für Personen zur Bedingung der Möglichkeit ihrer Identität als Zeit-Gestalten wird. Vorläufig ausgeklammert wurde in dieser Betrachtung das Problem der Reflexion, das Spaemann seit den Studien über Fénelon beschäftigt hat. Es besteht im Kontext der Philosophie der Person darin, dass, so wie im amour-pur-Streit Gott durch die Reflexion in einen Begriff verwandelt und die Liebe zu Gott auf das Motiv des Eigennutzes zurückgeführt wird, auch Personen als Jenseits des Begriffs von der Reflexion wieder eingeholt werden und damit die Möglichkeit eines ›Habens einer Natur‹ als Transzendieren des individuellen Interessenhorizonts in Frage gestellt wird. Die Möglichkeit einer Philosophie der Person setzt daher voraus, dass der personale Standpunkt die Reflexion selbst distanziert, indem das personale ›Haben einer Natur‹ noch auf die rationabilis natura ausgedehnt wird. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem erfordert eine Selbstthematisierung des Denkens, die im Kontext von Spaemanns Ontologie der Person anknüpft an die in Abschnitt 8.3.1 39 dargelegte Verwandlung der menschlichen Vernunft und ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit durch das Ereignis der Entdeckung der Person. Die dort entwickelte These, dass die Vernunft im antiken Verständnis als »Organ des Allgemeinen« 40 mit der Entdeckung überwunden wurde durch eine perVgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574. 40 Spaemann, Personen (1996), 29. 39
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8. Ontologie der Person
sonale Vernunft, soll im Rahmen der folgenden Überlegungen konkretisiert werden. Dazu wird zunächst das dem antiken Denken Fremde der personalen Vernunft durch den Begriff der Kontextunabhängigkeit expliziert. Die mit ihr verbundene Distanzierung der Person von der Reflexion selbst wird danach anhand der Deutung des Gewissens als eine zweite Unmittelbarkeit gefasst, bevor mit dem Verständnis der Person als ›ontologisches Versprechen‹ die Konkretisierung der personalen Vernunft und ihres Wirklichkeitsverhältnisses abgeschlossen wird. Die Vernunft als ›Organ des Allgemeinen‹ stiftet einen universalen Kontext, in dem unter den Bedingungen des neuzeitlichen Ausgangs des Denkens vom Subjekt alles Seiende aufgrund seines Soseins mit allem anderen Seienden kommensurabel wird. Dass aus diesem universalen Kontext Leben als Selbstsein ausbricht, da es »in seiner Objektivität nicht aufgeht« 41, ist der letztlich unbeweis- und unwiderlegbare Grundgedanke, der im Mittelpunkt von Spaemanns Philosophieren steht. Dieser Gedanke kann aus seiner bloßen Negativität nur herausgeführt werden, wenn es eine Art der Wahrnehmbarkeit von Selbstsein aus der Außenperspektive gibt: Ein Begegnendes als Lebendiges wissen heißt, es als Mitseiendes wissen, das nicht in dem aufgeht, was es für mich ist. Solches Wissen setzt allerdings mehr voraus als eigene Lebendigkeit, also Zentralität. Es setzt voraus, daß ein Lebewesen seine eigene Zentralität transzendiert. Das heißt: Personen wissen sich als lebendige Innerlichkeit neben anderer lebendiger Innerlichkeit, die ihrerseits einen eigenen Erfahrungskontext stiftet. 42
Wenn es den personalen Standpunkt voraussetzt, Begegnendes als Lebendiges zu wissen, fällt von diesem Gedanken ein Licht zurück auf die Wahrnehmung von Lebendigem unter den Bedingungen des antiken Denkens. In »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« bemerkte Spaemann bereits, dass Aristoteles’ Begriff der Substanz »seinen Ursprung in der Erfahrung von Lebendigem« hat, »die ihrerseits die Erfahrung eines Wesens voraussetzt, dem es, um mit Heidegger zu sprechen, in seinem Sein um dieses selbst geht« 43, wobei Aristoteles dies aber nicht reflektiere und nicht vom
41 42 43
Spaemann, Personen (1996), 134. Ebd. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 34.
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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
Subjekt aus denke. Auch wenn die Erfahrung von Lebendigem somit als Grundintuition aristotelischen Philosophierens gewertet wird, impliziert diese noch nicht jenes Wissen, um das es hier geht und das Spaemann der personalen Perspektive reserviert. Um die Differenz zwischen Personen und anderen Lebewesen – also auch Menschen vor der Entdeckung der Person – darzulegen, unterstreicht Spaemann die rein numerische, radikal vereinzelnde Bedeutung des Begriffs Person: 44 Wir nennen Menschen Personen, weil sie auf andere Weise als jene Lebewesen, die es sonst gibt, das sind, was sie sind. Was sie sind, setzt sich zusammen aus Eigenschaften, die sie größtenteils mit anderen teilen. Die individuelle Kombination dieser Eigenschaften wird wahrscheinlich immer einzigartig sein. Aber was Personen zu Personen macht, ist nicht ihre Einzigartigkeit, sondern ihre Einzigkeit. 45
Personen sind als Lebewesen mit bestimmten Eigenschaften paradoxerweise über alle qualitativen Kontexte hinaus. Kontextunabhängigkeit bedeutet Inkommensurabilität: »die Inkommensurabilität der Person ist nichts anderes als die Inkommensurabilität des Seins als ›absoluter Position‹. Als Selbstsein, dessen Identität mit keiner qualitativen Bestimmtheit gleichgesetzt werden kann, entzieht es sich jeder Definition durch einen Kontext.« 46 Welche konkrete Bedeutung hat die Inkommensurabilität der Person, die aufhört, »bloß Teil zu sein«, und »selbst zur Totalität« 47 wird, in ihrem Daseinsvollzug? Die eigentümliche Kontextunabhängigkeit, die sich, durch welche Kontexte auch immer vermittelt, mit der Wahrnehmung der Person verbindet, charakterisiert nun auch die Struktur und den Sinn ihrer Äußerungen, ihr Sprechen und Handeln. Der Wahrheitswert menschlicher Rede und die sittliche Qualität menschlicher Handlungen besitzen eine solche Kontextunabhängigkeit, aufgrund derer sie unmittelbar die sprechende und handelnde Person repräsentieren. 48
Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 517–519. Spaemann, Personen (1996), 175. 46 Ebd. 136. – Den Begriff der »absoluten Position« zur Bezeichnung der Existenz entlehnt Spaemann bei Kant. – Vgl. den Hinweis Spaemanns auf die Quelle des Zitats in der Anmerkung: I. Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Akademieausgabe Bd. II, 73. – Ebd. 270. 47 Spaemann, Personen (1996), 137. 48 Ebd. 44 45
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8. Ontologie der Person
Die jenseits aller Kontexte ihres Daseins bestehende Kontextunabhängigkeit der Person hat als vermittelte Unmittelbarkeit also eine theoretische und eine praktische Bedeutung. Die theoretische besteht darin, dass die Person »sich in ihrer Rede jederzeit als wahrheitsfähiges Wesen« darstellen kann, dass »in jedem als Satz abgeschlossenen Redeteil die Person als wahrheitsfähiges und auf Wahrheit bezogenes Wesen präsent« 49 ist. Die Voraussetzung solcher Wahrheitsfähigkeit der Person ist die »Kontextunabhängigkeit der Wahrheitswerte von Sätzen in einer auf die Wirklichkeit bezogenen Rede«: »Diese ›Parzellierung‹ von Sinn ist die Bedingung personaler Intersubjektivität, die Bedingung wahrheitsfunktionaler Gespräche.« 50 Die praktische Bedeutung der vermittelten Unmittelbarkeit für das personale Handeln steht in direkter Analogie zur personalen Wahrheitsfähigkeit: Diesen Charakter kontextunabhängiger Totalität finden wir wieder in der sittlichen Handlung. So wie die menschliche Rede aus Sätzen besteht, deren Wahrheitswert unabhängig von den Kontexten ist, in die diese Sätze eingehen, so ist die menschliche Lebenspraxis nicht ein einfaches Kontinuum, das erst vom Ende her beurteilbar wäre, sondern sie besteht aus einzelnen Handlungen, die in sich selbst einen abgeschlossenen Sinn haben. 51
Zum Sein der Person gehört somit wesentlich, dass sie auf theoretischer Ebene die Wahrheit von Sätzen und auf praktischer Ebene die Sittlichkeit ihrer Handlungen verantwortet, ohne dass diese Verantwortung im Sinne übergeordneter Kontexte an eine andere Instanz delegiert werden könnte: […] die Region der Personalität ist durch keinen übergreifenden Kontext definiert und durch keinen Kontext ihrer Unbedingtheit zu berauben. Sie konstituiert vielmehr ihrerseits einen Kontext der Anerkennung jenseits der Zeit und aller geschichtlichen Kontexte. Dieser apriorische Kontext ist prinzipiell unendlich. Jede Person, ob sie den anderen bekannt ist oder nicht, gehört ihm an. 52 Spaemann, Personen (1996), 139. Ebd. 51 Ebd. 140. 52 Ebd. 142–143. – Der apriorische Kontext der Personen ermöglicht wieder die Einheit des Guten und Schönen, also die einstellige Verwendung von ›gut‹, die bereits von den Sophisten in Frage gestellt wurde und deren scheinbar endgültiger Verlust unter den Bedingungen des neuzeitlichen Ausgangs des Denkens vom Subjekt zur Deontologie führen musste: »Die Kriterien des Wahren und des Guten setzen diesen unendlichen Horizont voraus. Gerade weil sie durch keinen endlichen Kontext de49 50
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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
Der durch die Personalität konstituierte apriorische Kontext stellt die konkrete Ausdeutung jenes Übergangs von der Vernunft als Organ des Allgemeinen zur personalen Realisierung der Vernunft als Haben einer rationabilis natura dar, die Spaemann in »Personen« gibt. Es geht in ihr um die durch ein Gegenüber vermittelte Wendung der Vernunft auf sich selbst, die nur in paradoxen Sätzen zu fassen ist. Die Kontextunabhängigkeit entsteht in diesem Übergang gleichzeitig mit dem Bewusstsein eines universalen Kontextes. In dem Augenblick, in dem durch den Ausgang vom Subjekt der universale Kontext bewusst wird, erwacht das Bewusstsein für das sich diesem Kontext Entziehende, wobei dieses Erwachen die Entstehung der Region der Personalität ist. Im Sinne der angekündigten Selbstthematisierung des Denkens ist nun der Sachverhalt zu problematisieren, dass jede Vorstellung personaler Kontextunabhängigkeit letztlich ein Gedanke bleibt und somit durch die Reflexion in den universalen Kontext integriert und damit aufgehoben wird. Für die Reflexion ist kennzeichnend, dass sie über alle Grenzen hinausdringt und die Transzendenz selbst wieder einholt: Die Reichweite der Reflexion ist der Reichweite der Transzendenz proportional. Was auch immer gedacht wird, wir können auf das Gedachtsein des Gedachten, auf das Gesehensein des Gesehenen reflektieren und Wirklichkeit selbst immer wieder als »Bild« verstehen. Das neuzeitliche Denken hat sich in immer radikaleren Schritten in diese Richtung bewegt. 53
Die Reflexion ist damit zumindest potentiell ein Prinzip, das zur konstitutiven Selbsttranszendenz der Person in einen Widerspruch treten kann, insofern sie die für Personalität konstitutive innere Differenz immer wieder einholen kann. 54 Spaemann zeigt dies exemplarisch an einer Reflexion über das richtige Leben und die Relativierung der eigenen Interessenperspektive:
finierbar sind, qualifizieren sie wahre Sätze und gute Handlungen für jeden möglichen Kontext. Sie werden durch keinen endlichen Kontext depotenziert, während umgekehrt Sätze und Handlungen, die in ihrer Funktionalität für einen bestimmten Kontext aufgehen, eben dadurch ihre Eignung verlieren, ohne Veränderung ihrer personalen Bedeutung in beliebige Kontexte transponierbar zu sein.« – Ebd. 143. 53 Spaemann, Personen (1996), 100. 54 Vgl. zu dieser Problematik Abschnitt 8.5.1, Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz, 637–642.
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8. Ontologie der Person
Die Maßstäbe dieses richtigen Lebens lassen sich zwar aus einer Betrachtung der menschlichen Natur, der Gesetze des menschlichen Zusammenlebens und aus den geschichtlich vorgegebenen Verpflichtungen gewinnen. Aber der Verpflichtungscharakter folgt für eine Person aus keinem dieser Inhalte. Zu all diesen kann sie ja reflektierend in Distanz gehen. Von keinem dieser Inhalte geht eine instinktive Nötigung aus. Wir selbst schaffen erst eine solche Nötigung, indem wir auf die distanzierende Reflexion verzichten und eine Verantwortung für uns selbst anerkennen. Im Gedanken der Verantwortung für sich selbst realisiert sich die Person auf exemplarische Weise. Der Verzicht auf distanzierende Reflexion ist ja nicht ein Rückfall in natürliche Unmittelbarkeit, sondern eine neue, die erst möglich wird dadurch, daß der Mensch sich von allen Interessen, sowohl eigenen wie denen anderer, die sich für ihn unmittelbar geltend machen, distanziert. 55
Die Differenz zum eigenen Sosein, in der die Personalität wesentlich besteht, realisiert sich daher für das animal rationale erst darin, dass sich die Person als Differenz noch von der eigenen Reflexion begreift. Doch was ist dieses ›Begreifen‹ anderes als wieder eine neue Reflexion? Ergibt sich auf diese Weise nicht eine Iteration, aus der sich niemals eine Differenz zur Reflexion ergeben kann? Dass dem nicht so ist, dass es sich nicht um eine Metareflexion handelt, die in die Iteration führt, ist aufs engste mit der oben beschriebenen anthropologischen Entdeckung der Person verbunden: Die »Stimme«, die auch noch die primäre, interessenorientierte Reflexion distanziert und die wir »Gewissen« zu nennen gewohnt sind, bringt nicht einen neuen Inhalt oder ein neues Interesse ins Spiel, das mit den anderen in Konkurrenz träte. Sie so zu verstehen, wäre eine »naturalistic fallacy«. Sie ist eine »Stimme von nirgendwo«, die dem für die Person charakteristischen view from nowhere entspricht. 56
Ein naturalistischer Fehlschluss wäre es, die Stimme des Gewissens als konkreten Inhalt zu verstehen, weil sie von diesen unabhängig ist als Urteil über das, was sein soll. Die Gleichsetzung dessen, was sein soll, mit konkreten Inhalten würde dieses Urteil tautologisch und damit unmöglich machen. Mit dem Begriff des Gewissens ist die im Hinblick auf das reflexive Selbstverhältnis entscheidende Konkretisierung der Personalität benannt: »Gewissen zu haben, ist das eindeutigste Signum der Person. Es vereinzelt den Menschen radikal und 55 56
Spaemann, Personen (1996), 176–177. Ebd. 177.
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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
entreißt ihn zugleich jedem egozentrischen Individualismus.« 57 ›Stimme von nirgendwo‹ kann das Gewissen nur sein, wenn es gerade Ausdruck der Differenz zur eigenen Natur ist; und dennoch ist das Gewissen ganz wesentlich das Vernehmen dieser Stimme durch diese Natur. »Der formale Charakter des Gewissens bedeutet, daß das Gewissen kein Orakel ist, das das sittliche Urteil irgendwie durch partikulare Gesichtspunkte beeinflußt oder präjudiziert. Das Gewissen beeinflußt dieses Urteil nicht, es ist dieses Urteil.« 58 Das Urteil des Gewissens stellt keine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen dar; denn für diese Wahl bedürfte es eines Maßstabes, der seinerseits wieder gewählt werden müsste, woraus sich die angedeutete Iteration ergäbe. Das Gewissen trifft keine Entscheidung, sondern fällt ein Urteil, indem es Besonderes unter Allgemeines subsumiert: Der Gewissensspruch läßt sich rekonstruieren als Subsumtion des eigenen Handelns unter eine Regel der sittlichen Vernunft, welche ihrerseits in einer Werteinsicht fundiert ist, und zwar als eine Subsumtion, die mit Aufforderungscharakter, mit einer »Stimme« verbunden ist. Wichtig dabei ist, daß sich die »Stimme« nicht nur darauf, einem solchen Subsumtionsurteil nun auch im Handeln zu folgen, sondern auf das Urteil selbst bezieht. 59
In diesem Subsumtionsurteil des Gewissens zeigt sich die Kontextunabhängigkeit der Person in ihrer praktischen Bedeutung. Sie verantwortet dieses Urteil, das »nicht selbst wieder aus einer Regel abgeleitet werden« 60 kann, allein. Aus seinem formalen Charakter folgt aber wiederum, dass das Gewissen nicht gefeit ist vor Irrtümern: »Gerade weil es Wahrheit intendiert, kann es irren. […] Da das Gewissen mit Anspruch auf Gültigkeit urteilt, kann es falsch urteilen.« 61 Und auch dies fällt wieder in den Bereich der Verantwortung des Einzelnen: »Der Gewissensirrtum muß also selbst ein sittlicher und nicht nur intellektueller Defekt sein« 62. Der sittliche Defekt besteht in einem unvollkommenen Erwachtsein zur Wirklichkeit, im Paradox der ›schuldhaften Unaufmerksamkeit‹, von dem oben im Zusammen57 58 59 60 61 62
Spaemann, Personen (1996), 178. Ebd. 179. Ebd. 182. Ebd. 184. Ebd. 186. Ebd. 187.
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8. Ontologie der Person
hang mit »Glück und Wohlwollen« die Rede war. 63 Es ist somit das Gewissen, das die Möglichkeit der inneren Differenz zur eigenen Natur gegen die alle Transzendenz verschlingende Reflexion bewahrt. Es Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 290. – Rudolf Langthaler kritisiert im Hinblick auf Spaemanns dargelegte Konzeption des Gewissens eine »Einebnung des Unterschieds von ›Gewissen‹ und ›praktischer Urteilskraft‹« – Langthaler, Über »Seelen« und »Gewissen«, 498 –: »In gebotener Rücksicht auf einige grundlegende Differenzierungen Kants […] bleibt vor allem schon einmal zu fragen, ob denn Spaemanns zitierte Behauptung, der zufolge ›das …, was Kant als Leistung der Urteilskraft bezeichnet, … selbst bereits Sache des Gewissens‹ ist, nicht einen folgenschweren Problemverlust begünstigt, als dies doch offenbar die Tragweite der grundsätzlichen Differenz zwischen ›formaler und materialer Gewissenhaftigkeit‹, zwischen ›Gewissen‹ und ›moralischer Urteilskraft‹ verkennt bzw. bewußt ignoriert. Die von Kant behauptete Unmöglichkeit, in einem strengen – d. i. eigentlich moralischen – Sinne von einem ›irrenden Gewissen‹ zu sprechen, verträgt sich ihm zufolge ohne weiteres mit der Fehlbarkeit des zugrunde liegenden Urteils und der auch von ihm deshalb festgehaltenen Unverfügbarkeit des moralisch Guten. All diese das berühmte Urteil Kants über das ›irrende Gewissen‹ als einem ›Unding‹ berührenden Probleme und Einsichten sind es mithin, die gegenüber Spaemanns Behauptung: ›Das Gewissensurteil verlangt ‘absolute Geltung’‹ […], doch wiederum skeptische Zurückhaltung nahelegen, gleicherweise gegenüber seiner These: ›Gerade weil es [das Gewissen] Wahrheit intendiert, kann es irren.‹ […] Spiegelt sich jene von Spaemann wohl zu Unrecht vernachlässigte – unaufhebbare kantische Differenz von ›Gewissen‹ und ›praktischer Urteilskraft‹, neben der Charakterisierung des ›Gewissensirrtums‹ als eines ›sittlichen Defekts‹, nicht auch darin wider, daß im Grunde doch nur ein jener Differenz (und damit seiner Endlichkeit?) enthobenes ›Vernunftwesen‹ sich von den im Sinne Spaemanns verstandenen Gewissensirrtümern ›befreit‹ wissen könnte? Bezeichnenderweise muß jedoch ›dem Gewissen – also [!] dem, was wir als das Gute erkannt zu haben glauben – so ‘gewissenhaft’ wie möglich zu folgen‹, auch für Spaemann als die ›sicherste [!, und doch wohl auch als die einzige?] Weise‹ gelten, ›sich von Gewissensirrtümern zu befreien«, zumal das Gewissen in dieser bleibenden Spannung zur ›praktischen Urteilskraft‹ sich nicht selbst los wird (sich nicht ›aufgeben‹ kann) – wäre denn andernfalls die aporetische Forderung eines ›Gewissens des Gewissens‹ nicht unvermeidlich?« – Ebd. 496–497. – Langthaler übersieht nach meinem Dafürhalten Spaemanns prinzipielle Abwendung von der deontologischen Ethik kantischer Prägung. Bereits in »Glück und Wohlwollen« verknüpfte Spaemann den Begriff des Gewissens mit der Wahrnehmungsevidenz: »Die theoretisch unentscheidbare Frage nach dem, was ›in Wahrheit ist‹, wird an jenem Punkt entschieden, wo theoretische und praktische Philosophie, wo Metaphysik und Ethik ursprünglich eins sind, im Gewissen. Ich darf den Anderen nicht als bloße ›Erscheinung‹ betrachten, wenn ich mir des Anspruchs bewußt werde, der von seiner Wirklichkeit ausgeht, und ich darf mich selbst nicht als bloße Erscheinung betrachten, wenn ich mich als Adressat dieses Anspruchs erfahre. Andererseits kann ich dem Anspruch nur genügen durch Handlungen, die sich auf den Anderen als Erscheinung richten, denn nur auf diese kann ich überhaupt wirken.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 194. – Wenn daher für Spaemann das Wohlwollen zur Aktualisierung der antiken εὐδαιμο-
63
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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
»drängt den Menschen zur Einheit mit sich selbst, und zwar zu einer Einheit, die zugleich Totalität ist, also nichts außer sich hat, wovon sie nur Teil der Funktion wäre oder von wo aus betrachtet ihr Sinnhorizont relativiert würde« 64. Mit Bezug auf Kleists Erzählung vom »Marionettentheater« spricht Spaemann in diesem Zusammenhang von einer »zweiten Unmittelbarkeit«, der »Unmittelbarkeit einer durch das Gewissen aufgehobenen Reflexion« 65. Die »Entdeckung des Gewissens« als die Erfahrung, dass »Vernunft selbst konkret ist« 66, ist die Voraussetzung von Personalität, die jedem interpersonalen Begegnungsgeschehen zugrunde liegt: Das Eigentümliche der sittlichen Verpflichtung scheint gerade darin zu liegen, daß sie eine bestimmte Reflexion trotz ihrer Möglichkeit nicht zuläßt, eine Reflexion, mit der Personen sich aus jeder Verbindlichkeit herausreflektieren können. Der Verzicht auf diese Reflexion scheint der eigentlich sittliche Akt zu sein. In diesem Verzicht nämlich realisiert der Mensch sich als Person, das heißt als unhintergehbare Bedingung der Reflexion selbst. Er übernimmt das Versprechen, das er als Person schon ist. 67
νία wird, bedeutet dies, dass jede Person ihr Erwachtsein zur Wirklichkeit verantworten muss. An die Stelle des kategorischen Imperativs der praktischen Vernunft tritt ein selbst wieder zu verantwortender ordo amoris als »gestufte Rangordnung innerhalb des universalen Wohlwollens« – ebd. 146. – Nur indem die Person ihr Handeln unter Regeln der sittlichen Vernunft subsumiert, distanziert sie sich von der relativierenden Reflexion, folgt sie also dem Gewissen. Da sie in diesen Akten der Subsumtion fehlbar ist, verbindet sich für Spaemann die absolute Geltung des Gewissens ohne Widerspruch mit seiner Fehlbarkeit. Die kantische Unterscheidung zwischen Form und Materie der Bestimmung der Handlung wird von Spaemann als abstrakt und damit für die Orientierung im praktischen Handeln unzureichend durchschaut: »Die Entdeckung des Gewissens ist die Entdeckung, daß Personen nicht bessere oder schlechtere Instantiierungen einer gegen das Individuelle indifferenten Vernunft sind, sondern daß Vernunft selbst konkret ist. Vernunft terminiert nämlich in Urteilen über Einzelnes.« – Spaemann, Personen (1996), 181–182. – Systematisch tritt damit an die Stelle der Differenz zwischen Gewissen und Urteilskraft bei Kant für Spaemann der Gegensatz zwischen ›schuldhafter Unaufmerksamkeit‹ und ›Erwachtsein zur Wirklichkeit‹. 64 Spaemann, Personen (1996), 185. 65 Ebd. 178. – Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 172–174. 66 Spaemann, Personen (1996), 181–182. 67 Ebd. 237.
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8. Ontologie der Person
Die Person ist, wie Spaemann sagt, ein »ontologische[s] Versprechen« 68, insofern sie wesentlich eine Differenz zur eigenen Natur ist, durch die eine intersubjektive Verbindlichkeit hergestellt wird; diese wiederum zeigt sich darin, dass Personen Wesen sind, »die versprechen können. Das heißt, sie können selbst einen Zusammenhang mit anderen Personen stiften, der dem Versprechenden gegenüber eine Erwartung und einen Anspruch auf Erfüllung dieser Erwartung begründet.« 69 Die Möglichkeit im alltäglichen Sinn zu versprechen ist darin fundiert, dass »wir den Inhalt des Versprechens unmittelbar mit jenem Versprechen verknüpfen, das wir als Person sind. Um jenes Versprechen zu brechen, muß ich dieses brechen. Ich bringe mich als Person zum Verschwinden.« 70 Durch diesen Gedanken wird verdeutlicht, dass die oben thematisierte fundamentale Ambivalenz der Zeit 71 erst im interpersonalen Begegnungsgeschehen voll zu Tage tritt: Die Unmittelbarkeit der Identität des beisichseienden Bewußtseins ist ja, wie wir schon sahen, nur instantan, ohne zeitliche Erstreckung. Unsere eigene Innerlichkeit wird uns als erinnerte äußerlich, aber als Innerlichkeit. Wir können feststellen, daß wir inzwischen anders geworden sind. Und mit Bezug auf das Bewußtsein können wir Anderswerden als »Ein-anderer-Werden« verstehen. Damit allerdings würden wir uns als Personen im Verhältnis zu anderen zum Verschwinden bringen, denn für andere sind wir nur auf dieselbe Weise identifizierbar wie andere Dinge und Lebewesen in Raum und Zeit. Auch solche Dinge werden ja ständig anders. Sie verändern sich. Und so verändern sich auch Personen. 72
Hier ist die Rede von der Zeit als bloßer Prozessualität, als Entropieprinzip, das Personen als »Wesen, die versprechen können« 73, in Frage stellt: »Im Bruch des Versprechens liegt das Scheitern der personalen Identitätsstiftung, der Sieg der Entropie über die Freiheit.« 74 Die eigentliche Bedeutung der Zeit im personalen Kontext besteht aber darin, dass sie zum »Medium einer Gestalt« 75 und damit als Zeit gerade Spaemann, Personen (1996), 251. Ebd. 235. 70 Ebd. 241. 71 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 609–613. 72 Spaemann, Personen (1996), 240. 73 Ebd. 235. 74 Ebd. 247. 75 Ebd. 122. 68 69
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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
überwunden wird. Diese Überwindung kann, wie gesehen, nicht absolut sein, sondern ist als fragile Negentropie im Rahmen der conditio humana zu denken: »Entwicklung« [ist] nicht etwas, das der Person nur widerfährt, sondern etwas, das ihr in dem Maß widerfährt, wie sie sich diesem Widerfahrnis aussetzt. Nun gehört zur Natur eines lebendigen Wesens Entwicklung. Und da das Sein der Person im Haben einer Natur besteht, kann sie sich diesem Gesetz der Natur nicht einfachhin entziehen. Aber sie kann sich in dem Sinne zu ihm verhalten, daß sie diese Entwicklung ihrer puren Naturwüchsigkeit entzieht und die dem höheren Gesetz personaler Identität unterwirft. 76
Die Person nutzt die Zeit als Medium der Herausbildung der eigenen Gestalt durch die Schaffung intersubjektiver Verbindlichkeit in Form des Versprechens. Dadurch, dass sie die Verantwortung für sich selbst wahrnimmt, indem sie den vitalen Bedeutungszusammenhang ihrer Natur in einen intersubjektiv vermittelten Sinnzusammenhang integriert, bringt sie sich als Zeitgestalt hervor. Es ist nicht von ungefähr, daß diese Selbst-Inbesitznahme der Person zugleich den Charakter der Selbstentäußerung hat. Versprechend, geben wir einen Teil von uns aus der Hand. Wir räumen anderen einen Anspruch an uns ein. Aber nur so befreien wir uns vom Ausgeliefertsein an den Zufall unserer naturalen Befindlichkeit. […] Freiheit gibt es deshalb nur durch den Eintritt in Lebenszusammenhänge, die durch gegenseitige Ansprüche konstituiert sind, Ansprüche, die wir anerkennen oder die wir selbst gestiftet haben. 77
Die Herausbildung der Person als Zeitgestalt ist somit kein individueller Werdegang, der nur akzidentell einer Unterstützung von außen bedarf, sondern findet wesentlich statt im Geschehen der Begegnung und ist in ihren Resultaten von den konkreten Begegnungsereignissen abhängig. Diese Abhängigkeit besteht um so mehr, als der Mensch das ontologische Versprechen, das er als Person ist, nie vollständig halten kann, und daher wesentlich auf die Hilfe von außen angewiesen ist: Selbsttranszendenz mit Bezug auf andere Personen ist, so sahen wir, das, wodurch Personen sich verwirklichen. Selbsttranszendenz, Über76 77
Spaemann, Personen (1996), 242. Ebd. 245–246.
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8. Ontologie der Person
schreitung der vitalen Ichzentriertheit, wird dadurch ermöglicht, daß der Mensch sich als von anderen anerkannt erfährt. Personen gibt es nur im Plural. Und das gilt nun auch für die Wiedergewinnung jenes »Weges«, auf dem sich Personen, solange sie leben, befinden und der durch die curvatio in se ipsum, also durch Schuld, unterbrochen wurde. Diese Unterbrechung bedarf, um beseitigt zu werden, der Hilfe von außen. 78
Für diese Hilfe von außen, die Spaemann schon in »Glück und Wohlwollen« in der Möglichkeit »ontologischer Verzeihung« fundiert sah, 79 findet sich in »Personen« der umgreifende Begründungszusammenhang im Gedanken der Person als ›ontologisches Versprechen‹. Das Fazit der Betrachtung in diesem Abschnitt besteht darin, dass das personale ›Haben einer Natur‹ keineswegs nur als kognitive Distanz verstanden werden kann. Die innere »Differenz ist uns geläufig unter dem Titel der ›Reflexion‹. Aber Reflexion ist nur eine ihrer Erscheinungsformen. Die Differenz bestimmt unser Dasein, auch wenn wir nicht reflektieren. Sie ermöglicht die Reflexion, sie beruht nicht auf ihr.« 80 Im nächsten Abschnitt ist nach der allgemeinen Bedeutung dieser Differenz, die nicht nur als Reflexion ein »Insich-Gehen«, sondern ebenso ein »Aus-sich-Heraustreten« 81 ist, zu fragen.
Spaemann, Personen (1996), 248. In ähnlicher Form findet sich dieser Gedanke schon in »Glück und Wohlwollen«. Vgl.: »Die Vernunft eröffnet uns eine Dimension, von der wir zugleich erkennen, daß sie von uns nicht ausfüllbar ist. Niemand ist vollkommen erwacht. Natürlichkeit ist Unbewußtheit.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 242. – Vgl. auch: »In der ›ontologischen‹ Verzeihung erlauben wir es dem anderen, das Versprechen nicht zu halten, das er als vernünftiges Wesen ist.« – Ebd. 245. – Vgl. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 487–489. 80 Spaemann, Personen (1996), 23. – Vgl.: »Es fällt auf, dass Spaemann Vernunft und Bewusstsein nicht zu den Phänomenen des Personseins zählt. Er eliminiert hier bewusst Zuschreibungen, die bei anderen Philosophen als Proprium der Person gekennzeichnet werden.« – Meisert, Ethik, die sich einmischt, 209. 81 Spaemann, Personen (1996), 23. 78 79
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8.4.3
Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung: Die Spontaneität des Herzens
Nachdem zunächst die intersubjektive Vermittlung der Personalität durch das Begegnungsgeschehen anhand der Ambivalenz der Zeit als reine Prozessualität und gleichzeitig »Medium einer Gestalt« 82 dargelegt und danach die Unabhängigkeit des apriorischen Kontexts der Personalität vom universalen Kontext der Vernunft anhand der Begriffe ›Gewissen‹ und ›Versprechen‹ in der personalen Differenz noch zur eigenen Reflexion fundiert wurde, soll es im folgenden dritten Schritt darum gehen, die innere Differenz der Person, die sich im ›Haben einer Natur‹ ausdrückt, so zu betrachten, dass noch hinter die Reflexion zurückgegangen und nach ihrer primären Erscheinungsform gefragt wird, um auf diese Weise zur letzten Aussage zu gelangen, die in Spaemanns Personenphilosophie über das Ereignis der Begegnung gemacht wird. Bei dieser primären Erscheinungsform der inneren Differenz geht es um einen »ersten, spontanen, nicht mehr zu vergegenständlichenden Antrieb« 83, der Personalität wesentlich ausmacht: Es handelt sich um das Phänomen, daß wir uns zu unseren Wünschen und Willensakten noch einmal verhalten können. Wir können wünschen, bestimmte Wünsche zu haben oder nicht zu haben. Wir bewerten nicht nur die Dinge entsprechend unseren Wünschen, sondern wir bewerten unsere Wünsche. Wenn es uns gelingt, unsere Wünsche mit dieser Bewertung in Einklang zu bringen, fühlen wir uns frei, wenn nicht, erleben wir uns als ohnmächtig, so wie Süchtige oder Triebtäter, die nicht wollen, was sie wollen. 84
Es geht bei dieser inneren Differenz also wesentlich um die Freiheit der Person von ihrer Natur, genauer gesagt um das, was allgemein als ›Willensfreiheit‹ bezeichnet wird. Die Aufnahme dieses Begriffs in die Erörterung der Personalität erfordert eine knappe Thematisierung der Problematik des philosophischen Freiheitsbegriffs, im Zuge deren die Vorstellung eines ›primären Wollens‹ entfaltet wird, an die anschließend zwei prinzipielle Fragen zu ihrer Konkretisierung gestellt werden.
82 83 84
Spaemann, Personen (1996), 122. Ebd. 23. Ebd. 22.
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8. Ontologie der Person
Im Kapitel »Freiheit« schickt Spaemann, nachdem er zunächst in einem historischen Abriss den Bedeutungswandel des Freiheitsbegriffs im Übergang vom antiken zum christlichen Denken beleuchtet hat 85, dem Versuch einer systematischen Begriffsanalyse eine skeptische Bemerkung voraus: Angesichts jahrhundertelanger Diskussionen, wie der um Existenz oder Nichtexistenz der Willensfreiheit, – Diskussionen, bei denen der Austausch der Argumente doch schließlich immer nur zu einem Patt führt – ist zu vermuten, daß man die Frage falsch gestellt hat. Vermutlich hat man den Gegenstand, um dessen Existenz oder Nichtexistenz es geht, nicht angemessen bestimmt. 86
Zunächst legt Spaemann dar, dass es »hinsichtlich der Lösung des Freiheitsproblems keine Vorteile« bietet, »ein ›Selbst‹ als Entität« 87 zu isolieren, »das für die Entscheidungen verantwortlich ist und mit dem Gehirn des Menschen in Interaktion steht« 88, da das Problem durch diese Isolierung lediglich verlagert wird; ebenso kann man im Sinne des teleologischen Grundgedankens »den Menschen als ganzen als eine Entität betrachten, die, wie jedes mit Trieb ausgestattete Wesen, mit ihren Entstehungsbedingungen kein Kontinuum bildet, sondern sich von diesen Bedingungen emanzipiert hat« 89. Spaemann geht es also um eine in der Natur fundierte Freiheit, 90 die nur denkbar ist, wenn eine reduktionistische Sicht der Natur zurückgewiesen werden kann. Ausführlich setzt sich Spaemann mit der »These des Determinismus, alle unsere intuitiven Entscheidungen, aber auch alle Resultate des Überlegens und Abwägens seien durch neurophysiologische Abläufe eindeutig determiniert« 91, auseinander, wobei er drei Gegenargumente entwickelt. 92 Erstens legt er die »reductio ad
Auf diesen historischen Abriss wurde hier Bezug genommen in Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574. 86 Spaemann, Personen (1996), 219. 87 Ebd. 220. 88 Ebd. – Spaemann verweist in einer Anmerkung auf John Eccles und Karl Popper: The Self and Its Brain, Berlin 1977. Deutsch: Das Ich und sein Gehirn, München 1989, 130 ff. – Ebd. 267 u. 273. 89 Spaemann, Personen (1996), 220. 90 Vgl. Teilkapitel 2.3, Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung, 68–82. 91 Spaemann, Personen (1996), 222. 92 S. Kapitel »Freiheit«, Abschnitt III. – Ebd. 222–227. 85
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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
absurdum des materialistischen Determinismus« 93 anhand des Gedankens dar, dass diese Theorie, wenn sie wahr wäre, »selbst nur Ausdruck des Soseins dessen, der sie vertritt,« wäre und somit »keinen Anspruch auf Wahrheit erheben« 94 könnte. Zweitens zeigt er, dass der »psychische Determinismus« 95 Gedanken und Wünsche mit Motiven verwechselt und seinen Erklärungsanspruch nur aufrechterhalten könnte, wenn man »Motive, ehe sie motivieren, als unabhängige Variable beobachten und dann das Resultat ihrer Interaktion voraussagen« 96 könnte. Drittens leitet er aus der menschlichen Selbsterfahrung als »Erlebnis des Könnens« 97 die Folgerung ab, dass die »prinzipielle Leugnung einer nicht wirklich gewordenen Möglichkeit« durch den Determinismus unhaltbar ist. Das wenig überraschende Fazit dieser Auseinandersetzung mit dem Determinismus ist, dass er weder beweis- noch widerlegbar ist, dass in jedem Fall aber »menschliches Handeln nicht in naturalistischen Kategorien verstehbar ist« 98. Die weitere Suche nach der angemessenen Bestimmung des eigentlichen Gegenstandes des Freiheitsproblems wird befördert durch eine Differenzierung verschiedener Bedeutungen von Willensfreiheit. Auf der einen Seite geht es um »Entscheidungen, die das Resultat eines Mit-sich-zu-Rate-gehens sind« 99, in denen sich der antike Begriff von Freiheit erschöpft: Den Bereich der Wahlfreiheit, des liberum arbitrium, sah die antike, im Mittelalter fortwirkende Tradition in dem Spielraum, den das Wollen von Zwecken bezüglich der Mittel eröffnet. Eudaimonia wurde als »letzter Zweck« verstanden, aber dieser Zweck nicht als Gegenstand einer möglichen Wahl. Ihn wollen wir vielmehr »von Natur«. 100
Freiheit auf der anderen Seite in dem für den vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Sinn geht aus jenem »radikalen Wechsel des Standpunkts« 101 hervor, der oben als ›Entdeckung des Herzens‹ bzw. ›Entdeckung der Person‹ thematisiert wurde. Willensfreiheit im
Spaemann, Personen (1996), 223. Ebd. 222. 95 Ebd. 223. 96 Ebd. 224. 97 Ebd. 225. 98 Ebd. 227. 99 Ebd. 221. 100 Ebd. 217. 101 Ebd. 213. 93 94
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8. Ontologie der Person
radikalen Sinn 102 gibt es erst für Personen. Zur theoretischen Auseinandersetzung mit ihr bezieht sich Spaemann auf den Aufsatz »Willensfreiheit und der Begriff der Person« des amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt, 103 in dem dieser von »secondary volitions« bzw. »Volitionen zweiter Stufe« spricht: 104 Es besteht eine sehr enge Beziehung zwischen der Fähigkeit, Volitionen zweiter Stufe zu bilden, und einer weiteren für Personen wesentlichen Fähigkeit, die man oft für ein auszeichnendes Merkmal des Menschseins gehalten hat. Nur weil eine Person Volitionen zweiter Stufe hat, kann sie sich der Freiheit ihres Willens erfreuen oder auch ihrer ermangeln. […] Wenn wir fragen, ob eine Person einen freien Willen hat, dann fragen wir nicht danach, ob sie in der Lage ist, ihre Wünsche erster Stufe in die Tat umzusetzen. Das wäre die Frage, ob sie frei ist zu tun, was ihr gefällt. Die Frage nach der Willensfreiheit betrifft nicht das Verhältnis zwischen dem, was jemand tut, und dem, was er tun möchte, sondern sie betrifft die Wünsche selber. […] Genauso wie die Frage nach der Freiheit einer Handlung darauf zielt, ob sie auch die Handlung ist, die der Betreffende ausführen möchte, so bezieht sich die Frage nach der Willensfreiheit darauf, ob der Wille, den einer hat, der Wille ist, den er haben möchte. 105
Den Begriff der ›Volitionen zweiter Stufe‹ ersetzt Spaemann durch »primäres Wollen« 106, in dem er den eigentlichen Gegenstand der Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensfreiheit erkennt: Vgl. Spaemann, Personen (1996), 227. »Willensfreiheit und der Begriff der Person« (»Freedom of the Will and the Concept of a Person«), übersetzt von Jens Kulenkampff, in: Peter Bieri (Hg.) (1981), Analytische Philosophie des Geistes, Frankfurt/M.: Athenäum, 287–302. – Zuerst erschienen in: The Journal of Philosophy 68 (1971), wiederabgedruckt, in: Harry Frankfurt (1988), The Importance of What We Care About. New York: Cambridge University Press, 11–25. – Vgl.: Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, 232. 104 Theo Kobusch bemerkt kritisch, dass Frankfurts Idee nicht so neu sei, wie sie scheine: »Neuerdings ist das Sein der Person auch in der analytischen Philosophie ein zentrales Thema. In souveräner Unbekümmertheit um das in der Geschichte der Philosophie schon Erreichte thematisiert diese Richtung der Philosophie ganz traditionelle Probleme im Zusammenhang mit dem Personbegriff. So sieht es H. G. Frankfurt als das Wesen der Person an, ›Volitionen zweiter Stufe‹ zu haben, d. h. einen bestimmten Wunsch wollen zu können, ohne auch nur anzudeuten, daß z. B. Augustinus in ›De libero arbitrio‹ die selbstreflexive Struktur des menschlichen Wollens schon herausgearbeitet hatte.« – Kobusch, Die Entdeckung der Person, 17. 105 Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, 75–77. 106 Spaemann, Personen (1996), 218 u. 232. 102 103
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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
Die Frage nach der Freiheit im radikalen Sinn der Selbstbestimmung stellt sich erst dort, wo wir, indem wir uns zu dieser oder jener Handlung oder Unterlassung entschließen, zugleich darüber entscheiden, wer wir sind und was wir »im Grunde wollen«: wo also über die »secondary volitions«, die ich das »primäre Wollen« nenne, selbst entschieden bzw. neu entschieden wird. Erst in dieser Entscheidung wird der Mensch im eigentlichen Sinn als Person sichtbar, weshalb die Antike eine solche Entscheidung auch nicht kannte. 107
Bevor Spaemann sich den Fragen widmet, ob dieses ›primäre Wollen‹ frei ist und ob es »wirklichen Einfluß auf das konkrete Wollen« 108 hat, arbeitet er die wesentlichen Aspekte heraus, in denen sich die Akte des ›primären Wollens‹ von »alltäglichen Entscheidungen, die den Charakter einer Wahl nach gegebenen Kriterien haben« 109, unterscheiden: Sie sind nicht Momente im Kontinuum des Lebens- und Bewußtseinsstromes, sondern in ihnen wird entschieden über die Sinnrichtung dieses Lebens im ganzen. Es wird entschieden darüber, ob der Mensch sich als Person realisiert, indem er sich dieses Leben so aneignet, daß er sich zugleich transzendiert auf eine Welt, die nicht definiert ist als die eigene Umwelt, oder ob er in die natürliche Selbstzentriertheit außerpersonalen Lebens zurückfällt. 110
Zur Differenzierung dieser Akte, die »Zäsuren, die den Charakter von Anfängen haben« 111, schaffen, ist zu unterscheiden zwischen solchen, in denen ein Mensch sein Personsein neu realisiert, dem entgegengesetzten Akt des Zurückfallens und drittens dem Akt, in dem das bereits realisierte Personsein neu bestätigt wird: Wenn es sich um »Umkehr«, um einen Wechsel der Richtung, handelt, ist dieser Charakter des Anfangs offenkundig; beim Rückfall in die Selbstzentriertheit, der curvatio in se ipsum, handelt es sich dagegen nicht um einen Anfang, sondern um das Zurücksinken in ein naturales Kontinuum. Umkehr bedeutet auch das Bleiben in einer längst getroffenen sittlichen Vorentscheidung, das Bleiben in einer Dimension, die immer den Charakter des »Anfangs« hat, also des im Verhältnis zum naturalen Kontinuum Neuen. Der Grund für das
107 108 109 110 111
Spaemann, Personen (1996), 227. Ebd. 218. Ebd. 227. Ebd. 227–228. Ebd. 228.
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8. Ontologie der Person
»Bleiben in der Liebe« ist nie das Gesetz der Trägheit, sondern diesem entgegengesetzt. 112
Dies könnte nun so verstanden werden, dass der Mensch jeweils die Wahl hat zwischen zwei Optionen: dem ›naturalen Kontinuum‹ und der Realisierung des Personseins. Damit aber würde der fundamentale Unterschied zwischen dem ›primären Wollen‹ und der Wahlfreiheit verwischt. An dieser Stelle wird nun deutlich, dass der Begriff der Willensfreiheit in Bezug auf diese Akte irreführend ist, denn die »Entscheidung für die Grundrichtung des Wollens hat nicht selbst den Charakter eines Willensaktes« 113: »Ein Willensakt bedarf eines Motivs. Aber von welchem Motiv sollte die Entscheidung darüber, was für mich ein Motiv ist, geleitet sein? Wir kämen hier in einen unendlichen Regress.« 114 Das ›primäre Wollen‹ kann dagegen nur so verstanden werden, dass sich in ihm eine Haltung ausdrückt. Diese lässt sich »am besten, Max Scheler folgend, als Liebe und Haß beschreiben« 115. Dieser Gedanke schließt an Spaemanns Interpretation der ›Entdeckung des Herzens‹ an, in der bereits mit Bezug auf Augustinus von den beiden Richtungen der Liebe als amor Dei usque ad contemptum sui oder cor curvatum in se ipsum die Rede war. 116 Was bedeutet nun im Zusammenhang mit dem ›primären Wollen‹ Liebe konkret? Sie ist die Öffnung der Person in der spontanen Bejahung aller anderen Mitglieder der apriorischen universalen Gemeinschaft von Personen. Diese Öffnung geht allen einzelnen Willensakten voraus. Sie hat überhaupt nicht den Charakter des Wollens, sondern qualifiziert unmittelbar das Sein der Person, aus dem alles Wollen hervorgeht. 117
Das ›primäre Wollen‹, so lässt sich folgern, zeigt sich entweder in dieser Öffnung der Person oder aber darin, dass diese verweigert wird. Die damit verbundene Entscheidung, die der Antike noch unbekannt war, bezieht sich auf das Sichtbarwerden des Umwillen – des finis cuius –, von dem zuerst in »Glück und Wohlwollen« die Rede
Spaemann, Personen (1996), 228. Ebd. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 568–569. 117 Spaemann, Personen (1996), 229. 112 113
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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
war, in Bezug auf das die Position des Nihilismus und die Zuwendung zum Unbedingten in der Weise des Bildes unterschieden werden. 118 Somit ist die Grundlage gelegt für Spaemanns erste prinzipielle Frage an das ›primäre Wollen‹ : »Ist dieses Wollen frei, beziehungsweise wie haben wir seine Freiheit zu denken?« 119 Die Bedeutung dieser Frage besteht darin, dass von ihrer Beantwortung die Möglichkeit von Personen und damit von Begegnung abhängt. Aber wenn die allem Willen vorausgehende Liebe selbst nicht den Charakter des Wollens hat, wie können wir sie und damit die Person hinsichtlich der Grundrichtung ihres »Herzens« »frei« nennen? Der Begriff der Freiheit scheint sich eben doch zu reduzieren auf seinen bescheidenen aristotelischen Sinn und nicht eine Verantwortung des Menschen für das zu meinen, was dem Wollen die Grundrichtung gibt, also die fundamentale Struktur seiner Motivationen. Der Gedanke der Autonomie der Person scheint in Widersprüche zu führen. 120
Das eigentliche Problem an dieser Stelle besteht in der Interpretation der Freiheit als Autonomie. Beide Begriffe werden oft synonym gebraucht, obwohl der Begriff Autonomie im genauen Wortsinn als ›Selbstgesetzlichkeit‹ wesentlich enger gefasst ist als Freiheit, die im Sinne des interpersonal vermittelten ›Habens einer Natur‹ eine gewisse Heteronomie in sich aufnehmen kann, auch wenn dieser Begriff zur Charakterisierung der Freiheit letztlich ebenso wenig brauchbar ist wie der der Autonomie. Was also ist wesentlich die von der Autonomie abzuhebende Freiheit? Die Freiheit, die wir hier unterstellen, ist nicht »Willensfreiheit«. Sie kann auch nicht als Autonomie verstanden werden. Freiheit ist, so sahen wir zu Beginn, zuerst und vor allem Freiheit von etwas. Wovon ist die Person frei? Sie ist frei von ihrer eigenen Natur. Sie hat diese Natur, sie ist sie nicht. Sie kann sich frei zu ihr verhalten. Aber das kann sie nicht von sich aus, sondern nur durch die Begegnung mit anderen Personen. Erst die Bejahung anderen Selbstseins – als Anerkennung, Gerechtigkeit, Liebe – erlaubt uns jene Selbstdistanz und Selbstaneignung, die für Personen konstitutiv ist, also die »Freiheit von uns selbst«. Diese Freiheit erlebt sich selbst als Geschenk. Sie ist nur die emotionale und praktische Seite des Offenen, der »Lichtung«, in die sich die Person gestellt sieht und in der sich ihr das Begegnende Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127, u. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 470–471. 119 Spaemann, Personen (1996), 218. 120 Ebd. 229. 118
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8. Ontologie der Person
als es selbst zeigt, nicht nur als Element einer Umwelt, die durch die Funktionalität des eigenen Organismus und der eigenen Interessen definiert ist. Auch die Wahrheitsfähigkeit des Menschen ist das Gegenteil von Autonomie. Sie ist der Schritt ins Offene, der Schritt »ins Freie«, wo sich uns Seiendes als es selbst zeigt. 121
Damit ist der Kerngedanke von Spaemanns Personenphilosophie klar benannt. Die Freiheit von der eigenen Natur, in der die Person wesentlich besteht, gibt es nur durch die Begegnung, diese Freiheit ist ›Geschenk‹, durch sie erscheint Sein in dem doppelten Sinn, dass die Person anderes Selbstsein wahrzunehmen vermag und dass sie sich als Selbstsein realisiert. Der aus der Perspektive realisierten Personseins wahrnehmbare Anschein einer Wahlfreiheit ist eine Täuschung, die sich aus der Möglichkeit des Rückzugs in die curvatio in se ipsum ergibt: Da wir das können, scheinen wir selbst sozusagen über der Unterscheidung von Gut und Böse zu stehen und »autonom« zwischen beiden wählen bzw. entscheiden zu müssen. Diese Entscheidung aber scheint dann nicht noch einmal ein Motiv haben zu können. Doch das ist eine Täuschung, und auf ihr beruhen die meisten Antinomien, in die der Begriff der Willensfreiheit führt. Wir öffnen uns nicht der Wirklichkeit in einem Entschluß. Wir erleben, daß sie sich uns öffnet, und dieses Erlebnis ist schon der Anfang der Liebe. Es gibt aber die Möglichkeit, sich dieser Erfahrung zu verweigern. Wir finden uns immer schon im Offenen vor, aber auch immer schon mit einer Tendenz der Verweigerung und des Rückzugs in uns selbst. 122
Die Unterscheidung zwischen Wahlfreiheit und ›primärem Wollen‹ impliziert notwendig, dass es für den Rückzug in uns selbst keinen Grund geben kann. Vielmehr erfolgt dieser Rückzug aus dem »Willen, der der eigenen Natur wieder jene Zentralstellung einräumt, die doch durch den offenen Raum der Personengemeinschaft immer schon relativiert ist. Dieser Wille, bloß natürlich sein zu wollen, ist nicht natürlich, sondern grundlos und deshalb böse.« 123 Sich diesem Willen zu überlassen, bedeutet, »den Grund zu verlassen und sich in die Welt der Ursachen zurückzuziehen« 124. Dieser Rückzug ins naturale Kontinuum ist schlicht faktisch und nicht mehr weiter erklärbar: 121 122 123 124
Spaemann, Personen (1996), 230. Ebd. 230–231. Ebd. 231. Ebd.
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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
»Da das Böse das Grundlose ist, ist es das Unverstehbare.« 125 Wenn in diesem Zusammenhang von ›Autonomie‹ die Rede ist, handelt es sich in Wahrheit um ein gewissermaßen ›parasitäres‹ Verhalten, das von der ihm voraufgehenden Realisierung personaler Freiheit lebt: Freiheit als Autonomie ist die Freiheit zur grundlosen Weigerung, ins Freie zu treten. Weil es diese Möglichkeit gibt, kann auch der Schritt ins Freie selbst mit Autonomie assoziiert werden. Wer ihn tut, erlebt ihn allerdings genau umgekehrt, nämlich, wie Platon, als ein Aufwachen zum Licht. Aufwecken aber kann man sich nicht selbst. 126
Bei dem Problem der ›Willensfreiheit‹ handelt es sich also »weder um die ständigen überlegten Wahlakte aufgrund gegebener Motivationen noch um die Entscheidung über die grundlegende Motivation selbst« 127. Es handelt sich um eine Freiheit, die durch die menschliche Selbsterfahrung verbürgt ist, die sich jedoch selbst immer nur als das Geschenk eines Begegnungsgeschehens verstehen kann. Damit kann abschließend zur zweiten prinzipiellen Frage übergegangen werden, die Spaemann an das ›primäre Wollen‹ stellt: »Hat dieses Wollen wirklichen Einfluß auf das konkrete Wollen, oder handelt es sich nur um eine zwar vielleicht freie, aber folgenlose Reflexion, also um ohnmächtiges Wünschen?« 128 Die Bedeutung dieser zweiten Frage besteht darin, dass von ihrer Beantwortung abhängt, ob die Person ›selbstwirksam‹ ist, wobei diese Selbstwirksamkeit in der Möglichkeit besteht, zu einer ›Zeitgestalt‹ zu werden. Jeder Mensch kennt »Zustände der Nichtidentität, die als Unfreiheit erlebt werden« 129, und es stellt sich somit die Frage, ob der Mensch überhaupt wollen kann, was er will, oder ob er sich nur von seinem faktischen Wollen und Tun distanzieren kann. An dieser Stelle rekurriert Spaemann auf den Gedanken der »schuldhaften Unaufmerksamkeit« aus »Glück und Wohlwollen«, demgemäß es ein »absichtliches Verschließen der Augen« gibt, das aus einem unvollständigen Erwachtsein, also dem Befangensein im Triebhang hervorgeht. 130 Die in die-
Spaemann, Personen (1996), 231. Ebd. 232. 127 Ebd. 128 Ebd. 218. 129 Ebd. 232. 130 S. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 243. – Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 463–464. 125 126
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8. Ontologie der Person
sem Begriff enthaltene Paradoxie findet nun in »Personen« ihre Auflösung: Wahrscheinlich ist das Problem der Willensfreiheit in dem hier erörterten Sinn ein Problem der Lenkung der Aufmerksamkeit. Die Person verfügt nicht über ein eigenes Energiepotential, das sie gegenüber dem »natürlichen« Potential aktivieren und in die Waagschale werfen könnte. Was sie kann, ist, unabhängig von vitalen Notwendigkeiten die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand als Gedanken- und Vorstellungsinhalt zu lenken und sie bei diesem Inhalt länger zu halten, als sie sich unwillkürlich dabei halten würde. 131
Spaemann zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz des amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842–1910) und nennt die darin enthaltene These »das Einleuchtendste, was zum Thema Willensfreiheit zu sagen ist« 132: »Es ist eine Idee, bei welcher unser Wille einsetzt, eine Idee, die uns entgleiten würde, wenn wir sie losließen, aber die wir nicht loslassen wollen. Daß die Zustimmung erteilt werde zu der vollen Gegenwart dieser Idee, das ist die einzige Leistung der Willensanstrengung.« 133 Die Antwort auf die gestellte Frage besteht demnach darin, dass das ›primäre Wollen‹
Spaemann, Personen (1996), 232–233. Ebd. 233. 133 James, Psychologie, Leipzig 1909, 453. – Das Zitat stammt aus dem 26. und letzten Kapitel »Wille«. James betrachtet dort Leidenschaft und Vernunft als antagonistische Kräfte. Mit Bezug auf die »Stimme der Vernunft« bemerkt er: »Der Mensch mit starkem Willen jedoch ist derjenige, der ohne Wanken auf die noch leise Stimme hört, und der, wenn die todbringende Überlegung kommt, ihr ins Auge schaut, ihr zustimmt, sie festhält und bejaht, trotz der Fülle erregender Vorstellungen, die sich dagegen erheben und die bestrebt sind, sie aus dem Bewußtsein zu drängen. Festgehalten durch eine derartige entschlossene Anstrengung der Aufmerksamkeit, beginnt das schwierige Objekt binnen kurzem anderes, was mit ihm übereinstimmt und assoziiert ist, herbeizuführen und ändert schließlich den Bewußtseinszustand des betreffenden Menschen ganz und gar. Und mit dem Bewußtseinszustand ändert sich auch die Handlungsweise, denn das neue Objekt, wenn es erst einmal den geistigen Horizont sicher beherrscht, ruft unfehlbar seine eigenen motorischen Wirkungen hervor. Die Schwierigkeit liegt nur darin, die Herrschaft im Bewußtsein zu gewinnen. Während der spontane Drang des psychischen Geschehens ganz und gar nach anderer Richtung geht, muß die Aufmerksamkeit festgehalten werden bei dem einen Objekt, bis es zum mindesten eine Zunahme erfährt, so daß es sich selbst mit Leichtigkeit vor dem Bewußtsein behaupten kann. Diese Anpassung der Aufmerksamkeit ist der fundamentale Willensakt.« – Ebd. 452–453. 131 132
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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
weder »unmittelbar auf das konkrete Wollen ein[…]wirken« noch »selbst die Rolle des konkreten Wollens übernehmen« 134 kann. Am ehesten kann es verglichen werden mit dem Verhältnis einer Revisionsinstanz zu den erkennenden Gerichten. Die Revisionsinstanz kann die Urteile der unteren Gerichte aufheben, kann sie aber nicht durch eigene Urteile ersetzen, sondern die Causa nur an die unteren Gerichte zurückverweisen und damit die Aufmerksamkeit auf Gesichtspunkte lenken, die nach Auffassung des Revisionsgerichts nicht genügend berücksichtigt wurden. Die Revisionsinstanz der secondary volitions kann eben dies tun. Und das ist es, was wir normalerweise unter »Willensfreiheit« verstehen. 135
Die Metapher der Gerichtsinstanzen bringt die Wirkung des ›primären Wollens‹ sehr in die Nähe der oben beschriebenen Funktion des Gewissens. Stärker noch als dort geht es hier aber um die in diesen Akten zum Ausdruck kommende Distanz nicht nur zur Reflexion, sondern zu allen intentionalen Regungen des Menschen. Die Antwort auf die zweite prinzipielle Frage besteht somit darin, dass eine Selbstwirksamkeit der Person, die die Voraussetzung der Bildung einer Zeitgestalt ist, möglich ist durch die Ausrichtung auf Ideen, »die selbst Grund der Aufmerksamkeit sind, die sich ihnen zuwendet« 136. Spaemann zählt eine Reihe von Beispielen auf, deren Gemeinsames es ist, dass »das Interesse, das uns veranlaßt, die Aufmerksamkeit auf eine Idee zu richten, in der Wahrheit der Idee selbst begründet« ist: »Sich ihrem Anspruch aussetzen, heißt, von sich selbst gerade losgelöst zu sein, also den naturwüchsigen Anspruch auf Autonomie aufgegeben zu haben. Das erst erfüllt den Begriff personaler Freiheit.« 137
134 135 136 137
Spaemann, Personen (1996), 233. Ebd. Ebd. 234. Ebd.
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8.5 Grenzen einer Philosophie der Personen
Der Gedankengang, der von einer ›negativen‹ Philosophie als Voraussetzung (8.2) über die ›Entdeckung der Person‹ als notwendige Vermittlung (8.3) hin zur Entfaltung des ›Habens einer Natur‹ im personalen Begegnungsgeschehen (8.4) geführt hat, enthält in den wesentlichen Grundzügen die Personenphilosophie Spaemanns, um die es in diesem Kapitel geht. Auch wenn dieser Darstellung im Sinne des roten Fadens der Argumentation nichts Wesentliches mehr hinzuzufügen ist, bedarf es dennoch zweier Nachträge. Der erste Nachtrag betrifft die Frage, inwiefern das hier nachgezeichnete Verständnis von Personalität angesichts aktueller Entwicklungen und absehbarer Zukunftsperspektiven als realistisch bzw. zeitgemäß erscheinen kann. Spaemanns Personenphilosophie kann als Aufklärungsphilosophie im besten Sinne des Wortes verstanden werden. Die Idee der Kontextunabhängigkeit der Person, d. h. der Gedanke, dass mit der Person »gegenüber der Dimension der Vernunft noch eine tiefere Dimension entdeckt wurde« 1, ist von einer gewaltigen Hochschätzung personaler Vernunft getragen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich hier um eine optimistische Philosophie handele, denn Spaemann reflektiert sehr klar die Gefährdungen, denen die Person gerade heute ausgesetzt ist und die einen Zusammenbruch der personalen Vernunft und ein Verschwinden des Personbegriffs durchaus denkbar machen. Diese Gefährdungen lassen sich wiederum analysieren und es lassen sich ihre Wurzeln in unserer kulturellen Tradition freilegen. Bereits in seiner »Einleitung« zu »Personen« bemerkt Spaemann hierzu: »Gerade diese Tradition nämlich hat auch die Voraussetzung für ihre eigene Destruktion ausgebildet, besonders dadurch, daß sie Bewußtsein und Subjektivität vom Begriff des Lebens ablöste und isolierte.« 2 Damit ist die erste Grenze der Personenphilosophie erreicht: ihr mögliches Scheitern an unverarbeiteten, durch den technischen Fortschritt potenzierten Voraussetzungen unserer kulturellen Tradition, um die es in einem ersten Nachtrag gehen wird (8.5.1). Eng mit dieser Thematik verbunden ist ebenso der zweite Nachtrag, auch wenn er sich ihr aus einer anderen Perspektive zu1 2
Spaemann, Personen (1996), 199. Ebd. 11.
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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz
wendet und damit einen anders gearteten Gedankengang eröffnet. Die aufklärerischen Potentiale der Personenphilosophie können nämlich vor diesen Gefährdungen interessanterweise gerade durch die Religion geschützt werden. Stärker noch als in »Glück und Wohlwollen« macht sich in »Personen« ein religiöser Subtext bemerkbar, der auch in eine explizite Thematisierung der Religion übergeht. 3 Damit aber ist die andere Grenze erreicht, um die es hier gehen soll. Im Rahmen eines philosophischen Werkes sind religiöse Erwägungen rechtfertigungsbedürftig. Sie sprengen nur dann den philosophischen Rahmen nicht, wenn sie entweder durch genuin philosophische Argumentationen gestützt werden können oder ihre Aussagen sich auf ein prinzipielles Jenseits der Philosophie beziehen, zu dem sich aber aus der genuin philosophischen Argumentation eine spezifische Anschlussfähigkeit ergibt. Aufgabe des zweiten Nachtrags wird es daher sein, in diesem Sinn das Verhältnis von philosophischer Argumentation und religiösen Erwägungen, die ihrerseits knapp darzustellen sein werden, zu klären (8.5.2).
8.5.1
Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz
Die Person wurde bestimmt als das ›Haben einer Natur‹. Sie ist einerseits nicht diese Natur, existiert aber andererseits auch nicht losgelöst von dieser Natur. Man könnte somit sagen, dass das Wesen von Personalität gerade in einer konstitutiven Nichtidentität mit sich selbst besteht. Aber sind wir überhaupt je, was wir sind? Die Möglichkeit des Rollenspiels beruht darauf, daß wir – als Personen – immer schon eine Rolle spielen. Die Identität eines Menschen ist einerseits diejenige eines natürlichen Dinges, eines Organismus. Als solcher ist er jederzeit von außen reidentifizierbar. Aber diese basale natürliche Identität enthält nur eine Vorgabe für den Weg einer Identitätssuche, die zugleich den Charakter einer Identitätsstiftung hat. Person ist nicht das Resultat dieser Stiftung, nicht das Ende dieses Weges, sondern der Weg selbst, das Ganze einer Biographie, deren basale Identität ihrerseits biologisch gesichert ist. Personen sind nicht Rollen, aber sie sind, was sie sind, nur, indem sie eine Rolle spielen, das heißt sich auf irgendeine Weise stilisieren. 4 3 4
Vgl. das Kapitel »Religion«. – Spaemann, Personen (1996), 102–110. Ebd. 94.
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8. Ontologie der Person
Eine Vorform dieser Stilisierung kann in der von Spaemann in »Glück und Wohlwollen« beschriebenen »Kontingenzreduktion der von der Polis garantierten Normalität« 5 bei Aristoteles gesehen werden. 6 Da der Mensch angesichts der conditio humana nur in Ausnahmefällen an der göttlichen εὐδαιμονία teilhaben kann, gibt die Polis eine Lebensform vor, die eine auf das menschliche Maß reduzierte εὐδαιμονία möglich macht. Analog zu diesem aristotelischen Kompromiss maß Spaemann in »Glück und Wohlwollen« Traditionen und Sitten große Bedeutung auch für die Vermittlung der Unbedingtheit des Wohlwollens als neuzeitlicher Aktualisierung der εὐδαιμονία mit der Wirklichkeit menschlichen Handelns bei. 7 An diese Gedanken knüpft Spaemann in »Personen« im Zusammenhang mit der von der Person verlangten Stilisierung an: Die Stilisierung bewegt sich in kulturell vorgeprägtem Rahmen. Die Schwächung dieses Rahmens, die Depontenzierung von Tradition läßt allenthalben das Bedürfnis nach »Selbstfindung«, »Selbsterfahrung« usw. entstehen, ebenso wie die Bereitschaft zur Anpassung an diktatorische oder demokratische Totalitarismen. 8
Die Möglichkeit eines kulturell vorgeprägten Rahmens menschlicher Entfaltung, der über die Entdeckung der Person hinweg Antike und Neuzeit verbindet, ist darin begründet, dass das »Weltverhältnis des Menschen […] symbolisch vermittelt« 9 ist. Die der kulturellen Wirklichkeit, ja jedem Denken zugrunde liegende Sprache ist immer schon Ergebnis dieser Vermittlung, weswegen die Sprache wesentlich eine bildhafte, durch eine konstitutive Mehrdeutigkeit charakterisierte ist: Der poetische Gebrauch der Worte ist der primäre gegenüber demjenigen, der mittels Definitionen die Ober- und Untertöne zugunsten der Eindeutigkeit eliminiert. »Dichterisch wohnet der Mensch« – das heißt: das kunstvolle Spiel mit Worten bewahrt die Freiheit eines Weltverhältnisses, das wesentlich geschichtlich und nicht naturhaft ist und in dem Eindeutigkeit nur ein Grenzfall im Interesse der Naturbeherrschung darstellt. 10 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 81. Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss, 440–445. 7 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 203–207, u. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 483–489. 8 Spaemann, Personen (1996), 94. 9 Ebd. 97. 10 Ebd. 98. 5 6
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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz
Gerade dieser ›Grenzfall‹ der Eindeutigkeit wurde mit dem Ideal der certa cognitio von Descartes als Ausgangspunkt der Neubegründung der Philosophie gewählt. Welche fatale Bedeutung der von der Naturgrundlage abstrahierende Subjektbegriff für den Gedanken der Person hatte, wurde oben dargelegt; 11 der erste Denker, der nach Spaemann die selbstgefährdenden Tendenzen der Moderne erfasst und ihre Widersprüche durchdacht hat, war Jean-Jacques Rousseau, 12 auf den auch im Zusammenhang mit der personalen Selbststilisierung Bezug genommen wird: Rousseau macht eine Rolle daraus, keine Rolle mehr zu spielen. Es ist bezeichnend, daß er den natürlichen Menschen als sprachlosen und kunstlosen Hominiden versteht. Menschwerdung ist gleichbedeutend mit Entfremdung, weil mit Sprache und Arbeitsteilung Menschen einander in Rollen gegenübertreten, statt füreinander transparent zu sein. Die Frage ist allerdings, warum Rousseau seine »Bekenntnisse« schreibt. Der arme Jean-Jacques ist natürlich eine Rolle wie jede andere. Aber sie ist neu, weil sie erstmals den programmatischen Verzicht auf jene Selbststilisierung dokumentiert, die für Personsein charakteristisch ist. Der Mensch »in der ganzen Wahrheit der Natur« – das ist der Mensch, dem das Personsein zu anstrengend geworden ist und der eben daraus eine neue Rolle macht. 13
Die verschiedenen Anläufe Spaemanns zur Interpretation Rousseaus konvergieren, wie oben gezeigt wurde, in dem Gedanken, dass die Idee, »deren disjecta membra sich in Rousseaus Werk spiegeln« 14, die der Naturteleologie ist. 15 Als πρώτον ψεύδος des Rousseau’schen Denkens wurde das kontrafaktische Ideal der absoluten Identität bezeichnet, das sich in seinem hypothetischen Naturbegriff verbirgt. Auf diese Rousseau-Deutung fällt nun aus der Perspektive von Spaemanns Personenphilosophie ein neues Licht: »Aber die Person ist der ›homme double‹. Sie hat ihr Sein in einem Schein, den sie einzuholen versucht, es sei denn, sie fällt in den Zynismus, der natürlich seiner-
Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537. Vgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive, 187–214. 13 Spaemann, Personen (1996), 95–96. 14 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18. 15 Vgl. Abschnitt 5.1.5, Rosseaus ›Lösung‹ : Disjecta membra einer verlorenen Idee, 211–214. 11 12
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8. Ontologie der Person
seits eine Rolle ist, aber eine antizivilisatorische.« 16 Dass Rousseau »den Preis einer Akademie der Künste und Wissenschaften« für »die epochale Absage an Künste und Wissenschaft« 17 erhielt, erlaubt einen indirekten Rückschluss auf die Bedeutung der Kunst für den Personbegriff: »In der Kunst stellt der Mensch den Schein als Schein hin, das Spiel als Spiel. Er entzieht die Konstruktion der Welt der Realitätskontrolle. Er entwirft mögliche Welten, unter denen die wirkliche nur noch eine unter anderen ist, die nun selbst verfremdet wird.« 18 Kunst als »Vorschein des Kommenden« ist somit die »Bedingung für ›Geschichte‹« 19 und die programmatische Absage Rousseaus an die Kunst Ausdruck eines Denkens, das die modernen Gefährdungen der Person visionär antizipiert hat. Rousseaus kontrafaktisches Ideal einer absoluten Identität mit sich selbst als der Versuch, die Entzweiung als Signum der Moderne, 20 die nun aus der Sicht der Personenphilosophie zugleich als Ausdruck von Personalität erscheint, zu überwinden, führte zu unauflösbaren Widersprüchen, zur »Paradoxie Rousseaus« 21, die sich sowohl in seiner Existenz als auch in seinem Werk zeigte. In der Gegenwart rückt dieses Ideal nach Spaemann durch »die neuere Technik und die durch sie möglich gewordene Simulation von Bewußtsein« als »virtuelle Realität« 22 erstmals in den Bereich der Möglichkeit: »Virtual reality« kann nicht tatsächlich die Realität verdrängen. Was sie verdrängen kann, ist die Kunst als Fiktion eines Anderen der Realität, die bewußt als Fiktion erlebt wird. An ihre Stelle kann sich eine simulierte Realität setzen, die als Realität erlebt werden soll, weil bereits längst zuvor Realität, also Leben, technologisch, also nach dem Modell seiner Simulation, verstanden wurde. Diese neue Form von Fiktion versteht den Menschen radikal objektiv, also als Tier, das nicht im Offenen der Welt lebt, sondern immer im Zentrum seiner ganz auf es bezogenen Umwelt. Der Mensch scheint sich selbst als einem WeSpaemann, Personen (1996), 96. Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 99. 20 Vgl. hierzu bereits den Ausgangspunkt der vorliegenden Interpretation von Spaemanns Philosophie im Teilkapitel 3.1, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte, 97–101, in dem Joachim Ritters positive Umdeutung der Entfremdung im Sinne der ›welthistorischen Gestalt‹ der Subjektivität thematisiert wurde. 21 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18. – Vgl. Abschnitt 5.1.5 Rosseaus ›Lösung‹ : Disjecta membra einer verlorenen Idee, 212. 22 Spaemann, Personen (1996), 100. 16 17
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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz
sen der Transzendenz auf die Schliche gekommen zu sein. Aber auch eine solche Selbstverstümmelung zeigt noch einmal, was der Mensch ist. Er ist nicht unwiderruflich, was er ist. Und das heißt: er ist Person. 23
Auch wenn diese Vorstellung noch den Charakter der Science-Fiction hat und die Realität durch virtuelle Welten nur teilweise verdrängt werden kann, muss noch einmal gefragt werden nach den spezifischen Eigenschaften der Person, die diese Gefährdung möglich gemacht haben. Was heißt es, dass der Mensch »sich selbst als einem Wesen der Transzendenz auf die Schliche« kommt? Personen überschreiten, wie wir sahen, alle intentionale Gegenständlichkeit auf ein An-sich. Transzendenz ermöglicht Reflexion auf die Subjektivität aller intentionalen Gegenständlichkeit. Sie ist sozusagen die andere Seite dieser Reflexion. Aber die Reflexion kann sich selbst auf Transzendenz beziehen und sie sozusagen als eine bloß subjektive Zuständlichkeit verschlingen. Auch Liebe kann als ein bloßes Gefühl mit zufälligen und austauschbaren Gegenständen betrachtet werden und »Sein« als ein bloßes Wort oder als intentionaler Gegenstand oder »Seinsmeinung«, obgleich diese Meinung doch gerade ein Jenseits alles Meinens meint. 24
Wie oben gesehen wurde, bedeutet ›Gewissen‹ bzw. der auf ihm beruhende Charakter der Person als ›ontologisches Versprechen‹, dass ein Verzicht auf die jeglicher Verbindlichkeit sich entwindende Reflexion möglich ist. 25 Auch wurde dargelegt, dass es keine ›Wahlfreiheit‹ gibt, der Stimme des Gewissens folgen zu wollen oder nicht, sondern dass sich im Vernehmen dieser Stimme die Wirklichkeit uns öffnet, wir uns dieser Erfahrung aber verweigern können. 26 Die Möglichkeit dieser Verweigerung resultiert aus dem problematischen Verhältnis von Transzendenz und Reflexion: Das Gleichgewicht zwischen Transzendenz und Reflexion ist instabil. Jede der beiden Bewegungen treibt die andere als komplementäre aus sich hervor. Das Ausgreifen über alles Gegebene auf ein Gebendes, das Ausgreifen über alles Gegenständliche auf ein Sich-Zeigendes, das sich Spaemann, Personen (1996), 101. Ebd. 99–100. 25 Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens: Gewissen und Versprechen, 613–624. 26 Vgl. Abschnitt 8.4.3, Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung: Die Spontaneität des Herzens, 625–635. 23 24
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8. Ontologie der Person
zugleich als es selbst verbirgt, ist nur möglich, indem zugleich auf die Gegenständlichkeit des Gegebenen, auf sein Für-mich-Sein reflektiert wird. Jede der beiden Bewegungen aber hat die Tendenz, sich gegenüber der komplementären als das ontologisch Grundlegende zu behaupten und die andere als bloßes Moment in sich zu integrieren und aufzuheben. 27
Bei der ersten Bewegung geht es um den zentralen Gedanken Spaemanns, den er zuerst in seiner Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ analysiert hat: Der Schritt zum Sein setzt die Transzendenz des Bewusstseins voraus. Die zweite Bewegung entsteht dadurch, dass im Denken des Schrittes zum Sein die Selbsttranszendenz erneut von der Reflexion eingeholt wird. In diesem dialektischen Verhältnis von Transzendenz und Reflexion ist jene »Dialektik zwischen Spiritualismus und Naturalismus« wiederzuerkennen, die Spaemann in seinem Essay »Über den Begriff einer Natur des Menschen« aus dem Jahr 1985 als neuzeitliche Form des anthropologischen Dualismus interpretierte. 28 In »Personen« bemerkt er ergänzend hierzu: »Man könnte auch von einer transzendenzlosen Reflexion und einer reflexionslosen Transzendenz sprechen oder von einer Subjektivität, die ihre Natürlichkeit desavouiert, und von einer Natur, der keine spirituelle Dimension zuerkannt wird.« 29 Es geht um den Gegensatz von Idealismus und Materialismus. »Vollendungen des Idealismus sind versucht worden« 30 und wurden immer wieder aufgehoben. »Der materialistische Monismus dagegen ist wesentlich unvollendbar« 31. Beide Vollendungen wären »gleichbedeutend mit der Abschaffung des Menschen und dem Verschwinden der Person« 32. Personsein als ›Haben einer Natur‹, so die erste Schlussfolgerung aus diesem ersten Nachtrag, ist wesentlich das Aushalten des instabilen Gleichgewichts von Transzendenz und Reflexion. Personen können aber nur eine begründete Aussicht auf eine künftige Fortexistenz haben, wenn die hier angedeuteten Gefährdungen durch eine immer wieder neu zu leistende Stabilisierung dieses Gleichgewichts gebannt werden können. Spaemann, Personen (1996), 102. Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 29 Spaemann, Personen (1996), 104. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 27 28
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8.5.2
Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion
Jeder Versuch, das Verhältnis von Transzendenz und Reflexion zu denken, führt zu einer Zurücknahme der Transzendenz in die Reflexion. Aus dieser Dialektik der Transzendenz scheint es nur einen Ausweg zu geben: »Immer schon präsent und als präsent gewußt ist das Absolute in der Weise der Religion. […] Sein bleibt immer ›unvordenklich‹. Als dieses Unvordenkliche aber ist es im Gottesgedanken präsent.« 33 Diese Reflexion über die Dialektik der Transzendenz verknüpft Spaemann mit einer Reprise der für sein Denken zentralen Deutung des cartesischen ›cogito sum‹ : […] Descartes, der die Philosophie erstmals ganz auf die Reflexion der Subjektivität stellt, konnte sich der Wirklichkeit dieser Subjektivität nur vergewissern im Durchgang durch den immer schon, nämlich in der Religion, präsenten Gedanken Gottes. Wie die Subjektivität sich in der Kunst eine Sphäre gibt, die den als Schein reflektierten Schein gegen die Dialektik der Transzendenz, also gegen die Aufhebung in Sein, schützt, so gibt sie sich in der Religion und nur in der Religion Wirklichkeit, Substanzialität, ohne sich als Subjektivität durchstreichen zu müssen. […] Im Gedanken Gottes und des Geschaffenseins durch Gott kommt die Reflexion zum Stehen, indem sie sich selbst als Sein begreift […]. 34
Dieser cartesische Gedankengang, den Spaemann schon früher als »Theologisierung der Ontologie« bezeichnet hat, 35 scheint daher das Modell eines Denkens zu sein, von dem ausgehend es allein möglich ist, die Gefährdungen der Person abzuwenden: Wenn Subjektivität religiös verstanden wird, kann sie als Person verstanden werden, also als Seiendes, das als Subjektivität ursprünglich »gemeint« ist und sich einem solchen Gemeintsein verdankt. Die Unvordenklichkeit des Seins vernichtet das Denken in seiner Intention auf Wahrheit, also auf Enthüllung von Sein, unter der Voraussetzung nicht, daß das Unvordenkliche selbst als Subjektivität, also personal gedacht wird. 36
Spaemann, Personen (1996), 103. Ebd. 35 Vgl. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139, u. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 348. 36 Spaemann, Personen (1996), 103–104. 33 34
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8. Ontologie der Person
Das Verhältnis der Subjektivität zum absoluten Bewusstsein eröffnet bei Descartes einen Raum, der wesentlich die Grenzen dieser Subjektivität überschreitet, auf den die Subjektivität jedoch insofern ausgreifen kann, als sie sich durch dieses Jenseits als ein Seiendes in diesem Raum begreift. Der in der theologischen Spekulation Descartes’ eröffnete Raum ist das Modell des apriorischen Beziehungsraums der Personen, um den es Spaemann geht. Der im vorliegenden Kapitel unternommene Versuch, Spaemanns Begriff der Person mit genuin philosophischen Mitteln zu denken, bezieht sich maßgeblich auf die alternative metaphysisch-analoge Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹, in der es durch den Begriff des ›Lebens‹ und damit die teleologisch verstandene Natur möglich wurde, mit genuin philosophischen Mitteln zum Sein zu gelangen. Dieser metaphysisch-analoge Ansatz stellt, wie zu zeigen versucht wurde, den wesentlichen Nexus dar, aus der Spaemanns Personenphilosophie entwickelt ist. Wenn Spaemann dagegen im Zusammenhang mit der möglichen Abwehr der Gefährdungen der Person auf die Religion und die cartesische ›Theologisierung der Ontologie‹ verweist, stellt sich die Frage, inwiefern dies einer Zurücknahme des genuin philosophischen Anspruchs des von Spaemann entworfenen Personendenkens gleichkommt. 37 Zunächst ist eine wichtige Unterscheidung festzuhalten: Es gibt auf der einen Seite die theoretische Frage, ob der auf einer anthropologischen Entdeckung beruhende und in seiner theoretischen Durchdringung wesentlich theologisch präformierte Begriff der Person sich genuin philosophisch denken lässt; dieser Frage waren die Überlegungen in Abschnitt 8.3.3 gewidmet. 38 Auf der anderen Seite aber gibt es die praktische Frage, ob eine religiöse Haltung des Menschen nötig ist, um das Verhältnis von Transzendenz und Reflexion und damit Personsein zu stabilisieren. Beide Fragen lassen sich voneinander trennen, ohne dass ein gedanklicher Widerspruch entsteht. Der theoretische Gedankengang erreichte, wie oben gesehen wurde, in der Vorstellung von Personalität als »Schwebe […] zwischen AbIn diesem Sinne liest Ulrich Diehl in seiner Rezension Spaemanns Buch. Mit Bezug auf »Spaemanns gelegentliche religionsphilosophische Passagen« wirft er ihm vor, dass er der »philosophischen Kontroverse ausweicht, um sich seinen philosophiegeschichtlichen und lebensphilosophischen Reflexionen zu widmen«. – Diehl, Wie es ist, ein Jemand und kein Etwas zu sein?, 110. 38 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 583–599. 37
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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion
solutem und Endlichem« 39 eine Grenze des philosophischen Denkens. Auch wenn der Gedankengang selbst durch die metonymische Beziehung des Personbegriffs zum Begriff des Lebens, der seinerseits ein im metaphysisch-analogen Denken vorausgesetztes Unvordenkliches ist, diesseits dieser Grenze bleiben konnte, ist er durch die Vorstellung der personalen ›Schwebe‹ zum Absoluten und damit zum Gottesgedanken hin geöffnet. Für die praktische Überlegung geht es hingegen um die Frage, inwiefern der für die Personalität konstitutive Bezug zum Absoluten eine religiöse Haltung des Menschen voraussetzt. Aber auch wenn sich in diesem Sinn die notwendige Unterscheidung einer theoretischen und einer praktischen Betrachtungsweise aus dem Zusammenhang selbst ergibt, muss doch, wenn die Personenphilosophie insgesamt in ihrer Integrität bewahrt werden soll, die religiöse Haltung des Menschen, um die es geht, mit der genuin philosophischen Konzeption verbunden werden. Das bedeutet, dass die religiöse Haltung sich als im Verhältnis der Person zur Natur begründet erweisen muss, was nichts anderes heißt, als dass die Natur dem Menschen nicht nur äußerlich Grenzen setzen muss. Wenn der Mensch aber der »Freigelassene der Natur« 40 ist, ist zu fragen, warum das Natürliche für ihn, dessen Handeln »nicht durch seine Instinktorganisation vorgezeichnet« 41 ist, eine normative Bedeutung haben sollte: Die Religion gibt darauf eine Antwort, indem sie die Natur im ganzen nicht als ein unhintergehbar Letztes, sondern als ein »Gehabtes« versteht, als Schöpfung, aus deren teleologischen Strukturen für den Menschen der Wille des Schöpfers ablesbar ist. Nur ein solcher personaler Wille kann für Personen Ursprung der Normativität eines »von Natur Rechten« sein. 42
Aber auch wenn die Naturteleologie auf den Schöpfer bezogen wird, scheint der Mensch sich von der normativen Bedeutung der Natur doch dadurch zu emanzipieren, dass er seine Natur transzendiert, indem er in dem durch die Freiheit von der Instinktorganisation eröffneten Raum eine kulturelle Wirklichkeit erschafft. Diese FreilasSpaemann, Personen (1996), 82. Ebd. 105. – Es handelt sich hier um ein Zitat, Spaemann verweist in der Anmerkung auf: J. G. v. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1. Teil. Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. XIII, 146. – Ebd. 269. 41 Ebd. 42 Ebd. 39 40
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8. Ontologie der Person
sung aus der Natur ist jedoch nicht absolut; das menschliche Transzendieren der Natur steht noch in einem bestimmten Verhältnis zu der Bindung an die Natur, von der es sich distanziert, ohne sich ganz lösen zu können: Nur wenn er mehr und anderes als Natur ist, kann er Natur als Maß erinnern. Nicht als natürliche, nur als religiöse können Grenzen für den Menschen verbindlich sein. Aber die Grenzen, die die Religion setzt, sind keine anderen, als es die natürlichen wären, wenn es solche für Personen gäbe. Nicht als Natur ist Natur für den Menschen numinos, sondern als göttliche Schöpfung. 43
Der Gedanke der Natur als ›Numen‹, als angedeuteter Wille Gottes, enthält eine Paradoxie. Einerseits bedeutet das aus der Natur selbst kommende Überschreiten der Natur, dass diese dem Menschen keine feste Grenze setzen kann. Andererseits aber ist die Natur für den Menschen das ›erinnerte Maß‹ der Überschreitung derselben. Der Gedanke setzt somit eine Analogie zwischen natürlichen und religiösen Grenzen voraus oder allgemeiner: zwischen dem Natürlichen und dem Sittlichen. »Sobald wir es mit teleologischen Strukturen zu tun haben, beginnt es, Falsches zu geben, nämlich das Verfehlen von Zielen, und von dort an wird Natur prinzipiell sittlich relevant, ein möglicher Bereich der Verantwortung und ein ›lesbarer Text‹, der für Personen Handlungsorientierungen enthalten kann.« 44 Um die Fundierung des Religiösen in der Natur philosophisch denken zu können, muss die Metapher der ›Lesbarkeit der Natur‹ gedeutet werden. Die Metapher konstatiert eine Vergleichbarkeit der Bereiche der Natur und der Subjektivität. Das Verhältnis der Subjektivität zur Natur ist nur dann etwas anderes als unbeschränkte Herrschaft – die aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Natur in einen Selbstwiderspruch führt –, wenn das Transzendieren der Natur in Analogie zum teleologischen Aussein-auf derselben verstanden wird. Der Gedanke einer solchen Analogie setzt ein Verständnis der Person voraus, nach dem in ihr das natürliche Aussein-auf sich erstmals selbst denkt und dadurch den Indifferenzpunkt der Freiheit erreicht, von dem aus absolute Selbsttranszendenz möglich wird. 45 Zum Sein der Person als ›Schwebe‹ zwischen Endlichem und Absolutem führt also der GedanSpaemann, Personen (1996), 106–107. Ebd. 107. 45 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 593–597. 43 44
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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion
ke, dass in ihr der teleologische Naturzusammenhang, den sie transzendiert, sich seiner selbst bewusst wird und damit zu sich selbst kommt. Dies ist der Kern der alternativen metaphysisch-analogen Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹. Erst diese Analogie zwischen natürlichem Aussein-auf und absoluter Selbsttranszendenz macht die konjunktivische Wendung in der Bezeichnung der von der Religion gesetzten Grenze als natürliche – »wenn es solche für Personen gäbe« 46 – verständlich. Diese Analogie zu denken bedeutet, religiös gesprochen, auf der einen Seite das natürliche Aussein-auf als göttliche Schöpfung, auf der anderen Seite den personalen Indifferenzpunkt der Freiheit als Reflexion des eigenen Wollens aus der Perspektive des Schöpfers zu denken. Für die Analogie gibt es somit, auch wenn sie genuin philosophisch herleitbar ist, eine religiöse Aussageweise, die für die Stabilisierung des Verhältnisses von Transzendenz und Reflexion wesentlich ist: »Religion ermöglicht es dem Menschen, sich als natürliches Wesen zu begreifen, ohne sich als Person durchstreichen zu müssen, beziehungsweise sich als Subjekt zu begreifen, ohne seine Natürlichkeit als adiaphoron desavouieren zu müssen.« 47 Das genuin philosophische Denken kann im Rahmen der theoretischen Überlegungen bis an die Grenze der Religion heranführen, im Bereich praktischer Fragen der Lebensführung von Personen dagegen ist die Überschreitung dieser Grenze unvermeidbar, wie abschließend an der Frage nach der ›Unsterblichkeit der Seele‹ gezeigt werden soll. Der Gedankengang knüpft an den oben dargelegten Zusammenhang von seelischem Erleben und Intentionalität an. 48 Einerseits ist seelisches Erleben nicht reduktionistisch aus materiellen Vorgängen erklärbar: Erleben kann zwar durch solche Vorgänge kausal induziert werden, aber das so Verursachte oder Beseitigte gehört einer ganz anderen Ordnung an als die Ursache. Und es gibt bis heute nicht die Spur eines einleuchtenden Versuchs, diesen Zusammenhang aufzuklären. Wahrscheinlich ist ein solcher Versuch a priori, das heißt aus logischen Gründen, zum Scheitern verurteilt. 49
46 47 48 49
Spaemann, Personen (1996), 107. Ebd. Vgl. Abschnitt 8.2.2, Genauigkeit und Seele, 545–548. Spaemann, Personen (1996), 170.
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Andererseits sind intentionale Akte als besondere Art seelischen Erlebens »nicht nur logisch unabhängig von physischen Ereignissen«, sondern »können auch nicht von solchen als irgendwie kausal induziert gedacht werden« 50. Dieser Zusammenhang führt zunächst zu der Schwierigkeit, dass intentionale Akte, deren Inhalte wesentlich zeitlos sind – beispielsweise die Einsicht in einen mathematischen Sachverhalt –, nicht mehr erlebt würden, wenn die Wesen, die sie gedacht haben, nicht mehr existieren. Daraus ergibt sich, dass die Zeitlosigkeit der gedachten Inhalte unter der Voraussetzung der Sterblichkeit der Wesen, die sie gedacht haben, nur widerspruchsfrei denkbar ist, wenn »das Absolute als Ort der Aufbewahrung« dieser Inhalte, »also als Gott« 51 gedacht wird: Der Gedanke des gänzlichen Verschwindens von Bewußtsein wäre gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Dimension des Gewesenseins, des futurum exactum. Das aber können wir nicht denken. Wir vernichten die Gegenwart, wenn wir zu denken versuchen, das, was jetzt geschieht, werde einmal aufhören, geschehen zu sein. 52
Aus diesem Ansatz eines Gottesbeweises 53 folgt keine zwingende Aussage über eine Unsterblichkeit der Seele. Wie oben dargelegt wurde, ist für das Verständnis der Person jedoch eine Ambivalenz der Zeit konstitutiv als Entropieprinzip einerseits, als Bedingung der Möglichkeit ihrer eigenen Aufhebung andererseits. 54 Durch das in der Begegnung sich ereignende Aufeinanderbeziehen von erlebten Inhalten werden Personen zu ›Zeitgestalten‹ und als solche streben sie wesentlich nach der Überwindung der Zeit: Der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele ist der Gedanke, daß auch die endliche Partizipation an Sinn, also Transzendenz, da sie keine Funktion organischer Selbsterhaltung ist, mit dieser nicht zugrundegeht. Personen als Wesen der Transzendenz denken sich einerseits notwendig als sterblich; und doch können sie offenbar sich selbst so wenig wie andere Personen, die sich ihnen in spezifischer »Du-EviSpaemann, Personen (1996), 170–171. Ebd. 171. 52 Ebd. 53 Dieses Argument hat Spaemann später als ›Gottesbeweis aus dem futurum exactum‹ näher ausgeführt. – Vgl. dazu Spaemann, Der letzte Gottesbeweis. – Auf das Argument wird weiter unten näher eingegangen, s. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube, 704–727. 54 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 609–613. 50 51
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denz« zeigen, so denken, daß sie durch das zeitliche Ende einfach »vernichtet« werden. Denn ihre Realität war gar nicht »in der Zeit«. Es ist unmöglich, mit einem geliebten Menschen umzugehen, zu sprechen, Blicke zu wechseln und gleichzeitig den Gedanken zu denken, dieser Mensch werde demnächst einfach nicht mehr sein. Da wir wissen, daß die Intentionalität unseres Lebensvollzugs nicht als Funktion unserer organischen Selbsterhaltung verstehbar ist, können wir deren Fortdauer nach dem Tod denken. 55
Personsein bedeutet als ›Haben einer Natur‹ die Emanzipation vom vitalen Bedeutungszusammenhang des Lebewesens mit seiner Zentralität und die Stiftung eines die Zeit überwindenden Sinnzusammenhangs in der Selbsttranszendenz. Die Entfaltung dieses Sinnzusammenhangs folgt aus dem Sein von Personen als Schwebe zwischen Endlichem und Absolutem und macht den Gedanken der Überzeitlichkeit zum Postulat: Wenn uns der Gedanke des Nicht-mehr-Existierens eines anderen Menschen als unvollziehbar erscheint, dann nicht aufgrund der intentionalen Struktur personalen Seelenlebens. Dies macht den Gedanken der Unsterblichkeit nur möglich. Daß die Wirklichkeit dieser Möglichkeit zu einem Postulat wird, folgt aus der Transzendenz der Person und aus der damit zusammenhängenden kommunikativen Verfassung personaler Existenz. 56
Personsein bedeutet ›Außer-sich-Sein‹, die Person findet ihre Identität in einem interpersonalen Begegnungsgeschehen, dessen Ereignisse immer schon Ausschnitte des zeitüberwindenden Sinnzusammenhangs sind. Die höchste Form dieses Geschehens ist die Liebe: Die Liebe ist jene existenzielle Selbsttranszendenz, in der Geist und Seele, Universalität und Erleben eins geworden sind. Die Transzendenz verwandelt das Erleben selbst. Es ist nicht mehr definiert durch die vitalen Funktionen der Selbsterhaltung. In der Liebe wird die Seele selbst zur Wirklichkeit des Geistes. […] Die Unsterblichkeit der Seele ist ein Postulat der Liebe und ein Postulat mit Bezug auf die Liebe, die ihr eigenes Ende nicht denken will, weil sie es nicht denken kann, ohne ihre eigene Idee zu destruieren. 57
55 56 57
Spaemann, Personen (1996), 171. Ebd. 172. Ebd. 173.
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Personen können somit, so die Schlussfolgerung aus diesem zweiten Nachtrag, ihr Personsein in der Öffnung für die Wirklichkeit nur voll realisieren, wenn sie von einer religiösen Überzeugung durchdrungen sind, die »keine Philosophie zwingend behaupten« 58 kann. Dies bedeutet keine Zurücknahme des Versuchs einer Personenphilosophie und keine nachträgliche ›Theologisierung der Ontologie‹. Spaemanns gesamtes Philosophieren lebt ja gerade aus der Überzeugung, dass das Unvordenkliche in der Philosophie von konstitutiver Bedeutung ist. Das philosophische Denken führt mit dem Gedanken der Person an die Grenze des Denkbaren heran, die Wirklichkeit der Person aber führt mit dem aus ihr sich ergebenden Postulat der Unsterblichkeit der Seele über die Grenze der Philosophie hinaus: »Sie kann nur seinen Sinn aufklären und den Gedanken der Unmöglichkeit seiner Erfüllung destruieren.« 59 Philosophie ist also nicht nur die negative Disziplin, die, wie in Kapitel 8.2 gezeigt, den Weg freilegen kann zum Begriff der Person, sondern auch die positive, die, wie in Kapitel 8.4 angedeutet, diesen Begriff in seiner Bedeutung entfalten kann. Auf diesem Weg aber stößt sie, wie zuletzt gesehen, an Grenzen, die nicht mehr überwindbar sind: »Die Philosophie muß es bei dem Postulat einer Unsterblichkeit der Seele bewenden lassen und kann dazu nur mit Sokrates sagen: ›Es lohnt sich, es darauf zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit solcherlei sich gleichsam selbst besprechen.‹« 60
Spaemann, Personen (1996), 173. Ebd. 173–174. 60 Ebd. 174. – Spaemann verweist in der Anmerkung als Quelle des Zitats auf: Platon: Phaidon, 114 d. – Ebd. 272. 58 59
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Zu den wesentlichen Befunden des achten Kapitels gehört die Einsicht, dass der analoge Begriff der Person erst denkbar wird, indem seine Bedeutung in einem ihm voraufgehenden Zusammenhang gedacht wird. Diese Bedeutung besteht darin, dass die Person durch ihre reflexive Wendung auf die natürliche Selbsttranszendenz den Zusammenhang, aus dem sie selbst hervorgegangen ist, indem sie ihn überschreitet, zuallererst bewusst werden lässt. Personalität hebt diesen Zusammenhang im dreifachen Sinn auf, indem sie ihn überwindet, bewahrt und auf eine neue Stufe stellt. Da Personsein das ›Haben einer Natur‹ bedeutet, das sich nicht zu einer Entität hypostasieren lässt, ohne auf seine ›gehabte Natur‹ zurückzufallen, ist der personale Standpunkt die Realisierung einer äußersten Möglichkeit menschlichen Lebens, deren historisches Gewordensein zu unterscheiden ist von dem immer wieder individuell zu leistenden Schritt in den apriorischen Beziehungsraum der Personen. Auch im Zustand der Personvergessenheit bleibt der personale Standpunkt anwesend als epistemologische Spur, die ausgehend von der Wahrnehmung im Erscheinen sich verbergenden Seins die perspektivische Inversion ermöglicht, durch die der Schritt in den Beziehungsraum wiederholt werden kann. Die im achten Kapitel entwickelte Ontologie der Person hat zwei wesentliche Probleme offen gelassen. Erstens steht die Betonung der Bedeutung des Zusammenhangs, aus dem die Person erst hervorgegangen ist, in einer Spannung zur Konzentration auf die personale Perspektive in der bisherigen Betrachtung. Wenn die ontologische Differenz von Dasein und Sosein den Seinsvollzug zumindest aller Lebewesen charakterisiert, ist es in gewisser Hinsicht noch Ausdruck einer anthropozentrischen Weltsicht, allein die personale Perspektive in den Mittelpunkt zu stellen. Zweitens bleibt die Rede von der ontologischen Differenz, die aus der Selbsterfahrung der Personen abgeleitet wird, eine äußerst abstrakte Redeweise, wenn sie auf das Exis651 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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tieren von nicht selbstbewussten Lebewesen bezogen wird. Aus den Befunden des achten Kapitels ergibt sich somit die Aufgabe, die Vorstellung eines vom teleologischen Aussein-auf gestifteten Zusammenhangs, der erst durch die reflexive Wendung auf ihn selbst in der personalen Perspektive zum Bewusstsein kommt, konkret auszudeuten. Diese Aufgabe knüpft an den im achten Kapitel dargelegten paradoxen Gedanken an, dass der universale Kontext der Welt erst in derselben reflexiven Wendung bewusst wird, durch den die personale Kontextunabhängigkeit entsteht. 1 Die Person erscheint einerseits als Bedingung des zum Bewusstsein kommenden universalen Kontexts, andererseits als Sein, das aus diesem Kontext ausbricht. Wenn diese Paradoxie nicht zu einer dualistischen Zwei-Welten-Lehre führen soll, muss gezeigt werden, wie die mit dem ›Haben einer Natur‹ bezeichnete ontologische Differenz in einer Welt gedacht werden kann, wie der universale Kontext und die Kontextunabhängigkeit in ihrem Vermitteltsein, also das Kontinuum von phänomenaler Gegebenheit und Interpersonalität, begreifbar zu machen sind. Es geht bei dieser Aufgabe mit anderen Worten um die Vermittlung zwischen dem personalen Standpunkt des ›Habens einer Natur‹ und der in der ›gehabten Natur‹ mit erfassten sinnlich gegebenen Welt. Die leitende These dieses den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit abschließenden Kapitels besteht darin, dass Spaemann eine in zwei kurzen programmatischen Texten unter den Oberbegriffen ›Ähnlichkeit‹ und ›Nähe‹ skizzierte Verallgemeinerung seiner Ontologie der Person in seinen späten Essays und Reden unsystematisch auf verschiedenen Wegen verfolgt hat. Der Zusammenhang von Teleologie und Personalität, der das zentrale Thema des vorangegangenen Kapitels war, setzt voraus, dass die Welt uns entgegen Foucaults Diktum eben doch ein ›lesbares Gesicht‹ zuwendet. 2 Um diese vom interpersonalen Begegnungsgeschehen ausgehende allgemeine Lesbarkeit der Welt geht es Spaemann in seinen späten Überlegungen aus den Jahren 1996 bis 2012. Bei den beiden erwähnten programmatischen Texten handelt es sich um einen 1996 zuerst veröffentlichten Essay mit dem Titel »Ähnlichkeit« 3 und einen 13 Jahre später mit Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens: Gewissen und Versprechen, 616–617. 2 Vgl. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 34, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 390. 3 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 50–57. – Zuerst veröffentlicht in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 286–290. – Vgl. ebd. 57. 1
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Bezug auf diesen Essay verfassten kurzen Zeitungsartikel mit dem Titel »Nähe und Ferne« 4. Indem Spaemann in seinem Essay den Begriff der Ähnlichkeit als einen sowohl ontologischen als auch phänomenologischen ausdeutet, versucht er den in der Interpretation der Person als ›Haben einer Natur‹ drohenden Dualismus durch die Subsumtion der Ähnlichkeit unter den Begriff der Nähe zu umgehen, auf die er in seinem späteren Selbstkommentar Bezug nimmt. Aus der Idee der Subsumierung der Ähnlichkeit unter den Begriff der Nähe werden sich hier wesentliche Anstöße für eine abschließende Fassung der Philosophie der Begegnung ergeben, die über dieses Kapitel hinausweisen. Der Grund für Spaemanns Interesse an der Ähnlichkeit besteht darin, dass diese einerseits auf phänomenal Gegebenes bezogen ist, sie aber andererseits als ontologischer Begriff, also als ein Jenseits des Begriffs gefasst werden muss: »Alles, was existiert, erinnert an etwas anderes« 5, und weiter: »Erinnerung lässt eine Ent-Fernung, also eine Nähe sichtbar werden, die aller Begrifflichkeit zugrunde liegt und sich selbst doch dem Begriff entzieht.« 6 Zunächst wirft Spaemann einen Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ähnlichkeit in der Geschichte der Philosophie. Er weist darauf hin, dass »die Philosophie diesem elementarsten aller ›Phänomene‹ vorwiegend auszuweichen versucht« 7 hat, indem sie sich stattdessen auf »die Polarität von Identität und Differenz« 8 konzentriert hat. D. h., sie hat die als Ähnlichkeit beschreibbare »Gemeinsamkeit des Unterschiedenen […] entweder als Zusammengehörigkeit Verschiedener in der Identität einer übergreifenden Struktur zu fassen versucht oder als Anwesenheit eines identischen Moments im Verschiedenen, als partielle Gleichheit« 9. Aus diesen ›Lösungen‹ des Problems ging der »Universalienstreit um den ontologischen Status dieses Identischen« 10 hervor. Die platonische Sichtweise führte dabei zum Problem des χωρισμός, die aristotelische zur Frage nach der Identität 4 Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58–59. – Zuerst veröffentlicht in: Die Zeit (Ausgabe 30. April 2009) im Rahmen einer Umfrage zum Tag der Arbeit am 1. Mai mit der Fragestellung: »Woran arbeiten Sie gerade?« – Vgl. ebd. 59. 5 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 50. 6 Ebd. 57. 7 Ebd. 52. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd.
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der Formursache in diskreten Dingen. 11 Die nominalistische Antwort – »Es heißt nichts anderes, als dass Verschiedenes miteinander ähnlich ist, und basta« 12 – verstrickt sich, wie Spaemann mit Bezug auf Russell darlegt, in einen unauflösbaren Widerspruch: »Wenn alle Universalien auf die Ähnlichkeit individueller Entitäten reduzierbar seien, dann bleibe doch Ähnlichkeit selbst ein irreduzibles Universale.« 13 Das antinominalistische Argument zielt also darauf, dass wiederum verschiedene Ähnlichkeitsbeziehungen miteinander verglichen werden können und deren Gemeinsamkeit nicht mit der Ähnlichkeit individueller Entitäten erklärt werden kann. 14 Dem »schlüpfrigen Gelände« 15, von dem, wie Spaemann bemerkt, Aristoteles in diesem Zusammenhang sprach, konnte die Philosophie durch ihr Ausweichen vor dem Phänomen der Ähnlichkeit somit nicht einfach entkommen. Ähnlichkeit bleibt »eine Art ›Metaidee‹, ein epekeina tes usias, ein ›Jenseits des Wesens‹ wie das platonische Gute, da ja alle untereinander ähnlichen Entitäten nicht einfachhin ähnlich sind, sondern ähnlich aufgrund bestimmter Gemeinsamkeiten und in bestimmten Hinsichten« 16. Als dasjenige, »was die Gemeinschaften der untereinander Ähnlichen miteinander verbindet« 17, bleibt Ähnlichkeit ein Phänomen, das sich hartnäckig seiner begrifflichen Erfassung entzieht. Spaemann deutet in den beiden genannten Texten an, wie auf der Grundlage seiner Ontologie der Person im Sinne einer Verallgemeinerung derselben eine Lösung entwickelt werden könnte, durch die das ›schlüpfrige Gelände‹ verlassen werden kann. Um diese Lösung nachvollziehen zu können, muss man nun ›zu den Sachen selbst‹ kommen. Spaemann betrachtet in seinem Essay zunächst die Vgl. Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 52–53. Ebd. 53. 13 Ebd. 14 Vgl.: »Denn was die Gemeinsamkeit zwischen – sagen wir – der Ähnlichkeit von Gedanken untereinander und der Ähnlichkeit von Blättern untereinander ausmacht, ist offenbar nicht wieder die Ähnlichkeit eines Haufens Blätter mit z. B. der Ähnlichkeit zwischen den beiden Relativitätstheorien von Einstein und Whitehead.« – Ebd. 15 Ebd. 52. 16 Ebd. 53. – Das ἐπέκεινα τῆς οὐσίας wurde von Spaemann zuvor thematisiert in: Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 33, und in: Spaemann, Personen (1996), wo er den Ausdruck durch die Übersetzungen »jenseits der kategorial strukturierten Wirklichkeit« – ebd. 136 – bzw. »jenseits aller qualitativen Bestimmtheit« – ebd. 160 – übersetzt. 17 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 53. 11 12
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Weise des Erinnerns an anderes durch Assoziation, die völlig subjektiv sein kann, 18 um vor dem Hintergrund solcher kontingenter Verknüpfungen durch eine Reflexion über die »natürliche Sprache«, die »wesentlich metaphorisch« 19 ist, seinen zentralen Gedanken vorzubereiten, dass Ähnlichkeit etwas Wirkliches ist, das sich nicht aus einer subjektiven Weltsicht erklären lässt, sondern das – wie Sein – überhaupt kein Begriff ist. 20 Was also ist Ähnlichkeitswahrnehmung? Eine konkrete Wahrnehmung der Ähnlichkeit einfacher Qualitäten beruht auf einer bestimmten Hinsicht, die mit einer anderen Ähnlichkeitswahrnehmung allenfalls ähnlich, nicht aber durch ein identisches Universale verbunden ist. Es sind Hinsichten, die Ähnlichkeit begründet, und diese Hinsichten können allerdings wirklich identisch sein. Niemals ist das Rot zweier roter Dinge genau dasselbe Rot. Aber was wir mit Farbe meinen, wenn wir die Dinge hinsichtlich ihrer Farbe vergleichen, ist allerdings immer genau dasselbe. Die identische Hinsicht eröffnet einen qualitativen Raum, ein Kontinuum, innerhalb dessen eine spezifische Art von Nähe und Ferne möglich wird. Solange das Kontinuum allerdings nur als Kontinuum besteht, gibt es nicht die Unterschiedenheit, die die Voraussetzung von Ähnlichkeit bildet. Erst von verschiedenen, diskreten farbigen Dingen sagen wir, dass sie durch ihre Farbe oder dass ihre Farben einander ähnlich seien, so dass das eine an das andere, das satte Gelb der Zinnien an Gewänder von Poussin erinnert. 21
Die Ähnlichkeitswahrnehmung steht also unter der doppelten Voraussetzung, dass verschiedene, diskrete Dinge ausgewählt und diese in einer bestimmten Hinsicht betrachtet werden. Spaemann unterstreicht, dass dies ein wesentlich rezeptiver Vorgang ist: Ähnlichkeit begründet Hinsichten, d. h. der Ähnlichkeitswahrnehmung liegt auf der Seite des Wahrgenommenen etwas zugrunde, das die Hinsichten dieser Wahrnehmung begründet, die ihrerseits einen qualitativen Raum eröffnen. Einen komplexeren Fall stellt die »Ähnlichkeit von Gestalten und Strukturen« dar, die sich nicht auf Ähnlichkeit oder Gleichheit ihrer Teile zurückführen lassen. Ein Gesicht, ein Ausdruck, ein Gedanke erinnern an andere Vgl. Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 53. Ebd. 56. – Vgl. ebd. 51–52. 20 Vgl. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42. 21 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 54. 18 19
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Gesichter, Ausdrücke, Gedanken. Es ist offenbar so, dass alles Seiende einen solchen Raum qualitativer Nähe und Ferne eröffnet, in dem auch das Fernste noch ein »Ent-ferntes«, d. h. ein, wenn auch minder, Nahes ist. 22
Ähnlichkeit ist etwas, das sich im operationalisierbaren Resultat der Wahrnehmung zeigt, indem es sich verbirgt. Zugrunde liegen kann ihr die Spontaneität der Natur bzw. die eines die Natur nachahmenden menschlichen Schaffenstriebes. Natürliches Aussein-auf und dessen Nachahmung in der menschlichen ποίησις gehen nicht in ihrer phänomenalen Gegebenheit auf, sondern verweisen auf das, was sich im Erscheinen verbirgt. Die Überlegungen zur Ähnlichkeit knüpfen damit an den im achten Kapitel entwickelten Gedanken der epistemologischen Spur der Entdeckung der Person an, die eine Inversion der Wahrnehmung erfordert. 23 So ist Natur als natura naturata ein potentiell unendlicher Speicher an wahrnehmbaren Ähnlichkeitsbeziehungen, die als von der im Erscheinen sich verbergenden natura naturans gestiftet vorausgesetzt werden müssen. Was der Ähnlichkeitswahrnehmung zugrunde liegt, was Ähnlichkeit also eigentlich ist, entzieht sich der begrifflichen Erfassung. Dem kann man mit der Haltung Goethes begegnen und das »schönste Glück des denkenden Menschen« darin sehen, »das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren« 24, oder mit der Haltung der neuzeitlichen Wissenschaft, die danach strebt, »relevante von nichtrelevanten Ähnlichkeitsbeziehungen zu unterscheiden« und diese »allmählich durch wissenschaftliche Ordnungsprinzipien« 25 abzulösen. 26 Diese ›Überwindung‹ der Ähnlichkeit bedeutet allerdings,
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 54. Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 592. 24 Goethe, Werke (HA), Bd. 12, 467 (Maximen und Reflexionen, Nº 718). 25 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 52. 26 Damit wird die Wissenschaft, wie Spaemann an anderer Stelle darlegt, »als ein transzendentales Subjekt Bedingung dieser Objektwelt«. – Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit (2009), 159. – Auch in der »holistischen Interpretation Quines«, in der »Wissenschaft eine Totalität [ist], die nichts außerhalb ihrer selbst zulässt«, habe die Wissenschaft »sich an den Platz der transzendentalen Subjektivität von einstmals gesetzt«. – Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 323. – Das »transzendentale Ich« kehrt, wie Spaemann hier weiter mit Bezug auf die naturalistische Theorie der Erkenntnis ausführt, »hinterrücks wieder, und zwar unter der Form eines abstrakten Subjekts, genannt ›die Wissenschaft‹« – Ebd. 325. 22 23
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wie Spaemann bemerkt, »natürlich nicht die Eliminierung aus etwas anderem als aus der Wissenschaft« 27, denn die der Ähnlichkeitswahrnehmung vorausgehende Begründung der Hinsichten, die in der »natürliche[n] Sprache« 28 ihren metaphorischen Widerhall findet, wird durch diese Tendenz der Wissenschaft überhaupt nicht tangiert. Die reduktionistische Sicht der Wissenschaft muss also immer schon von dem ausgegangen sein, was sie im Sinne ihres Programms aufzulösen bestrebt ist. Diese erste Betrachtung von Phänomenen der Ähnlichkeit führte somit zu einer Form jener Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus, die Spaemann als ein Signum der neuzeitlichen Philosophie begreift. Hier geht es nicht um die Wiederaufnahme dieser Thematik, sondern um die Einordnung dieser Konstellation in Spaemanns Überlegungen zur Ähnlichkeit. Die systematische Alternative zur neuzeitlichen Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus bei Spaemann ist das metaphysisch-analoge Denken. Genau dieses thematisiert Spaemann in seinem Essay »Ähnlichkeit«, um im Gedankengang über die dialektische Alternative hinauszukommen. Mit Bezug auf Thomas Nagels Fledermaus-Gedankenexperiment rekurriert er auf das Paradigma der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹ : 29 Wenn wir sagen sollten, was denn das »Begehren« einer Fledermaus sei, so können wir nur sagen: »etwas, das in einem entfernten Sinn unserem Begehren ähnlich ist«. Nur über unser eigenes Begehren wissen wir etwas durch unmittelbare Bekanntschaft, und wenn wir fragen würden, was denn »Erfüllung« für ein Wesen ohne Zentralnervensystem, ja für eine subatomare Entität bedeutet, dann können wir wiederum nichts anderes sagen. Die Rede wird dann zur Unkenntlichkeit formalisiert. Aber der Anthropomorphismus in der Rede vom »Sein« fällt uns nur deshalb nicht auf, weil die Formalisierung hier
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 56. Ebd.– Vgl.: »Die natürliche Sprache ist im Unterschied zur Wissenschaftssprache wesentlich metaphorisch. Sie eliminiert nicht, sondern eröffnet Ähnlichkeitsräume. […] Dass die Sprache ursprünglich poetisch ist und der Mensch ›dichterisch wohnt‹, hängt damit zusammen, dass Ähnlichkeit das fundamentale Medium unseres In-derWelt-Seins ist.« – Ebd. 56–57. 29 Vgl.: »[…] the fact that an organism has conscious experience at all means, basically, that there is something it is like to be that organism. […] fundamentally an organism has conscious mental states if and only if there is something that it is like to be that organism – something it is like for the organism.« – Nagel, What it is like to be a bat?, 436. 27 28
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noch weiter vorangetrieben ist. Sein von etwas bedeutet Ähnlichkeit mit unserem Dasein und mit allem anderen, oder es bedeutet nichts. 30
Wenn die Rede ist von unserer Ähnlichkeit mit einer Fledermaus, dann geht es kaum um die Ähnlichkeit eines qualitativen Bestandes, sondern darum, dass es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, und dass wir nur aus der Selbsterfahrung wissen, wie es ist, ein Mensch zu sein. Die Ähnlichkeit zwischen uns und anderen Lebewesen und – in spekulativer Fortführung – zwischen uns und unbelebtem Seienden ist primär in unserem Selbstverhältnis begründet, dem ein analoges Verhältnis anderer Lebewesen – und anderer Seiender – zu ihrer Natur entspricht, darin also, »dass wir über Sein nur sprechen können nach Analogie jenes Seienden, das wir sind und für das Sein Aussein-auf-Sein heißt«. 31 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 55–56. Ebd. 55. – Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Thema der Analogie wird somit im Rahmen der späten Verallgemeinerung seiner Ontologie der Person auf eine neue Stufe gehoben. Der Begriff gewann zunächst im Zusammenhang mit dem als Alternative zum subjektphilosophischen Paradigma zu verstehenden metaphysischanalogen Denken in seinen Essays der 80er Jahre Bedeutung, insofern durch den Rückbezug auf den verlorenen Begriff des Lebens der unabschließbaren Dialektik der Subjektphilosophie entgangen werden sollte. – Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383. – Zentral wurde die Kategorie des analogen Begriffs dann durch die grundlegende Trias ›Sein‹ ›Leben‹ ›Person‹ in der Ontologie der Person. – Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 548–561. – Die nun anstehende Verallgemeinerung der Ontologie der Person bedeutet im Hinblick auf das Thema der Analogie, dass durch die Frage nach dem Ursprung der Analogizität die in der Konzentration auf die personale Perspektive noch enthaltene Anthropozentrik überwunden werden soll. Das so aufgeworfene Problem einer allgemeinen ›Analogia entis‹ – vgl. Kluxen, Analogie, in: HWPh I, col. 225–226 – wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit über den Begriff der Nähe zur abschließenden Fassung des Begriffs der Begegnung führen. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 889–910. – Am Rande sei hier auf die Nähe von Spaemanns Ansatz zum Analogie-Verständnis bei Erich Przywara und Fernando Inciarte hingewiesen. Przywara spricht in seiner 1932 erschienen Studie »Analogia entis« davon, »daß die Spanne zwischen Sosein (essentia) und Dasein (esse) das Wesen der Analogie bilde«. – Przywara, Analogia entis, 149–150. – Ähnlich spricht Inciarte in seiner 1973 erschienenen Studie »Eindeutigkeit und Variation« vom »nur analogisch nachzuvollziehenden Gedanken der Entelecheia« – Inciarte, Eindeutigkeit und Variation, 185 – und betont, »daß der metaphysisch relevante Sinn von Sein zugleich als Leben zu verstehen ist. Die Scholastik hat dafür eine Formel geprägt, die auf Aristoteles zurückgeht und die lautet: esse viventibus est vivere. Das eigentliche Sein der Lebewesen ist Leben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß als eigentliche Substanzen für Aristoteles nur die Lebewesen (zoa) in Frage kommen und daß Substanz (ousia) nichts anderes als eigentliches Sein besagt. Folglich ist ousia oder eigentliches Sein selbst
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Auf den ersten Blick versetzt das Paradigma der ›Es-ist-zu-seinZustände‹ zurück in den Dualismus, in die mit dem ›Haben einer Natur‹ drohende Zwei-Welten-Lehre. Die zentrale These, die sich in dem Essay »Ähnlichkeit« mehr andeutet, als dass sie klar ausgesprochen würde, besteht aber gerade darin, dass die analoge Ähnlichkeit etwa zwischen uns und der Fledermaus mit der qualitativen zwischen distinkten, phänomenal gegebenen Entitäten ein Kontinuum bildet, so dass das Paradigma der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹ dazu dienen kann, das Vermitteltsein der kontextunabhängigen Person mit dem universalen Kontext begreifbar zu machen. Um dies im vollen Umfang verständlich machen zu können, bedarf es einer Reihe von Schritten. Erstens muss ausgehend vom Paradigma der ›Es-ist-zusein-Zustände‹, das eine wesentliche Bedeutung für die Vermittlung der beiden Pole des Kontinuums hat, die phänomenologische Gegebenheitsweise des Unsichtbaren thematisiert werden. Zweitens muss der damit bezeichnete Zusammenhang theoretisch expliziert werden, indem der Begriff der Nähe eingeführt und das Subsumtionsverhältnis der Ähnlichkeit unter die Nähe erläutert wird. Drittens muss, um den so betriebenen Aufwand zu rechtfertigen, dargelegt werden, welchen Erklärungswert dieser Gedankengang für das Verständnis des Zusammenhangs hat, aus dem die Person hervorgeht und der selbst erst durch die Person gedacht werden kann. Die prinzipielle Bedeutung des Paradigmas der ›Es-ist-zu-seinZustände‹ für eine mögliche Verallgemeinerung der Ontologie der Person kann im Rückgriff auf »Personen« ausgehend vom erwähnten Ausbrechen der Person aus dem universalen Kontext entfaltet werden. Als ›Haben einer Natur‹ kommt die Person zu sich selbst erst in der interpersonalen Begegnung. In der Begegnung aber wird ihr Vorkommen im Kontext der Welt, im universalen Raum des einander Ähnlichen durchbrochen: »Menschen sind als Menschen mehr oder weniger ähnlich. Als Personen sind sie nicht ähnlich, sondern gleich, und zwar eben darin, daß sie jeweils einmalig und in ihrer Würde inkommensurabel sind.« 32 Eine zentrale Einsicht von Spaemanns Ontologie der Person bestand gerade darin, dass Personen sich zu ihrer Natur verhalten, ihr eigenes ›So-und-So‹ transzendieren und kontextunabhängig sind: nichts anderes als Leben, Wirklichkeit des Lebens oder – man könnte auch sagen – Lebensvollzug.« – Ebd. 235–236. 32 Spaemann, Personen (1996), 196.
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Die Weise, wie Personen mit Personen umgehen, ergibt sich aus der Weise, wie Personen einander gegeben sind. Wir verstehen diese Gegebenheitsweise nicht, wenn wir sie vom Paradigma der Erkenntnis natürlicher Dinge aus zu verstehen suchen. Sie ist vielmehr umgekehrt paradigmatisch für die Weise, wie uns natürliche Dinge gegeben sind, nämlich so, daß sie in ihrem Gegebensein nicht aufgehen, daß also ihr esse gerade nicht gleichbedeutend mit percipi ist, wie immer wir dieses Mehr verstehen mögen. 33
Personsein ist kein qualitativer Bestand, sondern nur wahrnehmbar in einem Akt der Anerkennung. Entscheidend ist es aber zu verstehen, was es heißt, dass diese Nicht-Gegebenheit der Person umgekehrt paradigmatisch sein soll für unsere Wahrnehmung natürlicher Dinge. Dass deren ›percipi‹ nicht mit ihrem ›esse‹ gleichbedeutend sein soll, ist zunächst eine negative Aussage, die nur dadurch von ihrer reinen Negativität befreit werden kann, dass im Hinblick auf Naturdinge ›esse‹ und ›percipi‹ in ihrer Vermittlung gezeigt werden können und eine phänomenale Spur des ›esse‹ nachweisbar wird. Die Möglichkeit zu einer solchen Vermittlung ergibt sich wieder aus dem Modell der Interpersonalität. Da Personen einander nicht qualitativ gegeben sind, wäre die »Kluft« zwischen ihnen »unüberbrückbar« 34, wenn sie nicht durch die Zeitlichkeit sich selbst objektiv würden: 35 »[…] da wir imstande sind, unsere eigene Innerlichkeit, unser eigenes Erleben als Erinnertes zu objektivieren, können wir es unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit mit anderem Erleben und infolgedessen auch mit dem Erleben eines anderen Wesens kommensurabel machen.« 36 Aus diesem Selbstverhältnis geht die Fähigkeit zu einer analogen Wahrnehmung anderer Lebewesen hervor, durch die die objektivierende Beschränkung auf qualitative Bestände durchbrochen wird: Mit dem Auftreten von Trieb entstehen monadische Zentren des Seins, die nicht primär Träger von Bedeutsamkeiten sind, sondern die selbst Bedeutsamkeit stiften. Ein Begegnendes als Lebendiges wissen heißt, es als Mitseiendes wissen, das nicht in dem aufgeht, was es für mich ist. […] Wir können nie wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu
Spaemann, Personen (1996), 191. Ebd. 116. 35 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 606–609. 36 Spaemann, Personen (1996), 135. 33 34
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sein. Die Innerlichkeit des Tieres behält für uns immer den Charakter des Rätselhaften, nicht im Sinne eines zu lösenden Problems, sondern im Sinn einer definitiven, weil wesentlichen Verborgenheit. 37
Die Kommensurabilität der aus dem universalen Kontext ausbrechenden Person mit anderen Lebewesen und dem Kontext der Welt wird also durch das die ›gehabte Natur‹ mit dem ›Haben einer Natur‹ vermittelnde Selbstverhältnis der Person ermöglicht. Das Unsichtbare in anderen Lebewesen ist daher nicht bloß im Akt einer abstrakten Anerkennung, sondern in einer phänomenalen Spur gegeben: »Die Worte ›Schmerz‹ und ›Lust‹, angewendet auf andere Lebewesen, sind nicht pure Äquivokationen. Bestimmte Verhaltensweisen dieser Lebewesen werden uns mit Hilfe dieser Begriffe verständlicher als auf jede andere Weise.« 38 Der für das metaphysisch-analoge Denken konstitutive Begriff des Lebens ermöglicht es, dass die Person, ohne ein Sosein zu sein, im Kontinuum der phänomenal zugänglichen Welt verbleibt und sich selbst mit dem phänomenal Gegebenen kommensurabel machen kann: »Seiendes als Seiendes bestimmen, heißt, es unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit uns selbst bestimmen. Ein kritischer Anthropomorphismus ist die Bedingung jeder Ontologie.« 39 Gerade in dem mit dem Attribut ›kritisch‹ bezeichneten unüberwindbaren Verdacht des idiosynkratischen Charakters dieses Weltverhältnisses ist der mögliche Bezug auf die Wirklichkeit vorausgesetzt. In den Gedankengang hat sich somit eine merkwürdige Zweideutigkeit des Ähnlichkeitsbegriffs eingeschlichen. Ging es zunächst um Ähnlichkeit im Sinne qualitativer Beziehungen zwischen distinkten Entitäten, die in einer bestimmten Hinsicht betrachtet werden, so ist in der Aussage, »dass Ähnlichkeit das fundamentale Medium unseres In-der-Welt-Seins ist« 40, eine Analogizität alles Seienden angesprochen und es ist nicht direkt ersichtlich, wie diese beiden Begriffe der Ähnlichkeit zusammengehören sollen. Bereits der Essay von 1996, in dem die verschiedenen Betrachtungsweisen der Ähnlichkeit herausgearbeitet werden, schließt mit der Folgerung: »Eine Philosophie der Ähnlichkeit müsste in eine Ontologie münden, deren
37 38 39 40
Spaemann, Personen (1996), 134–135. Ebd. 135. Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 55. Ebd. 56–57.
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Grundbegriffe die des Nahen und des Fernen, der Distanz und der Ent-Fernung wären.« 41 In dem Selbstkommentar von 2009 konkretisiert Spaemann diese Schlussfolgerung: Ich dachte damals, Ähnlichkeit sei ein elementarer, nicht unter ein Allgemeineres subsumierbarer Begriff, wie der des Seins. Alles, was ist, ist Anderem, was ist, ähnlich, sonst könnten wir von ihm nicht sprechen und nicht wissen. Und es ist ein Irrtum, Ähnlichkeit als partielle Identität und partielle Verschiedenheit zu verstehen. Es gibt aber, wie mir dann aufging, einen elementareren Begriff, unter den der der Ähnlichkeit subsumierbar ist: der Begriff der Nähe. Alles, was ist, steht in Beziehungen der Nähe zu Anderem, was ist. 42
Zunächst hat sich damit das Problem nur verschoben und es muss gefragt werden: Was ist Nähe? Das Wort hat primär räumliche Semantik. 43 Da Spaemann aber räumliche Nähe – neben qualitativer, zeitlicher und anderen Formen – als Spezialfall von Nähe versteht, 44 stellt er selbst die Frage: »Aber verstehen wir, was Nähe und Ferne sind?« 45 Hier soll versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu entwickeln, die sich am Zusammenhang der beiden hier betrachteten programmatischen Texte mit der zuvor erörterten Ontologie der Person orientiert. In »Personen« schrieb Spaemann im Hinblick auf das Verhältnis der Person zur räumlich-zeitlichen Indexikalität ihrer ›gehabten Natur‹ : Personen sind […] die archimedischen Punkte, von denen aus es allein möglich ist, Raum- und Zeitstellen zu identifizieren, weil durch sie allein »Hier« und »Jetzt« definierbar sind. Ein Hier und Jetzt gibt es nur für Personen, also Lebewesen, die einerseits ein vitales Zentrum bilden, von dem aus sich eine Perspektive ergibt, die aber andererseits um diese Perspektivität und also die Relativität dieses Zentrums wis-
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 57. Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58. 43 Vgl. den Artikel »Nähe« im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, in dem drei Bedeutungen von »Nähe« aufgeführt werden, wobei die erste durch die Anzahl der angeführten Textbelege klar dominiert: »1) das örtliche nahesein oder etwas nahgelegenes«, »2) das nahestehen durch verwandtschaft« und »3) zeitliches nahesein oder herannahen«. – Deutsches Wörterbuch, s. v. Nähe, XIII, col. 288–289. 44 Vgl. Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58–59. 45 Ebd. 59. – Weiter heißt es an dieser Stelle: »Ich würde es gerne verstehen. So widme ich diese Zeilen als eine Flaschenpost demjenigen, der das Buch schreiben wird, das ich gern geschrieben hätte.« 41 42
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sen und deshalb von »hier« im Unterschied zu »woanders« und von »jetzt« im Unterschied zu »früher« oder »später« sprechen können. 46
Es geht dabei nicht um die bloße Verwendung lokal- und temporaldeiktischer Adverbien, sondern um die in ihrem ›Definieren‹ sich ereignende Distanznahme zu einem lokal und temporal situierten Lebewesen. Die indexikalischen Ausdrücke ›hier‹ und ›jetzt‹ werden demnach definierbar, indem sie transzendiert werden. Aus der Perspektive eines vitalen Zentrums gibt es eine Umwelt, in der alle Objekte auf dieses Zentrum bezogen bleiben, ohne dass die Relation zwischen ihnen bewusst würde. 47 Nähe ist, auch wenn man von der primären räumlichen Semantik abstrahiert, ein wesentlich relationaler Begriff. Nähe ist Nähe zu etwas bzw. zu jemandem. Dieses relationale Verhältnis kann nur einem Wesen im Bewusstsein gegeben sein, das mit sich nicht identisch ist, da es über seine eigene Indexikalität hinaus ist. Erst mit der Entdeckung der Person, also im Transzendieren der Perspektivität des vitalen Zentrums, entsteht ein ›Blick von nirgendwo‹ 48 und mit ihm das Bewusstsein der Relation, das einen Begriff der Nähe ermöglicht, der über allen in der Perspektivität des Lebewesens fundierten Formen der Nähe – der räumlichen, zeitlichen, qualitativen u. a. – steht. Personen sind daher die archimedischen Punkte außerhalb des universalen Kontextes der Welt, durch deren Kontextunabhängigkeit paradoxerweise jener Kontext zuallererst als Kontext erfasst wird und die Person gerade als die ihn erfassende in den Kontext wieder eingeht. Die kontextunabhängigen Personen machen sich, wie gesehen, durch ihr Selbstverhältnis wieder kommensurabel mit dem im universalen Kontext Gegebenen. Beziehungen der Ähnlichkeit innerhalb dieses Kontexts sind Ausdruck der ontologischen Differenz von Sein und Sosein, die erst durch den ›Blick von nirgendwo‹ zu Bewusstsein gelangt, aber eine phänomenale Gegebenheit darstellt, die von diesem Bewusstsein nicht abhängig ist. So wird klar, dass Ähnlichkeit als qualitative Nähe ein Spaemann, Personen (1996), 175. Dies gilt nicht allein für Lebewesen ohne Selbstbewusstsein, sondern auch für menschliches Leben vor der Entdeckung der Person. Platonisch gesprochen ergibt Nähe sich aus der Beziehung zum Guten, definiert das Gute Nähe. Aber auch hier ist die Relation selbst dem Bewusstsein noch nicht gegeben, so dass die Bezeichnung des Verhältnisses zum Guten als Nähe bereits die reflexive Wendung auf die Selbsttranszendenz impliziert, die sich Platon noch nicht eröffnet hatte. 48 Spaemann, Personen (1996), 82. – Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 594. 46 47
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Spezialfall der Nähe ist, dass die beiden Ähnlichkeiten, von denen die Rede war, dieselbe Ursache haben und die vermeintliche Zweideutigkeit des Ähnlichkeitsbegriffs in Wahrheit der Ausdruck unterschiedlicher Zugänge zur Wirklichkeit ist. Die unternommene gedankliche Anstrengung hat also zu einer Differenzierung geführt, durch die die spezifisch personale Perspektive von einer vorpersonalen abgehoben werden kann, und es muss erläutert werden, welchen indirekten Erklärungswert diese vorpersonale Perspektive in dem hier verfolgten Gedankengang hat. Die personale Wahrnehmung von Ähnlichkeit als qualitative Nähe erlaubt einen Rückschluss auf die Sicht vor der Entdeckung der Person und die in ihr noch latente Dimension der Ähnlichkeitswahrnehmung. Ähnlichkeit zeigt sich auch einem Blick, dem das relationale Verhältnis der Nähe nicht im Bewusstsein gegeben ist und der daher Ähnlichkeit noch nicht als qualitative Nähe erkennen kann, obwohl auch diese Wahrnehmung auf dasselbe Phänomen zielt wie die personale Wahrnehmung. Solche vorpersonale Ähnlichkeitswahrnehmung kann, da sie nicht vom Subjekt ausgeht, nur als unmittelbare Wahrnehmung von Seiendem als Seiendem verstanden werden. Erst indem diese Unmittelbarkeit im Ausgang vom Subjekt verloren gegangen ist, Seiendes sich als Sosein zeigt und die Möglichkeit einer Eliminierung von Ähnlichkeitsbeziehungen durch die Wissenschaft entstanden ist, bietet sich die Möglichkeit, in der reflexiven Wendung auf die Selbsttranszendenz und damit im bewussten Erfassen der Relation der Nähe durch das phänomenal Gegebene hindurch im Sosein das Seiende wahrzunehmen, das zunächst unmittelbar, und das heißt: nicht als Seiendes gegeben war. Vor der Entdeckung der personalen Perspektive konnte dieser Zusammenhang nicht erfasst werden, konnte sich das Denken hier nur in jenem ›schlüpfrigen Gelände‹ bewegen, von dem oben die Rede war. Der Erklärungswert der Unterscheidung zweier Perspektiven besteht darin, dass sie, wenn beide ungeachtet des Ereignisses der Entdeckung der Person, das als reflexive Wendung auf die Selbsttranszendenz eine Zäsur darstellt, in einem durch das Aussein-auf gestifteten Kontinuum zu verorten sind, in diesem Kontinuum vermittelt sein müssen. Die beiden Perspektiven – die der lebendigen Zentralität und die personale –, die sich antagonistisch verhalten, sind theoretisch angenommene Grenzfälle, die in der Wirklichkeit immer als miteinander vermittelt gedacht werden müssen. Die personale Perspektive kann sich nie vollständig vom Interesse des Lebewesens, seiner ›gehabten Natur‹, 664 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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lösen, 49 wie umgekehrt die Perspektive der lebendigen Zentralität nie in der reinen Funktionalität der biologischen Selbsterhaltung aufgehen kann, sondern eine wenn auch nur rudimentäre Rezeptivität für die ontologische Differenz von Sein und Sosein als integralen Bestandteil enthalten muss. 50 Wenn somit in der personalen Perspektive die vorpersonale immer schon erinnert wird, kann jene nur durch diese voll verstanden werden. 51 Die Relation der Nähe zu etwas bzw. zu jemandem wird erst für Personen denkbar, die sowohl über eine konkrete Perspektivität verfügen als auch diese bewusst transzendieren, so dass Nähe für Personen paradoxerweise einerseits ihre räumliche Konnotation behält, andererseits aber eine Bedeutung gewinnt, die räumliche und zeitliche Indexikalität hinter sich lässt. Nähe bezeichnet für Personen eine Relation, die – wiewohl nicht denkbar ohne den Ausgang von einer konkreten Raum-Zeitstelle – primär ontologische Bedeutung hat: Nähe ist Sein. 52 Seinen eigentlichen ontologischen Ort hat die Nähe in der interpersonalen Begegnung. Der Gedanke einer allgemeinen Lesbarkeit der Welt – und damit die Überwindung der in der Ontologie der Person noch enthaltenen anthropozentrischen Perspektive, von der eingangs die Rede war – lässt sich erst durch die Reflexion auf den kontinuierlichen Zusammenhang der beiden Perspektiven – der personalen und der lebendiger Zentralität – konkretisieren, indem Formen der Nähe – wie Ähnlichkeit als qualitative – als Nähe gedacht werden. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit ist, wenn man die rein subjektive Assoziation ausgrenzt, Wahrnehmung der ontologischen Differenz von Sein und Sosein. Im Hinblick auf alle phänomenalen Gegebenheitsweisen der ontologischen Differenz beVgl.: »Die reine Transzendenz wäre ihrer selbst nicht bewußt. Eine Person enthüllt sich uns nur vermittelt durch eine Verbindung nicht einzigartiger Qualitäten.« – Spaemann, Personen (1996), 86. 50 Auf diesen Gedanken wird zunächst in Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 681–690, und danach in den abschließenden Überlegungen des dritten Teils zurückzukommen sein, in denen von einem »kontemplativen Moment« die Rede sein wird. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 889–910. 51 Diese These ist eine Vorausdeutung auf das Gedankenexperiment in den abschließenden Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, in dem versucht werden wird, das Ereignis der Begegnung aus der vorpersonalen Perspektive zu denken. 52 An diese Feststellung wird im Rahmen der Schlussfolgerungen im dritten Teil angeknüpft werden. – Vgl. Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung, 879–888. 49
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steht aber das Problem der umgekehrten Perspektive. Unter der Bedingung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt, unter der Bedingung also des Verlusts der Unmittelbarkeit, kann das Sein sich entweder im phänomenal Gegebenen verbergen oder dieses auf das Sein hin transparent werden. Der Unterschied zwischen beiden Wahrnehmungen besteht in dem, was sich nicht zeigt, darin, dass einerseits die Ähnlichkeit qualitativer Bestände erkannt und dabei das die konkrete Hinsicht dieser Wahrnehmung Fundierende unsichtbar bleiben kann, andererseits dagegen dieser Zusammenhang zwischen dem Fundierenden und seiner Erscheinung in der Ähnlichkeitswahrnehmung mit erfasst werden kann. Der entscheidende Gedanke Spaemanns, um den es in den beiden programmatischen Texten geht, lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: In jeder nicht nur auf subjektiver Assoziation beruhenden Ähnlichkeitswahrnehmung kann sich das eine gemeinsame Hinsicht begründende Unsichtbare – als ontologische Differenz zwischen einem qualitativen Bestand und dem im Erscheinen sich verbergenden Sein – enthüllen; ob es sich wirklich enthüllt, hängt davon ab, ob der Betrachtende das phänomenal Gegebene als bloße objektive Gegebenheit betrachtet oder er in der Dimension der Offenheit steht, in der andere Zentren der Bedeutsamkeit ihm durch die phänomenal gegebenen Weisen des Seins hindurch sichtbar werden. Im Folgenden sollen einige unsystematische Wege nachvollzogen werden, auf denen – nach der hier vorgelegten Interpretation – Spaemann innerhalb des skizzierten programmatischen Rahmens Versuche der Verallgemeinerung seiner Ontologie der Person unternommen hat, durch die Beiträge zur allgemeinen Lesbarkeit der Welt geleistet werden. Zunächst geht es dabei um die häufige Bezugnahme auf die Scheler’sche Wertphilosophie in Spaemanns späten Essays, die eine phänomenologische Erweiterung seiner philosophischen Konzeption ermöglicht. Zugleich müssen in diesem Zusammenhang aber auch Spaemanns kritische Auseinandersetzung mit Scheler und seine über diesen hinausgehenden Ideen zu einer Wertphilosophie referiert werden (9.1). Im zweiten Schritt steht der Begriff des Schönen im Mittelpunkt, durch den zum einen Spaemanns naturphilosophischteleologisches Denken durch die Annahme eines der Evolution vorausliegenden Apriori der Schönheit und einer Selbstdarstellungstendenz der Natur um einen wesentlichen Aspekt erweitert wird. Zum anderen eröffnen seine Überlegungen im Bereich der Ästhetik durch den Gedanken simulierter Transzendenz eine weitere Möglichkeit zu 666 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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einer phänomenologischen Vermittlung von Grundgedanken der Ontologie der Person (9.2). Schließlich muss noch einmal in diesem Abschlusskapitel des zweiten Teils auf »das Ende des Denkens« 53, die theologischen Überlegungen Spaemanns eingegangen werden, die im betrachteten Zeitabschnitt besonders viel Raum einnehmen. In »Nähe und Ferne« schrieb Spaemann: »Das absolut, das unendlich Ferne ist nicht.« 54 Die Frage, wie das Absolute als eine Weise der Nähe gedacht werden kann, führt über den Gottesbeweis aus dem futurum exactum zu einer abschließenden Auseinandersetzung mit der Polarität von Wissen und Glauben und zu dem Versuch, anhand zweier später ›Summen‹ seines Werks noch einmal die Grundbestandteile der genuin philosophischen Argumentation Spaemanns nachzuvollziehen (9.3).
Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 136. 54 Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58. 53
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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
Der Philosoph und Soziologe Max Scheler (1874–1928), der in Spaemanns Schriften vor 2000 nur gelegentlich erwähnt wird, 1 gewinnt in dem skizzierten programmatischen Rahmen seines späten Denkens eine neue Bedeutung. Im Essay »Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung« aus dem Jahr 2001 schreibt Spaemann: Max Scheler, dieser geniale Außenseiter der phänomenologischen Schule, hat Nietzsches Idee einer Ressentimentmoral, einer Umwertung der Werte durch den Willen der Schwachen zur Macht, aufgegriffen, ihn aber phänomenologisch vertieft. Die christliche Liebeslehre ist für ihn Ausdruck äußerster Kraft und Souveränität, während auf die neuzeitliche bürgerliche Moral Nietzsches Charakterisierung der Ressentimentmoral zutrifft. Was Scheler aber vor allem gezeigt hat, ist, dass so etwas wie Werte aus menschlichen Wertschätzungen so wenig ableitbar sind wie Zahlen aus dem Rechnen. Zahlen liegen dem Rechnen zugrunde, nicht umgekehrt. Werte den Wertschätzungen, und nicht umgekehrt. 2
Die gründlichste Auseinandersetzung Spaemanns mit Schelers Wertphilosophie findet sich in dem Essay »Daseinsrelativität der Werte« 3 1 Erwähnung findet Scheler beispielsweise in »Glück und Wohlwollen« – vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 57, 183 – oder in »Personen« – vgl. Spaemann, Personen (1996), 70, 178, 228. – Eine implizite Bezugnahme auf Schelers These der Seinserfahrung als Widerständigkeitserfahrung liegt bereits in »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« (1980/81) vor. – Vgl. Spaemann, a. a. O., 45. – Auch wenn Scheler in »Personen« nur am Rande erwähnt wird und insbesondere im Zusammenhang mit der Bildung des spezifischen Personbegriffs durch Spaemann nicht auf ihn Bezug genommen wird, zeigt sich die Nähe seines Personbegriffs zum Scheler’schen vor allem in der von diesem konstatierten »Übergegenständlichkeit« der Person. – Vgl. Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 315. – Vgl. auch: »[…] absolut ausgeschlossen ist es, daß die Person Gegenstand, sei es der von ihr selbst vollzogenen, oder sei es der von einem anderen vollzogenen Vorstellung oder Wahrnehmung wird. D. h. zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert und lebt im Vollzug intentionaler Akte. Sie ist also wesenhaft kein ›Gegenstand‹. Umgekehrt macht jede gegenständliche Einstellung (sei es Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Erinnern, Erwarten) das Sein der Person sofort transzendent.« – Scheler, Der Formalismus der Ethik und die Materiale Wertethik, 480–481. 2 Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 181. 3 Erschienen unter diesem Titel in: Chr. Bermes, W. Henckmann, H. Leonardy
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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
aus dem Jahr 2000, dessen wesentliche Thesen im Folgenden entwickelt werden sollen. 4 Spaemann geht es in diesem Essay erstens um einen affirmativen Nachvollzug wesentlicher Grundgedanken der Scheler’schen Wertphilosophie, zweitens um die Herausarbeitung der wesentlichen Differenz zwischen ihr und seinem eigenen Denken und drittens um eine spekulative Weiterentwicklung der Einsichten Schelers in seinem eigenen Sinn. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die »Zweideutigkeit«, mit der die »Einführung des Wertbegriffs in die Philosophie« 5 im 19. Jahrhundert verbunden war. Der Wertbegriff kann einerseits verstanden werden als »Kompensation eines Defizits« 6 oder andererseits als »gedankliche und begriffliche Ausdifferenzierung mit theoretisch bedeutendem Gewinn« 7. Der Gedanke der »Ausdifferenzierung« bezieht sich auf »die klassische Formel ›omne ens est bonum‹« 8 und meint die durch die gedankliche Trennung von Seiendem und Gutem möglich werdende Entdeckung von »Strukturen des Guten […], die zuvor verborgen waren« 9. Das der ersten Alternative zugrunde liegende Defizit dagegen besteht in der »neuzeitliche[n] Reduktion des Seins auf bloßes Vorhandensein« 10, die dann kompensiert werden muss, indem durch subjektive Wertung der »aus dem Sein eliminierte[…] Aspekt des bonum nun als ›Wert‹ sozusagen von außen wieder an die Wirklichkeit« 11 herangetragen wird. Der öffentliche Diskurs der Gegenwart ist dabei nach Spaemanns Überzeugung von der ›kompensatorischen‹ Variante des Wertbegriffs bestimmt: Hinter der Rede von Werten steht die vage Vorstellung, daß uns die moderne, per definitionem materialistische Naturwissenschaft darüber belehrt, was die Wirklichkeit ist. Menschliche Gesellschaften aber brauchen, um gemeinsam leben, sich verständigen und handeln zu (Hrsg.), Person und Wert. Schelers »Formalismus« – Perspektiven und Wirkungen, Freiburg 2000, 29–46. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Grenzen, 145–160. 4 Darüber hinaus nimmt Spaemann auch in anderen späten Essays Bezug auf Scheler, z. B. in: Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 190, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 256, u. Wie konntest du nur tun, was du getan hast? (2005), 228–229. 5 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 145. 6 Ebd. 7 Ebd. 146. 8 Ebd. 9 Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182. 10 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146. 11 Ebd.
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
können, darüber hinaus so etwas wie gemeinsame Wertschätzungen. Da es keine objektiven Gründe für diese Wertschätzungen gibt, ist deren oberstes Kriterium der faktische Konsens in einer bestimmten Zivilisation und, in der westlichen Zivilisation, darüber hinaus die Überzeugung von der Konsensfähigkeit für alle gutwilligen Menschen. 12
Dieses relativistische Wertverständnis geht jedoch einher mit der »Verabsolutierung des eigenen, das heißt des spätbürgerlichen, individualistischen Ethos der westlichen Zivilisation« 13, so dass »Universalismus und Eurozentrismus, Wertabsolutismus und Wertrelativismus […] in den gegenwärtigen Debatten ständig ineinander« 14 umschlagen. Vor dem Hintergrund dieser Dialektik legt Spaemann dar, wie Scheler die »Behauptung der Absolutheit der Werte und ihrer Rangordnung einerseits, die Entdeckung der tiefgreifenden Unterschiedlichkeit geschichtlicher Ethosformen andererseits« widerspruchsfrei zusammendenken kann. Seinen Einwand gegen die relativistische Deutung von Werten als »Projektionen subjektiver Wertungen« 15 entwickelt Scheler aus »einer phänomenologischen Analyse, die derjenigen Husserls analog ist«: »Die Analyse des Werterlebens ergibt, daß Werte weder Produkte noch Ursachen, sondern Gegenstände unseres Fühlens sind.« 16 Werte sind also weder unsere subjektiven Setzungen noch eine von unserem Fühlen unabhängige Realität, sondern haben ihr Sein in den werterschließenden Akten. »›Omne ens est bonum‹, das kann werttheoretisch so ausgedrückt werden: In allem, was ist, können immer wieder neue Qualitäten durch entsprechende Akte des Fühlens zur Anschauung kommen.« 17 Gerade weil Schelers Wertbegriff »eine unendliche Vielzahl von Werten unter sich faßt« 18, kann er eine Pluralität denken von »geschichtlichen Wertordnungen, aus denen sich dann jeweils bestimmte Normensysteme ergeben« 19. Scheler geht also »nicht davon aus, daß alle Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146. Ebd. 147. 14 Ebd. 148. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 149–150. – Unter den ›Werten‹ versteht Scheler somit »genuine[…] Seinsgegebenheiten, […] die uns wesentlich im Fühlen der Höher- oder Minderwertigkeit unserer Strebensziele erkennbar werden«. – Schweidler, Max Scheler: Der Wert, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik. Lehr- und Lesebuch, 131. 18 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146. 19 Ebd. 149. 12 13
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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
Menschen, ungeachtet ihrer kulturellen Verschiedenheit, im Grunde dasselbe schätzen und dasselbe verwerfen« 20. Wesentlich für seine Auffassung ist die Verbindung eines Kulturrelativismus mit einem Wertabsolutismus. Obwohl sich aber in verschiedenen »geschichtlichen Ethosformen« eine »Verschiedenheit von Interessen« zeigt, vertritt Scheler »dezidiert die These, daß Ethosformen nur dann gesellschaftliche Relevanz gewinnen, wenn das nützlich ist für die basale, gesellschaftsstabilisierende Bedürfnisbefriedigung« 21. Die durch verschiedene Interessen und aus ihnen resultierende unterschiedliche Kombinationen von Werteinsichten geprägten Ethosformen weisen also einen analogen sozialen Selbsterhaltungsmechanismus auf, von dem die ihm zugrunde liegenden Werte unabhängig sind: »Nützlichkeit ist, so zeigt Scheler, nicht das Wesen der Werte, auch nicht der gesellschaftlich geltenden, also nützlichen.« 22 Von diesem »Kulturalismus« 23 Schelers hebt sich das Selbstverständnis der spätbürgerlichen westlichen Zivilisation dadurch ab, dass diese in ihrem Wertrelativismus als analoges Motiv aller denkbaren Wertsetzungen das Selbsterhaltungsstreben, also den Wert der Nützlichkeit erkennt: 24 »Indem allen anderen Epochen und Kulturen dieses ethische Kriterium unterstellt wird, entpuppt sich der herrschende Relativismus als Verabsolutierung der Moral der eigenen Gesellschaft, die sozusagen die Wahrheit aller anderen zu sein beansprucht.« 25 Gegenüber diesem auf »Kulturimperialismus« 26 hinauslaufenden Selbstverständnis der westlichen Zivilisation verbindet Scheler und Spaemann die Idee, das Selbsterhaltungsstreben als Schwundstufe eines ihm zugrunde liegenden ursprünglichen Strebens zu verstehen. Was Spaemann schon in seinen Anfängen als Philosoph zum teleologischen Denken brachte, führte Scheler zur Ausbildung seiner Wertphilosophie. Um der darin verborgenen Parallele näher kommen zu können, muss im nächsten Schritt gefragt werden, was »Absolutheit der Werte für Scheler bedeutet« 27.
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Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 149. Ebd. 151. Ebd. 152. Ebd. Vgl. ebd. 149. Ebd. 149. Ebd. 147. Ebd. 153.
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Der Gedanke der Absolutheit der Werte scheint in einem direkten Widerspruch zu stehen zu ihrer Daseinsrelativität, die sich in dem bereits erwähnten Sachverhalt ausdrückt, dass Werte zwar keine subjektiven Setzungen sind, aber auch kein von den auf sie gerichteten Akten unabhängiges Sein haben: »Werte ebenso wie Zahlen sind intentionale Gegenstände, deren Sein das mögliche Gegenstand-Sein in intentionalen Akten ist. Ohne den Bezug auf diese Möglichkeit hat es so wenig Sinn, von Werten zu sprechen, wie es Sinn hat, ohne Bezug auf mögliches Sehen von Farben zu sprechen.« 28 Was kann bei solcher Relativität der Werte ihre Absolutheit bedeuten? Sie besteht darin, dass Werte zwar nur in der Wahrnehmung gegeben sind, dass sie aber eine absolute, d. h. von jeder subjektiven Wahrnehmung unabhängige Geltung haben: Das kann man sich am besten deutlich machen am Beispiel des Wertes des Nützlichen. Das Nützliche ist ein Wert, der relativ ist in Bezug auf alles Lebendige. Es gibt das, was dem Lebendigen zuträglich ist, wodurch es gefördert und erhalten wird, und es gibt das Schädliche als dessen Gegenteil. Nun liegt auf der Hand, dass es keinesfalls Sache irgendwelcher subjektiver Wertungen ist, was einem Menschen nützt und was ihm schadet. Das Nützliche entspringt nicht irgendeiner Wertung, sondern die Wertung bzw. Wertschätzung bezieht sich auf das Nützliche und muss ihm bei Strafe des Untergangs entsprechen. Wer etwas Schädliches für nützlich hält oder wer glaubt, den Wert des Nützlichen überhaupt leugnen zu können, der wird die Wertstruktur schmerzlich zu fühlen bekommen. 29
Daseinsrelativität gibt es also nicht in Bezug auf ein cartesisches Subjekt als instantanes ›cogito‹, sondern in Bezug auf Lebewesen. 30 Werte Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 154. Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182. 30 Auch das Subjekt der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist keineswegs ein solches cartesisches Subjekt: »Daseinsrelativ in diesem Sinne ist für Scheler die gesamte Welt der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Das abstrakte Design dieser Welt entspringt dem menschlichen Willen zur Naturbeherrschung. Scheler schließt sich hier eng an die pragmatische Deutung der Naturwissenschaft an. Die Wissenschaft reduziert ihre Gegenstände auf Aspekte, mit deren Hilfe die Natur menschlichen Zwecken verfügbar gemacht werden kann. Sie ist deshalb nicht etwa wertfrei, sondern unter dem Aspekt möglichen Nutzens konstruiert und zur Gegebenheit gebracht. Dies ist der Grund dafür, daß es keine naturwissenschaftliche Erklärung des Lebens geben kann. Denn die Mechanismen, die hier für die Erklärung des Lebens herangezogen werden, haben ihre Wirklichkeit nur relativ auf Leben und dessen Herrschaftswillen.« – Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 156. 28 29
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sind daseinsrelativ in dem Sinn, dass sie ihr Sein darin haben, »dem Leben allererst Bedeutsamkeit zu geben beziehungsweise die Bedeutsamkeitsstruktur des Lebendigen auszumachen und zu definieren« 31. Dadurch, dass ein Lebewesen zu seiner Umwelt in eine Beziehung tritt, entsteht die Relationalität, in der Werteinsichten möglich werden, und erst im Transzendieren der eigenen Perspektivität durch ein solches Lebewesen wird diese Relationalität und damit die Daseinsrelativität der möglichen Wertbeziehungen bewusst. 32 Die Absolutheit der Werte ergibt sich daraus, dass das Lebewesen in die Wertbeziehungen wesentlich rezeptiv eingeht. 33 Die in den Werteinsichten rezipierten Wirkungen der Welt können aber »nicht kausal interpretiert werden im neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Sinn formal-mechanischer Kausalität« 34. Vielmehr verfügt »Scheler über einen Begriff von Kausalität, den er selbst ›metaphysisch‹ nennt und der nichts mit einem gesetzmäßigen Folgen nach Regeln zu tun hat«: »Die wahre Welt ist nicht eine Welt von Gestalten, sondern von Kräften. Diese sind es, die real wirken und die Körperbilder ebenso wie deren formalgesetzliche Kausalverknüpfung hervorbringen.« 35 Im Zusammenhang mit dieser »Metaphysik der Kräfte bei Scheler«, die »eng mit seiner Idee des ›Dranges‹ und ›Triebes‹ als Urwirklichkeit verbunden ist« 36, kommt Spaemann auf den wesentlichen Differenzpunkt zu sprechen, an dem er sich von Scheler trennt: Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 158. Der hier angesprochene Zusammenhang des Lebewesens mit seiner Umwelt ist zugleich Ansatz einer Moralbegründung, wie sie etwa in Philippa Foots »Die Natur des Guten« vorliegt: »Meine allgemeine These ist, daß die moralische Beurteilung menschlicher Handlungen und Dispositionen ein Fall einer Art des Bewertens ist, die selbst gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß sie Lebewesen betrifft.« – Foot, Die Natur des Guten, 18. – Vgl. dazu auch Spaemanns Rezension dieses Buches: »[…] was gut und böse ist, hat überhaupt nichts mit subjektivem Belieben zu tun, sondern ist, wie für alles Lebendige, eine objektive, durch die artspezifische Lebensform vorgezeichnete Größe. Wenn das Belieben von dieser Größe zu sehr abweicht, dann hat das, wie jeder Fehler, nachteilige Folgen.« – Spaemann, Wenn ein schlimmer Zufall des Lebens uns das Glück raubt. 33 An dieser Stelle wird deutlich, wie der Scheler’sche Wertbegriff sich in den mit den Begriffen ›Ähnlichkeit‹ und ›Nähe‹ gesetzten programmatischen Rahmen der späten Aufsätze Spaemanns einfügt. Wertqualitäten bezeichnen Ähnlichkeiten von Gegenständen der Wahrnehmung, die weder als Eigenschaften der Gegenstände noch als subjektive Setzungen, sondern nur als ›ideale Objekte‹ verstanden werden können. 34 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 156. 35 Ebd. 36 Ebd. 31 32
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Der Deutung der primären, nicht mehr daseinsrelativen Wirklichkeit als Kraft entspricht es, daß die eigentlich ontologisch relevante Erfahrung, die Seinserfahrung schlechthin für Scheler, die Erfahrung von Widerstand ist. In ihr macht sich Realität als eine von uns unabhängige empirisch geltend. Sie ist keine Soseinsgegebenheit, sondern eine Art blinder Widerständigkeit, die sich unserem eigenen Drang, unserer eigenen Daseinsentfaltung entgegensetzt. Ich halte diese These für den tiefsten Irrtum dieses großen Phänomenologen. Scheler verstand sehr genau die Grenze der Phänomenologie. Er verstand, daß das intentionale Objekt Husserls durchaus indifferent ist gegen seine realistische oder idealistische Deutung: entgegen Husserls eigener Meinung und entgegen der Meinung der realistischen Phänomenologen, die glaubten, Husserls »Sachen selbst« seien per definitionem Realien. Aber mit seiner Deutung der Realitätserfahrung als Widerstandserfahrung versucht Scheler doch noch, einen phänomenalen Tatbestand als Realitätsindiz festzumachen. 37
Eine Grundüberzeugung Spaemanns ist dagegen, dass es »keine sinnliche Seinserfahrung« 38 gibt, sondern Sein »das Korrelat eines Aktes der Anerkennung« 39 ist. Der methodische Ansatz der Phänomenologie ist wehrlos gegen den Verdacht, bloße Idiosynkrasie zu sein bzw. das Epiphänomen einer zugrunde liegenden materiellen Realität. »Die Frage nach der ›Seinsart‹, dem ontologischen Status des transzendentalen Bewußtseins,« bemerkte Spaemann daher in »Personen«, »mußte den methodischen Ansatz der Phänomenologie sprengen.« 40 An die Stelle der Scheler’schen Seinserfahrung als Widerständigkeit tritt bei Spaemann der Gedanke der Anerkennung: Sein, von unserer Subjektivität schlechthin unabhängige Realität, setzt spontane Transzendenz voraus, Überschreitung von Umwelt auf Welt als den Inbegriff des anderen unserer selbst. Diese Transzendenz ist – weit entfernt, Erlebnis des Irrationalen zu sein – der fundamentale Akt der Vernunft. Aber Realität verhält sich zu diesem auf sie gerichteten Akt nicht, wie sich intentionale Gegenstände zu den sie erfassenden Akten verhalten. Denn das in diesem Akt Vermeinte ist gerade das Jenseits aller intentionalen Gegenständlichkeit: dies aber nicht im Sinn eines irrationalen Widerstandes, sondern im Sinne der Anerkennung anderen Selbstseins. Und zwar in dem Bewußtsein, daß
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Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 156–157. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2012), 45. Ebd. 42. Spaemann, Personen (1996), 73.
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ich selbst für den anderen ein anderer bin, jenseits aller möglichen Gegenständlichkeit für ihn. Jenseits aller möglichen Gegenständlichkeit ist für Scheler nur das Sein der Person. Was Scheler meines Erachtens nicht sah, ist, daß das Sein von Personen nicht ein erkenntnistheoretischer Grenzfall ist, sondern das Paradigma für alle Erkenntnis von unabhängiger, selbständiger Wirklichkeit. 41
Die Seinserfahrung, die ihren eigentlichen Ort in der interpersonalen Begegnung hat, ist für Spaemann in Abstufungen in der Wahrnehmung anderer Lebewesen und – als »erkenntnistheoretischer Grenzfall« 42 – in der Wahrnehmung »unlebendiger Materie« 43 möglich. Der prinzipielle Einwand Spaemanns gegenüber Scheler, wonach diese Seinserfahrung keine sinnliche ist, sondern als Anerkennung der ›fundamentale Akt der Vernunft‹, ist gerade dadurch kein Einwand gegen die Wertphilosophie selbst, als für Spaemann die Anerkennung von Sein ebenso im Hinblick auf Lebewesen und unlebendige Materie möglich ist wie für Scheler die Widerstandserfahrung. In dieser prinzipiellen Differenz ist also eine Übereinstimmung verborgen hinsichtlich der personalen Rezeptivität in Bezug auf Sein. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie Schelers ›Metaphysik der Kräfte‹, die nicht nur seinem Gedanken der sinnlichen Seinserfahrung, sondern auch der Möglichkeit von Werteinsichten zugrunde liegt, bei Spaemann so transformiert wird, dass er die durch Schelers Wertbegriff ermöglichte Ausdifferenzierung von Strukturen des Guten ohne die Konsequenz sinnlicher Seinserfahrung aufnehmen kann. Im letzten Abschnitt des Essays »Daseinsrelativität der Werte« 44 unternimmt Spaemann zu dieser Frage den über Scheler hinausgehenden Versuch, Grundgedanken seiner Wertphilosophie mit der Ontologie der Person in ein Verhältnis zu setzen. Ausgangspunkt der Überlegung ist eine ›Lücke‹ in Schelers Denken: Wenn Werte nicht Produkte wertender Akte sind, sondern das, was diese Akte erst ermöglicht und was sie definiert, und wenn doch umgekehrt Werte kein Sein haben unabhängig von der möglichen intentionalen Gegenständlichkeit für wertnehmende Akte, dann stellt sich allerdings ein neues Problem, das Scheler nicht ausdrücklich erörtert
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Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 157. Ebd. Ebd. Abschnitt III, ebd. 158–160.
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hat, das sich aber aus seinen allgemeinen ontologischen Prinzipien ergibt. 45
Die allgemeinen ontologischen Prinzipien, um die es geht, sind erstens, »daß alles Daseinsrelative in einem absolut Realen gründet«, woraus folgt, dass »überall dort, wo wechselseitige Relativität vorliegt, keines der Seienden real ist« und daher »ein Drittes angenommen werden« muss, »auf das die beiden einander wechselseitig bedingenden relativ sind«, und zweitens, dass »nur in einem Bewußtsein […] zwei ideale Inhalte in eine Relation zueinander treten« 46 können. Das von Scheler nach Spaemann nicht erörterte Problem ist also folgendes: Wenn Akt und Aktgegenstand im Fall wertnehmender Akte streng korrelativ aufeinander sind, dann kann keines der beiden als absolut Seiendes betrachtet werden, im Verhältnis zu dem das andere daseinsrelativ ist. Beide müssen daseinsrelativ auf ein Drittes sein, das von der Art des Bewußtseins sein muß. Was ist dieses Dritte? Und wie läßt es sich vermeiden, daß dieses Dritte, das ja wiederum sein Sein in intentionalen Akten hat, seinerseits eines Vierten beziehungsweise Fünften bedarf und so in infinitum? 47
Spaemann vergleicht dieses Problem mit der für sein eigenes Denken zentralen cartesischen Reflexion auf das ›cogito‹ und den Schritt zum ›sum‹, der bei Descartes mit der Theologisierung der Ontologie bezahlt wird. Nur durch die Annahme eines absoluten Bewusstseins konnte Descartes jene unendliche Iteration vermeiden, wie sie sich in ähnlicher Form aus der Betrachtung der Korrelation von Akt und Aktgegenstand ergibt. Spaemanns alternative metaphysisch-analoge Deutung des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ als doppelte Negation einer Transzendenz des natürlichen Transzendierens führte letztlich zu seinem Personbegriff. In Bezug auf das Scheler’sche Problem der Daseinsrelativität fragt Spaemann daher: Ist die Realität der Person als des Aktzentrums diejenige absolute Realität, die die korrelativen Entitäten Akt und Aktgegenstand ermöglicht? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Die Person weiß sich nämlich nicht als Grund der apriorischen Gegenstände ihrer Akte, sie weiß sich nur als Zentrum ihrer Akte. Aber auch nicht als Grund die-
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Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 158. Ebd. Ebd.
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ser. Denn die Akte haben ja ihren Grund in ihren Gegenständen. Das ist in der These der Korrelativität impliziert. Die Person weiß auch von diesen Gegenständen nur mittels ihrer Akte. 48
Die Person ist für Spaemann keine hypostasierte Entität, sondern, wie oben gesehen, ›Blick von nirgendwo‹, ›Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem‹, ›Indifferenzpunkt der Freiheit‹. 49 Das heißt, die Person hat eine Natur, ohne diese Natur mit ihrer qualitativen Bestimmbarkeit zu sein. Und doch ist dieses ›Haben einer Natur‹ nur im personalen Daseinsvollzug gegeben und nicht als Entität objektivierbar. Die Person als ein sich dem Begriff Entziehendes wurde überhaupt erst denkbar durch ihre Funktion in einem ihr voraufliegenden teleologischen Zusammenhang. Als diesem Zusammenhang zugrunde liegend muss ein Aussein-auf, eine fundamentale Selbsttranszendenz, angenommen werden, die durch die Person, indem sie sich als aus ihm hervorgehend bewusst wird, selbst noch einmal transzendiert wird. Die Korrelativität von Akt und Aktgegenstand hat zur Voraussetzung, dass jene fundamentale Selbsttranszendenz der Natur und ihr personales Transzendieren zueinander in einem analogen Verhältnis stehen. Beide gehen aus demselben Aussein-auf hervor, das durch die reflexive Wendung auf sich selbst im personalen Standpunkt paradoxerweise die Natur transzendiert und zugleich natürlich bleibt. Diese Paradoxie ist begründet in der universalen ontologischen Differenz von Dasein (Sein) und Sosein (Wesen), die sich als natürliches Aussein-auf primär zeigt, die aber erst zu Bewusstsein gelangt im Transzendieren dieses Ausseinsauf, das dann gleichwohl in der reflexiven Wendung auf sein Sosein die ontologische Differenz auf einer neuen Stufe wiederholt. 50 Hier stößt das Denken jedoch an eine Grenze, insofern die Instanz, die
Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 159. Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 594. 50 Die Subsumtion der Ähnlichkeit unter die Nähe, von der einleitend die Rede war, verweist auf denselben Zusammenhang. Die Ähnlichkeit einfacher Qualitäten beruht auf Hinsichten, die von natürlichem Aussein-auf (oder seiner Nachahmung in der menschlichen ποίησις) begründet werden. Die in ihm zum Ausdruck kommende ontologische Differenz von Sosein und Dasein enthüllt sich als solche erst für die Person, die über diese Differenz bewusst verfügt und im phänomenal gegebenen natürlichen Aussein-auf und den von ihm begründeten Hinsichten das Wirken des im Erscheinen sich verbergenden Seins wahrnehmen kann. 48 49
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diese Seiten koordinieren kann, prinzipiell jenseits des Gesichtskreises eines möglichen Denkens situiert sein muss: Der Grund der Relation von Akt und Aktgegenstand, der ja, wie Scheler sagt, von der Art des Bewußtseins sein muß, kann deshalb nur als ein absolutes Bewußtsein, als intellectus archetypus gedacht werden, dessen Identität nicht, wie die des endlichen cogito, leer ist, sondern das die unendliche Fülle allen Wertgehaltes so in sich enthält, daß es sie sowohl ist als auch weiß, und zwar so, daß Sein und Wissen schlechthin zusammenfallen. Und das fühlende Wertnehmen endlicher Personen muß deshalb als eine von diesem absoluten Wertwesen inspirierte Teilhabe an dieser Selbstgegebenheit gedacht werden. Die Realität, auf die Akte und Aktgegenstände notwendig daseinsrelativ sind, kann nur die absolute Realität sein, deren Bewußtsein nicht seinerseits intentional gedacht werden kann, weil sonst der Verweis auf eine gründende Wirklichkeit sich, wie gesagt, unendlich iterieren müßte. 51
Die metaphysische Denkbarkeit der Person und des durch sie bewusst werdenden analogen Zusammenhangs ist fundiert im natürlichen Aussein-auf, das heißt, in der universalen ontologischen Differenz von Sein und Wesen. Gleichwohl ist der ›personale Ort‹ eine Grenze des philosophisch Denkbaren, von dem aus sich der spekulative Gedanke eines als ewige Selbstvermittlung, d. h. als Leben, gedachten Gottes ergibt. Der Gedanke des intellectus archetypus ist eine spekulative Annahme, der Weg, der vom teleologischen Aussein-auf über das Transzendieren des von ihm fundierten Zusammenhangs in der Person zu dieser Annahme führt, bleibt dagegen eine philosophische Argumentation, die an ihre eigene Grenze führt. Gerade im Sinne dieser philosophischen Argumentation muss aber gefragt werden, wie die »von diesem absoluten Wertwesen inspirierte Teilhabe« der Person an dem ihr voraufliegenden Zusammenhang von Sein und Wissen philosophisch gedacht werden kann. Eben zu dieser Frage verspricht die Wertphilosophie Antworten, insofern sie einen phänomenologischen Zugang zur Grenze der Philosophie selbst in Aussicht stellt. Schelers Wertphilosophie kann aber nur dann zu einer Verallgemeinerung von Spaemanns Ontologie der Person beitragen, wenn das »fühlende Wertnehmen« der Person, das von Scheler auf in der Welt wirkende Kräfte bezogen wurde, konkret phänomenal aus-
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gedeutet werden kann ohne die Konsequenz einer sinnlichen Seinserfahrung. Um eine solche im Rahmen des Scheler’schen Wertbegriffs sich bewegende Verallgemeinerung soll es im Folgenden ausgehend vom Begriff des Schönen gehen.
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9.2 Die Wahrnehmung des Seins im Schönen
Das Schöne aber ist nicht irgendeine Randverzierung des Lebens, sondern sein eigentlicher Sinn. Es gibt nichts Ernsteres, nichts, wofür es sich mehr lohnt, sich anzustrengen, als das Schöne. Das Schöne ist das wahrhaft Heilende, weil es das wahrhaft Wirkliche ist, der splendor veri, der Glanz des Wahren, wie Thomas von Aquin sagt. Robert Spaemann, Erziehung zur Wirklichkeit 1
Die Möglichkeit der Wahrnehmung von Sein, das für Spaemann ein Jenseits des Begriffs ist, ist begründet in dem personalen Vermögen, Seiendes »unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit uns selbst« 2 wahrzunehmen. Dieses Vermögen hat seinen eigentlichen Ort im interpersonalen Begegnungsgeschehen, das erst konkret wird durch symbolische Repräsentation 3 von Innerlichkeit. Eben dadurch ist die Begegnung von Personen aber paradigmatisch für die Gegebenheitsweise natürlicher Dinge und ermöglicht die Wahrnehmung von Ähnlichkeit als qualitative Nähe außerhalb des Beziehungsraums der Personen. Die Person selbst wurde überhaupt erst denkbar als Paradigma solcher Wahrnehmung, als Perspektive, der im Überschreiten des natürlichen Ausseins-auf dieses selbst im Gegenüber als das im Zeigen sich Verbergende gegeben wird. 4 Die personale Wahrnehmung der Spontaneität der Natur bzw. einer sie nachahmenden menschlichen ποίησις legt frei, was im Zusammenhang mit der Wertphilosophie als verborgene Strukturen des Guten bezeichnet wurde. 5 Die These dieses Teilkapitels ist, dass eine konkrete phänomenale Ausdeutung Spaemann, Erziehung zur Wirklichkeit (1987), 510. Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 55. – Vgl. Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 661. 3 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 116, u. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 608. 4 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 592. 5 Vgl. Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182, u. Teilkapitel 9.1, Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff, 669. 1 2
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9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution
dieser Wahrnehmung am Begriff des Schönen entwickelt werden kann. Dabei verfolgt Spaemann in seinen späten Essays zwei Wege. Zum einen fragt er nach dem Schönen in der Natur, wobei er mit Bezug auf das Evolutionsparadigma einen Vorschlag zur Vermittlung desselben mit den Grundgedanken des teleologischen Denkens unterbreitet. Gibt es, so lässt sich die Frage formulieren, ein der Evolution zugrunde liegendes Apriori der Schönheit (9.2.1)? Neben diesen die naturphilosophische Konzeption Spaemanns erweiternden Überlegungen besteht der zweite in den späten Essays beobachtbare Weg der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Schönen in der Skizzierung einer auf der dargelegten metaphysischen Konzeption aufbauenden Philosophie des künstlerischen Schaffens. Im Mittelpunkt dieser Linie seiner Gedanken stehen die Fragen, was es heißt, dass die Kunst die Natur nachahmt, und wie es erklärbar ist, dass Kunstwerke Seinserfahrungen möglich machen (9.2.2).
9.2.1
Schönheit als Apriori der Evolution
Die philosophisch ergiebigste Auseinandersetzung Spaemanns mit dem Thema des Naturschönen ist in seinem zuerst 2004 erschienenen Essay »Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur« 6 enthalten. Zunächst stellt Spaemann hier die Frage, was wir eigentlich meinen, wenn wir vom ›Schönen‹ sprechen: »Schön« ist keine empirische Eigenschaft wie »rot«, »heiß« oder »sechseckig«. »Schön« ist vielmehr ein sekundärer, ein »Reflexions«Begriff, den wir auf Sichtbares und Hörbares anwenden, das zuvor bereits durch andere, primäre empirische Prädikate bestimmt ist, zum Beispiel durch eine bestimmte Struktur, eine bestimmte Anordnung von Teilen oder wie immer wir diese Eigenschaften bestimmen wollen, aufgrund derer wir etwas »schön« nennen. 7
›Schön‹ ist also – ganz ähnlich wie ›Person‹ – ein Begriff, der auf ein als ein So-und-so Bestimmtes angewandt wird, ohne ihm etwas hinZuerst erschienen in: Bayerische Akademie der Schönen Künste, Jahrbuch 18/2004, Göttingen: Wallstein, S. 133–148. Wieder veröffentlicht in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 251–266. – Neben diesem Text nehmen die folgenden Ausführungen Bezug auf eine Reihe weiterer Essays Spaemanns zum Thema Ästhetik aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. 7 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 251. 6
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zuzufügen, der also ein nicht-prädikatives Feld der Bedeutung eröffnet. 8 Aufgabe der folgenden Überlegungen ist es, diese Art der Bedeutung zu erschließen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Vergleich des Wortes ›schön‹ mit dem Wort ›gut‹, das ohne naturalistischen Fehlschluss ebenso wenig als »empirische Eigenschaft« 9 verstanden werden kann. »Etwas gut nennen heißt, es zu betrachten unter dem Aspekt der Erfüllung eines Strebens. Etwas schön nennen heißt, es zu betrachten unter dem Aspekt des Gefallens, der Bejahung, der Freude bei seiner Betrachtung.« 10 ›Gut‹ ist also etwas, wenn es zweckmäßig ist für ein Wesen, dem es um etwas geht, wohingegen der Ausdruck ›schön‹ eine reine Affirmation eines phänomenal Gegebenen durch ein Lebewesen ist, das seine natürliche Zentralität transzendiert hat. In der Philosophie Platons sind »das Gute als einstelliges und als zweistelliges Prädikat, also das Schöne und das Gute« identisch: »Das Zweckmäßige und das Schöne sind letzten Endes ein und dasselbe.« 11 Hinter diesem Gedanken steht allerdings das Verständnis der Vernunft als Organ des Allgemeinen, in dem es keine in sich konsistenten partikularen Perspektiven geben kann. Vom personalen Standpunkt aus bzw. unter der neuzeitlichen Voraussetzung des Ausgangs vom Subjekt kann dieser Gedanke der Identität des Schönen und Guten nur durch eine Überwindung der partikularen Perspektive aktualisiert werden. Einen Ansatz zu dieser Aktualisierung sieht Spaemann in Kants Begriff des ›interesselosen Wohlgefallens‹, der »aus der französischen Moraldiskussion im 17. und 18. Jahrhundert« stammt und »dort ein Synonym für reine Liebe« 12 war: Das »interesselose Wohlgefallen«, als dessen Objekt Kant das Schöne definiert, hat die Eigentümlichkeit, einerseits ein subjektives Gefühl zu sein, andererseits aber – im Unterschied zu anderen Weisen des Sich-Wohlfühlens – einen objektiven Anspruch zu erheben, den Anspruch, durch seinen Gegenstand gerechtfertigt zu sein, so wie ein wahrer Satz durch seinen Gegenstand gerechtfertigt ist. Aber im Unterschied zu dieser Rechtfertigung geschieht die Rechtfertigung der Freude am Schönen nicht begrifflich und argumentativ, sondern im Grunde immer nur durch die Aufforderung an Andere, noch einmal Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 251. 10 Ebd. 255. 11 Ebd. 252. 12 Ebd. 264. 8 9
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genau hinzusehen oder hinzuhören in der Erwartung, der Andere werde schließlich selbst den Grund zur Freude entdecken und dann vielleicht auch an einer Analyse dieses Grundes interessiert sein. 13
Von diesem Gedanken des ›interesselosen Wohlgefallens‹ führt ein direkter Weg zur Wertphilosophie Schelers, der in Kant zwar im Hinblick auf die Fundierung der Ethik seinen wesentlichen Antagonisten sah, 14 dessen Begriff der intentionalen Gefühle jedoch in der Kritik der Urteilskraft als Verbindung von subjektivem Gefühl und objektivem Anspruch im ›interesselosen Wohlgefallen‹ vorbereitet ist: Das Empfinden des Schönen ist, was erst die Phänomenologie Max Schelers thematisiert hat, ein intentionales Gefühl. In ihm wird etwas wahrgenommen. Aber was wahrgenommen wird, ist nicht ein kategorial eindeutig bestimmtes Seiendes – das zu meinen wäre »naturalistic fallacy« –, sondern im Schönen wird Sein als solches wahrgenommen und zum Gegenstand der Freude. 15
Die in Schelers Wertbegriff implizierte Absolutheit verhindert jede subjektivistische Deutung des Schönen und ermöglicht jene Überwindung der partikularen Perspektive, die Bedingung einer Aktualisierung der platonischen Identität von Gutem und Schönem ist. Übertragen in die Denkkategorien Spaemanns liegt dem Gedanken der Schönheit als Wert eine doppelte Negation zugrunde: Die im lebendigen Aussein-auf zum Ausdruck kommende Negativität wird ihrerseits negiert durch die aus der Selbsttranszendenz hervorgehende Wahrnehmung eines anderen Zentrums der Bedeutsamkeit. Der zweistellige Begriff des Guten wird im dreifachen Sinn aufgehoben im einstelligen, also im Begriff des Schönen. Das nur Subjektive des zweistelligen Begriffs wird aufgegeben, die Nützlichkeit für das Lebewesen wird bewahrt und mit dem einstelligen Begriff des Schönen auf eine neue Stufe gehoben. Das Schöne als Wert kann nur als daseinsrelativ auf Personen verstanden werden, da diese im Akt der Selbsttranszendenz zur Wahrnehmung von Seiendem als Seiendem fähig sind. Dieser Gedanke scheint nun aber einen Widerspruch zu beinhalten. »Es gibt keine sinnliche Seinserfahrung« 16, lautet ein Grundsatz Spaemanns; mit Bezug auf das Schöne spricht er aber hier Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 256. Vgl. Schweidler, Max Scheler: Der Wert, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik. Lehr- und Lesebuch, 130. 15 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 256–257. 16 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 13 14
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von einer sinnlichen Wahrnehmung von Sein. Um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, muss an die spezifische Negativität der Schönheitserfahrung herangeführt werden. Um das Phänomen des Schönen in der Natur in den Blick bekommen zu können, geht Spaemann zunächst vom ästhetischen Aspekt menschlicher ποίησις aus. Warum diese Herangehensweise aus menschlicher Perspektive sich nahelegt, erläutert er an anderer Stelle in dem Essay »Was heißt: ›Die Kunst ahmt die Natur nach‹ ?«: Ontologisch ist das Verhältnis der Ähnlichkeit natürlicher und künstlicher Gebilde asymmetrisch. Diese ahmen jene nach und nicht umgekehrt. Das Bild gleicht dem Abgebildeten und nicht umgekehrt. Pros hêmas, wie Aristoteles sagt, für uns, also gnoseologisch, ist die Ähnlichkeit aber eher eine wechselseitige. Wir verstehen natürliche Prozesse nach Analogie solcher, die wir selbst in Gang setzen, nämlich teleologisch, wir bewundern, wie »kunstvoll« die Natur arbeitet, um dann wiederum die so verstandene Natur nachzuahmen. 17
Auch Tiere bringen künstliche Gebilde hervor, »z. B. Nester oder Waben«, die »nicht natürlich in dem Sinne« sind, »dass sie eine eigene physis hätten« 18. Die Gebilde des Menschen unterscheiden sich von diesen einerseits dadurch, dass »Menschen Zwecke und Mittel gedanklich trennen können« und »in der Wahl der Mittel frei« sind, weswegen es »eine Kunstgeschichte« gibt, und andererseits dadurch, dass das »Gebrauchsmittel« 19 für die Tiere im Gebrauch verschwindet. Nicht nur Kunstwerke, sondern auch von Menschen hergestellte Gebrauchsgegenstände zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass sie als Seiende die in ihrer Herstellung verfolgte Zweckmäßigkeit überschreiten: »Der Krug soll nicht als etwas nur Zuhandenes sozusagen im Gebrauch verschwinden, sondern er soll darüber hinaus zeigen, was er ist, ja nicht nur, was er ist, sondern dass er ist: ein Ding.« 20 45. – Vgl. Teilkapitel 9.1, Die Ausdifferenzierung des analogen Weltzusammenhangs im Wertbegriff, 674. 17 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 325–326. 18 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 269. 19 Ebd. 270. 20 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 257. – Dass diese Besonderheit vom Menschen hervorgebrachter Gebrauchsgegenstände Anlass zu Missverständnissen sein kann, wird an folgender Bemerkung Kruse-Ebelings deutlich: »Dass die Ausdehnung des teleologischen Denkens auf unbelebtes Seiendes nicht unbedingt eindeutig ist, zeigt der Umstand, dass Spaemann selbst in Glück und Wohlwollen auch noch künstlich geschaffenen Gegenständen, Artefakten, einen Rest von
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Mit Bezug auf die funktionalistische Architektur des Bauhauses bemerkt Spaemann: »Das Zeigen der Funktion ist etwas, das über die Funktion hinausgeht.« 21 Der in diesem Zeigen zum Ausdruck kommende Überschuss ist der ›Mehrwert‹, durch den Spaemann Schönheit definiert: Schön ist das, was es wert ist, um seiner selbst Willen angeschaut oder angehört zu werden. Es mögen sich mit dem Zeigen des Schönen vielerlei Zwecke verbinden, Verkaufsinteressen, sexuelle Interessen, Machtinteressen. Entscheidend ist, dass diese Zwecke nicht unmittelbar erreicht werden, sondern auf dem Umweg über das interesselose Wohlgefallen bei demjenigen, durch welchen der das Schöne Zeigende seinen Zweck erreichen will. 22
Entsprechend der erwähnten ontologischen Priorität natürlicher Gebilde vertritt Spaemann nun die These, dass die Natur in ihren Gebilden einen analogen Überschuss im Sinne einer »Überdetermination« 23 hervorbringt, der sich einer funktionalistischen Deutung entzieht. Damit wird der Bezug zu Spaemanns ontologischem Grundgedanken, dass Sein ein Jenseits des Begriffs ist, hergestellt. Die ontologische Differenz von Dasein und – begrifflich bestimmbarem – Sosein zeigt sich primär in natürlichen Gestalten als Schönheit. Das Naturschöne dient demnach nicht der Erhaltung, sondern ist Ausdruck eines primären Schönheitstriebes, der sich sekundär mit bestimmten Funktionen verbinden kann. 24 Diese These scheint im diSubjektivität zugesteht, während er diesen Gedanken in späteren Aufsätzen zu verwerfen scheint.« – Kruse-Ebeling, Liebe und Ethik, 369. – Schon in »Glück und Wohlwollen« ging es Spaemann um dieselbe Eigenschaft von Gebrauchsgegenständen, die er in seinem Spätwerk schließlich als ›fingiertes Selbstsein‹ bestimmt. – Vgl. Abschnitt 9.2.2, Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein, 696. 21 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 260. 22 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 257. 23 Ebd. 258. 24 In diesem Kontext könnte der oben – vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 558–560, Fn. 139 – thematisierte Begriff der Lebensform von Buchheim und Noller Bedeutung gewinnen. Der Begriff der Lebensform wurde von ihnen zur Erklärung des Personbegriffs herangezogen, ist jedoch geeignet, eine Analogizität zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebensformen erkennbar werden zu lassen: »Die Form des Lebens, in die ein Wesen mit seiner Existenz eintritt, ist zugleich hochgradig allgemein und stark umgebungsabhängig und liegt deshalb vor allem bei den anderen Artgenossen, die sie schon vorher hatten, sowie an den Bedingungen der ›Nische‹ und des ›Habitats‹, in welche der Existenzeintritt erfolgt.« – Buchheim/Noller, Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen?, 164. – Verschiedene Lebensformen könnten so als die spezifische Art beschrieben werden, wie
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rekten Widerspruch zu stehen zum Grundgedanken der Evolutionstheorie, wonach »etwas so ist, wie es ist, weil es so am vorteilhaftesten ist – wenn wir nämlich Selbstbehauptung und Verbreitung der eigenen Gene als Ziel eines jeden Lebewesens betrachten« 25. Gegen diesen Einwand beruft sich Spaemann selbst auf Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Biologie: […] der Basler Zoologe Adolf Portmann hat in minutiösen Untersuchungen gezeigt, dass die raffinierte Oberflächenzeichnung bei Fischen, Vögeln und Reptilien weit über das hinausgeht, was sich funktional aus dem Selektionsvorteil erklären lässt. Um bestimmte, zum Beispiel kreisförmige Muster auf den Flügeln von Vögeln hervorzubringen, bedarf es einer genauen Abstimmung der Färbung jeder einzelnen Feder auf die Färbung der jeweils anschließenden, und zwar so, dass sich als Resultat dann eine Kreisform ergibt. Die einzelnen Zwischenschritte der Evolution in dieser Richtung hätten gar keinen Selektionsvorteil. Der reduktionistische Funktionalismus argumentiert hier einfach zirkulär. Er weist auf die Tatsache hin, dass die Weibchen die Pracht der Zeichnung bei den Männchen durch Zuwendung belohnen. Und er versucht nachzuweisen, dass die Pracht der Zeichnung korreliert mit biologischen Vorzügen der betreffenden Männchen. Aber was wird dadurch bewiesen? Warum dieser komplizierte und verschlüsselte Umweg, um die biologischen Vorzüge zur Erscheinung zu bringen? Denn die Relation zwischen den Vorzügen und dieser Form der Darstellung ist ja ganz kontingent, sie ist rein symbolischer Natur, und sie ist nicht ökonomisch. 26
Portmann konstatiert daher eine »Selbstdarstellungstendenz alles Lebendigen«, die »nicht so etwas wie eine experimentell überprüfbare Hypothese, sondern sozusagen eine allem Experiment vorausliegende Aussage über unsere Wahrnehmung von Leben als Leben« 27 ist. die ontologische Differenz von Wesen mit unterschiedlichen natürlichen Voraussetzungen zum Ausdruck gebracht wird. 25 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 253. 26 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 335–336. – Vgl. in: Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, das Kapitel »Gestaltung als Lebensvorgang«, besonders 163–187. 27 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 258. – Vgl.: »Wesen mit Weltbeziehung sind nicht nur lebende Maschinerien, die stoffwechseltreibend tätig sind, ja um dieses Stoffwechsels willen recht eigentlich da wären. Sie sind allem voran Wesen, die sich in ihrer Eigenart darstellen, wobei diese Selbstdarstellung zunächst gar nicht auf Sinnesorgane bezogen werden muß.« – Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, 54. – Vgl. auch: »Weltbeziehung durch Innerlichkeit und Selbstdarstellung in der Erscheinung sind in dieser Sicht die zwei obersten Kennzeichen des
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Spaemann weist darauf hin, dass Portmanns Auffassung nicht im prinzipiellen Widerspruch zur Evolutionstheorie steht, sondern nur zu einem aus ihm abgeleiteten Wissenschaftsparadigma: »Denn Darwin selbst hielt eine darwinistische Erklärung des Schönen in der Natur für unmöglich. Er hielt Schönheit und entsprechend den Sinn für Schönheit für ein Apriori, das in der Evolution eine Funktion besitzt, aber dessen Entstehung aus der Evolution so wenig herleitbar ist wie die Gesetze der Geometrie.« 28 Spaemann illustriert diesen Vergleich mit der Geometrie anhand des folgenden Beispiels: »Die Sechseckform und ihre Gesetzmäßigkeiten liegen ja aller Anwendung dieser Form, zum Beispiel in den Bienenwaben, voraus. Die Anwendung ist vermutlich evolutionär erklärbar, aber nicht die Gesetze der Form, die hier Anwendung finden.« 29 Der Gedanke einer Selbstdarstellungstendenz des Lebens und eines der Evolution zugrunde liegenden Apriori der Schönheit ist aufs engste verbunden mit dem teleologischen Denken, das – wie schon seine Problematisierung in Kapitel 5 gezeigt hat – weder beweis- noch widerlegbar ist. Hier geht es nicht um eine Wiederaufnahme der Auseinandersetzung mit dem Reduktionismus, sondern es sollen im Folgenden die naheliegende Annahme eines solchen Apriori auf seine Bedeutung hin durchdacht und im Sinne der Umkehr der Beweislast die Ergebnisse dieser Reflexion der reduktionistischen Sichtweise gegenübergestellt werden. Die Thematisierung der Begriffsart des Schönen, mit der die Überlegungen begonnen wurden, führte zu dem Ergebnis, dass es sich bei diesem Begriff um einen Reflexionsbegriff bzw. einen transzendentalen Begriff handelt: Sein – gut sein, wahr sein, eines sein und schön sein – sind in der aristotelischen Tradition die sogenannten transzendentalen Begriffe, die nicht eine bestimmte Klasse von Gegenständen aussondern, sondern unter verschiedenen Aspekten jeweils auf alles, was ist, reflektieren. Die Extension dieser Begriffe ist also gleich. Und das heißt: Insofern etwas ist, ist es möglicher Gegenstand interesselosen, das heißt uneigennützigen Wohlgefallens. 30
Organismus, denen der Stoffwechsel, die Erhaltung, Regulation, Fortpflanzung und Entwicklung als Glieder der Verwirklichung sich unterordnen.« – Ebd. 185. 28 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 336–337. 29 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 260–261. 30 Ebd. 262.
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Wenn es ein der Evolution zugrunde liegendes Apriori der Schönheit gibt, handelt es sich dabei um »eine transzendentale Bestimmung, die ebenso wie die Gesetze der Mathematik aller Evolution voraufliegt« 31. Im Unterschied zu diesen kann Schönheit aber nicht aus reinen Verstandesbegriffen deduziert werden, sondern wird die transzendentale Bestimmung der Schönheit auf ein zuvor als ein So-undso Bestimmtes angewendet, indem mit diesem Begriff eine bestimmte Wirkung des Wahrgenommenen bezeichnet wird. ›Schönheit‹ kann dementsprechend – ähnlich wie ›Person‹ – nur aus einem Zusammenhang heraus bestimmt werden, indem die Frage gestellt wird, was sich in der Wahrnehmung von Schönheit ereignet. Das Ereignis besteht darin, dass ein intentionales Gefühl im Sinne Schelers zu einem Erkenntnisakt führt, in dem der Reflexionsbegriff des ›Schönen‹ auf den objektiven Gehalt des Gefühls angewandt wird. Worin aber besteht nun dieser objektive Gehalt des intentionalen Gefühls, das der Schönheitswahrnehmung zugrunde liegt? Welches nicht-prädikative Feld der Bedeutung wird in dieser Wahrnehmung eröffnet? Wenn es auch unmöglich ist, eindeutige, operationalisierbare Kriterien für Schönheit anzugeben, so können wir doch Bedingungen umschreiben, unter denen sich uns etwas als schön präsentiert, das heißt als ein Zentrum von Bedeutsamkeit, das uns zur Selbsttranszendenz herausfordert. Friedrich Cramer 32 hat in seinem Buch über das Schöne in der Natur die These vertreten, Schönheit zeige sich immer auf der Grenze des Übergangs vom Chaos zur Ordnung oder von der Ordnung zum Chaos. Das würde heißen: Schönheit ist Erscheinung lebendiger Gestalt. Denn Leben ist weder Chaos noch definitive, sozusagen kristallinische Ordnung. Leben ist eine Ordnung, die in jedem Augenblick dem Chaos abgerungen ist, und auch dies nur eine Weile, denn am Ende siegt die Entropie. 33
Das an der Natur, was uns veranlasst, den Begriff des Schönen auf es anzuwenden, ist etwas Prozessuales: abgerungene Ordnung, die ein ephemeres Zu-sich-selbst-Kommen lebendigen – also durch Negativität gekennzeichneten – Ausseins-auf darstellt. Dabei handelt es sich um keine certa cognitio, denn die Wahrnehmung von Lebendigem als Lebendigem, von Selbstsein als Selbstsein ist immer ein freiwilliger Spaemann, Ritual und Ethos (2002), 372. Spaemann bezieht sich hier auf Cramer/Kaempfer, Die Natur der Schönheit. Zur Dynamik der schönen Formen (1992). 33 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 263. 31 32
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Akt der Anerkennung. Aber »das im ethischen Sinn Schöne, das Zurücktreten vor dem Selbstsein, wird dadurch ermöglicht, dass sich Selbstsein als Selbstsein darstellt. Lebendiges hat die elementare Tendenz, sich als lebendig darzustellen.« 34 Die bewusste Wahrnehmung des Naturschönen kann daher gefasst werden als personale Anerkennung von anderem Selbstsein auf der subpersonalen Ebene. Das in der Schönheitswahrnehmung eröffnete nicht-prädikative Feld der Bedeutung ist das in der Selbstdarstellung von Lebendigem phänomenal erfahrbare Selbstsein anderer Zentren der Bedeutsamkeit, die Weise der Erscheinung der ontologischen Differenz auf einer vorbewussten Stufe. Die aus der Gegenüberstellung dieser Grundgedanken zur Bedeutung eines Apriori der Schönheit in der Natur mit der reduktionistischen Sicht sich ergebende Beweislastfrage lässt sich demnach folgendermaßen stellen: Hat es Sinn, natürlichen Lebewesen oder einer sie hervorbringenden Allnatur eine Tendenz zuzusprechen, sich selbst als schön, das heißt als sehenswert und hörenswert zu präsentieren? Und zwar jeweils ihresgleichen? Wir müssen, so scheint mir, diese produktionsästhetische Frage, um sie beantwortbar zu machen, in eine rezeptionsästhetische umformulieren: Gibt es, ungeachtet der Zwecke, denen das Schöne dient – und die gibt es ja auch in der menschlichen Kunst –, gibt es so etwas wie ein kontemplatives Verhalten? 35 Gibt es so etwas wie Freude an etwas, nicht bloß Lust durch etwas? Gibt es also so etwas wie einen intentionalen Gehalt eines Wohlgefühls und nicht nur eine Kausalursache? 36
Noch allgemeiner formuliert lässt sich fragen, ob »es in der außermenschlichen Natur nicht nur Schönheit, sondern auch einen Schönheitssinn« gibt bzw. ob »die Tendenz von Lebewesen, sich darzustellen, noch andere Adressaten als den Menschen« 37 hat. Die verneinende Antwort des Reduktionismus bedeutet, dass der Mensch als Lebewesen mit Selbstbewusstsein in der Natur völlig isoliert ist und »Erkennen und Wollen nur sich selbst missverstehende Funktionen überlebensdienlicher Anpassung sind«, womit eine Theorie, die Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 259. Diese Frage wird im Rahmen der abschließenden Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung wieder aufgegriffen werden. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 889–910. 36 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 263–264. 37 Ebd. 266. 34 35
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diese These vertritt, sich selbst aufhebt, »da sie selbst nun nur noch ein Stadium gelungener Anpassung ist, also nicht unter wahrheitsfunktionalem Aspekt betrachtet und beurteilt werden darf« 38. Die nicht beweisbare These eines Apriori der Schönheit in der Natur dagegen bedeutet, dass die in der personalen Perspektive erlebbare ontologische Differenz von Sosein und Dasein als Überschuss überall in der lebendigen Natur und – als erkenntnistheoretischer Grenzfall – auch in der Welt des nicht lebendigen Seienden wahrgenommen werden kann. Der im Kontext der Ontologie der Person entwickelte Gedanke eines teleologischen Zusammenhangs, in den die Person eintritt, indem sie ihn transzendiert, gewinnt durch die Annahme eines Apriori der Schönheit eine phänomenale Fundierung, die eine grundlegende Verallgemeinerung dieser Ontologie ermöglicht. Darüber hinaus findet der für diese Ontologie zentrale Zusammenhang von Teleologie und Personalität durch den in einem Apriori der Schönheit fundierten lebendigen Selbstdarstellungstrieb eine weitere Stützung. In diesem Sinne bemerkt Spaemann in »Ritual und Ethos«: Die Rituale des Tierreichs beweisen nicht, dass die menschliche Ritualisierung des Lebens eine verborgene biologische Funktion erfüllt. Sie können ebenso gut als Hinweis darauf verstanden werden, dass das Leben selbst darauf angelegt ist, sich darzustellen, und dass diese Darstellung missverstanden wird, wenn sie als bloße Funktion der Selbsterhaltung und Arterhaltung verstanden wird. Diese Selbstdarstellung wird dann, gerade weil sie keine Erhaltungsfunktion erfüllt, beim Menschen zum Träger von transzendenten Bedeutungen. Sie stellt nicht mehr nur den Darstellenden dar, sondern wird zur Repräsentation seines Ursprungs. 39
Auch hier ist der religiöse Gedanke so aus der Naturphilosophie entwickelt, dass er eine Grenze darstellt, über die hinaus nur spekulative Gedanken führen, an die heran aber mit genuin philosophischen Mitteln gelangt wurde.
38 39
Spaemann, Wahrheit und Freiheit (2009), 314. Spaemann, Ritual und Ethos (2002), 372.
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9.2.2
Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
Mit Bezug auf die menschliche Nachahmung der Natur wurde oben 40 bereits bemerkt, dass auch vom Menschen hervorgebrachte Gebrauchsgegenstände durch Variation der Gestaltungsmittel über die in ihrer Herstellung verfolgte Zweckmäßigkeit hinaus etwas darstellen. Von solchen überdeterminierten Gebrauchsgegenständen ist eine andere Gruppe von Gegenständen zu unterscheiden: Die Überdetermination, die das Gebilde als ein Selbstseiendes jenseits seines Gebrauchs erscheinen lässt, kann sich nun aber verselbständigen und so das Gebilde vom Gebrauch ganz lösen und zum reinen Kunstding werden lassen. Dabei spielt der kultische Gebrauch eine eigene Rolle. Er ist es eigentlich, der die Autonomie des Kunstwerks entstehen lässt. 41
Bei der Erzeugung von Kunstschönem handelt es sich um die Sonderform menschlicher ποίησις, »die nicht auf Beherrschung im Dienst unserer Selbstbehauptung zielt, sondern darauf, etwas einfach vor uns hinzustellen« 42, und die im Unterschied zum Naturschönen wesentlich geschichtlich ist. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung dieser ποίησις geht es Spaemann insbesondere um ihre spezifisch personale Form, deren Untersuchung eine weitere Differenzierung der Ontologie der Person erlaubt. Verschiedene konkrete Entwicklungen in der neuzeitlichen Kunst deutet Spaemann ausgehend vom Maßstab des Schönen als einstelligem Guten als Reaktionen auf die geschichtliche Entfaltung eines szientistischen Denkens und als Symptome der mit ihm einhergehenden Gefährdung der Personalität. Ausgangspunkt der geschichtlichen Betrachtung des Kunstschönen ist Platon: Platon hat über das Problem der Nachahmung als Erzeugung von Schein als erster nachgedacht. Er wollte dieser Fähigkeit hierzu nicht zubilligen, Kunst zu heißen. Es ist nicht techné, sondern empeiria, Fertigkeit, Knowhow. Kunst ist die Fähigkeit, die Erscheinung von etwas hervorzubringen durch Hervorbringung dessen, was natürlicherweise Grund dieser Erscheinung ist. Also z. B. im anderen eine Überzeugung bewirken durch Vermittlung des Wissens, das diese Überzeugung legitimiert. Diese Fähigkeit ist fachspezifisch. Wer Ma40 41 42
Vgl. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 684–685. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 271. Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 307.
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thematik lehren kann, kann nicht mittels derselben Kunst Biologie lehren. Rhetorik aber ist die Fähigkeit, Überzeugungen zu bewirken, ohne dass der Rhetor Fachkenntnisse besitzt, er weiß nur, wie man Menschen etwas glauben macht. Und so betrachtet Platon auch die Naturnachahmung des Malers. Er muss kein Botaniker, Zoologe, Anthropologe oder Geologe sein, um Blumen, Pferde, Menschen oder Berge zu malen. Er muss nur beobachten, wie all dies aussieht. Darum steht der Maler niedriger als der Techniker, der von den Sachen selbst etwas verstehen muss. Wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, dann macht der Maler nur Abbilder von Abbildern. Seine Pflanzen wachsen nicht im Sinne einer genesis eis usian. Sie entstehen kunstlos durch Farbauftrag, entsprechend empirischen Regeln für die Erzeugung von Schein. 43
Von dieser platonischen Verachtung der Illusionskunst heben sich im antiken Denken selbst schon Aristoteles und später die Neuplatoniker durch eine prinzipiell andere Interpretation der Erzeugung von Schein ab: Aristoteles spricht von der Möglichkeit der Kunst, nicht bloß ZufälligFaktisches, sondern Allgemeines als das Wesentliche sichtbar zu machen. Und die Neuplatoniker sahen den Künstler eben deshalb auf einer Ebene mit der natura naturans: Er blickt, wie diese, auf die Idee, und seine Produkte haben deshalb nicht nur den gleichen Rang wie Naturdinge, sondern sogar höheren, weil sie nicht bewusstlos Abbilder von Ideen hervorbringen, sondern Abbilder als Abbilder, d. h. als Bilder, die bereits in der Intention gemacht sind, an die Urbilder und vor allem an das Urbild des Schönen zu erinnern, was man von den natürlichen Gegenständen nicht sagen kann. 44
Ein weiterer wesentlicher Schritt noch über dieses Verständnis von Kunst als Nachahmung der natura naturans hinaus ist mit der Verbreitung der jüdischen Schöpfungsidee durch das Christentum verbunden. Der »platonische Demiurg ist ein Nachahmer« und auch der unbewegte Beweger des Aristoteles ist gleich ewig mit der Welt, die »in ihm ihren Grund« 45 hat. Der jüdisch-christliche Gedanke einer Erschaffung der Welt aus dem Nichts ist beiden unbekannt: »Es gibt bei den Griechen gar keinen Ausdruck für das Schöpferische.« 46 Erst durch die philosophische Verarbeitung der Schöpfungs43 44 45 46
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 332. Ebd. 332–333. Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 312. Ebd.
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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
idee wurde dann im späten Mittelalter der Begriff der Möglichkeit, der bei Aristoteles die Wirklichkeit vorhergeht, ins Unendliche ausgeweitet. 47 Mit der damit einhergehenden Befreiung vom Maß der Natur, durch die die Grenzen des für die Griechen möglichen Denkens überschritten werden, »eröffnet sich für die Kunst ein Raum der Innovation, der bis dahin undenkbar war« 48. In der jüdisch-christlichen Schöpfungslehre sieht Spaemann somit die wesentliche Voraussetzung der Geniepoetik des 18. Jahrhunderts. Das Genie »arbeitet nicht nach Regeln, aber ebenso wenig willkürlich, sondern mit einer inneren Notwendigkeit, und zwar so, dass es selbst Regeln aufstellt und Maßstäbe setzt« 49. Der Künstler in diesem Verständnis ahmt nicht nach, sondern konspiriert mit dem Schöpfer, indem er Neues erschafft: Der Gedanke schöpferischer Innovation durch Kunst wird übrigens literarisch erstmals nicht von einem Künstler, sondern von einem Handwerker vorgebracht, und zwar in dem Dialog »De mente« von Nicolaus Cusanus im 15. Jahrhundert. In diesem Dialog tritt als Gesprächspartner eines Philosophen und eines Rhetors ein Löffelschnitzer auf. Dieser Mann erklärt den beiden gelehrten Herren, dass seine Kunst nicht Nachahmung der Natur sei – in der Natur gibt es keine Löffel –, sondern Nachahmung der ars infinita, der unendlichen Kunst Gottes, und zwar insofern diese Kunst originär schöpferisch sei. Dem Löffel liege nämlich nicht eine ewige Idee zugrunde – coclear extra mentis nostrae ideam non habet exemplar –, sondern er sei eine originäre Erfindung, die in keinem natürlichen Gegenstand ihr Vorbild habe, wie die Werke der bildenden Kunst. 50
Die Idee der Kunst als Nachahmung des Schöpfers scheint aber einen wesentlichen Punkt des Schöpfungsgedankens auszublenden: »Das Spezifische der biblischen Schöpfungsidee liegt darin, dass Gott ins Sein ruft, dass die Welt ihm die Existenz verdankt. Der irdische Hersteller von irgend etwas bringt nichts ins Sein. Er verändert nur, was
Vgl. Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 313. Ebd. 314. – Voraussetzung dieses Innovationsschubs für die Kunst war freilich die Aufhebung des Bilderverbots durch die Auffassung Jesu als legitimes Bild Gottes, durch die auch die künstlerische Darstellung des Menschen als »Bild und Gleichnis Gottes« legitimiert wurde. – Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 268. 49 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 314. 50 Ebd. 314–315. 47 48
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bereits ist.« 51 Wenn die Rede von der Kunst als Schöpfertum berechtigt sein soll, muss daher eine tiefer liegende Analogie zwischen künstlerischem Schaffen und der Erschaffung der Welt aus dem Nichts gefunden werden. Für den Aufweis dieser Analogie bedarf es allerdings eines Umwegs, dessen Notwendigkeit im Nachhinein eine Erklärung finden wird. Die Entstehung dieses Begriffs von Kunst als Schöpfung kann, wie sich aus Spaemanns Gedankengängen in seinen späten Essays zur Ästhetik ergibt, nur vor dem Hintergrund der antiteleologischen Wende des neuzeitlichen Denkens verstanden werden. Die Inversion der Teleologie, die Spaemann bereits in seinen Studien über Fénelon untersuchte, zeigte sich in der bürgerlichen Ontologie des 17. Jahrhunderts darin, dass für die von jeder Transzendenz abgeschnittene menschliche Natur Reflexion prinzipiell Ausdruck eines egoistischen Interesses ist. Unter dieser Voraussetzung ist jede Liebe – ob zu anderen Menschen oder zu Gott – nicht Ausdruck einer Selbsttranszendenz, sondern interessegeleitet, also letztlich selbstsüchtig. Wie in Kapitel 4 dargelegt wurde, vertrat Leibniz im amour-pur-Streit gegenüber Fénelon eine Gegenposition, 52 auf die Spaemann hier im Kontext der Entstehung des modernen Kunstbegriffs Bezug nimmt. Leibniz war der Überzeugung, dass die menschliche Natur zu uneigennütziger Liebe fähig ist: Jedes Mal, wenn Leibniz seinen Begriff von uneigennütziger Liebe erläutert, wählt er als Beispiel das Verhältnis eines Menschen zu einem Bild – meist ist es ein Bild von Raffael. Leibniz’ Definition der Liebe lautet: Delectatio in felicitate alterius – Freude am Glück des Andern 53. Nun ist aber doch ein Bild keiner felicitas fähig – was Leibniz ausdrücklich zugibt. Aber das tut nichts, denn für Leibniz ist Glück nur die subjektive Form, Vollkommenheit zu erleben. Wer ein Bild, so schreibt er, wegen seiner Wertsteigerung im Handel schätzt, von der er zu profitieren beabsichtigt, liebt nicht eigentlich, weil er nur den eigenen Vorteil sucht. Wenn er aber das Bild erwirbt nur der Freude wegen, die er daran hat, es zu betrachten, »cela repondroit au pur
Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 316. Vgl. Abschnitt 4.3.2, Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Malebranche, 158–161. 53 In einer Fußnote verweist Spaemann als Quelle des Zitats auf: Z. B. G. W. Leibniz, Brief an Magliabecchi v. 3./13. Juni 1698. – Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 277. 51 52
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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
amour«. Kants »interesseloses Wohlgefallen« hat hier seinen Ursprung, »amour désintéressé« als delectatio in perfectione alterius. 54
Bezeichnend ist, dass Leibniz die uneigennützige Liebe als ›Freude an der Vollkommenheit des Anderen‹ gerade am Beispiel eines Kunstwerks illustriert. Eine Verbindung dieses leibnizschen Gedankens zur Philosophie Kants – dem späten »Sieg des ›Fénelonismus‹« 55 – zeigt sich darin, dass in ihr das Moment der Freude »dann in die Ästhetik abgewandert« ist, während für die Ethik »nur der reine gute Wille« 56 bleibt. Die ästhetische Reflexion, so lässt sich folgern, gewinnt damit eine kompensatorische Bedeutung angesichts einer nihilistischen Entwertung aller möglichen Gegenstände des Denkens. 57 Die Kunst erscheint als ein Refugium, dessen Bedeutung nun näher betrachtet werden muss. Der in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts entfaltete Gedanke der Kunst als Schöpfung gewinnt dadurch seine Berechtigung, dass im Kunstwert etwas geschaffen wird, das sich von seinen Entstehungsbedingungen emanzipiert: Wenn es die Definition von Schöpfung war, dass durch sie nicht nur Rekomposition von Materie geschieht, sondern Stiftung von Selbstsein, das für sich selbst ein Zentrum von Bedeutsamkeit ist, dann verstehen wir, was es heißt, dass der Künstler schöpferisch ist. Was er vor uns hinstellt, ist selbst ein Zentrum von Bedeutsamkeit. Es wird betrachtet »um seiner selbst willen«, eine Formel, die wir sonst nur gebrauchen, um das Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen zu bezeichnen. […] Menschen können Selbstsein normalerweise nicht machen, sondern nur zeugen und gebären, nämlich andere Menschen, vor denen sie dann, wenn sie sie hervorgebracht haben, nur staunend stehen können. Machen könnte das niemand. Künstlerische Produktion ist ein Machen, das doch zugleich von der Art der Zeugung ist. 58 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 275. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 59. – Vgl. Teilkapitel 4.4, Fénelons Niederlage und sein Fortwirken, 168. 56 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 276. 57 Vgl.: »Das Wissen aufzuheben, um zum Glauben Platz zu haben, so beschreibt Kant das Ziel des Projektes einer Kritik der reinen Vernunft. Ein nihilistisches Projekt, könnte man sagen. […] Kleist ist daran zerbrochen. Er fühlt sich nach der Lektüre der ›Kritik der reinen Vernunft‹, wie er schreibt, ›tief in seinem heiligsten Inneren verwundet‹. ›Ach Wilhelmine‹, so fährt er in seinem Brief fort, ›mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe nun keines mehr.‹« – Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2009), 224. 58 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 318. 54 55
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In der Kunst bringt der Mensch »Analoga zu physei onta« hervor: »Dinge, die sich nicht einfach definieren durch das, was sie uns jeweils bedeuten, sondern die einen Anspruch an uns stellen, ihnen gerecht« 59 zu werden. Das Kunstwerk kann damit an die Stelle des anderen Menschen treten: Die echte Transzendenz des rationalen Wesens auf einen in keiner Weise durch das eigene Interesse definierten Anderen wird spielerisch simuliert durch die Freude am Kunstschönen, das sich zwar erst im Betrachterblick konstituiert, aber eben paradoxerweise als ein solches, das in sich selbst ruht, ja von dem ein Anspruch ausgeht wie von dem Torso Apolls in Rainer Maria Rilkes Gedicht, der Anspruch: Du musst dein Leben ändern. 60
Der Fähigkeit zu einer solchen Wahrnehmung des Kunstwerks liegt also unser Verhältnis zu anderem Lebendigem, insbesondere zu personalem Leben zugrunde, bei dem wir unterscheiden, was es für uns und was es an sich ist. Was aber ist das Kunstwerk an sich? Die Beziehung zum Kunstwerk ist paradox. Sie ist sozusagen simulierte Transzendenz, man könnte auch sagen: Einübung in Transzendenz, denn in Wirklichkeit hat ja das Kunstwerk kein Selbstsein, sondern existiert nur so lange, wie Menschen es wahrnehmen. Es ist Sein für uns. Aber nicht im funktionalen Sinn, so als hätten wir von dem Werk etwas anderes als das zu erleben, was es ist. So ergibt sich das Paradox: Das Kunstwerk ist nicht, wie der andere Mensch, Selbstsein im eigentlichen Sinne des Wortes, aber es ist auch nicht bloßes Sein für uns, relativ auf uns. Wir können es nur auf die paradoxe Formel bringen: Es ist Selbstsein für uns, fingiertes Selbstsein. 61
Ästhetische Wahrnehmung ist »Einübung in Selbsttranszendenz« 62, weil das Kunstwerk ein Selbstsein fingiert, das sich zu seiner materialen Grundlage – Farben, Tönen, Wörtern –, die qualitativ bestimmbar ist, verhält wie die Person zu ihrer gehabten Natur. Der Übergang von der Wahrnehmung eines als eines So-und-so Bestimmten zur Wahrnehmung von Selbstsein wird in der ästhetischen Rezeption simuliert und gewissermaßen eingeübt. Gerade weil das Kunstwerk nur simuliertes Selbstsein ist, hat diese Art der Wahrnehmung besondere Bedeutung für die Fähigkeit der Wahrnehmung von 59 60 61 62
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 340. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 265. Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 319. Ebd.
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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
Selbstsein auf der subpersonalen Ebene: für die Wahrnehmung von nicht bewusstem Lebendigem und nicht lebendigem Seiendem als Selbstsein. Die Paradoxie des Kunstwerks bringt die Eigenart personaler Seinswahrnehmung modellartig zur Anschauung: Das Kunstwerk »hat kein Selbstsein, aber es wirkt, als hätte es Selbstsein. Um zu wirken, müsste es schon sein. Aber es ist nur als ein so und so Wirkendes.« 63 Das ist nun nichts anderes als eine Paraphrase der im vorangegangenen Kapitel untersuchten Besonderheit der personalen Seinswahrnehmung. Ausgehend von der These, dass Leben nicht zum Sosein des Lebendigen gehört, sondern dessen Existieren meint, 64 wurde die personale Seinswahrnehmung vom subjektphilosophischen Paradigma abgehoben, das noch in der Rede vom Seinsakt wirksam ist. 65 Vermittelt durch die personale Selbsterfahrung werden die phänomenal gegebenen Weisen zu sein zur Erscheinung der sich verbergenden Substanz. Immer bleibt dabei der Idiosynkrasieverdacht, die Gefahr, dass man sich über das phänomenal Gegebene täuscht. Zugleich hält dieser Verdacht die Bewegung der Transzendenz im Gang, die zum im Erscheinen sich verbergenden Sein führen kann. Diese Bewegung nun kann am Kunstwerk in besonderer Weise eingeübt werden. Das Kunstwerk ist ein qualitativ bestimmbares materielles Kompositum, das als eine ›Weise zu sein‹ erscheint, die eine perspektivische Inversion erfordert. Solange das Kunstwerk als ›Weise zu sein‹ betrachtet wird, bleibt sein Organisationszentrum verborgen, hat die eigentliche ästhetische Rezeption noch nicht begonnen. 66 Diese setzt erst ein, wenn das materielle Kompositum umgekehrt als Erscheinung eines sich verbergenden Zentrums der Bedeutsamkeit gesehen wird. Es handelt sich dabei um dieselbe Inversion der Wahrnehmung, die als epistemologische Spur der Entdeckung der Person bezeichnet wurde. Von dieser Spur wurde gesprochen, weil zum Sein überhaupt nur agnostisch das Lesen der Spur des Unsichtbaren im phänomenal Gegebenen führen kann, über das man sich immer täuschen kann. Der Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines Kunstwerks und der von anderem Selbstsein liegt nicht darin, dass jenes uns nur als Weise des Seins gegeben ist – dies gilt für Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 271. Vgl. Spaemann, Personen (1996), 80–81. 65 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 592. 66 Das Verständnis dessen, was angemessene ästhetische Rezeption bedeutet, setzt Spaemann allerdings ohne weitere Kommentare voraus. 63 64
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beide gleichermaßen –, sondern darin, dass dieses von einem wirklichen Selbstsein gehabt wird, während es beim Kunstwerk nur ein fingiertes ist. »Das Paradox des Kunstwerks liegt darin, dass wir es einerseits nur angemessen auffassen, wenn wir es gerade nicht auf uns und auf irgendwelche ästhetischen Bedürfnisse beziehen, sondern es als ein eigenes Zentrum der Welt, als ein an sich selbst Seiendes auffassen: also gerade nicht als Schein. Andererseits aber ist es ja Schein.« 67 Von hier aus ergibt sich nun im Rückblick die Erklärung für den Umweg über die antiteleologische Wende des neuzeitlichen Denkens, der notwendig war, um die Analogie zwischen dem künstlerischen Schaffen und der Erschaffung der Welt aus dem Nichts freizulegen. Die Fähigkeit, Kunst in diesem Verständnis produzieren und rezipieren zu können, ist ein Signum der Person: »An der ästhetischen Wirkung des Kunstwerks können wir ein spezifisches Merkmal der Personalität ablesen: die Distanz zu unserer eigenen Natur, das Selbstverhältnis, die Fähigkeit, sich zu dem eigenen Fühlen, Denken und Wollen noch einmal fühlend, denkend und wollend verhalten zu können.« 68 Diese spezifisch personale künstlerische Ausdrucksform hat sich herausgebildet vor dem Hintergrund einer neuzeitlichen Entwicklung, die oben als »Geschichte der Destruktion des Personbegriffs« untersucht wurde, 69 wobei an dieser Stelle die Frage offen bleiben muss, ob ein solches Verständnis der Kunst sich ohne ihre kompensatorische Funktion in der Neuzeit überhaupt entwickelt hätte. Jedenfalls führt das Paradox der Kunst in diesem neuzeitlichen Verständnis, in dem Bilder »zu Symbolen von Wirklichkeit, zu Symbolen des physei on werden« 70 und in dem die Kunst die Aufgabe der »Symbolisierung der Natur« 71 übernimmt, zu der in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie und Ethik notorischen Frage, wie »Selbsttranszendenz zu denken« 72 ist, auf die im Sinne der explizierten Ontologie der Person mit Verweis auf die Inversion der Wahrnehmung geantwortet werden muss, in der sich die epistemologische Spur der Entdeckung der Person zeigt. »Kunst ist«, bemerkte Spaemann in »Personen«, »– im Unterschied zum ›Nach-denken‹ der Philosophie – Vorschein des Kommen67 68 69 70 71 72
Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 272. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 331. Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 340. Ebd. 333. Ebd. 340.
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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
den« 73. Die »Virtualisierung der Realität« 74, von der Spaemann in Bezug auf unsere Gegenwart spricht, wurde von der Kunst seit der frühen Neuzeit antizipiert. Zum Abschluss dieser Überlegungen über das Kunstschöne sollen hier die wichtigsten Gedanken Spaemanns über die Entwicklungen in der neuzeitlichen Kunst 75 zusammengefasst werden. Bei der Betrachtung der Bildenden Kunst von der Renaissance bis zur Gegenwart beobachtet Spaemann zwei Bewegungen, die zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehen. Beide Bewegungen stehen in engem Zusammenhang mit dem Paradox der neuzeitlichen Kunst, also der Erschaffung eines fingierten Selbstseins. In der ersten Bewegung wird dieses Paradox in dem Sinne verschoben, dass das im Kunstwerk fingierte Selbstsein auf seinen Urheber zurückbezogen wird. 76 Den Versuchen der frühen Neuzeit, sich dem Paradox der Transzendenz durch das selfish system zu entziehen, entspricht in der Bildenden Kunst eine analoge Tendenz, die Tendenz, die Kunst zu entlasten vor dem Anspruch, das Wirkliche als es selbst symbolisch zu vergegenwärtigen. Was sie stattdessen darstellt, ist bewusst und ausdrücklich der Schein, zunächst die Zentralperspektive eines individuellen Betrachters, dann die subjektive optische Impression, und schließlich der freie, von allem gegenständlichen Bezug befreite Ausdruck freier Imagination. 77
Durch die Entdeckung der Zentralperspektive in der RenaissanceMalerei als erstem Schritt der Entlastung der Kunst ist das Bild »ein sich seiner selbst bewusst gewordener Blick«, durch den »die Individualität des Künstlers erst jene überragende Bedeutung« gewinnt, Spaemann, Personen (1996), 99. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 214. 75 Die Rede ist hier allerdings nur von der Bildenden Kunst; in ihrer Kohärenz vergleichbare Überlegungen zur Musik oder Literatur finden sich bei Spaemann nicht. 76 In Spaemanns Essay »Perspektive und View from nowhere« aus dem Jahr 2005 spricht er in diesem Zusammenhang davon, dass durch diese Bewegung das Paradox beseitigt werde. – Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 273. – Dies scheint mir übertrieben, da somit auf »die europäische Malerei von Giotto bis Monet, also die Epoche, in der die Entdeckung der Zentralperspektive die Erzeugung von Illusion ermöglicht«, die Charakterisierung als fingiertes Selbstsein nicht mehr zuträfe. – Vgl. ebd. – In dem zwei Jahre später veröffentlichten Essay »Was heißt: ›Die Kunst ahmt die Natur nach‹?« findet Spaemann eine weniger starke Formulierung, die nicht auf eine Beseitigung des Paradoxes, sondern auf eine Verschiebung hinweist. – Vgl. dazu das folgende Zitat aus diesem Essay. 77 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 341. 73 74
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»die ihr seit der Renaissance zukommt« 78. Beim zweiten Schritt, dem Übergang zu subjektiver optischer Impression, denkt Spaemann an die französischen Impressionisten, vor allem an Cézanne, beim dritten, der freien Imagination, an Kandinsky und Paul Klee. 79 Der in diesen Schritten sich entfaltende »Prozess der Subjektivierung ist allerdings dialektisch« 80, insofern er in die zweite Bewegung übergeht, in der das Paradox auf paradoxe Weise wiederkehrt: 81 »Wenn aber die äußere Welt ganz in ihrer Wahrnehmung verschwindet, dann verschwindet auch die Differenz von Sein und Schein. Der Schein selbst ist das Sein. Esse est percipi – sein heißt Wahrgenommen-Werden.« 82 Innerhalb dieser zweiten Bewegung unterscheidet Spaemann noch einmal zwei Erscheinungsformen, einerseits einen Kult der Originalität, andererseits eine neue Sakramentalisierung der Kunst. Bei der ersten Form denkt er an Kunstwerke, bei denen »nur noch der Rahmen und das Wissen, dass dieser Rahmen von einem Menschen um diesen Ausschnitt gelegt wurde«, sie als solche erkennbar machen bzw. an Kunstgegenstände, denen man nicht ansieht, ob es sich »um beiläufig herumstehende Utensilien handelt oder um Teile einer Ausstellung« 83: Je subjektiver die Kunst der Neuzeit wird, je weniger sie sich als Symbol der Wirklichkeit des physei on versteht, desto wichtiger wird nun auf einmal das Bild als singuläre Realität, als »Original«, und das Bewusstsein, dass dieses konkrete Bild aus der Hand »eines bestimmten Künstlers«, also eines konkreten lebendigen Wesens stammt. 84
Weit davon entfernt, solche Kunst für eine bloße Provokation des Betrachters zu halten, versucht Spaemann eine philosophische Erklärung. Wenn »die herrschende szientistische Weltanschauung das Analogat der Naturnachahmung, nämlich eine teleologisch verstandene Natur, zum Verschwinden gebracht hat« und alle natürlichen Gestalten »zu Durchgangsstadien eines ziellosen Evolutionsprozesses Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 273. Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274, u. Ders., Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 341–342. 80 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274. 81 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 343. 82 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274. 83 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 344. – Konkret spricht Spaemann von »einigen Putzgeräten, die in einem Museum beieinanderstehen«. – Ebd. 84 Ebd. 343. 78 79
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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
geworden« sind, kann Kunst »nicht physis als Gestalt, sondern Natur als ein[en] Prozess, in dem Gestalten nur Stadien auf einem Weg sind« 85, nachahmen. Daher werden die »Spuren seiner Entstehung« nicht getilgt, sondern »das Werk besteht oft nur aus den Spuren eines produktiven Prozesses« 86. Bei der zweiten Form innerhalb dieser Gegenbewegung geht es um eine Art der Kunst, die in einer zunehmend »virtuellen Welt« versucht, »die verlorene Wirklichkeit als unsichtbare zu vergegenwärtigen« 87. Als Beispiele solcher Kunstwerke nennt Spaemann »das Verpacken großer Gebäude durch das Ehepaar Christo, bei denen das Bewusstsein von Wirklichkeit durch Unsichtbarmachen eines Dinges geweckt werden soll« 88, den »aus einer eigens hierfür hergestellten Kaiserkrone« 89 umgeschmolzenen goldenen Osterhasen von Beuys und vor allem die Werke von Walter de Maria, etwa den »tausend Meter lange[n] Stab aus Edelstahl, den er anlässlich einer Documenta in Kassel in ein vorher hergestelltes Bohrloch versenkte« 90. Die Gemeinsamkeit dieser sehr verschiedenen Kunstwerke sieht er darin, dass der Kunst als Reaktion »auf die zunehmende Virtualisierung der Welt« 91 damit paradoxerweise die Aufgabe eines Erinnerns zufällt, »das nicht mehr begrifflos durch Bilder geschieht« 92: Wo die Bilder verstellen, was von sich selbst ist und aufgeht, d. h. Natur, da fällt der Kunst die Aufgabe zu, karge Zeichen als Spuren zu hinterlassen, die den, der ihnen nachgeht, an den Ort führen, wo Sehen, Hören und Fühlen entspringen. Also an den Ursprung von Leben. Sehen aber ist unsichtbar, Hören unhörbar und Tasten untastbar. Nachahmung der Natur: Das heißt das Unsichtbare nachahmen, das die fundamentale Realität ist. 93
Die Kunst scheint damit »an die Stelle des Sakraments zu treten« 94 und »die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins« zu
85 86 87 88 89 90 91 92 93 94
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 345. Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 316. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 215. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 345. Ebd. 346. Ebd. Ebd. Ebd. 347. Ebd. Ebd. 346.
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übernehmen, »das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat« 95. Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Kunstschönen belegt also einerseits in der Rekapitulation geschichtlicher Entwicklungen die Gefährdung der Person, die im vorangegangenen Kapitel thematisiert wurde. 96 Andererseits lässt sie die Kunst als Prüfstein der Ontologie der Person und als Gebiet möglicher Einübung in Selbsttranszendenz und in die personale Perspektive auf Seiendes erscheinen.
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 215. Vgl. Abschnitt 8.5.1, Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz, 637– 642.
95 96
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9.3 Das Absolute als eine Weise der Nähe
Im hier betrachteten letzten Abschnitt der Entfaltung des Spaemann’schen Denkens nehmen Stellungnahmen zu einem philosophisch-theologischen Randbereich bzw. zu religiösen Fragen erheblichen Raum ein. In seinen genuin philosophischen Texten wiederum artikuliert sich der Anspruch, Philosophie als Metaphysik und damit das »jenseits der Grenze des Wissbaren dem Denken« 1 Aufgehende als ihren integrativen Bestandteil zu verstehen. Das Vorwort zur zweibändigen Ausgabe seiner Essays und Reden trägt den Titel: »Versuche, das Ganze zu denken« 2 und diese Textsammlung selbst den auf David Humes’ Feststellung: »We never really advance a step beyond ourselves« anspielenden Titel »Schritte über uns hinaus«. Der Thematisierung des Absoluten, die seit dem ersten Kapitel der hier vorgenommenen Deutung von Spaemanns Werk ein Leitmotiv war, kommt in diesem letzten Abschnitt noch einmal besondere Bedeutung zu. Wenn Philosophie sich mit einer solchen thematischen Ausrichtung nicht übernehmen soll, bedarf es zum einen der schlüssigen Begründung, warum das Absolute unverzichtbarer Bestandteil philosophischen Nachdenkens ist, und zum anderen des Aufweises seiner spezifischen Kompetenz, dieses als seinen Gegenstand betrachten zu dürfen. Dieser zweifachen Aufgabe sind die abschließenden Abschnitte der Untersuchung von Spaemanns Werk gewidmet, wobei es das Ziel der Darlegungen sein wird zu zeigen, dass die genuin philosophische Konzeption Spaemanns, die in den vorangegangenen Kapiteln entwickelt wurde und durch die Ontologie der Person zu ihrer Gestalt gefunden hat, in der Lage ist, das Thema des Absoluten so zu integrieren, dass es als eine Weise der Nähe Thema des philosophischen Nachdenkens ist. Zunächst wird dazu das Argument Spaemanns für die Existenz Gottes aus dem futurum exactum der Vernunft kritisch geprüft, um ausgehend von diesem Argument die doppelte Codierung von Spaemanns Denken – im Sinne der beiden möglichen Ausgänge des Denkens vom lebendigen Aussein-auf einerSpaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2009), 219. »Versuche, das Ganze zu denken. Anstelle eines Vorworts« – Es handelt sich dabei um den geringfügig ergänzten Text der Einleitung in die »Philosophischen Essays« von 1983.
1 2
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seits, von Gott als dem Ende des Denkens andererseits 3 –, die sich im Verlauf der vorliegenden Untersuchung seines Werks immer deutlicher abzeichnete, darzulegen. Die für Spaemanns Denken charakteristische Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Glaube lässt sich, wie zu zeigen sein wird, nur durch einen Gedankengang deutlich machen, in dem durch die Reflexion des Verhältnisses von antikem und neuzeitlichen Denken auf die Entdeckung der Person als historisch-kontingenter Fundierung von Spaemanns Ontologie rekurriert wird (9.3.1). Abschließend werden in der Bewegung einer Gegenprobe zwei späte Texte Spaemanns, die als ›Summen‹ seines Philosophierens gelesen werden können, analysiert und verglichen, um die Tragfähigkeit der vorgelegten Deutung zu prüfen. In diesen Texten geht es im Unterschied zur Thematik des vorangegangenen Abschnitts um die genuin philosophische Gestalt von Spaemanns Denken, die im Sinne des erläuterten Gedankens der doppelten Codierung nicht im Widerspruch zu seinen theologischen und religionsphilosophischen Überlegungen steht, sondern im Sinne der hier unternommenen Deutung des philosophischen Werks Spaemanns als deren Fundierung erwiesen werden kann (9.3.2).
9.3.1
Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
Die Bezeichnung ›Gottesbeweis‹ für sein Argument aus dem futurum exactum der Wahrheit für die Existenz Gottes relativiert Spaemann selbst mit folgender Bemerkung: »Genau genommen ist ein rationales Argument dafür, etwas zu glauben, nicht dasselbe wie ein Beweis. Pascals ›Wette‹ war ein Argument, an Gott zu glauben. Kants ›Postulat‹ war ebenfalls ein solches Argument. Mein Argument sollte in dieser Reihe gesehen werden.« 4 In diesem Argument geht es Spaemann um den Hinweis auf den aus seiner Sicht unauflösbaren Zusammenhang zwischen der Existenz Gottes und der Wahrheitsfähigkeit des Menschen: »Auch das Vertrauen in die Vernunft ist ein
In einem Interview aus dem Jahr 2007 bezeichnet Spaemann als »das Ende des Denkens« »die Einsicht: Gott ist«. – Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 136. 4 Vorwort (2007), in: Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 7. – Vgl. zu Pascals ›Wette‹ : Zwierlein, Inwiefern an Gott zu glauben vernünftig ist, 83–92. 3
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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
Glaube, ein Glaube, der mit dem Glauben an Gott eng zusammenhängt.« 5 In seinem zusammen mit Spaemanns Vortrag »Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott« veröffentlichten Essay mit dem Titel »Gott denken« fasst Rolf Schönberger das Argument Spaemanns in folgenden Schritten zusammen: I. Alle Tatsachenwahrheiten sind ewige Wahrheiten. II. Jede Gegenwart ist die Vergangenheit einer künftigen Gegenwart. III. Der ontologische Status dieser ewigen Wahrheiten besteht weder in einer Wirkung noch im Erinnertwerden, sondern im Gewusstwerden. Es ist somit einem absoluten Bewusstsein, also Gott, gegenwärtig. 6
Schönberger weist darauf hin, dass Spaemann für dieses Argument keine »unabweisbare Evidenz in Anspruch nimmt«, sondern »von einem ›Postulat‹« 7 spricht. Offenbar besteht im Hinblick auf diesen epistemologischen Status des Arguments jedoch eine erhebliche Unklarheit. In einer sehr scharfsinnigen Analyse von Spaemanns Argument weist Thomas Buchheim auf eine weiter unten zu thematisierende Inkonsistenz desselben hin und folgert, dass die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, die für Spaemann nur zusammen mit dem Glauben an Gott gegeben ist, unabhängig von einem solchen Zusammenhang behauptet werden kann. Der Zurückweisung von Spaemanns Argument misst er dabei eine prinzipielle Bedeutung bei: Dies halte ich im übrigen auch deshalb für wichtig, weil ein Dissens über die Wahrheit des Gottesglaubens unter uns Menschen nicht dazu führen sollte, den, der Gottes Existenz mit Wahrheitsanspruch leugnet, einer Inkonsistenz bezichtigen zu können. Vielmehr ist die Leugnung Gottes mit Wahrheitsanspruch konsistent und kann allein deshalb als Verstocktheit des Herzens Sünde sein. Wäre das Argument aus dem futurum exactum der Wahrheit triftig, dann wäre ein wahrheitsliebender, seine Überzeugung bekennender Atheist eine contradictio in adiecto und umgekehrt: Der, der Gottes Existenz einräumt, wäre jemand, der expliziert, was er unter »Wahrheit« verstehen möchte. 8
Wenngleich meines Erachtens dieser Einschätzung Buchheims im Hinblick auf die Möglichkeit wahrheitsliebender Atheisten vollauf 5 6 7 8
Vorwort (2007), in: Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 7. Schönberger, Gott denken, in: Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 117. Ebd. Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 51.
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zuzustimmen ist, muss der in dieser Schlussfolgerung implizierte Vorwurf eines gewissen Zelotismus an die Adresse Spaemanns irritieren. Im »Vorwort« zu seiner Essaysammlung »Das unsterbliche Gerücht« spricht dieser von der Bedeutung der Innen- und der Außenperspektive auf menschliche Einstellungen: Die Welt ist pluralistisch und war es immer. In einer pluralistischen Welt aber konkurrieren unvermeidlich Innen- und Außenperspektive miteinander. Wer Leute tanzen sieht, aber die Musik nicht hört, der versteht die Bewegungen nicht, die da vollführt werden. Und wer den christlichen Glauben nicht teilt, wird geneigt sein, ihn durch etwas anderes als durch die Wahrheit seines Gegenstandes zu erklären. Verstehen wird er den Gläubigen letzten Endes nicht. Wer in der Innenperspektive lebt, hält sich an die Worte des heiligen Paulus: »Der geisterfüllte Mensch urteilt über alles, ihn aber vermag niemand zu beurteilen.« (1 Kor 2,15) Wer aber unfähig ist, sich in die Außenperspektive zu versetzen, von denen aus die christliche Religion eine Weltsicht unter anderen ist, der wird zum Sektierer oder Fanatiker, der sich gegen die Universalität der Vernunft verschließt. Der christliche Glaube beansprucht die gleiche Universalität wie die Vernunft. Ja, er verlangt von der Vernunft, hinter ihrem Begriff nicht zurückzubleiben, und konstatiert, daß sie dahinter zurückbleibt, wenn sie die Frage nach Gott ausspart. Aber er weiß auch, daß das Urteil des »geistlichen Menschen« als universelle, jegliche Außenperspektive integrierende Wahrheit erst am Ende aller Zeiten offenbar werden wird. 9
Buchheims Interpretation der von Spaemann in seinem Argument verfolgten Absicht schließt jene Außenperspektive auf die Religion aus – denn ihre Wahrheit wäre ja nach seiner Lesart, wenn das Argument funktionieren würde, eine bewiesene –, womit Spaemann in die Nähe jener »Sektierer oder Fanatiker« gerückt wird, von denen er selbst in kritischer Distanzierung spricht. Wie weiter unten gezeigt werden soll, ist Buchheims Widerlegung dessen, was er als Spaemanns Argument darstellt, zwar vollkommen zutreffend; allerdings verkennt er nach meinem Dafürhalten die wesentliche Prämisse von Spaemanns Gedankengang, obwohl er in der Einleitung seines Aufsatzes auf deren prinzipielle Bedeutung für ein argumentum ad hominem, das Spaemanns Beweis ja sein soll, ausdrücklich hinweist. 10 Vorwort (2007), in: Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, 8–9. Vgl.: »Ein argumentum ad hominem ist ein Argument, das von einer Prämisse ausgeht, die der Hörer des Arguments gerne für wahr halten möchte, weil sie etwas
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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
Durch die Rekonstruktion dieser Prämisse kann der Widerspruch zwischen Spaemann und Buchheim in der Frage nach Gott dahingehend aufgelöst werden, dass die Konsistenz der Leugnung Gottes, die Buchheim betont, die Ablehnung jener Prämisse impliziert, durch die für Spaemann menschliche Wahrheitsfähigkeit mit dem Glauben an Gott verbunden ist. Für das im Weiteren zu entwickelnde Verständnis dieser spezifischen Prämisse Spaemanns ist es sinnvoll, das Argument aus dem futurum exactum zunächst zur Seite zu legen und grundsätzlich nach dem Verhältnis von Wissen und Glaube im Denken Spaemanns zu fragen, um danach auf der Grundlage dieser Verhältnisbestimmung das Argument noch einmal prüfen und Buchheims kritische Stellungnahme korrekt einordnen zu können. Die bei weitem aussagekräftigste Stellungnahme Spaemanns im hier betrachteten Zeitraum zum Verhältnis von Wissen und Glaube findet sich in dem zur Feier des 125. Geburtstags von Karl Jaspers 2008 gehaltenen Vortrag »Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens« 11. Die grundsätzliche Gedankenbewegung in diesem Vortrag besteht darin, dass Spaemann ausgehend von der modernen Abgrenzung von Glauben und Wissen, für die Jaspers als Beispiel stehen kann, zurückgeht auf die Begriffe von Wissen und Glaube bei Platon, um danach in der zwischen Platon und Jaspers aufweisbaren »Begriffsverschiebung« 12 die für Spaemann selbst problematische Voraussetzung des neuzeitlichen Denkens zu ermitteln, vor deren Hintergrund ein alternatives Vernunftverständnis erwogen wird, für das die Grenze zwischen Glauben und Wissen gegen Jaspers – und in gewissem Sinn mit Platon – anders gezogen wird. Im Folgenden soll ausdrückt, was ihn selbst betrifft und auszeichnet – hier: ein freies und wahrheitsfähiges Wesen zu sein. Wer möchte das im Ernst nicht? Dennoch ist auch ein solches argumentum ad hominem eben ein Argument, d. h. es soll beweisen oder den betreffenden Menschen aus logischen Gründen zwingen – wenn er dies, was er sich selbst zuschreiben möchte, für wahr halten will – etwas Weiteres, d. h. irgendwelche Folgerungen ebenfalls zu akzeptieren. Will er die Folgerungen nicht akzeptieren, so darf er nicht mehr ohne Selbsttäuschung an der Prämisse festhalten. Deshalb bedarf auch ein argumentum ad hominem einer durchsichtigen und genau festlegenden Form – anhand deren seine Voraussetzungen und Schlüssigkeit diskutierbar werden.« – Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 38. 11 Festvortrag an der Universität Oldenburg am 9. Juli 2008 zur Feier des 125. Geburtstags von Karl Jaspers. Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Deutsche Philosophie 57/2 (2009), 249–258. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 214–232. 12 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 231.
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dieser Gedankengang in seinen wesentlichen Schritten nachvollzogen werden. Wie also grenzt Jaspers Glauben von Wissen ab? Jaspers nennt die kognitive Beziehung zum Absoluten »Glaube« und unterscheidet sie damit von der kognitiven Beziehung zu innerweltlichen Gegenständen, die er Wissen nennt. Beide Formen haben ihre Art von Gewissheit, weil in beiden Formen Subjektivität in ganz verschiedener Weise am Werk ist: Einmal als das, was Jaspers »Bewusstsein überhaupt« nennt. Das Subjekt ist ein anonymes, ein »man« oder »die Wissenschaft«. Im anderen Fall ist das Subjekt das, was Jaspers »Existenz« nennt, das heißt ein menschliches Individuum, das sich als mögliche Freiheit versteht und damit als Adressat eines unbedingten Anrufs der Gottheit, in der sie gründet. 13
Es handelt sich also einerseits um Wissen im Sinne der certa cognitio, andererseits um die Erfahrung, »dass jenseits der Grenze des Wissbaren dem Denken etwas aufgeht und hell wird, das dem Dasein erst seinen Sinn gibt« 14. Spaemann betont die prinzipiell positive Haltung Jaspers zum Wissen in diesem Sinn: »Wir müssen im Bereich des Wissbaren mit den Methoden wertfreier Wissenschaft so weit gehen wie möglich, und das heißt immer weiter, denn der Prozess der Forschung ist unabschließbar. Er führt nie zu einer Rekonstruktion des umgreifenden Ganzen.« 15 Gerade durch diese unaufhebbare Beschränktheit wissenschaftlicher Forschung »werden wir an den Punkt geführt, wo der Absprung möglich ist – möglich, nicht zwingend. Zwingendes Wissen gibt es nur innerhalb der Welt der Objekte. Der Absprung ist Sache der Freiheit.« 16 Die Motivation für den Absprung besteht darin, dass »wir uns nur so als Freiheit, als Selbstsein, in der Sprache von Jaspers als ›mögliche Existenz‹ begreifen können« 17. Durch diesen Absprung öffnet sich nach Jaspers dem, der ihn freiwillig tut, das Transzendente, insofern sich schon die Freiheit zum Absprung – »Freiheit kommt in der Immanenz der wissenschaftlich ausgelegten Welt nicht vor« 18 – einem Grund verdankt, der nicht Natur ist: »Jaspers schreibt diesem transzendenten, göttlichen Grund Willen zu und ein prinzipielles Geneigtsein zum Guten.« 19 Allerdings 13 14 15 16 17 18 19
Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 226. Ebd. 219. Ebd. 217. Ebd. 218. Ebd. 220. Ebd. Ebd.
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sind für Jaspers alle Aussagen über das Transzendente »unvermeidlich immer vergegenständlichend, weil wir als endliche Wesen der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt nicht entrinnen« 20, und müssen daher immer wieder zurückgenommen werden. Vor dem Hintergrund dieser für das neuzeitliche Bewusstsein repräsentativen Abgrenzung von Glauben und Wissen bei Jaspers rekurriert Spaemann nun auf den Wissensbegriff Platons: Man könnte diesen Begriff enger als den modernen nennen oder auch weiter. Weiter, weil er sich auf Ewiges bezieht, enger, weil er sich nur auf Ewiges bezieht und weil er, zweitens, ein Identischwerden von Wissendem und Gewussten meint, das zwar Descartes noch einmal dem Denken vindiziert, das aber Jaspers im Gefolge des Christentums für den Glauben reserviert. 21
Wissen im eigentlichen Sinn gibt es für Platon »nur dort, wo das megiston mathema, das größte Denkbare und Wissbare gewusst wird: die Idee des Guten, oder, wie Platon sagt, das Gute selbst« 22. Dieses Wissen kann nicht gelehrt werden, »es kann auch nicht auf die übliche objektive, die Existenz aus dem Spiel lassende Weise gewusst werden. Man kann es nicht wissen, ohne es zu wollen.« 23 Bevor auf die Bedeutung Descartes’ in diesem Zusammenhang, auf die Spaemann anspielt, eingegangen werden kann, soll dieser Wissensbegriff noch etwas stärker konturiert und in ein Verhältnis zu dem Jasper’schen gesetzt werden. Mit Bezug auf Sokrates’ »Kosmologie als Hintergrund einer großen Erzählung über das Schicksal der Seele nach dem Tod« 24 im Phaidon und das »Wagnis« 25, diese Erzählung zu glauben, fragt Spaemann: Was ist hier Gegenstand des Wagnisses und des Glaubens? Es ist nicht die Unsterblichkeit der Seele und nicht die Überzeugung von der letztendlichen Identität des Seins und des Guten. Darüber kann uns philosophisches Nachdenken belehren, und dieses Nachdenken kann zu dem führen, was in einem emphatischen Sinn Wissen heißt. Dort aber, wo diese Grundeinsicht sich als Vorstellung konkretisiert, da haben
Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 222. Ebd. 226–227. 22 Ebd. 229. 23 Ebd. 230. 24 Ebd. 227. 25 Ebd. – Vgl. Platon, Phaidon, 114 d. – Spaemann verweist hier versehentlich auf: 116 b. 20 21
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wir es mit Erzählungen zu tun, die wir mit Jaspers »Chiffren« nennen können. Sie sind es wert, dass man sich an sie hält, denn in ihnen wird das Wahre anschaulich. Aber diese Anschauung ist nicht die Sache selbst und deshalb eine Sache der Selbstüberredung zum Glauben. 26
Während die Einsicht in die Unsterblichkeit der Seele für Platon aus dem μέγιστον μάθημα, der Idee des Guten, hervorgeht und also ein Wissen ist, sind konkrete Erzählungen, die diese Einsicht für den Menschen illustieren, Inhalte eines Glaubens. Diese Unterscheidung ist für Jaspers bedeutungslos, insofern das, was für Platon im eigentlichen Sinn Wissen bedeutet, für ihn selbst Gegenstand eines Glaubens geworden ist: Es hat hier offenbar von Platon bis zu Jaspers eine Begriffsverschiebung stattgefunden. Dieses durch Studium von Mathematik und Ideenlehre indirekt vorbereitete Ergriffensein der Existenz durch das megiston mathema, das Platon Wissen im Sinne von absolutem Wissen nennt, ist das, was bei Jaspers Glaube heißt. Offensichtlich handelt es sich hier formal um eine Transformation des Glaubensbegriffs, an deren Beginn die israelitischen Propheten, vor allem aber das Neue Testament stehen. Beide Elemente des platonischen Wissens finden sich hier im Begriff des Glaubens wieder: die alles Verstandesmäßige übersteigende Größe des Gegenstandes, und die Intensität des Ergriffenseins der Person, die z. B. Paulus schreiben lässt: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.« Allerdings findet mit dem biblischen Glaubensbegriff eine Diastase zwischen Weltwissen und Glauben statt, die wir auch bei Jaspers finden. 27
Mit der Diastase bzw. Spaltung von Weltwissen und Glaube ist jene Reduktion des Wissens auf die »kognitive[…] Beziehung zu innerweltlichen Gegenständen« 28 im Sinne der certa cognitio eines Subjekts gemeint, von der mit Bezug auf Jaspers’ Wissensbegriff die Rede war: »die Welt der neuzeitlichen Wissenschaft ist eine methodisch geschlossene Welt geworden, deren Studium möglich ist etsi Deus non daretur, als ob es Gott nicht gäbe.« 29 Die naturalistische Welterklärung und der im Absprung von ihr mögliche philosophische Glaube Jaspers’ sind für Spaemann eine Erscheinungsform jener spezifisch neuzeitlichen Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus, 26 27 28 29
Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 227. Ebd. 231. Ebd. 226. Ebd. 231.
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deren Entstehung der Prozess der Entteleologisierung zugrunde liegt. Spaemanns gesamtes philosophische Schaffen steht im Zeichen des Versuchs, diese frühneuzeitliche Vorentscheidung zu revidieren und durch eine Rückkehr zum teleologischen Denken eine Alternative zu dieser Dialektik zu finden. In diesem Sinn knüpft er an Platons Wissensbegriff an, um zu prüfen, ob sich aus der Verbindung der natürlichen und der spirituellen Seite des Menschen eine solche Alternative und damit eine andere Abgrenzung von Wissen und Glauben finden lässt. 30 Im »Phaidon« heißt es mit Bezug auf die erwähnten, das höchste Wissen illustrierenden Erzählungen, dass es zu ihnen zwei Alternativen gibt: »ein ›festeres Fahrzeug‹ […] oder aber einen göttlichen Logos, also eine Offenbarung.« 31 In dieser Alternative deutet sich eine andere Grenzziehung zwischen Wissen und Glauben an und es lohnt sich, zunächst nach dem hier angezielten Begriff des Wissens zu fragen: Aber was ist das »festere Fahrzeug«, dessen Möglichkeit Platon andeutet, ohne es mit dem göttlichen logos zu identifizieren? Ist es die Philosophie? Aber die Philosophie scheint doch nur in jener argumentativen Prüfung von Meinungen zu bestehen, die zu einer für eine verantwortliche Lebensführung ausreichenden Plausibilität führt, also eben nicht zu der Gewissheit, die wir Wissen nennen. 32
Mit dem, was ›wir Wissen nennen‹, ist hier das neuzeitliche Ideal der certa cognitio gemeint und es stellt sich die Frage, ob der platonische Begriff, für den »Wahrheit zur Definition des Wissens« gehört, das »nicht als mentaler Zustand beschrieben werden kann« 33, aus neuzeitlicher Sicht aktualisierbar ist. Für Platon gibt es, wie Spaemann betont, »kein Wissen des Wissens. Die Reflexion des subjektiven Bewusstseins auf sich geht ins Leere. Bewusstsein ist, wie Platon sagt, immer Bewusstsein von etwas.« 34 Genau an dieser Stelle bezieht Spaemann sich nun auf den oben bereits erwähnten Descartes, der
Vgl.: »Bereits Platon hat […] dem Eros eine heuristische Funktion zugewiesen. Und Spaemann bemerkt, dass der Begriff der Erkenntnis aus kulturgeschichtlicher Perspektive keineswegs identisch ist mit Descartes’ certa cognitio, der die Erkenntnis des Lebendigen aus methodologischen Gründen verschlossen bleiben muss.« – Stark, Das Verhältnis von Natur und Vernunft, 115. 31 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 228. 32 Ebd. 229. 33 Ebd. 34 Ebd. 30
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»im Cogito ein solches Wissen des Wissens zu finden« 35 versuchte. Zwar brauchte Descartes, um »vom Innen des ›Ich denke‹ zum Beider-Welt-Sein zu kommen, […] die Idee Gottes« 36, doch er aktualisierte mit dem Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ jenes »Identischwerden von Wissendem und Gewussten« 37, das Spaemann als Charakteristikum des platonischen Wissensbegriffs bezeichnet. Der Schritt von Platon zu Descartes besteht in der Ablösung der auf das μέγιστον μάθημα gerichteten Vernunft als Organ des Allgemeinen durch einen personalen Zugang zur Vernunft, in dem auf die Partikularität der eigenen Perspektive reflektiert wird. Zur systematischen Bedeutung dieser cartesischen Gedankenfigur für Spaemann gehört, wie in dieser Arbeit immer wieder gesehen wurde, die metaphysisch-analoge Umdeutung ihrer spekulativ-dialektischen Struktur. Der Kern dieser Umdeutung ist der personale Akt der Selbsttranszendenz, in dem der Schritt über die Gegenständlichkeit der Welt hinaus im Transzendieren der Zentralität eines Lebewesens dadurch vollzogen wird, dass ein anderes Zentrum der Bedeutsamkeit – Selbstsein – erscheint. Als aktualisiertes μέγιστον μάθημα erscheint in dieser Perspektive das Unbedingte in der Weise des Bildes, das Spaemann zunächst in »Glück und Wohlwollen«, danach in »Personen« in den Mittelpunkt seines Denkens rückte. In »Personen« bezeichnete Spaemann den Punkt, an dem der Mensch ein nicht kontingentes Verhältnis zu seiner kontingenten Natur entdeckt und die ontologische Differenz von Dasein und Sosein erlebt, als »Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem« 38. Gerade diese Metapher des Schwebens taucht, worauf Spaemann selbst hinweist, 39 bei Jaspers auf zur Bezeichnung des Geisteszustands, in dem die wieder zurückzunehmenden Aussagen über das Transzendente möglich werden. Spaemann spricht in diesem Zusammenhang aber anders als Jaspers nicht von einem Glauben, sondern von »Kontingenzbewusstsein« 40. Bis zum personalen Standpunkt führt nach Spaemann ein philosophisches Wissen, das, wie in Ab-
Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 229. Ebd. 37 Ebd. 226. 38 Spaemann, Personen (1996), 82. 39 Vgl. Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 223. 40 Ebd. – Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82–83, u. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 593. 35 36
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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
schnitt 8.3.3 gezeigt, 41 die Prämisse impliziert, dass Personen mit anderen Lebewesen ein Aussein-auf verbindet, und das im personalen Daseinsvollzug – der ›Schwebe‹ – an seine Grenze gelangt. Zu diesem Wissen gehört daher auch noch die Ahnung des Absoluten, dessen konkrete Ausformung dann Gegenstand des Glaubens ist. In der Selbsttranszendenz als fundamentalem Akt der Personalität aktualisiert sich der platonische Begriff des Wissens, wodurch die geläufige Grenzziehung zwischen Wissen und Glauben in Frage gestellt wird: Es ist aber nun zur Sache eines philosophischen Glaubens geworden, dass wir etwas wissen können und nicht nur bei uns selbst bleiben, wenn wir mit einem guten Freund ein Glas Wein trinken und dabei wissen, dass wir nicht das Konstrukt des Anderen und der Andere nicht das unsere ist. Platons Begründungsfunktion des absoluten Wissens für jede Art von Wahrheit scheint an Aktualität Karl Jaspers zu übertreffen. Aber Jaspers hatte gute Gründe, dieses absolute Wissen »Glauben« zu nennen. 42
Den Anderen für wahr zu halten, entspringt einer Evidenz der Wahrnehmung, von der Spaemann in »Glück und Wohlwollen« ausgeht; und doch ist damit kein evidentes Wissen im Sinne der certa cognitio verbunden: »Die Entscheidung gegen den Solipsismus aber ist und bleibt eine metaphysische Entscheidung. Es ist die metaphysische Entscheidung.« 43 Den Begriff ›Wissen‹ für diese Entscheidung in Anspruch zu nehmen und damit die Philosophie – statt sie auf die Funktion der argumentativen Prüfung von Meinungen zu reduzieren – als ›festeres Fahrzeug‹ zu betrachten, setzt jene Aktualisierung des platonischen Denkens voraus, die in der Entdeckung der Person fundiert werden kann und die als epistemologische Spur in jeder den Solipsismus überwindenden Seinswahrnehmung anwesend bleibt. Durch diese Fundierung im historisch-kontingenten Ereignis der Entdeckung ist die neuzeitliche Grenzziehung zwischen Wissen und Glaube korrigierbar. Ohne diese Fundierung bleibt es bei den ›guten Gründen‹, die Jaspers hatte, dieses Wissen einen Glauben zu nennen. Insgesamt wiederholt Spaemann in seinem Vortrag über Jaspers damit die Gedankenbewegung, die hier zunächst im sechsten Kapitel rekonstruiert wurde. Aus dem neuzeitlichen Denken geht Spaemann Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 590. 42 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 232. 43 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248. 41
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zurück auf das antike Denken als Inspirationsquelle einer Aktualisierung, für die Descartes ihm ein wesentlicher Angelpunkt ist, der seinerseits einer Modifikation bedarf, in der sich der unverwechselbare Spaemann’sche Ansatz – das metaphysisch-analoge Denken bzw. der metaphysische Realismus – erkennen lässt. Der ›Sprung‹ in diesen Ansatz ist dabei kein Glaubensakt, sondern ein Wissen, das im historisch-kontingenten Ereignis der Entdeckung der Person fundiert ist. 44 Nach diesem Exkurs in die Verhältnisbestimmung von Wissen und Glauben kann der Gedankengang nun zu Spaemanns Argument aus dem futurum exactum der Wahrheit zurückkehren. Es liegt auf der Hand, dass dieses Argument keine Bedeutung hat, wenn man einen Begriff der Vernunft als »ein durch vielfältige Selektion erprobtes Anpassungsorgan, dessen Funktionen mit so etwas wie Wahrheit nichts zu tun haben« 45, zugrunde legt. Spaemanns Feststellung, dass »Gottesbeweise […] sämtlich an dem, was Logiker eine petitio principii nennen« 46, kranken, trifft ohne Einschränkung auch auf sein Argument zu. Es muss also an dieser Stelle die oben erwähnte Prämisse Die Aktualisierung des platonischen Wissensbegriffs enthält – um an dieser Stelle auf die Zusammenhänge mit dem programmatischen Rahmen dieses Kapitels hinzuweisen – die epistemologische Voraussetzung zu dem, was zunächst als ›Nähe‹ und danach anhand der Scheler’schen Wertphilosophie und der Seinswahrnehmung im Schönen expliziert wurde. Die Scheler’sche Wertphilosophie, die Werte als ›materiale Qualitäten‹ behauptet, die weder subjektiv gesetzt noch empirisch bestimmbar sind, kann selbst als ein Ausdruck des aktualisierten platonischen Wissensbegriffs verstanden werden. Der Hybridbegriff des ›Werts‹ – Hybridbegriff, da er einerseits im Unterschied zur Person nicht immer wirklich, sondern als möglich denkbar, andererseits aber im Unterschied zu Gegebenem nicht in seinem Sosein empirisch bestimmbar ist – setzt den ›personalen Ort‹, die metaphysische Entscheidung gegen den Solipsismus und damit die Aktualisierung des platonischen Wissensbegriffs voraus. Werte beziehen sich auf Qualitäten als Ausdruck der ontologischen Differenz. Sie sind nur in der Wahrnehmung gegeben, haben aber eine von der subjektiven Wahrnehmung unabhängige Bedeutung, die phänomenal als Schönheitswahrnehmung gegeben ist. Die Hierarchisierung von Werten setzt die Kontextunabhängigkeit von Personen voraus. Nur Personen, die über die ontologische Differenz bewusst verfügen, können Qualitäten in der Relation von Nähe und Ferne verorten und auf sie gerichtete Werte hierarchisieren. Aus der personalen Selbsttranszendenz ergeben sich Vorzugsregeln für den aktualisierten Zugang zum μέγιστον μάθημα. Eine reflexive Wendung auf die natürliche Selbsttranszendenz vollziehen nur Personen. Ganz zu sich selbst kommen Personen daher erst im Ereignis der interpersonalen Begegnung durch die Wahrnehmung von Selbstsein, denn Nähe ist Sein. 45 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 232. 46 Spaemann, Der letzte Gottesbeweis (2007), 27. 44
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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
des argumentum ad hominem, das Spaemann als ›Gottesbeweis‹ vorträgt, zunächst genau benannt werden. Was bedeutet die metaphysische Entscheidung gegen den Solipsismus, die sich selbst als Wissen versteht? Jaspers’ Metapher des Schwebens, die für ihn den Glauben bezeichnet, wurde von Spaemann als Kontingenzbewusstsein übersetzt. 47 Das Bewusstsein der Kontingenz wiederum ist Ausdruck der Differenz von Dasein und Sosein. 48 Diese ontologische Differenz ist in der Selbsterfahrung der Person gegeben. Wie die Ausführungen in Abschnitt 8.3.3 ergeben haben, ist dieses Selbstverständnis der Person aber darin fundiert, dass eine analoge Differenz von Dasein und Sosein auch alles nicht bewusste Lebendige und a fortiori jedes nicht lebendige Seiende kennzeichnet und sie somit ebenso wie Person »eine Existenzweise, ein modus existentiae, nicht ein qualitativer Bestand, sondern dessen spezifischer individueller Vollzug« 49 sind. Die personale Wahrnehmung von Sein im Sinne der ontologischen Differenz steht immer unter Idiosynkrasieverdacht, gleichzeitig ist die prinzipielle Bestreitung ihrer Möglichkeit selbstwidersprüchlich 50, so dass sie weder beweis- noch widerlegbar ist. Durch den unauslöschlichen Verdacht der Idiosynkrasie »bleibt die Transzendenz in der Bewegung, die auf Sein als das Jenseits des Gedankens geht« 51. Das Theorem der ontologischen Differenz ist die positive Fassung der Spaemann’schen Grundüberzeugung, wonach Sein kein Begriff – also nicht ein als Mögliches Denkbares –, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung ist. 52 Leben des Lebendigen – und a fortiori Sein des Seienden – gehört nicht auf die Seite des Soseins, sondern auf die des Daseins. Die Annahme, dass die als Personalität erlebbare ontologische Differenz allem Seienden zukommt, ist demnach die gesuchte Prämisse, die Spaemanns Argument aus dem futurum exactum zugrunde liegt. Aus personaler Perspektive müsste die Prämisse so formuliert werden, dass eine Wahrnehmung von Sein, also der ontologischen Differenz von Dasein und Sosein, die primär in der personalen Selbsterfahrung gegeben ist, zumindest auch in phänomenal gegebenem Lebendigem ohne Selbstbewusstsein möglich ist. Auf dieVgl. Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 223. Vgl. Spaemann, Personen (1996), 39, 79, 81. 49 Ebd. 39. 50 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 595, Fn. 105. 51 Spaemann, Personen (1996), 83. 52 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42. 47 48
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ser Grundlage soll nun erstens die Widerlegung des Arguments durch Buchheim kritisch betrachtet werden, bevor zweitens eine das in ihr enthaltene Missverständnis korrigierende Reformulierung des Arguments unter Einbeziehung der genannten Prämisse versucht wird. Abschließend geht es dann um eine Einordnung des Arguments in den Gesamtzusammenhang von Spaemanns Denken. Buchheim unterscheidet in seinem bereits zitierten Aufsatz »Erkannt, aber nicht aufbewahrt« zwei Formen des Spaemann’schen Arguments, einerseits das »Argument aus dem futurum exactum des ›Immer-gewesen-Seins‹ von Sachverhalten (ohne Behauptung der Wahrheit)«, andererseits das aus dem »futurum exactum des ›Immer-wahr-gewesen-Seins‹ einer jeden erkannten Wahrheit« 53. Buchheim ist der Auffassung, dass die zweite Form gegenüber der »aus ziemlich naheliegenden Gründen« zurückzuweisenden ersten die »aussichtsreichere[…] Fassung des Arguments« 54 ist. Dem ist insoweit zuzustimmen, als die erste Form, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch unter Berücksichtigung der erläuterten Prämisse einer spekulativen Zusatzannahme bedürfte, damit das Argument schlüssig wäre. Für die erste Form des Arguments – Buchheim bezieht sich dabei unter anderem auf eine Textstelle aus »Personen« 55 – rekonstruiert er folgende Gedankenstruktur: 1)
2)
3)
Wir wissen uns selbst in der Gegenwart als wirklich Seiende gegenüber von anderem Wirklichen. (Ausgangsthese, die wir von uns selbst für wahr halten möchten.) Etwas Wirkliches, das wir jetzt als wirklich erfassen, wird immer der Fall gewesen sein. (Konstitutionsthese, wonach das Präsens von Wirklichkeit die Bejahung eines unbegrenzten futurum exactum einschließen muß.) ›Gewesen sein‹ kann etwas nur, insofern es auch nach seinem Vergehen die Vergangenheit einer zukünftigen Gegenwart ist. (Transfer-These, wonach das Vergangene als Gewesenes für alle Zukunft erhalten bleiben wird.)
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 38–39. Ebd. 39. 55 S.: »Das futurum exactum ist die Form der Verewigung. Indem alles Präsentische zugleich ein solches ist, das gewesen sein wird – und zwar für immer und ewig –, gehört es immer schon der Dimension des Zeitlosen an. Als Künftiges wird es gegenwärtig, als Gegenwärtiges wird es zum Vergangenen, aber als Vergangenes wird es für alle Zukunft bleiben.« – Spaemann, Personen (1996), 130. – Vgl. auch Buchheims Verweise in den Fußnoten 4, 5 und 6 auf weitere Textstellen bei Spaemann. – Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 39–40. 53 54
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4)
Vergangenheit einer späteren Gegenwart zu sein, heißt, aus dieser Gegenwart als Gewesenes erinnert zu werden. (Bewahrungsthese, wonach das Erhaltenbleiben des Gewesenen ein es erinnerndes Bewußtsein erfordert.) 5) Alle menschliche Gegenwart ist endlich und wird einmal nicht mehr sein. (Endlichkeitsthese.) Konklusion: Daß etwas für uns in der Gegenwart im vollen Sinne wirklich ist, erfordert strenggenommen die Unterstellung eines ewigen Bewußtseins, in dem alles Vergangene als Erinnertes aufbewahrt bleibt. 56
Buchheim gesteht in seinem Kommentar des Arguments Spaemann die Thesen (1), (2) und (5) zu, erhebt aber Einspruch gegen die Thesen (3) und (4). 57 Gegen die »Transfer-These« (3) wendet Buchheim ein, dass »Zeitlichkeit […] zum prädikativen Charakter des Sachverhalts, nicht zur Weise seines Stattfindens oder Nichtstattfindens« 58 gehöre. Bei Spaemann unterstellt die »Transfer-These« nach Buchheim, dass das temporale Prädikat des Gewesenseins eine Aussage über die »Modalität seines Seins« 59 desjenigen macht, worauf das Prädikat sich bezieht, und zwar in dem Sinn, dass durch das temporale Prädikat eine Überzeitlichkeit dieses Gegenstands ausgedrückt wird. Diesen Anspruch weist Buchheim zurück mit der Feststellung: »Alle temporalen Termini in Aussagen welcher Art auch immer müssen in einer Bedeutungsanalyse dieser Aussagen auf die behaupteten Sachverhalte bezogen werden, nicht ihr behauptetes oder behauptbares Sein.« 60 Mit anderen Worten bedeutet dies, dass temporale Prädikate sich auf das Sosein eines Seienden beziehen und nicht auf sein Dasein. Gegen die »Bewahrungsthese« (4) stellt Buchheim heraus, dass »gewesen zu sein weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung dafür [ist], eine ewige Aufbewahrtheit dafür zu fordern« 61: Gewesensein ist daher, wie diese Argumente zeigen, unabhängig davon, ob es die Vergangenheit einer späteren Gegenwart ist oder nicht. Gewesen zu sein fügt dem, was etwas ist und nicht ist (und später war und nicht war), nicht das Mindeste hinzu. Es gibt also keinen ›Trans-
56 57 58 59 60 61
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 39–40. Vgl. ebd. 40–44. Ebd. 41. Ebd. Ebd. 41–42. Ebd. 42.
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fer‹ des Gewesenseins in die Zukunft durch das betreffende Seiende selbst. 62
Daher, so schließt Buchheim, müssen die »Sätze (3) und (4) […] in dieser Form des Arguments zurückgewiesen werden« 63. Aus dem Kontext von Spaemanns »Personen« könnte man nun folgendermaßen gegen diesen Einwand zu argumentieren versuchen: Spaemann sieht eine fundamentale Ambivalenz der Zeit, in der sich die beiden Perspektiven der ›gehabten Natur‹ und des ›Habens einer Natur‹ widerspiegeln. 64 Diese Ambivalenz resultiert aus dem Dualismus des »vitalen Bedeutsamkeitszusammenhangs« 65 einerseits, für den die physikalische Zeit als Prinzip der Entropie gilt, und des »Sinnzusammenhang[s]« 66 andererseits, der sich erst im Transzendieren jenes Horizonts erschließt und in dem die physikalische Zeit dadurch überwunden wird, dass »sie zum Medium einer Gestalt wird« 67: Der Übergang von der vitalen Bedeutsamkeit zum Sinn ist der Übergang vom Präsens ins futurum exactum. Das futurum exactum ist die Form der Verewigung. Indem alles Präsentische zugleich ein solches ist, das gewesen sein wird – und zwar für immer und ewig –, gehört es immer schon der Dimension des Zeitlosen an. 68
Temporale Prädikate beziehen sich für Spaemann zwar auf das Sosein eines Seienden; durch das personale ›Haben einer Natur‹ werden solche temporale Prädikate aber in einen Sinnzusammenhang gebracht, der sich der Zeit als Medium bedient und als »Zeit-Gestalt« 69 das Existieren des Soseins bezeichnet. Man könnte also als Reaktion auf Buchheims Einwand gegen die ›Transfer-These‹ für Personen in Anschlag bringen, dass die Vorstellung einer personalen ›Zeit-Gestalt‹ sich nicht auf einen Sachverhalt, sondern auf ihr Sein bezieht. Allerdings ist auch dann zuzugeben, dass sich aus der Personalität noch Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 44. Ebd. 64 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 611. 65 Spaemann, Personen (1996), 128. 66 Ebd. 67 Ebd. 122. 68 Ebd. 130. – Dies ist eine der Aussagen aus »Personen«, die Buchheim als erste Fassung des Arguments bezeichnet. 69 Ebd. 122. 62 63
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kein Transfer des Gewesenseins in die Zukunft ergibt. Zeit-Gestalt zu sein bringt die Person zwar in eine Distanz zu ihrem kontingenten Sosein; aber ihr Kontingenzbewusstsein könnte, auch wenn es keine Täuschung ist, immer noch innerhalb des naturalistischen Paradigmas als evolutionär dysfunktionaler Kollateralschaden der zerebralen Entwicklung gesehen werden, durch den eine folgen- und bedeutungslose kontemplative Einstellung ermöglicht wird. Um vom Bewusstsein der Kontingenz zum Aufbewahrtsein zu gelangen, müsste Spaemanns Kennzeichnung des ›personalen Ortes‹ als ›Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem‹ 70 durch eine spekulative Aussage über dieses Absolute ergänzt werden, durch die sich erst der Transfer des Gewesenseins in die Zukunft ergäbe. Auch die Berücksichtigung der oben erläuterten Prämisse könnte diesen Mangel des Arguments in dieser Form nicht beheben. Buchheims Widerlegung der zweiten Form des Arguments, die er aufgrund des Einbezugs der Wahrheit, die »kein temporales Prädikat« 71 ist, für leistungsfähiger hält, ist in sich stimmig, verfehlt jedoch, wie nun gezeigt werden soll, Spaemanns argumentum ad hominem durch Übergehen der erläuterten Prämisse. Buchheim gibt die Struktur des Arguments in folgender Weise wieder: 1)
2)
3)
4)
5)
70 71
Uns ist es in der Gegenwart möglich zu erkennen, was wirklich der Fall ist. (Ausgangsthese, die wir von uns selbst für wahr halten möchten = Prämisse a) Erkennen wir, was wirklich der Fall ist, so ist die Behauptung des erkannten Sachverhalts wahr. (Explikation von (1), bezogen auf einen angenommenen Fall) Die wahre Behauptung eines Sachverhalts impliziert, daß das mit ihr Ausgesagte immer wahr gewesen sein wird, auch wenn der Sachverhalt selbst nicht mehr besteht. (Konstitutionsthese, wonach Wahrheit zu einer Zeit in der Gegenwart Wahrheit für alle Zukunft voraussetzen muß = Prämisse b) Wahrheit ist zu definieren als »adaequatio rei et intellectus«. (Standarddefinition der Wahrheit nach Thomas von Aquin und anderen = Prämisse c) Alles Wahre auch in beliebig ferner Zukunft impliziert gegebene Adäquatheit zwischen einem ausgesagten Sachverhalt und einem Aussage formulierenden Intellekt. (Korrespondenzthese als Folgerung aus (4))
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82. Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 44.
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
6)
Aller menschliche Intellekt wird einmal vergangen sein. (Endlichkeitsthese = Prämisse d) Konklusion: Indem wir in der Gegenwart mit vollem Ernst die Wahrheit eines erkannten Sachverhalts behaupten, müssen wir annehmen, daß das Wahrsein des Behaupteten nicht nur für uns, sondern für einen ewigen Intellekt feststeht. 72
Nach Buchheim besteht der Vorzug dieser Form des Arguments darin, dass mit dem Wahrsein, das »immer einen Modus des Seienden« ausdrückt, im Unterschied zur ersten Form ein funktionierendes Transferprinzip gegeben sei, »um das, was stattfindet, über die Zeit, in der es stattfindet, hinauszuhieven« 73. Buchheims Kritik an dem Argument in dieser Form kann folgendermaßen expliziert werden. Spaemann nehme in Satz (2) »eine für das Argument zwar notwendige, aber in der Sache gleichwohl unbegründete Einengung des Wahrheitsverständnisses« 74 vor. Wahrheitsaussagen sind, so betont Buchheim, nicht grundsätzlich von einer Erkenntnis abhängig, sondern können durch eine bestimmte Form der Aussage ausgezeichnet sein: Wahr ist nämlich nicht nur das, was jemand, der einen Sachverhalt erkannt hat, mit behauptender Kraft aussagt. Sondern wahr ist unter Umständen auch eine Aussage, die ohne behauptende Kraft und ohne Erkenntnis des Sachverhalts formuliert oder ausgesprochen wird; und zwar ist entweder diese Aussage oder ihre Verneinung wahr und deshalb unter allen Umständen eine Disjunktion von jeder wohlformulierten Aussage mit ihrer Verneinung (Bivalenzprinzip). Diese Eigenart des Wahren darf nicht übersehen werden, weil es dann offenkundig nur eine Frage der Formulierung, nicht aber der Erkenntnis ist, ob Wahres gesagt wird oder nicht. 75
Buchheim unterscheidet also zwei Bedeutungen von Wahrheit, zum einen »das intendierte Formalobjekt aller Arten von Erkenntnis oder Erfassung dessen, was ist«, zum anderen »Wahrheit im instrumentellen Sinn« 76. Nach dieser Begriffsklärung fragt Buchheim nach der genauen Bedeutung des in Satz (3) aufgestellten Gedankens: »das
72 73 74 75 76
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 44–45. Ebd. 45. Ebd. 46. Ebd. 46–47. Ebd. 47.
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von einer (wahren) Behauptung Ausgesagte wird immer wahr gewesen sein« 77. Gemäß den beiden Bedeutungen der Wahrheit unterscheidet er die nicht notwendige Spaemann’sche Explikation dieses Satzes, die auf dem Verständnis von Wahrheit als Formalobjekt aufbaut, von der seiner Meinung nach einzig zutreffenden Explikation, nach der »die Formulierung des Sachverhalts eine Bedingung für die Implikation möglicher Wahrheit« 78 ist. Insofern der Gedanke der Wahrheit »Konvenienz zwischen einer Sache (dem betreffenden Sachverhalt) und einer ihr entsprechenden Formulierung im Intellekt« 79 impliziert, wird nach Buchheim »der im Argument verborgene Irrtum sehr schnell offenkundig« 80. Er besteht nämlich in der Verwechslung des »begrifflichen Zusammenhang[s] zwischen dem Begriff der Wahrheit und formulierten Sachverhalten« und einer »Existenzimplikation« 81. Dass ein jetzt wahrer Sachverhalt, wann immer er in der Zukunft von einem Intellekt gedacht wird, in dessen Denkakten immer wahr gewesen sein wird, erlaubt nicht den Schluss, der bei Spaemann mitgedacht ist, dass es immer einen Intellekt geben muss, der diesen wahren Sachverhalt denken wird. »Also ist das Ausgesagtwerden oder Formuliertwerden die Bedingung für die Fixierung dessen, dem Wahrheit zukommen kann.« 82 Spaemanns Argument scheitert nach Buchheim an dieser Einsicht, die zeigt, dass wir uns auch ohne den Schluss auf einen ewigen Intellekt »legitimerweise als wahrheitsfähige Wesen verstehen« 83 können: Weil das Argument aus dem futurum exactum der Wahrheit von der uns möglichen Erkenntnis des Wahren ausgeht, d. h. den Begriff der Wahrheit als intendiertes Formalobjekt zugrundelegt, anstatt als mögliches Prädikat von bestimmt formulierten Sachverhalten, entsteht leichter die Suggestion, man benötige, um Wahrheit in ferner Zukunft anzunehmen, einen sie dann noch erkennenden Verstand. Dies ist indessen nicht der Fall, sondern das einzige, was man braucht, ist eine meiner jetzigen äquivalente Formulierung des Sachverhalts. Daß (zu beliebiger Zeit) eine äquivalente Formulierung des Sachverhalts angebbar ist, ist aber ganz und gar unabhängig davon, ob es zu irgend77 78 79 80 81 82 83
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 47. Ebd. 49. Ebd. 48. Ebd. Ebd. 49. Ebd. Ebd. 51.
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einer Zeit einen Verstand gibt, der diese Formulierung bereitstellt. Schon meine jetzige Formulierung des Sachverhalts ist als logische Form die gesamte Äquivalenzklasse solcher Formulierungen zu beliebiger Zeit, falls nicht der Psychologismus in der Logik wieder seinen Einzug halten soll. So beweist meine heutige äquivalente Formulierung die Formulierbarkeit des Sachverhalts für alle Zeiten, egal, ob es jemand gibt, der dies dann durchführt oder nicht. 84
Spaemanns Argument scheitert nach Buchheim also auch in dieser Form, wobei das zentrale Problem hier die Unterstellung einer Existenzimplikation für einen rein begrifflichen Zusammenhang ist. Diese Widerlegung des Arguments in seiner zweiten Form durch Buchheim ist in ihrer logischen Gedankenführung stringent und schlüssig. Dass sie Spaemanns argumentum ad hominem nicht gerecht werden kann, lässt sich durch den Rückbezug auf die erläuterte Prämisse zeigen. Die oben thematisierte Aktualisierung des platonischen Wissensbegriffs, für die der Akt der Selbsttranszendenz auf das Sein hin konstitutiv ist, muss bereits in der Ausgangsthese (1) mitbedacht werden. Dort geht es mit der Erkenntnis dessen, was wirklich der Fall ist, nicht um ein logisches Verhältnis, sondern um ein ontologisches: »Sein ist […] kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung.« 85 Die logisch einwandfreie Widerlegung von Spaemanns Argument gelang, wie gesehen wurde, durch den ausdrücklichen Ausschluss der Existenzimplikation, die durch die erläuterte Prämisse unterlaufen wird. Nach ihr liegt nämlich der wahren Behauptung eines Sachverhalts eine Wahrnehmung von Sein als Jenseits des Begriffs zugrunde. Wenn die Möglichkeit einer solchen Wahrnehmung von Sein in Satz (1) als Prämisse aufgenommen wird, verliert Buchheims Widerlegung des Arguments ihre Stringenz. Der Einwand gegen Satz (2) kann unter Hinweis auf Spaemanns in der Prämisse behauptetes Wahrheitsverständnis als Wahrnehmung von Sein zurückgewiesen werden. Mit Bezug auf Satz (3) kann die Spaemann’sche Explikation, dass wahre Behauptungen sich auf ein Sein als Jenseits des Begriffs beziehen, verteidigt werden. Aus dem Argument in seiner zweiten Form folgt damit unter Berücksichtigung der Prämisse in der Tat: Wenn es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, existiert Gott. Das heißt, dass das Existieren ihres uns denkbaren Soseins nicht nur ›erkannt‹, sondern eben doch ›auf84 85
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 49–50. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.
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bewahrt‹ ist. Der somit behauptete Zusammenhang zwischen Wahrheitsfähigkeit und Gottesglauben steht insofern nicht im Widerspruch zur Konsistenz der Leugnung Gottes, die Buchheim zurecht bewahrt wissen will, als durch die Prämisse die Wahrheitsfähigkeit um eine Zusatzannahme ergänzt wird. Spaemann denkt Wahrheitsfähigkeit im Sinne des metaphysischen Realismus. Somit gilt allerdings durchaus, dass die konsistente Leugnung Gottes auch die Ablehnung dieser Weltsicht impliziert. Sein argumentum ad hominem bezeichnet Spaemann selbst als einen »Gottesbeweis, der sozusagen nietzsche-resistent ist« 86. Spaemanns Auseinandersetzung mit Nietzsche in diesem Sinn reicht weit zurück in die Vergangenheit. Im Zusammenhang mit der Geschichte des teleologischen Denkens wurde die unikale Bedeutung Nietzsches für das philosophische Denken bereits thematisiert. 87 Die Besonderheit Nietzsches besteht für Spaemann in der Radikalität eines Denkens, durch das das Denken selbst »in der Dimension eines ontologischen Irrtums« 88 verortet wird. Schon in »Natürliche Ziele« wiesen Spaemann und Löw darauf hin, dass Nietzsche selbst den inneren Widerspruch seiner Philosophie erkannte, der darin besteht, dass er zur Artikulation der Einsicht in die Absurdität der Welt noch der Sinnstrukturen der menschlichen Sprache bedurfte: »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …« 89 In »Der letzte Gottesbeweis« knüpft Spaemann erneut an Nietzsche an, und es stellt sich die Frage, inwiefern seine Auseinandersetzung mit ihm hier ein neues Niveau erreicht hat. »Was Nietzsche prinzipiell in Frage stellte,« schreibt Spaemann, »war die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft und damit der Gedanke von so etwas wie Wahrheit überhaupt.« 90 Auf diese Herausforderung des Denkens kann nicht mehr direkt durch eine Argumentation geantwortet werden: »Wenn einmal der Gedanke, im Absurden zu leben, aufgetaucht ist, dann ist die bloß erkenntnistheoretische reductio ad absurdum keine Widerlegung mehr.« 91 Worum es Spaemann in seinem arguSpaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 31. Vgl. in Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche, die Ausführungen zur ateleologischen Teleologie und dem Ende des Denkens bei Nietzsche, 268–272. 88 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 166. 89 Nietzsche, Werke, Bd. 6, Götzendämmerung, 78. 90 Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 27. 91 Ebd. 29. 86 87
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mentum ad hominem wesentlich geht, ist zu zeigen, dass es bei der Antwort auf die mit dem Namen Nietzsches bezeichnete Herausforderung um einen komplexen Zusammenhang geht, über den insgesamt geurteilt werden muss. Rolf Schönberger bestimmt diesen Zusammenhang in seinem Kommentar zu Spaemanns Gottesbeweis wie folgt: »Wahrheit, Sinn, Personalität und eben auch die Gottesidee bilden eine Konfiguration, die man nur insgesamt bejahen oder bestreiten kann.« 92 Angesichts dieser Konfiguration stellt Schönberger eine Frage, die auf das hier thematisierte Verhältnis von Glaube und Wissen zielt: Die Frage ist freilich, ob diese Bejahung, die in der Tat den rationalen Operationen vorausliegt, die Form eines Glaubens haben muss. Denn dieser Glaube steht seinerseits vor der Alternative, ein begründeter oder ein unbegründeter Glaube zu sein. Im ersten Fall ist seine rationale Form schon bestätigt; im zweiten Fall beziehen wir uns wenigstens negativ auf eine solche. Es scheint daher, dass wir von Sinn bzw. Bedeutung bereits dann reden müssen, wenn wir von Bewusstsein reden. Es ist »etwas«, von dem wir schlechterdings nicht absehen können. Sinn scheint eine Dimension zu sein, in der wir als bewusste Wesen immer schon uns bewegen und sind. 93
Schönbergers Erwägung ist meines Erachtens nur in der Hinsicht nicht zuzustimmen, als er darin eine »Alternative zu Spaemanns Vorschlag« 94 zu erkennen meint. Spaemann spricht in dem von Schönberger kommentierten Text ausdrücklich von der »Welt von Bedeutung und Sinn, die mit dem Leben auftaucht« 95. Vom teleologischen Aussein-auf führt bei Spaemann eine direkte Linie über die Personalität zum Argument für die Existenz Gottes. Im Sinne der angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Wissen und Glaube bei Spaemann handelt es sich bei der zu bejahenden Konfiguration durchaus um den Inhalt eines Wissens in diesem spezifischen Sinn. Der Sinn des argumentum ad hominem ist letztlich, dass die im lebendigen Aussein-auf fundierte personale Selbsterfahrung nur dann keine Selbsttäuschung ist, sondern Wahrheitsfähigkeit im Sinne des Aktes der Selbsttranszendenz bedeutet, wenn als Ende des Denkens eine
92 93 94 95
Schönberger, Gott denken, 112. Ebd. Ebd. Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 25.
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Instanz angenommen werden kann, die dem lebendigen Aussein-auf selbst zugrunde liegt. Zum Abschluss dieses Abschnittes soll noch eine letzte grundsätzliche Überlegung zum Verhältnis von Wissen und Glauben bei Spaemann angestellt werden. In mehreren Texten bezieht er sich auf neuere musikwissenschaftliche Untersuchungen zu den Violinsonaten Johann Sebastian Bachs: Die Musikwissenschaftlerin Hertha [sic] Thoene hat vor einigen Jahren in der Violinsonate g-moll von Bach folgende Doppeltcodierung entdeckt: Wenn man ein bestimmtes, von der Kabbala beeinflußtes formales Schema von Buchstaben und Zahlen zugrundelegt – das Verfahren nannte sich ›Gemantia‹ –, dann tritt plötzlich der alte Rosenkreuzerspruch entgegen: Ex Deo nascimur, in Christo morimur, per spiritum sanctum reviviscimus. Die Sonate ist eine wundervolle Musik. Die Musikalität ihrer Konfiguration von Noten reicht vollkommen, um zu der Gewißheit zu gelangen, man habe verstanden, warum Bach sie so und nicht anders niederschrieb. Wer aber, einem Gerücht folgend, vermutet, daß hier noch etwas verborgen sein könnte, und den Versuch macht, nach einer weiteren Botschaft zu suchen, dem tritt auf einmal eine neue, ungeahnte Dimension dieser Musik vor Augen. 96
Spaemann zieht diesen Vergleich mit der ›Doppelcodierung‹ von Musikwerken heran, um zu verdeutlichen, dass eine im Sinne des Naturalismus wissenschaftliche Deutung der Welt nicht im Widerspruch zu einer religiösen Deutung derselben Welt stehen muss. Man kann diesen Gedanken der Doppelcodierung aber auch auf Spaemanns Denken selbst, zumal in dem hier betrachteten Zeitabschnitt beziehen. Theologische und philosophische Gedanken stehen in diesem Abschnitt bei Spaemann oft so nebeneinander, dass sich in ihnen verschiedene Interpretationen auf denselben Sachverhalt beziehen. Dies sei am Beispiel des Selbstseins verdeutlicht. Der Kern der Ontologie der Person ist eine Wahrnehmung von Selbstsein, das per definitionem nicht als Phänomen gegeben ist. 97 Der Schritt über sich hinaus zum Anderen in der Begegnung kann als zentrales Thema von Spaemanns Philosophie angesehen werden. Die »Entscheidung gegen den Solipsismus« nennt er dabei eine »metaphysische«, und zwar »die Spaemann, Deszendenz und Intelligent Design (2006), 63–64. – Die Musikwissenschaftlerin, von der die Rede ist, heißt Helga Thoene. 97 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 193. 96
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metaphysische Entscheidung« 98. An einer anderen aus demselben Zeitraum stammenden Textstelle spricht Spaemann mit Bezug auf diese von einem theologischen Gedanken: Daß Subjekte als Subjekte »in Wahrheit sind«, ist eins mit der Behauptung, daß sie als Subjekte erkennbar und erkannt sind. Daß sie also nicht neben ihrer Innenseite auch eine Außenseite haben, sondern daß ihre Innenseite als Innenseite nicht nur für sie selbst ist. Diese Behauptung aber ist tatsächlich eine theologische Behauptung, oder sie ist sinnlos. Sagen »ich bin« heißt sagen »Gott ist« oder: »Sein selbst ist von der Weise der Innerlichkeit«. (Die christliche Trinitätslehre besagt, daß das Objektivsein des Für-sich-Seins die Struktur des absoluten Seins selbst ist.) 99
Es ist nach meiner Überzeugung nicht sinnvoll, philosophische Aussagen Spaemanns gegen theologische Aussagen auszuspielen und umgekehrt. Vielmehr scheint es mir so zu sein, dass es sich hier um zwei Betrachtungsweisen derselben Gegenstände handelt. In einem Interview aus dem Jahr 2007 antwortete Spaemann auf die Frage nach dem Kerngedanken seiner Philosophie: Mir geht es vor allem um zwei Einsichten. Die eine betrifft die Natur des Lebendigen. Mit dem Lebendigen tritt etwas in die Welt, das aus Nichtlebendigem nicht herleitbar ist. Was ist das? Es ist das, was ich mit Hegel Negativität nenne. Negativität ist aus Positivität, Minus aus Plus, Schmerz aus bloßem Vorhandensein nicht herleitbar. Lebendiges ist nicht einfach Faktizität, sondern Aus-sein-auf. Damit gibt es für Lebendiges die Differenz zwischen dem Richtigen und dem Falschen, dem Gelingen und Mißlingen, dem Guten und dem Schlechten. Das bedeutet: es gibt eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen uns und allem, was lebt. Natur ist nicht nur Objekt unserer Herrschaft, sondern »Mitsein«. Und es scheint mir für die Zukunft unserer Gattung entscheidend zu sein, daß diese Einsicht wiedergewonnen wird. Die andere zentrale Einsicht ist das Ende des Denkens. Es ist die Einsicht: Gott ist. Es gibt das andere Ende des Denkens: die materialistische Annahme, Denken sei nur ein materieller Prozeß, und wir seien nicht, für was wir uns halten: wahrheitsfähige, freie Wesen. Dieses Ende ist Zusammenbruch. Das andere Ende bedeutet die Gründung des Denkens in unvordenklichem Licht. Nur diese Gründung rechtfertigt – das hat Nietzsche gesehen – das Vertrauen in unsere Vernunft. Glaube und Vernunft sind so wenig Gegensätze, daß vielmehr Ver98 99
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248. Spaemann, Gottesbeweise nach Nietzsche (1998), 48.
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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
nunft selbst auf einem Glauben beruht. Descartes hat uns belehrt, daß wir auch am Evidentesten zweifeln können. Aber sogar der Zweifel setzt Gott voraus. Denn er setzt voraus, daß es einen Wahrheitsraum gibt, der nicht identisch ist mit dem Raum unseres Bewußtseins. Diesen Raum aber gibt es nur, wenn es Gott gibt. 100
Im Sinne dieses Selbstkommentars kann man zwei Richtungen der Denkbewegung bei Spaemann unterscheiden. Einerseits geht er aus von dem in der Selbsterfahrung gegebenen lebendigen Aussein-auf und gelangt vom teleologischen Denken am Ende zur Personalität, in der eine für seine Ontologie selbst konstitutive Grenze des philosophischen Denkens erreicht wird, – konstitutiv deswegen, weil an dieser Grenze sich das Ende des Denkens mit dem Ausgangspunkt beim lebendigen Aussein-auf berührt. Andererseits ist dieses antizipierte Ende des Denkens – »die Einsicht: Gott ist« – der Beginn einer gegenläufigen Denkbewegung, die wieder beim Gedanken der Schöpfung ankommt. Zum Selbstverständnis dieses Denkens gehört, dass diese beiden Betrachtungsweisen durch ihren identischen Gegenstand in seiner doppelten Codierung kongruent sind. Und das heißt, dass es die genuin philosophische Möglichkeit gibt, ausgehend von der menschlichen Selbsterfahrung durch rationale Operationen an die Grenze des Denkens zu gelangen. Dieser genuin philosophischen Richtung seiner Denkbewegung wendet sich nach diesem Versuch einer Verhältnisbestimmung von Wissen und Glaube der letzte Abschnitt der vorliegenden Untersuchung von Spaemanns Werk zu.
9.3.2
›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
Im Mittelpunkt des letzten Abschnitts der Untersuchung von Spaemanns Werk stehen zwei späte Texte, die mit einigem Recht als ›Summen‹ seines Philosophierens gelesen werden können. Es handelt sich dabei zum einen um den im Jahr 2000 zuerst veröffentlichten Essay »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« 101, der auch den auf 100 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 135–136. 101 Zuerst erschienen in: Was heißt »wirklich«? Unsere Erkenntnis zwischen Wahrnehmung und Wissenschaft (= Sonderdruck der Vortragsreihe in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste), Waakirchen-Schaftlach 2000, 13–34. Wieder abgedruckt in: Nissing (Hrsg.), Grundvollzüge der Person, 13–35, und in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 188–215.
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ein Symposion anlässlich des 80. Geburtstags Spaemanns im Jahr 2007 zurückgehenden Beiträgen des Sammelbands »Grundvollzüge der Person« vorangestellt ist. 102 Ausgehend von der These, dass es kein Kriterium gibt, »um das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden« 103, und der Beobachtung, dass in der Entwicklung des neuzeitlichen Denkens Wirklichkeit zunehmend verdrängt wird durch ihre Simulation, sucht Spaemann hier nach einem alternativen Zugang zur Wirklichkeit, zu dessen Freilegung er kursorisch eine Reihe zentraler Gedanken seines Philosophierens rekapituliert. Der zweite Text mit dem Titel »Die zwei Interessen der Vernunft« entstammt Spaemanns 2012 veröffentlichter Autobiographie in Gesprächen »Über Gott und die Welt«. Mit einer Ausnahme beginnen alle Kapitel dieses Buches mit einer Frage Stephan Sattlers an Spaemann. Das zehnte und letzte Kapitel dagegen ist ein in sich geschlossener philosophischer Essay, dessen Positionierung an dieser Stelle dem Text bereits besonderes Gewicht verleiht. Ausgehend von verschiedenen Erscheinungsformen des neuzeitlichen Dualismus von Naturalismus und Spiritualismus führt Spaemann hier deren »Dialektik, in welcher jede Position unbewusst und unfreiwillig in die entgegengesetzte Position umschlägt« 104, auf den in der Neuzeit in Vergessenheit geratenen inneren Zusammenhang zweier fundamentaler Interessen der menschlichen Vernunft zurück. Im Zuge der Darstellung dieser beiden Interessen und der Explikation ihres Zusammenhangs rekapituliert Spaemann, ähnlich wie in dem ersten Text, kursorisch eine Reihe zentraler Gedanken seines Philosophierens. Die Betrachtung dieser beiden gut zehn Jahre auseinanderliegenden Texte fügt inhaltlich der Untersuchung von Spaemanns Werk in dieser Arbeit kaum etwas hinzu. Der Sinn dieser vergleichenden Betrachtung besteht darin zu zeigen, dass in beiden Texten bei unterschiedlichen leitenden Fragestellungen jeweils dieselbe philosophische Grundkonzeption erkennbar wird. Es geht dabei im Wesentlichen um den Zusammenhang des Lebensbegriffs – also des teleologischen Denkens – mit dem Begriff Vgl.: »Die grundlegende Bedeutung, die unserem Selbstverständnis als Personen für unseren Zugang zur Wirklichkeit überhaupt zukommt, entfaltet Robert Spaemann in seinem Beitrag Wirklichkeit als Anthropomorphismus, der zugleich als ›Summe‹ seiner Philosophie der Person verstanden werden kann«. – Vorwort von H.-G. Nissing, in: Nissing (Hrsg.), Grundvollzüge der Person, 8. – Vgl. auch Seitschek, Grundvollzüge der Person [Rezension], 592. 103 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189. 104 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 322. 102
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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
der Personalität in der im achten Kapitel explizierten Bedeutung. Die kursorische Betrachtung dieser beiden Begriffe und ihres Zusammenhangs in den beiden Essays schließt als notwendige Implikationen die Thematisierung der Entteleologisierung und der möglichen Erneuerung des teleologischen Denkens, der Verhältnisbestimmung von Personalität und lebendiger Zentralität und der Spezifik der personalen Wahrnehmung auch in Bezug auf Lebendiges bzw. Seiendes ein. Darüber hinaus erlauben die beiden Texte aus der Perspektive des Spätwerks einen Rückblick auf Spaemanns Auseinandersetzung mit der Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk und dessen Untersuchung in der vorliegenden Arbeit zog. Wie ich im Folgenden darlegen möchte, finden sich in den beiden genannten Texten in großen Zügen die hier explizierten inneren Zusammenhänge der Philosophie Spaemanns wieder. Ein Leser, der durch einen dieser Texte Bekanntschaft mit dem Werk Spaemanns macht, wird diese Zusammenhänge sicher nicht in ihrer Komplexität begreifen können; dennoch geben beide Texte durch die in ihnen enthaltenen Kernthesen der Spaemann’schen Philosophie und seine philosophiehistorischen Verortungen ein gültiges Netz an Orientierungspunkten, von denen aus eine vertiefende Beschäftigung mit den verschiedenen Bereichen seines Denkens möglich ist. Nach der Darlegung der mit den Grundüberzeugungen seines Philosophierens verbundenen Parallelen beider Texte sollen die Intentionen des Autors im Hinblick auf die unterschiedlichen Kontexte der beiden Essays verglichen und ein Fazit der vergleichenden Analyse gezogen werden. Der fundamentale Begriff von Spaemanns Philosophie ist ›Leben‹. Diesen Begriff bilden wir ausgehend »von unserer Erfahrung des realisierten Könnens eines Wesens, das auf etwas aus ist« 105: »Leben, das heißt Aus-Sein-auf-etwas, Streben nach etwas, wenigstens Streben danach zu sein. Ein lebendes Wesen verstehen heißt seine Tendenz verstehen.« 106 Von größter Bedeutung ist es festzuhalten, dass dieser Begriff ein Unvordenkliches ist, d. h. dass jedem Denken dieses Begriffs eine Erfahrung zugrunde liegt: Wenn wir uns dessen bewusst werden, dass wir in heiterer Stimmung sind, dass wir Hunger oder leichte Kopfschmerzen haben, erleben wir diese Stimmung, diesen Hunger oder diese Kopfschmerzen als etwas, 105 106
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 203. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 335.
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das wir schon hatten, ehe es uns zu Bewusstsein kam. Gefragt, was denn der Hunger war, ehe er uns bewusst wurde, können wir natürlich nicht antworten. Denn nur der bewusste Hunger ist uns bewusst. Und doch ist es Teil dieses Bewusstseins, dass der Hunger schon vorher da war und dass er durch das Bewusstwerden erst in ein neues Stadium eintritt. Vorher war er etwas Ähnliches wie der bewusste Hunger: der bewusste Hunger abzüglich des Bewusstseins. Das kann ich nur negativ ausdrücken, aber ich kann dafür keine positive Formulierung finden. 107
Der einzig mögliche Zugang zum Leben im Bewusstsein besteht in der gedanklichen Operation einer Subtraktion, in der vom bewussten Vollzug der Selbsterfahrung oder von wahrgenommenen Lebensvollzügen anderer Wesen auf ein ihm zugrunde liegendes Unvordenkliches geschlossen wird: »Was Ursprung, Selbstheit und Spontaneität heißt, können wir nur wissen, weil wir uns selbst als Selbstsein erfahren.« 108 Was die philosophiehistorische Bedeutung des Lebensbegriffs anbelangt, bezieht Spaemann sich in beiden Texten auf »die klassische Trichotomie« 109 von Sein, Leben und Denken und auf die Deutung von Bewusstsein als Steigerung von Leben bei Thomas von Aquin. 110 Der Wegfall des Lebensbegriff und damit der »programmatische[…] Verzicht auf jede Teleologie in der Naturbetrachtung« 111 am Beginn der Neuzeit wird in beiden Texten in Zusammenhang gebracht mit Francis Bacon. 112 Als Resultat dieses Umbruchs wird jeweils auf den cartesischen Dualismus verwiesen: Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 200. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 343. 109 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208. – Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333. 110 In beiden Texten zitiert Spaemann dasselbe Zitat, einmal auf Deutsch: »›Wer nicht erkennt,‹ schreibt Thomas von Aquin, ›der lebt nicht vollkommen, sondern hat nur ein halbes Leben.‹« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208, – einmal auf Latein: »So kann Thomas sagen: Qui non intelligit, non perfecte vivit, sed haben dimidium vitae«. – Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 340. 111 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202. 112 Vgl.: »Bacon erklärte, solche Betrachtungen seien unfruchtbar wie gottgeweihte Jungfrauen. Die Zeit, in der man gottgeweihte Jungfrauen schätzte, war für Bacon vorbei.« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202, – und: »Francis Bacon dagegen verabschiedete die causa finalis ganz allgemein ›tamquam virgo Deo consecrata, quae nihil parit‹, wie eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebiert. Er schätzte gottgeweihte Jungfrauen offenbar nicht. Sie sind nicht produktiv. Um die Natur zu beherrschen, ist es eher lästig, die inneren Tendenzen natürlicher 107 108
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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
Res cogitans und res extensa haben nichts mehr gemeinsam. Denn der Begriff, der sie vergleichbar macht, ist verschwunden: der Begriff des Lebens. Die alte Trias Esse – vivere – intelligere wird reduziert auf den Dualismus Sein – Bewusstsein. Leben ist für Descartes ein unklarer, ein diffuser Begriff. Entweder ist das Lebewesen ein bewusstes Subjekt, oder es gehört zur Welt der res extensa, zur Welt der trägen Objekte. 113
Der cartesische Dualismus liegt nach Spaemann dem »anthropozentrischen Denken[…] der neuzeitlichen Wissenschaft« 114 und damit der »Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus« 115 zugrunde, die die wesentlichen Bezugspunkte der kritischen Seite von Spaemanns Philosophie sind. Der zweite Hauptbegriff der Spaemann’schen Philosophie ist ›Person‹, der, wie gesehen, ohne prädikative Bedeutung von Menschen – nicht zwangsläufig ausschließlich von ihnen – ausgesagt wird und in diesem Fall eine Distanz zur menschlichen Natur ausdrückt: Personen geben einander zu verstehen, dass sie selbst noch etwas jenseits dessen sind, als was sie sich zeigen. Der Schmerz des Anderen ist nicht mein Schmerz. Zu einer absoluten Gewissheit aber wird uns diese Differenz dort, wo wir selbst diejenigen sind, zu denen und über die gesprochen wird. Ich mag mir einbilden, der Andere sei nur mein Traum. Ich kann von mir nicht denken, ich sei nur der Traum des Anderen. 116
Wie in »Personen« spricht Spaemann in »Die zwei Interessen der Vernunft« von der »exzentrischen Position« 117 und dem »view from nowhere« 118, die die innere Distanz der Person zur eigenen Natur zum Ausdruck bringen, 119 »denn indem wir einen Elan verspüren, einen spontanen Impuls, spüren wir gleichzeitig die Möglichkeit, Wesen zu verstehen. Es genügt, die Gesetze ihres Funktionierens zu verstehen.« – Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 335. 113 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333–334. – Vgl. auch: Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208. 114 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 201. 115 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 322. 116 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 198. 117 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 328. 118 Ebd. 327. 119 Auch wenn Spaemann in diesem Text stets vom ›Menschen‹ und nicht dezidiert von der ›Person‹ spricht, geht es hier im Sinne der Distanzierung von der eigenen Natur um das, was bei ihm sonst als Person bezeichnet wird.
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uns auf diesen Impuls zu beziehen, ihn freiwillig in unseren Willen aufzunehmen oder uns von ihm zu distanzieren« 120. Die Distanz zur eigenen Natur ist das Ergebnis der für die Bedeutung der Personalität zentralen »Selbsttranszendenz« 121, deren höchster Ausdruck Liebe ist: Wir können es »Liebe« nennen, wenn wir darunter die Bewegung verstehen, mit dem das Andere für mich wirklich wird. Fieri aliud inquantum aliud, das Andere als das Andere werden, so lautete eine tiefsinnige Definition von Erkenntnis bei Johannes a Sancto Thoma, einem spanischen Thomisten des 17. Jahrhunderts. Aber aus dieser Definition ergibt sich auch die Differenz zwischen jener Art von Begierde und dem, was die Alten amor benevolentiae nannten, Wohlwollen, wohlwollende Liebe, die Leibniz definierte als delectatio in felicitate alterius – »Freude am Glück des Anderen«. 122
Damit ist bereits die prinzipielle Pluralität von Personen angesprochen, auf die Spaemann in »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« explizit hinweist, wobei auch der theologische Ursprung des Begriffs in der christlichen Trinitätslehre thematisiert wird. 123 Die Person als eine sich prinzipiell entziehende gewinnt ihre Denkbarkeit erst in einem Zusammenhang, für den Spaemann hier die Begriffe »Begegnung« 124 bzw. »Beziehung« 125 wählt: »Jede Person ist für sich wirklich, weil sie für sich das Ganze der Beziehung realisiert, in der sie a priori zu allen anderen Personen steht: die Beziehung der Anerkennung.« 126 120 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 344. – An dieser Stelle bezieht Spaemann sich auch wie in »Personen« auf die ›secondary volitions‹ Harry Frankfurts. 121 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204, 211, 214, und Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 323, 339. 122 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 339–340. – Vgl.: »Diejenige Öffnung für Wirklichkeit, die der Wirklichkeit vollständig adäquat ist, nennen wir Liebe. Valentin Tomberg hat Liebe definiert als das Wirklichwerden des Anderen für mich. In jener Liebe, die in der Sprache der Tradition amor benevolentiae hieß, hört der Andere auf, Umwelt für mich zu sein, also ein vielleicht wichtiger Gegenstand, an dem ich hänge und der für mich große Bedeutung hat. In der Liebe realisieren wir, dass der Andere ebenso wirklich ist wie wir selbst, und wir lernen uns selbst als Teil der Welt des Anderen sehen, so wie er Teil unserer Welt ist.« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 207. 123 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 196–197. 124 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 341. 125 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 213. 126 Ebd. 211.
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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
Wie sich in der hier vorgelegten Untersuchung der Entfaltung von Spaemanns Denken gezeigt hat, ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Intention die Verbindung von Teleologie und Personalität, 127 weswegen ihr hier auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. In »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« weist Spaemann auf den Zusammenhang der Personalität mit dem cartesischen Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ hin: Was fügt denn dieses sum, dieses »ich bin«, dem cogito, der Feststellung »ich denke«, hinzu? Es fügt hinzu, dass mein »ich denke« nicht nur ein »ich denke, dass ich denke, dass ich denke« und also nur für mich wahr ist, sondern dass diese meine Subjektivität eine objektive Wirklichkeit ist – und das meinen wir mit Personen: Eine objektive Wirklichkeit, die für jedes wahre Urteil maßgebend ist. 128
Spaemann thematisiert hier nur sehr verknappt seine Distanzierung von der cartesischen Hypostasierung des ›cogito‹ zu einer unabhängigen Entität. Dass der »Raum der Wirklichkeit«, wie er hier feststellt, nur dann »größer ist als der Raum meines Bewusstseins«, »wenn es noch andere Wesen gibt, für die es wahr ist, dass ich Bewusstsein habe« 129, impliziert bereits die alternative, sich von der cartesischen Theologisierung der Ontologie distanzierende metaphysisch-analoge Deutung des Schrittes zum ›sum‹, ohne dass diese verschiedenen Deutungen und ihr Zusammenhang mit der neuzeitlichen Entteleologisierung hier explizit benannt würden. Implizit wird im Rahmen des Essays der fundamentale Zusammenhang des Ausseins-auf mit der Personalität sehr wohl ausgedrückt, insofern betont wird, dass die Anerkennung anderen Selbstseins das Transzendieren des lebendigen Ausseins-auf voraussetzt: Sein im Sinne von Wirklichkeit ist nicht ein empirisches Datum. Es zwingt sich nicht auf. Um es zu realisieren, bedarf es eines freien Aktes der Vernunft. Das muss nicht ein ausdrücklicher und reflektierter Akt sein, aber in diesem Erlebnis steckt schon Freiheit: die Möglichkeit, meine Zentralstellung aufzugeben und zu sehen, dass es außerhalb meiner ein Selbstsein gibt, das nicht durch Objektsein für mich de-
127 Vgl. insbesondere Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 583–599. 128 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 194. 129 Ebd.
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finiert ist. Nur in einem Akt der Anerkennung ist die Person als Person gegeben. 130
Auch in »Die zwei Interessen der Vernunft« vergleicht Spaemann die Perspektive des Tieres, für das »alles, was ihm begegnet, Umwelt und als solches Träger unveränderlicher Bedeutungen« 131 ist, mit der des Menschen, der »als nicht definitiv angepasstes Wesen […] sich immer schon dessen bewusst [ist], dass andere Wesen von Tendenzen bestimmt sind, die sich nicht durch die Weise definieren, wie sie uns erscheinen« 132. Dabei betont er den Zusammenhang zwischen der Personalität und der lebendigen Zentralität, die durch sie transzendiert wird: »Die conditio humana ist weder rein biologisch noch rein spirituell. Die natürliche Ordnung wird nicht außer Kraft gesetzt, sondern in einen vernünftigen ordo amoris transformiert.« 133 Seine eigentliche Bedeutung erhält dieser Zusammenhang in der personalen Wahrnehmung von nicht bewusstem Lebendigem und nicht lebendigem Seiendem. Die im Transzendieren der lebendigen Zentralität anerkennbare »Gegebenheitsweise anderer Personen« ist »das Paradigma für die Gegebenheit von Wirklichkeit überhaupt« 134: Wir beanspruchen nicht, wissen zu können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Aber wir setzen voraus, dass es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, während es nicht irgendwie ist, ein Auto oder ein Computer zu sein. Das heißt, wir erkennen der Fledermaus »Sein« zu. Dieses Sein, das sie mit uns gemeinsam hat, heißt »Leben«. »Leben«, schreibt Aristoteles, »ist das Sein der Lebewesen«. Leben, wie wir es selbst erfahren, ist nicht ein bestimmter komplexer Zustand von Materie. Ich erfahre mich nicht als Zustand von etwas, das nicht Mensch ist. Der Mensch ist, um mich wieder aristotelisch auszudrücken, lebendige Substanz, also eigentliche und primäre Wirklichkeit, von der vielerlei Zustände existieren können, die aber selbst nicht Zustand, sondern basaler Träger und Inbegriff von Zuständen ist. Und so auch, nehmen wir an, die Fledermaus. Wir billigen ihr Leben, also Selbstsein zu. 135
Was die menschliche Person mit der Fledermaus verbindet, ist das, »was der Bedeutung des Wortes physis zugrunde liegt«: »Aristoteles 130 131 132 133 134 135
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 199. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 337. Ebd. 338. Ebd. 328. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 197. Ebd. 198–199.
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hat eine Definition von physis gegeben, die Lebewesen als Paradigma für Substanzen benutzt, das heißt als Paradigma für Seiendes, das etwas an sich selbst ist.« 136 In beiden Essays wiederum beruft Spaemann sich auf Whitehead – den »wohl bedeutendste[n] Metaphysiker unseres zu Ende gegangenen Jahrhunderts« 137 – und dehnt die personale Wahrnehmung von Selbstsein auf den Bereich des nicht lebendigen Seienden aus: Wir wissen schon nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wie es ist, ein Elementarteilchen zu sein, wissen wir noch weniger. Aber Whitehead geht davon aus, dass es irgendwie sein muss, falls wir berechtigt sind von Wirklichkeit zu sprechen. Denn Wirklichkeit ist nie nur Objektivität für Subjekte und nie bloß inhaltslose Subjektivität. »Wirklich« nennen wir etwas nur, wenn es eine – wenn auch noch so rudimentäre – Art von Subjektivität hat, und wenn diese Subjektivität einen objektiven Gehalt hat, wenn sie etwas »erlebt«. 138
Im Zusammenhang mit dieser Anerkennung von Seiendem überhaupt – also auch von nicht Lebendigem – als Sein und damit als eine Art von Selbstsein spricht Spaemann von der »letzte[n] Voraussetzung der Philosophie, die wir nicht ihrerseits noch einmal begründen können« 139. Diese Unmöglichkeit stellt, wie gesehen, 140 dann keinen Mangel mehr dar, wenn die Forderung nach einer solchen Begründung als ein sekundärer Gedanke erkannt wird, der erst möglich wird durch die Rücknahme der personalen Perspektive, in der Sein als Selbstsein immer schon gegeben ist und die ihrerseits als historisch gewordene ein kontingentes historisches Faktum ist, das keiner Begründung bedarf. Beide Essays enthalten neben diesen die Kohärenz des Spaemann’schen Denkens begründenden Gedankenkomplexen auch zahlreiche Reflexe seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie, die sich wie ein roter Faden von der Dissertation über de Bonald bis in seine letzten Publikationen verfolgen lässt. Am Anfang der vorliegenden Untersuchung seines Werkes stand die Zeitdiagnose der ›Entzweiung‹, aus der die programmatische Aufgabe Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 343. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 209. 138 Ebd. 209–210. 139 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 341. 140 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 583–599. 136 137
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der Philosophie, »die Zusammengehörigkeit des Entzweiten ins Bewusstsein zu heben« 141, abgeleitet wurde. In einem kursorischen Überblick soll gezeigt werden, wie diese in den vorliegenden Untersuchungen verfolgte Programmatik 142 sich in den hier betrachteten Essays spiegelt. Auch in ihnen lässt sich die charakteristische doppelte Gedankenbewegung Spaemanns aus dem neuzeitlichen Denken zurück in die klassische Antike mit dem Ziel einer Aktualisierung antiker Gedanken unter den Bedingungen der Gegenwart beobachten. Punkt der Abstoßung ist der »programmatische[…] Verzicht auf jede Teleologie« 143, jene Wende, die sich im 16. Jahrhundert vollzieht und einen 2000 Jahre bestehenden Konsens im europäischen Denken in Frage stellt. 144 Der Rückbezug auf »die Alten« 145 aus unserer Perspektive ist überhaupt nur möglich aufgrund einer unveränderlichen anthropologischen Basis, dem Verständnis des »Menschen als Bedürfniswesen«, dem die Aufgabe gestellt ist, »die natürliche Welt in eine kulturelle zu transformieren« 146. Bleibende Quelle der Inspiration ist die Antike aufgrund ihrer Vermittlung der beiden Bedeutungen der Natur: »Einmal die Bedeutung der Entfaltung, des Wachstums, ausgehend von einem inneren Prinzip, und zweitens die Bedeutung einer
Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110. In den ersten drei Kapiteln der Untersuchung von Spaemanns Werk im zweiten Teil dieser Arbeit war der philosophiegeschichtliche Aspekt klar dominierend: Ausgehend von der erwähnten Diagnose einer Krise der Philosophie in der Gegenwart standen mit de Bonald – Teilkapitel 3.2 –, Fénelon – Kapitel 4 – und Rousseau – Teilkapitel 5.1 – drei Denker im Mittelpunkt, die ›auf dem Boden der Entzweiung‹ die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Selbstvervollkommnung unter den Bedingungen der Moderne gestellt haben. Auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens – Teilkapitel 5.2 – verfolgte das Ziel, im Rückgang hinter die neuzeitliche Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus ein Fundament freizulegen, von dem aus sie überwindbar sein könnte. In den zentralen Kapiteln 6 bis 8 der vorliegenden Untersuchungen trat neben die philosophiegeschichtliche Betrachtung eine Systematisierung der Befunde einer sich allmählich abzeichnenden Spaemann’schen Ontologie. Dennoch waren jeweils wichtige Teilkapitel – 6.1, 7.1, 8.2 – der Weiterführung der philosophiegeschichtlichen Betrachtung der ersten Kapitel gewidmet, in der es nun neben Platon, Aristoteles und Thomas vor allem um Descartes, die Empiristen und Kant ging. Auch im vorliegenden neunten Kapitel wurde diese Linie in der Auseinandersetzung mit Schelers Wertphilosophie und den Betrachtungen zur Ästhetik fortgeführt. 143 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202. 144 Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333 u. 341. 145 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 205. 146 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 336–337. 141 142
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artspezifischen Struktur.« 147 Das Natürliche und das Vernünftige wurden als zwei Aspekte einer Sache betrachtet, Kultur als die Form, in der die menschliche Natur zu sich selbst kommt: »Bewusstsein galt als Steigerung von Leben.« 148 Ab dem 16. Jahrhundert wird Natur dagegen zu einem Allbegriff, zum Objekt der unvermittelt ihr gegenüberstehenden neuzeitlichen Wissenschaft. 149 Die fatale Konsequenz der damit freigesetzten Dialektik besteht darin, dass der Mensch sich selbst zum Anthropomorphismus werden muss, 150 wodurch seine Existenz theoretisch und praktisch in Frage gestellt wird. Spaemann versteht seine Philosophie als an der Antike orientierter Gegenentwurf, wobei Aktualisierung antiker Gedanken keine anachronistische Bezugnahme bedeutet. Vielmehr kann im Begriff der Person, die ihr Sein in der Begegnung hat, eine Aktualisierung des antiken, an der φύσις orientierten Verständnisses der Substanz gesehen werden, gerade weil dieser Begriff in der Antike unbekannt war. Durch die »Selbstrelativierung und Selbsttranszendenz […], die jede Person zu etwas Absolutem macht« 151, kann das Verständnis der Natur mit ihren zwei Bedeutungen in einer Art erneuert werden, die jenseits der antiken Denkmöglichkeiten liegt: Erst im Durchgang durch die Emanzipation mit Bezug auf physis kommt die physis des Menschen zu sich selbst. Das Paradigma der physis im aristotelischen Sinn ist genau diese Qualität des Menschen, aufgrund deren er die physis überschreitet. Diese paradoxe Struktur müssen wir im Sinn behalten, wenn wir von so etwas wie einer Natur des Menschen sprechen. 152
Die spezifisch neuzeitliche Überordnung der unbedingten Würde des Menschen über den Wert des Lebens 153 kann als personale Aktualisierung der antiken Unterscheidung von ζῆν und εὖ ζῆν verstanden werden. 154 Der aus der conditio humana sich ergebende Auftrag einer Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 342. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208. 149 Vgl. ebd. 200–201. 150 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204. – Denselben Gedanken äußert Spaemann auch in »Die zwei Interessen der Vernunft«. Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 335. 151 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 211. 152 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 344. 153 Vgl. ebd. 328–329. 154 Vgl.: »Der indirekt konstituierte Zusammenhang zwischen Natur und Würde des Menschen ist wesentlich ein geschichtlicher: Das Distinktionskonzept der Natur 147 148
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»schöpferische[n] Transformation des Gegebenen« 155 hat sich von der Orientierung am ζῷον πολιτικόν in der antiken Ethik zum Projekt einer personalen Selbstvervollkommnung verschoben, das jedoch »in einer Epoche sich zurückziehender Wirklichkeit« 156 akut gefährdet ist. Nachdem gezeigt wurde, wie in beiden Essays die für Spaemanns Denken zentralen Begriffe ›Leben‹ und ›Personalität‹ sowie deren Zusammenhang thematisiert und in diesem Kontext die Auseinandersetzung Spaemanns mit der Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung knapp rekapituliert wird, sollen beide Texte auf die spezifischen Intentionen Spaemanns hin befragt werden, die über diesen allgemeinen Rahmen hinausgehen. In »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« steht im Mittelpunkt ein Begriff der ›Wirklichkeit‹, der Idiosynkrasie ausschließen soll und damit das Transzendieren des eigenen Bewusstseins bezeichnet. Dieser den Solipsismus überwindende Wirklichkeitsbegriff ist ein metaphysischer, weswegen Spaemann von einem »metaphysischen Realismus« 157 spricht, für den, wie gesehen, 158 die Erfahrung der interpersonalen Begegnung zum Paradigma der Wirklichkeitswahrnehmung überhaupt wird. Wirklichkeit bezeichnet – im Sinne der ontologischen Differenz – Dasein im Unterschied zum als Möglichkeit denkbaren Sosein; Dasein aber ist uns gegeben in der Selbsterfahrung der Person, die ihrerseits denkbar wird durch ihre Funktion in dem Zusammenhang, in dem die ontologische Differenz in allem Seienden durch sie wahrgenommen wird. Wirklichkeit erscheint in dem Sinn als Korrelat eines Glaubensaktes bzw. eines Aktes der Anerkennung, als es kein positives Kriterium für sie geben kann 159 und somit der metaphysische Zweifel an ihr immer eine Denkmöglichkeit bleibt. Die Pointe der zentralen These des Essays, wonach Wirklichkeit nur als Anthropomorphismus verstanden werden kann, besteht darin, dass allein die Frage nach einem Kriterium für Wirklichkeit bereits das Verlassen des personalen Standpunkts und damit die Absolutsetzung des autonomen Bewusstseins – seine Hypostasierung zur Entität – vorausmusste verschwinden, damit es in der Substanz des Würdebegriffs neu erstehen und dieser an seine Stelle treten konnte.« – Schweidler, Über Menschenwürde, 49. 155 Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 337. 156 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 214. 157 Ebd. 194. 158 Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 548–561. 159 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189–190.
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setzt, die Spaemann dem neuzeitlichen Denken vorwirft, das mit dem Begriff des Lebens den Gedanken der Naturteleologie aufgegeben hat. 160 Wenn personales Bewusstsein als Steigerung von Leben verstanden wird, dann ist seine Wirklichkeit der Akt der Selbsttranszen160 Walter Schweidler konstatiert in seinem Aufsatz »Die Sicherheit des Zweifels« mit Bezug auf die These der Wirklichkeit als Anthropomorphismus: »Sinn und Inhalt dieser These lassen sich nur von dem philosophischen Ort her verstehen, an dem sie ihre Bedeutung gewinnt. Dieser Ort ist wesentlich der des metaphysischen Zweifels, der gegen alle Kriterien für die Differenz zwischen Wirklichem und Unwirklichem gerichtet ist.« – Schweidler, Die Sicherheit des Zweifels, 60. – Wenn meine hier vorgelegte Deutung der Zusammenhänge zutreffend ist, ist dieser These nur bedingt zuzustimmen. Richtig ist, dass für uns – das heißt unter der für das neuzeitliche Denken geltenden Voraussetzung der Entteleologisierung – der metaphysische Zweifel ein Ausgangspunkt sein kann, der allerdings, wie Schweidler weiter völlig zutreffend ausführt, sich als Scheinproblem erweist: »Wir können die These, dass unser Zugang zur Wirklichkeit möglicherweise Schein sei, als These nur formulieren, können also nur beanspruchen, mit ihr im Recht zu sein, wenn wir den Schein dergestalt explizieren, dass die Explikation bereits Form und Faktum unseres Wirklichkeitszugangs voraussetzt und somit dem zu Explizierenden widerspricht. Damit ist der philosophische Ort aufgewiesen, an dem auch Spaemann die anthropomorphistische Pointe seines Wirklichkeitsverständnisses expliziert. Man könnte ihn den Zeitort nennen, den innerhalb von allem, das ich zu erleben vermag, mein eigenes Leben einnimmt.« – Ebd. 65. – Damit beruft sich Schweidler auf die personale Selbsterfahrung gegenüber dem abstrakten metaphysischen Zweifel und gelangt so zu einer folgerichtigen Hierarchisierung in Bezug auf das Denken einerseits, das Denkbare andererseits: »Wir verfügen über die Differenz zwischen Wirklichem und Nichtwirklichem nicht auf eine Weise, die es uns erlauben würde, sie im Philosophieren auf alles, was dabei in Frage stehen kann, zu applizieren, sondern wir vollziehen diese Differenz nach als die Grenze, welche die Wirklichkeit unseres Erlebens als ihren Zeitort umschreibt; und wir tun dies, wie in allem, was wir tun, auch im Philosophieren dergestalt, dass es einen Punkt gibt, an dem nicht das, was wir denken, darüber entscheidet, ob sie, sondern an dem sie darüber entscheidet, ob das, was wir denken, wirklich gedacht werden kann.« – Ebd. 67. – Schweidler verkennt aber nach meinem Dafürhalten, dass der metaphysische Zweifel für Spaemann vor allem ein Punkt des Abstoßung ist und dass es ihm bei der Frage, – wiederum mit den Worten Schweidlers – »worin jene mit unserem Dasein gegebene Beziehung besteht, die in jeder Frage, die wir nach ihr stellen könnten, immer schon vorausgesetzt ist« – ebd. 63 –, um die noch die Personalität selbst fundierende Teleologie geht, die Schweidler zwar im zweiten und dritten Teil des Aufsatzes thematisiert, ohne dabei aber dieses Fundierungsverhältnis in den Blick zu bekommen. Die Unterscheidung also zwischen dem Ort, an dem für uns diese These Bedeutung gewinnt – dem metaphysischen Zweifel –, und dem eigentlichen Ort der These selbst – dem teleologisch fundierten Zusammenhang –, die meines Erachtens für Spaemann von prinzipieller Bedeutung ist, wird, soweit ich sehe, von Schweidler ausgeblendet, weswegen die eigentliche Pointe der These von der Wirklichkeit als Anthropomorphismus auch außerhalb seines Gesichtskreises zu liegen scheint.
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denz, durch den es sich auf Wirklichkeit bezieht – fieri aliud inquantum aliud – und selbst wirklich wird. Dass Wirklichkeit nur als Anthropomorphismus zu verstehen ist, wird zu einer Tautologie, wenn Menschsein gegenüber anderen Lebewesen als Überschreitung der lebendigen Zentralität und Personsein als reflexive Wendung auf dieses Überschreiten verstanden wird. Tiere haben eine Umgebung, aber sie kennen keine Wirklichkeit. Wirklichkeit entsteht erst durch den Menschen und sein Transzendieren der natürlichen Zentralität. Wird der Begriff des Anthropomorphismus dagegen kritisch verwendet, also eine unzulässige Übertragung der Selbsterfahrung auf gegenständlich Gegebenes beanstandet, ist dieser Zusammenhang bereits aufgekündigt; Bewusstsein wird dann als unabhängige Entität verstanden, die einer Welt bloßer Objekte gegenübersteht. Diese Position führt in die Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus und für den Menschen zu der Konsequenz, sich selbst zum Anthropomorphismus zu werden und folgerichtig die Überwindung seiner selbst etwa durch eine künstliche Intelligenz wollen zu müssen. Sie ist aber darüber hinaus selbstwidersprüchlich, da der Vorwurf des Anthropomorphismus der Weltwahrnehmung eine Variante des Idiosynkrasiegedankens ist, der nur von einem Wesen gedacht werden kann, das immer schon über der Idiosynkrasie steht. Wenn das Denken, das genealogisch auf Lebensäußerungen als deren Steigerung zurückführbar ist, die an einer Stelle die Möglichkeit eröffnet hat, auf Distanz zur eigenen Naturgrundlage zu gehen, diese Distanz absolut setzt, sich als autonom, also unabhängig von seiner Natur versteht, gerät es in einen inneren Widerspruch, insofern es leugnet, was ihm voraufging und wovon es abhängig bleibt. Die im nicht durchführbaren metaphysischen Zweifel sich zeigende Selbstwidersprüchlichkeit des zur unabhängigen Entität hypostasierten Bewusstseins versteht Spaemann als epistemologische Spur der Entdeckung der Person, in der durch die reflexive Wendung auf die Selbsttranszendenz der personale Standpunkt immer schon erreicht ist, so dass nur eine sekundäre Bewegung in die Position führen kann, von der aus der metaphysische Zweifel möglich wird. Die epistemologische Spur besteht in dem Bewusstsein, dass alles Gegebene, wenn es keine subjektive Täuschung ist, auf ein Sein verweist, das sich im Erscheinen verbirgt, in dessen Anerkennung das Subjekt aus dem Solipsismus heraustritt und sich als Sein sichtbar macht. Diese Anerkennung aber, das steht fest, ist ein freiwilliger Akt, der verweigert werden kann. Die Verweigerung führt in die Perpetuierung des Widerspruchs in 740 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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der Dialektik des neuzeitlichen Denkens, der Akt der Anerkennung führt entweder in den Glauben – Descartes’ Theologisierung der Ontologie – oder den Ausgang des Denkens vom lebendigen Aussein-auf. Von der Verweigerung zum freien Akt der Anerkennung führt kein Argument, sondern, wie Spaemann in »Glück und Wohlwollen« festgestellt hat, eine μετάνοια. 161 Wenn Leben Personalität aus sich entlässt, dann ist Leben zwar Voraussetzung der Person, als Entlassene ist sie selbst aber nicht mehr Natur, sondern Freiheit von der Natur, wobei jene per definitionem nicht aus dieser abgeleitet werden kann. Natur kann, wie Spaemann an anderer Stelle sagte, nur erinnert werden. 162 Teil dieser Erinnerung ist freilich auch das Ereignis der Entdeckung, durch das doch zumindest ein hermeneutisches Argument für den metaphysischen Realismus gegeben ist. In »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« ist einerseits das für Spaemann grundlegende argumentative Gefüge angedeutet; andererseits aber zeigt sich ein an vielen Stellen durchbrechender appellierender Charakter, der stärker auf die μετάνοια als auf die komplexe Argumentation zielt. 163 In dem Essay »Die zwei Interessen der Vernunft« geht Spaemann in ähnlicher Weise aus von der Kritik am neuzeitlichen Denken, in diesem Fall konkret vom Dualismus von Naturalismus und Spiritualismus. Insofern Spaemann Philosophie als einen »bios, eine Lebensweise« 164 bezeichnet, traut er ihr prinzipiell zu, eine Position »außerhalb oder oberhalb dieses Dualismus« 165 finden zu können. Um diese Position zu umreißen, beruft er sich auf eine Stelle aus der »Kritik der reinen Vernunft« 166, in der Kant zwei unterschiedliche Interessen des Menschen als Grund des Konflikts zwischen zwei
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113 u. 127. Vgl. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 78. 163 Vgl. u. a. die Invektiven auf die »virtuelle Realität« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189 –, das drastische Fallbeispiel des Patienten, in Bezug auf den die »scientific community« zu einem »Konsens über das Falsche« kommt – ebd. 192–193 –, den Angriff auf den Empirismus und dessen Konsequenzen im Bereich der Ethik – ebd. 205 –, den Verweis auf das »archaische Denken« – ebd. 208– 209 – oder Spaemanns hier auch in Abschnitt 9.2.2 thematisierte Gedanken zur zeitgenössischen Kunst – ebd. 214–215. 164 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333. 165 Ebd. 322. 166 Vgl.: »Im dritten Abschnitt des Kapitels über die Antinomien der reinen Vernunft in seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ unterbricht Kant den Gedankenfaden durch eine 161 162
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Weltanschauungen ausmacht, 167 und versucht, »die kantische Definition der beiden Interessen zu reformulieren und nach ihrem anthropologischen Fundament zu fragen« 168. Durch diese Reformulierung stellt Spaemann, wie nun gezeigt werden soll, den für sein Philosophieren zentralen Zusammenhang von lebendigem Aussein-auf und Personalität dar. Das erste Interesse, »das wir mit allen anderen Lebewesen teilen«, ist das an der Selbstbehauptung in der Welt bzw. an »Beherrschung« 169. Gerade der Mensch als »nicht mit hinreichenden Mitteln zur Sicherung seines Überlebens« ausgestattetes »Mängelwesen« 170 ist auf eine kulturelle Transformierung seiner Umwelt angewiesen. Während Tiere »egozentrisch« 171 sind, insofern die Welt für sie nur Umwelt und das Interesse an deren Beherrschung ihr einziges Interesse ist, 172 gibt es für den Menschen noch »ein ganz andersartiges Interesse« 173, nämlich das zu verstehen: »Verstehen heißt: nachvollziehen können. Und nachvollziehen kann ich nur das mir Ähnliche.« 174 Ähnlichkeit bedeutet dabei, wie zu Anfang dieses Kapitels festgestellt wurde, 175 nicht Ähnlichkeit des qualitativen Bestandes, sondern dass andere Wesen sich ähnlich zu ihrer Natur verhalten, wie wir es als Personen zu unserer tun. Das zweite Interesse der Vernunft bezeichnet also die mit der Personalität verbundene reflexive Wendung auf das lebendige Aussein-auf – also auf die natürliche Grundlage des ersten Interesses – und das bewusste Transzendieren desselben auf das Sein hin. Dass die beiden Interessen in gewissem Sinn antagonistisch sind – »Das Interesse am Verstehen, das in die Anerkennung mündet, ist dem permanenten Interesse an Herrschaft Reflexion über ›das Interesse der Vernunft in diesem ihrem Widerstreite‹. Es handelt sich für Kant um den Konflikt zwischen ›Dogmatismus‹ und ›Empirismus‹.« – Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 329. 167 Vgl.: »Die beiden Interessen, die dem modernen Dualismus zugrunde liegen, sind anthropologische Konstanten.« – Ebd. 336. 168 Ebd. 331. 169 Ebd. 336. 170 Ebd. 171 Ebd. 337. 172 Vgl.: »In der außermenschlichen Natur gibt es nur ein einziges Interesse. Es ist definiert durch die teleologische Struktur von Lebewesen. Es gibt die Tendenz, sich zu erhalten, sich zu entfalten, seine Natur zu realisieren.« – Ebd. 331. 173 Ebd. 336. 174 Ebd. 337. 175 Vgl. die Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 658.
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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
entgegengesetzt« 176 –, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Interessen dieselbe natürliche Wurzel haben und das zweite »genetisch als eine Funktion des ersteren interpretiert werden« 177 kann. Doch trotz dieser Abkunft wird in der kulturellen Entwicklung »das anfänglich sekundäre Interesse autonom« 178, so dass »jeder Versuch, das Interesse am Verstehen als Funktion von Selbstbehauptung zu interpretieren, zum Scheitern verurteilt« 179 ist. Die beiden letzten Aussagen scheinen in einem direkten Widerspruch zu stehen, solange die genetische Betrachtungsweise, wonach personales Selbstsein durchaus natürliche Bedingungen hat, nicht von der geltungstheoretischen unterschieden wird, der zufolge jedes Selbstsein Emanzipation von seinen Entstehungsbedingungen ist. Die funktionalistische Interpretation übersieht, dass das zweite Interesse nicht ein kausal erklärbares Produkt des ersten ist, sondern dass in dem zweiten Interesse die Natur in ihrem Aussein-auf – dem ersten Interesse – zu sich selbst kommt und die bewusste Selbsttranszendenz die Überschreitung eines natürlichen Transzendierens ist, die die Natur sowohl hinter sich lässt als auch in dieser Bewegung selbst noch Natur erinnert. Oder mit den Worten Spaemanns: »Erst im Durchgang durch die Emanzipation mit Bezug auf physis kommt die physis des Menschen zu sich selbst.« 180 Dieser Gedanke ist nur als Paradoxie fassbar, insofern das zweite Interesse, das sich vom ersten löst und von der Natur aus sich entlassen wird, nur dann nicht auf das erste Interesse zurückfällt, wenn die Distanz zur eigenen Natur nicht zur unabhängigen Entität hypostasiert wird, sondern als Transformation begriffen wird, die das erste Interesse sowohl überwindet als auch bewahrt. Es geht um »das Paradox eines Interesses an dem, was nicht auf mein Interesse bezogen und nicht durch mein Interesse definiert ist« 181. Den Zusammenhang der beiden Interessen stiftet das teleologische Denken. Ohne den Begriff des Lebens als Aussein-auf steht das menschliche Subjekt einer Welt reiner Objekte gegenüber, so dass das zweite Interesse an der Beheimatung in der Welt umschlägt in eine Abart des ersten Interesses, ein Herrschaftsinteresse, das durch seine absolute ›Außerhalbbefindlichkeit‹ immer die Erinnerung an das zweite Inte176 177 178 179 180 181
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 338. Ebd. 336. Ebd. 339. Ebd. 340. Ebd. 344. Ebd. 340.
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resse präsent halten muss, ohne die Kluft zwischen dem Subjekt der Herrschaft und der ihm gegenüberstehenden Welt der Objekte überwinden zu können. Genau dies beschreibt die Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus, von der der Essay ausgegangen ist. Beide Essays thematisieren somit in der Tiefenstruktur ihrer Argumentationen denselben Zusammenhang von Teleologie und Personalität in ihrer geschichtlichen Entfaltung, der für Spaemanns Philosophieren zentral ist. Die Fragen nach der in der Gegenwart zusehends sich entziehenden Wirklichkeit einerseits und dem Dualismus von Naturalismus und Spiritualismus andererseits als Punkten der Abstoßung von der im Zeichen der Entteleologisierung stehenden neuzeitlichen Denktradition durch eine sich als βίος verstehende Philosophie geben in beiden Essays die Zugänge und Richtungen vor, wie die zugrunde liegende Tiefenstruktur die Gedankengänge der jeweiligen Fragestellung entsprechend organisiert. Dabei zeigen beide Essays noch einmal, dass es in ihnen um denselben Zusammenhang geht, der oben in der Auseinandersetzung mit dem Gottesbeweis aus dem futurum exactum thematisiert wurde, mit dem Unterschied allerdings, dass Spaemann in diesen Texten allein von der philosophischen Codierung seines Denkens spricht. Gerade sie sind meiner Meinung nach geeignet, noch einmal die vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende, oben dargelegte Abgrenzung von Wissen und Glauben bei Spaemann zu verdeutlichen und die sowohl methodische als auch inhaltliche Spezifik seines Philosophierens in großen Zügen zu demonstrieren.
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Dritter Teil Perspektiven der Philosophie der Begegnung
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Perspektiven der Philosophie der Begegnung
Dem Begriff der ›Perspektive‹ kam im Nachvollzug der sukzessiven Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns im zweiten Teil dieser Arbeit vom Anfang bis zum Ende eine leitmotivische Bedeutung zu. Dabei lassen sich verschiedene Dimensionen des Begriffs unterscheiden. Bereits im dritten Kapitel wurde mit Bezug auf das necessarium ex suppositione die Differenz zwischen menschlicher und göttlicher Perspektive thematisiert, 1 die sich im Verlauf des zweiten Teils – konkretisiert als partikulare bzw. universelle Perspektive 2 – zu einer entscheidenden Gedankenfigur in der Philosophie Spaemanns entwickelte. Zunächst jedoch spielte der Begriff als geschichtsphilosophische Perspektive eine wichtige Rolle zur Bezeichnung der wissenschaftlichen Methodik Spaemanns in seinen Studien über Fénelon. 3 In den ersten Kapiteln des zweiten Teils gewann daher die Thematisierung der Untersuchungsperspektive im Nachvollzug der Spaemann’schen Gedankenentwicklung zunehmend an Bedeutung. 4 Im sechsten Kapitel kam mit der Unterscheidung einer antiken und einer neuzeitlichen bzw. modernen Perspektive ein Aspekt hinzu, der für die Entfaltung von Spaemanns Denken von grundsätzlicher Bedeutung ist. 5 Eine weitere zentrale Dimension des Begriffs war die Differenzierung der Innen- und Außenperspektive insbesondere im Zusammenhang mit »Glück und Wohlwollen« 6 und die daraus hervorgehende Unterscheidung der Perspektive des Triebhangs und der personalen Perspektive, die im Mittelpunkt von Kapitel 8 stand. Der Topos einer Umkehr der Perspektive, der zuerst im Zusammenhang mit Spaemanns Essaysammlung »Das Natürliche und das Vernünftige« thematisiert wurde, 7 gewann als prinzipieller Perspektivenwechsel im Übergang zur Perspektive der Person in Teilkapitel 8.4 entscheidende Bedeutung für die Explikation der Philosophie der Begegnung. 8 Es erscheint daher im Rückblick nicht überVgl. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131. Vgl. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 479–489. 3 Vgl. insbesondere Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 172–179. 4 Vgl. Kapitel 5, Die Spur des Absoluten in der Natur, 185–318. 5 Vgl. insbesondere Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331. 6 Vgl. insbesondere Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss, 435–445, u. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 445–455. 7 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 394. 8 Vgl. Teilkapitel 8.4, Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung, 600–635. 1 2
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Perspektiven der Philosophie der Begegnung
trieben zu behaupten, dass mit ›Perspektive‹ ein Schlüsselbegriff des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit benannt ist. Da dieser im Rahmen des zweiten Teils nicht explizit reflektiert worden ist, soll der dritte Teil mit dieser Reflexion beginnen, aus der, wie im Folgenden gezeigt werden soll, sich zugleich die Aufgaben der abschließenden Untersuchungen entwickeln lassen. Der Begriff ›Perspektive‹ – »lat. perspectiva von perspicere mit dem Blick durchdringen, deutlich sehen« 9 –, der von Leibniz in die Philosophie eingeführt wurde, 10 war »bis zum Beginn der Renaissance und darüber hinaus, denn diese Zurechnung hält noch bis ins 19. Jh. an« 11, ein Begriff der Geometrie. Als »Übersetzung des gr. ὀπτικὴ τέχνη« 12 bezeichnete er »eine Geometrie der Projectionen« 13. Die philosophische Aneignung des Begriffs wurde ab dem 15. Jahrhundert in der Bildenden Kunst durch die Entdeckung der – erst später so bezeichneten – Zentralperspektive vorbereitet, durch die »das Bild der Malerei als Darstellung eines planen Schnitts durch die Sehpyramide« 14 begriffen wird. Dabei ist es wesentlich hervorzuheben, dass die Malerei auch vor dieser Entdeckung perspektivisch war. Wie G. E. Lessing bemerkte, kann die Zeichenkunst »nie ohne Perspektiv sein, und das geringste was der Zeichner vorstellt, kann er nicht anders als perspektivisch vorstellen. Den Alten in diesem Verstande die Perspektiv absprechen, würde wahrer Unsinn sein. Denn es würde ihnen nicht die Perspektiv, sondern die ganze Zeichenkunst absprechen heißen, in der sie so große Meister waren.« 15 Dass nach der Entdeckung der Zentralperspektive die Möglichkeit prinzipiell in Frage König, Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch I. Philosophie; Theologie; Geistes- und Naturwissenschaften, in: HWPh VII, col. 363. 10 Vgl.: »G. W. Leibniz führte den Begriff der Perspektive bzw. den mit ihm verbundenen Begriff des Standpunktes in die Philosophie ein […]. Im § 57 seiner ›Monadologie‹ wird Perspektivität sozusagen zur Grundstruktur der den einzelnen Monaden mit ihren notwendig verschiedenen Standpunkten vorgegebenen Welt«. – Ebd. col. 365. 11 Ebd. col. 363. 12 Ebd. col. 364. – Verweis in Anmerkung [3] auf die Quelle des Zitats: G. Boehm: Stud. zur Perspektivität (1969) 11. – Ebd. col. 373. 13 Ebd. col. 364. – Verweis in Anmerkung [2] auf die Quelle des Zitats: G. S. Klügel: Mathemat. Wb. I/3 (1808) 801 f. – Ebd. col. 373. 14 Kambartel, Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch II. Kunst, in: HWPh VII, col. 375. 15 »Briefe, antiquarischen Inhalts. Neunter Brief« – Lessing, Werke, Bd. 6, Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, 215. – Vgl. König, a. a. O. [Fn. 9], col. 364. 9
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gestellt ist, sich in ein älteres perspektivisches Wahrnehmen hineinversetzen zu können, dem die Reflexion auf die Perspektive noch unbekannt war, entspricht der in Abschnitt 6.1.1 dargelegten Schwierigkeit, sich aus der Perspektive der Subjektphilosophie in ein Denken hineinzuversetzen, dem die Teilung der Welt in Subjekt und Objekt noch nicht gegeben war. Der Beginn der Neuzeit markiert somit einen grundlegenden Wandel im Verständnis der Perspektive: »›[…] Die Teilung der Geschichte der Perspektive in zwei Abschnitte vollzieht sich in der Ablösung der alten perspectiva communis oder naturalis durch die perspectiva artificialis oder pingendi. Die ältere scientia perspectiva versteht sich als eine ars bene videndi, die sich mit dem richtigen Sehen, seinen Gesetzen, Problemen der optischen Täuschung und dgl. befaßt‹.« 16 Die Perspektive »als ›perspectiva artificialis‹ geht indessen ›in die Wesensbestimmung der neuen Kunst und als ›Perspektivität‹ in das Zentrum des philosophischen Denkens ein, wo sie die Art und Weise, wie sich der Mensch in der Welt bestimmt, neu formulieren hilft‹.« 17 Die perspectiva artificialis kann somit als eine in Analogie zur cartesischen Neubegründung der Philosophie stehende reflexive Wendung auf das Subjekt begriffen werden, durch die der Begriff der Perspektive dann selbst Eingang in die Philosophie findet und in dieser allmählich eine universale Verbreitung erlangt: Natürlich kann man nun versuchen, die folgenden philosophischen Entwürfe sozusagen aus der Perspektive des Standpunktes bzw. seiner orientierenden Kraft zu beurteilen. Insofern z. B. Kant betont, daß die Philosophie, will sie Wissenschaft sein, den Menschen auf einen seiner menschlichen Denksituation angemessenen Standpunkt verweisen muß, erhält »erst von ihm ab die Rede vom Standpunkt ihre radikale Bedeutung«. 18
Dabei führt die »Beurteilung philosophischer Systeme unter dem Gesichtspunkt der Perspektive« allmählich zu einer Verwendung des
König, a. a. O. [Fn. 9], col. 364. – Verweis in Anmerkung [7] auf die Quelle des Zitats: G. Boehm, [Stud. zur Perspektivität (1969)] 12. – Ebd. col. 373. 17 Ebd. col. 365. – Verweis in Anmerkung [10] auf die Quelle des eingefügten Zitats: G. Boehm, [Stud. zur Perspektivität (1969)] 12 f. – Ebd. col. 373. 18 Ebd. col. 367. – Verweis in Anmerkung [26] auf die Quelle des eingefügten Zitats: Vgl. F. Kaulbach: Der Begriff des Standpunktes im Zus. des Kant. Denkens. Arch. Philos. 12 (1963/64) 45; vgl. W. T. Krug: Allg. Handwb. der philos. Wiss.en 2 (1827, ND 1969) 253, der das Stichwort ›P.‹ nicht führt, s. v. ›Gesichts-Punct‹. – Ebd. col. 373. 16
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Begriffs »im pejorativen Sinne« 19, die dann in Nietzsches Relativismus – es »giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹« 20 – kulminiert. Im Hinblick auf das Problem der Perspektive ist die neuzeitliche Philosophie also von einer eigenartigen Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits ist sie als Subjektphilosophie prinzipiell perspektivisch angelegt, andererseits strebt sie als »Philosophie des ›allgemeinen‹ Subjekts oder des ›Bewußtseins überhaupt‹« 21 nach der Überwindung der bloß individuellen Perspektive. Die Entdeckung der Perspektive – also die reflexive Wendung auf die Perspektivität menschlicher Wahrnehmung – ermöglicht eine scheinbare Überwindung der Perspektivität durch die Bewusstseins- bzw. Transzendentalphilosophie, in der von der Perspektive eines konkreten Individuums abstrahiert und Anspruch auf eine aperspektivische Sicht der Welt überhaupt erhoben wird. Die Subjektphilosophie, die radikal die Perspektive des denkenden Individuums in den Mittelpunkt stellt, prätendiert also gleichzeitig, einen Standpunkt frei von aller Partikularität gefunden zu haben, der von jedem beliebigen Individuum eingenommen werden kann. Der Relativismus, der im Denken Nietzsches seinen wohl wirkungsmächtigsten Ausdruck gefunden hat, kann als dialektische Gegenbewegung gegenüber der universalistischen Anmaßung des aperspektivischen Rationalismus verstanden werden. Einen Standpunkt oberhalb dieser Dialektik von Rationalismus und Relativismus nahm im frühen 20. Jahrhundert Ortega y Gasset ein, 22 der als Entdecker des Perspektivismus in der Philosophie bezeichnet werden kann. 23 In seiner kleinen Schrift »Die Aufgabe unserer Zeit« aus dem Jahr 1923 24 interpretiert Ortega den Rationalismus cartesischer Prägung als eine künstliche Loslösung des Denkens vom Leben, 25 durch die die fundamentale Tatsache ausgeblendet werde, dass die »Vernunft […] nur eine Form und Funktion des Lebens« und die »Kultur […]
König, a. a. O., [Fn. 9], col. 367. Nietzsche, Werke, Bd. 5, Zur Genealogie der Moral, 365. – Vgl. König, a. a. O. [Anmerkung 9], col. 367. 21 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 245. 22 Vgl. König, a. a. O. [Fn. 9], col. 367–368. 23 Vgl. E. R. Curtius, Einführung, in: Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 9– 20, hier 17–20. 24 Die deutsche Übersetzung von Helene Weyl erschien 1928. 25 Vgl. Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 42–47. 19 20
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ein biologisches Werkzeug« 26 sei. Die »Maler des Quattrocento«, die die Zentralperspektive entdeckten, lassen nach Ortega dieselben »Züge von Primitivität« erkennen, die auch die neuzeitliche, in der cartesischen Tradition stehende Subjektphilosophie erkennen lässt: »Bis heute war alle Philosophie utopisch. Jedes System vermaß sich, für alle Zeiten und alle Menschen zu gelten.« 27 Diesen ›Utopismus‹ 28 der neuzeitlichen Philosophie versucht Ortega durch den Hinweis zu korrigieren, dass »die Annahme eines Standpunktes […] eine reflektierende, theoretische Haltung voraus[setzt]«, ein »Prinzip«, das »der biologischen Spontaneität, dem bloßen Leben des Lebens« 29 diametral entgegengesetzt ist. Nur in der begleitenden Reflexion auf seine prinzipielle Perspektivität kann von einem individuellen Standpunkt aus Anspruch auf Wahrheit erhoben werden: Die kosmische Wirklichkeit ist so beschaffen, daß sie nur in einer bestimmten Perspektive zur Gegebenheit kommen kann. Die Perspektive ist eine der Komponenten der Wirklichkeit. Sie ist nicht ihre Verzerrung; sie ist ihr Ordnungsschema. Eine Wirklichkeit, die von allen Standpunkten gleich aussieht, ist ein Nonsens. Den gleichen Gesetzen wie die dingliche Schau folgen die übrigen Arten des Erschauens. Jede Erkenntnis geschieht von einem Standpunkt. Spinozas species aeternitatis, den überalligen, absoluten Standpunkt gibt es nicht; er ist ein fiktiver, abstrakter Standpunkt. Wir zweifeln nicht, daß er ein nützliches Werkzeug für gewisse Bedürfnisse der Erkenntnis ist; aber man darf nicht vergessen, daß man von ihm aus nie das Wirkliche sieht. Der abstrakte Gesichtspunkt vermittelt nur Abstraktionen. 30
Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 72. Ebd. 106. 28 Vgl.: »Es war ein hartnäckiger Irrtum, daß die Wirklichkeit an sich, unabhängig vom Standpunkt des Beschauers, eine eigene Physiognomie haben sollte. Es ist klar, daß nach dieser Theorie jede Wahrnehmung, da sie in einem bestimmten Standpunkt gewonnen wird, von jenem absoluten Anblick abweichen und darum falsch sein musste. Aber die Wirklichkeit bietet wie die Landschaft unendlich viele Perspektiven, die alle gleich wahr und gleichberechtigt sind. Falsch ist allein die Perspektive, die behauptet, die einzige zu sein. Anders gewandt: falsch ist die Utopie, die Wahrheit, die nicht Wahrheit ›für‹, die vom ›nirgendwo Ort‹ gesehen ist. Der Utopist – und utopisch war der Rationalismus im letzten Grunde – irrt am meisten, denn er ist der Mensch, der seinem Standpunkt nicht treu bleibt und von seinem Platz desertiert.« – Ebd. 105–106. 29 Ebd. 73–74. 30 Ebd. 104. 26 27
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Daher verlangt Ortega im Sinne einer »Lehre vom Standpunkt«, »daß innerhalb des Systems die vitale Perspektive, aus der es hervorging, deutlich ausgesprochen wird« 31. Ortegas Perspektivismus beansprucht damit nicht weniger, als das Programm eines neuen Typs der Philosophie zu sein, die über der Dialektik von Rationalismus und Relativismus steht: »Die reine Vernunft ist durch eine vitale Vernunft zu ersetzen, mittels welcher die reine in die Wirklichkeit eintritt und Beweglichkeit und Veränderungsfähigkeit erhält.« 32 Perspektivität kann also im Sinne Ortegas als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Wahrnehmung bezeichnet werden. Eine aperspektivische Wahrnehmung wäre nur in einem absoluten Bewusstsein möglich. Allerdings muss die Perspektivität als Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung dem Menschen nicht immer schon bewusst geworden sein; nur deshalb kann die Perspektivität entdeckt werden als etwas, was schon vor seiner Entdeckung da war. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Geschichte der Perspektivität und ihrer Bedeutung für die Philosophie kann die Verbindung verdeutlicht werden, die zwischen der Reflexion auf den Begriff der Perspektive und der im zweiten Teil dieser Arbeit untersuchten Philosophie der Begegnung besteht. Spaemanns Ablehnung der cartesischen Hypostasierung des ›cogito‹ zur unabhängigen Entität, 33 auf die seine Distanzierung von der Transzendentalphilosophie letztlich zurückgeht, kann im Sinne der Fundierung des ›ich denke‹ im ›ich lebe‹ als ein philosophisches Bekenntnis zur leiblichen Situiertheit und damit zur konkreten Perspektive des Individuums verstanden werden. Zum anderen aber führt in Spaemanns Denken erst die Überwindung der »Perspektive des Triebhanges« 34 zur Philosophie der Person. Der in der interpersonalen Begegnung sich realisierende Akt der Selbsttranszendenz wird von Spaemann als »Umkehr der Perspektive« 35 bezeichnet. Hierbei handelt es sich um die nur als Paradox fassbare Loslösung von der Perspektive der natürlichen Zentralität, die dennoch nicht in die abstrakte Aperspektivität der Transzendentalphilosophie übergeht. Zur Erklärung dieses Paradoxes verweist
Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 106. Ebd. 33 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 115, u. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 527. 34 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127. 35 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 129. 31 32
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Perspektiven der Philosophie der Begegnung
Spaemann auf die »Wirklichkeit des Bildes« 36, das nicht als Schnitt durch die Sehpyramide, nicht als Objekt für ein Subjekt verstanden werden kann: »Es als Bild wahrnehmen heißt sein Zeigen wahrnehmen, sich von ihm etwas zeigen lassen.« 37 Das Bild ist konkret und zugleich vom situierten Ich unabhängig, seine Wahrnehmung ist eine Umkehr der Perspektive, die als Aktualisierung der perspectiva naturalis verstanden werden kann. Denken lässt sich diese Aktualisierung nur als das Paradox einer Perspektive, die keine Perspektive ist. Es handelt sich um eine Position, die in dem bei Ortega angedeuteten Sinn über der für das neuzeitliche Verständnis von Perspektive charakteristischen Dialektik von Rationalismus und Relativismus steht, da die interpersonale Vermittlung individueller Perspektiven in dem Kontinuum von Leben und Bewusstsein fundiert ist. Diese Position setzt, wie die Ausführungen im zweiten Teil gezeigt haben, den Gedanken der Anerkennung von Selbstsein voraus, der für Spaemann nur ein Sonderfall der Anerkennung von Sein schlechthin ist. Mit Putnam kann man hier kritisch von »der ›externalistischen Perspektive‹ des metaphysischen Realismus« sprechen, »wonach die Welt aus einer feststehenden Gesamtheit geistesunabhängiger Gegenstände besteht«, der er seine ›internalistische‹ Auffassung gegenüberstellt, nach der ›Wahrheit‹ »so etwas wie (idealisierte) rationale Akzeptierbarkeit« 38 ist. Eine zentrale Frage der abschließenden Überlegungen dieser Arbeit wird darin bestehen, wie aus dem Gedanken der Entdeckung der Perspektive ein Argument für die externalistische Auffassung entwickelt werden kann. Wenn nun im abschließenden Teil der vorliegenden Arbeit von den ›Perspektiven der Philosophie der Begegnung‹ die Rede sein soll, handelt es sich hier gegenüber den Gedankengängen des zweiten Teils einerseits um eine Metareflexion, insofern andere Sichtweisen derjenigen Sachverhalte untersucht werden, um die es der im zweiten Teil entfalteten Philosophie der Begegnung ging, womit diese sich dem philosophischen Diskurs stellt. Wenn aber andererseits diese Metareflexion unter dem Begriff der Perspektive gefasst wird, der
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137. Ebd. 38 König, a. a. O. [Fn. 9], col. 371. – Verweis in Anmerkung [70] auf die Quelle des eingefügten Zitats: H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Gesch., hg. J. Schulte (1982) 75. – Ebd., col. 374. 36 37
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im zweiten Teil dieser Arbeit eine die Dialektik von Rationalismus und Relativismus hinter sich lassende Umdeutung erfahren hat, scheint damit eine Vorentscheidung über die Diskursregeln getroffen zu sein, insofern mögliche Positionen im Diskurs an einem bestimmten Begriff von Perspektive gemessen werden. Die Philosophie der Begegnung könnte dann, wenn sie konkurrierenden Positionen im philosophischen Diskurs der Gegenwart gegenübertritt, nur in sich selbst eintreten und sich damit dem Diskurs entziehen. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, da die Philosophie der Begegnung ohne weiteres in einen Diskurs etwa mit dem internen Realismus Putnams eintreten kann. Dennoch ist es richtig, dass die Philosophie der Begegnung die Akzeptanz zumindest einer Regel zur Bedingung eines sinnvollen Diskurses machen muss, dass nämlich Positionen im Diskurs sich als Perspektiven verstehen lassen müssen, auch dann, wenn sie selbst nicht hierauf reflektieren. Aus dieser Bedingung folgt konkret, dass jede mögliche Position daraufhin befragt wird, wie weit sie in der Lage ist, die conditio humana, also das antagonistische Verhältnis von Leben und Vernunft im Menschen und die Fundierung der Vernunft in der menschlichen Natur, zu bedenken. Gerechtfertigt ist das Aufstellen dieser Bedingung dadurch, dass die grundsätzliche Perspektivität menschlicher Wahrnehmung jede Positionierung im Diskurs als einen Lebensvollzug ausweist. Eine transzendentale Hypostasierung des ›cogito‹ zur unabhängigen Entität wird freilich durch diese Diskursregel unterlaufen, da durch sie diese Entität auf die konkrete perspektivische Wirklichkeit zurückbezogen wird, aus der sie abstrahiert wurde. ›Perspektiven der Philosophie der Begegnung‹ kann als doppelter Genitiv verstanden werden. Einerseits geht es um Aussichten, die diese Philosophie eröffnet, andererseits um verschiedene Weisen diese zu betrachten. In den ersten beiden Kapiteln des dritten Teils stehen solche Betrachtungsweisen, im dritten Kapitel dann die eröffneten Aussichten im Mittelpunkt. Im zehnten Kapitel geht es zunächst um Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk, die sich in der jüngeren Forschungsliteratur finden lassen. Anhand von drei ausgewählten Veröffentlichungen – Holger Zaborowskis englischsprachiger Monographie »Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person« (2010), Rolf Schönbergers Aufsatz »Das Sein des Sinnes« (2016) und Andrzej Kucińskis umfassender Studie »Naturrecht in der Gegenwart« (2017) – sollen alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk nachvollzogen und anhand der im zweiten Teil entfalteten 754 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Perspektiven der Philosophie der Begegnung
Deutung auf ihre Leistungsfähigkeit bzw. auf mögliche blinde Flecken hin befragt werden. Im elften Kapitel soll der Blick geweitet und der philosophische Diskurs der Gegenwart ohne thematische Beschränkung auf das Werk Robert Spaemanns, jedoch mit Wahrung des Fokus auf die in diesem Werk thematisierten Gegenstandsbereiche einbezogen werden. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt weit eher in der theoretischen als in der praktischen Philosophie, auch wenn, wie gesehen, 39 für Spaemann beides letztlich untrennbar ist. Die beiden Hauptfelder der theoretischen Philosophie, um die es im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ging, waren die Geschichte des teleologischen Denkens und die Philosophie der Person. Mit seinem Plädoyer für eine Erneuerung des teleologischen Denkens steht Spaemann weit abseits der herrschenden Diskurse in der Philosophie der Gegenwart. Wenn also philosophische Gegenwartsdiskurse hier einbezogen werden sollen, die eine Schnittmenge mit Spaemanns Denken bieten, so kann innerhalb der theoretischen Philosophie die Rede nur sein von der Person, die aktuell ein Thema von großer Virulenz darstellt. Am Beispiel von drei deutschsprachigen Publikationen – Theo Kobuschs »Die Entdeckung der Person« (1993), Dieter Sturmas »Philosophie der Person« (1997) und Michael Quantes »Person« (2007) – sollen alternative Perspektivierungen desjenigen Phänomenbestands betrachtet werden, der im Mittelpunkt eines großen Teils von Spaemanns Schriften steht. Grundgedanken der genannten Publikationen sollen zunächst nachgezeichnet werden, bevor durch eine vergleichende Analyse Gemeinsamkeiten mit der Philosophie der Begegnung sowie Unterschiede zu ihr benannt und Bewertungen der konkurrierenden Ansätze versucht werden. Nach diesen notwendigen Betrachtungen von außen kehrt der Gedankengang schließlich im zwölften Kapitel zur Perspektive der Philosophie der Begegnung zurück, um offen gebliebene Fragen zu beantworten, eine Schlussfolgerungen aus dem Gedankengang der vorliegenden Studien zu ziehen und einen Ausblick auf mögliche Weiterentwicklungen zu geben. Da die diachrone Untersuchung von Spaemanns Denken im zweiten Teil dieser Arbeit notwendigerweise Fragen dazu offen lassen musste, wie später gefundene Einsichten Vgl. die in »Glück und Wohlwollen« mehrmals wiederholte Aussage, wonach es keine Ethik ohne Metaphysik gebe: Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11, 132, 150.
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sich zu früheren Gedanken verhalten, zu denen sie in Beziehung stehen, soll es hier zum einen um eine rückläufige Klärung der Zusammenhänge gehen, die noch stärker die Funktion des Sachverhalts der Begegnung als Organisationsprinzip von Spaemanns Denken erweisen kann. Zum anderen soll im Zuge abschließender Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung die ontologische Bedeutung der Begegnung letztgültig gefasst werden. Dazu wird der Gedankengang an die einleitende Reflexion zum Begriff der Perspektive anknüpfen und eine Fundierung des Begriffs der Begegnung im Präreflexiven versuchen. Schließlich wird im Sinne eines Ausblicks die Frage nach den Potentialen der Philosophie der Begegnung gestellt, indem Perspektiven ihrer Weiterentwicklung und konkrete Anknüpfungspunkte in der Philosophie des 20. Jahrhunderts schlaglichtartig beleuchtet werden.
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
In der vorliegenden Arbeit wird versucht, unter dem Titel ›Philosophie der Begegnung‹ eine Gesamtdeutung von Spaemanns Werk zu bieten. Daher werden im folgenden Kapitel als Folien des Vergleichs diejenigen Arbeiten aus der Forschungsliteratur über Robert Spaemann herangezogen, die explizit oder implizit einen ähnlichen Anspruch erheben und sich ausdrücklich auf die theoretische Philosophie Spaemanns beziehen. 1 Die erste umfangreiche Studie zum Gesamtwerk Spaemanns ist die auf einer im Jahr 2001 an der Universität Oxford eingereichten Dissertation basierende 2010 publizierte englischsprachige Monographie Holger Zaborowskis »Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person. Nature, Freedom, and the Critique of Modernity«. Im ersten Kapitel dieser Arbeit äußert Zaborowski sich mit Bezug auf den amerikanischen Philosophen Arthur Madigan zum Desiderat einer Gesamtdeutung von SpaeVerzichtet wird daher auf eine ausführliche Darstellung der umfangreichen, im Jahr 2014 erschienenen Arbeit Stefan Meiserts »Ethik, die sich einmischt. Eine Untersuchung der Moralphilosophie Robert Spaemanns«. Zwar unternimmt auch Meisert einen diachronen Gang durch das Werk Spaemanns, der eigentliche Fokus seiner Aufmerksamkeit liegt dabei aber eindeutig auf der praktischen Philosophie. – Vgl.: »Die Aufgabe, das gesamte Schrifttum Spaemanns zu erfassen, steht offensichtlich auch nach der umfassenden Studie von Stephan Meisert aus dem Jahre 2014 noch aus. Meisert, dessen Dissertation viele Aspekte von Spaemanns Philosophie berührt, behandelt primär ethische Fragen.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41. – Verzichtet wird ferner auf eine ausführliche Darstellung der 2015 erschienenen Arbeit »Alles, was ist, ist auf etwas aus. Die schöpfungstheologischen Prämissen der Philosophie Robert Spaemanns« Damian Pietrowskis. Aufgrund ihrer eindeutig theologischen Ausrichtung kann diese Arbeit ebenfalls nicht den Anspruch einer philosophischen Gesamtdeutung von Spaemanns Werk erheben. – Vgl.: »So sagt Pietrowski 2015: Das Gesamtwerk wurde ›bisher weder chronologisch noch systematisch analysiert‹ und ›niemand hat sich bisher der Mühe unterzogen, die Genese und Systematik der vielen Einzelbeiträge des Autors zu erschließen‹. [Pietrowski, Alles, was ist (2015), 10.] Auch Pietrowski nahm diese Aufgabe im Übrigen nicht in Angriff.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41.
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manns Werk und dem Verhältnis seines eigenen Beitrags zu dieser Aufgabe: Arthur Madigan wrote in his brilliant review article of Spaemann’s Philosophische Essays that »if Spaemann himself, or someone thoroughly familiar with his work, were to weave from his many studies a single connected narrative, its wealth of detail and persuasive power might win for Spaemann’s insights and arguments the wider attention and closer scrutiny that they certainly deserve«. What Madigan demanded still needs to be accomplished. A first step towards a comprehensive account of Spaemann’s philosophy, its sources, the standpoints against which his thought is directed, and the implications of his œuvre will be taken in this book. 2
Dieser im Gestus der Bescheidenheit angekündigte erste Schritt bietet, wie im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt werden soll, einen wichtigen Überblick über zentrale Themenfelder des Spaemann’schen Denkens bei deutlich spürbarer theologischer Ausrichtung der Studie 3 (10.1). Der zweite Text, auf den hier Bezug genommen werden wird, basiert auf dem Vortrag »Das Sein des Sinnes. Die Philosophie Robert Spaemanns im Kontext der Philosophie des 20. Jahrhunderts« des Spaemann-Schülers 4 Rolf Schönberger auf einer Tagung über die Philosophie Robert Spaemanns am 7./8. November 2014 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten, der 2016 in dem von Josef Kreiml und Michael Stickelbroeck herausgegebenen Sammelband »Die Person – ihr Selbstsein und ihr Handeln. Zur Philosophie Robert Spaemanns« veröffentlicht wurde. Trotz seines vergleichsweise geringen Umfangs liefert Schönbergers Aufsatz, wie im zweiten Teilkapitel gezeigt werden soll, einen von theologischer Vereinnahmung freien Versuch einer Gesamtschau des Spaemann’schen Denkens, in der gegenüber der Arbeit Zaborowskis insbesondere das Verhältnis von Naturteleologie und Personalität zuallererst mit philosophischen Mitteln versucht wird zu durchdenken (10.2).
2 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 20. – Quelle des eingefügten Zitats: Madigan, Arthur, Robert Spaemann’s »Philosophische Essays«, in: Review of Metaphysics 51 (1997), 1 (Sept 1997), 105–132, hier: 132. 3 Wissenschaftlich betreut wurde die Arbeit vom britischen Moraltheologen Oliver O’Donovan, erschienen ist sie in der Reihe »Oxford Theological Monographs«. 4 Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 212, u. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 129.
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An dritter Stelle wird Bezug genommen auf die 2016 als Dissertation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn eingereichte und 2017 unter dem Titel »Naturrecht in der Gegenwart. Anstöße zur Erneuerung naturrechtlichen Denkens im Anschluss an Robert Spaemann« erschienene umfangreiche Studie Andrzej Kucińskis, die am Leitfaden der Naturrechtsthematik in ihrem zweiten Kapitel eine diachrone Untersuchung von Spaemanns Werk enthält. Im Hinblick auf die ausstehende Gesamtdeutung dieses Werks äußert Kuciński nach einer einleitenden Darstellung von Spaemanns Denken sich ähnlich bescheiden wie zuvor Zaborowski: Wie an verschiedenen Stellen der dargestellten Kurzpräsentation deutlich wurde, entzieht sich das Spaemann’sche Denken einer einfachen Systematik. Viele Arbeiten zu Spaemann weisen deshalb auf den bisherigen Mangel einer Gesamtschau seiner Philosophie hin. Auch diese Arbeit steht nicht unter dem Anspruch, den bekannten Mangel zu beheben, obwohl die hier gewählte Fragestellung einen erweiterten Horizont und die Beschäftigung mit allen grundlegenden Werken Spaemanns erforderlich machte. 5
Auch wenn Kucińskis Arbeit eine theologische Ausrichtung und zudem mit dem gewählten Schwerpunkt des Naturrechts eine Verschiebung in den Bereich der praktischen Philosophie erwarten lässt, gehört sie schon durch die Gründlichkeit seiner Auseinandersetzung mit Spaemanns Werk zu den Texten, die am ehesten das Potential einer Gesamtschau der theoretischen Philosophie Spaemanns erkennen lassen. Im dritten Teilkapitel sollen die allgemeinen Erträge dieser Arbeit und ihre Grenzen im Hinblick auf die notwendige Gesamtschau dargestellt werden (10.3).
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Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41.
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10.1 Holger Zaborowski: »Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person«
10.1.1 Christlich inspirierte Kritik der Moderne Der Ausgangspunkt von Zaborowskis Untersuchung ist die Diagnose einer mit der Krise der Moderne verbundenen Krise der Philosophie, 1 vor deren Hintergrund Spaemanns Werk Auswege aufzuzeigen verspreche. 2 In einer ersten allgemeinen Betrachtung von Spaemanns Denken bringt er dessen Konzept des metaphysischen Realismus mit den Bestrebungen der Phänomenologie, auf die ›Sachen selbst‹ zurückzugehen, 3 durch den Hinweis in Verbindung, dass es Spaemann in diesem Konzept wesentlich um das Selbstverständliche gehe, 4 das in der Moderne allerdings in Erinnerung gebracht werden müsse. 5 Zentrale Aufgabe der Philosophie sei es demnach, die in der Moderne in einen dialektischen Gegensatz geratenen Seiten von Natur und Freiheit auf eine neue Art zu versöhnen: What is in an eminent sense the self-evident that we did once know and, strictly speaking, always already know though very often without being aware of it? Philosophy is, in Spaemann’s view, primarily the free recollection of nature. Freedom and nature, he believes, are related to one another in such a way that freedom acknowledges as its own what is naturally right and self-evident. 6 Vgl. Kapitel 1 »Philosophy in a time of crisis« bzw. Teilkapitel 1.1 »The crisis of modernity«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 1–9. 2 Vgl. Teilkapitel 1.2 »Robert Spaemann’s Christianly informed criticism of modernity«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 9–18. 3 Vgl.: »Wir wollen uns schlechterdings nicht mit ›bloßen Worten‹, das ist mit einem bloß symbolischen Wortverständnis zufrieden geben. […] Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen.« – Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Theil, Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 7. 4 Vgl. z. B.: »Auf das Selbstverständliche kann man nur hinweisen, man kann es nicht eigentlich sagen. […] Wenn dennoch vom Selbstverständlichen immer wieder die Rede sein muß, so nur deshalb, weil es immer wieder bestritten wird.« – Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), Vorwort, 7. 5 Vgl. Kapitel 2 »Conversation, recollection, and the search for happiness: Spaemann’s understanding of philosophy«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 24–85. 6 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 57. 1
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10.1.1 Christlich inspirierte Kritik der Moderne
Der von Beginn an als Prämisse in Zaborowskis Untersuchung zum Ausdruck kommende Glaube an die Verbindung von Natur und Freiheit steht für seine Überzeugung, dass der subjektphilosophische Standpunkt einerseits und die wissenschaftliche Objektivität andererseits in einen harmonischen Zusammenhang gebracht werden können. Die konkrete Untersuchung des Spaemann’schen Denkens vollzieht Zaborowski in vier Schritten. Im ersten Schritt geht es um Spaemanns Kritik am Projekt der Moderne. Am Leitfaden der sieben im Essay »Ende der Modernität?« 7 formulierten Kennzeichen der Moderne expliziert Zaborowski die Hauptlinien von Spaemanns Gegenwartskritik, um danach auf die neuzeitliche Transformation der Erbsündenlehre als Schlüssel zu Spaemanns Verständnis der Moderne zu sprechen zu kommen: 8 Yet if we put Spaemann’s analysis of modernity into a wider context and explicate what is implicit to it we can see that the fundamental flaw of modernity is its misunderstanding of the fall and its attempt, if the fall is, in however transformed a way, recognized at all, autonomously to overcome it. In contrast to the modernistic approach to the doctrine of original sin, the orthodox version shows why human life is characterized by a fundamental rupture and alienation between nature and freedom that cannot be overcome dialectically, but can only be healed by an act of divine intervention. 9
Ausgehend von dieser religiös fundierten Diagnose des Zustands der Moderne wendet Zaborowski sich im zweiten Schritt Spaemanns Dissertation über de Bonalds Philosophie und die Dialektik des AntiModernismus zu, die er mit Spaemann als eine untaugliche Abwehrstrategie gegenüber den Fehlentwicklungen der Moderne qualifiziert. 10 Im dritten Schritt thematisiert Zaborowski Spaemanns Philosophie der Person bzw. des Selbstseins, in denen er den Schlüssel zu Spaemanns Denken und zur Überwindung der Krise der Moderne Spaemann, Ende der Modernität (1986), 232–260. Vgl.: »Although it is often implicit, the issue of how one conceives of original sin is one of the leading questions of Spaemann’s analysis of modernity.« – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 130. 9 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 132. 10 Vgl. Kapitel 4 »Society, philosophy, and religion: Spaemann and the dialectic of anti-modernism«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 136–177. 7 8
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vermutet: »To speak of persons, Spaemann argues, thus recalls a view of the individual that calls into question the opposition of nature and freedom, of facts and norms, and of self-preservation und self-transcendence.« 11 Den Schlüssel zum Personbegriff sieht er dabei in der menschlichen Selbsterfahrung: Whoever thinks that all that is, is what is actually the case – that is to say, whoever utterly dismisses a teleological view of reality – contradicts himself, for he himself, as a person, is always more than what is actually the case, and this is evident even given the very fact that he is making a counter-intuitive statement. 12
Von größter systematischer Bedeutung ist somit für Zaborowski die Verbindung von Teleologie und Personalität: »without the notion of life, personal identity cannot be adequately conceived.« 13 Der Begriff des Lebens kommt dabei im personalen Selbstsein erst zu sich selbst, so dass die Personphilosophie schließlich als höchste Disziplin des Denkens erscheint: »Hence, the philosophy of Selbstsein can be considered prima philosophia with ethical, ontological, and epistemological implications.« 14 Die bis hierhin offen gebliebene Frage, was nach Zaborowski zwischen den Seiten der Natur und der Freiheit vermittelt und die Philosophie des Selbstseins als prima philosophia ermöglicht, beantwortet Zaborowski im vierten und letzten Schritt, indem er die von Spaemann betriebene Aussöhnung von Christentum und Philosophie als Möglichkeit zur Überwindung der Fehlentwicklungen der Moderne herausstellt. 15 Die von Spaemann entwickelte Philosophie bringt Zaborowski dabei – mit Verweis auf eine Bezugnahme Spaemanns selbst 16 – in Verbindung mit Schellings Projekt einer positiven Philosophie: »Schelling’s solution lies in a ›speculative empiricism‹ – a ›new beginning of philosophy‹, as Spaemann points out – the main feature of which is that it reflects upon the factual and the continZaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 207. Ebd. 202. 13 Ebd. 198. 14 Ebd. 219. 15 Vgl.: »This examination will lead us to his idea of truly post-modern philosophies and his recollection of a relation between nature and freedom that not only is reconcilable with Christianity but truly overcomes the shortcomings of modernity.« – Ebd. 235. 16 Vgl. Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 85–86, u. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 557, u. Fn. 137. 11 12
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10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis
gent.« 17 Somit kommt Zaborowski zu folgendem Fazit seiner Untersuchung des Spaemann’schen Werks: »A speculative empiricism of Selbstsein is therefore the alternative that Spaemann proposes to modernity and its dialectic of objectivism and subjectivism.« 18 Die Thematisierung von Selbstsein bzw. Person führt nach Zaborowski in die Religionsphilosophie. 19 Es gibt zu ihr zwar einen genuin philosophischen Zugang; um sie voll zu verstehen, bedarf es jedoch der Überwindung des rein philosophischen Standpunkts in einer religiösen Umkehr. 20
10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis Das große Verdienst der Studie Zaborowskis scheint mir darin zu bestehen, dass er wohl als erster die zentrale Bedeutung der Verbindung von Naturteleologie und Personalität im Denken Spaemanns herausgearbeitet hat. An diesem Punkt muss aber die Kritik an seiner Vorgehensweise ansetzen. Nach einer Antwort auf die Frage, wie man von der Naturteleologie bzw. vom Begriff des Lebens zur Personalität bzw. zum Selbstsein gelangen kann, sucht man in seiner Studie vergebens. Zwar unterstreicht Zaborowski, dass Leben das Sein von Personen sei; 21 in welchem Verhältnis aber Leben – etwa nicht selbstZaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 251. – Vgl.: »Philosophie beansprucht, ›positiv‹ zu werden in dem Sinne, wie die kontingente Wirklichkeit selbst von der Philosophie gedacht werden soll. Philosophie wird damit zu einer Art spekulativem Empirismus.« – Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 86. 18 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 251–252. 19 Vgl.: »The examination of Robert Spaemann’s philosophy of Selbstsein has led us to his philosophy of religion.« – Ebd. 233. 20 Vgl.: »Yet his philosophical analysis implies that this statement can be understood initially, though not fully, from a purely philosophical point of view. Spaemann would not deny that a full understanding of what it implies to speak of the glory of reality can only arise if the theological origin and dimension of this notion is taken into account, and if one acknowledges that God is ›an ‘unpreconceivable’ unity of Being and meaning‹.« – Ebd. 220. 21 Vgl.: »[…] the notion ›life‹, which is, as Spaemann argues with reference to Aristotle, the being of the persons«. – Ebd. 185. – Zaborowski zitiert hier ungenau. An der Stelle aus »Personen«, auf die er verweist, heißt es: »Leben ist vielmehr, wie Aristoteles schrieb, ›das Sein des Lebendigen‹. Personen sind Lebewesen. Ihr Sein und ihre Identitätsbedingungen sind die von Lebewesen jeweils einer bestimmten Art.« – Spaemann, Personen (1996), 11. 17
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bewusstes oder nicht personales – zum personalen Selbstsein steht, diese für Spaemanns Denken zentrale Frage wird von Zaborowski ausgeklammert. Allenfalls eine implizite Antwort kann man, und diese sogar sehr deutlich, aus seiner Studie entnehmen: Der innere Zusammenhang von Naturteleologie und personalem Selbstsein ist in der religiösen Vorstellung der Schöpfung verbürgt. 22 Eine solche Lesart kann sich auf Spaemanns Werk stützen, in dem, wie im zweiten Teil immer wieder gesehen wurde, theologische Überlegungen – wie zum Ursprung des Personbegriffs 23 – philosophisch angeeignet wurden und religiöse Intuitionen – etwa der Gedanke einer Verantwortung für sich selbst 24 – über die Grenze des philosophisch Denkbaren hinausgeführt haben. Allerdings scheint mir Zaborowski mit dieser Vorgehensweise dem von ihm selbst formulierten Anspruch, philosophische und theologische Schichten im Denken Spaemanns trennen zu wollen, nicht gerecht zu werden: Explizit ausgesprochen ist dieser hier implizit bleibende Gedanke in einer anderen Arbeit Zaborowskis. In »Göttliche und menschliche Freiheit. Robert Spaemanns Philosophie des Personseins und die Möglichkeit einer Kriteriologie von Religion« (2008) schreibt Zaborowski: »Spaemann verweist in seinen philosophischen Überlegungen zu Religion auf die Tatsache der Schöpfung oder des Gemeint- und Geschaffenseins. Das mag zunächst verwundern, scheint sich hiermit doch ein theologischer oder religiöser Begriff in den philosophischen Gedankengang eingeschlichen zu haben. Daher stellt sich die Frage, ob Spaemann hier die Grenzen zur Theologie oder positiven Religion hin überschreitet. Eine genauere Interpretation seiner Philosophie zeigt, daß dies nicht der Fall ist. Er geht zwar ausdrücklich vom Paradigma der christlichen Religion aus, argumentiert aber nicht innerhalb dieses Paradigmas in einer Weise, die selbst als religiös oder theologisch bezeichnet werden müßte. Wir haben es hier weit eher mit dem Fall zu tun, daß Theologie und Philosophie dieselben Themen bedenken, ohne daß dies methodisch vorher koordiniert worden wäre, – etwa in dem Sinne, daß der Begriff oder die Sache der Schöpfung oder des ›Gemeintseins‹ a priori der Theologie zu- und der Philosophie abgesprochen würde. Denn Spaemann verwendet den Schöpfungsbegriff in Personen in sehr formaler und theologisch oder religiös nicht näher spezifizierter (aber daher in einem zweiten Schritt spezifizierbarer) Hinsicht. Die Frage, ob wir Wirklichkeit als Schöpfung verstehen oder nicht, wird nicht mit Bezug auf die Autorität etwa eines bestimmten religiösen Textes beantwortet, sondern mit Bezug auf die philosophisch relevante Frage, ob wir überhaupt Wirklichkeit (und damit auch uns selbst) verstehen wollen. Und bei diesem Bemühen um ein Verständnis von Wirklichkeit hilft dem Philosophen ein lernbereiter Dialog mit der Theologie oder positiven Religion und der Versuch, die theologisch-dogmatischen Gehalte ins Philosophische zu übersetzen, soweit dies überhaupt möglich ist.« – Zaborowski, Göttliche und menschliche Freiheit, 71. 23 Vgl. Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins, 574–582. 24 Vgl. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 501–508. 22
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10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis
Spaemann’s criticism of modernity is […] ultimately informed by a Christian point of view, though it can also be appreciated in purely philosophical terms. It is, however, important to point out that he would resist the tendency to confuse philosophy with theology, because it leads either to a corrupt theology or to substandard philosophy. His philosophy appeals to human reason and may well provide Christianity with »foundations«, though it does not presuppose Christian theology in any way. 25
Wie im zweiten Teil dieser Arbeit zu zeigen versucht wurde, gibt es durchaus einen Weg, um mit genuin philosophischen Mitteln von der Naturteleologie zur Personalität zu gelangen. Die für diesen Weg grundlegenden Reflexionen Spaemanns über das Verhältnis von Leben und Vernunft besonders in »Das Natürliche und das Vernünftige« und in »Glück und Wohlwollen«, jener Nexus also, von dem Spaemann sagt, es sei »der Gedanke, der die Philosophie konstituiert« 26, findet bei Zaborowski jedoch keine Beachtung. Auch im Rahmen der ausführlich von ihm betrachteten Kritik der Moderne 27 vermisst man die Thematisierung ihrer für Spaemanns Denken zentralen philosophischen Fundierung im cartesischen Neuansatz der Philosophie. Die ausführlich wiedergegebene Kritik Spaemanns an der als Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus interpretierten Moderne geht philosophisch ins Leere, wenn nicht die aus seiner Descartes-Interpretation hervorgehende Alternative eines metaphysisch-analogen Denkens expliziert wird. Aus dieser Lücke ergibt sich auch, dass seine an sich zutreffende Charakterisierung von Spaemanns Philosophie als ›Erinnerung‹ (recollection) der klassischen Philosophie 28 wenig Einsichten hervorbringt über die große Bedeutung, die die Aktualisierungen vor allem platonischer und aristotelischer Gedanken für Spaemanns Denken besitzen. 29
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 18. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. – Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 242. 27 Vgl. Kapitel 3 »The dialectic of Enlightenment: Spaemann’s critique of modernity and its dialectic«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 86–135. 28 Vgl. die Abschnitte des zweiten Kapitels »Philosophy and recollection« und »Recollection versus historicism«. – Ebd. 43–47 bzw. 47–52. 29 Diese wird von Zaborowski allenfalls angedeutet. Vgl.: »It may be that the phenomenological character of Spaemann’s philosophy (his attempt to go back to the ›things 25 26
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Dass Zaborowski Spaemanns Argumentation verkürzt wiedergibt und theologisch überformt, soll an zwei konkreten Beispielen verdeutlicht werden. Wie oben ausgeführt wurde, 30 mündet Zaborowskis Wiedergabe von Spaemanns Kritik am Projekt der Moderne in einer ausführlichen Thematisierung des Sündenfall-Mythos. 31 Dabei wird der Eindruck erzeugt, dass dieser Mythos für Spaemann eine Art universales Erklärungsinstrument für die Krise der Moderne und zugleich Inspirationsquelle für deren mögliche Überwindung ist: The doctrine of original sin makes a more fundamental statement about the character of both nature and freedom as fallen and in need of redemption. Redemption, however, is a gift and needs to be prayed for. It cannot be achieved autonomously. This is why the modern transformation of the doctrine of original sin fails, turning inhumane and irrational, as Spaemann compellingly shows. 32
Rein formal ist angesichts dieser Schlussfolgerung zu fragen, ob die zweifache Erwähnung des Sündenfalls in »Glück und Wohlwollen« 33 und die Tatsache, dass Spaemann später noch einen Essay zu diesem Thema verfasst hat, 34 ausreichen, um diesem Mythos ein solch enormes Gewicht in Spaemanns Denken einzuräumen. Triftiger aber ist der Einwand, dass, wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit versucht wurde zu zeigen, 35 der Verweis auf den Sündenfallmythos in »Glück und Wohlwollen« eine Lücke in der philosophischen Argumentation Spaemanns darstellt, um deren Schließung sich Spaemann insbesondere in »Personen« bemüht hat. Schon in »Glück und Wohlwollen« taucht der Verweis auf den Mythos im Kontext einer noch unvollständigen anthropologischen Theorie auf, bei der es um die »Selbstzentriertheit der natürlichen Lebendigkeit« 36 und ihre Überwindung im Personsein geht. Philosophisch eingeholt wird diese Pro-
themselves‹) allows him to bridge the gap between ancient and modern philosophy.« – Ebd. 35, Fn. 48. 30 Vgl. Abschnitt 10.1.1, Christlich inspirierte Kritik der Moderne, 760–763. 31 Vgl. Teilkapitel 3.5 »The transformation of the doctrine of Original Sin«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 129–135. 32 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 133. 33 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113 u. 244. 34 Vgl. Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 185– 211. 35 Vgl. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 505. 36 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113.
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10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis
blematik in Spaemanns Personenphilosophie, 37 in der der Mythos keine explizite Rolle mehr spielt. Häufig nimmt Zaborowski in seiner Studie Bezug auf Schelling und dessen Projekt einer ›positiven Philosophie‹, in deren Tradition er Spaemanns Denken wesentlich verortet. 38 Diese in der vorliegenden Arbeit im Grundsatz geteilte 39 These besagt, dass die nur mit dem Möglichen, dem Notwendigen und dem Unmöglichen beschäftigte negative Philosophie dadurch erweitert wird, dass das geschichtlich Kontingente zum Gegenstand einer positiven Philosophie wird. In Anlehnung an den Essay »Christentum und Philosophie der Neuzeit« bezeichnet Zaborowski Spaemanns Philosophie daher in seinem Fazit als ›spekulativen Empirismus‹. 40 Eine konkrete Ausdeutung dieses Gedankens sucht man in Zaborowskis Studie – von allgemeinen Hinweisen auf die im Schöpfungsgedanken fundierte ›Unvordenklichkeit‹ des Seins abgesehen 41 – jedoch vergeblich. Das für Spaemann zentrale Ereignis der Entdeckung der Person, durch das die neuzeitliche Diastase von Subjekt und Objekt als Rückzug aus einer ursprünglichen Offenheit verstanden werden kann, spielt bei Zaborowski keine Rolle. Zaborowskis Studie stellt somit einerseits eine überaus verdienstvolle Gesamtschau des Spaemann’schen Denkens dar, verfehlt aber andererseits den selbst gesetzten Anspruch, 42 die Komplexität der philosophischen Gedankengänge Spaemanns nachzuzeichnen. Die Verbindung von Naturteleologie und Personalität, die hier als Schlüssel zum Verständnis seines Werks herausgestellt wurde, wird von Zaborowski zwar erfasst, jedoch im Wesentlichen theologisch interpretiert, so dass die philosophische Deutung der Kohärenz dieses Denkens in den Hintergrund tritt.
Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 569–570. 38 Vgl. Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 12, 40– 41, 61, 228–229, 243, 250–252. 39 Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 557, u. Fn. 137. 40 Vgl. Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 86, u. Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 251. 41 Vgl.: »Being is ›unpreconceivable‹, it is, in Schelling’s view, freely created.« – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 228. 42 Vgl. Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 18. 37
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10.2 Rolf Schönberger: »Das Sein des Sinnes«
10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen Rolf Schönberger liefert in seinem Essay »Das Sein des Sinnes« einen freien Gang durch Spaemanns Gedankenwelt mit einer hohen argumentativen Dichte auf engem Raum, der im Folgenden kurz nachgezeichnet werden soll. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Begriff des Sinns, der im Zeichen des neuzeitlichen Subjekt-ObjektDualismus dem Begriff des Seins gegenübertritt und zu der Frage führt, ob Sinn im Sein vorgefunden oder umgekehrt in dieses hineingelegt wird. Um Spaemanns Position deutlicher konturieren zu können, skizziert Schönberger zunächst die Positionen anderer, ihm vorangegangener Denker: »Es scheinen im Falle des in Frage stehenden Zusammenhangs von Sein und Sinn vier Gestalten in Frage zu kommen: Martin Heidegger, Nicolai Hartmann, Karl Jaspers und schließlich Alfred North Whitehead.« 1 Heidegger und Hartmann werden von Schönberger als die Antipoden gekennzeichnet, als die schon Spaemann sie in einem Vortrag 1957 dargestellt hatte: 2 Ist bei Heidegger der Sinn einzig auf das Verständliche bezogen, wird er bei Hartmann umgekehrt unabhängig von Verständlichkeit auf bestimmte Qualitäten der Erfahrung beschränkt. Aber wie hängt beides zusammen? Das lässt sich naturgemäß nicht von einer dieser Beschränkungen aus verständlich machen. Wenn diese Disparatheit also überwunden werden muss, dann scheint man den Sinn mit dem Sein in Verbindung bringen zu müssen. Der Sinn von Sein und das Sein des Sinnes müssen, so scheint es, zur Einheit gebracht werden. 3
Jaspers und Whitehead haben beide auf ganz unterschiedliche Weise einen solchen Versuch unternommen, wobei, verkürzt gesprochen, jener eine allzu allgemeine, dieser hingegen eine allzu konkrete Version dieser Einheit vorschlägt. 4 Vor diesem Hintergrund beginnt Schönberger, Das Sein des Sinnes, 15–16. S. Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81–113, bes. 87–97, u. Teilkapitel 3.1, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte, 97– 101. 3 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 23. 4 Vgl. ebd. 24–28. – S. auch zu Jaspers: Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2009), 214–232, u. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem: 1 2
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10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen
Schönberger die konkrete Untersuchung von Spaemanns Denken, die bei der Idee der Teleologie ansetzt und zunächst zur Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur führt: Der Mensch ist Teil der Natur. Daher kann er ein angemessenes Selbstverständnis nicht unabhängig von einem adäquaten Verständnis der Natur erreichen. Es stellt sich allerdings dann natürlich die Frage, was Natur heißt, aber da dies nichts anderes heißt als zu fragen, wie man Natur verstehen muss, führt dies am Ende auf die beiden Fragen, was Verstehen überhaupt heißt und was der Mensch ist, zu dessen Sein es gehört, von sich und seiner Welt ein Verständnis zu haben. 5
Um den mit diesem Fragenbündel aufgefächerten Problemhorizont angehen zu können, wendet Schönberger sich der Frage nach der Naturteleologie als möglicher Verbindung zwischen Mensch und Natur zu. Zur »Begründung der Teleologie« 6 führt er mit Verweis auf verschiedene Schriften Spaemanns vier Argumente an: a) die hartnäckige Zielverfolgung von Lebewesen, b) das finalistische Moment in Begriffen wie Bewegung oder Kausalität, c) das von der Naturwissenschaft per definitionem ausgeblendete Selbstsein und d) die innere Widersprüchlichkeit materialistischer Theorien. Argument c) kommt in dieser Aufzählung besondere Bedeutung zu, insofern hier Selbstsein wesentlich in der Lebendigkeit fundiert und diese ausdrücklich als ein Jenseits des Begriffs qualifiziert wird: Die Zweckausrichtung lebendiger Wesen wird nicht bloß als allgemeines Strukturmerkmal gefasst. Das ist zwar möglich und sinnvoll, aber betrifft nur das eine Moment im Begriff des Lebens, nämlich das strukturelle. Diese Bestimmungen sind wie alle prädikativen Bestimmungen indifferent gegenüber der Alternative wirklich oder unwirklich. Im Begriff des Lebens kann aber davon nicht vollständig abgesehen werden. Denn zum Lebendigsein gehören nicht nur Funktionen, sondern ebenso und nicht weniger elementar das Funktionieren. Wenn dies aber nur als das Funktionieren konkreter Wesen vorkommen kann und offenkundig eben nicht als allgemeines Lebendigsein, dann wird die Bedeutung dieser Wirklichkeit für die Teleologie wohl einsichtig. 7 Wissen und Glaube, 704–727, u. zu Whitehead: Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt verstehen? (1983), 171–188, u. Abschnitt 6.1.5, Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen, 361–371. 5 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 31. 6 Ebd. 37–42. 7 Ebd. 40.
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Der sich hier andeutende analoge Begriff des Lebens wird im Folgenden im Übergang zur »Verständigung über die Formen des Verstehens« 8 vertieft. Leben ist, so führt Schönberger aus, »nach Aristoteles ein Begriff wie viele andere, nämlich wie viele andere Grundbegriffe unseres Denkens, von denen gilt, dass sie vielfältig ausgesagt werden« 9. Dass die Natur als ›unseresgleichen‹ zu verstehen ist, kann nicht über eine begriffliche »Verknüpfung von Gemeinsamkeit und Unterschied« 10 plausibel gemacht werden, sondern nur im »Ausgang von der Selbsterfahrung«, die »die Möglichkeitsbedingung für das Verstehen überhaupt« 11 ist: »Welt- und Selbstverständnis sind deshalb keine äquivoken Weisen von Verstehen, weil der Mensch sich nicht einzig aus dem Gegensatz zur Welt verstehen kann.« 12 Die beiden Seiten des Seins und des Sinns werden somit vermittelt durch den analogen Begriff des Lebens: »Man kann nur, so seine These, Sein und Denken als ein Verhältnis der Analogie denken, wenn der Lebensbegriff dies vermittelt.« 13 An dieser Stelle gelangt Schönberger nun zum entscheidenden Problem seiner Spaemann-Deutung, insofern die Vernunft aus dem angedeuteten analogen Verhältnis auszubrechen scheint: Aber damit ist eben der Gedanke noch nicht zu seiner vollständigen Gestalt gebracht. Er liegt vielleicht sogar auf des Messers Schneide, denn Spaemann denkt ja auf der anderen Seite Leben als Zentriertsein, das Lebendige als Mittelpunkt seiner Welt, wohingegen die Vernunft gerade dieses Zentriertsein überwindet dadurch, dass der andere als einer wahrgenommen bzw. anerkannt wird, der seinerseits eine Umwelt hat, zu der ich gehöre. Darin liegt offenkundig eine Schwierigkeit, denn es scheint sich entweder eine solche Gradualität des Seins denken zu lassen oder ein Gegensatz. Was sich gegensätzlich verhält, kann keine analog verfasste Stufe sein: Analogie oder Gegensatz. 14
Um dieses Problem lösen zu können, versucht Schönberger die Spannung zwischen Vernunft und Leben konkret zu fassen, indem er mit Bezug auf Ausführungen Spaemanns aus »Personen« darlegt, dass
Schönberger, Das Sein des Sinnes, 42. Ebd. 44. 10 Ebd. 45. 11 Ebd. 46. 12 Ebd. 47. 13 Ebd. 49. 14 Ebd. 50. 8 9
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10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen
Lebewesen zwar in ihrer Umgebung Bedeutsamkeiten stiften, es mit ihnen selbst aber keine Bewandtnis hat. 15 Gegen den daraus resultierenden drohenden Bedeutungsverlust der lebendigen Person, die sich eben dieser Tatsache bewusst wird, führt Schönberger nun den Gedanken des Selbstseins an: Aber der Verdacht, mit der Rückgewinnung der Bedeutsamkeit auf der Ebene der lebendigen Wirklichkeit sei diese ihrer Relativität wegen auch schon wieder verloren, kann sich nur sozusagen auf den halben Gedanken beziehen. Denn der entscheidende und zentrale Spaemann’sche Begriff des Lebendigen war ja der des Selbstseins. Man kann also nicht diese in gewissem Sinne absolute Größe wieder aufgeben, wenn man die Relativität der Bedeutung einräumt. Darin ist gerade keine bloße Bezüglichkeit gedacht, sie wird vielmehr gerade negiert. 16
Indem die lebendige Person zu dem Bewusstsein gelangt, in dem ihre aus der Lebendigkeit herrührende Bedeutung sich relativiert, eröffnet sich nach Schönberger eine »umfassendere[…] Perspektive«, in der ein »Bezug […] auf das Ganze« 17 hergestellt wird. An dieser Stelle sieht er jedoch die Grenze des theoretischen Denkens überschritten: »Der Sinn des Ganzen wird daher nicht positiv begründet, sondern im Begriff der Handlung selbst vorausgesetzt« 18. Im Sinne dieser Überschreitung des theoretischen Denkens spricht Schönberger im Abschlusskapitel seines Essays mit Verweis auf ähnlich lautende Zitate Spaemanns aus jüngeren Aufsätzen 19 davon, dass »Personalität und Natur im Schöpfungsbegriff« 20 versöhnt werden und gelangt zu folgendem Schlusswort: »Gerade im Selbstsein liegt es ja selbst, dass es erst in einem nicht mehr rein theoretischen Akt zugänglich wird. Dies ist der Akt der Anerkennung.« 21
Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 52–53, u. Spaemann, Personen (1996), 128 u. 134–135. 16 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 53. 17 Ebd. 54. 18 Ebd. 55. 19 Vgl. Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 30, u. Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit (2009), 164. 20 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 56. 21 Ebd. 59. 15
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10.2.2 Zur Kritik der Perspektive Schönbergers Schönberger entwirft in seinem Essay mit souveränem philosophischem Überblick den Kontext der Philosophie des 20. Jahrhunderts, in dem er Spaemann ausgehend von der Frage nach dem Sinn von Sein überzeugend verortet. In einer eindringlichen Darstellung entfaltet er die für Spaemanns Philosophieren grundlegenden Fragen, die sich aus dessen Anknüpfung an das teleologische Denken der klassischen Philosophie ergeben. Das zentrale Problem seiner SpaemannDeutung scheint mir an der Stelle erreicht zu sein, an der er versucht, die spezifisch personale Realisierung eines teleologisch verfassten Lebewesens zu denken. Er tut dies in Abschnitt 6 »Sinn und Bedeutung« seines Essays 22 in Anlehnung an die Kapitel »Kontextunabhängigkeit« und »Tod und Futurum exactum« aus Spaemanns »Personen«. Der Gedanke, dass für ein selbstbewusstes Lebewesen Bedeutsamkeit sich relativiert, führt ihn hier über den Begriff des Selbstseins zu einem Bezug auf »das Ganze« 23, in dem die theoretische Perspektive prinzipiell überwunden wird. Mit diesem Argumentationsschritt scheint mir seine Darstellung der Spaemann’schen Gedanken hinter das eigene Niveau bis zu dieser Stelle zurückzufallen. Bemerkenswert ist, was Schönberger hier gerade nicht sagt. Die von ihm zitierte Textstelle aus dem Kapitel »Kontextunabhängigkeit« – »Mit dem Auftreten von Trieb entstehen monadische Zentren des Seins, die nicht primär Träger von Bedeutsamkeiten sind, sondern die selbst Bedeutsamkeit stiften« 24 – hat in Spaemanns Text folgende unmittelbar anschließende Fortsetzung: Ein Begegnendes als Lebendiges wissen heißt, es als Mitseiendes wissen, das nicht in dem aufgeht, was es für mich ist. Solches Wissen setzt allerdings mehr voraus als eigene Lebendigkeit, also Zentralität. Es setzt voraus, daß ein Lebewesen seine eigene Zentralität transzendiert. Das heißt: Personen wissen sich als lebendige Innerlichkeit neben anderer lebendiger Innerlichkeit, die ihrerseits einen eigenen Erfahrungskontext stiftet. 25
22 23 24 25
Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 52–55. Ebd. 55. Ebd. 52. – Quelle des Zitats: Spaemann, Personen (2012), 134. Spaemann, Personen (2012), 134.
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10.2.2 Zur Kritik der Perspektive Schönbergers
Das hier angesprochene natürliche Transzendieren der lebendigen Zentralität, das für Spaemanns Konzeption der Personalität grundlegend ist, wird merkwürdigerweise von Schönberger nicht thematisiert. An der Stelle, an der er den »Gedanken der Relativität der Bedeutung« erreicht, aus der hervorzugehen scheint, dass es »Bedeutung nur für selbst Bedeutungsloses« 26 gibt, liegt der systematische Ort des Übergangs von der Teleologie-Thematik zu Spaemanns spezifischem Konzept der Personalität. Die primär aufschlussreiche Textstelle zu diesem Übergang findet sich bei Spaemann im Kapitel »Wohlwollen« aus »Glück und Wohlwollen«, in dem er zuerst das durch den Anderen vermittelte Hervortreten des Selbst als »bewandtnisloses Um-willen« 27 thematisiert. 28 Dieses Hervortreten ist gleichbedeutend mit dem Erscheinen des Anderen als »Bild des Unbedingten« 29, auf das der im Mittelpunkt von Spaemanns »Versuch über Ethik« stehende Gedanke praktischer Wahrnehmungsevidenz bezogen ist. In dieser Wahrnehmungsevidenz ist auch der Bezug auf »das Ganze der Wirklichkeit« 30 in der Handlung fundiert, auf die Schönberger sich im Anschluss selbst mit Bezug auf »Glück und Wohlwollen« bezieht. 31 Die zuvor zitierten Textstellen aus »Personen« bauen im Kontext dieser beiden Hauptwerke Spaemanns, wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit versucht wurde zu zeigen, auf den genannten Gedanken aus dem Kapitel »Wohlwollen« aus »Glück und Wohlwollen« auf. Erst die Anerkennung des Anderen im Akt der Selbsttranszendenz stiftet den personalen Zusammenhang, der seinerseits nur aus dem teleologischen Denken heraus verständlich ist, insofern Personalität reiner Ausdruck der ontologischen Differenz ist, die sich in allen Phänomenen natürlicher Zweckhaftigkeit bereits ausdrückt. Diese ontologische Differenz, derzufolge wirkliches Leben nur als Akt und nicht als Weise des Seins bzw. des Lebens verstanden werden kann, thematisiert Schönberger, wie oben gesehen, selbst im Rahmen seiner »Begründung der Teleologie«. Das oben bereits hervorgehobene Argument c), das auf diese ontologische Schönberger, Das Sein des Sinnes, 53. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 124. 28 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479. 29 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127. 30 Ebd. 196. 31 Schönberger zitiert eine Textstelle aus dem Kapitel »Handlung und Systemfunktion«. Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 55, u. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 196–197. 26 27
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Differenz zielt, scheint mir aber bei Spaemann ein Gewicht zu haben, dem Schönberger durch die Einbindung in die dortige Aufzählung nicht gerecht werden kann. Systematisch hängt es vielmehr mit der Analogizität von Sein, Leben und Bewusstsein zusammen, die Schönberger im Anschluss in seiner »Verständigung über die Formen des Verstehens« entwickelt hat. Dieser Zusammenhang hätte klarer zur Sprache gebracht werden können durch die Reflexion auf das Verhältnis des personalen Lebens zu der von Schönberger rekonstruierten Naturteleologie. Zusammenfassend ist also zu konstatieren, dass Schönberger in seinem weitgehend überzeugenden Nachvollzug der teleologischen Konzeption Spaemanns bis an die Grenze der Personenphilosophie gelangt. Das Mitsein wird von ihm nur im Sinne des Handlungsbegriffs bzw. einer prinzipiellen Überwindung der theoretischen Einstellung thematisiert. Das für die Philosophie der Begegnung entscheidende Weiterdenken der Teleologie-Konzeption in Richtung personaler Selbsttranszendenz und die daraus sich ergebenden grundlegenden Konstellationen im apriorischen Beziehungsraum der Personen werden von Schönberger nicht reflektiert.
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10.3 Andrzej Kuciński: »Naturrecht in der Gegenwart« 10.3.1 Die Zuspitzung des τέλος auf θεός Die Bezugnahme auf Kucińskis umfangreiche Studie »Naturrecht in der Gegenwart« macht eine intentio obliqua bei ihrer Darstellung im vorliegenden Zusammenhang notwendig. Kucińskis Anliegen ist eine grundlegende Revision der Geschichte des Naturrechtsbegriffs einerseits, der Versuch einer Erneuerung naturrechtlichen Denkens in der Gegenwart andererseits, für dessen Realisierung das philosophische Werk Robert Spaemanns von Kuciński als wesentliche Inspirationsquelle ausgewählt wird. Der erste Teil der Arbeit, der dem Begriff, der Geschichte und der Kritik des Naturrechtsdenkens gewidmet ist, ist hier nicht von Interesse. Die Aufmerksamkeit gilt im Folgenden insbesondere den ersten drei Kapiteln des zweiten Teils seiner Arbeit, 1 in der eine Gesamtbetrachtung der Philosophie Spaemanns unternommen wird als Grundlage der anschließend gestellten Frage nach der möglichen Erneuerung des Naturrechtsdenkens vor dem Hintergrund wesentlicher im Diskurs der Gegenwart präsenter Ethikmodelle. Neben dem für den Autor leitenden Interesse an der Frage des Naturrechts werden in der folgenden Darstellung auch seine Erwägungen zur Ersetzung der Aussagen- durch die Prädikatenlogik 2 ausgeblendet, da sie zur hier interessierenden theoretischen Philosophie Spaemanns nichts beitragen. Die folgende Darstellung orientiert sich somit an den Kapitel 2.1 bis 2.3 der Arbeit Kucińskis unter den Oberbegriffen Naturteleologie, Mensch und Person. Die Thematisierung des für Spaemanns Philosophie grundlegenden teleologischen Denkens in Kapitel 2.1 »Naturteleologische Betrachtung des Lebendigen« 3 fügt Kuciński in einen »noch grundlegenderen Horizont« ein: »den der Unterscheidung von Sein und Schein, von Wirklichkeit und ihrer Simulation« 4, in dem die »SeinsKuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 231–426. Vgl. ebd. Abschnitt 1.5.5, Perspektive für ein konkretisierungsfähiges Naturrecht: ein logisch-theoretischer Paradigmenwechsel?, 220–229, u. Abschnitt 2.5.8, Die Perspektive einer logisch-theoretischen Fortführung des Naturrechtsdenkens, 565–567. 3 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 231–302. 4 Ebd. 231. – Kuciński bezieht sich dabei auf: Spaemann, Wirklichkeit als Anthropo1 2
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frage als metaphysischer Horizont der Deutung von Mensch und Welt« 5 gestellt wird. Im Mittelpunkt dieser vorgelagerten Betrachtung steht Spaemanns Text »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« 6, dessen knappe inhaltliche Rekapitulation Kuciński zu folgendem Fazit kommen lässt: Spaemann kommt auf diese Weise zum Schluss, dass die ihre Wahrheit selbst verbürgende Substanzialität der bloß auf das Denken fixierten Subjektivität vorausgeht, und damit behauptet er auch den Primat einer teleologisch orientierten Ontologie vor der »zum Begriff des Subjektes und des Gegenstandes, nicht zum Begriff des Seins« 7 gelangenden Transzendentalphilosophie. 8
Der »Ort der Erscheinung des Seins« 9 ist die menschliche Person, insofern »die Transzendierung der eigenen Bewusstseinsinhalte in der Gleichursprünglichkeit von Selbsterfahrung und Wahrnehmung des Anderen zustande kommt« 10. Für die menschliche Perspektive gilt demnach, »dass der Begriff des Seins nur durch den Bezug zum Leben gewonnen werden kann und dieses wiederum paradigmatisch im menschlichen Leben als bewusstem Leben erlebt wird« 11. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Explikation der leitenden Fragestellung und des metaphysischen Horizonts der Untersuchung beginnt Kuciński dann eine im Wesentlichen an der Gedankenentwicklung von »Natürliche Ziele« 12 orientierte Wiedergabe der Grundlagen des teleologischen Denkens, der Geschichte seiner Überwindung und des Spaemann’schen Plädoyers für seine Erneuerung, die eine Rückkehr zum klassischen Lebensbegriff impliziert: »Der Lebensbegriff kehrt somit zurück an die Stelle zwischen Sein und Denken, aus der ihn der neuzeitlich-cartesianische Dualismus zwischen res extensa und morphismus (2000), 188–215 – vgl. Abschnitt 9.3.2, ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich, 727–744 – und unterstreicht die fundamentale Bedeutung der Unterscheidung zwischen Wirklichem und Unwirklichem für den philosophischen Ansatz Spaemanns. – Ebd. 232–233. 5 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 232. 6 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 27–49. – Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331. 7 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44. 8 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 236. 9 Ebd. 238. – Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137. 10 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 237. 11 Ebd. 238. 12 Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005).
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10.3.1 Die Zuspitzung des τέλος auf θεός
res cogitans verdrängt hat.« 13 Den Hinweis Spaemanns und Löws auf die konstitutive Bedeutung des »Unbedingten« für die »teleologische Deutung« 14 der Phänomene bezeichnet Kuciński als eine in die Ontologie eingebaute »Sicherung« 15, durch die in einer erneuerten Teleologie eine »religionsphilosophische Entscheidung zugunsten der absoluten Begründungsinstanz« 16 falle. Im Mittelpunkt des Kapitels 2.2 »Anthropologische Grundlage des Naturrechts: die Teleologie der menschlichen Natur« 17 steht der Naturbegriff einerseits in einer geschichtlichen, andererseits in einer ontologischen bzw. metaphysischen Betrachtung. 18 Auf der geschichtlichen Ebene geht es um die im 16. Jahrhundert entstandene Antithese von Natur und Gnade, die in der Folge aufkommende Dialektik des Naturbegriffs und Spaemanns intensive Auseinandersetzung mit Rousseau, wie sie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit detailliert nachgezeichnet wurden. Auf der metaphysischen Ebene stehen der teleologische Naturbegriff Spaemanns und die Frage nach dessen Erneuerbarkeit in der Gegenwart im Mittelpunkt. Das Schlüsselzitat aus Spaemanns Essay »Natur« 19, wonach »das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist« 20, kommentiert Kuciński wie folgt: In diesem Konzept kommen die verschiedenen Gebrauchsweisen des Naturbegriffs durch Spaemann zur Sprache: Die menschliche Natur ist die spezifische Form des Menschen, Naturwesen zu sein. Und im Menschen überschreitet sich die Natur auf ein Mehr hin, verstanden als μέθεξις, Teilhabe am Göttlichen, wobei diese ihre Eigenschaft aristotelisch-thomanisch in der teleologischen Verfassung aller Naturwesen grundgelegt ist. 21
Stark akzentuiert Kuciński somit in seiner Betrachtung des Naturbegriffs die theologische Deutung der Teleologie: »Die Zuspitzung des τέλος auf θεός ist für Spaemann die letzte Bedingung einer sinnvollen Naturteleologie überhaupt.« 22 Von diesem theologisch kon13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 299. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 242. Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 280. Ebd. 302. Ebd. 303–341. Vgl. Kapitel 5, Die Spur des Absoluten in der Natur, 185–318. Spaemann, Natur (1973), 19–40. Ebd. 32–33. Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 312. Ebd.
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
notierten Naturbegriff gelangt Kuciński zum »Sprung der Vernunft« 23, der zum amor benevolentiae führt, und zum »metaphysischen Realismus mit seiner in die Äußerlichkeit übergehenden Innerlichkeit von zielbestimmten, lebendigen Wesen« 24. Entscheidend für seine Deutung des Naturbegriffs im Allgemeinen und des Begriffs der menschlichen Natur im Besonderen ist dabei der christliche Bezug: Erstrebt man also konkrete Hinweise auf die inhaltliche Füllung der menschlichen Natur, so ist man durch Spaemann auf das Gewicht religiöser Weltbetrachtung verwiesen, insbesondere auf das Christentum als die von ihm bevorzugte Religion, die verschiedene Dimensionen des Humanum integriert. Das setzt jedoch voraus, dass sich das Christentum nicht wie eine beliebige Weltanschauung unter anderen relativiert. 25
Der »Verpflichtungscharakter der menschlichen Natur« lässt sich, so Kuciński, ontologisch nur durch die Existenz »eines göttlichen Gesetzgebers« begründen, »der hinter der Natur steht und auf den sie zurückzuführen ist« 26. Kapitel 2.3 »Personendenken als Affirmation des Menschlichen« 27 beginnt Kuciński mit dem programmatischen Satz: »Das Personendenken Spaemanns ist ein Konvergenzpunkt seiner ontologischen, anthropologischen und ethischen Überlegungen, die man auf den folgenden gemeinsamen Nenner bringen könnte: Aufwertung des Humanum unter Hervorhebung seiner Besonderheit.« 28 Nach Kuciński geht Spaemanns Personenbegriff aus der zuvor betrachteten Teleologie des Lebendigen und der menschlichen Natur hervor. Spaemann binde daher mit seiner Personenphilosophie »die Anthropologie an die Metaphysik zurück, wenn er behauptet, dass die Trias Körper – Seele – Geist dem klassischen Zusammenhang von Sein – Leben – Bewusstsein entspricht« 29. In Bezug auf die theoretische Philosophie Spaemanns ist an dieser Stelle nach dem genauen Profil der Besonderheit zu fragen, die die Person aus der Natur heraushebt.
23 24 25 26 27 28 29
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 319. Ebd. Ebd. 332. Ebd. 335. Ebd. 342–426. Ebd. 342. Ebd. 366.
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10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis
Diese »differentia specifica des Menschen als Person« 30 fasst Kuciński folgendermaßen zusammen: Die Besonderheit der Personen liegt darin, dass sie auf eine andere Art und Weise sind, was sie sind, als andere Wesen sind, was sie sind – sie sind nämlich mit ihrem Sosein nicht identisch. Aus der Einmaligkeit und Einzigkeit der Person ergibt sich ihre Bezeichnung als nomen dignitatis, der die Unantastbarkeit impliziert. Personen sind nicht instantane Realisierungsformen des Allgemeinen, sondern das Allgemeine selbst. Die Besonderheit der Person liegt außerdem darin, dass sie sich zu ihrer Natur verhalten und sie ggf. verneinen kann, obwohl ihre Selbstrealisierung nur innerhalb der Grenzen der Natur möglich ist. 31
Seine aus der Naturteleologie hergeleitete Bestimmung des Unterscheidungsmerkmals der Person relativiert er, indem er eine »nichtreligiöse Begründung« 32 von Personalität im Sinne der theologischen Dimension der Teleologie ausdrücklich ausschließt. Darin erblickt er jedoch keine Schwäche der philosophischen Konzeption Spaemanns, da dieser »den philosophischen Bezug auf das Unbedingte zur Erklärung des Personengeheimnisses nicht exklusiv, sondern inklusiv betrachtet, sprich einen philosophischen Weg einschlägt, den er auch einem Konfessionslosen zuzumuten scheint« 33. Spaemann argumentiert somit nach Kuciński philosophisch im Hinblick auf Phänomene, deren nichtreligiöse Interpretation selbstwidersprüchlich wäre.
10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis Kucińskis Darstellung des Spaemann’schen Denkens zeugt von einer großen Vertrautheit mit dessen Schriften und besticht durch ihre Gründlichkeit in dem Versuch, diese im Sinne einer einheitlichen Lesart zu ordnen und auszuwerten. Allerdings ist diese einheitliche Lesart sehr deutlich von einem religiösen Geist durchdrungen und es ist kritisch nach der Angemessenheit dieser Lesart in Bezug auf ihren Gegenstand zu fragen. Kuciński spricht mit Bezug auf das Denken Spaemanns von einer »Theologisierung der Philosophie« 34, ohne die 30 31 32 33 34
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 357. Ebd. 424. Ebd. 417. Ebd. 418. Ebd. 421.
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
Frage zu reflektieren, ob diese Sicht der Eigenart von Spaemanns Denken oder einer konkreten Deutung zuzuschreiben ist, für die Kucińskis Arbeit selbst als Beispiel stehen kann. Die Frage nach der Angemessenheit von Kucińskis Deutung im Hinblick auf das Werk Spaemanns, die nicht gleichbedeutend ist mit der nach der hier nicht in Abrede gestellten inneren Kohärenz seiner Ausführungen, kann durch eine allgemeine und zwei konkrete Beobachtungen beantwortet werden. Die allgemeine Beobachtung besteht darin, dass Kuciński wesentliche Aspekte von Spaemanns Denken ausblendet und regelmäßig die philosophische Durchdringung der Zusammenhänge durch ein Ausweichen auf theologische Positionen ersetzt. Wie etwa lässt sich in Bezug auf die Teleologie-Thematik die durchaus sehr kritische Betrachtung der Theologisierung der Teleologie bei Thomas von Aquin durch Spaemann und Löw 35 mit der von Kuciński konstatierten »religionsphilosophischen Entscheidung zugunsten der absoluten Begründungsinstanz« 36 vereinbaren? In der Sache jedenfalls geht es den Autoren von »Natürliche Ziele« um nicht eliminitavistisch reduzierbare Phänomene der lebendigen Natur, in Bezug auf die sie die in der Geschichte der Philosophie hervorgebrachten Deutungsversuche rekapitulieren, wobei die theologische Deutung durch ihre innere Tendenz zur Selbstliquidierung von ihnen zumindest als problematisch gekennzeichnet wird. Wie lässt sich weiter Spaemanns dezidiert naturphilosophische Deutung der Person als ›Haben einer Natur‹ mit Kucińskis Lesart verbinden, wonach vor uns das »religionsphilosophische Plädoyer Spaemanns für die Annahme eines […] absoluten Wesens« liege, das »die Personalität im Sinne der Geschöpflichkeit samt der Normativität der menschlichen Natur begründet« 37? Wie in Abschnitt 8.5.2 des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, 38 führen zwar praktische Fragen der Lebensführung von Personen nach Spaemann zwangsläufig in den Bereich der Religion, im Bereich der theoretischen Überlegungen dagegen entwickelt Spaemann eine genuin philosophische Argumentation, die mit dem Begriff der Person an die Grenze des Denkbaren gelangt. Diese sehr Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam, 234–241. 36 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 302. 37 Ebd. 426. 38 Vgl. Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion, 643– 650. 35
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10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis
klare und für Spaemanns Intentionen nach meinem Dafürhalten wesentliche Unterscheidung wird durch Kucińskis Deutung eingeebnet. Die Kehrseite seines Ausweichens auf theologische Positionen besteht darin, dass Kuciński im Rahmen seiner genuin philosophischen Argumentationen wesentliche Zusammenhänge von Spaemanns Denken verkennt oder so verkürzt, dass sie nur wiederum durch eine theologische Stützung denkbar sind, was nun an zwei Beispielen gezeigt werden soll. Im Abschnitt 2.1.1 »Die Seinsfrage als metaphysischer Horizont der Deutung von Mensch und Welt« 39 versucht Kuciński auf wenigen Seiten zu erläutern, wie Spaemann von der ›Seinsfrage‹ zur Person als ›Paradigma des Seins‹ gelange. Es geht um die mit dem ›metaphysischen Realismus‹ verbundene Frage, wie der aristotelische Substanzbegriff neuzeitlich aktualisiert bzw. wie ein Jenseits des Begriffs gedacht werden kann. Um diese Verbindung von »Denken und Sein« 40 zu zeigen, bezieht Kuciński sich auf Spaemanns Untersuchung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹, wobei er sich allerdings nur auf die Überlegungen aus »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹«, nicht auf die wesentliche Differenzierung der Deutung dieses Schrittes im Descartes-Essay aus dem Jahre 1987 bezieht. 41 Die Bedeutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ versteht Kuciński nun so, dass »das Bewusstsein, das ›Ich denke‹ sagt, […] das Maß seiner Wahrheit nicht an dem absoluten Bewusstsein des Genius malignus, sondern in sich selbst« 42 findet. Damit ist nach Kuciński die »ihre Wahrheit selbst verbürgende Substanzialität« 43 der Person freigelegt, die in einem »Akt der Anerkennung« 44 von anderen wahrgenommen wird. Völlig unklar bleibt in diesem Argumentationsgang, wie aus der solipsistischen cartesischen Reflexion zu einer Pluralität von Personen zu gelangen ist, wie die Position des absoluten Bewusstseins von anderen Lebewesen eingenommen werden kann. In der ausführlichen Analyse des besagten Schrittes in der vorliegenden Arbeit 45 wurde gezeigt, dass Descartes Vgl. Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 232–238, u. Abschnitt 10.3.1, Die Zuspitzung des τέλος auf θεός, 775–779. 40 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 235. 41 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383. 42 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 235. 43 Ebd. 236. 44 Ebd. 235. 45 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383. 39
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zwar durch eine »Theologisierung der Ontologie« die Dialektik zum Stehen bringen und die res cogitans als Substanz der cogitationes denken kann, dass zum Gedanken der »Anerkennung eines fremden Vernunftwesens« 46 aber nur eine sich bewusst von Descartes distanzierende metaphysisch-analoge Interpretation dieses Schrittes führen kann. 47 Da Kuciński diesen Zusammenhang nicht sieht, ist er folgerichtig in seiner Deutung des Schrittes vom Denken zum Sein zu eben jener Theologisierung der Ontologie gezwungen: »Der Primat des Seins mündet bei Spaemann in seine Letztbegründung im Gottesgedanken.« 48 Damit ist aber die philosophische Antwort Spaemanns auf die Seinsfrage ausgeblendet. Ausgehend von dem für Spaemann zentralen Gedanken einer »metaphysischen Trias Sein – Leben – Bewusstsein« 49, die als analoge Begriffe im Sinne einer Stufenfolge zu denken sind, betont Kuciński: »Das Sein der Personen ist das Leben.« 50 Von zentraler Bedeutung für eine Ontologie der Person ist, wie oben gesehen, 51 die Frage, wie Personsein als Steigerung des Lebendigseins gefasst werden kann, ohne dass diese Steigerung als prädikative Erweiterung des Lebensbegriffs verstanden wird. Kucińskis Antwort auf diese Frage hebt nach meinem Dafürhalten die philosophische Kohärenz von Spaemanns Ontologie der Person auf. Mit Bezug auf ein Zitat aus »Personen« schreibt Kuciński: »Person wäre dann jemand, der das, was er ist, auf andere Weise ist, als andere Dinge oder Lebewesen sind, was sie sind.« 52 In diesem Sinne ist der Mensch Person, weil sein Verhältnis zu seinem Menschsein anders ist als z. B. das Verhältnis des Hundes zu seinem Hundsein: Der Mensch hört auf zu existieren, wenn er stirbt und er verändert sich Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 132. – Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 393. 47 Mit verantwortlich für die meines Erachtens nicht haltbare Deutung des Zusammenhangs bei Spaemann durch Kuciński scheint mir zu sein, dass er den später entstandenen Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« hier nicht berücksichtigt, der die in dem früheren Text Spaemanns angedeuteten Zusammenhänge erst zu voller Klarheit gebracht hat. 48 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 236. 49 Ebd. 424. 50 Ebd. 423. 51 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 585–588. 52 Spaemann, Personen (1996), 15. 46
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10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis
nicht bloß in eine nächste Gestalt des einzigen Substrats, das solchen Wandlungen zugrunde liegt. Denn er ist nicht unmittelbare Realisierung eines Artbegriffs wie der Hund. 53
Dass der Hund, wenn er stirbt, sich demnach nur verändert in eine andere Gestalt des Substrats, widerspricht ausdrücklich dem aristotelischen Gedanken, um den es Spaemann geht. Auf derselben Seite von »Personen«, aus der Kuciński hier zitiert, heißt es über den Hund weiter: »Wenn er nicht bellt, fährt er doch fort zu existieren. In dem Augenblick aber, in dem er aufhört, ein Hund zu sein, sagen wir, er ist nicht mehr.« 54 Auch der Hund hört also auf zu existieren, wenn er stirbt, auch wenn er im Unterschied zum Menschen eine unmittelbare Instantiierung seines Artbegriffs ist. Eine falsche Aussage enthält daher auch die unmittelbare Fortsetzung der hier zitierten Textstelle bei Kuciński: »Die menschliche Identität hat also die Besonderheit, dass der Mensch nicht mit seinem Sosein identisch ist.« 55 Diese Nicht-Identität mit seinem Sosein aber gilt erklärtermaßen auch für den Hund. Spaemanns Antwort auf die Frage, »ob Leben zum Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses Soseins meint«, die »über die Wahrheit des Satzes, Leben sei das Sein der Person« 56, entscheidet, ist eindeutig: »Leben als solches kann nicht sein oder nicht sein. Es ist Sein.« 57 Wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, lässt sich der Gedanke der Analogizität von Sein, Leben und Person und damit die genuin philosophische Fundierung des Personbegriffs nur aufrechterhalten, wenn Leben auf die Seite des Existierens gehört. 58 Der Unterschied zwischen dem Menschsein und dem Hundsein liegt nach Spaemann vielmehr darin begründet, dass wir das Verhältnis des Menschen zu seinem Menschsein anders denken als das Verhältnis des Hundes zum Hundsein. Wir denken hier ein Verhältnis, also eine innere Differenz, die wir in den anderen Fällen Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 356–357. Spaemann, Personen (1996), 15. 55 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 357. – Vgl. auch: »Die Besonderheit der Personen liegt darin, dass sie auf eine andere Art und Weise sind, was sie sind, als andere Wesen sind, was sie sind – sie sind nämlich mit ihrem Sosein nicht identisch.« – Ebd. 424. 56 Spaemann, Personen (1996), 80. 57 Ebd. 81. 58 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 590–591. 53 54
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
nicht denken, wo wir ein Individuum als Exemplar einer Art identifizieren. Der Mensch ist offenbar nicht auf die gleiche Weise Mensch, wie der Hund Hund ist, nämlich als unmittelbare Instantiierung seines Artbegriffs. 59
Bei diesem Unterschied geht es aber nicht um Identität oder NichtIdentität mit dem Sosein, sondern um das ›Haben einer Natur‹, über das der Hund nicht verfügt. Dieses spezifische Verhältnis der Person zu ihrer Natur verwechselt Kuciński also mit der ontologischen Differenz von Existenz und Sosein bzw. Wesen, die nach Spaemann zumindest auf alle Lebewesen zu beziehen ist. Die für den Zusammenhang von Teleologie und Personalität bei Spaemann wesentliche Auffassung des Lebens als Existenz wird somit von Kuciński nicht erfasst. Die Reservierung der ontologischen Differenz für die Person lässt so einmal mehr die Frage aufkommen, wie die philosophischen Elemente seiner Argumentation Bestand haben sollten ohne den theologischen Rahmen, der ihre Defizite überdeckt. Mit diesem Rahmen aber steht und fällt Kucińskis Spaemann-Deutung, die wesentlich in einer Theologisierung seiner philosophischen Positionen besteht. Festzustehen scheint mir zumindest soviel, dass, wenn Kucińskis stark theologisch orientierte Lesart als dem Werk Spaemanns vollauf angemessen bezeichnet werden müsste, Spaemanns Denken folgerichtigerweise im philosophischen Diskurs auch in Zukunft keine sehr bedeutende Rolle spielen dürfte. Aus dieser Lesart würde nämlich – ungeachtet der zitierten Absicht Kucińskis, sie auch den Konfessionslosen zumuten zu wollen – eine klare Vorentscheidung sprechen, durch die dieses Denken sich zumindest in einem Randbereich des philosophischen Diskurses verorten lassen würde. Da Spaemann selbst aber in seinen Texten sehr klar unterschieden hat zwischen genuin philosophischen Argumentationen und religiösen Erwägungen, 60 scheint es mir im Sinne dieser philosophischen Argumentationen selbst geboten, gegen seine theologische Vereinnahmung philosophisch zu argumentieren. Spaemann, Personen (1996), 16. Vgl.: »Bei all seinen Äußerungen bleibt Spaemann dem Grundsatz treu, betont sachlich zu argumentieren und den Pfad der Dominanz des philosophischen Arguments nicht zu verlassen. Zum Ausgangspunkt seines Denkens nimmt Spaemann an keiner Stelle den betont ›gläubigen‹ Menschen, sondern den ›Freund der Weisheit‹, der das vernunftgeleitete Argument in den Vordergrund stellt.« – Breuer, Moraltheologie im Lichte der Philosophie Robert Spaemanns, 214.
59 60
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Der Begriff der Person kann als ein Schlüsselbegriff der Gegenwartsphilosophie bezeichnet werden. Ausgehend von ihm eröffnet sich die Möglichkeit, die Stellung Spaemanns im philosophischen Diskurs der Gegenwart zu untersuchen, da in den Diskussionen um den Personbegriff zugleich zentrale Themenfelder seines Denkens berührt werden. Michael Quante nennt »exemplarisch vier große Bereiche«, in denen die Person eine bedeutende Rolle spielt: – – – –
das Leib-Seele- oder Körper-Geist-Problem, das Freiheitsproblem, das Problem des Selbstbewusstseins, das Problem der Begründung der Ethik. 1
»Der Begriff der Person«, so Quante, »lässt sich als eine Art Knotenpunkt ansehen, in dem sich diese vier klassischen Fragen der Philosophie – neben einigen anderen – berühren und durchdringen.« 2 In nicht geringem Maß bezeichnen diese vier Fragen aber auch die Programmatik des Spaemann’schen Philosophierens. Der Einheitspunkt eines Denkens, das, wie bereits in der Einleitung zum zweiten Teil dieser Arbeit betont wurde, 3 das Erinnern an das Gewordensein von philosophischen Gedanken 4 als seine Aufgabe begreift, kann um so mehr mit dem Begriff der Person benannt werden, als in ihm, wie Dieter Sturma bemerkt, ein Kristallisationspunkt der neuzeitlichen Philosophie gesehen werden kann: »Retrospektiv läßt sich in der Geschichte der Philosophie der Neuzeit geradezu von einem Projekt der Philosophie der Person sprechen, an dem oftmals unbemerkt und mit
1 2 3 4
Quante, Person, 5. Ebd. Vgl. die Einleitung zum zweiten Teil, 88–89. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164.
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unterschiedlicher Intensität eine Vielzahl von Philosophen mitgewirkt haben« 5. Die unscharfen Grenzen dieses Projekts der Philosophie sind freilich mit einer Offenheit des mit dem Begriff der Person eröffneten Fragehorizontes verbunden. Denn die »Entdeckung der Person begann«, wie Theo Kobusch bemerkt, »zu bestimmter Zeit, aber sie ist noch nicht abgeschlossen« 6. Personale Identität, auf die wir uns im Alltag wie selbstverständlich berufen, entpuppt sich, sobald das philosophische Nachdenken sich ernsthaft auf sie einlässt, als ein Schlüsselproblem, das die Gegenwartsphilosophie, wie mit Verweis auf Derek Parfit gezeigt werden kann, in ein Dilemma führt: Entweder, so argumentiert Parfit, hält man an der Voraussetzung fest, daß für jede gegenwärtige Person A und jede zukünftige Person B entscheidbar sein muß, ob B dieselbe Person ist wie A oder eine andere Person, dann muß man sich angesichts der üblichen fiktiven Beispiele allerdings auf die Konsequenz einstellen, Personen als separate Entitäten gegenüber Körpern, Gehirnen und auch Sequenzen psychischer oder physischer Ereignisse aufzufassen, was einem Rückfall in den Cartesianismus gleichkäme; oder aber man entscheidet sich dafür, die personale Identität zurückzuführen auf eine irgendwie ausgezeichnete Form psychischer oder physischer Kontinuität, in diesem Fall jedoch hat man die Konsequenz zu gewärtigen, daß der Begriff der Identität einer Person angesichts extrem gewählter fiktiver Beispiele obsolet wird. 7
Ziel der folgenden vergleichenden Betrachtungen ist es, den im zweiten Teil der Arbeit entwickelten personenphilosophischen Ansatz einer Philosophie der Begegnung in ein Verhältnis zu alternativen Sichtweisen zu setzen. Hierzu wurden drei Arbeiten zur Philosophie der Person ausgewählt, durch die ein breites Spektrum von Positionen berücksichtig werden kann. Bei der ersten Arbeit handelt es sich um die 1993 in erster Auflage veröffentlichte Studie »Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild« 8 von Theo Kobusch, in der eine eindeutig christlich orientierte Sicht des Personbegriffs entSturma, Philosophie der Person, 27. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 11. 7 Vgl. Schütt, Person, in: HWPh VII, col. 321. – Verweis in Anmerkung [15] auf: Parfit: Reasons and persons (Oxford 1984) 199 ff. – Ebd. 322. – Vgl.: Part Three, Personal Identity, in: Parfit, Reasons and Persons, 199–347. 8 Zweite durchgesehene und um ein Nachwort und um Literaturergänzungen erweiterte Auflage 1997. 5 6
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
wickelt wird. 9 Kobuschs Arbeit hat einen überwiegend philosophiehistorischen Schwerpunkt. Ausgehend von der scholastischen Philosophie des 13. Jahrhunderts zeichnet er den Prozess der Entdeckung über die Jahrhunderte hinweg nach. Indirekt ergeben sich aus dieser genealogischen Untersuchung durchaus auch Ansätze zu einer substantiellen Bestimmung des Personbegriffs, die eine vergleichende Analyse mit Spaemanns Ontologie der Person und eine kritische Würdigung erlauben (11.1). Da die aktuelle Diskussion um den Personbegriff von Vertretern der analytischen Philosophie insbesondere aus dem angelsächsischen Sprachraum beherrscht wird, wurden zwei weitere Arbeiten ausgewählt, die diesen Bereich explizit berücksichtigen bzw. sogar zu ihrem Schwerpunkt machen. Zum einen handelt es sich dabei um Dieter Sturmas 1997 in erster Auflage erschienene »Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität« 10. Sturma geht es in seiner Studie um die systematische Freilegung eines nichtreduktionistischen, gleichwohl naturalistischen Personbegriffs, den er in der Auseinandersetzung mit den wesentlichen philosophiehistorisch bedeutsamen Konzeptionen insbesondere Lockes und Kants und den neueren Positionen der analytischen Philosophie entwickelt. Dabei entwirft er ein System von Thesen, das es erlaubt, einen detaillierten Vergleich mit Spaemanns Personenontologie durchzuführen und Folgerungen aus dem Vergleich ihrer Argumentationen zu ziehen (11.2). Bei der dritten hier ausgewählten Studie handelt es sich um Michael Quantes 2007 in erster Auflage erschienene Monographie »Person« 11. Wie Sturma verfolgt Quante einen systematischen, bei ihm aber nahezu ausschließlich an der englischsprachigen Literatur orientierten Ansatz, in dem er ausgehend von der Position Lockes und den ihr gegenüber vorgebrachten Einwänden die wesentlichen Erträge der analytischen Philosophie einbezieht, um als Schlussfolgerung ein eigenständiges Konzept der Einheit der menschlichen Person zu entwickeln. Quantes systematische Bearbeitung eines klar definierten Fragenapparates, die hier knapp nachvollzogen werden soll, Zur weiteren Klärung einiger in der »Entdeckung der Person« offen bleibender Zusammenhänge wird darüber hinaus noch auf eine zweite Publikation Kobuschs, die Studie »Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität« aus dem Jahr 2006, Bezug genommen. 10 Zweite unveränderte Auflage 2008. 11 Zweite um ein Vorwort erweiterte Auflage 2012. 9
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bietet anschließend die Grundlage einer vergleichenden Analyse mit dem im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehenden Ansatz (11.3). Das leitende Interesse der folgenden Untersuchungen besteht in der Bestimmung des exakten Ortes, den Spaemanns Ansatz im Spektrum dieser sehr heterogenen Beiträge zur Personenphilosophie einnimmt. Während Kobusch auf Spaemann Bezug nimmt, wird dieser weder in der Studie Sturmas noch in der Quantes auch nur erwähnt. Dennoch – oder vielmehr: gerade deswegen – soll hier der Frage nachgegangen werden, inwiefern bzw. wodurch Spaemann in diesem Spektrum einen Beitrag leistet, der gegenüber den dargestellten konkurrierenden Positionen einen Anspruch auf stärkere Beachtung im philosophischen Diskurs der Gegenwart erheben kann. Die Resultate dieser Untersuchungen werden die Grundlage der abschließenden Betrachtungen im folgenden Kapitel bilden.
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11.1 Theo Kobusch: »Die Entdeckung der Person«
Die Kobuschs Philosophie der Person zugrunde liegende Überzeugung besteht darin, dass es zwei Typen von Metaphysik und dementsprechend zwei verschiedene Metaphysiktraditionen gibt: einerseits die »aristotelische Naturdingontologie« 1, »Metaphysik der Naturdinge« 2 bzw. kurz »Dingmetaphysik« 3 und andererseits die »Metaphysik der Freiheit« 4 bzw. »Metaphysik des inneren Menschen« 5. In der »Einleitung« zur »Entdeckung der Person« kündigt Kobusch an: Die folgenden Ausführungen legen eine bisher verborgene große metaphysische Tradition offen: die Tradition der Metaphysik der Freiheit. Sie lassen sich terminologisch leiten von dem Begriff des »moralischen Seins«, der durch die Jahrhunderte das vom naturhaften Sein und anderen Seinsarten unterschiedene Sein der Freiheit bezeichnet. Die Geschichte dieser Form der Metaphysik, die im 13. Jahrhundert beginnt und alsbald das Geistesleben des Kontinents in Atem hielt, ist die Geschichte der Freiheit des modernen Menschen. 6
Der wesentliche Grund für diese Unterscheidung ist, dass der Mensch als Freiheitswesen mit den Mitteln der traditionellen Metaphysik nicht zu erfassen sei, »daß die den entia moralia eigene Seinsweise nicht im Sinne der traditionellen Substanzontologie nach dem Substanz-Akzidens-Schema begriffen werden kann« 7. Der konkurrierende Typus der Metaphysik muss nach Kobusch also keineswegs als Gegenentwurf konstruiert werden, sondern blickt bereits auf eine Kobusch, Die Entdeckung der Person, 21. Ebd. 13. 3 Ebd. 22. 4 Ebd. 5 Kobusch, Christliche Philosophie, 138. 6 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 19. 7 Ebd. 62. – Vgl. dazu auch: »Die aristotelische Metaphysik ist eine Metaphysik der äußeren Dinge, insofern die allgemeinen ontologischen Strukturen durch eine metaphysische Analyse der Naturdinge aufgedeckt werden. Die Metaphysik nach christlichem Verständnis dagegen ist nicht eine theoretische, allgemeine Seinslehre oder eine abstrakte Gotteslehre, sondern eine Metaphysik des inneren Menschen.« – Kobusch, Christliche Philosophie, 139. – Vgl. ebenso: »In der aristotelischen Metaphysik dreht sich alles um den Gegenstand der Metaphysik, während das Subjekt ganz außerhalb der Betrachtung bleibt. Hier aber haben wir es mit einer Metaphysik des Subjekts zu tun.« – Ebd. 145–146. 1 2
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
reiche Geschichte zurück, in der er aber lange vom traditionellen Typus überlagert war und sich erst im 20. Jahrhundert von seinem Einfluss befreien konnte. Im Folgenden soll zunächst Kobuschs Begriff der ›Dingmetaphysik‹ als Folie seines alternativen Metaphysikbegriffs erläutert werden, wobei auch die angedeuteten Interferenzerscheinungen zwischen beiden Metaphysiktypen und die Stoßrichtung der Metaphysikkritik des 19. und 20. Jahrhunderts thematisiert werden (11.1.1). Anschließend wird in großen Zügen die Geschichte der Metaphysik der Freiheit in Kobuschs Darstellung nachvollzogen. Dabei wird in Bezug auf ihre Vorgeschichte auch Kobuschs spätere Publikation »Christliche Philosophie« 8 berücksichtigt (11.1.2). Im nächsten Schritt wird versucht, aus der genealogischen Analyse Kobuschs Material für eine substantielle inhaltliche Bestimmung der Metaphysik der Freiheit zusammenzutragen (11.1.3), bevor auf dieser Grundlage eine vergleichende Analyse mit der Spaemann’schen Personenphilosophie durchgeführt wird, in der Gemeinsamkeiten beider Denker sowie die wesentlichen Differenzpunkte benannt werden sollen (11.1.4). Abschließend wird versucht, auf der Grundlage des durchgeführten Vergleichs durch eine kritische Würdigung das aus der Perspektive der Philosophie der Begegnung wesentliche Problem der Konzeption Kobuschs zu benennen (11.1.5).
11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit Die von Kobusch als »unzeitgemäß« 9 verurteilte Form der Metaphysik ist keineswegs pauschal mit der antiken Metaphysik gleichzusetzen. Platon wird aus der Kritik ausdrücklich ausgenommen, in »Christliche Philosophie« wird die platonische Philosophie sogar explizit als Grundlegung der Metaphysik der Freiheit bezeichnet. 10 ZuS. 787, Fn. 9. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 13. 10 Vgl.: »Doch es ist nicht diese Ontologie des inneren Menschen, die das Zentrum und eigentümliche Merkmal der christlichen Lehre bildet. Vielmehr ist diese, in der platonischen Philosophie grundgelegt, auch bei vielen Neuplatonikern integrierender Bestandteil einer Theorie vom Menschen. Was jedoch die christliche Philosophie in diesem Zusammenhang über den Platonismus hinausgehend leistet, ist die Erkenntnis vom grundlegenden und umfassenden Charakter der Lehre vom inneren Men8 9
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11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit
rückgewiesen wird allein, und das in aller Schärfe, die aristotelische Metaphysik. Es ist daher für das Verständnis der Position Kobuschs und die kritische Auseinandersetzung mit ihr entscheidend zu verdeutlichen, welchen Begriff der aristotelischen Metaphysik er voraussetzt und auf welche ihrer Aspekte sich seine Kritik konkret richtet. Zunächst sei die diesbezügliche Schlüsselstelle aus der »Entdeckung der Person« zitiert: Die aristotelische Metaphysik ist in Wirklichkeit ja eine Dingontologie, denn ihre Prinzipien sind alle im Hinblick auf die Dinge der Natur gewonnen (Form und Materie, Sein und Wesen usw.). Zudem hat Aristoteles selbst den Gegenstandsbereich der Metaphysik eng begrenzt auf das substantielle Sein, die ihm als solchem zukommenden Bestimmungen und die äußeren und immanenten Prinzipien und Ursachen. Denn ausdrücklich wird das akzidentell Seiende und das sog. veritative Sein, d. h. das Wahrsein oder Falschsein der Sätze (ὂν ὡς ἀληθές), dessen Ort die diskursive Vernunft ist, aus dem Gegenstandsbereich der Metaphysik ausgeklammert. Von beiden Seinsarten, dem akzidentellen wie dem intramentalen veritativen Sein, sagt Aristoteles, sie seien auf die »übrige Gattung des Seienden«, also auf das substantielle Sein zurückführbar und offenbarten nicht eine eigene »Natur des Seienden«. Damit wird der ontologische Eigencharakter des gedachten Seins geleugnet, und die Untersuchung allein auf das »äußere« und selbständige, d. h. das substantielle bzw. das kategorial faßbar Seiende gelenkt. Man kann hinzufügen, daß damit auch das später sog. ens morale, das auf dem menschlichen Willen als seiner Ursache beruht, nicht zum Objektbereich der aristotelischen Metaphysik gehört. Das ergibt sich aus der Bemerkung in der Metaphysik, daß der »Wille nicht ohne das diskursive Denken« sei, denn damit wird zwar nur implizit, aber doch evidentermaßen ausgesagt, daß τὰ κατὰ προαίρεσιν genauso wie das veritative Sein nicht eigentlicher Gegenstand der Metaphysik sein können. Auf diese Weise bleibt das substantielle Sein der Naturdinge als eigentlicher Gegenstand der Metaphysik aristotelischer Prägung übrig. 11
Es geht Kobusch also wesentlich um die aristotelische Metaphysik als Substanzontologie, in der als Substanzen Naturdinge aufgefasst werden. Seine Kritik bezieht sich vor allem darauf, dass Aristoteles gedachtes Sein, womit Kobusch auf menschliche Subjektivität abzielt, schen. Hier wird die Innerlichkeit erstmals als Prinzip gedacht.« – Kobusch, Christliche Philosophie, 69. 11 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 27–28.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
aus dem Gegenstandsbereich seiner Metaphysik ausschließt. In Bezug auf diese Kritik an Aristoteles wäre zu fragen, ob es nicht anachronistisch ist, von Aristoteles einen Subjektbegriff zu verlangen, den er noch nicht haben konnte. Kobusch selbst bemerkt in »Christliche Philosophie« im Hinblick auf die Spezifik des antiken Denkens: »Die Griechen hatten lange Zeit kein Bewußtsein von dem, was wir heute – dabei der Terminologie des Deutschen Idealismus folgend – das endliche Bewußtsein als den Inbegriff aller intellektiven und affektiven Tätigkeiten nennen, die als das Subjektive einer objektiven Wirklichkeit gegenüberstehen.« 12 Auf diese Vorreflexivität und die hier zu Tage tretende Problematik der Bezugnahme Kobuschs auf Aristoteles wird im Abschnitt 11.1.4 im Zusammenhang mit Spaemann zurückzukommen sein. Zunächst ist festzuhalten, dass es in Kobuschs Verständnis diese aristotelische Dingmetaphysik ist, die der gesamten neuzeitlichen Metaphysikkritik – etwa in der Variante Nietzsches – zugrunde liegt: Metaphysik – das ist der Glaube an eine »Hinterwelt«, das Beharren auf einem absoluten Standpunkt, es ist die Denkart, die das Unbedingte, Eine, Gewisse, Seiende und Gott, den »vernichtendsten und lebensfeindlichsten aller Gedanken« bejaht, die vom Ding, der Substanz, dem Individuum, dem Ich als einem fundamentum inconcussum ausgeht und dabei einen großen Glauben an die Grammatik bezeugt. 13
Die neuzeitliche Metaphysikkritik ist nach Kobusch insoweit berechtigt, als sie sich auf die aristotelische Form der Metaphysik bezieht, die bis zu Nietzsche und noch über ihn hinaus vorherrschend geblieben ist. Die Persondefinitionen des Boethius und Richards von St. Viktor 14 stehen nach Kobusch ebenso in dieser Tradition wie das Kobusch, Christliche Philosophie, 72. – Kobusch legt hier dar, dass den Griechen ein »Begriff für das spezifisch menschliche, das heißt das endliche Bewußtsein« fehlte, und betrachtet den Unterschied zwischen den bei ihnen vorhandenen Begriffen und diesem Bewusstsein: »Hier aber soll die Rede sein von dem der Wirklichkeit gegenüberstehenden, spezifisch menschlichen Bewusstsein. Die Stoiker haben dafür den Terminus ›Epinoia‹ geprägt.« – Ebd. 13 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 12. 14 Vgl.: »Auch die berühmte Persondefinition des Boethius: Persona est naturae rationabilis individua substantia, ist nur unter der Voraussetzung der so verstandenen aristotelischen Ontologie zu verstehen. Bei Boethius […] wird Person ontologisch und metaphysisch wie ein Naturding angesehen und behandelt. Aber auch die Bestimmung des Richard von St. Viktor erscheint in ihrer Einseitigkeit, indem sie der logischen Ordnung allein zuzugehören scheint.« – Ebd. 28. 12
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11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit
scholastische Verständnis der Gnade als Akzidens 15 und Hegels Lehre vom sittlichen Sein als intersubjektive Realität. 16 Mit ihrer Abhängigkeit von aristotelischen Denkweisen hat sich nach Kobusch die Philosophie selbst den Weg zu einer Metaphysik der Freiheit verstellt, obwohl eine alternative Form der Metaphysik seit dem 13. Jahrhundert gegeben war: Das intramentale objektive Sein einer Sache aber ist nach der ausdrücklichen Festlegung Wilhelms von Ockham ein »extrapraedicamentale«, das heißt es ist ein außerhalb der aristotelischen Kategorienordnung Liegendes. Das zeigt einmal mehr, was die aristotelische Metaphysik in Wahrheit ist: eine Dingmetaphysik, deren Kategorien für das Sein des Geistigen nicht hinreichen. Deswegen mußte Augustinus auf den Plan treten. 17
Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der aristotelischen Metaphysik und ihrer Nachwirkungen bis hinein in das 20. Jahrhundert soll nun die Geschichte der alternativen Tradition der Metaphysik der Freiheit betrachtet werden.
Vgl.: »Obgleich auf diese Weise die scholastische Philosophie die gegenüber dem Naturhaften eigene ontologische Würde des Personalen und damit verbunden des gnadenhaften Seins zur Geltung bringt, hat sie sich gleichwohl nicht ganz lösen können von der aristotelischen Naturdingontologie. Denn auch hier, bei den Vertretern einer Ontologie des esse morale, ist jener sonst hundertfach belegbare Satz zu finden, der eine Aussage über die Seinsweise der Gnade ist: dicendum quod gratia est accidens. Kann aber wirklich – diese Frage muß wohl an die scholastische Philosophie kritisch gerichtet werden – die Andersartigkeit des gnadenhaften Seins gegenüber dem naturhaften gemäß der Aussage des Bonaventura (esse gratuitum est alterius generis quam esse naturale) verstanden werden, wenn die Gnade doch als ein akzidentelles Sein gedacht wird? Der Rahmen, innerhalb dessen das Problem der Gnade, d. h. die Frage nach dem Ermöglichungsgrund endlicher Freiheit behandelt wird, bleibt so offenkundig die Substanzontologie, die aber von ihrem Ursprung und ihrer eigentlichen Bestimmung her die Ontologie der Naturdinge ist. Diesen Rahmen zu sprengen blieb der neuzeitlichen Philosophie vorbehalten.« – Ebd. 54. 16 Vgl.: »Hegel stellt die Einheitlichkeit und Durchgängigkeit seiner Lehre vom sittlichen Sein als intersubjektive Realität durch den Gebrauch des alten Substanz-Akzidens-Schemas selbst in Frage.« – Ebd. 171. 17 Kobusch, Christliche Philosophie, 95. 15
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
11.1.2 Die Geschichte der Metaphysik der Freiheit Kobusch beansprucht für sich mit der »Geschichte der Metaphysik der Freiheit, die bisher noch nicht erzählt oder geschrieben wurde,« 18 von ihm aber in der »Entdeckung der Person« zumindest in Grundzügen dargelegt wird, eine Pioniertat. Der eigentliche Beginn dieser Geschichte liegt nach Kobusch im 13. Jahrhundert: Will man den Ursprung unseres modernen Freiheitsbegriffs ausfindig machen, so wird man in der Geschichte der Philosophie weit zurückgeführt. Genauer gesagt: bis in die erste Hälfte des 13. Jh. Denn hier wird im Rahmen der Christologie zum ersten Mal das Sein der menschlichen Freiheit für die Metaphysik thematisch und zwar unter dem von nun an einschlägigen Leitbegriff des »moralischen Seins«. Da aber das »moralische Sein« das Sein der Person ausmacht, liegt hier auch der Ursprung des modernen Person-Begriffs. 19
Als ersten Vertreter der neu entstehenden Disziplin der Metaphysik der Freiheit nennt Kobusch Alexander von Hales (1185–1245), der zuerst in aller Deutlichkeit die »drei Seinsbereiche des Naturhaften, Rationalen und Moralischen« 20 unterschieden und damit wesentlich dazu beigetragen habe, dass »im 13. Jh. die erste selbständige, regionale Ontologie des moralischen Seins, dessen ontologischer Grund nichts anderes als die menschliche Freiheit ist« 21, entstanden sei. Zur Vorgeschichte der Metaphysik der Freiheit vor dem 13. Jahrhundert äußert Kobusch sich in der »Entdeckung der Person« nur knapp. Er erwähnt, dass schon »Augustinus – ohne den Begriff zu gebrauchen – eine Metaphysik des naturhaften, logischen und moralischen Seins etabliert« 22 habe, so dass die »Ontologie des esse morale, die […] in der Christologie des 13. Jh. durchbricht, […] als die abschließende, reflektierte Form einer langen Entwicklung anzusehen« 23 sei. Ausführlicher geht Kobusch auf diese Vorgeschichte in »Christliche Philosophie« ein, wo er die Vorstellung eines »präexistente[n] Christentum[s]« mit »Protochristen in anderen Kulturen« aufgreift und etwa davon spricht, dass im Sinne der »anima naturaliter christiana« 24 18 19 20 21 22 23 24
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 22. Ebd. 23. Ebd. 25. Ebd. Ebd. Ebd. 29. Kobusch, Christliche Philosophie, 57.
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11.1.2 Die Geschichte der Metaphysik der Freiheit
»schon Sokrates eine partiale Erkenntnis Christi gehabt habe« 25 und das Christentum in einem weiten Sinn »die älteste Philosophie« 26 sei. Als »das eigentliche Zentrum der Metaphysik des moralischen Seins« benennt Kobusch »die franziskanisch-bonaventurianische Tradition, in der die Eigentümlichkeiten des genus moris durch einen systematischen Vergleich mit dem genus naturae zu Bewußtsein kommt« 27. Die Bedeutung des spanischen Theologen Suárez (1548– 1617) besteht nach Kobusch darin, »das wichtigste Bindeglied zwischen der mittelalterlichen Scholastik und der Deutschen Schulphilosophie und der daran anschließenden Kritischen Philosophie« 28 zu sein. Der deutsche Naturrechtsphilosoph Samuel von Pufendorf (1632–1694), dessen Anliegen es war, »die gesamte praktische Philosophie auf ein neues Fundament zu stellen«, verlieh der »bis in seine Zeit namenlosen Disziplin, die sich mit den entia moralia befaßt, erstmals eine eigene Bezeichnung« 29: »Ethica universalis« 30. Doch erst bei Immanuel Kant erhielt »nach über fünfhundert Jahren […] die Disziplin, die sich mit den entia moralia befaßt, den ihr eigentümlichen Namen« 31: »Metaphysik der Sitten oder Metaphysik der Freiheit« 32, womit »ihr status nascendi eigentlich erst beendet« 33 ist. Kant stellte nach Kobusch »die Lehre von den entia moralia […] auf das Fundament der kritischen Philosophie« 34 und hat »erstmals den Menschen als Person, als Freiheitswesen, den Menschen als Menschen in seinem ›absoluten Wert‹ gesehen« 35. Als »eigentliche[n] Mittler zwischen der mittelalterlichen esse morale-Tradition und dem modernen Freiheitsverständnis« hebt Kobusch Jean-Jacques Rousseau hervor: »Das Wesen des Menschen besteht in seinem sittlichen Sein, d. h. in seiner Freiheit – so wiederholt er die These dieser großen Tradition –, aber Freiheit meint jetzt den Austritt aus dem Naturzustand, das In-Beziehung-Treten zu anderen Menschen, das
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Kobusch, Christliche Philosophie, 44. Ebd. 51. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 39. Ebd. 55. Ebd. 70. Ebd. 71. Ebd. 93. Ebd. 95. Ebd. 99. Ebd. 133. Ebd. 138.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
gesellschaftliche Sein.« 36 In diesem Sinne gehören für Kobusch die amerikanische und die französische Revolution, allgemein »die Geschichte, soweit sie Freiheitsgeschichte ist, mit zum Gegenstandsbereich der Metaphysik der Freiheit« 37. Dabei sind die Menschenrechtserklärungen »der archimedische Punkt, um den sich die Freiheitsgeschichte dreht« 38. Im 19. Jahrhundert bringt Hegel in seiner Rechtsphilosophie »zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen Willkür und Freiheit zur Geltung« 39. Die »historische Bedeutung der Hegelschen Willensmetaphysik« sieht Kobusch darin, dass Freiheit zuerst als »intersubjektive Realität« 40 und das Recht als »Anerkennungsverhältnis von Personen« 41 gedeutet wird. Im Verlauf des Jahrhunderts brach sich dann zunehmend die auf Christian Thomasius (1655–1728) zurückgehende »These vom Primat des Willens« 42 vor dem Intellekt Bahn, die zu »Schopenhauers Fundamentalkritik am Personbegriff« 43 führte. Da die Person für ihn zur Welt der Erscheinung gehört, ist sie »selbst ›nie frei‹ […], obwohl und weil sie die Erscheinung eines freien Willens ist« 44. Nietzsche fungierte dann als der »eigentliche Multiplikator dieser Kritik« 45, wobei seine nachhaltig das 20. Jahrhundert bestimmende »Kritik an der Metaphysik überhaupt« 46 der Metaphysik der Freiheit indirekt die Möglichkeit eröffnete, sich vom Erbe der Substanzontologie zu lösen: Gleichwohl etablierte sich im 20. Jh. eine philosophische Tradition, die sich des Problems der entia moralia annahm, ohne jedoch die traditionelle Vorherrschaft der Substanzontologie anzuerkennen. Ein neuer Metaphysik-Typ entsteht. Diese neue Metaphysik versucht, die entia moralia zu entsubstantialisieren und somit das Sein der Freiheit völlig von den Kategorien des dinghaften Seins zu befreien. 47
36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 117. Ebd. 101. Ebd. 106. Ebd. 161. Ebd. 164. Ebd. 170. Ebd. 175. Ebd. 183. Ebd. 187. Ebd. Ebd. 204. Ebd. 204–205.
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11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit
Als Vertreter dieses neuen Denkens nennt Kobusch unter anderem das »dialogische Denken«, die »französische Phänomenologie« 48 sowie die »moderne Anthropologie« 49. Seinen historischen Längsschnitt zur Geschichte der Metaphysik der Freiheit beschließt Kobusch mit einem Blick auf die »gegenwärtige Krise des Personbegriffs als Folge eines Reduktionismus« 50, in der er diese gesamte Tradition in Frage gestellt sieht.
11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit Aufgrund der philosophiehistorischen Orientierung der »Entdeckung der Person« und des Fehlens einer systematischen Betrachtung der Metaphysik der Freiheit können Aspekte zu ihrer inhaltlichen Bestimmung nur aus verstreuten Textbelegen zusammengetragen werden. Kobusch unterstreicht die zentrale Bedeutung der Freiheit für diese Metaphysik: Der unendliche Wert der durch die Erlösungstat Christi geadelten menschlichen Person liegt in der Freiheit. Sie ist als das personkonstituierende Wesenselement von allem Dinghaften dieser Welt unterschieden. […] Während alle endlichen Dinge möglicher Gegenstand einer wertenden Schätzung sind, entzieht sich die Freiheit als solche und damit auch die Person jeglicher Art einer Schätzung. 51
Die Frage, wo diese Freiheit, die die antike Welt so nicht kannte, herkam, führt bei Kobusch immer wieder zu dem Verweis auf die Religion. Die »Bewegung des menschlichen Willens« ist »ihm von einem höheren, dem göttlichen Willen, eingegeben« 52. Kobusch spricht von der »Gnade« als dem »transzendenten Ermöglichungsgrund menschlicher Freiheit« 53: Die Gnade erfüllt deswegen im Bereich des Moralischen dieselbe Funktion wie die substantielle Form im Bereich der Naturdinge. Wie diese nämlich dem Ding die vervollkommnende Form und damit das Sein verleiht und somit das Prinzip aller naturhaften Tätigkeiten dar48 49 50 51 52 53
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 16. Ebd. 223. Ebd. 263. Ebd. 31. Ebd. 44–45. Ebd. 52.
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stellt, so ist die Gnade »die Form und Vollkommenheit im moralischen Sein und das Prinzip aller moralischen Tätigkeiten«. Sie ist aber zugleich als die Glückseligkeitsvermittlerin auch der letzte Zweck aller Handlungen und erfüllt so dieselbe Funktion im Bereich des esse morale wie die substantiale Form bei den Naturdingen. 54
Neben der religiösen Fundierung ist die in ihrer geschichtlichen Entwicklung sich allmählich entfaltende intersubjektive Verwirklichung der Metaphysik der Freiheit von zentraler Bedeutung. Bei Suarez taucht die Begründung der Wirklichkeit des Moralischen im »Anerkanntwerden« 55 auf, die ihre Vollendung findet in Kants Verständnis der Freiheit als Autonomie: Die Freiheit der Autonomie, das ist der letzte Grund aller Gesetze und Sittlichkeit, allen Rechts und jeglicher Tugend. Indem Kant das Sollen selbst, d. h. alle Arten der Pflicht, auf das Prinzip der Autonomie als den Ermöglichungsgrund des Wollens überhaupt gründet, vollzieht er die eigentlich kritische Wende in der Moralphilosophie. 56
Wesentliche Korrekturen der kantischen »Metaphysik der Sitten« thematisiert Kobusch im Zusammenhang mit den als Reaktion auf die Fundamentalkritik Nietzsches an der Metaphysik entstehenden neuen Strömungen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Zu nennen sind die »Ansicht von der Unableitbarkeit des Du« 57 in der Dialogphilosophie: »Was die Substanz für die Welt der Natur bedeutet, das ist das Du für die praktische und historische Welt – eine schlechthin unverzichtbare Kategorie.« 58 Ebenso zu nennen sind die »Interpretation der ›Person‹ im Sinne des Als-Seins« 59 bei Löwith und das mit Plessners Rollenbegriff verbundene Menschenbild: »Der Homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt.« 60 Über diese historischen Modifikationen hinweg ist jedoch die Fundierung im Gottesbegriff eine Konstante der von
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 52–53. – Quelle des eingefügten Zitats nach Anmerkung 124 bzw. 123: Matthaeus ab Aquasparta, Qu. disp. de gratia, 4, 104. 55 Ebd. 63. 56 Ebd. 138. 57 Ebd. 226. 58 Ebd. 227. 59 Ebd. 236. 60 Ebd. 253. – Kobusch verweist als Quelle des Zitats auf: H. Plessner, Über einige Motive der philosophischen Anthropologie GS VIII, 134. 54
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11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit
Kobusch dargestellten Metaphysik der Freiheit. Das ens morale gründet in der Anerkennung, obwohl es nicht von der kontingent-faktischen Anerkennung anderer Menschen abhängig ist: Also setzen wir ein absolutes, unendliches Subjekt voraus, das als die Freiheit selbst andere freie Wesen will und setzt, d. h. sie in ihrer Freiheit anerkennt. Wir sprechen sinnvoll von der allem, was Menschenantlitz trägt, zukommenden Würde im Sinne eines absoluten oder unendlichen Wertes, insofern wir es als von einem unendlichen, Freiheit schenkenden Subjekt, d. i. Gott, geliebt und – unabhängig von äußeren und inneren Mißständen – in seiner Freiheit respektiert wissen. 61
Eine gewisse systematische Konkretisierung seiner Konzeption einer Metaphysik der Freiheit kann in seiner späteren Publikation »Christliche Philosophie« gefunden werden. Die »Alternative zum aristotelischen Metaphysikbegriff« 62 nennt er hier in Anlehnung an Origenes »Epopteia« bzw. »inspectiva« 63: Die aristotelische Metaphysik ist eine Metaphysik der äußeren Dinge, insofern die allgemeinen ontologischen Strukturen durch eine metaphysische Analyse der Naturdinge aufgedeckt werden. Die Metaphysik nach christlichem Verständnis dagegen ist nicht eine theoretische, allgemeine Seinslehre oder eine abstrakte Gotteslehre, sondern eine Metaphysik des inneren Menschen. 64
Der in der »Entdeckung der Person« betonte Gedanke einer intersubjektiven Fundierung der Freiheit tritt hier in den Hintergrund: »[D]er Geist des Menschen ist in seiner lebensweltlichen Gegebenheit gar nicht in der Lage, sein wahres Selbst zu erkennen. Er muß erst an sich selbst arbeiten, um zu sich zurückkehren zu können. Zunächst nämlich und immer schon ist er an die äußere Welt verfallen« 65. In dieser
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 261. Kobusch, Christliche Philosophie, 16. 63 Ebd. 139. – Vgl.: »Das Wort ist der Terminologie der Mysterien von Eleusis entnommen. Nach der Reinigung, dann der ersten Einweihung, wird der Myste in die ›Betrachtung‹ (ἐπόπτεια) der kultischen Symbole eingeführt: das ist die höchste Weihe. […] In der späteren platonischen Tradition wird die Epopteia ein Teil der Philosophie, und zwar deren höchste Stufe. Das geschieht im Rahmen einer Einteilung der Philosophie, deren zu durchlaufende Phasen die Ethik (Reinigung), die Physik (Initiation) und die Metaphysik (Epopteia) sind.« – Hadot, Epopteia, in: HWPh II, col. 599. 64 Kobusch, Christliche Philosophie, 139. 65 Ebd. 144. 61 62
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späteren Fassung wird Kobuschs Metaphysik der Freiheit somit ganz dezidiert zu einer »Metaphysik des Subjekts« 66.
11.1.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Kobuschs und Spaemanns Zum Zweck des Vergleichs der Positionen Kobuschs und Spaemanns soll die Reihenfolge der hier vorgenommenen Darstellung der Grundgedanken Kobuschs umgekehrt und zunächst auf die Aspekte der inhaltlichen Bestimmung und erst danach auf die philosophiegeschichtliche Betrachtung der Entdeckung eingegangen werden. Kobusch thematisiert in seinem Nachtrag zur zweiten Auflage der »Entdeckung der Person« unter dem Titel »Die Tradition des ens morale und die gegenwärtige Krise des Personbegriffs« 67 Charles Taylors »The Sources of the Self«, Paul Ricœurs »Soi-même comme un autre« und Robert Spaemanns »Personen« und bemerkt zu ihnen: Das Anliegen der esse morale-Tradition, die uns sozusagen den Personbegriff in die Moderne übergeben hat, scheint am ehesten in diesen drei Werken, dem von Ch. Taylor, P. Ricœur und R. Spaemann gewahrt zu sein. Sie sind in der jüngsten Zeit die lautesten und überzeugendsten Stimmen, die gegen die Abschaffung der Person den unreduzierbar eigenständigen Charakter des Moralischen überhaupt und seiner Grundlage, der Person, im besonderen geltend machen. 68
Wenn im Folgenden die Positionen Kobuschs und Spaemanns etwas genauer verglichen werden sollen, liegt der Fokus ausschließlich auf dem Thema der Person. 69 Die wesentliche Gemeinsamkeit beider Kobusch, Christliche Philosophie, 146. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 263–280. 68 Ebd. 277. – Taylors Kritik an der von ihm auf Descartes zurückgeführten ›desengagierten Vernunft‹, die »einer Anschauung des Subjekts Glaubwürdigkeit verliehen [hat], wonach dieses ein unsituiertes, ja punktförmiges Selbst ist« – Taylor, Quellen des Selbst, 887 –, steht in deutlicher Parallele zu Spaemanns Kritik des neuzeitlichen Denkens. Demgegenüber geht es Taylor um den »Versuch einer erinnernden Wiedergewinnung« dessen, was er als »moralische[…] Ontologie« bezeichnet. – Ebd. 27. – Zu Ricœur vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 528, Fn. 11. 69 Nicht eingegangen werden kann an dieser Stelle etwa auf die unterschiedlichen Deutungen Rousseaus, Schopenhauers und anderer Denker durch Kobusch und Spaemann. 66 67
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11.1.4 Vergleichende Analyse
Positionen dürfte in der Betonung der Freiheit für das Verständnis personalen Seins liegen, 70 die sich bei Spaemann im ›Haben einer Natur‹ ausdrückt. Kobusch bemerkt dazu: […] das neue bedeutende Buch von R. Spaemann Personen [ist] eine Argumentation gegen die Eliminierung der Wer-Frage bzw. für den bleibenden ontologischen Unterschied zwischen »jemand« und »etwas«. Es gibt keinen gleitenden Übergang von »etwas« zu »jemand«. Begründet wird das durch die These, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht: Nur Personen »haben eine Natur«, d. h. sie können eine Distanz zu sich selbst herstellen und sich in ein Verhältnis zu dem, was sie betrifft, setzen. Von daher erscheinen alle jene Merkmale, die R. Spaemann, aus dem reichen Schatz abendländischer Anthropologie sammelnd, als Merkmale der Person ausmacht, wie die Schmerzempfindung, die Intentionalität, die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz usw., in einem neuen Lichte. 71
Ausgehend von dieser grundsätzlichen Übereinstimmung kann die Aufmerksamkeit auf die in ihr verborgene entscheidende Differenz zwischen den Konzeptionen Kobuschs und Spaemanns gelenkt werden. Die Begründungszusammenhänge personaler Freiheit und damit zugleich der Würde des Menschen nämlich sind bei beiden Denkern völlig unterschiedlicher Art. Mit Bezug auf Spaemanns Essay »Über den Begriff der Menschenwürde« 72 schreibt Kobusch: Ganz richtig erklärt Spaemann, daß der Gedanke der Würde ein »fundamental ethischer« ist, dessen theoretische Begründung nur in einer »metaphysischen Ontologie« 73 gefunden werden kann bzw. in einer transzendental-pragmatischen Überlegung, dergemäß die »biologische Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens allein es sein darf, die jene Minimalwürde begründet, welche wir Menschenwürde nennen«. 74 Die »metaphysische Ontologie«, an der diese Gedanken über den Begriff der Menschenwürde orientiert sind, ist offenkundig die platonisch-aristotelische, die in der spätantiken Phase de[n] Begriff de[r] »Würde« auf alles Seiende, gestaffelt nach der Seinsmächtigkeit des einzelnen Seienden, angewandt hat. Übereinstimmend mit dieser Wie Spaemann bezieht sich auch Kobusch – verbunden mit einer Spitze gegen die analytische Philosophie – in diesem Zusammenhang auf Frankfurts »secondary volitions«. – Vgl. Abschnitt 8.4.3, Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung: Die Spontaneität des Herzens, 628, Fn. 104. 71 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 276–277. 72 Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985), 77–106. 73 Vgl. Ebd. 106. 74 Vgl. ebd. 94. 70
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platonischen Konzeption erklärt Spaemann: »Würde hat zu tun mit Seinsmächtigkeit« 75 und deswegen kann der Begriff auch auf Tiere oder Dinge angewandt werden. So aber wird man der Bedeutung des Kantischen Begriffs der Würde des Menschen im Sinne eines absoluten Wertes nicht gerecht. Dieser Begriff stammt in der Tat aus einer »metaphysischen Ontologie«, aber nicht aus der platonisch-aristotelischen, sondern vielmehr aus der Metaphysik der Freiheit bzw. der Ontologie des moralischen Seins – wie oben gezeigt wurde. […] Gerade, wenn mit R. Spaemann die biologische Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens als das Kriterium für das Menschsein des Menschen, d. h. für die Menschenwürde angesehen wird, muß auf diese Tradition der Metaphysik der Freiheit hingewiesen werden. 76
Auf die Fundierung in unterschiedlichen Metaphysiktraditionen wird weiter unten eingegangen; hier sei zunächst festgehalten, dass Kobusch sich gegen die in Spaemanns Gedanken der Person als ›Haben einer Natur‹ zum Ausdruck kommende starke Bindung des Freiheitsgedankens an die φύσις in ihrer teleologischen Verfasstheit wendet. In engem Zusammenhang hiermit steht die sehr unterschiedliche Bewertung des kantischen Autonomiebegriffs, der für Kobuschs Konzeption einer Metaphysik der Freiheit, wie gesehen, von zentraler Bedeutung ist, wohingegen Spaemann in »Glück und Wohlwollen« die Autonomie in der deontologischen Ethik als eine nur »scheinbare« herausstellt, die »auf eine destruktive Weise« vom Eudämoniegedanken »wieder eingeholt« 77 wird. Die entscheidende Differenz zwischen beiden besteht also in der Bedeutung der Naturteleologie für Spaemann, die für Kobusch keine Rolle spielt. Indirekt drückt sich diese Differenz im systematischen Stellenwert des Gottesgedankens in beiden Konzeptionen aus. Während in Spaemanns Ontologie der Person der Verweis auf das Absolute als Grenze des Denkens in der phänomenologischen Beschreibung des personalen Standpunkts erfolgt, ist Gott in Kobuschs Argumentation Grundlage und Garant seines Personbegriffs. Das Fehlen einer aus der Naturteleologie entwickelten genuin philosophischen Argumentation bei Kobusch scheint eine solche Theologisierung seiner Metaphysik unvermeidbar zu machen. Der bei Spaemann aus der Naturteleologie im personalen Vgl. Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985), 85. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 258–259. 77 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 30. – Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 454–455. 75 76
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11.1.4 Vergleichende Analyse
Kontext hervorgehende Schlüsselgedanke der Begegnung hat eine gewisse Entsprechung in Kobuschs Überlegungen zur Bedeutung des Intersubjektiven: »Individuelle Freiheit ist überhaupt nur möglich in der Welt der Beziehung. Menschliche Freiheit ist Intersubjektivität.« 78 Der Eindruck einer schwachen Vermittlung dieses Gedankens mit Kobuschs Grundkonzeption in der »Entdeckung der Person« wird aber bestätigt durch sein Zurücktreten in »Christliche Philosophie«, deren Bekenntnis zur Metaphysik des inneren Menschen bzw. des Subjekts im Gegensatz steht zu Spaemanns prinzipieller Pluralität der Personen. Im Kontext der philosophiegeschichtlichen Perspektive ist zunächst zu bemerken, dass beide Autoren von der Entdeckung der Person sprechen. Auch nehmen beide – wenngleich mit sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen – Bezug auf die Theologie der Hochscholastik, insbesondere die Auseinandersetzung mit der Trinitätslehre und der Christologie. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal beider sind, wie oben bereits bemerkt wurde, die unterschiedlichen Metaphysiktraditionen, auf die sie sich beziehen. Mit Bezug auf Spaemanns Grundgedanken vom ›Haben einer Natur‹ bemerkt Kobusch kritisch: Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß das Bewußtsein von dem qualitativen Unterschied zwischen Jemand und Etwas, d. h. zwischen Person und Sache nicht schon immer vorhanden, sondern zu bestimmter Zeit entstanden ist. Mögen Ansätze dazu in der platonischen und stoisch-augustinischen Lehre vom inneren Menschen, im neutestamentlich-augustinischen Begriff des »Herzens« und sonstwo erkennbar sein, bewußt wird dieser Unterschied erst dann, wenn das Sein des Personalen oder Sittliches als eine eigene Ordnung gegenüber dem Sein der Natur, des Artifiziellen usw. ontologisch etabliert wird. Das geschieht aber erst im 13. Jh. Gerade der markante Satz, den R. Spaemann der Vorstellung von einer »potentiellen Person« mit Recht entgegenhält: »Aus etwas wird nicht jemand« setzt schon eine gegenüber der Dingontologie etablierte Ontologie des Personalen voraus. 79
Mit dem Begriff des »Herzens« spielt Kobusch auf die hier in Abschnitt 8.3.1 nachvollzogene Hermeneutik der Entdeckung bei Spaemann an. 80 Das ›Herz‹ ist für Spaemann ein ganz wesentliches BindeKobusch, Die Entdeckung der Person, 232. Ebd. 277. 80 Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574. 78 79
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glied zwischen der Natur und der Person, das Kobusch im Sinne seiner theologischen Fundierung der Person ablehnt. 81 Dennoch dürfte Spaemann meines Ermessens Kobusch zugestehen, dass die geistige Erfassung des Personbegriffs im vollen Umfang erst in der Hochscholastik stattfand. Um aber den wesentlichen Differenzpunkt zwischen Spaemann und Kobusch zu verstehen, muss zurückgegangen werden auf dessen oben thematisierte Bezugnahme auf Aristoteles. 82 Dort wurde bereits darauf hingewiesen, dass der an Aristoteles gerichtete Vorwurf einer fehlenden Berücksichtigung der Subjektivität als anachronistisch bezeichnet werden kann. Nach meinem Dafürhalten würde Spaemann nicht in Abrede stellen, dass es sich bei der Metaphysik des Aristoteles um eine Dingontologie handelt. Er betont ausdrücklich, dass sie »nicht vom Subjekt« ausgeht, sondern »vielmehr das Subjekt selbst als natürliche Substanz« 83 fasst. Dass Spaemann und Kobusch sich dennoch an der Deutung des Aristoteles so nachhaltig scheiden, ist darin begründet, dass nach Kobusch jede spätere Bezugnahme auf ihn durch das substanzontologische Schema auf den Ausschluss der Subjektivität festgelegt ist bzw. Subjektivität nur mit Begriffen gedacht werden kann, die der Substanzontologie fremd sind, während es zu den grundlegenden Intuitionen der Philosophie Spaemanns gehört, von einer Aktualisierbarkeit der aristotelischen Substanz und des teleologischen Denkens auszugehen. 84 Die direkte Folge dieser gegensätzlichen Aristoteles-Deutung ist, dass Spaemann eine relative Kontinuität von Aristoteles über Boethius zu Thomas von Aquin ungeachtet der Entstehung des Kontingenzbewusstseins sieht, während Kobusch die aristotelische Metaphysik diametral der Metaphysik der Freiheit gegenüberstellt und diese unvermittelt im 13. Jahrhundert einsetzen lässt bzw. von allgemeinen Präformationen des christlichen Denkens in der Antike und dem frühen Mittelalter In »Christliche Philosophie« wird allerdings deutlich, dass Kobusch das Herz ebenfalls als eine Präformation der im 13. Jahrhundert aufkommenden Metaphysik des inneren Menschen versteht: »Als Abbild Gottes hat der Mensch wie dieser etwas Unergründliches. Dieses Unergründliche nennt Augustinus auch das ›Herz‹. Der Herzensmensch, das heißt der innere Mensch ist der homo absconditus.« – Kobusch, Christliche Philosophie, 143. 82 S. Abschnitt 11.1.1, Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit, 791. 83 Vgl. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 34. – Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327. 84 Vgl. Teilkapitel 6.1, Das philosophiehistorische Projekt der Erneuerung der antiken Substanzontologie, 323–371. 81
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11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs
spricht. Auch die grundverschiedenen Deutungen der Entwicklung nach dem 13. Jahrhundert sind in den gegensätzlichen Beurteilungen der aristotelischen Metaphysik begründet. Während für Kobusch die hier in Abschnitt 11.1.3 zusammengefassten Entwicklungsschritte bis hin zu Kants »Metaphysik der Sitten« im Vordergrund stehen, ist das große Thema Spaemanns bekanntlich die Entteleologisierung, wobei die neuzeitliche Destruktion des Personbegriffs von ihm ursächlich auf diese zurückgeführt wird. 85 Selbst ihre divergierende NietzscheDeutung zeigt noch dieselbe Wurzel, insofern dessen Denken von Spaemann als Vollstreckung der Entteleologisierung durch eine »ateleologische Teleologie« 86, von Kobusch dagegen als Überwindung der am substanzontologischen Schema festhaltenden Metaphysik verstanden wird. Sowohl die systematisch als auch die philosophiehistorisch orientierte vergleichende Betrachtung der Konzeptionen Kobuschs und Spaemanns führt also zum teleologischen Denken als wesentlichem Punkt der Differenz, der sich letztlich aus ihren grundverschiedenen Einstellungen zur Metaphysik des Aristoteles herleitet.
11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs Kobusch geht es in seiner Personenphilosophie offensichtlich um denselben Phänomenbereich wie Spaemann, auch wenn er ein in entscheidenden Punkten anderes Narrativ zur Erklärung seiner Vorgeschichte, Entstehung und Entwicklungsgeschichte entwirft. Abschließend soll es um die Fragen gehen, wie bedeutsam diese Unterschiede sind und mit welchen Kriterien eine Wertung dieser als Alternative zur Philosophie der Begegnung sich anbietenden Konzeption vorgenommen werden kann. Mit dem Titel einer ›Metaphysik der Freiheit‹ prätendiert Kobusch, einen philosophischen Beitrag zur Diskussion um die Person geliefert zu haben. Es muss allerdings kritisch gefragt werden, ob er angesichts der dargelegten Rolle des christlichen Glaubens in seiner Konzeption diesem Anspruch gerecht werden kann oder nicht vielVgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537. Vgl. im Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche, die Ausführungen zur ateleologischen Teleologie und dem Ende des Denkens bei Nietzsche, 268–272.
85 86
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
mehr durch den Verweis auf Gott an zentralen Stellen seiner Argumentation eine Theologisierung der Philosophie betreibt. In dem hier unternommenen Versuch eines Nachvollzugs der Geschichte und des Wesens dieser Metaphysik der Freiheit wurde deutlich, dass die plötzlich auftauchende Freiheit auf Gott als ihren Ursprung zurückgeführt wird und seine Gnade den »transzendenten Ermöglichungsgrund menschlicher Freiheit« 87 bildet. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem aristotelischen ›unbewegten Beweger‹ und dem von Kobusch vorausgesetzten christlichen Gott besteht darin, dass letzterem ein bestimmter Geschichtswille zugeschrieben werden muss, da er die Freiheit dem Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbart hat. Die von Kobusch ins Gespräch gebrachte Metaphysik hängt von diesem Offenbarungsgeschehen vollständig ab. Auch wenn diese Abhängigkeit von Kobusch selbst möglicherweise nicht als ein Problem angesehen wird, stellt dies meines Erachtens die philosophische Bedeutung seiner Metaphysik der Freiheit in Frage. Gerade im Vergleich mit Kobuschs personenphilosophischer Konzeption kann deutlich werden, dass Spaemann eine genuin philosophische Argumentation entwirft, auch wenn er auf die Grenze des Denkbaren reflektiert, während Kobusch durch die unverhohlene Bezugnahme auf Gott an zentralen Stellen seiner Argumentation Philosophie mit Theologie vermischt. Nach der in dieser Arbeit vorgelegten Deutung der Spaemann’schen Personenphilosophie kann dieser der Theologisierung der Ontologie dadurch entgehen, dass er die Personalität in der Naturteleologie fundiert sein lässt. Auch wenn für Kobusch, wie gesehen, die Naturteleologie im Kontext seines Projekts einer Metaphysik der Freiheit keine Rolle spielt, soll an dieser Stelle an die eingangs formulierte Diskursregel erinnert werden, unter der der Vergleich der Positionen hier stehen soll, und an Kobuschs Konzeption die Frage gerichtet werden, wie weit sie in der Lage ist, die conditio humana, also das antagonistische Verhältnis von Leben und Vernunft im Menschen und die Fundierung der Vernunft im Leben, zu denken. In der »Entdeckung der Person« schreibt Kobusch: Während das naturhaft Gute oder Schlechte die Art der Beziehung eines Aktes eines Naturdings zu dem ihm eingeschriebenen Naturoder Wesensgesetz bezeichnet, betrifft das moralisch Gute oder Böse Kobusch, Die Entdeckung der Person, 52, u. Abschnitt 11.1.3, Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit, 505.
87
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11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs
die Art der Beziehung zwischen einer Freiheit zu einer anderen. Diese grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Natur und Freiheit oder zwischen den Seinsarten des ens naturae und ens morale bzw. voluntarium hat am deutlichsten der Dominikaner und spätere General seines Ordens Hervaeus Natalis ausgedrückt, der Zeitgenosse und Gegner des Durandus: »Das naturhaft Tätige (agens naturale) macht solches und so, wie es ist …, aber das frei Tätige (agens voluntarium) macht nicht solches, wie es selbst ist, sondern wie es selbst sein will«. 88 Das bedeutet, daß das ens naturae immer an ein vorgegebenes, eingegebenes Wesen gebunden bleibt, während das ens morale oder ens voluntarium sein eigenes Wesen erst selbst konstituiert. 89
Durch diesen Gedanken der – auf göttliche Gnade angewiesenen – Selbstkonstitution des Freiheitswesens, das von seiner Natur in einem absoluten Sinn getrennt ist, wird die Fundierung der Vernunft im Leben geleugnet. Kobusch fällt damit in den cartesianischen Dualismus und eine erneuerte Metaphysik des allgemeinen Subjekts zurück, von der aus es unmöglich ist, den Weg zum konkreten Anderen zu finden. Dabei erscheint die Selbstkonstitution des Freiheitswesens als jene Hypostasierung des Selbst zur unabhängigen Entität, die durch die Bedingung eines Diskurses, in dem jede Position, auch wenn sie selbst nicht darauf reflektiert, sich als Perspektive verstehen lassen muss, als mögliche Position ausgeschlossen wurde.
Kobusch verweist als Quelle des Zitats auf: Vgl. Hervaeus Natalis, In I Sent., d. 41, p.2, a.3, 179bB. 89 Ebd. 45. – Berthold Wald, der ebenso wie Spaemann sein Verständnis der Personalität ausgehend von der aristotelischen Ontologie und ihrem zentralen Begriff einer lebendigen Substanz entwickelt, bezeichnet mit Bezug auf Thomas von Aquin die personale Öffnung für die Wirklichkeit und die Intersubjektivität als »interne Modifikationen dieser Substanz«. Im Gegensatz zu Kobusch betont Wald dabei den unaufhebbaren Zusammenhang des substanzontologischen und des moralischen Aspekts der Personalität: »Für Thomas liegt darum in der Inkommunikabilität der geistigen Akte, worin die Person zugleich ihr natürliches Sein realisiert oder auch verfehlt, die höchste Auszeichnung der Person. Demgegenüber bleibt der Gegensatz von Freiheit oder Natur, ens morale oder ens naturale, nicht bloß abstrakt, sondern verkürzt das Sein der Person auf reine Subjektivität.« – Wald, Substantialität und Personalität. Philosophie der Person in Antike und Mittelalter, 180–181. 88
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11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person«
Gegenstand des folgenden Unterkapitels ist Dieter Sturmas 1995 eingereichte Habilitationsschrift »Philosophie der Person«, deren wesentliche Grundgedanken nachvollzogen und anschließend in ein Verhältnis zu der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Philosophie der Begegnung gestellt werden sollen. Schon ein erster vergleichender Blick auf Spaemanns »Personen« einerseits, Sturmas etwa gleichzeitig entstandene »Philosophie der Person« andererseits lässt einen signifikanten Unterschied in den Schreib- und Denkweisen beider Autoren erkennen. Ganz im Gegensatz zu der oben thematisierten, 1 nur schwer systematisierbaren Essayistik Spaemanns baut Sturma seinen Gedankengang in einer strengen Systematik auf, wobei er Grundsätze der nicht-reduktionistischen Philosophie der Person [G– …], Sätze, die eine im Text untersuchte Position ausdrücken […–S], und im Text verteidigte Thesen […–T] im laufenden Text numerisch ausweist und dieses Gefüge von fünf Grundsätzen, 56 Sätzen und 44 Thesen in einer Liste im Anhang noch einmal synoptisch zusammenfasst. 2 Hinter diesen sehr unterschiedlichen Physiognomien des Geistes verbergen sich, wie in gewissem Sinne gegen Schopenhauer zu zeigen versucht wird, 3 bemerkenswert weit gehende Parallelen zwischen den Personenphilosophien beider Denker. Sturmas Ausgangspunkt ist die in der Philosophie »noch nicht bewältigte[…] Subjektproblematik«, die sich im Kontext des Begriffs der Person durch die Frage konkretisieren lässt, »ob vernünftige Individuen in ihren Bewußtseinszuständen und Handlungsverläufen auf signifikante Weise selbst präsent sind« 4. Aus dieser Frage ergibt sich für Sturma ein erster Hinweis auf den systematischen Ort des Nachdenkens über Personen in der Philosophie: Wenngleich die Philosophie der Person aus philosophiegeschichtlichen Gründen noch über kein disziplinäres Profil verfügt, läßt sich ihr Ort im System philosophischer Disziplinen bestimmen. Er liegt in der VerVgl. Kapitel 8, Ontologie der Person, 511. Vgl. Sturma, Philosophie der Person, 357–361. 3 Vgl. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 5, Über Schriftstellerei und Stil, § 282, 605–606. 4 Sturma, Philosophie der Person, 25. 1 2
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11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person«
bindung von theoretischer und praktischer Philosophie, also in jenen Hauptzweigen der Philosophie, die sich trotz einiger Überbrückungsversuche seitens der philosophischen Ästhetik bis in die Gegenwart schroff gegenüberstehen. 5
Bei den erwähnten philosophiegeschichtlichen Gründen ist an jenen Dualismus – die problematische Vermittlung von Natur und Freiheit – zu denken, der im vorangegangenen Teilkapitel im Zusammenhang mit Kobuschs »Entdeckung der Person« thematisiert worden ist. In der Philosophie der Neuzeit sieht Sturma eine »sich […] verstärkende Tendenz zur Philosophie der Person«, die allerdings in ihren ausdrücklichen Ausprägungen weitgehend auf die neuere angloamerikanische Philosophie beschränkt ist – sieht man einmal von der theologischen Traditionslinie und einigen wenigen Werken kontinentaleuropäischer Philosophen ab, die in den neueren Diskussionszusammenhängen zudem kaum Berücksichtigung gefunden haben. 6
Sturmas Ansatz kann man vor diesem Hintergrund als den Versuch charakterisieren, Positionen der analytischen Philosophie zu denen der klassischen Philosophie der Neuzeit in ein Verhältnis zu setzen. Die eingangs von ihm formulierten Grundsätze, die seinen Gedankengängen als Prämissen zugrunde liegen, kann man in zwei Gruppen teilen, deren erste sich auf den Satz beziehen lässt, von dem die Erschließung der Personenontologie Spaemanns oben ihren Ausgang genommen hat, den Satz nämlich, wonach alle Menschen Personen sind. 7 Sturma bezieht eine dezidierte Gegenposition: [G–1] Die Grenzen personaler Existenz und die Grenzen menschlichen Lebens fallen nicht zusammen. [G–2] Die Erfüllung der Kriterien entwickelter Personalität hängt nicht von moralischer Wechselseitigkeit ab: Personen sind auch denjenigen gegenüber zu moralischem Respekt verpflichtet, die über kein Selbstbewußtsein und keinen praktischen Subjektgedanken verfügen. [G–3] In seiner entwickelten Form impliziert personale Existenz Selbstbewußtsein und einen praktischen Subjektbegriff. 8
5 6 7 8
Sturma, Philosophie der Person, 27. Ebd. 28. Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. Sturma, Philosophie der Person, 37.
809 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Während [G–2] und [G–3] mit der Auffassung Spaemanns übereinstimmen, drückt sich in [G–1] eine wesentliche Differenz aus, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird. Die zweite Gruppe von Grundsätzen bringt einen »entschiedenen Nicht-Reduktionismus« zum Ausdruck, der bereits aus »der theoretisch unbefangenen Alltagserfahrung, deren Semantik den unhintergehbaren Bedeutungshintergrund der Philosophie der Person bildet« 9, hervorgeht: [G–4] Es gibt einen philosophisch bedeutungsvollen Begriff der Person, der über einen irreduziblen Eigensinn verfügt. [G–5] Die Schwierigkeiten und Gegenläufigkeiten der Semantik des Begriffs der Person sind Ausdruck der epistemologischen Irreduzibilität des personalen Standpunkts. 10
Aus dieser epistemologischen Irreduzibilität des personalen Standpunktes, die die wesentliche Prämisse der Studie bezeichnet, ergibt sich zugleich das Programm seiner philosophischen Untersuchungen und der Aufbau ihrer Darstellung im Folgenden. Aus dem in [G–4] ausgedrückten Nicht-Reduktionismus geht zunächst die Notwendigkeit einer Reduktionismuskritik hervor, »denn die Argumentationsverfahren müssen sich kriteriell und begründungstheoretisch so gestalten lassen, daß der Reduktionismus der radikalen Subjektkritik, der für personale Bestimmungen im strikten Sinne gar keinen Raum lassen will, rechtfertigungsfähig zurückgewiesen werden kann« 11. Diese Zurückweisung entfaltet Sturma anhand einer personalen Theorie des Selbstbewusstseins (11.2.1). In einem zweiten Schritt soll der »komplizierte[…] Prozess [der] kulturgeschichtlichen Herausbildung« 12 des Begriffs der Person in Sturmas Perspektive, die ganz erheblich von der bereits betrachteten Version Kobuschs abweicht, nachvollzogen werden. Auch wenn Kobusch von Sturma nicht erwähnt wird, kann doch eine implizite Bezugnahme auf ihn in der Bemerkung über den Begriff der Person vermutet werden, »daß seine Bedeutung nicht einfach entdeckt worden ist, sondern sich über komplizierte Begriffstransformationen konstituiert hat« 13. Wesentliche Stufen dieses Prozesses – Locke, Leibniz, Kant –
Sturma, Philosophie der Person, 39. Ebd. 11 Ebd. 28. 12 Ebd. 35. 13 Ebd. 9
10
810 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
sollen in Sturmas Deutung knapp betrachtet werden (11.2.2). Schlüsselbegriffe der wesentlichen inhaltlichen Entfaltung seiner Philosophie der Person sind neben ›Kontingenz‹ und ›Zeit‹ ›Lebensplan‹ und ›Externalisierung‹ bzw. ›Selbsterweiterung‹. An ihrem Leitfaden sollen Sturmas wesentliche Thesen referiert und seine Schlussfolgerungen wiedergegeben werden (11.2.3). Auf der Grundlage dieser werkimmanenten Betrachtung wird anschließend ein Vergleich zwischen Sturmas Philosophie der Person und der Personenontologie Spaemanns bzw. der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Philosophie der Begegnung möglich. Vor dem Hintergrund eines prinzipiellen Gegensatzes beider sollen hier weitgehende Parallelen aufgezeigt und der intendierte Phänomenbereich verglichen werden (11.2.4). Abschließend wird versucht, den Ansatz Sturmas als Philosophie der Person einer kritischen Wertung zu unterziehen, wobei zwei Probleme angesprochen werden, die sich im Nachvollzug der Agumentationen zeigen werden (11.2.5).
11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein Im Sinne des erwähnten Ausgangs von der theoretisch unbefangenen Alltagserfahrung wirft Sturma zunächst einen Blick auf die nebeneinander bestehenden Überzeugungen einer durchgehenden kausalen Erklärbarkeit von Ereignissen in der Welt und der Gegebenheit von Entscheidungsfreiheit im menschlichen Handeln: Der Glaube an die kausale Regelmäßigkeit von Ereignissen, aus dem der physikalische Determinismus seine Plausibilität gewinnt, zählt zum weitgehend unbezweifelten Bestand der Alltagserfahrung, zu dem sinnfälligerweise aber auch die Überzeugung gehört, daß Personen prinzipiell die Urheber ihrer Handlungsgeschichten seien und zum jeweiligen Zeitpunkt auch anders hätten handeln können. Die Alltagserfahrung geht insofern mit der Determinismusproblematik überaus widersprüchlich um. Allerdings wird der Widerspruch in der Regel nicht erlebt oder bemerkt und hat daher kaum praktische Virulenz. 14
Die philosophische Betrachtung der Determinismusproblematik beginnt Sturma mit der Prüfung der Konsistenz des physikalischen Determinismus, durch die leicht die »aporetische Struktur seiner dog14
Sturma, Philosophie der Person, 62–63.
811 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
matischen Irreflexivität« 15 nachgewiesen werden kann. Damit ist ein Argument gegen den Physikalismus, nicht aber gegen einen universalen Determinismus vorgebracht: »Epistemologische und methodische Einwände treffen den Ansatz des Determinismus, aber nicht die Sachverhalte, deren Theorie zu sein, er vorgibt.« 16 Es bleibt dabei, dass mit der Vorstellung personaler Freiheit ein zunächst unbegründeter Anspruch erhoben wird, der gegenüber der Vorstellung eines universalen Determinismus rechtfertigungsbedürftig ist: Die nicht-reduktionistische Philosophie der Person hat sich die schwierige Problemstellung aufzubürden, ihre grundsätzlichen Bestimmungen, die der semantischen Ausgangssituation nach nicht auf physikalistische Kausalitätsverhältnisse reduziert werden können, ontologisch zu rekonstruieren, andernfalls wäre sie durchgängig dem Paralogismusverdacht ausgesetzt. 17
Die naheliegende philosophische Versuchung, eine schlechthinnige Unabhängigkeit des Bereichs personalen Erlebens von der Welt der Ereignisse im Sinne eines »metaphysischen Parallelismus« 18 zu behaupten, wird von Sturma nicht in Betracht gezogen: »Der Eindimensionalität des ontologischen Reduktionismus kann rechtfertigungsfähig nicht mit naiven Theorien dualistischer Weltverdopplungen begegnet werden.« 19 Als Alternative hierzu bietet sich die interne Entfaltung einer Gegenposition zur Ontologie des Physikalismus an, indem in einem einheitlichen ontologischen Raum Sachverhalte aufgewiesen werden, die in ihr nicht vorkommen können: Die methodische Zirkularität und Inkonsequenz des »harten« Physikalismus ist für sein theoretisches Konzept allerdings noch nicht letal. Kann jedoch gezeigt werden, daß aufgrund dieser Defizite SachverhalSturma, Philosophie der Person, 66. – Vgl.: »Der physikalische Determinismus muß einen epistemologischen Standpunkt unterstellen, der der Bestimmung nach ein archimedischer Punkt jenseits von Raum und Zeit zu sein hätte, auf den die Bestimmungen und Determinationsgesetze nicht angewandt werden können, die seinen Voraussetzungen zufolge universell gelten sollen. Der Blick des physikalischen Determinismus auf die Welt kann der theoretischen Konstruktion nach weder innerhalb noch außerhalb der Welt plaziert werden. Liegt er innerhalb der Welt, wird die universelle Gültigkeit bzw. perspektivenlose Objektivität nicht erreicht, liegt er außerhalb der Welt, ist er kein Standpunkt möglicher Erkenntnis.« – Ebd. 16 Ebd. 67. 17 Ebd. 68. 18 Ebd. 75. 19 Ebd. 15
812 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
te, deren Faktizität nicht sinnvoll zu bestreiten ist, konstruktiv verstellt oder unterschlagen werden, wird eine Lücke im geschlossenen System des Physikalismus aufgerissen, auf die er theorieimmanent nicht mehr reagieren kann und die seinen Totalitarismus zum Zerspringen bringen muß. 20
Auf der Suche nach solchen Sachverhalten weist Sturma, worauf später im Rahmen des Vergleichs mit der Position Spaemanns zurückzukommen sein wird, mit Verweis auf Thomas Nagel die Bedeutung von ›Es-ist-zu-sein-Zuständen‹ in diesem Zusammenhang zurück. 21 Nach Sturma taugt Nagels ›Fledermausargument‹ nicht als Einwand gegen den Reduktionismus, da durch die »bloße Exposition einer partikularen Perspektive« 22 keine Geltungsansprüche erhoben werden, die vom Physikalismus ungerechtfertigterweise ausgeblendet werden: »In reduktionismuskritischen Argumentationen kann der objektive Standpunkt jedoch nicht aufgegeben werden, ohne damit zugleich die entscheidende begründungstheoretische Voraussetzung zu verlieren.« 23 Im Unterschied zu Nagel sieht Sturma also das Potential für eine reduktionismuskritische Argumentation allein im Verweis auf die »Perspektive der Person« 24, d. h. auf die »interne Struktur
Sturma, Philosophie der Person, 76–77. Vgl.: »Nagel bestreitet, daß mentalen Zuständen ohne Bedeutungsverlust eine physikalistische Beschreibung gegeben werden kann. Seinen Vorbehalt führt er mit Hilfe eines Gedankenexperiments aus, in dem das Problem aufgeworfen wird, ob die Frage, ›What is it like to be a bat?‹ auf theoretisch bedeutungsvolle Weise beantwortet werden kann. Fledermäuse haben ein von Menschen unterschiedenes Wahrnehmungsvermögen, das empirischen Beschreibungen und Verallgemeinerungen zugänglich ist. Von Fledermäusen kann mit Sicherheit gesagt werden, daß sie aufgrund ihres spezifischen Wahrnehmungsapparates Ereignisse und Gegenstände in Raum und Zeit anders als Menschen identifizieren. Darüber hinaus müssen ihnen aber auch Formen mentaler Zustände wie Hunger, Schmerzen und Angst zugeschrieben werden, und solche Zustände weisen sie wiederum als Lebewesen aus, die biologische Dispositions- und Verhaltensähnlichkeiten mit dem animal rationale teilen. Dieses Erfahrungsszenario erzwingt für Nagel den Schluß, daß Fledermäusen ein spezifischer subjektiver Charakter zugeschrieben werden muß, der als subjektiver Charakter mit konzeptualen Mitteln nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Nach dem Verlauf von Nagels Argument ist es vor allem die gänzlich anders geartete Wirklichkeitsauffassung, die einer Konzeptualisierung entgegensteht. Ein ›Es-ist-zu-sein-Zustand‹ hat danach eine subjektive Qualität, die per definitionem konkreteren, über begriffliche Expositionen hinausgehenden Zugriffen verschlossen sein soll.«– Ebd. 77. 22 Ebd. 80. 23 Ebd. 79. 24 Ebd. 81. 20 21
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
von Erlebniszuständen einer Person« 25, die nach Sturma prinzipiell durch Reflexivität gekennzeichnet sind. In Bezug auf diese spricht Sturma von einem »ontologischen Unvollständigkeitsargument« 26: »Die Erlebnisperspektive ist der Riß in der Ontologie des Physikalismus, die noch nicht durch den partikularen Standpunkt zum Zerspringen gebracht wird, sondern erst durch die reflexive Partikularität von Personen.« 27 Es ist wichtig festzuhalten, dass auf diese Weise sowohl naturalistische als auch spiritualistische Vorstellungen zurückgewiesen werden: Der Begriff der innerweltlichen Transzendenz ist eine Reflexionsfigur, der zufolge die Beschreibung der raumzeitlichen Welt von epistemischen Differenzierungen zwischen den Weisen der Existenz und den Weisen ihrer Erkennbarkeit beherrscht wird. Ontologie und Epistemologie der Person lassen sich entsprechend nicht eindeutig aufeinander abbilden. Der Umstand, daß bei der philosophischen Analyse personalen Lebens Ontologie und Epistemologie der Person nur partiell zur Deckung gebracht werden können, widerspricht der Wahrheit des physikalistischen Reduktionismus und der des noumenalen Dualismus gleichermaßen. 28
Sturma bezieht somit zwischen »monistischen und dualistischen Theorieperspektiven« 29 eine vermittelnde Position, indem er eine nicht-eliminative Variante des Physikalismus – »[13–T] Die Eigenschaften von Personen und die Eigenschaften von Ereignissen sind verschieden« 30 – mit einem epistemischen Dualismus – »[14–T] Personen haben Erlebnisse in der Welt der Ereignisse« 31 – verknüpft. Somit ergibt sich ein durchaus mit Schwächen behaftetes Konstrukt: Das ontologische Konzept der nicht-reduktionistischen Philosophie der Person ist dem Verlauf des reduktionismuskritischen Arguments nach ein komplementäres Theorieverhältnis von nicht-eliminativem Ereignismonismus und epistemischem Dualismus, das gleichermaßen durch partielle Vereinbarkeiten und Unbestimmtheiten ausgezeichnet ist. 32 25 26 27 28 29 30 31 32
Sturma, Philosophie der Person, 82. Ebd. 83. Ebd. 82. Ebd. 85. Ebd. 86. Ebd. Ebd. Ebd. 88.
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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
Auch wenn dies »als methodisch und explikativ unbefriedigend empfunden werden« 33 mag, sieht Sturma hierin eine dem Sachverhalt angemessene Beschreibung, die er durch Ansätze wie »Feigls ›double knowledge theory‹, Davidsons Anomaliethese sowie Nagels ›dual aspect theory‹« 34 bestätigt sieht. Sein Fazit der Reduktionismuskritik lautet in Thesenform: »[15–T] Weil Erlebnisse keine Ereignisse sind und Erlebnisse und Ereignisse wechselseitig aufeinander wirken, sind Erlebnisse und Ereignisse verschiedene Bestandteile eines einheitlichen ontologischen Raums.« 35 Die Erlebnisperspektive der Person, die den »Riß der reduktionistischen Ontologie« bildet, ist wesentlich ein »Reflexivitätsphänomen« 36, dessen eingehende Untersuchung Sturma mit der Betrachtung von Descartes’ Zweifelsbeweis beginnt. Descartes ist nach Sturma auf der Suche nach einem fundamentum inconcussum des Denkens auf die »prinzipielle Infallibilität der Selbstgewißheit seines Subjekts« 37 gestoßen: »Die infallible Selbstgewißheit ist Ausdruck des Sachverhalts, daß das unmittelbare Bewußtsein der eigenen Existenz keinen deskriptiv identifizierbaren Referenten enthält.« 38 Auch wenn Descartes dann doch »ein referentielles Korrelat der Selbstgewißheit im metaphysischen Raum substantialer Reifizierungen auszumachen« versucht und damit »das unmittelbare Bewußtsein der eigenen Existenz paralogistisch in einen Satz über eine Seelensubstanz verwandelt« habe, bleibt nach Sturma unbenommen, »daß Descartes die theoretische Situation nach der philosophischen Entdeckung der Selbstgewißheit und vor der substanzegologischen Reifizierung der res cogitans zutreffend beschrieben hat« 39. Genau auf diese Situation komme es für eine Philosophie der Person an: Die Unabhängigkeit der Selbstgewißheit, die von Descartes nicht hinreichend analysiert worden ist und ihn letztlich zu den unberechtigten Reifizierungen der res cogitans geführt hat, ist für die Philosophie des Selbstbewußtseins von entscheidender Bedeutung, weil sie auch losgelöst von Descartes’ substanzegologischen Spekulationen theoreti-
33 34 35 36 37 38 39
Sturma, Philosophie der Person, 89. Ebd. 93. Ebd. 94. Ebd. 97. Ebd. 101. Ebd. Ebd.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
sches Gewicht beanspruchen kann und überdies mit einem hohen reduktionismuskritischen Potential ausgestattet ist. 40
Das Selbstbewusstsein zeichnet sich als Phänomen dadurch aus, dass es »in seiner Qualität auf keinen anderen Fall intentionalen Bewußtseins reduzierbar und hinsichtlich seiner Instantiierung offensichtlich selbstgenügsam ist« 41. Das Problem, das sich aus dieser Phänomenbeschreibung ergibt, besteht darin, dass das Selbstbewusstsein, wenn es nicht als referentiell gedacht werden kann, auch »nicht als reflexiver Zustand angesehen werden« 42 könnte. Dies hätte für die »reduktionismuskritischen Intentionen der Philosophie der Person« 43 zur Folge, dass sich aus dem »Faktum der Erlebnisperspektive […] keine bewußtseinsphilosophischen Sachverhalte in der Gestalt epistemischer Selbstverhältnisse« 44 ableiten ließen und das Projekt einer Philosophie der Person im Anfangsstadium gescheitert wäre. Daraus folgert Sturma: Die interne Verbindung von Erlebnisperspektive und epistemischem Selbstverhältnis läßt sich nur mit Hilfe eines Begriffs des Selbstbewußtseins rekonstruieren, der die Bestimmungen der Selbstvertrautheit und Reflexion bewußtseinsphilosophisch zusammenhalten und unmittelbar auf die Erlebnisperspektive der Person beziehen kann. Nur auf diese Weise kann das reduktionismuskritische Projekt der Philosophie der Person in einen konstruktiven Begriff der Selbstbestimmung überführt werden. 45
Mit Bezug auf Wittgensteins Privatsprachenargument legt Sturma dar, »daß eine bestimmte Form epistemischer Selbstverhältnisse als private Sprache aufgefaßt werden kann« 46, dass es also eine Sprache der Subjektivität gibt – »[22–T] Subjektive Bestimmungen haben ihre eigene Grammatik und Objektivität« 47 –, »denn ich bin derjenige, der über das faktische Vorliegen meiner Bewußtseinszustände und insofern auch über den Wahrheitswert dieser Beziehungen entscheidet« 48. Mit Bezug auf Descartes lässt sich somit »die bewußtseinsphi40 41 42 43 44 45 46 47 48
Sturma, Philosophie der Person, 101–102. Ebd. 102. Ebd. 106. Ebd. Ebd. Ebd. 107. Ebd. 116. Ebd. 115. Ebd. 118.
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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
losophische Formel ›ich denke‹ mit der Sprache der Subjektivität in einen internen Zusammenhang bringen« 49: »Der Satz ›ich denke‹ kann nur deshalb als private Sprache auftreten, weil er den Satz ›ich existiere‹ immer schon enthält. Der Kern der epistemischen und existentiellen Privatsprache ist insofern nicht der Satz ›ich denke‹, sondern das wechselseitige Implikationsverhältnis von ›ich denke‹ und ›ich existiere‹.« 50 In diesem Implikationsverhältnis besteht eine gegenläufige epistemologische und ontologische Hierarchisierung: »In systematischer Hinsicht führt dabei der Weg von der Selbstgewißheit und dem bewußtseinsphilosophischen Vorrang des ›ich denke‹ vor dem ›ich existiere‹ zur bewußten Erfahrung des ontologisch vorausgesetzten ›ich existiere‹.« 51 In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt so die »eigentümliche Semantik des Existenzbegriffs« 52, der »den Zustand bzw. Modus eines Gegenstandes in Raum und Zeit« bezeichnet, »und es ist dieses Existenzverhältnis, das im Selbstbewußtsein bewußt wird« 53. Sturma spricht von einer »Doppelperspektive« des Selbstbewusstseins, in der »das Subjekt des Bewußtseins sowohl für sich selbst als auch für das einzustehen hat, was zu Bewußtsein kommt« 54. Diese Doppelperspektive drängt dazu, das Selbstbewusstsein nach dem Subjekt-Objekt-Modell oder nach einem Gegenmodell, das »die Reflexivität und Referentialität des Selbstbewußtseins zum Verschwinden« 55 bringt, zu betrachten: »Von dieser Theoriealternative hat sich gezeigt, daß sie mit Hilfe der privaten Sprache des ›ich denke‹ und der Semantik des Existenzbegriffs umgangen werden kann.« 56 Die damit angezeigte Lösungsoption lässt sich noch einmal aus zwei Perspektiven beleuchten, einerseits der des ›ich denke‹ : »Das Subjekt des Selbstbewußtseins kann sich als Subjekt nicht bewußt werden, zu Bewußtsein kommt immer nur das objektivierbare Ich, das kein Ich im ursprünglichen Sinne, sondern ein selbstreferentieller Sachverhalt ist.« 57 Andererseits aus der des ›ich existiere‹ : »Die Begriffe der Doppelstruktur des Selbstbewußt49 50 51 52 53 54 55 56 57
Sturma, Philosophie der Person, 116. Ebd. 121. Ebd. 125. Ebd. 136. Ebd. Ebd. 138. Ebd. 139. Ebd. Ebd. 141.
817 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
seins und der reflektierten Distanz besagen, daß Personen sich aus der gegebenen Unmittelbarkeit ihres Lebens vermittels ihres selbstreferentiellen Bewußtseins lösen können.« 58 Nach Sturma findet die »reduktionismuskritische Argumentationsperspektive der Philosophie der Person schließlich ihren systematischen Abschluß« darin, dass »die reflektierte Positionalität des Bewußtseins der eigenen Existenz immer schon den Stellenwert eines praktischen Verhältnisses zur Welt« 59 gewinnt. Es hat sich somit eine »subjektivitätstheoretische Ausdeutung« 60 der konstatierten Differenz zwischen Ereignissen und Erlebnissen ergeben: Das unerwartete Ergebnis der Ausdeutung besteht darin, daß sich schon in der subjektivitätstheoretischen Entfaltung des Irreduzibilitätsarguments die Umrisse eines praktischen Selbstverhältnisses abzeichnen, das dadurch zustandekommt, daß die exklusive ontologische Position einer Person unmittelbar in ihre selbstreferentiellen Bewußtseinszustände eingeht. 61
Das für »die Philosophie der Person entscheidende[…] Fazit« zieht Sturma in den Thesen: »[35–T] Personen verändern partiell die Welt der Ereignisse« und »[36–T] Personen verändern sich als Personen in der Welt der Ereignisse.« 62
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person Die philosophisch relevante Geschichte des Personbegriffs lässt Sturma mit dessen Fundierung durch John Locke und der sich auf sie beziehenden Kritik durch Gottfried Wilhelm Leibniz beginnen: 63 Die Rekonstruktion von Lockes und Leibniz’ Positionen zur personalen Identität hat für die Grundlegung der Philosophie der Person ent-
Sturma, Philosophie der Person, 144. Ebd. 145. 60 Ebd. 146. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Die für Kobusch zentrale Fundierung in der scholastischen Philosophie des 13. Jahrhunderts streift Sturma nur flüchtig. Mit Bezug auf die trinitätstheologische Formel »tres personae – una substantia« bemerkt er, dass sie der »Sache nach […] nichts anderes als das offene Eingeständnis einer nicht zu lösenden Problematik« sei. – Vgl. ebd. 47. 58 59
818 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person
scheidende Bedeutung. Ihre Analysen errichten nicht nur einen systematischen Rahmen für die Philosophie der Person, sondern bringen auch thematische Bereiche der theoretischen und praktischen Philosophie einander näher. 64
Ausgangspunkt der Überlegung ist Lockes gegen den cartesischen Ansatz gerichtetes Bemühen, »sich durch begriffliche Ausgrenzungen des Substanzproblems zu entledigen« 65. Seine »Theorie personaler Identität« geht aus von der »Exposition eines Identifizierungskriteriums für die Gegenstände oder Sachverhalte, von denen Identität ausgesagt werden soll«: Das Kriterium ist die exklusive raumzeitliche Position des intentionalen Korrelats von Identifizierungsprozessen und seines dadurch gesetzten Anfangs in Raum und Zeit. Verschiedene Identitätsbegriffe sind danach auf ein- und denselben Gegenstand anwendbar, wenn sie sich nach Maßgabe dieser Kriterien unterscheiden lassen. Diese definitorische Festsetzung gewinnt bei Locke entscheidende Bedeutung bei der semantischen Differenzierung zwischen den Begriffen des Menschen und der Person. Mit der für das Problem personaler Identität überaus wichtigen kriteriellen Vorklärung ist die Frage nach dem principium individuationis bereits beantwortet. Locke bestimmt als Individuationsprinzip die raumzeitliche Existenz des jeweiligen Individuums: [37–S] Die Position einer Entität in Raum und Zeit konstituiert ontologisch ihre Identität. 66
Nachdem der Begriff der Substanz ausgegrenzt und für den Begriff des Menschen so ein empirisches Identifizierungskriterium gegeben worden ist, bleibt das Problem der Bestimmung des Begriffs der Person. Als »ausdrückliche Grundlegung der neuzeitlichen Philosophie der Person« zitiert Sturma Lockes knappe Formel: »a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider itself, as itself, the same thinking thing in different times and places; which it does only by that consciousness which is inseparable from thinking,
Sturma, Philosophie der Person, 151. Ebd. 155–156. – Vgl.: »Locke geht davon aus, daß jede Person sehr wohl eine Substanz habe, nur sei sie eben nicht erkennbar. Aufgrund dieser erkenntniskritischen Einschränkung, die ontologisch zunächst keine Konsequenzen hat, muß Locke in erster Linie als egologischer Agnostizist und weniger als egologischer Skeptiker gelten.« – Ebd. 196. 66 Ebd. 159. 64 65
819 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
and, as it seems to me, essential to it« 67. Die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale für den Begriff der Person sind somit »Reflexivität und Identität des Selbstbewußtseins« 68. Sturma weist auf das prinzipielle Problem dieses Definitionsversuchs hin: Die Schwierigkeit des semantischen Zugriffs besteht darin, daß den eigenen methodischen Vorgaben nach die abstrakte Idee »Person« als Quasi-Artbegriff vorausgesetzt werden muß. Es unterbleibt jedoch der Nachweis, wie in gerechtfertigter Weise »Person« eine Art bezeichnen kann, und das dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß eine definitorische Überschneidung mit dem Terminus »Mensch« bestenfalls künstlich vermieden werden könnte. Lockes Versuch, diese Schwierigkeit dadurch zu umgehen, daß er das vernünftige Individuum durch eine definitorische Setzung in eine organische und personale Existenz aufteilt, macht das definitorische Dilemma nur offenkundig. Der Begriff der Person wird nicht diskursiv oder explikativ eingeführt, sondern als spezifizierter Terminus bereits von vornherein vorausgesetzt. Die semantische Setzung läßt aber keinen theoretischen Gewinn kenntlich werden. In der ungeklärten Definitionslage des Begriffs »Person« muß vielmehr die erste gewichtige Begründungslücke in Lockes Theorie personaler Identität gesehen werden. 69
Ein weiteres Problem erkennt Sturma in Lockes »Koextensionalitätsthese« 70, der Behauptung also, dass personale Identität »so weit reiche, wie sich das Bewußtsein der jeweiligen Person retrospektiv in ihre Vergangenheit erstrecke« 71. Ohne eine »konstitutive Synthesistheorie des Bewußtseins«, betont Sturma, muss diese These zu einem »vitiöse[n] Zirkel« 72 führen: Locke denkt sich die interne Struktur des inneren Sinns nach Maßgabe des reflexionstheoretischen Modells der Selbsttransparenz, und er macht dabei keinen Unterschied zwischen mentalen Akten und mentalen Zuständen. Es ist für ihn offensichtlich nicht vorstellbar gewesen, daß eine Person sich in einem Bewußtseinszustand befinden kann, ohne sich auch zugleich bewußt zu sein, sich in diesem Bewußtseinszustand zu befinden. Locke gerät auf diese Weise in die Zirkel der
John Locke, An Essay concerning Human Understanding, 225 [II. 27 § 9]. – Vgl. Sturma, Philosophie der Person, 164. 68 Sturma, Philosophie der Person, 164. 69 Ebd. 70 Ebd. 165. 71 Ebd. 167. 72 Ebd. 67
820 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person
Reflexionstheorie, denn reflektierte Bewusstseinszustände sollen ihm zufolge nur durch die zusätzlichen Reflexionsakte des »internal sense« zustande kommen können, und durch diese zusätzlichen Reflexionsakte wird der für die Reflexionstheorie des Bewußtseins typische regressus in infinitum in Gang gesetzt. 73
In dieser »Zirkularität des retrospektiven Bewußtseins« sieht Sturma »die zweite Begründungslücke in Lockes Theorie personaler Identität« 74. Aus dieser ergibt sich als dritte Begründungslücke das Problem, »daß der zeitliche Sinn personaler Identität, also das Vermögen über kurzzeitige Gedächtnislücken hinweg sich seiner Identität bewußt werden zu können, nicht verständlich gemacht werden kann« 75. Durch diese »drei Begründungslücken in Lockes Theorie personaler Identität« wurde nach Sturma »im Gegenzug eine substanzphilosophisch orientierte Kritik hervorgerufen« 76, innerhalb deren er vier Argumentationstypen unterscheidet. 77 Von Bedeutung im hier verfolgten Zusammenhang sind vor allem das »Reflexionsargument«, das »Identität als das logisch und zeitlich Frühere« ausweist – »[38–S] Dem Bewußtsein der Identität muß die Identität der Person vorhergehen« 78 – sowie das »Selbstreferentialitätsargument«, das im Mittelpunkt von Leibniz’ Locke-Kritik steht: Das Selbstreferentialitätsargument stellt den Problemkomplex der philosophischen Synthesistheorie in den Mittelpunkt der Theorie personaler Identität. Seine gleichermaßen konstruktive und kritische Zielrichtung ist der Nachweis, daß der empirischen Erscheinungsweise von zeitlichen Veränderungsprozessen ein empirisch nicht ableitbarer Identitätsprozeß zugrunde liegen muß: [40–T] Personale Identität ist ein selbstreferentieller und empirisch nicht identifizierbarer Veränderungsprozeß über die Zeit hinweg. 79
Sturma, Philosophie der Person, 158. Ebd. 167. 75 Ebd. 168. 76 Ebd. 169. 77 Vgl.: »Systematisch läßt sich die substanzphilosophische Kritik an der empiristischen bzw. empiristisch akzentuierten Theorie personaler Identität in vier Argumentationstypen unterscheiden: in das Reflexions-, das Qualitäts-, das Selbstreferentialitäts- und das Kontinuitätsargument.« – Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd. 174. 73 74
821 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Will man also unter Berücksichtigung der berechtigten Kritik an Lockes Ansatz dessen »Versuch, personale Identität konzeptionell aus einem Bewusstseinsbegriff zu entwickeln« 80, weiterführen, muss die »diskriminatorische Funktion des Begriffs der Person in Abgrenzung zum biologischen Klassifikationsbegriff des Menschen« 81 näher betrachtet und das »Spannungsverhältnis der Sätze« 82 »[37–S] Die Position einer Entität in Raum und Zeit konstituiert ontologisch ihre Identität« 83 und »[44–S] Bewußtsein konstituiert personale Identität« 84 untersucht werden: Mit den philosophischen Analysen personaler Identität tritt – ähnlich wie im Fall des Selbstbewußtseins – eine Doppelstruktur personaler Existenz zutage. Während sich eine Person in Selbstverhältnissen auf ihre Präsenz in Raum und Zeit bezieht […] oder zu ihrer Position in Raum und Zeit verhält […], begegnet ihr die eigene Identität als etwas, das gegeben und zugleich offen für selbstreferentielle oder fremdbestimmte Veränderungen ist: [45–T] Personen beziehen sich auf ihre Identität als eine gegebene und herzustellende Identität. 85
Die Doppelstruktur personaler Existenz fasst Sturma als »Verbindung von Indexikalität und Idealität« 86. Einerseits ist der »Ort einer Person in Raum und Zeit« ontologisch festgelegt und »kann anhand von indexikalischen Ausdrücken durchgängig identifiziert werden«, andererseits gehört es »zu den Eigenschaften personalen Lebens, daß sein Subjekt das räumlich und zeitlich Gegebene reflektierend überschreiten kann« 87. Diese hier als ›Idealität‹ gefasste personale Fähigkeit zur Selbsttranszendenz impliziert die Thematisierung des Anderen. Locke selbst bereits sah sich nach Sturma in seinem »Essay concerning Human Understanding« zu einer »phänomengerechte[n] Korrektur« seiner Argumentation veranlasst, insofern er im Übergang zu einer moralphilosophischen Verwendung des Begriffs der Person die »mit dem Standpunkt der dritten Person gesetzten interpersonalen An-
80 81 82 83 84 85 86 87
Sturma, Philosophie der Person, 169. Ebd. 180. Ebd. 187. Ebd. 159. Ebd. 185. Ebd. 187. Ebd. 204. Ebd.
822 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person
erkennungsverhältnisse« 88 einzubeziehen begann, wodurch er freilich in einen Widerspruch zu seiner Koextensionalitätsthese geriet, insofern die Person dann unabhängig von der Extension ihrer Erinnerung als Subjekt zurechenbarer Handlungen aufgefasst wird. Einen entscheidenden Schritt über Locke hinaus tat in dieser Hinsicht Kant in dem Gedanken, »daß der Zurechenbarkeitsgedanke noch nicht aus der Identität des Selbstbewußtseins, sondern erst aus der moralischen Selbstgesetzgebung folgt« 89. Der Gedanke der Selbstgesetzgebung beinhaltet angesichts der Doppelstruktur personaler Existenz das Problem, »daß Moralität nur vom subjektiven Standpunkt aus gedacht werden kann, der Gedanke moralischer Autonomie aber nur unter der Voraussetzung des impersonalen Standpunkts konstruierbar ist« 90. Die Verwirklichung von Autonomie hat daher zur Voraussetzung, »daß sich eine Person von ihrer empirischen Bestimmtheit löst und in praktischen Selbstverhältnissen vom subjektiven zum impersonalen Standpunkt übergeht« 91. In Thesenform lautet der Gedanke wie folgt: »[52–T] Autonomie ist das reflexive Verhältnis der subjektiven Perspektive zum impersonalen Standpunkt.« 92 Daher ist nach Sturma der kategorische Imperativ »nicht nur der Schritt vom Selbst zum Anderen, sondern vor allem auch der Schritt vom Selbst zur Person« 93. Mit diesem Gedanken sind die wesentlichen Entfaltungsschritte in der von Sturma entworfenen Geschichte des Begriffs der Person nachvollzogen. Die Betonung der praktischen Selbstverhältnisse im Übergang vom Selbst zur Person verdeutlicht, dass es in Sturma, Philosophie der Person, 191. Ebd. 207. 90 Ebd. 211. – Unter dem »impersonalen Standpunkt« versteht Sturma eine hypothetische Annäherung an die der Person in ihren praktischen Selbstverhältnissen aufgegebene Verbindung von Indexikalität und Idealität. Mit Bezug auf den kategorischen Imperativ bemerkt Sturma: »Obwohl einige Formulierungen Kants und eine Vielzahl rezeptionsgeschichtlicher Urteile das Gegenteil nahelegen, muß der Begriff der Impersonalität immer als unter dem indexikalischen Vorbehalt stehend aufgefaßt werden. Standpunkte setzen Subjekte voraus, weshalb es einen impersonalen Standpunkt im unmittelbaren Wortsinn gar nicht geben kann. Im moralphilosophischen Kontext ist ein impersonaler Standpunkt dementsprechend immer ein Standpunkt individueller Personen. Dieses Bestimmungsverhältnis hat die komplizierte semantische Situation zur Folge, daß der Begriff der Impersonalität referentiell niemals einlösbar ist und als Annäherungsbestimmung nur eine Tendenz ausdrücken kann.« – Ebd. 205. 91 Ebd. 212. 92 Ebd. 213. 93 Ebd. 206. 88 89
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
der Weiterführung der Gedanken vor allen Dingen um die »Person als Handelnde« 94 gehen wird.
11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung Um in der philosophischen Durchdringung der »Bestimmung des doppelten Selbst, die das Reflexionsverhältnis des personalen Standpunkts strukturell auf den Begriff bringt« 95, einen weiteren Schritt gehen zu können, wendet Sturma sich dem Thema der Selbsttäuschung zu. Dieser ist genau dann bedeutend für eine Philosophie der Person, »wenn er sich auf selbstreferentielle Tendenzen und Dispositionen von Personen über die Zeit hinweg bezieht« 96. In diesen unterliegen Personen der Möglichkeit nach Selbsttäuschungen, insofern es einen »Zusammenhang von unbewußten Formierungsprozessen und expliziten Bewußtseinszuständen« 97 geben kann. In diesem Kontext bezieht Sturma sich auf »Schellings naturphilosophische Geschichte des Selbstbewußtseins« 98. Die Bedeutung seiner »Konzeption eines Unbewußten des Bewußtseins« 99 besteht darin, dass sie als »eine Version der ›dual aspect theory‹, die der Intention nach naturphilosophischen Monismus und epistemischen Dualismus aufeinander bezieht« 100, verstanden werden kann: Obwohl in subjektiver Perspektive die Differenz von Selbstbewußtsein und seiner naturbestimmten Vorgeschichte als eminenter Unterschied erscheint, ist in naturphilosophischer Hinsicht immer nur von einer Welt auszugehen: »Was außer dem Bewußtseyn gesetzt ist, ist dem Wesen nach eben dasselbe, was auch im Bewußtseyn gesetzt ist.« 101
Es geht damit um eine »Relativierung von Subjektivität im relationalen Sinne« 102, also durch den Bezug auf ihre eigene Natur, mit einer Sturma, Philosophie der Person, 218. Ebd. 220. 96 Ebd. 231. 97 Ebd. 233. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Ebd. 235. 101 Ebd. 234. – Quelle des eingefügten Zitats nach Sturma: Schelling, Sämtliche Werke, X, S. 229. 102 Ebd. 236. 94 95
824 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung
erkenntniskritischen Implikation: »Weil sich epistemischen Selbstverhältnissen bestenfalls ein Teilbereich menschlicher Individualität öffnet, können die Konstitutionsprozesse menschlicher Individualität und Subjektivität nicht analytisch aufgeklärt werden.« 103 In Thesenform drückt Sturma diese Gedanken folgendermaßen aus: [65–T] Die Bereiche des Unbewußten des Bewußtseins und der reflektierten Zustände des Bewußtseins gehen entwicklungsgeschichtlich auseinander hervor. […] [66–T] Die Bereiche des Unbewußten des Bewußtseins und der reflektierten Zustände des Bewußtseins sind strukturell ähnlich. 104
Aus dem Zusammenhang der beiden Thesen ist nach Sturma zu folgern, dass das »bewußtseinsphilosophische Faktum des Unbewußten […] das Vorliegen eines besonderen Selbstverhältnisses an[zeigt], das wesentlich durch Präreflexivität bestimmt wird.« 105 Da sich die Bezugnahme auf dieses »immer schon interpretierend bzw. interpretiert vollzieht«, muss dem Präreflexiven ein »kognitiver Gehalt« 106 zuerkannt werden. Die durch solche Kontexterweiterung reflektierte Relativierung der Subjektivität steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Kontingenz, in dem »sich semantisch das Problemsyndrom der Frage nach dem Subjekt personalen Lebens« 107 zusammenzieht. Allgemein bezieht dieser Begriff sich »auf Sachverhalte, Gegenstände und Ereignisse, die in Raum und Zeit zwar existieren, aber eben nicht auf notwendige Weise« 108. Im Hinblick auf Personalität gewinnt der Begriff besondere Bedeutung: Gegenüber allen anderen Formen kontingenter Existenz weist personales Leben die Eigentümlichkeit auf, sich der Kontingenz des eigenen endlichen Daseins bewußt werden zu können. Personen sind grundsätzlich in der Lage, sich als kontingent zu thematisieren, das heißt, sie existieren als selbstreferentielle Kontingenz. 109
103 104 105 106 107 108 109
Sturma, Philosophie der Person, 240. Ebd. 241–242. Ebd. 243. Ebd. 250. Ebd. 254. Ebd. 257. Ebd.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Da personale Kontingenzerfahrung immer mit Zeitlichkeit verbunden ist, führt Sturma die Begriffe der »Zeitneutralität« und der »ausgedehnten Gegenwart« ein, die für das Ausgreifen des Subjekts auf Vergangenheit und Zukunft im Bewusstsein stehen: »Für Personen ist Zeit die Dimension des Bewußtseins der eigenen Kontingenz, die mit Hilfe von zeitneutralen Einstellungen reflektierend überschritten werden kann.« 110 Eine solche Relativierung der eigenen Kontingenz ist in der personalen »Fähigkeit, reflektierte Kontinuitäten über die Zeit hinweg zu etablieren« 111, begründet. Kontingenz und Kontinuität stehen daher für Personen in einem unauflöslichen Zusammenhang, so dass gleichermaßen gilt: »[79–T] Im Fall personaler Existenz gibt es keine Kontingenz ohne Kontinuität« und »[80–T] Im Fall personaler Existenz gibt es keine Kontinuität ohne Kontingenz« 112. Das personale Kontingenzbewusstsein, das somit Kontinuität erst ermöglicht, führt in der reflexiven Wendung an eine Grenze, die Sturma mit dem Begriff der Existentialität benennt: Existentialität ist für die Person ein irreduzibler Sachverhalt, weil sie sich selbst gegenüber keine kontingente Einstellung einnehmen kann […]. Obwohl Personen in der Gestalt reflektierter Endlichkeit keine Bedingung der Existenz der raumzeitlichen Welt sind, gäbe es ohne ihre subjektiven Perspektiven keine Erfahrung von dieser Welt, und das ist ein nicht-kontingentes Faktum personaler Existenz. 113
Aus der Unmöglichkeit, eine kontingente Einstellung zu sich selbst einzunehmen, ergibt sich die Vorstellung eines »Lebensplans« als »selbstreferentielle Vereinheitlichung von Handlungsgeschichten« 114. Damit ist nicht die »konkrete Formulierung von inhaltlichen Lebenszielen« 115 gemeint, sondern »eine allmähliche Annäherung an die Vernunft durch bestimmte Negation, durch allmähliche Reduzierungen von Heteronomie« 116. Die in der Vorstellung eines vernünftigen Lebensplans durch ihre Übertragbarkeit auf andere Subjekte implizierte Anerkennung anderer Personen – die »moralische Externalisie-
110 111 112 113 114 115 116
Sturma, Philosophie der Person, 279. Ebd. 283. Ebd. Ebd. 294. Ebd. 298. Ebd. 302. Ebd. 303.
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11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung
rung« 117 – wird von Sturma anhand der sozialphilosophischen Konzeptionen Sartres und Levinas’ thematisiert. 118 Im Unterschied zum Ansatz Levinas’ bleibt Sturmas Konzeption des Anderen eindeutig in der moralischen Selbsterfahrung fundiert: Die Anwesenheit anderer Personen in der subjektiven Perspektive der einzelnen Person vollzieht sich kognitiv und praktisch als eine selbstreferentielle Beziehung auf Entitäten, denen auf unmittelbare Weise der gleiche Status zugebilligt wird wie der, den sich das Subjekt selbst zuschreibt, und in diesem Gegenseitigkeitsverhältnis subjektiver Perspektiven enthüllt sich eine wesentliche Bestimmung des eigenen personalen Standpunkts: [91–T] Im Fall personaler Existenz ist moralische Erfahrung moralische Selbsterfahrung. Satz [91–T] behandelt die subjektive Perspektive auch in praktischer Hinsicht als Sonderfall. Die Bezugnahme auf die eigene Perspektive wie auf die anderer Personen unterscheidet sich grundsätzlich von herkömmlichen Fällen äußerer Reflexion, und diese Differenz ist bei den Bewertungen des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Philosophie kaum berücksichtigt worden. 119
Von großer Bedeutung für Sturmas Philosophie der Person ist seine »Erklärung des Zustandekommens des Schritts des Selbst zum Anderen« 120. Orientiert an der kantischen Philosophie vertritt er die These, dass dieser Schritt als »Sprung« 121 bestimmt werden muss. Der »diskontinuierliche Übergang des Selbst zum Anderen« ist demnach in den sehr unterschiedlichen »moralpsychologischen Dispositionen« 122 von »Eigennutz« und »Selbstinteresse« 123 begründet. Während Eigennutz für eine einseitig egoistische Haltung steht, schließt das Selbstinteresse moralische Externalisierungen ein. Sturma spricht von einer »holistischen Konzeption menschlichen Bewußtseins« 124: »Der systematische Kerngedanke der holistischen Konzeption ist der der Identität über die Zeit hinweg, die sich im Fall personaler Existenz
117 118 119 120 121 122 123 124
Sturma, Philosophie der Person, 305. Vgl. ebd. 306–309. Ebd. 309–310. Ebd. 325. Ebd. 327. Ebd. Ebd. 328. Ebd. 332.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
als zeitliche Selbsterweiterung äußert.« 125 Das vernünftige Selbstinteresse steht somit als Selbsterweiterung in einem Gegensatz zu einer bloß individualistischen Perspektive: »[101–T] Der Fluchtpunkt des vernünftigen Selbstinteresses ist die Selbsterweiterung der Person als Person.« 126 Nur durch Schritte zu einer solchen Erweiterung, die sich auf »das Unbewußte und Emotive«, auf »Selbstverhältnisse über die Zeit hinweg«, auf »die Anerkennung anderer Personen« und auf »die Kontingenz des eigenen Lebens« beziehen können, kann nach Sturma das »Potential[…] personalen Lebens« 127 ausgeschöpft werden.
11.2.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Sturmas und Spaemanns Ebenso wie in dem Vergleich der Positionen Kobuschs und Spaemanns kann auch hier zunächst vorausgesetzt werden, dass sowohl Sturma als auch Spaemann denselben Phänomenbereich, nämlich im Bewusstsein ihrer Freiheit lebende Personen im Blick haben. Eine weitere auffällige Gemeinsamkeit beider Denker kann in der offen zutage tretenden antireduktionistischen Stoßrichtung ihrer Argumentationen erblickt werden. Dabei lehnt Spaemann, der das Nebeneinander von Naturalismus und Spiritualismus immer wieder als Signum des modernen Denkens kritisch reflektiert hat, ebenso wie Sturma eine dualistische Weltverdopplung zur Rettung des in Frage stehenden Phänomenbestands ab. Wie Sturma geht es Spaemann um die interne Entfaltung einer Gegenposition. 128 Der in dieser Entfaltung allerdings auftretende prinzipielle Gegensatz zwischen Sturma und Spaemann kann zunächst ausgehend von dem von beiden thematisierten Fledermausargument Thomas Nagels thematisiert werden. Wie oben gesehen, betrachtet Sturma dieses Argument als prinzipiell ungeeignet für die Explikation der Reduktionismuskritik, die nach seiner Überzeugung ausschließlich von der Perspektive der Person aus argumentieren kann. 129 An dieser Stelle sei noch einmal an die
125 126 127 128 129
Sturma, Philosophie der Person, 333. Ebd. Ebd. 354. Vgl. ebd. 75. Vgl. Abschnitt 11.2.1, Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein, 813.
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11.2.4 Vergleichende Analyse
Bedeutung dieses Arguments im Denken Spaemanns erinnert. Für Spaemann ist die Wahrnehmungsevidenz im Hinblick auf andere Lebewesen, die Sturma mit dem Begriff der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹ fasst, im Gegensatz zu diesem durchaus ein Argument zur Explikation der Reduktionismuskritik. Dieses basiert allerdings auf seiner Überzeugung, wonach eine Wahrnehmung von Sein – und Leben –, die ein Verhältnis der Anerkennung begründet, möglich ist. 130 Spaemann widerspricht also Sturmas Einschätzung, wonach ›Es-ist-zusein-Zustände‹ aufgrund der Partikularität der Perspektive, die in ihnen angesprochen ist, nicht Ausgangspunkt einer verallgemeinerbaren Argumentation sein können. Für Spaemann sind sie Ausdruck von Lebendigkeit, die uns als personale Subjekte mit anderen Lebewesen – auch solchen, die nicht über Selbstbewusstsein verfügen, – verbindet. Damit ist keineswegs gesagt, dass Spaemann den »qualitativen Unterschied von ›Es-ist-zu-sein-Zuständen‹ und Erlebnissen«, auf dem Sturma zurecht besteht, leugnen würde. Wie im zweiten Teil dieser Arbeit versucht wurde zu zeigen, ist wohl das zentrale Theoriestück von Spaemanns Philosophie in der Argumentation zu sehen, durch die die personale Perspektive als reflexiv gewendetes Ausseinauf gedeutet wird. 131 Der qualitative Unterschied zwischen beidem ist aber nach Spaemann nicht ohne die in ihm enthaltene Gemeinsamkeit verständlich. Und genau in diesem Punkt widerspricht er Sturma entschieden. Was somit Spaemann von Sturma trennt, ist das teleologische Denken, das für jenen von zentraler Bedeutung ist, für diesen dagegen keine Rolle spielt. Nach dieser vorgängigen Klärung könnte man nun annehmen, dass die Personenphilosophien Spaemanns und Sturmas aufgrund dieser gegensätzlichen Prämissen völlig verschiedene Wege gehen müssen. Das Frappierende des Vergleichs beider besteht aber darin, dass sich ganz im Gegenteil sehr weit reichende Parallelen und Übereinstimmungen in beiden Ansätzen nachweisen lassen, auch wenn sich in diesen die gegensätzlichen Prämissen immer wieder zu erkennen geben. Diese These soll im Folgenden in einigen Gedankengängen erläutert werden. Der cartesische Zweifelsbeweis ist für Spaemann und Sturma gleichermaßen von großer Bedeutung im Rahmen ihrer ArgumentaVgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 198–199, u. Abschnitt 9.3.2, ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich, 734. 131 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 583–599. 130
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
tionen. Den Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, den Spaemann als »Theologisierung der Ontologie« 132 deutet, wertet Sturma als »unberechtigte[…] Reifizierungen der res cogitans« 133. Während Spaemann jedoch versucht, eine alternative metaphysisch-analoge Deutung dieses Schrittes ins Gespräch zu bringen, 134 die für sein Denken von zentraler Bedeutung ist, und somit an dem Schritt selbst festhalten will, geht Sturma einen Schritt zurück zur »theoretische[n] Situation nach der philosophischen Entdeckung der Selbstgewißheit und vor der substanzegologischen Reifizierung der res cogitans« 135. Auf diese Situation nimmt Spaemann in »Personen« Bezug und spricht dort davon, dass Descartes in ihr »den entscheidenden Zug dessen, was Personsein heißt, sichtbar« 136 gemacht habe. Sturma versucht aus ihr seinen Begriff der Person zu entwickeln und kommt im Kontext der Überlegungen über eine ›private Sprache‹ zu einem Gedanken, mit dem er sich der Position Spaemanns weiter annähert. 137 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139. Sturma, Philosophie der Person, 102. 134 Vgl. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383. 135 Sturma, Philosophie der Person, 101. 136 Spaemann, Personen (1996), 144. – Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 528. 137 Vgl. dazu einerseits folgende Bemerkung Sturmas: »Andere Personen können sich zwar in öffentlicher Sprache mit Hilfe von propositionalen Einstellungen auf meine Bewußtseinszustände beziehen, aber die Grenzen der öffentlichen Sprache sind nicht die Grenzen der Erfahrbarkeit meiner Bewußtseinszustände. Die bewußtseinsphilosophische Durchlässigkeit der öffentlichen Sprache ist auch unter der Voraussetzung sprachanalytischer Kriterien erkennbar, denn ich bin derjenige, der über das faktische Vorliegen meiner Bewußtseinszustände und insofern auch über den Wahrheitswert dieser Beziehungen entscheidet. Bereits daraus kann sprachanalytisch abgeleitet werden, daß mir ein epistemisches Selbstverhältnis unterstellt werden muß.« – Sturma, Philosophie der Person, 118. – Vgl. dazu andererseits folgende Bemerkung Spaemanns: »Schmerzen Empfinden und Hören sind subjektive Ereignisse. Aber sie sind zugleich streng objektiv und absolut in dem Sinne, dass sie zwar nur von einem Menschen erlebt werden, dass die Tatsache dieses Erlebens aber eine Wirklichkeit ist, die für das Urteil aller Menschen verbindlich ist, die überhaupt darüber urteilen. Dass ich Schmerzen habe, kann zwar nur ich mit letzter Sicherheit wissen, aber das heißt nicht, dass es nur wahr für mich wäre. Wenn jemand sagen würde: ›Ich erlebe dich anders, als du dich erlebst. Für mich hast du keine Schmerzen‹, so würde ich ihm antworten: ›Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie du oder sonst jemand mich erlebt oder welche wissenschaftlichen Feststellungen jemand über mich trifft. Die Wahrheit über meine Schmerzen kann nur ich wissen. Aber diese Wahrheit ist deshalb nicht eine Wahrheit nur für mich, sondern für jeden‹.« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 193. 132 133
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11.2.4 Vergleichende Analyse
Wie oben gezeigt wurde 138, kann das ›ich denke‹ nach Sturma deshalb als private Sprache aufgefasst werden, weil es ein »wechselseitige[s] Implikationsverhältnis von ›ich denke‹ und ›ich existiere‹« 139 gibt. Wenn somit nach Sturma das ›ich denke‹ schließlich als »Ausdruck einer spezifischen Lebensform« 140 erscheint, nähert er sich damit faktisch der Fundierung des ›ich denke‹ im ›ich lebe‹ an, das den zentralen Gedanken des von Spaemann vorgeschlagenen metaphysischanalogen Denkens bildet. Die »Doppelperspektive des Selbstbewußtseins«, von der Sturma spricht, in der »sich das Subjekt des Bewußtseins auf sich als raumzeitliches Wesen bezieht« 141, unterscheidet sich nicht prinzipiell von Spaemanns Konzeption der Person als ›Haben einer Natur‹. Spaemanns Gedanke ist, dass die Person ihre natürliche Zentriertheit transzendiert und so den personalen Ort erreicht, der zwar über kein eigenes Energiepotential verfügt, also ganz aus der transzendierten Natur lebt, gleichzeitig aber eine solche Distanz zu dieser Natur bedeutet, aus der heraus personale Freiheit denkbar wird. Faktisch beschreibt Sturma dieselbe Konstellation mit anderen Begriffen: »Personales Leben ist insofern durch die strukturelle Gegenläufigkeit gekennzeichnet, daß in ihm Indexikalität und Idealität bzw. ontologische Festlegung und praktische Offenheit unauflöslich aufeinander bezogen sind.« 142 Diese Deutung personalen Lebens bedingt bei Sturma auch die »Verbindung von theoretischer und praktischer Philosophie«, in der er den Ort einer Philosophie der Person im »System philosophischer Disziplinen« 143 erkennt. Was Spaemann schon in »Glück und Wohlwollen« als unlösbare Verbindung von Ethik und Metaphysik bezeichnet, 144 findet daher der Sache nach seine Entsprechung in Sturmas Feststellung, »daß sich schon in der subjektivitätstheoretischen Entfaltung des Irreduzibilitätsarguments die Umrisse eines praktischen Selbstverhältnisses abzeichnen« 145. Lockes Theorie personaler Identität, die für Sturma die »ausdrückliche Grundlegung der neuzeitlichen Philosophie der Person« 146 138 139 140 141 142 143 144 145 146
Vgl. Abschnitt 11.2.1, Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein, 817. Sturma, Philosophie der Person, 121. Ebd. 126. Ebd. 139. Ebd. 204. Ebd. 27. Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11, 132, 150. Sturma, Philosophie der Person, 146. Ebd. 164.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
darstellt, wird von Spaemann als philosophiegeschichtlich bedeutsamer Ausdruck des »Bruch[s] mit dem klassischen Personverständnis« 147 gewertet. Diese gegensätzlichen Einordnungen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sturma und Spaemann in ihrer Kritik am Ansatz Lockes, die Sturma freilich sehr viel detaillierter ausführt, grundsätzlich ebenso übereinstimmen wie in der Bewertung der Gegenposition, die Leibniz vertreten hat, 148 und ihrer Bedeutung. Der Unterschied besteht freilich darin, dass Spaemann die Gedankenbewegung von Descartes über Locke zu Hume unter den Vorzeichen einer Krise des Personbegriffs betrachtet, also einen teleologisch konnotierten Begriff voraussetzt, während für Sturma Locke den eigentlichen Beginn einer »kontingente[n] Konstitutionsgeschichte« des Begriffs der Person durch »komplizierte Begriffstransformationen« darstellt. Einen deutlichen Gegensatz kann man eher in der Bewertung Kants in den Kontexten der Personenphilosophien beider Denker ausmachen. Für Sturma ist Kants Begriff der Autonomie als »das reflexive Verhältnis der subjektiven Perspektive zum impersonalen Standpunkt« 149 – ähnlich übrigens wie für Kobusch – in systematischer Hinsicht der Abschluss der Herausbildung des Personbegriffs. Dagegen vertritt Spaemann im Hinblick auf diesen Begriff der Autonomie bei Kant eine skeptische Position, da für ihn die bei Kant vollzogene Auflösung des Zusammenhangs von Moralität und Eudämonie der conditio humana selbst widerspricht 150, weswegen er in seiner Konzeption des Wohlwollens Moralität durch den Gedanken der interpersonalen Begegnung wieder mit dem Gelingen des Lebens verbindet. 151 Diese an der Bewertung des kantischen Autonomiekonzepts zutage tretende deutliche Differenz zwischen Spaemann und Sturma wird allerdings wieder dadurch relativiert, dass Sturma mit Bezug auf »Schellings naturphilosophische Geschichte des Selbstbewußtseins« 152 seine eigene Position dahingehend modifiziert, dass er gegen Kant der menschlichen Natur wieder eine größere Bedeutung einräumt:
Spaemann, Personen (1996), 150. Vgl. ebd. 151–152. 149 Sturma, Philosophie der Person, 213. 150 Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 445–455. 151 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479. 152 Sturma, Philosophie der Person, 233. 147 148
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11.2.4 Vergleichende Analyse
Das gattungs- und individualgeschichtliche Entstehen reflektierter Existenz ist ein bewußtloser Vorgang, der keineswegs in dem Augenblick zum Stillstand kommt, in dem eine Person in die Dimension reflektierter Existenz eintritt. Das Unbewußte ist nicht nur Grundlage personaler Existenz, sondern auch integraler Bestandteil ihres Bewußtseins. Weil das reflexionsfähige Bewußtsein zumindest in naturphilosophischer Hinsicht von seinen materiellen Bedingungen nicht grundsätzlich verschieden ist, müssen die naturbestimmten Kontexte in die Reflexionsprozesse miteinbezogen werden. Wo das nicht geschieht, liegt eine sich verabsolutierende Reflexion vor, die sich von ihren Kontexten und damit von ihrer Geschichte isoliert. Nach Schelling tritt in der endlichen Reflexion nur ein sehr eingegrenzter Bereich menschlicher Existenz zutage, der für sich allein keinesfalls als Grundlage von Selbsterkenntnisprozessen dienen kann. […] Das subjektivitätstheoretische Resultat von Schellings naturphilosophischer Theorie des Unbewußten kann in der Formel »kein Selbstverhältnis ohne Naturverhältnis« zusammengefaßt werden. 153
Diese von Sturma eingebrachte Rückbindung an die Natur steht in einem Spannungsverhältnis zu seinem Ausgang vom instantanen ›cogito‹ unter Verzicht auf den Schritt zum ›sum‹. Insofern er nun die ›sich verabsolutierende Reflexion‹ – Spaemann spricht im selben Zusammenhang von der Versuchung, »diese abstrakte, alle inhaltlichen Bestimmungen distanzierende Identität als Entität zu hypostasieren und sie das ›Selbst‹ zu nennen« 154 – klar ablehnt, nähert er sich faktisch dem Spaemann’schen Verständnis der Person als ›Haben einer Natur‹ sehr stark an. Diese faktische Nähe seiner Philosophie der Person zu der Spaemanns soll abschließend noch schlaglichtartig an einigen bei beiden Denkern zu findenden Schlüsselbegriffen gezeigt werden. Der Begriff der Kontingenz, der in der mittelalterlichen Philosophie zur Unterscheidung von Wesen und Existenz bedeutsam wurde, spielt, wie im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, für Spaemanns Begriff der Person eine zentrale Rolle. Seine Feststellung, dass das Kontingenzbewusstsein wesentlich die personale Perspektive ausmacht, 155 findet sich in vergleichbarer Form bei Sturma wieder, bei dem es heißt, dass
153 154 155
Sturma, Philosophie der Person, 235. Spaemann, Personen (1996), 115. Vgl. ebd. 82.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Personen »als selbstreferentielle Kontingenz« 156 existieren. 157 Die »Dimension des Bewußtseins der eigenen Kontingenz« ist für Sturma die Zeit, die »mit Hilfe von zeitneutralen Einstellungen reflektierend überschritten werden kann« 158, woraus sich dann seine Vorstellung eines Lebensplans als »Ideal eines in Selbstverhältnissen geführten Lebens« 159 ergibt. Dieser Zusammenhang von Kontingenz und Zeit wird von Spaemann ganz ähnlich gefasst, für den die »neutrale Zeit als unendlicher und unendlich teilbarer Fluß […] eine bloße Abstraktion« ist, vor deren Hintergrund Personen sich als »Zeitgestalten« 160 abheben. Auch wenn die Bedeutung des Anderen für das Zustandekommen solcher Zeitgestalten bei Spaemann einen prinzipiell anderen Stellenwert hat, als dies bei Sturma der Fall ist, gebraucht auch dieser wie Spaemann den Begriff der Anerkennung, um das spezifische Verhältnis von Personen untereinander auszudrücken. 161 Schließlich spricht Sturma auch – ähnlich wie Spaemann 162 – vom »Schritt des Selbst zum Anderen als Sprung« 163, ohne allerdings eine mit der Ontologie der Person bei Spaemann vergleichbare Konzeption zu entwickeln, durch die diese Sprungproblematik sich nachträglich überwinden ließe.
11.2.5 Zur Kritik der Perspektive Sturmas Der kursorische Nachvollzug der wesentlichen Argumentationen Sturmas und die vergleichende Analyse mit dem Ansatz Spaemanns kann nach meinem Dafürhalten auf zwei ernst zu nehmende ProbleSturma, Philosophie der Person, 257. Vgl.: »[82–T] Personen können keine kontingente Einstellung zu sich selbst einnehmen.« – Ebd. 293. 158 Ebd. 279. 159 Ebd. 298. 160 Spaemann, Personen (1996), 121. 161 Vgl.: »Die moralische Anerkennung der anderen Person unterscheidet die Gemeinschaft der Personen von einem Ameisenstaat.« – Sturma, Philosophie der Person, 314. 162 Vgl.: »Man kann eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren. Sie führt sozusagen in unendlicher Approximation an ihn heran. Aber am Ende bleibt immer ein Sprung, ein plötzlicher Wechsel der Position […].« – Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 130, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396. 163 Sturma, Philosophie der Person, 327. 156 157
834 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
11.2.5 Zur Kritik der Perspektive Sturmas
me in Sturmas Philosophie der Person aufmerksam machen. Zum einen steht seine dezidierte Ablehnung der »noumenale[n] Deutung der Person« 164 im Sinne einer »Zweiweltentheorie«, wonach die Person »lediglich ein anderes Subjekt im fensterlosen metaphysischen Raum wäre« 165, in einer unauflösbaren Spannung zu seiner Entscheidung, ausschließlich von der »Perspektive der Person« 166 aus argumentieren zu wollen. Diese Spannung findet ihren Ausdruck darin, dass er auf dieser Grundlage durch die privatsprachliche Verankerung des ›ich denke‹ im ›ich existiere‹ sowie die naturphilosophische Relativierung des kantischen Autonomiegedankens letztlich bei einem in der Natur fundierten Begriff der Person anlangt, die im Rückblick seinen kategorischen Ausschluss der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹ als Instrument einer personenphilosophischen Argumentation fragwürdig erscheinen lässt. Hier ist kritisch zu fragen, wie angesichts der von Sturma so stark betonten Bedeutung des Unbewussten die von ihm durchgehaltene starre Gegenüberstellung der Welten der Personalität und des nichtpersonalen Lebens aufrechterhalten werden kann. Zum anderen fällt im Vergleich seiner Konzeption mit der Spaemanns auf, welche Schwierigkeiten es ihm bereitet, von der zunächst solipsistisch konzipierten Person zum Anderen und damit zur Interpersonalität zu gelangen. Er benötigt hierzu den aus Kants Begriff der Autonomie entwickelten Gedanken des hypothetischen impersonalen Standpunkts und die Bestimmung eines vom Eigennutz abzuhebenden Begriffs des Selbstinteresses. Aber auch in der so erreichten Perspektive ist die »moralische Ferne«, die durch »Anerkennung anderer Personen« 167 überwunden werden kann, nur eine mögliche Option der Selbsterweiterung unter anderen. Die Möglichkeit der Anerkennung anderer Personen bleibt dabei in einer selbstreferentiellen Beziehung verankert. Hier ist kritisch zu fragen, inwieweit mit dem »unvermeidlichen ›Kantianismus‹ des Begriffs des vernünftigen Lebensplans« 168, von dem Sturma spricht, personale Selbsttranszendenz und das Ereignis der Begegnung überhaupt erfasst werden können. Ganz deutlich jedenfalls scheint mir im direkten Vergleich der An164 Sturma, Philosophie der Person, 84. – Sturma lehnt diese Deutung ab, da es ihm, wie in Abschnitt 11.2.1 gezeigt wurde, um die interne Entfaltung einer Gegenposition zur Ontologie des Physikalismus geht. 165 Ebd. 83. 166 Ebd. 81. 167 Ebd. 354. 168 Ebd. 299.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
sätze Sturmas und Spaemanns zu sein, dass dieser aufgrund seiner teleologischen Prämisse den Weg zum Anderen gar nicht suchen muss – »Personen gibt es nur im Plural« 169 –, während jener im Wesentlichen bei der Singularität der Person stehen bleibt, von der aus er nur mit großem argumentativem Aufwand den Gedanken der Anerkennung anderer Personen begründen kann. Beide Probleme lassen sich in letzter Konsequenz zurückführen auf Sturmas eingangs thematisierten ersten Grundsatz: »[G–1] Die Grenzen personaler Existenz und die Grenzen menschlichen Lebens fallen nicht zusammen.« 170 Aus ihm ergibt sich sowohl die Notwendigkeit der dezidierten Abhebung der Personalität von der biologischen Spezies als auch die nicht überwindbare Abstraktheit ihrer Bestimmung, in der der Schritt zur Interpersonalität zwar vorausgesetzt, aber nicht überzeugend begründet ist. Spaemanns Ausgangspunkt, wonach alle Menschen Personen sind, zeigt vor diesem Hintergrund seine genuin philosophische Leistungsfähigkeit.
169 170
Spaemann, Personen (1996), z. B. 144. Sturma, Philosophie der Person, 37.
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11.3 Michael Quante: »Person«
Im dritten Teilkapitel geht es um Michael Quantes 2007 in erster Auflage in der Reihe »Grundthemen Philosophie« erschienene Monographie »Person«. Wie es ähnlich oben im Zusammenhang mit Sturma festgestellt wurde, unterscheidet sich Quantes Art zu denken und zu schreiben signifikant von Spaemanns Essayistik, wobei die Eigenart von Quantes Studie in der systematischen Bearbeitung dreier Grundfragen und der Prüfung möglicher kombinatorischer Varianten der mit Bezug auf die zentrale Frage nach der personalen Identität aufgestellten Kernthesen besteht. Noch stärker als Sturma konzentriert Quante sich in der Auswahl der Forschungsliteratur zum Thema Person auf Beiträge der angloamerikanischen Literatur. Bereits die erste Grundfrage weist auf den Abstand des hier gewählten Ansatzes zu Spaemanns Denken hin: »Aufgrund welcher Eigenschaften und Fähigkeiten gehört eine Entität zur Klasse oder Art der Personen?« 1 Nach Spaemann ist »die Rede von einer Klasse der Personen, obgleich logisch einwandfrei, […] ontologisch unangemessen« 2, weswegen auch Eigenschaften sich ihm zufolge nicht auf die Personalität selbst beziehen können. 3 Quantes erster Schritt dagegen ist die Benennung solcher Eigenschaften im Rahmen einer »deskriptiv-sortale[n] Verwendung des Begriffs ›Person‹« 4. Die zweite Grundfrage, deren Beantwortung am meisten Raum gewidmet wird, lautet: »Unter welchen Bedingungen handelt es sich bei einer Entität zu einem Zeitpunkt um genau eine Person und zu zwei verschiedenen Zeitpunkten um ein und dieselbe Person?« 5 Es fällt auf, dass Quante in dieser auf personale Identität zielenden Frage den Begriff der Iden-
Quante, Person, 8. Spaemann, Personen (1996), 25. 3 Vgl.: »Das Phänomen des Versprechens wirft ein besonders eindeutiges Licht auf das, was wir ›Person‹ nennen. Die Nichtlokalisierbarkeit des ›ursprünglichen Versprechens‹ in der Zeit weist darauf hin, daß Menschen einander zwar aufgrund bestimmter Eigenschaften als Personen ansehen, daß aber Personalität keine dieser Eigenschaften ist, sondern diesen allen als vorausliegend gedacht wird und daß sie selbst nur in der Weise ihrer Anerkennung gegeben ist.« – Ebd. 238. 4 Quante, Person, 18. 5 Ebd. 8. 1 2
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
tität vermeidet. Hierzu ist eine für den weiteren Gedankengang wichtige Begriffsdifferenzierung Quantes zu beachten: Die Relation der Identität ist nicht mit Bezug auf die raumzeitliche Existenz konkreter Entitäten definiert, sondern stellt eine logische Relation dar. Bei dem »ist« in der Aussage »A ist numerisch identisch mit B« handelt es sich nicht um das präsentische »ist« (im Sinne »Jetzt ist es hell«), sondern um eine zeitlose Aussage (im Sinne »2 plus 2 ist 4«). Daraus allein ergibt sich schon, dass mit der Frage nach den Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit eine Entität zu einem Zeitpunkt genau eine Entität ist, und mit der Frage nach den Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit es sich bei einer Entität zu verschiedenen Zeitpunkten um ein und dieselbe Person handelt, nicht nach der Identität von Personen gefragt wird. Nennen wir, da wir den Begriff der Identität für numerische Identität reservieren wollen, die Bedingungen dafür, dass eine Entität zu einem Zeitpunkt genau eine Person ist, Bedingungen für synchrone Einheit. […] Nennen wir die Bedingungen dafür, dass eine Entität zu zwei verschiedenen Zeitpunkten ein und dieselbe ist, Bedingungen für diachrone Einheit. […] Es ist unzulässig, die Eigenschaften der Relation Identität ohne weiteres Argument zu übertragen auf die Relation der synchronen oder die Relation der diachronen Einheit. 6
In der zweiten Grundfrage geht es damit zunächst um die Unterscheidung zwischen den Fragen nach der synchronen und der nach der diachronen Einheit der Person. In der dritten Grundfrage kommt der Begriff der ›Identität‹ (in Anführungszeichen) dennoch in Bezug auf die Person vor; diese lautet: »Wie ist die ›Identität‹ einer Person im Sinne eines evaluativ-normativen Selbstverständnisses strukturiert?« 7 Quante betont, dass »›Identität‹ in diesem Sinne wenig zu tun hat mit numerischer Identität« 8. Es geht bei dieser Begriffsverwendung um die inhaltliche Ausdeutung des Begriffs der Person, um »Persönlichkeit und biografische[s] Selbstverständnis« 9. Im Folgenden wird zunächst die Antwort Quantes auf die erste Grundfrage und auf die zweite bis zu seinem skeptischen Fazit, wonach es »keine Einheitsbedingungen für Personen« 10 gibt, nachvollzogen (11.3.1). Danach werden im Rahmen seines Übergangs zum Quante, Person, 9–10. Ebd. 8. 8 Ebd. 11. 9 Ebd. 10 Ebd. 102. 6 7
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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
»biologischen Ansatz[…]« 11 die Überlegungen zur zweiten Grundfrage zu Ende geführt und seine Ansätze zur Beantwortung der dritten Grundfrage referiert (11.3.2). Darauf aufbauend wird die mit dem biologischen Ansatz verbundene Annäherung Quantes an Spaemanns Denken im Hinblick auf Parallelen und Differenzen analysiert (11.3.3). Den Abschluss des Teilkapitels bildet der Versuch einer kritischen Wertung der Personenphilosophie Quantes unter Einbeziehung der hier als Leitlinie dienenden Konzeption der Philosophie der Begegnung (11.3.4).
11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität Quante führt in einer Übersicht sechs Bedingungen der Personalität auf, die er in zwei Gruppen (1–3 und 4–6) aufteilt. Die Bedingungen der ersten Gruppe sind interdependent und notwendig, die der zweiten interdependent und hinreichend: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Personen sind rational Personen sind Subjekte propositionaler Einstellungen Personen sind Objekte einer spezifischen Einstellung Personen können die (in 3 genannte) spezifische Einstellung erwidern Personen können kommunizieren Personen verfügen über Selbstbewusstsein sowie ein aktivisches und evaluatives Selbstverhältnis 12
Person ist demnach für Quante ein »Bündelbegriff, der eine offene Liste von konstitutiven Kriterien für Personalität enthält« 13. Mit Bezug auf die zweite Bedingung betont Quante, dass »die Zuschreibungen propositionaler Einstellungen niemals nur mittels einer rein beobachtenden bzw. rein auf kausale oder funktionale Zusammenhänge ausgerichteten Erkenntnishaltung des zuschreibenden Subjekts erfolgen kann, sondern vielmehr einer Art hermeneutischer Grundhaltung bedarf« 14. Diese Grundhaltung, die im Weiteren noch von
11 12 13 14
Quante, Person, 105. Ebd. 24. Ebd. 33. Ebd. 25.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Bedeutung sein wird, nennt Quante »Teilnehmerperspektive« 15. Mit Bezug auf die sechste Bedingung spricht Quante von einer »erstpersönliche[n] propositionale[n] Einstellung zweiten Grades« 16, die den secondary volitions Frankfurts entspricht. In einem ersten Fazit zur Bestimmung der Klasse der Personen resümiert Quante drei Entscheidungen, die in seiner Kriterienliste impliziert sind: •
• •
Subjekt phänomenaler Bewusstseinszustände zu sein ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Personalität. Menschsein ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Personalität. Personalität konstituiert sich in einem reziproken Interpretations- und Anerkennungsmodus (Personalität ist eine sozial-relationale Bestimmung). 17
Mit der ersten Entscheidung wird die Relevanz des Vorliegens von ›Es-ist-zu-sein-Zuständen‹ für die Zusprechung von Personalität bestritten; 18 durch die zweite und die dritte Entscheidung wird das biologische Zuordnungskriterium durch eines der Kooptation ersetzt. Die Frage nach der personalen Identität thematisiert Quante ebenso wie Sturma ausgehend von Locke: »Man kann ohne Übertreibung sagen, daß sowohl Lockes Ansatz selbst als auch die zentralen Einwände und die damit verbundenen Alternativen bis heute die philosophische Landkarte, in die das Problem der ›Identität‹ eingezeichnet ist, maßgeblich prägen.« 19 Im Sinne der oben thematisierten Begriffsdifferenzierung zeigt Quante, dass Locke das Einnehmen einer bestimmten »Raum-Zeit-Stelle als Bedingung der synchronen Einheit« 20 auffasst und unter Identität die durch vergleichende Tätigkeit des Verstandes festgestellte »diachrone Einheit von Entitäten« 21 versteht. Quante weist auf den Sachverhalt hin, den auch Spaemann thematisiert, 22 dass Locke die Einheit von Prozessen bzw. Bewegung,
Quante, Person, 26. Ebd. 29. 17 Ebd. 31. 18 Vgl.: »Dies bedeutet zuerst einmal, dass nicht alle Lebensformen, die zu Lust- und Schmerzempfindungen fähig sind, zum Kreis der Personen zählen.« – Ebd. 32. 19 Ebd. 35. 20 Ebd. 39. 21 Ebd. 38. 22 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 149. 15 16
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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
da »sie keine zeitliche Ausdehnung haben« 23, mit seinen Denkkategorien nicht erfassen kann. Daher sind für ihn lebendige Organismen durch den »Austausch von Partikeln unter Bewahrung des funktionalen Zusammenhangs« bestimmt; da dies ebenso auf Artefakte zutrifft, kann er »den Prozesscharakter des Organismus von dem Körper als der materiellen Basis dieses Prozesses nicht genügend« 24 unterscheiden. In diesem Sinne ist auch »die Einheit des Menschen als Unterfall des Organismus […] die Einheit eines zweckmäßig organisierten Körpers von bestimmter Gestalt« 25, so dass die Einheitsbedingungen von Menschen und Personen von Locke unterschieden werden. Um Lockes Bestimmung des Begriffs der Person zu erarbeiten, bezieht Quante sich auf dasselbe Zitat Lockes aus dem § 9 des 27. Kapitels von Buch II des »Essay concerning Human Understanding« – einen »der berühmtesten und folgenreichsten Definitionsvorschläge der Philosophiegeschichte« 26 –, das bereits oben im Zusammenhang mit Sturma zitiert wurde. 27 Quante weist darauf hin, dass Locke die von ihm getrennten ersten beiden Grundfragen vermischt, d. h. die »Angabe der Bedingungen der Personalität« mit der »Analyse personaler Einheit« 28 verbindet. Der wichtigste Gedanke des Definitionsvorschlags und die zentrale Bestimmung der Einheit der Person ist ihre Fähigkeit sich zu erinnern: Entscheidend ist es, dass es sich hierbei um ein konstitutives, nicht um ein bloß epistemisches Kriterium handelt. Durch das erstpersönliche Erinnern wird die Einheit zwischen dem damaligen Handlungs- oder Erlebnissubjekt und dem aktualen Subjekt des Erinnerns hergestellt, nicht etwa nur entdeckt. Es gibt, so muss man Lockes These von der Autonomie der Kriterien der Einheit der Person verstehen, keine jenseits des Selbstbewusstseins liegende Tatsache, welche als Wahrheitsbedingung für die in der erstpersönlichen propositionalen Einstellung zweiter Stufe konstituierte Einheit fungiert. 29
Im nächsten Schritt betrachtet Quante drei »zeitgenössische Einwände« gegenüber dem Vorschlag Lockes, die »die gegenwärtige DisQuante, Person, 39. Ebd. 40. 25 Ebd. 26 Ebd. 43. 27 Ebd. – Vgl. Sturma, Philosophie der Person, 164, u. Abschnitt 11.2.2, Zur Geschichte des Begriffs der Person, 819–820. 28 Quante, Person, 43. 29 Ebd. 45. 23 24
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
kussion und Theoriebildung nachhaltig geprägt haben« 30. Zunächst wird durch das »Transitivitätsproblem« 31 Lockes »Erinnerungskriterium« 32 problematisiert, 33 bevor zweitens durch das »Zirkularitätsproblem« 34, das oben im Zusammenhang mit Sturmas Ansatz bereits thematisiert wurde, 35 gezeigt wird, dass Lockes Erinnerungskriterium immer schon die diachrone Einheit der Person voraussetzt. 36 Beide Einwände stellen also »Lockes Forderung, die Einheit der Person müsse vollständig erstpersönlich konstituiert sein« 37, in Frage. Als dritten Einwand bezieht Quante sich unter der Überschrift »Selbstbewusstsein als Substanz der Person« 38 auf Leibniz’ Monadologie, in der durch die Monade als »innere[s] Unterscheidungsprinzip« der Dinge eine »notwendige Bedingung für Individuation und Einheit« 39 behauptet wird. Die Bedeutung dieses Einwandes ist darin zu sehen, dass so einerseits gegen das Locke’sche Erinnerungskriterium ein einfaches Prinzip personaler Einheit ins Spiel gebracht wird, das andererseits entgegen der Ausblendung dieses Aspekts bei Locke in einer zugrunde liegenden Substanz fundiert sein muss. Um von dieser philosophiehistorischen Betrachtung zu einer systematischen Analyse des Problems übergehen zu können, zerlegt Quante Lockes Definitionsvorschlag in drei Kernthesen: •
Erstpersönlichkeitsthese (E-These): Die Einheit der Person ist ausschließlich im Selbstbewusstsein konstituiert und vollständig im Selbstbewusstsein epistemisch zugänglich.
Quante, Person, 46. Ebd. – Im Grundsatz geht es bei diesem Problem um die Möglichkeit, dass durch einander überlappende Erinnerungsräume einer Person Ereignisse aus vergangenen Räumen der späteren Person nicht mehr bewusst gegeben sein können, obwohl sie ihr gegeben waren in Phasen, an die sie sich noch erinnert. 32 Ebd. 33 Quante bezieht sich hier auf Reids berühmtes Gedankenexperiment vom »brave officer«. – Ebd. 46–49. 34 Ebd. 49. – Bei diesem Problem geht es im Grundsatz um den Idiosynkrasie-Verdacht in Bezug auf Erinnerungen, der nur durch eine bereits vorausgesetzte diachrone Identität ausgeräumt werden kann, wobei dieser Gedanke seinerseits wieder unter Idiosynkrasie-Verdacht steht und so weiter ad infinitum. 35 Vgl. Abschnitt 11.2.2, Zur Geschichte des Begriffs der Person, 820–821. 36 Vgl. Quante, Person, 49–52. 37 Ebd. 58. 38 Ebd. 52. 39 Ebd. 54. 30 31
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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
•
•
Unabhängigkeitsthese (U-These): Personale Einheit ist unabhängig von der Identität einer selbstbewusstseinstranszendenten Substanz. Komplexitätsthese (K-These): Es gibt eine informative, d. h. nicht zirkuläre Analyse personaler Einheit, d. h. konstitutive (und nicht nur epistemische) Kriterien personaler Einheit. 40
Locke schlägt vor, »die diachrone Einheit der Person ausschließlich in das Selbstbewusstsein der Person zu verlagern« (E-These), blendet dabei »die Frage nach dem Wesen der zugrunde liegenden Substanz« 41 aus (U-These) und versucht, mit dem »Erinnerungskriterium« die personale Einheit als ein »komplexes Phänomen« 42 zu analysieren (K-These). Ausgehend von dieser Analyse des Locke’schen Arguments entwirft Quante eine tabellarische Übersicht 43 über die acht möglichen kombinatorischen Varianten der Annahme bzw. Ablehnung dieser Kernthesen, aus der er die Methodik seines weiteren Vorgehens ableitet: Aus Gründen der argumentativen Ökonomie ist es sinnvoll, zuerst die Erstpersönlichkeitsthese zu überprüfen. Lassen sich gegen diese Annahme gravierende Bedenken formulieren oder, wie im Folgenden behauptet, sogar zwingende Einwände vorbringen, dann fallen neben der ursprünglichen Konzeption von Locke auch die erste, zweite und fünfte Option weg. 44
Da außerdem aus der Negation der E-These die Negation der U-These folgt – »Ohne die Erstpersönlichkeitsthese lässt sich nur dann sinnvoll von der Einheit der Person sprechen, wenn man eine selbstbewusstseinstranszendente Substanz postuliert« 45 – bleiben anschließend nur noch zwei kombinatorische Varianten übrig, die bei Verneinung der Erstpersönlichkeitsthese die Komplexitätsthese entweder bejahen oder verneinen. Bevor diese Alternative näher betrachtet wird, sollen zunächst die erwähnten zwingenden Einwände referiert werden, die nach Quante gegen die Erstpersönlichkeitsthese sprechen.
40 41 42 43 44 45
Quante, Person, 58–59. Ebd. 57. Ebd. 58. Vgl. ebd. 61. Ebd. 60. Ebd. 59.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Quante stellt zunächst eine Liste mit vier Annahmen auf, die die »Grundidee der erstpersönlich-einfachen Theorie personaler Identität« umreißen: • • •
•
Die diachrone Identität von Personen ist nicht reduzierbar auf empirisch beobachtbare Relationen. Empirische Kriterien personaler Identität sind lediglich epistemische, keine konstitutiven Kriterien. Konstitutiv für die diachrone Identität von Personen sind synchrone und diachrone Einheitsrelationen, die vollständig in der erstpersönlichen Perspektive erfassbar sind. Die Identität der Person ist damit ein basales und essenziell in der erstpersönlichen Selbstbezugnahme konstituiertes Faktum.46
Um die in diesen Annahmen vertretene Position noch stärker in ihren Konturen hervortreten zu lassen, fragt Quante anschließend nach ihrer direkten diskursiven Gegenposition. Aus einer Leugnung der konstitutiven Bedeutung der erstpersönlichen Perspektive folgt demnach der Wechsel in die Beobachterperspektive. Auch für die »Grundidee dieser beobachterperspektivischen Theorie personaler Einheit« führt Quante die wesentlichen Annahmen an: •
•
• •
Die diachrone Einheit von Personen ist reduzierbar in dem Sinne, dass sie durch empirisch beobachtbare Kontinuitätsrelationen konstituiert wird. Die synchrone und diachrone Einheit von Personen ist ein komplexer Anwendungsfall von Persistenz, d. h. der Einheit von raum-zeitlich ausgedehnten Entitäten zu einem Zeitpunkt und über die Zeit hinweg. Die Einheit von Personen ist weder epistemologisch noch konstitutiv an die erstpersönliche Perspektive gebunden. Die Identität der Person ist damit zwar ein reales, aber weder ein außerordentliches noch ein unanalysierbares Faktum. 47
Quante sieht nun ein zentrales Problem der Diskussion um den Begriff der Person darin, dass der beobachterperspektivische Theorietyp, der »sich auf rein kausale und funktionale Zusammenhänge beschränkt und dabei weder die erstpersönliche Perspektive einnimmt […] noch evaluative oder normative Zusammenhänge erfasst« 48, auf-
46 47 48
Quante, Person, 63. Ebd. 64. Ebd.
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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
grund kontraintuitiver Tendenzen von vornherein ausgeschlossen wird. Um dieses Defizit der gesamten Debatte in unserer Untersuchung zu beheben, werden wir im Folgenden die Beweislasten umkehren, die Grundlagen und basalen Intuitionen der erstpersönlich-einfachen Position prüfen sowie zeigen, dass Theorien dieses Typs mit einem für sie unlösbaren Problem konfrontiert sind. 49
Dieses unlösbare Problem besteht darin, dass die »alltägliche Konzeption der diachronen Einheit von Personen […] Lücken in der erstpersönlichen Selbstbezugnahme« 50 einschließt und daher die »diachrone Einheit menschlicher Personen nicht ohne Rückgriff auf konstitutive externe, die erstpersönliche Perspektive transzendierende Kriterien« 51 behauptet werden kann. Die Erstpersönlichkeitsthese ist damit zu verwerfen, auch wenn die antithetische beobachterperspektivische Theorie kontraintuitiv erscheint. Nach der angekündigten Systematik der Vorgehensweise Quantes bleibt demnach die Prüfung der verbliebenen Alternative der beiden Theorietypen, die sich durch die Annahme oder Ablehnung der Komplexitätsthese unterscheiden. Das Merkmal der komplexen Theorien besteht darin, dass sie »die Einheit der Person als ein komplexes Phänomen auffassen, welches sich mittels basalerer Elemente explizieren lässt«, wobei »komplexe Ansätze die Orientierung an der Beobachterperspektive« 52 auszeichnet. Seine Option für die Annahme der Komplexitätsthese begründet Quante wie folgt: Der entscheidende Vorteil, den wir durch die Ablehnung der Erstpersönlichkeitsthese erlangen, liegt in der intersubjektiven Überprüfbarkeit der Wahrheitsbedingungen, die unseren Identitätsaussagen mit Bezug auf die personale Einheit zugrunde liegen. Dieser kann aber nur genutzt werden, wenn man die Komplexitätsthese akzeptiert. 53
Ansätze, die dies nicht tun, sind »für die Rekonstruktion und die Begründung unserer ethischen Praxis ungeeignet, da sie dieser Praxis keine intersubjektiv zugängliche Begründungsbasis zur Verfügung stellen können« 54. Folgerichtig beschränkt sich Quante auf komplexe 49 50 51 52 53 54
Quante, Person, 65. Ebd. 77. Ebd. 78. Ebd. 81. Ebd. 82. Ebd.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Theorien und versucht, »Einheitsbedingungen für Personen als solche« 55 zu finden. Der Versuch einer Widerlegung des Zirkularitätseinwands schlägt jedoch fehl, da »unser alltägliches Erinnerungskonzept impliziert, dass mentale Episoden einen Träger haben« 56; als solcher käme aber nur ein menschlicher Organismus in Frage, womit die Frage nach den Einheitsbedingungen für Personen als solche schon verfehlt wäre. Damit kommt Quante zu einem skeptischen Fazit seiner bis dahin durchgeführten Untersuchung, indem er zwei offenbar nicht überwindbare theoretische Schwierigkeiten benennt. Zum einen führt die Festlegung der komplexen Theorien »auf die Beobachterperspektive und damit auf eine rein kausal-funktionale Analyse« 57 zu der Feststellung, dass die »Frage nach der Struktur der Persönlichkeit […] einen kategorial anderen Zugriff« 58 verlangt: »Die erforderlichen evaluativen Kriterien sind in der Beobachterperspektive weder methodologisch zugelassen noch inhaltlich zu erfassen. Dies ist die erste Schwierigkeit, von der schwer zu sehen ist, wie sie im Rahmen der komplexen Theorien gelöst werden kann.« 59 Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass in komplexen Theorien »der Begriff der Person als ein konstitutives Sortale« verwendet wird und durch dieses Bedingungen festlegt werden, die »Menschen nicht zu allen Zeitpunkten ihrer diachronen Existenz« 60 erfüllen. Daraus ergibt sich ein Dilemma: Wenn gilt, dass eine raum-zeitliche Entität A und eine raum-zeitliche Entität B nicht zu den gleichen Raum-Zeitpunkten zu existieren beginnen oder zu existieren aufhören, dann kann es sich bei A und B nicht um ein-und-dasselbe Individuum handeln (dies gilt zumindest in komplexen Ansätzen). Wenn wir sowohl Menschsein als auch Personsein als konstitutive Sortale ansetzen, die uns Bedingungen der Einheit liefern, dann führt dies zu einem Substanzdualismus von Mensch und Person. 61
In diesen beiden Schwierigkeiten zeigt sich nach Quante eine »erste Unterbestimmtheit der Lösungsvorschläge, die sich innerhalb des komplexen Ansatzes auf die Frage nach der Einheit der Person ent-
55 56 57 58 59 60 61
Quante, Person, 82. Ebd. 89. Ebd. 98. Ebd. 99. Ebd. Ebd. Ebd.
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11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform
wickeln lassen« 62. Ein weiteres Problem sieht er in der »exzessive[n] Verwendung von Gedankenexperimenten« 63 in der einschlägigen Literatur, da durch sie die zwar kontingenten, jedoch nicht veränderbaren Rahmenbedingungen unserer Lebenswelt außer Kraft gesetzt werden: Aus diesem Grunde ist es nicht sinnvoll, Gedankenexperimente in der Diskussion um die Einheit der Person einzusetzen. Zu diesem Ergebnis wird zumindest jeder kommen, dem die Verwechslung der Relation der Einheit mit der der Identität nicht mehr unterläuft. Denn nur von Letzterer sollte man, ohne weitere Zusatzargumente zu nennen, erwarten, dass sie in allen logisch möglichen Welten gleichermaßen bestimmbar ist. Die zweite Quelle der Unterbestimmtheit ist also in der Entkontextualisierung unserer Begriffe zu sehen, die sich in den Gedankenexperimenten vollzieht. 64
Da der Gang der Untersuchung aufgrund dieser doppelten Unterbestimmtheit erfolglos abgebrochen wird, kündigt Quante einen theoretischen Neuansatz an, in dem erstens ausschließlich die »Bedingungen der aktualen Welt« betrachtet und zweitens statt nach Einheitsbedingungen für Personen als solche nur noch nach denen »für menschliche Personen« 65 gefragt werden soll.
11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform Die »Kernidee« des nun zu verfolgenden Neuansatzes der Überlegung besteht darin, »die Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Einheit menschlicher Personen gänzlich vom Begriff der Person abzukoppeln und an den rein biologisch verstandenen Begriff des Menschen (qua biologische Spezies) zu delegieren« 66. Damit einher geht eine Modifikation der zweiten Grundfrage: Die Grundidee des biologischen Ansatzes ist es, nicht mehr nach den Einheitsbedingungen für Personen als solche zu suchen, sondern die zweite Grundfrage zu verändern und die Einheitsbedingungen für 62 63 64 65 66
Quante, Person, 100. Ebd. Ebd. 101. Ebd. 102. Ebd. 103.
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
menschliche Personen zu ermitteln. Auf diese Weise müssen wir nicht mehr den Begriff der Person analysieren, um Kriterien der Einheit zu ermitteln, sondern wir können fragen, worin die synchrone und diachrone Einheit eines menschlichen Organismus besteht. Wir werden in diesem Kapitel von menschlicher Persistenz sprechen, um auch terminologisch anzudeuten, dass wir nun menschliche Personen als raum-zeitlich ausgedehnte Organismen verstehen und die spezifische Differenz des Personseins, die uns von anderen Organismen unterscheidet, ausblenden. 67
Methodisch konsequent wird damit von Quante der Begriff der Person als konstitutives Sortale vermieden, wobei allerdings die Frage aufkommt, durch welche differentia specifica menschliche Organismen sich von anderen Organismen unterscheiden, so dass dennoch die Rede von menschlichen Personen berechtigt ist. Hält man daran fest, dass dies mit der Antwort auf die erste Grundfrage beantwortet wurde, stellt sich die weitere Frage, ob »der biologische Ansatz mit unserer Antwort auf die erste Grundfrage inkompatibel« 68 ist, da er eine Festlegung vornimmt, nach der »nur Menschen Personen sein können« 69, was der oben gegebenen Antwort widerspräche. Dass dies nicht der Fall ist, begründet Quante damit, dass die Modifizierung der zweiten Grundfrage keine prinzipielle Verengung auf den Menschen impliziert: Der biologische Ansatz behauptet: P1 Für alle x, die zugleich Personen und Organismen sind, gilt: Nicht der Begriff der Person, sondern der auf das jeweilige x zutreffende biologische Speziesbegriff liefert die Bedingungen der Persistenz. P2 Menschliche Personen sind Organismen der Spezies Mensch. also C Die Bedingungen der Persistenz einer menschlichen Person werden durch den Begriff des Menschen bestimmt. 70
Somit behauptet der biologische Ansatz nach Quante weder, dass nur Menschen – oder nur Organismen – Personen sein können, noch, dass alle Menschen Personen sind. Nach diesen ersten allgemeinen
67 68 69 70
Quante, Person, 105–106. Ebd. 108. Ebd. 109. Ebd.
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11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform
Klärungen bleibt als entscheidende Frage die nach dem Unterschied zwischen Menschen und menschlichen Personen. Unter Voraussetzung seiner Prämissen, »dass menschliche Organismen in ihren frühesten Lebensstadien keine Personen sind, weil sie die für Personalität notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten noch nicht aufweisen«, und dass Gleiches »für irreversibel komatöse Menschen, die nicht mehr als aktuale Personen zu zählen sind« 71, gilt, konstruiert Quante folgenden Fall: i) ii) iii) iv) v) vi)
a zu t0 und b zu t1 sind ein und derselbe menschliche Organismus. a zu t0 ist keine Person. a* zu t1 ist eine Person. b* zu t1 ist eine Person. a* = b*. b = b*. 72
Es ist deutlich zu erkennen, dass Behauptung (iv) im Widerspruch zu den Behauptungen (i) und (ii) steht sowie dass aus den Behauptungen (v) und (vi) die Widerlegung von Behauptung (ii) folgt: »Schlicht ausgedrückt: Wenn es Phasen in der Existenz eines menschlichen Organismus a gibt, in denen a keine Person ist, und wenn es Phasen in der Existenz von a gibt, in denen er eine Person ist, dann kann Person a und Mensch a nicht ein und dasselbe Individuum sein.« 73 Aus dieser Situation kann nach Quante die Unterscheidung »zwischen der Identitätsrelation und den Wahrheitsbedingungen für Identitätsaussagen« heraushelfen bzw. die Erkenntnis, »dass die Einheits- und Persistenzbedingungen für menschliche Organismen und Personen nicht die gleichen sind« 74. Quante gibt drei Optionen wieder, wie der beschriebene Fall zu lösen wäre. Da diese Ausführungen für den späteren Vergleich mit Spaemanns Position von großer Bedeutung sind, zitiere ich die wesentlichen Aussagen: Unter dieser Voraussetzung lassen sich drei Optionen denken. Die erste Option besteht darin zu sagen, dass (α) sowohl der Begriff des Menschen als auch der Begriff der Person Bedingungen der Einheit bereitstellen, (β) menschliche Organismen aber nicht identisch sind mit Personen (also (vi) falsch ist). […] Die zweite Option wird von 71 72 73 74
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
denjenigen ergriffen, die eine biologische Antwort auf die Frage nach der Einheit der Person vorschlagen. Sie bestreiten (β) und behaupten (non- β), dass Personen mit menschlichen Organismen identisch sind (also (vi) wahr ist). Dabei akzeptieren sie (α), behaupten aber zusätzlich (γ), dass die Bedingungen der Einheit für Personen mit denen der Einheit für menschliche Organismen zusammenfallen – dies ist die biologische Variante der komplexen Theorie personaler Einheit. Der hier vorgeschlagene biologische Ansatz stellt demgegenüber eine dritte Option dar, weil die von den ersten beiden Optionen geteilte Prämisse (α) explizit bestritten wird. Stattdessen wird behauptet (δ), dass der Begriff des Menschen, nicht aber der Begriff der Person Bedingungen für die Persistenz bereitstellt. Damit macht die Alternative (β) oder (non- β) keinen Sinn mehr, da sie unterstellt, dass sowohl »Mensch« als auch »Person« Bedingungen der Einheit bereitstellen. In der Konsequenz muss (vi) uminterpretiert werden als Prädikation der Eigenschaft »Personalität« von einem menschlichen Individuum, sodass unser b* aufgelöst wird in die Behauptung, dass b zum fraglichen Zeitpunkt eine Person ist (die von Substanzdualisten postulierte zusätzliche Entität b* fällt damit weg). 75
An dieser Stelle sei zunächst Quantes Schlussfolgerung aus der Reflexion des konstruierten Falles festgehalten, dass im ontologischen Sinn »für menschliche Personen das ›Menschsein‹ wesentlich [ist], das Personsein dagegen nicht«. Quante betont, dass in dieser Aussage ›wesentlich‹ nicht evaluativ zu verstehen ist, da »wir im evaluativen Sinne andere Eigenschaften für wertvoll erachten als die im ontologischen Sinne wesentlichen« 76. Auf den Fall und die dargestellten Optionen wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein. Abschließend soll nun Quantes Erörterung der dritten Grundfrage nachvollzogen werden. Mit diesem Übergang vollzieht sich eine spürbare Abwendung vom Ideal begrifflicher Exaktheit, das bis hierhin die Studie auszeichnete, und zugleich ein Perspektivenwechsel. Quante bemerkt hierzu: »Das philosophische Bestreben nach Systematizität und Klarheit muss dem Phänomenbereich angemessen bleiben, wobei für unseren Kontext vor allem die Orientierung an der Teilnehmerperspektive entscheidend ist.« 77 Da es in der systematischen Diskussion der Einheitsbedingungen von Personen bis hierhin stets nur um die erstper75 76 77
Quante, Person, 113. Ebd. 114. Ebd. 175.
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11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform
sönliche Perspektive und die Beobachterperspektive ging, die als Gegensätze gekennzeichnet wurden, soll an dieser Stelle zunächst betrachtet werden, was Quante unter dieser Teilnehmerperspektive versteht. Hier seine Erläuterung: Eine Person zu sein, setzt voraus, sich selbst und anderen Personen gegenüber die teilnehmende Perspektive einzunehmen, Rationalität zu unterstellen sowie nach evaluativen und anderen Sinnzusammenhängen Ausschau zu halten. Diese Einstellung haben wir von der Beobachterperspektive unterschieden, die allein auf kausale und funktionale Erklärungen ausgerichtet ist. In der Analyse des erstpersönlicheinfachen Ansatzes sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass sich aus dem Selbstbewusstsein heraus keine befriedigende Antwort auf das Problem der »diachronen Identität« der Person entwickeln lässt. Außerdem haben unsere Überlegungen ergeben, dass sich ein großer Teil der Intuitionen, die von der erstpersönlich-einfachen Antwort eingefangen werden, bewahren lässt, wenn man die Antwort auf das Einheitsproblem an die Beobachterperspektive koppelt und Einheit als eine kausale und nomologische Relation versteht. Der andere Teil der Intuitionen hinsichtlich unserer personalen »Identität«, welcher ebenfalls in den erstpersönlich-einfache Ansatz einfließt, lässt sich, so unsere Vermutung, integrieren in eine an der Teilnehmerperspektive ausgerichtete Konzeption der Persönlichkeit als evaluatives und aktivisches Selbstverhältnis Die Frage nach diesem Selbstverhältnis ist daher keine nach kausalen oder funktionalen Bedingungen, zugleich aber auch nicht auf die epistemischen Sonderverhältnisse im individuellen Selbstbewusstsein hin ausgelegt. Alternativ dazu werden wir versuchen, die Struktur der Persönlichkeit als ein hermeneutisches Zusammenspiel von Ich und Wir zu begreifen. 78
Angesichts dieser Darstellung drängen sich zwei Beobachtungen auf. Zum einen wird im Hinblick auf die eigentliche Begriffsbestimmung weit mehr über die beiden anderen komplementären Perspektiven gesagt, von denen die Teilnehmerperspektive abgehoben werden soll, als über diese selbst. Unklar ist – was auch an anderen diesbezüglichen Stellen der Studie nicht deutlicher wird –, wie das hermeneutische Zusammenspiel von Ich und Wir, das die Teilnehmerbeziehung bezeichnen soll, zu verstehen ist, ob etwa im Sinne der Grundworte Ich-Du bzw. Ich-Es Martin Bubers 79 grundverschiedene Beziehungen zur Welt gemeint sind. Zum anderen wird durch die Aussage im ers78 79
Quante, Person, 138. Vgl. Buber, Werke I, 79.
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ten Satz, wonach Personalität die hier als Teilnehmerperspektive benannte spezifische Einstellung schon voraussetzt, die Frage aufgeworfen, inwiefern die bis hierhin vorherrschende methodische Ausrichtung der Untersuchung an der erstpersönlichen Perspektive bzw. der Beobachterperspektive ihrem Gegenstand überhaupt angemessen war. Wenn diese neue Perspektive eine so grundlegende Bedeutung für den erfolgreichen Fortgang der Untersuchung, ja überhaupt für den angemessenen Zugang zum Phänomen der Person hat, bedürfte es an dieser Stelle einer prinzipiellen Klärung der veränderten Untersuchungsmethodik, die jedoch in der Studie ausbleibt. Da sich hierin nach meinem Dafürhalten ein allgemeines Defizit der letzten Kapitel von Quantes Studie ankündigt und ihre Erträge in der Erörterung der dritten Grundfrage daher weit weniger von Belang sind als seine hier kursorisch referierten Ausführungen zu den ersten beiden Grundfragen, beschränke ich mich abschließend auf eine sehr knappe Synopse seines Antwortversuchs. Schlüsselbegriffe für Quante sind »Persönlichkeit« als individuelle Ausprägung der Personalität einer menschlichen Person und »Anerkennung« 80 als der soziale Aspekt ihrer Konstitution. Ein Konkretisierungsversuch der Teilnehmerperspektive kann in der von der »Identifikation als« abgehobenen »Identifikation mit« im Sinne einer empathischen Einstellung gesehen werden. 81 Ausgehend von Modellen einer higher-order theory, für die beispielhaft die secondary volitions Frankfurts stehen können, 82 kommt Quante im Kontext der »biografischen Kohärenz« auf die spezifische Struktur personaler Autonomie zu sprechen, für die als Erweiterung der genannten Modelle die diachrone Verfasstheit der Persönlichkeit, insbesondere ihre Einstellungen zur Zukunft, einbezogen werden müssen. 83 Abschließend betrachtet Quante, »wie sich menschliche Persistenz und Persönlichkeit zueinander verhalten«, 84 indem er Varianten ihrer »Verschränkung« nach Beobachter- und Teilnehmerperspektive differenziert 85, und verweist auf ein offenes Ende seiner Untersuchung, in dem sich als Desiderate die philosophischen Pro-
80 81 82 83 84 85
Vgl. Quante, Person, 138–139. Vgl. ebd. 142–148. Vgl. ebd. 148–155. Vgl. ebd. 158–177. Ebd. 177. Vgl. ebd. 179–188.
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11.3.3 Vergleichende Analyse
jekte einer »Klärung unseres Verständnisses von personaler Autonomie und von Verantwortung« 86 zu erkennen geben.
11.3.3 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Quantes und Spaemanns Obwohl Quante durch seinen gewählten Forschungsansatz scheinbar auf einer völlig anderen Ebene argumentiert als Spaemann, zeigt sich im konkreten Vergleich beider Positionen ein zunächst unübersichtliches Nebeneinander von deutlichen Gegensätzen und überraschenden Parallelen. Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass Quantes Grundthese, wonach Personsein ein deskriptives Sortale ist, von Spaemann abgelehnt wird. 87 Eng damit verbunden ist der Gegensatz zwischen Spaemanns Option für die Aussage, dass alle Menschen Personen sind, und Quantes Vorstellung von der Aufnahme in die Personengemeinschaft durch Kooptation. 88 Andererseits aber führt Quantes Übergang zum biologischen Ansatz nach dem skeptischen Fazit seiner vorhergehenden Untersuchungen und seine Abwendung von der theoretischen Alternative von erstpersönlicher Perspektive und Beobachterperspektive bemerkenswert nahe an Spaemanns Begriff der Person als ›Haben einer Natur‹ heran, ohne dass sich dadurch allerdings die zunächst genannten Differenzen überwinden ließen. Es soll daher im Folgenden anhand von Quantes Argumentationsgang im Rahmen der Beantwortung seiner zweiten Grundfrage knapp rekapituliert werden, welche Abschnitte seines Weges aus Spaemanns Perspektive mitgegangen werden können und an welchen konkreten Entscheidungen Quantes die Differenz beider Konzeptionen sich manifestiert. Zunächst liegt es auf der Hand, dass Spaemann Quantes Zurückweisung der Erstpersönlichkeitsthese mittragen muss. Die Person, so schreibt Spaemann, ist definiert durch einen »Ort« im Ganzen des Universums, den nur sie einnimmt. Dieser Ort wiederum ist bestimmt durch seine Stellung zu allen anderen Orten, die Person also durch ihre Beziehung zu allem Quante, Person, 195. Vgl. die Einleitung zu Teilkapitel 11.3, Michael Quante: »Person«, 837. 88 Vgl. Quante, Person, 31, u. Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität, 839–840. 86 87
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
anderen, das niemals sie selbst sein kann. Und dies ist nicht nur von außen betrachtet so, sondern die Person selbst weiß von der Einmaligkeit des Ortes, von der Unverwechselbarkeit der Beziehung zu allem andern und damit von ihrer eigenen wesentlichen Einmaligkeit. Da es sich also um eine Einmaligkeit der Beziehung handelt, ist sie gar nicht ohne den Außenaspekt der Person zu denken. Dieser Außenaspekt ist primär durch den Körper vermittelt. 89
Quantes These, dass aus der Verneinung der E-These auch die Verneinung der U-These folgt, 90 dass also personale Einheit abhängig ist »von der Identität einer selbstbewusstseinstranszendenten Substanz« 91, würde Spaemann schon deswegen mittragen, weil es nach ihm Personen nur im Plural gibt. Die nur im Plural existierenden Personen bezeichnen für ihn die Substanz, die einer menschlichen Natur subsistiert: »Die Natur, deren Subsistenz die Person ist, ist die Natur eines organischen Lebewesens. Personen sind Lebewesen.« 92 Dass der Gang der Überlegung bei Quante gerade zu der umgekehrten Konstellation führt, insofern in seinem biologischen Ansatz einer deskriptiv bestimmbaren Personalität ein menschlicher Organismus zugrunde liegt, soll an dieser Stelle zunächst unbeachtet bleiben. Entscheidend für den Vergleich der beiden Konzeptionen ist damit die Frage nach der Gültigkeit der Komplexitätsthese. Nach Quante impliziert deren Bejahung nach der Zurückweisung der Erstpersönlichkeitsthese die Einnahme der »Beobachterperspektive« und damit die methodische Entscheidung für die »kausal-funktionale Analyse« 93. Hier wiederum liegt es auf der Hand, dass Spaemann die Komplexitätsthese in diesem Sinn ablehnen muss. In »Personen« schreibt er: »Der Andere muß mir in der sinnlichen Erfahrung und als Lebewesen ›Mensch‹ gegeben sein, in der spezifischen Weise, wie uns Lebendiges gegeben ist. Sein Personsein aber ist wesentlich das nie Gegebene, sondern in freier Anerkennung Wahrgenommene.« 94 Zwar spricht auch Quante im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Personen von Anerkennung; hier handelt es sich aber um eine offensichtliche Äquivokation, insofern bei ihm ein Akt der Kooptation geSpaemann, Personen (1996), 46. Vgl. Quante, Person, 59, u. Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität, 843. 91 Quante, Person, 59. 92 Spaemann, Personen (1996), 144. 93 Quante, Person, 98. 94 Spaemann, Personen (1996), 194. 89 90
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11.3.3 Vergleichende Analyse
meint ist, 95 bei Spaemann hingegen ein Akt der Selbsttranszendenz. 96 Im Rahmen der von Quante aufgestellten kombinatorischen Übersicht über die möglichen Einstellungen zu den drei Kernthesen müsste Spaemanns Konzeption demnach zu dem Theorietypus gehören, in dem alle drei Thesen abgelehnt werden. 97 Diesen Theorietypus hält Quante, wie bereits erwähnt, für ungeeignet, da er »unserer ethischen Praxis […] keine intersubjektiv zugängliche Begründungsbasis zur Verfügung stellen« und »nicht an naturwissenschaftliche oder andere empirische Befunde anschließen« 98 könne. Dieses Verdikt, das im Sinne der Typologie Quantes auch auf Spaemanns Konzeption bezogen werden müsste, wird in der weiteren Entwicklung seiner Untersuchung selbst dadurch in Frage gestellt, dass er den Versuch, eine komplexe Theorie zu entwickeln, erfolglos abbricht und nach dem Übergang zum biologischen Ansatz ausgehend von der Teilnehmerperspektive einen theoretischen Neuanfang versucht, in dem die Festlegung auf die Beobachterperspektive, die überhaupt erst zu dem Verdikt geführt hat, zumindest relativiert wird. Im Rahmen des Vergleichs der Konzeptionen Quantes und Spaemanns stellen sich im Hinblick auf diesen Versuch eines Neuanfangs die beiden Fragen, in
Vgl.: »Da wir die Bedingungen der Personalität nicht nur als epistemische Werkzeuge zur Entdeckung und Identifizierung von Personen, sondern als konstitutive Relationen aufgefasst haben, sind wir auf die These festgelegt, dass sowohl die Personalität als auch die Persönlichkeit eines menschlichen Individuums sozial konstituiert sind. Eine Person zu sein und eine Persönlichkeit zu entwickeln, bedeutet demnach, in evaluativen Relationen der Anerkennung zu stehen, die immer sozial vermittelt sind. Dabei muss ein X über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen, damit es Sinn macht, X als eine Person zu verstehen und anzuerkennen. Ohne diese Anerkennung selbst, d. h. ohne diese Einbettung in die personale Lebensform, kommt X die Eigenschaft, eine Person zu sein, aber nicht zu.« – Quante, Person, 139. 96 Vgl.: »Personsein ist deshalb nicht etwas, das vermutet und bei starker Vermutung dann sozusagen juristisch anerkannt wird. Es ist vielmehr überhaupt nur im Akt der Anerkennung gegeben. […] Achtung, Anerkennung sind Weisen von Aktivität. Es scheint, ihnen müsse eine Rezeptivität vorausgehen, in der Personen als Personen wahrgenommen werden. Besonders wenn es sich um die Wahrnehmung von Selbstsein handelt, scheint der Wahrnehmende sich rein rezeptiv verhalten zu müssen. Aber gerade das ist nicht der Fall, und aus einsehbarem Grunde nicht. Denn Selbstsein ist ja per definitionem das, was nicht als Phänomen gegeben ist.« – Spaemann, Personen (1996), 193. 97 Vgl. Quante, Person, 61. – Spaemanns Konzeption müsste hier also zum Typ 3 gehören. 98 Quante, Person, 82, vgl. Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität, 845. 95
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welchem Verhältnis zum einen die Verlagerung der Aufmerksamkeit Quantes auf die »Persistenz der menschlichen Person« zu Spaemanns Konzept des ›Habens einer Natur‹ und in welchem zum anderen Quantes Begriff der Teilnehmerperspektive zu Spaemanns Konzept der Anerkennung steht. Um diese Fragen zu beantworten, soll die Aufmerksamkeit auf den oben beschriebenen Fall und seine Erörterung durch Quante zurückgelenkt werden. 99 Im Kern geht es bei diesem Fall um die Frage, ob alle Menschen Personen sind, und, unabhängig von der Antwort auf sie, um das Verhältnis der Begriffe ›Mensch‹ und ›Person‹. In Frage steht zunächst, ob Spaemanns Position der von Quante beschriebenen zweiten Option zuzuordnen ist. Diese Frage lässt sich dahingehend konkretisieren, ob in Spaemanns Position »sowohl der Begriff des Menschen als auch der Begriff der Person Bedingungen der Einheit bereitstellen« 100, was Quante in seiner dritten Option in Bezug auf den Begriff der Person in Abrede stellt. Spaemanns Grundgedanken des apriorischen Beziehungsraums der Personen, mit dem zusammen der Mensch sich erst selbst als Person erkennt, 101 sowie der Entdeckung der Person, in der dieser Beziehungsraum sich öffnet, die weiterführen zur Idee eines Aufbewahrtseins im futurum exactum, 102 lassen nur eine positive Antwort auf die Frage nach Bedingungen der Einheit, die im Personbegriff impliziert sind, zu. Vertretern dieser Option wirft Quante zum einen vor, dass sie »nicht klar sagen, ob es auch nicht-menschliche Personen geben kann, für die dann andere Bedingungen der Persistenz gelten als für menschliche Personen« 103. Spaemann dagegen sagt dies sehr deutlich am Ende von »Personen«: Personenrechte sind Menschenrechte. Und wenn sich andere natürliche Arten im Universum finden sollten, die lebendig sind, eine empfindende Innerlichkeit besitzen und deren erwachsene Exemplare häufig über Rationalität und Selbstbewußtsein verfügen, dann müßten wir nicht nur diese, sondern alle Exemplare dieser Art ebenfalls als
Vgl. Quante, Person, 112–114, u. Abschnitt 11.3.2, Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform, 849. 100 Quante, Person, 113. 101 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 196. 102 Vgl. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube, 704–727. 103 Quante, Person, 113–114. 99
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11.3.3 Vergleichende Analyse
Personen anerkennen, also zum Beispiel möglicherweise alle Delphine. 104
Außerdem werde in dieser Option, so der zweite Einwand Quantes, vorausgesetzt, »dass man mit der Angabe der Bedingungen der Persistenz für menschliche Organismen alles gesagt hat, was man zur ›Identität‹ menschlicher Personen sagen muss« 105. Dieser Einwand muss wohl so zu verstehen sein, dass dies aus der Aussage »(γ), dass die Bedingungen der Einheit für Personen mit denen der Einheit für menschliche Organismen zusammenfallen« 106, folgt, obwohl laut Quante für diese Option auch gilt, »dass (α) sowohl der Begriff des Menschen als auch der Begriff der Person Bedingungen der Einheit bereitstellen« 107. Mit Bezug auf Spaemanns Konzeption ist zu urteilen, dass zwar, wie gesehen, (α) zutrifft, (γ) aber sicher abzulehnen ist, auch wenn – nota bene – alle Menschen Personen sind. Im zweiten Teil dieser Arbeit wurde erläutert, dass ›Person‹ bei Spaemann als bestimmte Negation eines Momentes der begrifflichen Unbestimmtheit des Menschen, also als doppelte Negation zu verstehen ist, durch die die Einheit des menschlichen Organismus transzendiert wird. 108 Im Gegensatz zu der aus dem Übergang zum biologischen Ansatz resultierenden systematischen Beschränkung Quantes auf die Persistenz des menschlichen Organismus, die auch die zentrale Idee seiner als Alternative vorgeschlagenen dritten Option ist, geht es Spaemann in seinem Personbegriff im Sinne des ›Habens einer Natur‹ wesentlich um eine Distanz zu dieser. Spaemanns Position wird daher weder durch die zweite noch auch durch eine der anderen von Quante vorgeschlagenen Optionen beschrieben. 109 Die entscheidende Differenz, durch die Spaemanns Konzeption aus dem Spektrum der Optionen Quantes ausbricht, ist der Gedanke der Anerkennung der Person als eines Jenseits des Begriffs gegenüber Quantes Vorstellung der »Prädikation der Eigenschaft ›Personalität‹« 110 in der Teilnehmerperspektive, die seinem Kooptationskonzept zugrunde liegt.
Spaemann, Personen (1996), 264. Quante, Person, 114. 106 Ebd. 113. 107 Ebd. 108 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. 109 In Quantes Terminologie müsste man Spaemanns Position durch Akzeptanz von (α) und Behauptung von (non-β) und (non-γ) bezeichnen. 110 Quante, Person, 113. 104 105
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
11.3.4 Zur Kritik der Perspektive Quantes Eine Kritik an den hier knapp skizzierten Positionen Quantes im Rahmen der Philosophie der Person muss sich erstens auf seinen Ausgangspunkt der deskriptiv-sortalen Verwendung des Begriffs »Person« beziehen. 111 Durch ihn wird entsprechend seiner ersten Grundfrage vorausgesetzt, dass es Eigenschaften und Fähigkeiten gibt, durch die eine Entität zur Klasse oder Art der Personen gehört. 112 Nachdem die von dieser Prämisse ausgehende Untersuchung zu keinem Erfolg geführt hat, modifiziert Quante zwar die zweite Grundfrage im Sinne der Beschränkung auf die Persistenzbedingungen des menschlichen Organismus, versäumt es aber, die erste Grundfrage zu revidieren, was offenbar notwendig wäre, wenn er in der Diskussion des beschriebenen Falles für seine dritte Option votiert, in der »der Begriff des Menschen, nicht aber der Begriff der Person Bedingungen für die Persistenz bereitstellt« 113. Auch wenn man ihm versuchsweise den Ausgangspunkt und die genannte Prämisse zugesteht, so führt seine eigene Analyse des Problems zu dem Befund, dass die deskriptiv-sortale Verwendung des Begriffs »Person« problematisch ist. Eng damit verbunden ist seine Entscheidung, nach dem Scheitern des ersten Argumentationsgangs im Übergang zum biologischen Ansatz »die spezifische Differenz des Personseins, die uns von anderen Organismen unterscheidet, ausblenden« 114 zu wollen. Prinzipiell ist in Frage zu stellen, ob auf dieser Grundlage eine Philosophie der Person möglich sein kann. Das Konstrukt, das Quante vorschlägt, versucht ohne den Begriff der Person als konstitutives Sortale auszukommen, indem ausgehend von den Bedingungen der Persistenz des menschlichen Organismus diesem bei Vorliegen bestimmter Eigenschaften – die weiter mit der Beantwortung der ersten Grundfrage festgelegt sein sollen – Personalität zugesprochen wird. 115 In diesem Vgl. Quante, Person, 18–23. Vgl. ebd. 8. 113 Ebd. 113. 114 Ebd. 106. 115 Vgl. Quantes Beschreibung der von ihm vorgeschlagenen dritten Option: »In der Konsequenz muss (vi) uminterpretiert werden als Prädikation der Eigenschaft ›Personalität‹ von einem menschlichen Individuum, sodass unser b* aufgelöst wird in die Behauptung, dass b zum fraglichen Zeitpunkt eine Person ist (die von Substanzdualisten postulierte zusätzliche Entität b* fällt damit weg).« – Ebd. 113. 111 112
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11.3.4 Zur Kritik der Perspektive Quantes
Konstrukt kehrt der problematisch gewordene und als Sortale abgeschaffte Begriff »Person« schließlich als prädizierte Eigenschaft »Personalität« wieder zurück. Selbst wenn man Quante zugestehen wollte, dass er auf diese Weise dem Problem des Substanzdualismus entgangen wäre, muss die Frage gestellt werden, ob seine Konzeption angesichts des implizierten faktischen Verlusts eines substantiellen Personbegriffs – das Personsein, so Quante, ist für menschliche Personen nicht wesentlich 116 – der »Relevanz des Begriffs der Person für unsere ethische Praxis« 117 und seiner Bedeutung als »Knotenpunkt […], in dem sich […] klassische[…] Fragen der Philosophie […] berühren und durchdringen« 118, gerecht werden kann. Schließlich ist noch anzuknüpfen an die bereits in der Darstellung von Quantes Gedankengang angeklungene Kritik an seiner Beantwortung der dritten Grundfrage, die im Hinblick auf eine inhaltliche Ausdeutung des Personbegriffs sicherlich die wichtigste ist. Abgesehen davon, dass sein Antwortversuch, wie gesehen, wenig Konkretes zu bieten hat, bringen sich darin nach meinem Dafürhalten der problematische Ausgangspunkt und die nicht weniger problematische Korrektur desselben in der gewählten Form des biologischen Ansatzes in Erinnerung. Durch das Konstrukt der Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive wird eine nachträgliche Reparatur dieser Voraussetzungen versucht, die aber angesichts erheblicher Unklarheiten in Bezug auf die hier zentral werdende Teilnehmerperspektive zu keiner überzeugenden Revision der von Quante selbst als problematisch eingestuften Vorüberlegungen führt. Wie in der vergleichenden Analyse versucht wurde zu zeigen, gibt es in Quantes Argumentationsgängen zahlreiche Anknüpfungspunkte an Positionen Spaemanns, so dass die Einbeziehung seiner Personenphilosophie auch im Rahmen dieser Studie durchaus instruktiv gewesen wäre. Um so mehr muss es doch verwundern, dass in Quantes Studie nicht einmal eine kritische oder auch nur distanzierende Bezugnahme auf Spaemanns Denken zu finden ist.
116 Vgl.: »In diesem Sinne ist deshalb für menschliche Personen das ›Menschsein‹ wesentlich, das Personsein dagegen nicht.« – Quante, Person, 114. 117 Ebd. 82. 118 Ebd. 5.
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Die Auseinandersetzung mit alternativen Perspektiven auf das Gesamtwerk Robert Spaemanns im zehnten Kapitel hat gezeigt, dass bisher theologisch orientierte Deutungen des schwer fassbaren Zusammenhangs seiner Gedanken dominieren. Während diese Orientierung bei Kuciński der erklärten Programmatik seines Ansatzes entsprach, stand sie in der Monographie Zaborowskis in einer nicht aufgelösten Spannung zu seiner Absicht, genuin philosophische und religiös inspirierte Schichten des Denkens trennen zu wollen. Aber selbst in der entschieden philosophisch orientierten Untersuchung Schönbergers endete die Rekonstruktion der Gedanken Spaemanns abrupt im Konzept der »Versöhnung von Personalität und Natur im Schöpfungsbegriff« 1. Das Werk Spaemanns ist also noch nicht konsequent als genuin philosophisches Werk interpretiert worden. Dieses bisher vorherrschende Rezeptionsmuster dürfte auch erklären, warum der Ansatz Spaemanns unter den im elften Kapitel untersuchten Arbeiten zur Philosophie der Person lediglich in der ihrerseits theologisch orientierten Studie Kobuschs Beachtung fand. Es entbehrt nicht einer ironischen Pointe, wenn hier aufgrund der aus dem Werk Spaemanns entwickelten Bedingung eines sinnvollen Diskurses, in den eine Philosophie der Begegnung eintreten kann, gerade Kobuschs Ansatz ausgeschlossen werden musste. Die in dieser Arbeit als geistiges Zentrum der Spaemann’schen Philosophie hervorgehobene Verbindung von Naturteleologie und Personalität führte ja in den einführenden Überlegungen zum vorliegenden dritten Teil zu der Feststellung, dass die Philosophie der Begegnung an den philosophischen Diskurs, für den sie offen ist, die Bedingung stellen muss, dass jede Position sich in ihm als eine Perspektive versteht. Da der Begriff der Perspektive aber untrennbar ist von der Fundierung der Vernunft in der Natur, des Denkens in der ihm voraufgehenden Leib1
Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 56.
861 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
lichkeit, enthält diese Bedingung die Forderung nach der Reflexion der conditio humana, des antagonistischen Verhältnisses von Vernunft und Leben im Menschen, das Kobusch ausblendet. Auch Sturma und Quante abstrahieren zunächst, wie gesehen wurde, von dieser Perspektive, indem sie von der Selbstgewissheit des Subjekts (Sturma) bzw. den Bedingungen für Personalität schlechthin (Quante) ausgehen. Wie jedoch gezeigt wurde, wird von beiden in der Entfaltung ihres Personendenkens die conditio humana wieder einbezogen, indem das ›ich denke‹ im ›ich existiere‹ und damit im Präreflexiven, Natürlichen fundiert wird (Sturma) bzw. indem nach dem Scheitern der Suche nach Einheitsbedingungen für Personen als solche im biologischen Ansatz vom menschlichen Organismus ausgegangen wird (Quante). Beide schwenken somit im Lauf ihrer Untersuchung auf die hier aufgestellte Diskursbedingung ein. Die Untersuchung von Sturmas »Philosophie der Person« führte dabei zu der Frage, warum die als animal rationale verstandene Person weiterhin in einem radikalen Gegensatz zu anderen Lebewesen gesehen wird, zumal die Schwierigkeiten in Sturmas Konzeption, vom Selbst zum Anderen zu gelangen, offensichtlich mit dieser Entscheidung verbunden sind. Die Untersuchung von Quantes »Personen« führte zu dem Problem, dass sein Ausgang vom Begriff der Person als deskriptives Sortale nach dem Übergang zum biologischen Ansatz zur Vorstellung einer menschlichen Kooptationsgemeinschaft führt, die in den Persistenzbedingungen menschlicher Organismen fundiert ist. In dieser Konstellation ist Spaemanns Grundgedanke des ›Habens einer Natur‹ invertiert, insofern Quantes Person aus dieser Perspektive als die ›gehabte Natur‹ verstanden werden muss und der Leib an die Stelle rückt, die bei Spaemann von der Person besetzt wird. Quantes Schwierigkeiten bei der Bestimmung des evaluativ-normativen Selbstverständnisses der Person scheinen mir aus dieser Inversion hervorzugehen. Als Fazit der Untersuchungen des elften Kapitels kann festgehalten werden, dass Spaemanns als Philosophie der Begegnung gedeutete Personenontologie im philosophischen Diskurs der Gegenwart der Sache nach tief verankert ist und sich als anschlussfähig auch an Diskurse erweist, in denen seine Position aus welchen Gründen auch immer bisher ignoriert worden ist. Was Spaemanns Ansatz nach meinem Dafürhalten gegenüber den drei hier untersuchten Konzeptionen einer Philosophie der Person auszeichnet, ist das in seinem Begriff von Person bereits implizierte Moment des Interpersonalen: »Personen gibt es nur im Plu862 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
ral.« 2 Während bei Kobusch gar nicht zu erkennen ist, wie er vom Subjekt zum Anderen gelangen sollte, Sturmas Bewegung vom Selbst zum Anderen sich nur durch eine im Sinne des kategorischen Imperativs verstandene »Impersonalität« realisiert, gerät Quante bei der als Korrektiv zur unhaltbaren Dialektik von erstpersönlicher Perspektive und Beobachterperspektive eingeführten Teilnehmerperspektive in Erklärungsschwierigkeiten. Bei Spaemann hingegen fallen die Fundierung der menschlichen Vernunft in der conditio humana und die Wahrnehmung des Anderen in eins. Vernunft ist natürliche Selbsttranszendenz. Die Wahrnehmung des Anderen ist der Ur-Akt der personalen Vernunft, die sich in der reflexiven Wendung ihrer selbst bewusst wird. Der Begriff, der am meisten geeignet ist, den inneren Zusammenhang von Naturteleologie und personaler Wahrnehmung auszudrücken, ist ›Begegnung‹. Die Bedeutung dieses Begriffs wurde im zweiten Teil dieser Arbeit allmählich konkretisiert, wobei aber weder eine systematische Erfassung dieses Begriffes im Allgemeinen geleistet noch seine Bedeutung als Organisationsprinzip des Spaemann’schen Denkens konsequent durchdacht werden konnte. Aus diesen beiden Desideraten ergeben sich wesentliche Aufgaben dieses Abschlusskapitels, auf dessen Teilkapitel nun ein Ausblick gegeben werden soll. In Teilkapitel 12.1 soll es um die Funktion des Sachverhalts der Begegnung im Werk Spaemanns gehen. Wenn dieser Begriff erst allmählich in der Entwicklung seiner Gedanken beginnt eine Rolle zu spielen, hier aber die These vertreten wird, dass er als Bezeichnung des Organisationsprinzips dieses Denkens gewertet werden kann, folgt aus dieser These auch, dass bei Spaemann zunächst nur implizit gebliebene Zusammenhänge später retrospektiv durch ihn miterfasst werden. Da die diachrone Untersuchung seines Werks im zweiten Teil dieser Arbeit an einen Zeitpfeil gebunden war, konnten solche implizite Verweisverhältnisse auf spätere Entwicklungsstufen des Gedankens nicht einbezogen werden. Dies soll hier nicht nur der Vollständigkeit halber nachgeholt werden; denn in Bezug auf das für Spaemann zentrale Thema der Teleologie und sein frühes Hauptwerk »Natürliche Ziele« kann gezeigt werden, dass in der Forschungsliteratur zu ihm hervorgehobene vermeintliche Schwächen sich aus dem Ziel der Philosophie der Begegnung retrospektiv als notwendigerweise zunächst offen bleibende Fragen erweisen lassen. Indem so zum 2
Spaemann, Personen (1996), 87, 144 u. 248.
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
ersten Mal Bezüge in der Richtung gegen den Zeitpfeil angesprochen werden, ergibt sich hier auch die Möglichkeit, die im neunten Kapitel thematisierte Verallgemeinerung der Ontologie der Person auf ihre Bedeutung für den Gesamtzusammenhang dieses Denkens zu befragen. Im anschließenden Teilkapitel 12.2 soll es um die Bedeutung des Sachverhalts der Begegnung im Grundsatz gehen. Während der Begriff bis dahin nur in den konkreten Spaemann’schen Kontexten betrachtet wurde, wird hier versucht, – vor dem Hintergrund der die Möglichkeit von Begegnung behauptenden Position des metaphysischen Realismus und der diese im Gegenteil bestreitenden des internen Realismus – auf das ›Urphänomen‹ der Begegnung zurückzugehen. Dieses Urphänomen muss dazu einerseits in seinen elementaren Bestandteilen und deren Zusammenhängen erfasst werden, wie andererseits auch die Bedingung des Gedankenexperiments reflektiert werden muss, durch das überhaupt auf dieses Urphänomen zurückgegangen werden kann, um dasjenige, was in ihm zutage gefördert werden sollte, in ein Verhältnis zum internen und metaphysischen Realismus stellen zu können. Diese Reflexion der Bedingung des Gedankenexperiments knüpft an die einführenden Überlegungen zum Begriff der Perspektive an. 3 Die Betrachtung des Urphänomens ist der Versuch, Begegnung vor der neuzeitlichen Wende im Verständnis der Perspektive zu denken, sie in der perspectiva naturalis zu erfassen, um von dieser Urkonstellation aus sowohl zu verstehen, wie die Möglichkeit der Wahrnehmung von Begegnung sich in der perspectiva artificialis bzw. ihrer subjektphilosophischen Verallgemeinerung verändern musste, als auch zu zeigen, dass die personale Begegnung im Sinne der umgekehrten Perspektive als eine Aktualisierung der perspectiva naturalis verstanden werden kann. Das auf das Urphänomen zielende Gedankenexperiment kann so den in der Begegnung sich ereignenden Sachverhalt in seiner ontologischen Grundstruktur beschreiben. Im Teilkapitel 12.3 schließlich soll es um Potentiale der Philosophie der Begegnung gehen. Einerseits werden zwei Dimensionen der im zweiten Teil entfalteten philosophischen Konzeption hervorgehoben, von denen aus nach meinem Dafürhalten ihre Weiterentwicklung möglich und auch geboten ist. Dabei geht es zum einen um die von den naturphilosophischen Teilen des Spaemann’schen Denkens 3
Vgl. die Einleitung zum dritten Teil, 747–753.
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ausgehende Frage nach dem Dialog von Philosophie und Naturwissenschaften, zum anderen um die Überlegung, wonach die Deutung der Normalität des personalen Lebens, um die es Spaemann in seiner Ontologie der Person letztlich geht, durch einen Dialog von Philosophie und Literaturwissenschaft vertieft werden könnte. In den Überlegungen zu den Potentialen der Philosophie der Begegnung werden andererseits exemplarisch zeitgenössische Denker ausgewählt, die eine Nähe zu Spaemanns Denken erkennen lassen, die bislang nicht bzw. kaum beachtet worden ist, deren nähere Untersuchung aber aussichtsreich für eine Weiterentwicklung der Philosophie der Begegnung sein könnte. Es handelt sich dabei zum einen um Martin Buber als den exponiertesten Vertreter der Dialogphilosophie, um Maurice Merleau-Ponty, der in der französischen Phänomenologie besonders die Bedeutung des Leibes hervorgehoben hat, und um Pavel Florenskij, der ähnlich wie Spaemann eine im Begriff des Lebens fundierte Philosophie der Person entwickelte.
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12.1 Der Begriff der Begegnung als Organisationsprinzip der Philosophie Spaemanns
Die für die vorliegende Arbeit leitende These, dass im Begriff der Begegnung das Organisationsprinzip der Philosophie Spaemanns gefunden werden kann, bedeutet, dass durch ihn auch Zusammenhänge in der Entwicklung seines Denkens bezeichnet werden können, die in seinem Werk zunächst implizit geblieben sind. Da in der diachronen Analyse seines Werks im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit der Begriff der Begegnung erst allmählich an Bedeutung gewann, sei hier zunächst ein Blick zurück auf die allmähliche Kontextualisierung der ›Begegnung‹ geworfen. Nachdem der Begriff in den ersten drei Kapiteln des zweiten Teils noch kaum eine Rolle gespielt hatte, schien seine systematische Bedeutung zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Begriff der ›Repräsentation‹ des Absoluten auf, dessen philosophische Interpretation mit dem Ereignis der menschlichen Begegnung verbunden wurde. 1 Als Organisationsprinzip zeigte der Begriff der Begegnung sich zuerst im Rahmen der Untersuchung von »Glück und Wohlwollen«, in deren Mittelpunkt das reziproke interpersonale Begegnungsgeschehen stand, durch das die lebendige Zentriertheit überwunden wird und sich das Erwachen zur Wirklichkeit bzw. zur Vernunft ereignet. 2 Noch stärker zeigte sich diese zentrale Stellung des Begriffs der Begegnung danach in der Untersuchung von »Personen«, insofern festgestellt wurde, dass Personen im Ereignis der Begegnung überhaupt erst zu sich selbst kommen, 3 und das ›Haben einer Natur‹ in mehreren Schritten am Leitfaden des Begegnungsbegriffs expliziert wurde. 4 Schließlich wurde der Begriff der Begegnung in einen Zusammenhang zu Spaemanns
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 394–397. 2 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479, u. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 479–489. 3 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 593–597. 4 Vgl. Teilkapitel 8.4, Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung, 600–635. 1
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12.1.1 Retrospektive
Begriff der Nähe gebracht 5 und das Konzept der Seinswahrnehmung am Begegnungsbegriff expliziert. 6 Da in der Ontologie der Person der Gipfelpunkt der Entfaltung von Spaemanns Denken gesehen werden kann, in dieser aber ein enger Zusammenhang zwischen Personalität und Naturteleologie konstatiert wird, gewann der Rückbezug auf das im fünften Kapitel behandelte frühe Hauptwerk »Natürliche Ziele« im zweiten Teil zunehmend Bedeutung. Um die Funktion des Begriffs der Begegnung als Organisationsprinzip von Spaemanns Werk noch deutlicher zu zeigen, als dies bislang möglich war, soll der Zusammenhang von Personalität und Naturteleologie im Folgenden ausgehend von der im Frühwerk entfalteten Teleologiethematik noch einmal durchdacht werden. Es geht dabei nicht um eine Wiederholung, sondern um eine auf den Ergebnissen des zweiten Teils aufbauende Neuperspektivierung einiger Überlegungen Spaemanns und Löws zur ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹ (12.1.1). Aus den Ergebnissen dieser Neuperspektivierung ergibt sich anschließend die Möglichkeit, Ergebnisse aus Kapitel 9 – insbesondere zu den Begriffen der Nähe und des Schönen – zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person einzubeziehen, um auch hier retrospektiv im zweiten Teil implizit gebliebene Zusammenhänge zu erläutern (12.1.2).
12.1.1 Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹ Im Rahmen der Untersuchung von »Natürliche Ziele« im Teilkapitel 5.2 wurde dargelegt und in der Auseinandersetzung mit Rainer Isaks »Evolution ohne Ziel?« ausdrücklich betont, dass Spaemann und Löw in dieser Studie weit davon entfernt sind, eine für die Denkbedingungen der Gegenwart aktualisierte Form des teleologischen Denkens präsentieren zu können oder zu wollen. Isak machte es Spaemann und Löw zum Vorwurf, dass »es nach der Lektüre ihres
Vgl. die Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 651–667. 6 Vgl. Teilkapitel 9.1, Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff, 668–679, u. Teilkapitel 9.2, Die Wahrnehmung des Seins im Schönen, 680–702. 5
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Buches dem Leser weitgehend unklar [bleibe], wo innerhalb der recht heterogenen Teleologieentwürfe der Philosophiegeschichte […] sich die beiden Autoren selbst einordnen würden« 7. Diesem Vorwurf liegt, wie gezeigt wurde, 8 ein prinzipielles Missverständnis der Intentionen Spaemanns und Löws zugrunde. Diesen geht es in erster Linie um das teleologische Phänomen des Ausseins-auf, von dessen irreduzibler Relevanz sie überzeugt sind, und erst in zweiter Linie um die kontingenten historischen Versuche, ein diesem Phänomen gerecht werdendes und in sich konsistentes philosophisches Denken zu konzipieren. In ihrer kritischen philosophiehistorischen Untersuchung betrachten sie die kontingenten Realisierungen des teleologischen Denkens einerseits auf ihre Entsprechung mit dem in Frage stehenden Phänomenbestand hin, andererseits auf Bedingungen oder Implikationen des jeweiligen Denkens, die aus unserer Perspektive problematisch erscheinen. Daher ist Isak insofern zuzustimmen, dass es keine historische Realisierung des teleologischen Denkens gibt, die Spaemann und Löw sich zu eigen machen würden. Die beiden Autoren treten allerdings in »Natürliche Ziele« weder mit dem Anspruch an, eine solche historische Realisierung finden, noch mit dem, dem teleologischen Denken in ihrer Studie selbst eine solche Form geben zu wollen. Was Isak in seinem Vorwurf meines Erachtens verkannte, ist, dass es Spaemann und Löw mit dem teleologischen Denken um ein offenes Projekt geht, dem seit der antiteleologischen Wende der frühen Neuzeit nur vereinzelte Rettungsversuche galten, 9 das aber insgesamt mit der »Vollstreckung des Antiteleologismus durch die Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts« 10 im philosophischen Diskurs marginalisiert wurde. Wenn am Ende des Buches von der »wiederentdeckte[n] Teleologie« 11 die Rede ist, dann geht es vor allen Dingen um den unausrottbaren teleologischen Phänomenbestand und die Überzeugung der Autoren, dass eine Erneuerung des teleologischen Denkens notwendig ist, nicht aber um ihren Anspruch, eine solche hier selbst vorlegen zu können. Dieser Anspruch Isak, Evolution ohne Ziel?, 53. Vgl. Abschnitt 5.2.8, Der Einwand Rainer Isaks, 285–286. 9 Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), Kapitel V., Vermittlungsversuche zwischen Teleologie und Universalmechanik bei Leibniz, Wolff und Kant, 95– 121, und Kapitel VI., Teleologie im Deutschen Idealismus: Fichte, Schelling, Hegel, 123–155. 10 Ebd. 177. 11 Ebd. 223. 7 8
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12.1.1 Retrospektive
kann vielmehr als der rote Faden bezeichnet werden, der Spaemanns Werke über Jahrzehnte hinweg miteinander verbindet. In der Entwicklung der Gedankengänge im zweiten Teil dieser Arbeit – insbesondere in den Kapiteln 6 bis 8 – hat sich gezeigt, dass die Ontologie der Person, in der wesentliche Entfaltungslinien seines Denkens konvergieren, in ihrer vollen Tragweite nur erfasst werden kann, wenn sie selbst als eine Erneuerung des teleologischen Denkens in der Philosophie der Gegenwart verstanden wird. Was Isak in Bezug auf »Natürliche Ziele« als Mangel bezeichnet hat, findet sich also in der denkerischen Entwicklung Spaemanns erst im Zusammenhang seiner beiden späteren Hauptwerke »Glück und Wohlwollen« und »Personen«, die ihrerseits, wie gesehen wurde, ein reich verzweigtes Geflecht an Bezügen zu einer Vielzahl weiterer Essays Spaemanns enthalten. Ausgehend also von der These, dass die Ontologie der Person eine neuzeitliche Aktualisierung des teleologischen Denkens zumindest im Ansatz enthält, ergibt sich nun im Rückblick auf »Natürliche Ziele« die Frage, an welche historischen Realisierungen Spaemann in seiner Personenontologie anknüpft und inwiefern er sich zugleich von diesen durch seine eigene Konzeption distanziert. Wie im Folgenden zu zeigen versucht wird, kann man sich bei der Beantwortung dieser Frage auf die beiden wesentlichen Ausformungen des teleologischen Denkens bei Aristoteles und Thomas von Aquin beschränken. 12 Im Werk des Aristoteles findet sich eine »nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision«, die im zweiten Teil im Rahmen von Teilkapitel 5.2 in ihren Grundzügen dargelegt wurde. 13 An dieser Stelle sei nur an einige für die folgenden Überlegungen wesentliche Merkmale seines Denkens erinnert: Zum einen unterscheidet Aristoteles konsequent zwischen echten teleologischen Prozessen, deren komplexeste Fälle die Zweckhaftigkeiten lebendiger Wesen im Ganzen sind, und solchen Prozessen, die zwar sinnvoll erscheinen, aber zufällig sind. Aufgrund dieser Unterscheidung vermeidet er eine universalteleologische Ausweitung des Grundgedankens, die in der Geschichte des teleologischen Denkens ein wesentliches Vehikel der
Eine ähnliche Gegenüberstellung der Teleologiekonzepte des Aristoteles und Thomas von Aquins findet sich in: Breitsameter, Individualisierte Perfektion. Vom Wert der Werte, 22–50. 13 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision, 225–233. 12
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Entteleologisierung war. Zum anderen ist Aristoteles der Überzeugung, dass die Natur ohne Überlegung wirkt, dass teleologische Prozesse also nicht an ein Bewusstsein gebunden sind, was nach Aristoteles ausdrücklich auch für menschliches Handeln gilt, das dann am vollkommensten realisiert wird, wenn es nicht mehr an die begleitende Reflexion gebunden ist. Auch diese Überzeugung ist von zentraler Bedeutung angesichts der Rolle, die die gegen Aristoteles vollzogene Bindung teleologischer Prozesse an ein Bewusstsein später in der Geschichte der Entteleologisierung gespielt hat. Von großer Bedeutung ist außerdem die terminologische Unterscheidung von finis cuius und finis cui bei Aristoteles, durch die er die ontologische Differenz zwischen objektivem Zweck und subjektivem Ziel fasst. Im finis cuius kommt die teleologische Verfasstheit eines Lebewesens zum Ausdruck, wohingegen der finis cui eine bewusste Zielsetzung bezeichnet. Der Letztere bleibt daher immer in den Ersteren eingebunden. Da im finis cuius die Selbsterhaltung eines Wesens nicht um seiner selbst willen erstrebt werden kann, schließt Aristoteles auf das Streben nach Teilhabe – μέθεξις –, wodurch das teleologische Denken des Aristoteles eine religiöse Komponente erhält, insofern das letzte τέλος endlicher Wesen die Repräsentation des Göttlichen ist. Eine Kritik der aristotelischen Fassung der Teleologie findet man bei Spaemann und Löw kaum. Den eigentlichen Grund, warum ein direkter Rückgang auf ihn zur Wiederbelebung des teleologischen Denkens nicht möglich ist, nennt Spaemann am deutlichsten im ersten Abschnitt des Essays »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹«, in dem er in Bezug auf die Rezeptionsbedingungen des aristotelischen Denkens dessen Verschlossenheit aus neuzeitlicher Perspektive unterstreicht: »Die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt hat noch nicht stattgefunden.« 14 Aristoteles entwickelt sein teleologisches Denken nicht im Ausgang vom Subjekt, sondern er geht aus von den Substanzen. Insofern uns diese nur als Objekte für ein Subjekt – und also gerade nicht als Substanzen im aristotelischen Sinn – gegeben sind, ist eine direkte Übertragung der aristotelischen Gedanken auf unsere Denkbedingungen ausgeschlossen. Um überhaupt an Aristoteles anknüpfen zu können, bedarf es einer Aktualisierung seines Denkens im Ausgang vom Subjekt. 15 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35. Blendet man dieses nach der hier vorgelegten Deutung für das Verständnis von Spaemanns Werk zentrale Projekt einer neuzeitlichen Aktualisierung des aristote-
14 15
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12.1.1 Retrospektive
Ein möglicher Schritt zu dieser Aktualisierung ist in der Fassung der Teleologie bei Thomas von Aquin zu sehen. Diese unterscheidet sich von der aristotelischen zunächst in Bezug auf die beiden oben hervorgehobenen Merkmale. Zum einen erweitert Thomas die teleologische Interpretation von Naturprozessen über die Stufe der Einzelwesen hinaus und gelangt zu einer universalteleologischen Vorstellung der Welt als ökologisches System. Zum anderen führt er zielgerichtete Prozesse in der außermenschlichen Natur so auf das göttliche Bewusstsein zurück, wie der Flug des Pfeiles auf die Intention des Schützen zurückzuführen ist. Die Aktualisierung des aristotelischen teleologischen Denkens erfolgt bei Thomas von Aquin demnach durch den neuen Ausgang des Denkens vom Subjekt Gottes: »wo Teleologie, da auch Theologie« 16. Da auch bei Aristoteles, wie oben gesehen wurde, theologische Vorstellungen in seinem teleologischen Denken eine Rolle spielen, ist es an dieser Stelle wichtig, sich klarzumachen, welcher entscheidende Unterschied zwischen den theologischen Ansätzen beider besteht. Beide vertreten eine immanent-teleologische Naturauffassung. Auch nach Thomas wirken – wie im Pfeil des Bogenschützen – Ziele in den Naturdingen, ohne dass diese etwas davon wissen müssen. Im Unterschied zur Lehre des Aristoteles ist Gott für Thomas aber nicht allein Ziel eines Teilhabestrebens, sondern zugleich Schöpfer der teleologisch verfassten Naturdinge; aristotelisch gesprochen ist Gott damit causa finalis und causa efficiens in einem. Wie Spaemann und Löw in »Natürliche Ziele« bemerken, stellt diese Verbindung des antiken μέθεξις-Gedankens mit dem christlichen Schöpfungsgedanken die »Peripetie des teleologischen Denkens« 17 dar. Die durch Thomas betriebene Theologisierung der Teleologie ermöglichte die von ihm keineswegs intendierte ›Kürzung‹ Gottes aus dem Bild der Welt und seine allmähliche Erlischen Denkens aus, wird die Etikettierung Spaemanns als ›altkonservativer‹ Denker verständlich: »Die Altkonservativen lassen sich von der kulturellen Moderne gar nicht erst anstecken. Sie verfolgen den Zerfall der substantiellen Vernunft, die Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst, das moderne Weltverständnis und deren nur noch prozedurale Rationalität mit Mißtrauen und empfehlen […] eine Rückkehr zu Positionen vor der Moderne. Einen gewissen Erfolg hat vor allem der Neuaristotelismus, der sich heute durch die ökologische Problematik zur Erneuerung einer kosmologischen Ethik anregen läßt. Auf dieser Linie, die von Leo Strauss ausgeht, liegen beispielsweise interessante Arbeiten von Hans Jonas und Robert Spaemann.« – Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 52–53. 16 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 72. 17 Ebd. 78.
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setzung durch ein universales kausal-mechanistisches Prinzip der Naturerklärung, das Friedrich Schiller sehr eindringlich in folgenden Versen zum Ausdruck brachte: Unbewußt der Freuden, die sie schenket, Nie entzückt von ihrer Trefflichkeit, Nie gewahr des Armes, der sie lenket, Reicher nie durch meine Dankbarkeit, Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre, Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr, Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere, Die entgötterte Natur! 18
Der Versuch einer neuzeitlichen Wiederbelebung des teleologischen Denkens muss somit dessen Theologisierung bei Thomas ablehnen und kann gleichwohl nicht direkt auf Aristoteles zurückgehen. Daher bleibt Thomas nach Spaemann und Löw für die neuzeitliche Philosophie eine Herausforderung, weil seine Frage: »Wie ist die Kunst in die Natur hineingekommen?« unter der Voraussetzung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt unabweisbar ist. 19 Auch wenn eine immanente Naturteleologie angenommen wird, ist das teleologische Aussein-auf von Naturdingen für uns immer ein Gegenstand des Bewusstseins. Selbst in der Erfahrung des eigenen leiblichen Ausseinsauf können wir nur von bewusst wahrgenommenen Lebensregungen sprechen, deren Bewusstwerdung etwas vorhergegangen sein mag, zu dem wir aber prinzipiell keinen direkten Zugang im Bewusstsein haben können. Das Grundproblem des teleologischen Denkens lässt sich also im Spannungsfeld zwischen Aristoteles und Thomas von Aquin dahingehend konkretisieren, dass die Annahme einer Spontaneität des Ausseins-auf in der Natur, wenn sie unter der Bedingung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt nicht mehr wie bei Aristoteles abgelöst von einem begleitenden Bewusstsein gedacht werden kann,
»Die Götter Griechenlandes«, Verse 161–168 – Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, 168. – Es handelt sich hier um die erste Fassung des Textes von 1788, die Schiller auch im zweiten Teil der »Gedichte« von 1803 wieder abdrucken ließ. – Vgl. ebd., 873–874. – In der zweiten Fassung von 1800 lautet die Strophe: »Unbewußt der Freuden, die sie schenket,/ Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit,/ Nie gewahr des Geistes, der sie lenket,/ Selger nie durch meine Seligkeit,/ Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre,/ Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,/ Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,/ Die entgötterte Natur.« – Ebd. 172. 19 Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 79. 18
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12.1.1 Retrospektive
gleichzeitig nicht durch den Verweis auf ein göttliches Bewusstsein, das den Naturdingen ihre Zielgerichtetheit eingesetzt hat, erklärt werden kann. Das teleologische Denken gerät also in das Dilemma, den Ausgang vom Subjekt zugleich denken als auch verwerfen zu müssen. Entscheidend ist somit die Frage, welcher Ausweg aus dieser Aporie bleibt, wenn die thomasische Lösung, ein göttliches Subjekt anzunehmen, an dem wir durch unsere Fähigkeit, es zu denken, teilhaben können, nicht mehr akzeptabel erscheint. Aporie bedeutet ›Mangel an Wegen‹. Statt der zweifelhaften Frage nach dem ›Ausweg‹ aus ihr muss die offenbar falsche Voraussetzung in dieser Frage aufgedeckt werden. In Spaemanns »Personen« findet sich die im Zusammenhang des unvermeidlichen Ausgangs des Denkens vom Subjekt überaus bedeutsame Feststellung: »Es handelt sich bei einem solchen Ausgang vom ›Subjekt‹ um die Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die tatsächlich der Subjektivität immer schon vorausliegt.« 20 Wenn man diesen Satz in seiner Tiefe auslotet, zeigt sich, dass Spaemann drei Ebenen unterscheidet: Erstens geht es um eine vorausgesetzte, ›unvordenkliche‹ Wirklichkeit; zweitens geht es um Subjektivität, die zu dieser Wirklichkeit in einem näher zu bestimmenden Verhältnis steht; drittens schließlich geht es um das Subjekt als Rekonstruktion der Wirklichkeit, die Spaemann als eine reine Abstraktion betrachtet, von der im Denken auszugehen das πρώτον ψεύδος der neuzeitlichen Subjektphilosophie ist. In dem aufgewiesenen Spannungsfeld zwischen Aristoteles und Thomas von Aquin ist also unter der neuzeitlichen Voraussetzung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt nicht weiterzukommen, ohne dass auf den für Spaemann zentralen Gründungsakt der Subjektphilosophie im cartesischen ›cogito sum‹ rekurriert wird. An dieser Stelle sei nur knapp an die im zweiten Teil ausführlich dargelegte Auseinandersetzung Spaemanns mit Descartes erinnert. 21 Da Descartes, wie Spaemann später in »Personen« mit Bezug auf dessen Subjektbegriff schrieb, in seinem Gedankengang der Versuchung erlag, »diese abstrakte, alle inhaltlichen Bestimmungen distanzierende Identität als Entität zu hypostasieren und sie das ›Selbst‹ zu nennen« 22, wurde er Spaemann, Personen (1996), 114–115. – Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 331. 21 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383. 22 Spaemann, Personen (1996), 115. 20
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
zur »Theologisierung der Ontologie« 23 geführt, insofern nur durch die Annahme eines unendlichen Bewusstseins die aus seinem Ansatz resultierende Dialektik von Horizont- und Gegenstandsbewusstsein zum Stehen gebracht werden konnte. Spaemanns für sein gesamtes Denken bedeutsamer systematischer Gegenentwurf zu dieser spekulativ-dialektischen Begründung der Subjektphilosophie besteht in der metaphysisch-analogen Rückbindung des Subjekts an die menschliche Natur. Subjektivität wird so als Transzendieren des lebendigen Ausseins-auf verstanden. Da dieses Aussein-auf seinerseits die primäre Form von Negativität ist, bedeutet Subjektivität eine Negation der Negation, wodurch eine Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein im Gedanken des ›Seins‹ möglich wird: »Dieser Gedanke hat gar keinen eigenen Inhalt, keinen intentionalen Gehalt. Er gewinnt seine Bestimmtheit nur durch eine doppelte Negation, die Negation der Nichtigkeit bloßen Gedachtseins.« 24 Der Gedanke ›Sein‹ kommt dadurch in die Welt, dass ein lebendiges Wesen, das in seiner Selbstzentriertheit eine Umwelt ausgrenzt, diese Innen-Außen-Differenz selbst transzendiert und einen ›Blick von nirgendwo‹ erreicht. 25 An dieser Stelle nun ist es wichtig, diesen zentralen gedanklichen Zusammenhang bei Spaemann in ein Verhältnis zu setzen zu dem skizzierten Spannungsfeld zwischen Aristoteles und Thomas von Aquin. Thomas hält an der aristotelischen Vorstellung immanenter Naturteleologie fest, beginnt aber im Unterschied zu Aristoteles die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt indirekt als ontologische Differenz von ›esse‹ und ›essentia‹, also als das im Schöpfungsgedanken implizierte Bewusstsein von der Kontingenz der Welt, zu reflektieren. Wie im zweiten Teil dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Betrachtung der Geschichte des anthropologischen Dualismus gesehen wurde, wendete Thomas sich gegen den aristotelischen Gedanken, dass der Geist von außen – θύραθεν – in den Menschen hineinrage, und vertrat die These einer individuellen Vernunft. 26 Die Vorstellung eines menschlichen Subjekts bleibt jedoch bei Thomas latent, insofern die vernünftige Selbsttranszendenz von ihm gerade als ein Wirken der Natur im Menschen verstanden Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139. Spaemann, Personen (1996), 50. 25 Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 550–553. 26 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333– 334. 23 24
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12.1.1 Retrospektive
wird. 27 Erst unter der Voraussetzung eines ausdrückliches Ausgangs des Denkens von einem Subjekt, das von seiner natürlichen Grundlage abgelöst ist, gerät die für Thomas noch gültige Vorstellung immanenter Naturteleologie in das beschriebene Dilemma, insofern das göttliche Subjekt, das die Kunst in die Natur gebracht hat, und das menschliche Subjekt, das sich selbst als ursprüngliche Spontaneität auffasst, unvermittelt einander gegenüberzustehen beginnen, – die Situation von Descartes’ zweiter Meditation. Dieser Gegensatz ergibt sich jedoch nicht zwangsläufig mit der Herausbildung von Subjektivität, sondern ist die Folge einer sekundären Bewegung, durch die die in der doppelten Negation immer schon vollzogene Selbsttranszendenz – also die thomasische Vorstellung der Vernunft als Ausdruck der menschlichen Natur – zurückgenommen und das aus dem Akt der Selbsttranszendenz erst hervorgehende Subjekt zu einer selbständigen Entität hypostasiert wird. Diese sekundäre Bewegung – die sich selbst freilich als absoluten Anfang versteht! – ist augustinisch gesprochen die recurvatio, der rationale Rückzug in die natürliche Zentralität. Da diese Bewegung durch die mögliche Interferenz der natürlichen Zentralität mit dem neuen Subjektgedanken aber unvermeidbar war, bedarf es einer wesentlichen Erweiterung gegenüber dem thomasischen Gedankengang, insofern das Verständnis der vernünftigen Selbsttranszendenz als Wirken der Natur im Menschen nun explizit von einem menschlichen Subjekt aus gedacht werden muss, das im Akt der Selbsttranszendenz oder in dessen Verweigerung eine Entscheidung getroffen hat. Eine mögliche Erneuerung des teleologischen Denkens muss also einerseits die thomasische Theologisierung der Teleologie ablehnen und andererseits den für uns unvermeidbaren Ausgang des Denkens vom Subjekt von seiner für das neuzeitliche Denken paradigmatisch gewordenen antiteleologischen Ausprägung befreien. Die leitende Idee, anhand deren im zweiten Teil dieser Arbeit in den Kapiteln 6 bis 8 das so im Rückblick zu betrachtende Projekt der Erneuerung des teleologischen Denkens entfaltet wurde, bestand in der Verbindung von Naturteleologie und Selbsttranszendenz. Zur
Vgl. hierzu die Bezugnahme Spaemanns auf Thomas von Aquin in seinen »Studien über Fénelon« im Kapitel »Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin über den amor perfectus« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 88–106, u. Abschnitt 4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität, 164 u. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 335–336.
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Verdeutlichung der Zusammenhänge in ihrer hier im Mittelpunkt stehenden, von der Naturteleologie ausgehenden Perspektivierung soll im Folgenden nur auf die entscheidenden Gelenkstellen in der Entfaltung der Spaemann’schen Konzeption hingewiesen werden. Wenn im Sinne des in Erinnerung gerufenen Gedankens der doppelten Negation das aus dem Akt der Selbsttranszendenz hervorgehende Subjekt auf das konstitutive Aussein-auf seiner ihm zugrunde liegenden Natur zurückgeführt wird, stellt sich noch einmal die Frage, wie dieses Subjekt sich selbst überhaupt gegeben sein kann. Die Antwort hierauf hat Spaemann zuerst im Kapitel »Wohlwollen« in »Glück und Wohlwollen« gegeben. Im Unterschied zu anderen Lebewesen hat der Mensch die Fähigkeit, aus der natürlichen Zentralität des Lebendigen herauszutreten, für das alles Begegnende »nur eine Bewandtnis hat als Funktion für ein Subjekt« 28. Im Akt der Selbsttranszendenz tritt nun der finis cuius dieses Subjekts, die Selbsterhaltung, als »bewandtnislose[s] Um-willen« 29 hervor. Auch wenn eine solche reflexive Wendung auf das Subjekt Aristoteles unbekannt war, ist es wichtig, an dieser Stelle festzuhalten, dass Aristoteles diesen finis cuius auf das Streben nach der Teilhabe am Göttlichen bezog. In der reflexiven Wendung auf den finis cuius des menschlichen Lebewesens eröffnet sich nach Spaemann einerseits die Möglichkeit, diesen selbst zu einem finis quo zu machen, was als Reflexionsbewegung in den Solipsismus oder als Reflexionsverweigerung zum versuchten Rückzug in die natürliche Zentralität führen muss. Da das eigene Selbst aber indirekt »als das Andere des Anderen« 30 hervortritt, die reflexive Wendung auf den finis cuius also immer schon intersubjektiv vermittelt ist, gibt es andererseits die Möglichkeit, ein Jenseits der eigenen natürlichen Zentralität zu erreichen und damit im Sinne der doppelten Negation Sein selbst wahrzunehmen. Diese Möglichkeit der Seinswahrnehmung nun ist von zentraler Bedeutung für Spaemanns Aktualisierung des teleologischen Denkens. Es geht in ihr einerseits um eine konkrete Wahrnehmung, andererseits aber um eine solche, die nicht auf eine objektive Gegebenheit für ein Subjekt zielt. In der reflexiven Wendung wird der Blick auf die Welt in dieser Wahrnehmung vermittelt durch den Anderen, der »das Unbedingte ist, nicht in der Weise der physischen Präsenz, sondern in der Weise der Re28 29 30
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12.1.1 Retrospektive
präsentation des Bildes« 31. Da Spaemann in diesem Kontext auch vom »Bild des Unbedingten« spricht, ist es von großer Bedeutung, sich ausgehend vom Gedanken der Naturteleologie den philosophischen Status dieses Begriffs des Unbedingten klarzumachen. Im Sinne der Ablehnung der thomasischen Theologisierung der Teleologie wurde zunächst im einzig möglichen Ausgang von der menschlichen Subjektivität das in der Selbsterfahrung gegebene Aussein-auf als etwas Präreflexives bzw. Unvordenkliches angenommen, das uns mit anderen lebendigen Wesen verbindet. Damit ist keine theologische Vorentscheidung getroffen, da die thomasische Frage, wie die Kunst in die Natur hineingekommen ist, hier offen gelassen wird. Die zweite Negation der reflexiven Wendung auf das Aussein-auf lässt nun ein Bild entstehen – Bild in seiner wesentlichen Doppeldeutigkeit sowohl als Sehen als auch als Angeschautes, in das das Subjekt der Wahrnehmung selbst eingeht –, aus dem nichts ausgeschlossen ist und das unabhängig von den vitalen Interessen des wahrnehmenden Subjekts ist. Es ist das Bild des Unbedingten – auch dieser Genitiv ist entsprechend sowohl als subjectivus als auch als objectivus zu lesen – zunächst ganz exakt in dem Sinn, dass es unabhängig ist von der Welt der natürlichen Zentralität des Wahrnehmenden. Durch die Wahrnehmung des Bildes kommt etwas Neues in die Welt, das ohne jede in der eigenen Natur fundierte Bewandtnis ist. Es ist ein Jenseits des vitalen Zusammenhangs, das in dessen Transzendierung zugänglich ist und zunächst nur als eine Grenze des Denkens gefasst werden kann. Diese Deutung schließt keineswegs aus, dass darüber hinaus das ›Unbedingte‹, von dem hier die Rede ist, bei Spaemann noch eine religiöse Konnotation erhalten kann. Primär aber ist die Negation der Bedingtheit auf die Transzendenz der natürlichen Zentralität zu beziehen. Unbedingt ist, was ungeachtet des Ausgangs des Denkens von der aus der lebendigen Zentralität hervorgehenden menschlichen Subjektivität unabhängig ist von der eigenen – und damit von jedweder – Interessenperspektive. Nach meiner Überzeugung stellt dieser in »Glück und Wohlwollen« entwickelte, vom menschlichen Subjekt ausgehende Gedankengang einen wesentlichen Schritt zur Aktualisierung des teleologischen Denkens in seiner aristotelischen Form dar. Sofern man unter Säkularisierung den Übergang primär religiöser Begriffe in einen allgemeineren philosophischen Kontext verstehen kann, ist die in der interpersonalen Begegnung sich ereig31
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nende Repräsentation des Bildes als eine Säkularisierung der auf Aristoteles zurückgehenden Vorstellung der repraesentatio des Göttlichen durch die nach μέθεξις strebenden Einzelwesen zu verstehen. 32
Die hier retrospektiv noch einmal betrachteten Zusammenhänge, durch die eine in der natürlichen Teleologie fundierte Differenzierung neuzeitlicher Subjektivität als personaler Horizont des Vernünftigen einerseits, autonomer Intentionalität andererseits theoretisch expliziert wird, erlauben auch einen Rückbezug auf die kritische Erörterung von Spaemanns Konzept der ›Inversion der Teleologie‹ in Hans Ebelings Sammelband »Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne«. – Vgl. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 142–143, Fn. 25. – Gegen Spaemanns Konzeption wendete Ebeling ein: »Die aufklärende und deshalb dringliche Rede von einer Inversion der Teleologie darf so sicher nicht gedeutet werden als eine negative, wenn der eigene Sinn der Moderne bestimmbar bleiben soll. Mit der Inversion ist nicht etwa die Relation von ›Leben‹ und ›gutem Leben‹ darauf reduziert, daß nun ein Moment zum alleinigen und selbst zum ganzen Bezug würde. Vielmehr ist die Einheit der Selbsterhaltung und Selbststeigerung positiver Ausdruck einer neuen Zielorientierung der werdenden modernen Subjektivität. Sie bezieht sich auf eine Welt, die kein anderes zu ihr mehr hat, weshalb sie noch sachgemäß und nicht nur im Sinne einer Bildungsreminiszenz ›diese‹ Welt genannt werden könnte. Denn von ›dieser‹ als der nun einzigen Welt ist hier alles.« – Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 22–23. – Ohne Zweifel trat Spaemann immer gegen eine solchermaßen als ›Einheit der Selbsterhaltung und Selbststeigerung‹ verstandene moderne Subjektivität ein, insofern sich mit dieser für ihn die »Unaufhaltsamkeit eines naturwüchsigen Verhängnisses« – Spaemann, Ende der Modernität? (1986), 249 – verknüpft. Ebenso unterliegt es keinem Zweifel, dass die von Ebeling unterstrichene Beschränkung auf ›diese‹ Welt von Spaemann im Sinne der so implizierten Transzendenzfeindlichkeit abgelehnt wird, auch wenn seine Orientierung am ›Unbedingten‹ keine Theologisierung der Ontologie bedeutet, sondern als genuin philosophische Argumentation entwickelt wird, die sich sekundär mit religiösen Erwägungen in Kongruenz bringen lässt. Nur durch eine solche Orientierung kann für Spaemann das aus dem Paradigma der Selbsterhaltung hervorgehende Selbstverständnis der Moderne korrigiert werden: »Erst wenn die Krisenerfahrung der Modernität die Gestalt der Wiederherstellung einer nichtmediatisierbaren, nicht verwaltbaren und nicht funktionalisierbaren Unbedingtheit gewinnt, der Unbedingtheit des Religiösen, des Sittlichen und des Künstlerischen, dann erst kann von einer Wiederherstellung eines integralen Erfahrungsbegriffs gesprochen werden. Und das erst wäre der Schritt aus der Modernität, der deren Errungenschaften bewahrte, die vom modernen Bewußtsein selbst nicht bewahrt werden, weil dieses Bewußtsein sich selbst nicht vesteht.« – Ebd. 255. – Der von Ebeling erhobene und mit Verweis auf Blumenberg und Buck bekräftigte Vorwurf an Spaemann, durch seine Konzeption der invertierten Teleologie werde die Moderne von ihm nur negativ bestimmt, übersieht allerdings, dass es Spaemann von Anfang an darum ging, »den Gedanken der Teleologie auf anfänglichere, nicht ›invertierte‹ Weise neu zu denken«. – Spaemann, Vorwort zur zweiten Auflage (1990), in: Ders., Reflexion und Spontaneität (1963), 14. – Das in seinem Sinne posi32
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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung Im bisherigen Gang des Gedankens wurde versucht, in der gegenüber dem zweiten Teil umgekehrten Denkrichtung die Argumentationskette zu rekonstruieren, durch die von der Naturteleologie zur Personenontologie gelangt werden kann. Das entscheidende Glied dieser Argumentationskette, das bis zu dieser Stelle noch fehlt, betrifft den Übergang von der dargelegten Möglichkeit der Selbsttranszendenz zum interpersonalen Geschehen der Begegnung, in dem sich die personale Freiheit von der Natur realisiert und die Wirklichkeit der Personen beschreibbar wird. Im Rückgriff auf Kapitel 8 muss an dieser Stelle betont werden, dass es sich bei diesem Übergang um ein aus der vorausgesetzten Perspektive hervorgehendes Scheinproblem handelt. Im Teilkapitel 8.4 dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Betrachtung einer in das Begegnungsgeschehen eingehenden Subjektivität, wie sie auch der hier durchgeführten Rekonstruktion anhand von »Glück und Wohlwollen« zugrunde liegt, bereits eine die eigentlichen Zusammenhänge verschleiernde Abstraktion darstellt. Subjektivität in diesem Sinne entsteht nur aus der reflexiven Wendung auf das hervortretende ›bewandtnislose Umwillen‹ und verdankt sich immer schon der intersubjektiven Vermittlung durch eine Außenperspektive. Die Rekonstruktion des Begegnungsgeschehens ausgehend von der Betrachtung eines Einzelwesens scheint zwar zunächst eine Denknotwendigkeit zu sein, die erst durch die Einsicht in die intersubjektive Vermittlung der Subjektivität überwunden wird; der an diesen Gedankengang sich anschließende Versuch einer Verallgemeinerung des teleologischen Kerns der Personenontologie weiter unten wird aber zeigen, dass der Ausgang von der Betrachtung eines Einzelwesens nur scheinbar einer Notwendigkeit entspricht und in Wirklichkeit auch auf der Ebene nichtpersonaler Lebewesen die eigentlichen Zusammenhänge verdeckt. 33 Hier sei noch einmal knapp an wesentliche Erkenntnisse aus dem Teilkapitel 8.4 erinnert: Die Möglichkeit interpersonaler Begegnung verdankt sich der Ambivalenz der Zeit für Personen, die einerseits als Prinzip der Entropie das Objektivwerden von Subjekten als Subjekten ermöglicht, andererseits aber von Personen, die eine Distanz zu ihrer Natur haben, überwunden tive, also teleologische Verständnis der modernen Subjektivität entwickelte Spaemann allerdings erst letztgültig im Rahmen seiner Ontologie der Person. 33 Vgl. die Schlussfolgerung aus dem hier begonnenen Gedankengang, 887–888.
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und in Zeit-Gestalten verwandelt wird. 34 Personen sind als ›gehabte Natur‹ in den universalen Kontext der Welt eingebunden und sind als ›Haben einer Natur‹ unabhängig von diesem Kontext, insofern die Gemeinschaft der Personen einen apriorischen Kontext bildet, in dem die erst durch die Distanz zur eigenen Natur zu Bewusstsein kommende räumliche und zeitliche Indexikalität transzendiert wird. 35 Personale Freiheit bedeutet Freiheit von der eigenen Natur, deren Voraussetzung die Begegnung ist, in der die Verwandlung der sich selbst in der Zeit äußerlich werdenden Subjektivität in eine Zeitgestalt möglich wird. 36 Im Sinne der hier versuchten Rekonstruktion der wesentlichen Zusammenhänge der Philosophie Spaemanns von der Naturteleologie aus muss an dieser Stelle verdeutlicht werden, dass die Rede von einer ›Freiheit von der Natur‹ missverständlich sein kann, da es hier keineswegs um eine Loslösung von der Natur geht. Der personale Standpunkt, der im Transzendieren der Natur erreicht wird, verfügt, wie Spaemann betont, über kein eigenes Energiepotential. Die Person bleibt damit Natur, auch wenn sie die natürliche Zentralität des Lebewesens übersteigt. Diesen paradoxen Gedanken hat Spaemann mit Bezug auf Platon als den Gedanken bezeichnet, der die Philosophie konstituiert. 37 Es geht in ihm um das Verständnis der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur. Die teleologisch verstandene Natur, die wesentlich über sich hinaus weist, erreicht in menschlichen Wesen eine Stufe, auf der das Andere der Natur, auf das sie verweist, durch eine reflexive Wendung selbst noch einmal zu Bewusstsein kommt. An dieser Stelle ergibt sich die Paradoxie, dass das Andere der Natur als dieser entgegengesetzt und zugleich als aus ihr hervorgehend begriffen werden muss. Die vernünftige Selbsttranszendenz ist Natur und zugleich ihr Gegenteil. Dieser scheinbare Paralogismus ergibt sich aus der reflexiven Wendung, in der die Natur, indem sie ihrer selbst ansichtig wird, Natur bleibt und doch zugleich in ihr eigenes Bild verwandelt wird. Als PaVgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 603–613. 35 Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens: Gewissen und Versprechen, 613–624. 36 Vgl. Abschnitt 8.4.3, Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung: Die Spontaneität des Herzens, 625–635. 37 Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 389. 34
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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
radoxie erscheint dieser Vorgang allerdings nur, wenn auf der einen Seite eine natürliche und auf der anderen eine bewusste Entität isoliert werden und der Mensch als ein Wesen, in dem beide Entitäten zusammenfallen, auf seine Identität hin befragt wird. Die Paradoxie des Gedankens verschwindet entsprechend, wenn im Sinne des teleologischen Grundgedankens Leben und Vernunft als Kontinuum begriffen werden, wenn die natürliche Seite des Geistes und die spirituelle der Natur festgehalten werden. 38 Damit kann nun gezeigt werden, dass im Erreichen des personalen Orts, von dem Spaemann in »Personen« spricht, 39 die Aktualisierung des aristotelischen teleologischen Denkens zum Abschluss kommt. Im Transzendieren des natürlichen Ausseins-auf können menschliche Subjekte durch die Begegnung mit anderen Personen eine personale Identität erlangen, die von einer auf die Genese ihrer Natur ausgerichteten Betrachtung nicht mehr erreicht werden kann und sich von ihrer Naturgrundlage emanzipiert. Obwohl diese Freiheit von der Naturgrundlage sich nur auf den sich jeder qualitativen Bestimmung entziehenden personalen Ort bezieht, geht sie doch als wesentlich nicht rekonstruierbares Moment in die in ihrem Sosein beschreibbare Zeitgestalt der Person ein. Da diese These durch das Festhalten an der konstitutiven Bedeutung des natürlichen Substrats die Hypostasierung des menschlichen Subjekts zu einer selbständigen Entität ausschließt und dieses Subjekt sich als Person jeder qualitativen Erfassung entzieht, ist Personsein grundsätzlich nur in der Selbsterfahrung oder in der Weise der Anerkennung anderer Personen gegeben. Der Versuch, aus dem naheliegenden Einwand, dass es sich bei der personalen Selbsterfahrung nur um eine Illusion handeln könnte, eine in sich konsistente Position zu entwickeln, scheitert, wie durch eine reductio ad absurdum gezeigt werden kann, daran, Vgl.: »Das neuzeitliche Weltbild ist gespalten, und wir pendeln sozusagen ständig hin und her zwischen der Innen- und der Außensicht unserer selbst, zwischen Spiritualismus und Naturalismus, zwischen einer Welt von Objekten unserer sinnlichen Erfahrung und der Wissenschaft, die diese Objekte konstituiert, selbst aber als ein transzendentales Subjekt Bedingung dieser Objektwelt ist. Wir springen hin und her wie bei der Betrachtung gewisser Vexierbilder. Jede dieser Sichtweisen springt unvermeidlich um in die entgegengesetzte, und immer wieder wird der Versuch gemacht, die Weltbilder zu vereinigen durch Integration der einen Sicht in die andere. Eines nur durfte nie geschehen: Nie durfte der Geist eine natürliche Seite und nie die Natur eine spirituelle Seite haben.« – Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit« (2009), 159–160. 39 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82. 38
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dass eine solche Theorie selbst keinen Anspruch auf Wahrheit mehr erheben könnte. 40 Der individualteleologische aristotelische Grundgedanke, in dem das Aussein-auf als unvordenklich und also vom Bewusstsein abgelöst vorgestellt wird, ist durch den Gedanken der doppelten Negation – also das Transzendieren des natürlichen Ausseins-auf, das seinerseits durch die konstitutive Innen-Außen-Differenz ein wesentliches Moment der Negation enthält – mit dem unvermeidbar gewordenen Ausgang des Denkens vom Subjekt, der Aristoteles verschlossen war, vermittelt worden, wobei durch diese Aktualisierung gleichzeitig eine Umdeutung der aristotelischen Teleologievorstellung in dem Sinne stattgefunden hat, dass in das τέλος eine Offenheit für die Begegnung hineingelegt wird, die Aristoteles noch nicht kannte. Das Subjekt hat seine primäre Selbstgegebenheit im Überschreiten seiner natürlichen Zentralität, von der es sich gleichwohl als abkünftig erfährt, insofern die überschreitende Vernunft selbst noch als eine Form des natürlichen Ausseins-auf begriffen wird. Der Ausgang des Denkens vom Subjekt führte in der thomasischen Umformung der aristotelischen Teleologievorstellung zu der Frage, wie die Kunst in die Natur hineingekommen ist. Spaemann vertritt in dieser Frage durch die zentrale Stellung des immer nur privativ vom Bewusstsein aus bestimmbaren Lebensbegriffs in seinem Denken philosophisch zunächst eine agnostische Position, die in seinen Texten zu Fragen des Glaubens durch kongruente religiöse Erwägungen ergänzt wird. Aus der Perspektive der Philosophie Spaemanns wäre Thomas’ Frage folgendermaßen umzuformen: ›Was bedeutet es, dass wir die Natur und uns selbst nicht anders denken können als so, dass die Kunst immer schon in die Natur und in uns hineingekommen sein muss?‹ An der auf die cartesische Hypostasierung der Subjektivität zur unabhängigen Entität zurückgehenden Tradition der neuzeitlichen Subjektphilosophie und der aus ihrem Programm der Entteleologisierung hervorgehenden Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus ist die philosophiegeschichtliche Konsequenz abzulesen, die aus Spaemanns Sicht dieses Nicht-anders-Können nahelegt. Jedes Denken, das das Phänomen des lebendigen Ausseins-auf in seiner irreduziblen Bedeutung ausblendet, gelangt am Ende zwangsläufig zu seiner dialektischen Selbstaufhebung. Die Anerkennung der Bedeutung des Phänomens bedeutet allerdings noch nicht die Überwindung des Partikularismus. Ein in unserer te40
Vgl. z. B. Spaemann, Wahrheit und Freiheit (2009), 314.
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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
leologisch verstandenen Natur fundiertes menschliches Selbstverständnis gibt zwar kein Kriterium dafür, was als Natur in einem analogen Sinn bei nichtmenschlichen Wesen anerkannt werden muss; die Bezugnahme auf eine teleologisch verstandene menschliche Natur macht jedoch den kritischen Anthropomorphismus, von dem Spaemann spricht, unverzichtbar. Begegnung bezeichnete in der hier nachvollzogenen Entwicklung des philosophischen Denkens Spaemanns von der Naturteleologie zur Personenontologie ausschließlich das interpersonale Geschehen, durch das für Personen die Freiheit von ihrer Natur als Entfaltung von Zeitgestalten möglich wird. Da der naturteleologische Zusammenhang erst in diesem interpersonalen Geschehen eine reflexive Wendung erfährt und damit überhaupt zu Bewusstsein kommt, ist diese Beschränkung auf die Begegnung von Personen verständlich. Die Rekonstruktion der Zusammenhänge hat aber auch verdeutlicht, dass personale Beziehungen auf einer Naturgrundlage aufruhen, die in sich noch einmal Stufen der Entfaltung beobachten lässt. Es ist daher kaum zu erwarten, dass Begegnung im interpersonalen Geschehen plötzlich auftaucht, ohne dass sie im Entwicklungsprozess der Natur schon vorbereitet wäre bzw. nichtpersonale Vorformen besäße. Um diese Vermutung kreisten die späten Überlegungen Spaemanns zu einer Verallgemeinerung der Ontologie der Person, die im Kapitel 9 der vorliegenden Arbeit ausgehend von den Begriffen Ähnlichkeit und Nähe untersucht wurden. Im Rückgriff auf diese Untersuchung soll hier abschließend gezeigt werden, dass der Begriff der Begegnung nicht allein den Schlüssel zu Spaemanns Personenontologie enthält, sondern auch als zentrales Erklärungsinstrument dieser verallgemeinerten Ontologie verstanden werden kann. In den Überlegungen zum Begriff der Ähnlichkeit in der Einleitung zu Kapitel 9 wurde gezeigt, dass seine scheinbare Mehrdeutigkeit auf verschiedene Wahrnehmungsweisen desselben Phänomens zurückgeführt werden kann. Zugrunde liegt diesem Phänomen die Spontaneität der Natur bzw. menschlicher ποίησις, die Hinsichten begründet. Aufgrund dieser Hinsichten eröffnen sich qualitative Räume, die Ähnlichkeitswahrnehmungen möglich machen, die untereinander wesentlich durch das Verhältnis zu dem zu unterscheiden sind, was sich im Erscheinen verbirgt: Dieses Verhältnis kann in der qualitativen Wahrnehmung latent bleiben oder analog zum eigenen Selbstverhältnis miterfasst werden. Um die aus diesen Zusammenhängen sich ergebenden semantischen Schwierigkeiten beim Gebrauch des Ähnlich883 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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keitsbegriffs zu umgehen, führte Spaemann den ontologischen Begriff der Nähe ein, dessen Spezialfall Ähnlichkeit als qualitative Nähe ist. Ontologisch bezeichnet Nähe Sein. Das menschliche Subjekt gelangt zum Sein, indem es seine natürliche Zentralität transzendiert und in der interpersonalen Begegnung zu der Zeitgestalt wird, die es seiner natürlichen Anlage nach im Sinne einer ›offenen Form‹ immer schon ist. 41 Ausgehend von der interpersonalen Begegnung lässt sich der Gedanke des Zum-Sein-Kommens zunächst erweitern im Hinblick auf menschliche Begegnungen mit Lebewesen, die nicht den personalen Ort erreichen können. Spaemann spricht mit Bezug auf Portmann von einer Selbstdarstellungstendenz alles Lebendigen, 42 der die Fähigkeit zu einem kontemplativen Verhalten entspricht, aus der im personalen Selbstverhältnis zur eigenen Natur eine menschliche Rezeptivität hervorgeht, durch die die Anerkennung von Selbstsein bei Lebewesen aller Art – und in der theoretischen Fortführung des Gedankens bei allem Seienden überhaupt – möglich wird. Auch wenn in solchen Begegnungen – ebenso wie in der ästhetischen Wahrnehmung – keine interpersonale Reziprozität erreicht werden kann, handelt es sich in ihnen um Akte der Selbsttranszendenz, die Seinswahrnehmung und damit das Zum-Sein-Kommen ermöglichen, das sich in einem ausgezeichneten Sinn in der interpersonalen Begegnung ereignet. Für die Verallgemeinerung der Spaemann’schen Ontologie ist aber noch wichtiger als der menschliche Blick auf andere Lebewesen und Seiendes die Frage nach der Möglichkeit von Begegnung in der außermenschlichen Welt selbst. In diesem Zusammenhang sind die in Kapitel 9 referierten Gedanken Spaemanns zum Thema ›Schönheit‹ von besonderer Bedeutung. ›Schön‹ ist keine qualitative Bestimmung, sondern ein transzendentaler Begriff, der auf als So-und-So Bestimmtes bezogen werden kann. Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass etwas wert ist, um seiDieser Gedanke impliziert eine ›Verlängerung‹ des aristotelischen Stoff-Form- bzw. δύναμις-ἐνέργεια-Verhältnisses. Während bei Aristoteles die Formursache im Sinne des Entelechie-Gedankens substanzimmanent gedacht wird, wird hier das teleologische Aussein-auf wesentlich als eine Unterbestimmtheit verstanden, die erst im Akt der Selbsttranszendenz ›zu sich selbst‹ kommen kann. Die im menschlichen Subjekt potentiell angelegte Zeitgestalt kann daher nicht im Sinn der aristotelischen Formursache als präexistent – die Wirklichkeit geht bei Aristoteles der Möglichkeit voraus –, sondern nur als ›offene Form‹ aufgefasst werden, deren konkrete Verwirklichung von kontingenten Begegnungsereignissen abhängig ist. 42 Vgl. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 258. 41
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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
ner selbst willen angeschaut zu werden. Schönheit ist die Weise, wie Selbstsein sich im Erscheinen verbirgt, ihre Wahrnehmung ist also eine Weise der Anschauung, die auf alles, was ist, bezogen werden kann. Während ›gut‹ als zweistelliges Prädikat im Sinne des ›gut für‹ das Aussein-auf einer natürlichen Zentralität zur Voraussetzung hat, verweist ›schön‹ als einstelliges Prädikat auf die Überwindung der natürlichen Zentralität. Die bewusste Wahrnehmung des Schönen ist nur im vernünftigen Transzendieren der Natur möglich. Der transzendentale Begriff des Schönen impliziert daher eine anthropozentrische Perspektive, da wir von keiner anderen Spezies wissen, die zu einer vernünftigen Selbsttranszendenz fähig ist. Für die Schönheitswahrnehmung gilt daher, was für die personale Seinswahrnehmung gilt, dass sie jederzeit dem Verdacht der Idiosynkrasie, dem Verdacht also, eine bloß subjektive Illusion zu sein, ausgesetzt ist. Gerade aus dem Verdacht der Idiosynkrasie und der in ihr enthaltenen Selbstwidersprüchlichkeit geht jedoch die Transzendenz hervor, die auf das Sein als Jenseits des Gedankens, auf das Selbstsein und damit auf das Schöne geht. Die Wahrnehmung des Schönen kann daher nicht, wie die Rede vom transzendentalen Begriff suggeriert, als subjektive Konstitution begriffen werden, sondern ›schön‹ muss ebenso wie ›sein‹ etwas Wirkliches bezeichnen, das unabhängig von der subjektiven Perspektive ist. Das Denken erreicht hier zwangsläufig jene Grenze, von der oben im Zusammenhang mit dem personalen Ort bereits die Rede war, da zum ›Sein‹ wie zum ›Schönen‹ als Jenseits des Begriffs zwar in einer Denkbewegung gelangt wurde; über diese Grenze hinaus aber kann das Denken nicht führen, ohne sich in den Bereich der Spekulation zu begeben. Zu den ›plausiblen Annahmen‹ in diesem Bereich, von denen Spaemann spricht 43, gehört das teleologische Naturverständnis, das, wie nun gezeigt werden soll, untrennbar von der Annahme der Gegebenheit des Schönen auch in der außermenschlichen Natur ist. Der zentrale Gedanke des teleologischen Denkens bei Aristoteles und ebenso in der Aktualisierung, um die es Spaemann in seinem Gesamtwerk geht, besteht in einem Vgl.: »Mir scheint, dass wir der bewusstlosen, aber katastrophalen Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus nur durch eine theologische Annahme entgehen, nämlich die Annahme, dass der Naturprozess der Evolution von der gleichen Instanz initiiert und regiert ist, die es auf die Erzeugung geistbegabter Wesen abgesehen hat. Wer diese extrem plausible Annahme nicht machen will, der kann vernünftigerweise nur beim Dualismus bleiben.« – Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit (2009), 164.
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Aussein-auf, das nicht auf bloße Selbsterhaltung, sondern auf Selbsttranszendenz zielt. Aristoteles hatte dieses Aussein-auf in letzter Konsequenz als Streben nach Teilhabe – μέθεξις – am Göttlichen verstanden. Oben wurde dargelegt, dass in Spaemanns Aktualisierung des aristotelischen Denkens die in der interpersonalen Begegnung sich ereignende Repräsentation des Bildes als eine Säkularisierung jener repraesentatio des Göttlichen verstanden werden kann. Der Gedanke der Repräsentation des Bildes lässt sich nun aus dem Bereich der interpersonalen Begegnung auch auf die außermenschliche Natur übertragen, indem den natürlichen Einzelwesen in ihrem Aussein-auf eine Tendenz zur Selbstdarstellung zugesprochen wird, die aus einem in der Natur wirkenden ›Apriori der Schönheit‹ 44 erklärt wird. Das Apriori der Schönheit bezeichnet den Mehrwert des Ausseins-auf, durch den dieses über das Streben der Selbsterhaltung hinausgeht und in den Einzelwesen die Tendenz bewirkt, sich in ihrem Selbstsein, das nicht in qualitativen Bestimmungen aufgeht, zu zeigen. Die Annahme der Gegebenheit des Schönen in der Natur erlaubt es, analog zur Repräsentation des Bildes auf der personalen Ebene in der außermenschlichen Welt die aristotelische Vorstellung des Teilhabestrebens durch ein Begegnungsgeschehen zwischen lebendigen Wesen zu konkretisieren. An die Stelle der aristotelischen repraesentatio eines transzendenten Gottes tritt dann ein nicht völlig auf die Selbsterhaltungsfunktionalität reduzierbares Streben nach Selbstdarstellung, dem schon innerweltlich – unter Ausblendung der Frage nach Gott – eine Rezeptivität anderer Lebewesen, die Fähigkeit zu einem kontemplativen Verhalten bzw. ein Schönheitssinn, entgegenkommt. Damit ist zugleich unterstellt, dass auch außermenschliche Lebewesen über die Fähigkeit zu einer Seinswahrnehmung verfügen, die, auch wenn sie sich mit biologischen Funktionen verbindet, einen nicht funktionalistisch interpretierbaren Überschuss enthält. Das teleologische Selbstverständnis des Menschen ist letztlich nur haltbar, wenn solchermaßen analoge Annahmen für den Bereich der Natur gemacht werden. Die Annahme eines ›Schönheitssinnes‹ 45 in der außermenschlichen Natur, für die sich durchaus biologische Fakten anführen lassen, gehört daher ebenso zu den erwähnten plausiblen Annahmen, die prinzipiell nicht beweisbar sein können. 46 Räumt 44 45 46
Vgl. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 260. Vgl. Ebd. 266. Vgl. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 687–689.
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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
man diese Annahme ein, lässt sich der Begriff der Begegnung als ontologischer Grundbegriff in dem von Spaemann mit dem Begriff der Nähe angedeuteten systematischen Rahmen ausweisen. Nähe ist, wie oben gesehen wurde, 47 wesentlich ein relationaler Begriff. Von Nähe kann nur die Rede sein, wenn von einer Pluralität von Entitäten gesprochen wird, die zueinander in einem Verhältnis stehen. Nähe als Ent-Fernung ist zudem ein relativer Begriff. Es gibt Grade der Nähe. Wenn Nähe ontologisch als Sein verstanden wird, ist offenbar ein erreichbares Maximum an Nähe gemeint, wobei wiederum die Rede sein muss von einer maximalen Nähe einer Pluralität von Entitäten. Der Begriff der Begegnung scheint mir daher geeignet, den Fluchtpunkt zu bezeichnen, auf den der relative Begriff der Nähe selbst ausgerichtet ist. Zudem scheint mir die Semantik von Begegnung eher als die von Nähe die wesentliche Pluralität der Entitäten, von denen in ihr die Rede ist, zu vergegenwärtigen. Nun ist die Rede von der Begegnung – ebenso wie die von der Nähe – unvermeidbar durch einen Anthropomorphismus gekennzeichnet, da der in beiden Begriffen implizierte relationale Gedanke nur von selbstbewussten Lebewesen, genau genommen nur von Personen, die über die Indexikalität ihres Soseins hinaus sind, gedacht werden kann. In Bezug auf außermenschliches Leben von Einzelwesen bzw. distinkten Entitäten zu sprechen ist im Grunde nicht angemessen, da so bereits ein Perspektivensynkretismus stattgefunden hat: Als diskrete Entität ist das Lebewesen nicht sich, sondern nur uns gegeben. Die scheinbare Notwendigkeit, im Denken des Begegnungsgeschehens von distinkten Einzelwesen auszugehen, verdeckt daher die eigentlichen Zusammenhänge. So wenig, wie wir uns in ein nicht vom Subjekt ausgehendes Denken hineinversetzen können, so wenig auch in eine bloße natürliche Zentralität. Über beide können wir überhaupt nur angemessen durch die begleitende Reflexion auf die Unangemessenheit unserer Begriffe für die Objekte unserer Rede sprechen. Solche Aussagen würden sinnlos, wenn es nicht dennoch plausibel wäre, etwa die Worte ›Schmerz‹ und ›Lust‹ auch auf andere Lebewesen anzuwenden, 48 auch wenn wir niemals wissen werden, wie es ist, ein solches Vgl. Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 651–667. 48 Vgl.: »Um zu wissen, wie es ist, etwas zu fühlen, muß man es fühlen. Man kann es wesentlich nicht ›von außen‹ wissen. Aber da wir imstande sind, unsere eigene Innerlichkeit, unser eigenes Erleben als Erinnertes zu objektivieren, können wir es unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit mit anderem Erleben und infolgedessen auch mit 47
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Lebewesen zu sein. Es gibt nur die sehr plausible Annahme, dass es irgendwie ist, ein solches Lebewesen zu sein, wovon wir wiederum nur aus der Selbsterfahrung wissen können. Über diese hinaus gelangen wir nur per viam negationis, über die begleitende Reflexion also, dass Leben für uns bewusstes Leben abzüglich des Bewusstseins ist. Trotz dieser prinzipiellen erkenntnistheoretischen Einschränkung bleibt es eine plausible Annahme, dass auch außermenschliche Lebewesen eine Nicht-Identität empfinden, dass sie auf eine Weise, die wir nicht nachvollziehen können, die ontologische Differenz zwischen Sosein und Dasein, die sich in dem teleologischen Aussein-auf äußert, empfinden. Uns kann diese Differenz in ihnen nur gegeben sein in Gestalt von Lebensregungen – der Selbstdarstellung und seiner Wahrnehmung –, die sich nicht restlos funktionalistisch interpretieren lassen. Der ontologische Gedanke der Begegnung bedeutet in dieser Verallgemeinerung, dass Lebewesen in ihrem Aussein-auf-Sein nicht durch bloßes Selbsterhaltungsstreben an ihr Ziel gelangen, sondern durch das Streben nach einer der jeweiligen Ausprägung ihrer Nicht-Identität angemessenen spezifischen Form des ›guten Lebens‹, dessen Spezifizierung von spezifischen, uns unzugänglichen Seinswahrnehmungen abhängt. Somit kann die Begegnung, die uns nur als interpersonale direkt zugänglich ist, zugleich als ontologischer Grundbegriff aufgefasst werden, der uns das teleologisch verstandene Sein auch unabhängig von seiner reflexiven Wendung auf sich selbst in uns begreifen lässt.
dem Erleben eines anderen Wesens kommensurabel machen. Die Worte ›Schmerz‹ und ›Lust‹, angewendet auf andere Lebewesen, sind nicht pure Äquivokationen. Bestimmte Verhaltensweisen dieser Lebewesen werden uns mit Hilfe dieser Begriffe verständlicher als auf jede andere Weise.« – Spaemann, Personen (1996), 135.
888 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
In Spaemanns Philosophie hat die Begegnung, wie im achten Kapitel gezeigt wurde, ihren eigentlichen Ort in dem, was er selbst in Anlehnung an Hilary Putnam als metaphysischen Realismus bezeichnet. Dieser Titel unterstreicht den problematischen Status, der somit auch dem Begriff der Begegnung in der metaphysikkritischen bis -feindlichen Gegenwartsphilosophie zukommt. Der Grundgedanke des metaphysischen Realismus besteht darin, dass das Verhältnis der Anerkennung, in dem allein einem Subjekt das Selbstsein anderer Subjekte gegeben sein kann, der paradigmatische Fall unseres Verhältnisses zur Wirklichkeit ist, aus dem sich die Bedingungen ihrer Erkennbarkeit ableiten lassen: 1 »Sein ist nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung.« 2 Empirisch kann uns das Selbstsein der Anderen per definitionem so wenig gegeben sein wie umgekehrt unseres den Anderen. Innen- und Außenperspektive sind vom empirischen Beobachterstandpunkt aus nicht vermittelbar. Personale Sinnzusammenhänge stehen prinzipiell unter Idiosynkrasie-Verdacht. Wenn überhaupt von einer Vermittlung die Rede sein könnte, dann geschähe diese in Akten der Selbsttranszendenz, die sich wiederum der begrifflichen Erfassung entziehen. Die Grundthese der Philosophie der Begegnung ist dagegen, dass eine Vermittlung zwischen der Innen- und der Außenperspektive denkbar ist. Der zweite Teil dieser Arbeit war in letzter Konsequenz der Begründung dieser These durch die Ontologie der Personen, die ihr Sein in der Begegnung haben, gewidmet. Diese Ontologie bedurfte dabei einerseits einer naturteleologischen Fundierung im Phänomen des Ausseins-auf und andererseits einer historischen Fundierung im Ereignis der Entdeckung des apriorischen Beziehungsraums. Die Begegnung der Personen erwies sich so als ein im doppelten Sinn – im naturphilosophischen und im geschichtsphilosophischen – von einem ›Urphänomen‹ der Begegnung abgeleiteter Fall. Die abschließenden Überlegungen sind nun der Frage gewidmet, ob eine Betrach-
1 2
Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 195. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.
889 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
tung des Ereignisses der Begegnung schlechthin unter Ausblendung personenontologischer Spezifikationen möglich ist. Wenn nach dem ›Urphänomen‹ der Begegnung gefragt wird, muss zurückgegangen werden auf die Sachen selbst, die sich begegnen, und zwar durch die Beschränkung auf eine Grundkonstellation, in der nur die notwendigen Elemente und Beziehungen im Sachverhalt der Begegnung betrachtet werden. Im folgenden Gedankengang sollen die sich Begegnenden in äußerster Verallgemeinerung ›Entitäten‹ genannt werden. Der Begriff ›begegnen‹ setzt im Sinne von ›obviam venire‹ 3 mindestens zwei Entitäten voraus, die zusätzlich auf den Standpunkt eines Betrachters angewiesen sind, damit von Begegnung die Rede sein kann. Die Dreiheit in dieser Minimalkonstellation ist notwendig, da der Gedanke zweier Entitäten, die keinem Betrachter gegeben wären, zur Aufhebung ihrer Identitäten in einer einzigen führen müsste. A kann sich nur als A gegeben sein, indem es sich von Nicht-A unterscheidet, wie B sich nur als B gegeben sein kann, indem es sich von Nicht-B unterscheidet. Wenn jedoch Nicht-B gleich A und Nicht-A gleich B, bilden beide eine sich ausdifferenzierende Einheit. Erst wenn Nicht-B gleich C ist, kann C sich als C gegeben sein, indem es sich von Nicht-C unterscheidet, für das dann A eingesetzt werden kann, womit sich ein Dreieck ergibt, in dem diskrete Entitäten denkbar werden. 4 Darüber hinaus muss vom Standpunkt des Betrachters aus eine Bewegung gedacht werden. Da Bewegung relativ ist, die Entitäten also wechselseitig sich selbst als ruhend und die anderen als bewegt denken können, muss der Betrachter in Bezug auf den antizipierten Ort der Begegnung als ruhend vorgestellt werden, damit er die BeweVgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch I, col. 1283–1284. Diese Darstellung der Minimalkonstellation als Dreiheit ist angeregt von Pavel Florenskijs Überlegung über das Identitätsgesetz im Zweiten Brief »Der Zweifel« aus »Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit«. Florenskij zeigt dort, dass die formale Selbstidentität A = A nur überschritten werden kann durch den paradoxen Gedanken A = Nicht-A, den er in die Form A = B überträgt. Da so A und B aber identisch wären, führt er drittens C ein: »Чрезъ В кругъ можетъ замкнуться, ибо въ его ›другомъ‹, – въ ›не-В‹, – А находитъ себя, какъ А. Въ Б переставая быть А, А отъ другого, но не отъ того, которому приравнивается, т. е. отъ В, опосредствовано получаетъ себя, но уже ›доказаннымъ‹, уже установленнымъ.« – Florenskij, Stolp i utverždenie istiny, I, 48. – Deutsch: »In C kann der Kreis sich schließen, denn in seinem ›anderen‹ – im ›Nicht-C‹ – findet A sich als A. Indem es in B aufhört, A zu sein, empfängt A von einem anderen – aber nicht von dem, dem es gleichgesetzt wird –, d. h. von C, mittelbar sich selbst, aber als ein schon ›Erwiesenes‹, schon Bestimmtes.« (Übersetzung: MM)
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890 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
gung zweier Entitäten aufeinander zu wahrnehmen kann. Als Grundkonstellation ist also die Wahrnehmung zweier diskreter Entitäten festzuhalten, die sich auf den Fixpunkt der Begegnung zubewegen. Diese Grundkonstellation bildet in äußerster Abstraktion ab, worum es Spaemann in seiner Ontologie der Person geht. Da es nach seiner Überzeugung keine einzelne Person geben kann, müssen also mindestens zwei numerisch verschiedene Personen gedacht werden. Jemanden oder sich selbst als Person wahrzunehmen, bedeutet nach Spaemann jedoch gleichzeitig, den apriorischen Beziehungsraum der Personen wahrzunehmen, 5 durch den analog zur dargelegten Grundkonstellation eine vermittelnde Instanz hinzukommt und sich eine Dreiheit als kleinste denkbare personale Konstellation ergibt. Die Begegnung im apriorischen Beziehungsraum muss für Personen freilich nicht an eine physische Bewegung geknüpft sein. Zwar gilt für menschliche Personen als ›Haben einer Natur‹, dass sie unauflöslich an ihre φύσις gebunden sind; durch kulturelle Vermittlungsebenen können Begegnungsereignisse aber für Personen fast gänzlich vom Gedanken physischer Bewegung abgelöst werden. Die Frage allerdings, inwiefern es somit ›geistige‹ Bewegungen gibt, die für Personen an die Stelle der physischen treten können, und was unter diesen genau zu verstehen ist, soll zunächst zurückgestellt werden. Auf sie wird gegen Ende dieser Überlegungen zurückzukommen sein. Hier soll zunächst der Versuch unternommen werden, von der uns vertrauten Begegnung der Personen zurückzugehen auf die beschriebene Grundkonstellation, um von ihr aus den Zugang zum Urphänomen der Begegnung zu finden. Gegen diese Idee des Rückgangs auf eine Grundkonstellation lassen sich naheliegende Einwände anführen. Können wir überhaupt von ›diskreten Entitäten‹ sprechen und dabei meinen, etwas außerhalb von uns Existierendes zu bezeichnen? Spaemann selbst setzte sich mit dieser Frage in »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« auseinander: Nietzsche war wohl der erste, der darauf hinwies, dass auch die Idee solcher Einheiten, also die Idee von Dingen, ein Anthropomorphismus ist. Wir sind es, die sich als Einheiten erleben, als Einheiten, die über die Zeit hinweg ihre Identität bewahren. Wir erleben uns als Subjekte des Wollens und Handelns, die für ihre Handlungen Verantwortung tragen. Kinder schlagen den Tisch, wenn sie sich an ihm gestoßen 5
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 196.
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
haben. Aber wir tun dies in gewisser Weise alle, solange wir überhaupt von Dingen reden. Der Gedanke des Seins von Etwas ist unzertrennlich von dem Gedanken der Identität dessen, was ist. Und genau dieser Gedanke ist, wie Nietzsche meinte, ein fundamentaler Anthropomorphismus. 6
Die vermeintlichen Entitäten wären also etwas aus einer Mannigfaltigkeit Zusammengesetztes, dessen Elemente sich im Austausch mit der Umwelt befinden, wobei nur wir dieses Zusammengesetzte zu einer Einheit synthetisieren. Was für die Existenz diskreter Entitäten gilt, gilt a fortiori für die Vorstellung einer Bewegung dieser Entitäten in Raum und Zeit: »Wirkliche Bewegung kann nur verstanden werden, wenn wir ihr einen conatus, ein Streben zugrunde legen. Aber was Streben heißt, wissen wir wieder nur aus unserer Selbsterfahrung. Wenn wir diese nicht ins Spiel bringen, dringen wir nicht bis zur Wirklichkeit der Bewegung vor.« 7 Zieht man von der Bewegung unseren aus der Selbsterfahrung gewonnenen Begriff des Strebens ab, bleibt eine mechanische Sukzession von Raum-Zeitstellen, die, wie Spaemann bemerkt, dem wissenschaftlichen Begriff der Bewegung entspricht: Der neuzeitlichen Physik ist es gelungen, Bewegung mit Hilfe der Infinitesimalrechnung zu vergegenständlichen […], indem sie die Bewegung in eine unendliche Zahl eng beieinander liegender Ruhezustände zerlegt. Was Bewegung ist, ist damit allerdings nicht verstanden. Die Bewegung wird zwar berechenbar, sie wird zu einem Gegenstand mathematischer Naturwissenschaft, aber nur um den Preis, dass das Phänomen der Bewegung als solches eliminiert wird. Leibniz, einer der beiden Erfinder der Infinitesimalrechnung, hat das genau gewusst: Die physikalische Vergegenständlichung der Bewegung hat nur ein Konstrukt zum Gegenstand. 8
Von einer Grundkonstellation diskreter Entitäten und ihrer Bewegung in Raum und Zeit zu sprechen bedeutet somit schon, von der anthropomorphistischen Voraussetzung auszugehen, dass unsere Perspektive auf die Welt wahrheitsfähig ist und also nicht nur etwas über uns selbst, sondern etwas über die Welt auszusagen vermag. Die damit vorausgesetzte Ähnlichkeit zwischen uns und der betrachteten Welt aber wird in den neuzeitlichen Naturwissenschaften prinzipiell 6 7 8
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204. Ebd. 203. Ebd.
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
bestritten. Die Auseinandersetzung mit dem Anthropomorphismusvorwurf hat Spaemann in der Art geführt, dass er im Bewusstsein der prinzipiellen Unbeweisbarkeit der in einer anthropomorphen Weltsicht vorausgesetzten Ähnlichkeit unserer selbst mit der Welt die anthropozentrische Gegenthese durch eine reductio ad absurdum aushebelt. Der Mensch wird sich in der letzten Konsequenz der anthropozentrischen Weltsicht der Naturwissenschaften selbst zum Anthropomorphismus und muss den Intellekt, der ihn zu diesem Schluss geführt hat, zumindest theoretisch von seinem natürlichen Substrat ablösen, was praktisch nur möglich wäre in der Abschaffung des Menschen und seiner Ersetzung durch künstliche Intelligenz. Dem erkenntnistheoretischen Einwand der Wissenschaften wird durch diese reductio ein anthropologisches Argument entgegengestellt. Zwischen beiden Positionen – zwischen Anthropomorphismus und Anthropozentrismus – ergibt sich ein argumentatives Patt, in dem sich aufgrund der angedeuteten nihilistischen Konsequenz der Gegenposition die Beweislast umkehren lässt. Nicht die Philosophie muss demnach beweisen, dass es Entitäten und aus einem Streben hervorgehende Bewegung in der Welt gibt, sondern die Wissenschaften müssen den Gegenbeweis führen, dass es beides nicht geben kann. Ganz abgesehen von der Selbstwidersprüchlichkeit einer solchen Beweisführung durch menschliche Subjekte ist das Erbringen eines solchen Gegenbeweises jedoch nicht absehbar, weswegen hier an der aus der Selbsterfahrung abgeleiteten Grundkonstellation von diskreten Entitäten und ihrer Bewegung festgehalten wird. In der weiteren Betrachtung dieser Grundkonstellation soll ein Gedankenexperiment durchgeführt werden, das Bezug nimmt auf die den dritten Teil der vorliegenden Arbeit einleitenden Überlegungen über die Geschichte der Perspektive und ihre Bedeutung für die Philosophie. Zunächst soll die Struktur dieses Gedankenexperiments erläutert werden. Da den diskreten Entitäten, von denen die Rede sein wird, die Fähigkeit zu einer Bewegung aus einem inneren Streben heraus zugestanden werden soll, stellt sich die prinzipielle Frage nach der Perspektive des Betrachters auf diese Entitäten und ihre Bewegung. Der Ausgang des Denkens von einem Subjekt der Erkenntnis, dem eine Welt der Objekte gegenständlich gegeben ist, führt notwendigerweise zur Wahrnehmung der Bewegung diskreter Entitäten als mechanische Sukzession von Raum-Zeitstellen, da ihr Streben als innerliches Geschehen dem Subjekt der Erkenntnis nicht unmittelbar gegeben sein kann. Da aus dieser Perspektive auf die beschriebene 893 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Grundkonstellation auch eine Begegnung von Entitäten nur als Interferenz mechanischer Prozesse wahrnehmbar wäre, es hier aber nicht um die kritische Auseinandersetzung mit dem subjektphilosophischen Ansatz und um die Korrektur der künstlich aus den Lebensvollzügen des Subjekts isolierten Perspektive 9 geht, soll in dem Gedankenexperiment der hypothetische Versuch unternommen werden, hinter die in der perspectiva artificialis fundierte subjektphilosophische Ausgangsposition zurück auf die perspectiva naturalis zu gehen und die Grundkonstellation der Begegnung diskreter Entitäten von diesem Standpunkt aus zu betrachten. Was dieser Rückgang bedeutet, bedarf zunächst einer näheren Erläuterung. Das Gedankenexperiment geht von der Feststellung aus, dass es vor der Entdeckung der Zentralperspektive bereits ihrerseits perspektivische Weisen gab, die menschliche Wahrnehmung der Welt zu symbolisieren, wovon beispielsweise überwiegend indirekte Zeugnisse antiker Malerei oder die Kunst der Ikone zeugen. Auch wenn bildliche Darstellungen aus dieser Zeit Ausdruck einer Weltsicht sein mögen, in die wir uns nicht mehr hineinzuversetzen imstande sind, so können diese Darstellungen selbst doch als Dokumente untersucht werden, in deren Betrachtung bei dem begleitenden Bewusstsein der Unangemessenheit unserer Sichtweise Gestaltungsprinzipien erkennbar werden, die wir im Sinne der gemachten Einschränkung indirekt verstehen können. So lassen sich etwa Verletzungen zentralperspektivischer Gesetze in der Ikonenmalerei bei dem begleitenden Bewusstsein, dass es ihren Malern nicht um diese Gesetze ging, als Ausdruck der Absicht verstehen, durch das gleichzeitige Zeigen mehrerer Seiten von Gegenständen oder Personen eine Pluralität von Sichtweisen in einer symbolischen Darstellung zu synthetisieren. Analog zu einer solchen Betrachtung symbolischer Darstellungen aus der Zeit vor der Entdeckung der Zentralperspektive, so die Idee des Gedankenexperiments, kann auch der Versuch unternommen werden, die Grundkonstellation der Begegnung von einem Standpunkt aus zu betrachten, der der Entdeckung des modernen Subjekts voraufliegt. Hypothetisch ist an diesem Experiment nur, dass die Perspektive, um die es in ihm geht, nach der Entdeckung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt Vgl. die Ausführungen zu dem Satz aus »Personen«: »Es handelt sich bei einem solchen Ausgang vom ›Subjekt‹ um die Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die tatsächlich der Subjektivität immer schon vorausliegt.« – S. Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 873.
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
unwiederbringlich verloren ist. Seine Hypothetizität relativiert sich aber dadurch, dass es gute Gründe auch für das moderne Subjekt gibt, die historische Tatsache einer der eigenen Weltsicht voraufgehenden Perspektive anzuerkennen. Ein Experiment bleibt es aber im Wesentlichen deshalb, weil der uns im erläuterten Sinn nur indirekt zugängliche Sachverhalt zuerst rekonstruiert werden muss. Abgesehen vom Problem der Perspektivierung besteht die Schwierigkeit der Durchführung also in der Rekonstruktion einer Minimalkonstellation, die den Anspruch erheben kann, für das Urphänomen einzustehen. Nachdem somit zur Struktur des Gedankenexperiments das Notwendige gesagt wurde, soll noch eine Bemerkung dazu gemacht werden, welches Ziel mit ihm verfolgt wird. In dem Gedankenexperiment geht es um einen Sachverhalt, der uns einerseits als Urphänomen nur indirekt wahrnehmbar sein kann, der andererseits aber, wenn man von seiner ursprünglichen Gegebenheit ausgeht, in verwandelter Form fortbestehen muss und dann Kriterien für die Angemessenheit unserer Wahrnehmung selbst enthält. Der Sinn des Gedankenexperimentes besteht darin, dass ausgehend von der hypothetischen Erfassung des Sachverhalts der Begegnung als Urphänomen seine subjektphilosophische Transformation, von der oben die Rede war, 10 kritisch geprüft und nach einer möglichen Alternative zu dieser Transformation der ursprünglichen Sicht gefragt werden kann. Auf diese Weise könnte der umgekehrten Perspektive, von der in der Philosophie der Begegnung die Rede war, ein hypothetisches Fundament geschaffen werden, dessen Hypothetizität aufgrund seiner Fundierung in der conditio humana keinen Mangel der Argumentation bedeuten würde. Wie müsste sich die eingangs beschriebene Grundkonstellation also vom Standpunkt der Betrachtung in der perspectiva naturalis zeigen? Bei den diskreten Entitäten handelt es sich weder um Gegenstände für ein Subjekt noch selbst um Bewusstseinssubjekte, sondern um Wesen, die auf etwas aus sind, um Entitäten im Sinne von ›Es-istzu-sein-Zuständen‹. Für solche Entitäten ist kennzeichnend, dass sie eine vom Trieb hervorgebrachte doppelte Differenz kennen, die als Innen-Außen-Differenz Raum- und als Differenz zwischen Schon
Vgl. den Rückblick auf die kritische Auseinandersetzung Spaemanns mit dem subjektphilosophischen Ansatz in Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 873–875.
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
und Noch-nicht Zeitwahrnehmung ermöglicht. 11 Wie ist solchen Wesen nun eine andere Entität gegeben? Die andere Entität ist etwas im Raum, zu dem ein zeitlich als Noch-nicht bestimmtes Verhältnis bestehen kann, ohne dass sie als Entität erfasst wird. Die andere Entität ist aus der Sicht der ersten ein Teil der in der Innen-Außen-Differenz gegebenen Umwelt. Aus dieser Umwelt löst sich die andere Entität für die erste zunächst als Triebobjekt heraus. 12 Das Verhältnis zwischen den beiden Entitäten ist dann nicht das eines Wesens zu einem anderen Wesen, sondern das Verhältnis selbst bleibt innerhalb der natürlichen Zentralität dieser Wesen. Wenn damit allerdings zur Weise der gegenseitigen Gegebenheit der Entitäten alles gesagt wäre, müsste das Gedankenexperiment an dieser Stelle als gescheitert gelten, da der konstitutive Standpunkt des Betrachters – C – im Dreieck der Beziehung nicht denkbar wäre. Insofern nämlich die sich begegnenden Entitäten für den Betrachter kein Triebobjekt sind, wären sie für ihn nicht da. In diesem Fall wäre es nötig, den Betrachter – C – in einer anderen Realitätssphäre anzusiedeln, womit der Übergang in die Universalteleologie vollzogen wäre. Es muss also gezeigt werden, dass der Betrachter – C – sich in derselben Realitätssphäre wie die sich Begegnenden – A und B – befindet. In derselben Realitätssphäre befindet sich der Betrachter aber nur dann, wenn die kontemplative Einstellung als Grenzfall des innerhalb der natürlichen Zentralität verbleibenden Weltverhältnisses der beiden anderen Entitäten verstanden werden kann. Das Gedankenexperiment kann also nur fortgeführt werden, wenn auch vom hier hypothetisch eingenommenen Standpunkt der perspectiva naturalis aus, in der noch keine bewusste Distanz zu den Objekten der Wahrnehmung gegeben ist, eine kontemplative Einstellung möglich ist. Nun steht außer Frage, dass es bereits vor der Entdeckung der Person, also vor der reflexiven Wendung des Denkens auf sich selbst, die kontemplative Einstellung als Vgl.: »Aussein-auf, Trieb ist die Grundstruktur des Erlebens. Durch den Trieb aber wird eine doppelte Differenz konstruiert, die Innen-Außen-Differenz einerseits, also eine Differenz, die die Raumwahrnehmung begründet, und eine andere, die die Zeitwahrnehmung begründet, die Differenz zwischen Schon und Noch-nicht, zwischen Antizipation und dem in der Antizipation Antizipierten.« – Spaemann, Personen (1996), 51. 12 Vgl.: »Solange das Leben im Triebhang befangen ist, solange es in der Stellung der ›Zentralität‹ bleibt, wird ihm die Welt nicht wirklich. Das Andere erscheint ihm nicht als es selbst. Es erscheint ihm nur als Umwelt, als Triebobjekt.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 119. 11
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
θεωρία gab. Diese erscheint bei Aristoteles als eine äußerste Grenze des Spielraums menschlicher Tätigkeit jenseits von ποίησις und πρᾶξις: »Mit der Theorie, mit der denkenden Vergegenwärtigung des Immerseienden tritt der Mensch aus dem natürlichen Lebenszusammenhang heraus. In diesem Heraustreten realisiert er nach Aristoteles seine höchste Möglichkeit.« 13 Die kontemplative Einstellung wird hier als eine dem Menschen gegebene Möglichkeit der Betätigung gefasst, die aber noch nicht zu einer instrumentellen Verfügbarkeit der θεωρία führt: »Indem aber Vernunft feiernd aus dem menschlichen Lebenszusammenhang heraustritt, um zu vergegenwärtigen, ›was in Wahrheit ist‹ (Hegel), ist sie nicht eigentlich menschlich, sondern göttlich.« 14 Nach Aristoteles ragt die Vernunft von außen – θύραθεν – in den Menschen hinein. Sie ist wesentlich Gabe. Der Akt der Betrachtung selbst wird noch nicht reflexiv gewendet, θεωρία wird noch nicht als mögliches Mittel zu einem Zweck verstanden: Zu fragen, wozu das gut sein solle, das heißt in moderner Sprache, worin die Praxisrelevanz philosophischer Theorie bestehe, ist für Aristoteles absurd: in der philosophischen Theorie vergegenwärtigen wir uns das Ewige, setzen wir uns in Bezug zu dem, was schlechthin Sinn hat. Jede mögliche Antwort auf die Frage nach der Praxisrelevanz der theoria könnte nur verweisen auf etwas, das weniger Sinn hat als die theoria selbst. 15
Erst in der Neuzeit vollzieht sich die »Emanzipation der reinen Theorie in praktischer Absicht« 16, vor allem im Dienste des Interesses an Naturbeherrschung. Wenn somit prinzipiell die Möglichkeit einer kontemplativen Einstellung vor der reflexiven Wendung des Denkens auf sich selbst angenommen wird, knüpft das Gedankenexperiment an dieser Stelle an die Überlegungen aus dem vorangegangenen Abschnitt an, wonach die Fähigkeit zur Seinswahrnehmung auch Menschen vor der Entdeckung der Person und Lebewesen ohne Selbstbewusstsein zugestanden wird. 17 Auch wenn die Seinswahrnehmung für diese sich mit biologischen Funktionen verbindet, enthält sie einen nicht funktionalistisch interpretierbaren Überschuss, der als Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 83. Ebd. 15 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 64. 16 Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 82. 17 Vgl. Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung, 884–886. 13 14
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kontemplatives Moment bestimmt werden kann. Bei diesem kontemplativen Moment handelt es sich um den ›Schönheitssinn‹, von dem oben gesagt wurde, 18 dass es plausibel ist, ihn in der außermenschlichen Natur anzunehmen. Für das Gedankenexperiment wird an dieser Stelle also festgehalten, dass es die Möglichkeit einer kontemplativen Einstellung vom Standpunkt der perspectiva naturalis aus gibt und der Betrachter – C – sich in derselben Realitätssphäre befindet wie die sich begegnenden Entitäten A und B. Damit ist nicht allein eine Aussage in Bezug auf den Betrachter im Dreieck der Beziehung getroffen, sondern indirekt auch eine über die wechselseitige Gegebenheitsweise der beiden anderen Entitäten. Zwar löst sich, wie oben bemerkt wurde, die andere Entität für die erste zunächst als Triebobjekt aus der Umwelt heraus. Wenn es aber dabei bliebe, wäre die Weise wechselseitiger Gegebenheit der Entitäten rein funktional aus ihrer natürlichen Zentralität heraus erklärbar. In diesem Fall aber wäre nicht erklärbar, wie der Standpunkt des Interesses überwunden und der kontemplative Standpunkt erreicht werden könnte. Mit der Ausblendung des Interesses müsste auch die andere Entität als Triebobjekt verschwinden. Die bloße Möglichkeit der kontemplativen Einstellung setzt voraus, dass bereits die Herauslösung einer anderen Entität aus der eigenen Umwelt als Triebobjekt immer schon von jenem kontemplativen Moment begleitet ist. Der Gedanke der Begegnung, das wird aus dieser Überlegung deutlich, hängt davon ab, dass die Standpunkte des Interesses und der Kontemplation immer schon vermittelt sein müssen. Weder die Wahrnehmung der anderen Entität als reines Triebobjekt noch die rein kontemplative Einstellung zu ihr kann zum Ereignis der Begegnung führen. In welchem Verhältnis die so verstandene Begegnung zur aristotelischen Konstellation der von innen wirkenden teleologischen Formursache und der von außen kommenden göttlichen Vernunft steht, wird weiter unten zu erörtern sein. Nach dieser vorläufigen Differenzierung verschiedener Weisen, in denen die Entitäten einander gegeben sein können, soll nun der Gedankengang weiterverfolgt werden. Die doppelte Differenz, die mit dem Ausgang von der φύσις, von Lebewesen mit ihrem Aussein-auf, gesetzt ist, bedeutet also einerseits als Innen-Außen-Differenz die immer schon von einem kontemplativen Moment begleitete
18
Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung, 886.
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
mögliche Herauslösung einer anderen Entität als Triebobjekt aus dem Raum der eigenen Umwelt. Die Wahrnehmung als Triebobjekt verweist dabei andererseits als Differenz zwischen Schon und Nochnicht auf die Möglichkeit einer aus dem Aussein-auf hervorgehenden Bewegung der Entitäten in der Zeit. Weiter wurde festgestellt, dass gegenüber einer anderen Entität auch eine kontemplative Einstellung möglich ist, in der als Grenzfall des innerhalb der natürlichen Zentralität verbleibenden Weltverhältnisses mit dem eigenen Interesse auch der Anlass zu einer möglichen Bewegung ausgeblendet wird. Die im Sinne des Gedankenexperiments betrachtete Grundkonstellation vom Standpunkt der perspectiva naturalis lässt sich aus unserer Perspektive also nur im Sinne der Paradoxie fassen, dass diese Sicht lebendiges Aussein-auf ist und zugleich dessen Interesse ausblenden kann. Paradox muss uns diese Sicht erscheinen, weil es sich scheinbar um eine Perspektive ohne Träger handelt. Jede andere Entität ist in dieser Sicht in das eigene Aussein-auf einbezogen, wobei das in ihm enthaltene Interesse im Grenzfall der kontemplativen Einstellung ganz ausgeblendet werden kann, ohne dass doch die andere Entität in dem Sinne als Entität hervorträte, dass der Betrachter sich ihr gegenüber selbst als für sich existierende Entität entdeckte. 19 Aus unserer Perspektive oszilliert daher die Vorstellung der Entität, um die es in dieser Sicht geht, zwischen dem Korrelat einer Lebensregung und dem von ihr sich lösenden Bild, ohne dass diese Loslösung vollzogen wird. Wenn man diesen Gedanken weiter durchdenkt, folgt daraus, dass das Aussein-auf der diskreten Entitäten nicht als ›inneres‹ Geschehen verstanden werden kann, da es durch die im Trieb fundierte Innen-Außen-Differenz bereits ›über sich hinaus‹ ist. Das natürliche Aussein-auf zeigt sich hier als primäre unbewusste Selbsttranszendenz, als präreflexive Realisierung der ontologischen Differenz von Dasein und Sosein. Im Sinne der angekündigten Reflexion auf die unvermeidliche Unangemessenheit unserer Sichtweise im hypothetischen Rückgang auf die perspectiva naturalis ergibt sich somit in Bezug auf den Begriff der Entität die erste Schlussfolgerung, dass die vorausgesetzte Identitätslogik – also A = A und B = B – sich als unzulässige Abstraktion erweist, da die Entitäten durch ihren Umweltbezug – und den Bezug auf den Standpunkt des Betrachters – mitDies wäre das Hervortreten des ›bewandtnislosen Umwillen‹, das den Übergang in die personale Perspektive bezeichnet. – Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 124, u. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 468–469.
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einander verbunden sind. 20 Wie eingangs bemerkt worden ist, wird erst in diesem Dreieck eine relative Identität der Entitäten denkbar, die zugleich in einem wechselseitigen Beziehungssystem fundiert ist. Weiter ist nun gemäß der Grundkonstellation die Frage zu stellen, wie die Bewegung dieser Entitäten als Voraussetzung der Begegnung sich der perspectiva naturalis zeigen müsste. Nach Aristoteles ist Bewegung »der Vollzug der Verwirklichung des seiner Möglichkeit nach auf eine Wirklichkeit hin sich erstreckenden Seienden« 21. Im Rahmen seines teleologischen Denkens ist Bewegung das Prinzip der Vermittlung zwischen der Möglichkeit (δύναμις) und Wirklichkeit (ἐνέργεια), sie ist »der Vollzug einer Einigung und eines Ganzwerdens […], insofern die auf die Zukunft hin sich ausstreckende Gegenwart des Möglichen dadurch ergänzt wird, daß diese Zukunft selbst wirkliche Gegenwart und Gegenwart einer Verwirklichung wird« 22. Die Bewegung ist somit für Aristoteles Seinsvollzug, Josef Stallmach spricht von der »Prozeßhaftigkeit« der Verwirklichung und bemerkt: »Darum also kann man die Kinesis ihrem Seinscharakter nach weder zur Dynamis noch zur Energeia schlechthin schlagen. Sie ist gerade das beide verbindende Zwischen, der ständige Übergang von Noch-nicht-Sein in Sein.« 23 Damit erweist sich die Bewegung als Vgl. im vorliegenden Teilkapitel, 890, Fn. 4. Kaulbach, Bewegung I. Antike, in: HWPh I, col. 866. – Kaulbach verweist hier auf die Definition der Bewegung in der »Physik« des Aristoteles: »ἡ τοῦ δυνάμει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνεσίς ἐστιν«.– Physik, 201 a 10, in der deutschen Übersetzung von Hans Günter Zekl: »Das endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist (entwickelnde) Veränderung«. – Aristoteles, Physik I–IV, 103 (kursiv im Original). – Auf diese Definition berufen sich – mit eigener Übersetzung: »Bewegung ist die Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen.« – Spaemann und Löw im Kapitel »Die aristotelische Lehre von der Bewegung« in »Natürliche Ziele«. Sie erklären Bewegung hier als »Realmöglichkeit« und führen aus: »Die Bewegung als Wirklichkeit der Möglichkeit zu fassen heißt, sie als Möglichkeit eines künftigen Zustandes zu begreifen, der zur Definition des Gegenwärtigen gehört, und zwar als Möglichkeit: denn es ist jedem künftigen Zustand eigentümlich, daß er nicht mit Sicherheit eintritt.« – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 47–48. 22 Kaulbach, Bewegung I. Antike, in: HWPh I, col. 866–867. 23 Stallmach, Dynamis und Energeia, 67. – Direkt im Anschluss an die zitierte Textstelle bemerkt Stallmach: »Vollends unfaßbar aber scheint es ohne die aristotelische Voraussetzung, die sich an anderer Stelle uns noch deutlicher zeigen wird, daß Werden nicht um seiner selbst willen, sondern um des (vollkommenen) Seins willen und darum als solches immer nur Übergangssein ist.« – Ebd. – Gegenüber der so angedeuteten Alternative von invertierter Teleologie und Teilhabestreben soll es im hier verfolgten Gedankengang im Weiteren um einen dritten Weg gehen. 20 21
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
im Aussein-auf der Entitäten verankert, insofern nur durch sie ihr Zur-Wirklichkeit-Kommen sich ereignen kann. Aus der aristotelischen Teleologie lässt sich somit zwar eine Erklärung der Bewegung der Entitäten ableiten; da die Wirkung der Formursachen nach Aristoteles aber auf die Ebene der Einzelwesen begrenzt ist und jedes Wesen somit den Ursprung der Bewegung auf seine Verwirklichung hin bereits in sich trägt, kann dieser Begriff der Bewegung jedoch nicht zur Begegnung führen, um die es hier geht. Es ist daher notwendig, an dieser Stelle die Transformation der aristotelischen Metaphysik, von der im zweiten Teil dieser Arbeit die Rede war, 24 in den Gedankengang einzubeziehen. Im Rahmen dieser Überlegung wird zugleich die Frage erörtert, warum die Einbeziehung dieser Transformation in das Gedankenexperiment notwendig ist, in dem doch hypothetisch auf die perspectiva naturalis – und damit auch auf den Standpunkt der antiken Philosophie selbst – zurückgegangen werden soll. Die Transformation der aristotelischen Metaphysik, die in Kapitel 6 besonders mit Bezug auf Thomas von Aquin nachvollzogen wurde, besteht im Kern darin, dass das Aristoteles vertraute Aussein-auf als ontologische Differenz von Essenz und Existenz verstanden wurde. Aristotelisch gesehen gehört das Aussein-auf eines Wesens zu seiner Essenz, insofern es nach der Verwirklichung der in ihm angelegten Möglichkeiten strebt. »Die ›Form‹,« so Spaemann, »die es zu dem macht, was es ist, macht auch, daß es ist.« 25 Die ontologische Differenz, die Aristoteles nicht gegeben war, wird erst dann eine Denkmöglichkeit, wenn nicht nur Seiendes auf seine Möglichkeiten hin betrachtet wird – ein Gedanke, in dem nach dem aristotelischem Grundsatz die Wirklichkeit der Möglichkeit vorhergeht –, sondern wenn alles Seiende selbst als nur möglich gedacht wird, so dass umgekehrt allem Wirklichen eine unendliche Zahl von Möglichkeiten vorausgegangen ist: »Daß ein vollständig so und so bestimmtes Einzelnes noch einmal in einer inneren Differenz zu seinem Sein stehen, also sein oder nicht sein kann, das ist ein Gedanke, der erst mit der biblischen Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts möglich wird.« 26 Wirklich wird dieser Gedanke im menschlichen Bewusstsein der Kontingenz, das entstehen kann, sobald der Mensch seine personale FreiVgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331– 341. 25 Spaemann, Personen (1996), 79. 26 Ebd. 79–80. 24
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
heit, sein ›Haben einer Natur‹, realisiert. Das Bewusstsein der Kontingenz ist das Bewusstsein der Nicht-Identität des eigenen Daseinsvollzugs und der Gesamtheit an Bestimmungen, die aus der Innenund der Außenperspektive in das eigene Sosein eingehen. Für das Kontingenzbewusstsein gilt: »Das ›forma dat esse‹ wird sozusagen noch einmal in Klammern gesetzt.« 27 Es entsteht die Möglichkeit, sich zur teleologischen Bestimmung der Form noch einmal zu verhalten. Ein wesentlicher Grundgedanke der im zweiten Teil entfalteten Ontologie der Person besteht darin, dass diese ontologische Differenz nicht als mit der Person entstanden gedacht werden kann, sondern dass jeder Lebensvollzug – bzw. in erkenntnistheoretischer Zuspitzung sogar jeder Seinsvollzug – eine analoge ontologische Differenz voraussetzt. Lebewesen ohne Selbstbewusstsein bzw. Menschen vor der Entdeckung der Person verfügen danach ebenfalls über die ontologische Differenz, auch wenn sie in einem solchen Maß »in ihre ›Weise zu sein‹ versenkt« 28 sind, dass sie die Freiheit von ihrer Natur nicht bewusst realisieren können. In Abschnitt 8.3.3 wurde dargelegt, dass es dennoch von fundamentaler Bedeutung ist, dass da etwas in seine Weise zu sein versenkt ist und dass das Leben nicht mit der von seinem Vollzug ablösbaren Weise zu sein gleichgesetzt werden kann. 29 Daraus ergibt sich bemerkenswerterweise, dass die Transformation der aristotelischen Metaphysik sich nicht allein auf die Aristoteles unbekannte Person in ihrer ontologischen Differenz bezieht, sondern dass diese Differenz, die Aristoteles nicht gegeben war, da er über keinen Standpunkt gegenüber der Natur verfügte, zurückbezogen werden muss auf alles Lebendige bzw. auf alles Seiende überhaupt, also auch gerade auf die Naturdinge, die Thema der aristotelischen Substanzontologie sind. Im Hinblick auf nichtpersonale Lebewesen handelt es sich dabei um eine Korrektur der aristotelischen Sicht, die praktisch nur marginale Auswirkungen hat, theoretisch aber um so bedeutender ist. Das Verständnis des Ausseins-auf auch nichtpersonaler Lebewesen als ontologische Differenz von Essenz und Existenz, also die Verknüpfung ihrer Essenz mit einem Moment erlebter Kontingenz, bedeutet theoretisch, dass in die aristotelische Formursache ein Moment der Offenheit hineingenommen Spaemann, Personen (1996), 80. Ebd. 81. 29 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität, 590–591. 27 28
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
wird, dass die »Form, die lebend sich entwickelt« 30, nicht vollständig geprägt sein kann. Wenn das teleologische Aussein-auf in diesem Sinn als Präformation der im personalen Daseinsvollzug bewusst werdenden ontologischen Differenz gefasst wird, die die Person als ›Haben einer Natur‹ erlebt, ergibt sich eine abgestufte Offenheit teleologisch verfasster Wesen, zu deren zu verwirklichender Form es gehört, eine Offenheit für Begegnendes zu haben. Die ontologische Bedeutung der Begegnung besteht dann unabhängig von den Stufungen der Offenheit prinzipiell darin, dass sich durch sie kontingente Räume der Selbstkomposition des Seins eröffnen. Dabei ist mit dieser Transformation der aristotelischen Teleologie keineswegs ein Schritt in Richtung universalteleologischer Vorstellungen getan. Der ontologische Gedanke der Begegnung beinhaltet vielmehr eine Einschränkung der individualteleologischen Vorstellung des Aristoteles, aber keine Anleihe beim Gedanken der Welt als ökologisches System. 31 Dagegen ist mit diesem Gedanken sehr wohl eine Modifikation des aristotelischen Teilhabestrebens verbunden, denn der finis cuius ist – in Abstufungen – innerweltlich auf Begegnendes bezogen. Das Unbedingte ist nicht ausschließlich ein transzendentes Prinzip – der unbewegte Beweger –, sondern erscheint innerweltlich in der Weise des Bildes. An dieser Stelle nun werden die Gedanken eingeholt, die oben zur Erklärung des Sachverhalts vorangeschickt werden mussten, dass in der Grundkonstellation der Betrachtung sich begegnender diskreter Entitäten vom Nebeneinander der Standpunkte des Interesses und der Kontemplation und ihrer wechselseitigen Durchdringung ausgegangen werden muss. Im Sinne der Fundierung der kontemplativen Einstellung in der von außen kommenden Vernunft ergab sich bei Aristoteles eine strikte Trennung zwischen dem ζῷον λόγον ἔχον und allen übrigen Lebewesen; während diese durch ihre immanente Formursache geprägt werden, sind jene zur reinen Schau der Prinzipien und Ursachen des Seins in der Lage. Für die Begegnung, die, wie gesehen, als eine Vermittlung der Haltungen des Interesses und der Kontemplation gedacht werden muss, war in dieser Lehre kein Platz. Durch die Transformation der aristotelischen Metaphysik im Sinne Vgl. »Urworte, orphisch. ΔΑΙΜΩΝ, Dämon«, in: Goethe, Werke (HA), Bd. 1, 359. 31 Von dieser Transformation der aristotelischen Teleologie ausgehend ließe sich auch der von Aristoteles vertretene Gedanke der Ewigkeit der Arten korrigieren, so dass eine Annäherung des teleologischen Denkens an Erkenntnisse der Biologie möglich würde. 30
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der Deutung des teleologischen Ausseins-auf als ontologische Differenz von Essenz und Existenz, die sich im Gedanken der Offenheit der Form konkretisiert, wird ein in der Natur wirkendes Apriori der Schönheit denkbar, durch das die strikte Trennung zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen aufgehoben wird und das Ereignis der Begegnung eine ontologische Bedeutung erhalten kann. Die mögliche Frage nach dem Ursprung dieses Apriori, nach der Kraft, die noch in der Offenheit der Form wirkt, führt über die Möglichkeiten philosophischer Reflexion hinaus in den Bereich religiöser Spekulation. Wie oben festgestellt wurde, 32 folgt aus der Annahme einer universalen ontologischen Differenz, dass, wenn es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, Gott existiert. Über den bloßen Verweis auf ein vorausgesetztes Absolutes ist aber in der philosophischen Reflexion nicht hinauszugelangen. Damit kann nun zum Gedankenexperiment, zur Betrachtung der Grundkonstellation der sich begegnenden Entitäten in der perspectiva naturalis, zurückgekehrt und der Gedankengang abgeschlossen werden. Es wurde festgehalten, dass unter den diskreten Entitäten etwas verstanden werden muss, das sich unserer Perspektive zwangsläufig entzieht, eine zwischen dem Korrelat einer Lebensregung und dem aus ihr sich ablösenden Bild oszillierende Vorstellung, in der das Dreieck der Beziehung bereits impliziert ist. Die Bewegung der Entitäten kann im Sinne des aristotelischen Begriffs der Bewegung als Seinsvollzug verstanden werden, wobei allerdings im Sinne der ontologischen Differenz von Essenz und Existenz eine Unterdeterminiertheit angenommen wird, die einen Spielraum eröffnet für das von Spaemann korrelativ als Selbstdarstellungstrieb und Schönheitssinn beschriebene Wirken des Apriori der Schönheit in der Natur. Wie auch immer diese Wirkungen sich mit biologischen Funktionen der Selbst- und Arterhaltung verbinden mögen, kommt in ihnen – so der Grundgedanke dieser Transformation der aristotelischen Teleologievorstellung – dennoch ein in der natürlichen Selbsttranszendenz fundierter Überschuss zum Ausdruck, der sich einer rein funktionalistischen Deutung entzieht. Nachdem so also geklärt worden ist, was in dem Gedankenexperiment unter ›Entitäten‹ und was unter ›Bewegung‹ zu verstehen ist, und nachdem auch im Grundsatz geklärt wurde, wie der aristotelische Begriff der Bewegung mit dem Ereignis Vgl. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube, 722.
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der Begegnung im Zusammenhang stehen kann, bleibt nun als letzte Aufgabe, im Rahmen des Gedankenexperiments die Frage zu beantworten, was sich in der Begegnung ontologisch ereignet. In »Personen« nennt Spaemann alles nichtpersonale Lebendige »Ausseinauf-Sein« 33. Aussein-auf-Sein ist der präreflexive Zustand einer lebendigen Innerlichkeit, »ein Ausgreifen auf das Sein, das auf sie zukommt« 34. Der Ausdruck ›auf etwas bzw. jemanden zukommen‹ ist eine direkte Entsprechung zur oben erwähnten Semantik 35 von ›begegnen‹ als ›obviam venire‹. So wird eine ontologische Bestimmung des Begriffs der Begegnung möglich: Begegnung ist das Zum-SeinKommen diskreter, von ihrem Aussein-auf-Sein bestimmter Entitäten durch die Wahrnehmung von Sein. Im Zentrum dieser Bestimmung stehen – neben dem teleologischen Grundgedanken – zwei Aussagen. Zum einen wird Seiendem prinzipiell – unabhängig von der δύναμις-ἐνέργεια-Dialektik – ein Mangel an Sein, eine kontingente Unterbestimmtheit und Offenheit gegenüber dem Ereignis der Begegnung zugeschrieben. Zum anderen wird die Möglichkeit der Wahrnehmung von Sein – nicht nur von Weisen des Seins – behauptet, also die Wahrnehmung des Vollzugs von Existenz bzw. Dasein selbst. Der Gedanke des Mangels an Sein ergibt sich aus dem Prinzip der ontologischen Differenz, wonach jeder Seinsvollzug als ein Akt der Selbsttranszendenz begriffen werden muss. Der Gedanke einer Seinswahrnehmung, einer Wahrnehmung also, der die ontologische Differenz von Sosein und Dasein gegeben ist und die diese Differenz überbrücken kann, ergibt sich aus dem Apriori der Schönheit als primärer phänomenaler Gegebenheit der ontologischen Differenz, das der nicht vollständig funktional interpretierbaren Selbstdarstellung von Seiendem zugrunde liegt. Je tiefer ein Lebewesen in seine Weise zu sein versenkt ist, um so kleiner ist der Spielraum der Offenheit, der von seiner Natur gelassen wird, und um so geringer die Bedeutung der Begegnungsereignisse für seinen Entwicklungsprozess. Unabhängig von der graduellen Abstufung der Offenheit der Formbestimmung der Seienden, die in der reflexiven Wendung auf das Denken selbst zu einem qualitativen Sprung führt, zeigt sich die ontologische Differenz von Essenz und Existenz und die mit ihr korVgl. Spaemann, Personen (1996), 119, 168. Ebd. 119. 35 Vgl. Teilkapitel 1.1, Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs, 22 u. im vorliegenden Teilkapitel, 890. 33 34
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relierende ontologische Angewiesenheit auf die Begegnung als analoges Merkmal von Personen bzw. Menschen, Lebewesen im Allgemeinen und in letzter Verallgemeinerung von Seiendem überhaupt. Begegnung erweist sich somit, wie der Gang der Überlegung in dem Gedankenexperiment gezeigt hat, als ontologischer Grundbegriff, mit dem das mögliche Zum-Sein-Kommen des individualteleologisch verstandenen Ausseins-auf bezeichnet wird. Nachdem somit das Gedankenexperiment vom Standpunkt der perspectiva naturalis aus durchgeführt und das Urphänomen der Begegnung beschrieben wurde, bleibt entsprechend der oben angekündigten Programmatik die kritische Prüfung der subjektphilosophischen Transformation des Urphänomens und die vergleichende Betrachtung der hier aus dem Werk Spaemanns entwickelten Philosophie der Begegnung als Alternative zu dieser. Charakteristisch für den auf den Wandel des Verständnisses der Perspektive in der frühen Neuzeit zurückgehenden subjektphilosophischen Ausgangspunkt der Philosophie cartesischer Prägung ist, wie in dieser Arbeit wiederholt betont wurde, die Hypostasierung des ›cogito‹ zur autarken Entität des Selbst, durch die das Denken selbst der sinnlich erfahrbaren Welt – und damit auch der eigenen Leiblichkeit des denkenden Subjekts – gegenübergestellt wird. Hypostasierung bedeutet hier die Isolierung des ›cogito‹ von den Lebensvollzügen, in denen es selbst fundiert ist, wodurch das zwischen dem Denken und der Welt seiner Objekte vermittelnde Prinzip aufgegeben wird, Subjekt und Objekt daher beginnen, unvermittelt und zu keiner Vermittlung mehr fähig einander gegenüberzustehen. Die Entitäten, die einem solchen Subjekt gegeben sind, werden, wenn sie nicht als anthropomorphistische Projektion grundsätzlich in Frage gestellt werden, auf ihren der empirischen Anschauung gegebenen qualitativen Bestand reduziert, wodurch die Anerkennung eines Ausseins-auf im Sinne eines Selbstseins der Objekte ausgeschlossen ist. Objektbewegungen können, wie ebenfalls gesehen wurde, unter dieser Bedingung nur als eine mechanische Sukzession von Raum-Zeitstellen verstanden werden. Kontingente Interferenzen dieser Bewegungen sind sowohl in Bezug auf ihre Ursachen wie auf ihre Wirkungen zumindest potentiell kausal erklärbar, so dass der Begriff der Begegnung als eines Zum-Sein-Kommens von Entitäten sich als metaphysische Leerformel abtun lässt. Da die Reflexionsposition der Subjektphilosophie, sofern sie keine Argumentation anerkennt, die sich auf etwas bezieht, das nicht selbst eine Reflexionsposition ist, in der Frage des Primats 906 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
der Reflexion prinzipiell unwiderlegbar sein muss, kann eine Gegenposition, wie die Untersuchung von Spaemanns Gesamtwerk gezeigt hat, zum einen theoretisch aus den Widersprüchen entwickelt werden, in die die Subjektphilosophie sich selbst verstrickt. Außerdem können als Folgen der Dominanz subjektphilosophischer Denkstrukturen qualifizierbare kulturelle bzw. zivilisatorische Entwicklungen Gegenstand einer praktisch orientierten Argumentation sein und zur Beweislastfrage führen. Diese Denkbewegung kennzeichnet, wie im zweiten Teil dieser Arbeit gesehen wurde, insgesamt Spaemanns Werk. An dieser Stelle soll nicht erneut im Detail auf diese Auseinandersetzung eingegangen werden, sondern es soll vor dem Hintergrund des durchgeführten Gedankenexperiments zur Freilegung des Urphänomens der Begegnung die hier als moderne Philosophie der Begegnung explizierte Denkweise abschließend als Alternative zur subjektphilosophischen Transformation des Urphänomens beleuchtet werden. Um den Übergang von der perspectiva naturalis zur umgekehrten Perspektive der Philosophie der Begegnung als Alternative zum subjektphilosophischen Ansatz denken zu können, muss in der Überlegung auf das Ereignis der Entdeckung der Person zurückgegangen werden, die selbst als die ursprüngliche Interpretation des Perspektivenwechsels verstanden werden kann, der vom 15. Jahrhundert an in der Bildenden Kunst und danach zeitversetzt in der Philosophie seine Wirkung entfaltete. Es geht in der Entdeckung der Person, wie im zweiten Teil dieser Arbeit dargelegt wurde, 36 im Grundsatz um die reflexive Wendung des Denkens auf sich selbst. Die Rede von einer reflexiven Wendung impliziert, dass das Denken zuvor nicht auf das Subjekt des Denkens zurückgeführt wurde, sondern die Vernunft, wie Spaemann sagt, »Organ des Allgemeinen« 37 war. Die ursprüngliche Interpretation dieser Wendung, von der Spaemann als Entdeckung der Person spricht, besteht darin, dass in ihr uno actu der Andere und das eigene Selbst als personale Substanzen – als Selbstsein – hervortreten und zuallererst als solche wahrgenommen werden. In diesem Ereignis entdeckt das Selbst sich im apriorischen Beziehungsraum der Personen. Aus diesem Ursprung und seiner fortwirkenden Bedeutung erklärt sich, warum jede Frage nach der Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 603–613. 37 Spaemann, Personen (1996), 29. 36
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Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität letztlich als Scheinproblem entlarvt werden muss, da durch die Frage selbst etwas getrennt wird, was im Augenblick seiner Entstehung eine Einheit war und erst danach auseinandergetreten ist. Mit dem kontingent-faktischen Ereignis der Entdeckung der Person ist eine primäre Offenheit von ›Subjekten‹ im apriorischen Beziehungsraum behauptet, der gegenüber der Rückzug in das autonome Subjekt ein sekundärer Schritt ist. Aus diesem Gedanken wurde im achten Kapitel der vorliegenden Arbeit als prinzipielles Argument gegen die Reflexionsposition der Subjektphilosophie die These entwickelt, dass diese Position ihrerseits bereits das Ergebnis des Rückzugs aus dem apriorischen Beziehungsraum und damit – entgegen dem cartesischen Anspruch, der Philosophie ein neues Fundament bereitet zu haben – eine Ableitung aus demselben darstellt. Während die mit der Entdeckung behauptete ursprüngliche Offenheit der ›Subjekte‹ durch das Wirken der Selbsttranszendenz die Fundierung der Vernunft im Leben bewahrt, geht diese Fundierung – und mit ihr der Lebensbegriff – im Rückzug auf die autonome Reflexionsposition als Ausgangspunkt des Denkens verloren. Insofern in der Natur selbst die Antriebe zur Selbsterhaltung und Selbsttranszendenz antagonistisch einander gegenüberstehen, ist es nur folgerichtig, dass – nach der reflexiven Wendung der instrumental als natürliches Organ verstandenen Vernunft in der Entdeckung auf sich selbst – die personale Offenheit in Bezug auf den apriorischen Beziehungsraum einerseits und der Rückzug in die als Autonomie begriffene natürliche Zentralität andererseits sich ebenso antagonistisch gegenüberzustehen beginnen. Im Vergleich mit dem natürlichen Antagonismus wird hier jedoch aus der natürlichen Zentralität eine Reflexionsposition, der gegenüber sich die Philosophie der Begegnung – im Sinne des ebenso antagonistischen Verhältnisses von Reflexion und Transzendenz – nur durch die Infragestellung des Ausgangspunkts der Subjektphilosophie bzw. der Subjektphilosophie als Ausgangspunkt in Erinnerung bringen kann. Die Philosophie der Begegnung fordert ihr gegenüber eine Umkehr der Perspektive, die keine Rücknahme des Ausgangs vom Subjekt bedeutet, sondern ein Verständnis des Subjekts als Ausdruck der Natur einfordert, in dem die Reflexion Natur bewusst erinnert und so ein Überschreiten der eigenen Natur ist. Dieses Überschreiten der eigenen Natur – der Genitiv ist hier im doppelten Sinn als subjectivus und objectivus zu verstehen – ist dem Selbst nur in der Begegnung gegeben. Verweigert 908 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
das Subjekt sich der Begegnung, verliert es sich selbst, bleibt das Subjekt gegen seine Natur in seiner Natur. 38 Lässt es aber in der Begegnung das Überschreiten zu, überschreitet die Natur das Bewusstsein auf ein Diesseits seiner selbst. 39 Für bewusstes Leben ist es somit unvermeidbar, dass das zu Bewusstsein kommende Aussein-auf um seine Unvordenklichkeit gebracht wird. Lebensregungen können uns grundsätzlich nur als schon bewusste gegeben sein. Zum Leben selbst haben wir nur Zugang nach der Formel: Leben ist »bewusstes Leben abzüglich des Bewusstseins« 40. Die Bedeutung der Erinnerung, die wesentlich die Differenz zwischen der subjektphilosophischen Position und der Philosophie der Begegnung ausmacht, besteht in der Reflexion auf das in allen personalen Vollzügen präsente Unvordenkliche des natürlichen Ausseins-auf. Diese Reflexion aber wird für Personen nur konkret, wenn sie auf den für sie immer schon eröffneten apriorischen Beziehungsraum bezogen wird. Die Natur wird für die Person, die zum autonomen Rückzug in die Reflexionsposition in der Lage ist, erst durch die Begegnung in Erinnerung gebracht, in der sich das Zum-Sein-Kommen durch die Wahrnehmung von Sein ereignet. An dieser Stelle kann nun auf die eingangs gestellte Frage eingegangen werden, inwiefern es ›geistige‹ Bewegungen gibt, die für Personen an die Stelle der physischen treten, und was unter diesen genau zu verstehen ist. Gegenüber der Verankerung der Bewegung im individualteleologisch verstandenen Verhältnis von δύναμις und ἐνέργεια in der aristotelischen Metaphysik geht es der Philosophie der Begegnung um die Bewegung diskreter Entitäten als Bedingung ihres Zum-Sein-Kommens. Aus dem Gang der Gedanken wurde deutlich, dass der Rückzug in die Autonomie der Reflexionsposition für Personen die Verweigerung der Bewegung bedeutet, die zur Begegnung führen kann. Dementsprechend kann die Öffnung des ›subVgl.: »Daß das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist, diese Paradoxie löst sich nur, wenn wir den Begriff der ›Natur‹ teleologisch fassen und den Menschen als von Natur auf Überschreiten der Natur angelegtes Wesen verstehen.« – Spaemann, Natur (1973), 32–33. 39 Vgl.: »Die subjektiven Erfahrungen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz, Lust, Begierde, Streben, Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch einen vektoriellen Sinn charakterisiert sind. Sie transzendieren das Bewusstsein, und zwar nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins. Wir finden uns durch sie immer schon in einer teleologischen Struktur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die uns mit allem Lebendigen verbindet.« – Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138. 40 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 200. 38
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
jektiven Konzepts‹ für mögliches Begegnendes als eine geistige Bewegung verstanden werden, die als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung grundlegende Bedeutung hat. Da für Personen geistige Bewegungen und die aus ihnen sich ergebenden Begegnungen sehr weitgehend durch symbolische Vermittlung der Sprache realisierbar sind, können beide sich fast vollständig von ihren physischen Substraten lösen. Geistige Bewegungen und Begegnungen sind für Personen daher als normale Variation sinnlich fundierter Ereignisse anzusehen. Behalten diese Begriffe dann als Metaphern noch ihre Berechtigung? Ohne Zweifel haben diese Metaphern ihren Ursprung in sinnlichen Erfahrungen von Bewegung und Begegnung. Wenn geistige Bewegungen und aus ihnen sich ergebende Begegnungen nicht von der Ebene ihrer symbolischen Vermittlung wieder an ihre sinnlichen Grundlagen zurückgebunden werden, vollzieht sich unweigerlich ihre Auflösung in der autonomen Selbstgenügsamkeit. In der Begegnung der Personen eröffnen sich durch die Umkehr der Perspektive, die eine Aktualisierung der perspectiva naturalis ist, sowohl Spielräume einer ungekannten Qualität als auch eine neue Dialektik von Sein und Schein. Das Urphänomen der Begegnung erscheint hier zwischen der ständigen Gefahr seiner Selbstliquidation und der Kulmination seiner Möglichkeiten im Leben von Personen.
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12.3 Offene Fragen und Ausblick
In einem Ausblick sollen am Ende dieser Studien über Robert Spaemann Bereiche benannt werden, in denen philosophische Bemühungen um eine Vertiefung der hier entwickelten Konzeption einer Philosophie der Begegnung ansetzen können. Zunächst werden zwei denkbare Richtungen der Fortsetzung der hier begonnen Arbeit umrissen: die mögliche Intensivierung eines Dialogs mit den Naturwissenschaften (12.3.1) und die aus der Personenphilosophie sich ergebenden Bezüge zu literarischen Werken und der Literaturwissenschaft (12.3.2). Danach soll es abschließend um die Frage der diskursiven Anschlussfähigkeit des Spaemann’schen Denkens insbesondere an die Philosophie des 20. Jahrhunderts gehen. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wurden, angefangen bei Joachim Ritter, Adorno und Horkheimer über A. N. Whitehead bis hin zu Th. Nagel und H. Frankfurt – um nur einige Beispiele zu nennen –, immer wieder punktuelle Bezüge zu zeitgenössischen Philosophen hergestellt. Spaemanns Übereinstimmungen mit diesen Denkern erwiesen sich jedoch stets als nur partiell. Im Folgenden sollen von Spaemann nicht thematisierte 1 Parallelen seines Philosophierens mit den Ansätzen einiger Zeitgenossen angedeutet werden. Es handelt sich dabei nach meinem Dafürhalten um Optionen möglicher vergleichender Analysen, durch deren Ausführung, die jenseits der Möglichkeiten der vorliegenden Arbeit liegt, die hier dargelegte Konzeption einer Philosophie der Begegnung in den Diskursen der Gegenwartsphilosophie genauer verortet und inhaltlich weiter vertieft werden könnte (12.3.3 – 12.3.5).
12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog der Philosophie der Begegnung mit den Naturwissenschaften Für eine philosophische Konzeption wie die der Philosophie der Begegnung, die in einem so hohen Maß als Naturphilosophie bezeichnet werden kann, sollte der interdisziplinäre Dialog mit den NaturDie Grundlage für eine solche Unterscheidung sind nur die bisher publizierten Schriften Spaemanns.
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
wissenschaften eine große Chance zur inneren Ausdifferenzierung und zur Rechtfertigung ihrer eigenen Bedeutung darstellen. Rainer Isaks Vorwurf an Spaemann und Löw bestand aber gerade darin, dass durch ihren »Versuch der Rehabilitierung einer (aristotelisch-scholastischen) Naturteleologie« 2 ein Dialog mit den Naturwissenschaften aufgrund dieser Prämisse prinzipiell unmöglich gemacht werde. Isak ist insofern zuzustimmen, als Spaemanns durch sein gesamtes Werk hindurch geführte Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften eine überwiegend polemische, antireduktionistische Ausrichtung hat. Mit einer Naturwissenschaft, die von der Prämisse universaler kausaler Determination ausgeht, kann es aus der Sicht des Spaemann’schen Philosophierens, als dessen Axiom die Existenz natürlichen Ausseins-auf bezeichnet werden kann, keinen Dialog geben. Der entscheidende Grund für diese Unvermittelbarkeit der beiden Seiten ist im Begriff des Lebens zu suchen. In Bezug auf diesen lässt sich die »europäische Biologiegeschichte« in zwei Epochen teilen: »in die antik-mittelalterliche, die von Aristoteles begründet wird, und in die neuzeitliche, die nach Descartes entsteht« 3. In der neuzeitlichen Epoche hat sich in der Biologie die Meinung etabliert, daß die Erforschung des Lebens »den Verzicht auf eine Beschäftigung mit dem Leben im ursprünglichen Sinne erfordert«, weil »es schon im Begriff des Lebens [liege], daß es nicht analysiert werden kann. Denn zum Leben … gehört … das Aktive, das Schöpferische, das Freie. Leben ist gebunden an die nicht aus Stücken zusammensetzbare Einheit, an das Individuum. Zu Leben in jenem ursprünglichen, uns auch jetzt noch selbstverständlichen Sinne gehört das planmäßige, an Zielen orientierte Einsetzen von Mitteln« 4. So findet die Reflexion auf den Lebens-Begriff nur noch in der theoretischen Biologie und Metatheorie der Biologie statt und nicht mehr bei den Erforschern des Lebens selbst. 5
Auch wenn von einer so verstandenen Biologie ausgehend ein Dialog mit einer philosophischen Position, die auf den aristotelischen Lebens-Begriff zurückgeht, prinzipiell unmöglich erscheint, muss doch die Frage gestellt werden, ob diese »kausalmechanische Biologie« 6 Vgl. Isak, Evolution ohne Ziel?, 29. Toellner, Leben, VI. Der biologische Lebens-Begriff, in: HWPh V, col. 98. 4 Quellenangabe in der Anmerkung: E. Bünning: Ein Blick in die Lebensforsch., in: Univ.reden Tübingen 41 (1952) 22–33. – Ebd., col. 98. 5 Ebd., col. 97. 6 Löw, Philosophie des Lebendigen, 274. 2 3
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12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog mit den Naturwissenschaften
selbst den Anspruch erheben kann, naturwissenschaftlich auf der Höhe ihrer Zeit zu sein. In der Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Physik, hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen, durch den die Vorstellung einer weitgehend in sich homogenen neuzeitlichen Wissenschaft in Frage gestellt wird: Der Standpunkt, den das physikalische Bewußtsein der »modernen Physik« gewonnen hat, läßt die Natur in einer anderen Perspektive begreifen, als es vom Standpunkt der klassischen Physik aus geschehen ist. Während hier der Physiker sich gegenüber den »Gegenständen« seines Denkens und experimentierenden Handelns als Subjekt distanziert hat, muß sich der »moderne« Physiker als agierendes Leibwesen in den Zusammenhang der Natur und ihrer Wirkungen eingefügt begreifen. Diese Situation wird von Physikern durch die Wendung »Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt« beschrieben. Für den Begriff der Natur hat das zur Folge, daß diese den Charakter der totalen »Welt« annimmt, in deren Wirkungszusammenhang sich der Physiker als einbezogen zu begreifen hat. 7
Im Hinblick auf diese sich andeutende Veränderung des Selbstverständnisses der Naturwissenschaften ist die Kommunikationslosigkeit zwischen ihr und dem Denken Spaemanns nicht so absolut, wie Isak es behauptet. Zwar sagte Spaemann in seiner »Laudatio für Hans Jonas«: »Die Naturwissenschaft kann nicht anders sein, als sie ist. Sie ist ihrem Wesen nach materialistisch.« 8 Andererseits zeigen aber seine Bezugnahmen z. B. auf A. Portmann 9 oder F. Cramer und W. Kaempfer 10, dass ein interdisziplinärer Dialog mit einer nicht-reduktionistischen Naturwissenschaft aus seiner Sicht keinesfalls ausgeschlossen ist. Ich möchte an dieser Stelle exemplarisch nur eine
Kaulbach, Natur, V. Neuzeit, in: HWPh VI, col. 478. Spaemann, Laudatio für Hans Jonas (1987), 209. 9 Vgl. z. B. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 335– 336, u. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 686. – Adolf Portmann wendete sich etwa in »Aufbruch der Lebensforschung« (1965) gegen mechanistische Erklärungsversuche des Organismus. 10 Vgl. Spaemann, Ritual und Ethos (2002), 263, u. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 688. – Cramer und Kaempfer vertreten in »Die Natur der Schönheit« (1992) angelehnt an Erkenntnisse u. a. der nichtlinearen Mathematik, der Untersuchung dissipativer Strukturen in der Chemie und der sogenannten Chaosforschung die These, dass Schönheit in Natur und Kunst sich im Übergang vom Chaos zur Ordnung und der Ordnung zum Chaos zeigt und dass sich somit im Phänomen der Schönheit ein Urprinzip natürlicher Entstehungsprozesse zu erkennen gibt. 7 8
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Richtung andeuten, in die eine auf den Ergebnissen dieser Arbeit aufbauende Bemühung um die Intensivierung des interdisziplinären Dialogs der Philosophie der Begegnung mit den Naturwissenschaften gehen könnte. Der russisch-belgische Physikochemiker Ilya Prigogine (1917–2003), der im Jahre 1977 den Nobelpreis für Chemie für seinen Beitrag zur irreversiblen Thermodynamik erhielt, entdeckte die sogenannten dissipativen Strukturen bzw. das Phänomen der dissipativen Selbstorganisation. Es geht dabei um thermodynamische Systeme, die in einem »vom thermodynamischen Gleichgewicht ›weit entfernten‹ Zustand existieren, der sich aus einem ursprünglich instabilen Zustand entwickelt hat« 11. Dissipative Strukturen entstehen also, vereinfacht ausgedrückt, durch Selbstorganisation im Übergang vom Chaos zur Ordnung. Dissipativ heißen sie, »wenn das System für den Austausch von Energie mit der Umwelt offen ist, sich durch diesen Austausch aufrechterhält und ständig erneuert« 12. Ein einfaches Beispiel einer dissipativen Struktur ist »die Flamme, die bei ständiger Zu- und Abführung von Materie und Energie selbst zeitlich unverändert bleibt« 13. Charakteristisch für dissipative Strukturen ist, dass sie nie völlig stabil sind und an den sogenannten Bifurkationspunkten ihr Verhalten auf nicht vorhersehbare Weise ändern. 14 M. Heidelberger bemerkt zur philosophischen Bedeutung dieser Entdeckung Prigogines: Prigogine sieht in seiner Theorie einen neuen Ansatz für eine Physik und Philosophie des Werdens und der Zeit. Die klassische Physik, aber auch die Physik Einsteins und der Quantenmechanik sind statisch, da sie die Reversibilität aller Vorgänge annehmen und so keine privilegierte Zeitrichtung akzeptieren. Es gibt aber genuin irreversible Prozesse, mit denen die Zeit auf eine substantielle Weise wieder ins Spiel kommt. Eine Weltsicht, die die Gerichtetheit der Zeit als eine fundamentale Eigenschaft akzeptiert, schafft Raum für die menschliche Freiheit und Kreativität. Im statischen Weltbild hingegen erscheint
Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, s. v. »dissipative Strukturen«. Heidelberger, Selbstorganisation, in: HWPh IX, col. 510. – Vgl.: »Mit einer etwas anthropomorphen Ausdrucksweise könnte man sagen, daß die Materie unter gleichgewichtsfernen Bedingungen beginnt, Unterschiede in der Außenwelt (wie etwa schwache Gravitations- oder elektrische Felder) wahrzunehmen, die sie unter Gleichgewichtsbedingungen nicht spüren konnte. Im Gleichgewicht ist die Materie sozusagen ›blind‹.« – Prigogine/Stengers, Dialog mit der Natur, 18. 13 Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, s. v. »dissipative Strukturen«. 14 Vgl. Heidelberger, Selbstorganisation, in: HWPh IX, col. 512. 11 12
914 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog mit den Naturwissenschaften
das Universum als Automat, der die Freiheit des Menschen und seine Geschichtlichkeit ausschließt. 15
Die philosophisch relevante Bedeutung der Entdeckung Prigogines besteht also darin, dass die Irreversibilität der Zeit, die für personales Leben eine nicht hintergehbare Bedingung seines Selbstverständnisses ist, – statt aus der Sicht des Physikalismus als idiosynkratischer Zug des menschlichen Bewusstseins eliminiert zu werden – auf die physikalische Welt selbst bezogen wird. Wenn die Vorgänge der Wirklichkeit, die die Physik untersucht, nur durch Abstraktion als lineare betrachtet werden können, eigentlich aber nichtlinearer Art sind, für sie also dieselbe Irreversibilität der Zeit gilt wie für den Menschen in seinem Daseinsvollzug, ist die aus unserer Selbsterfahrung sich unvermeidbar ergebende Weltsicht nicht länger ein Anthropomorphismus. Zugleich impliziert die Entdeckung Prigogines ein Unbestimmtheitsprinzip in dem Sinne, dass ein universaler kausaler Determinismus nicht am Fehlen einer ausreichenden Rechenkapazität scheitert, sondern dadurch prinzipiell ausgeschlossen ist, dass nichtlineare Systeme in ihrer Entwicklung den Bifurkationsweg ins Chaos einschlagen können. Mit Bezug auf diesen naturwissenschaftlichen Ansatz, den Prigogine selbst in Zusammenarbeit mit der belgischen Philosophin Isabelle Stengers versuchte auf seine philosophische Bedeutung hin zu durchdenken, 16 wäre ein interdisziplinärer Dialog ausgehend von der Philosophie der Begegnung durchaus denkbar. Es wäre dabei zu untersuchen, inwiefern Prigogines Unbestimmtheitsprinzip mit der Annahme eines teleologischen Ausseinsauf in der Natur vereinbar ist und inwiefern Personalität in Analogie zu dissipativen Strukturen bzw. Ereignisse der Begegnung als Bifurkationspunkte verstanden werden können. Prigogine kann damit als Beispiel einer Ausprägung der Naturwissenschaft betrachtet werden, die durch indeterministische Implikationen den Dialog auch mit einer an die aristotelische Teleologie anknüpfenden Philosophie möglich machen würde, ganz im Sinne des Wortes aus der »Nikoma-
Ebd. col. 512–513. – In der Anmerkung zum Zitat verweist der Autor auf folgende Quellen: I. Prigogine: From being to becoming – Time and complexity in phys. sci. (San Francisco 1980), dtsch. (1979, 61992); I. Prigogine/I. Stengers: La nouv. alliance. Métamorph. de la sci. (Paris 1979), dtsch. (1980). – Ebd. col. 514. 16 Siehe: I. Prigogine, I. Stengers, La Nouvelle Alliance (1979), deutsch: Dialog mit der Natur (1981), und I. Prigogine, I. Stengers, Entre le temps et l’éternité (1988), deutsch: Das Paradox der Zeit (1993). 15
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
chischen Ethik«: »Denn einen gebildeten Menschen erkennt man daran, dass er in jeder Gattung der Dinge nur so viel Genauigkeit sucht, wie die Natur der Sache zulässt« 17.
12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition und ihre literarische Verarbeitung Der Leitgedanke der hier vorgelegten Deutung des Spaemann’schen Denkens besteht in der Verbindung von Teleologie und Personalität. Nachdem eine erste Richtung der Vertiefung der hier entwickelten Konzeption im Ausgang von der Naturteleologie in der Richtung eines Dialogs mit den Naturwissenschaften vorgeschlagen wurde, soll nun eine zweite Richtung ausgehend von der Ontologie der Person angedeutet werden. Spaemann durchdenkt in seinem Werk den Weg von einem als lebendiges Wesen begriffenen menschlichen Subjekt zu einem Gegenüber, das als Bild des Unbedingten erscheint, und entwirft eine philosophische Konzeption der personalen Welt in seinem Gedanken des apriorischen Beziehungsraums der Personen. Dieser Personenphilosophie sind vor allen Dingen seine beiden späteren Hauptwerke »Glück und Wohlwollen« und »Personen« gewidmet. Was in diesen Werken nur andeutungsweise ausgeführt wird und Perspektiven für eine Vertiefung erkennen lässt, nämlich die ›positive‹ Philosophie, von der im achten Kapitel die Rede war, 18 kann durch die Frage nach der Bedeutung dieser Konzeption einer personalen Welt für eine konkrete Lebensführung ausgedrückt werden. Damit kann wohl kaum der Übergang von einer Fragestellung der theoretischen Philosophie in eine der praktischen gemeint sein. Zu Fragen einer personalen Ethik hat Spaemann sich in großem Umfang geäußert; in den Texten zu diesem Thema geht es aber meistens um 17 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch, 1094 b 24–26. – Vgl. zu diesem Zitat: »Jahrhundertelang mag man dies als eine negative Aussage verstanden haben, als einen Aufruf zur Resignation. Heute können wir die positive Bedeutung dieses Satzes erfassen, wie es der von uns beschriebene Wandel des Chaosbegriffs belegt. Solange wir gefordert haben, daß alle dynamischen Systeme den gleichen Gesetzen gehorchen müßten, war das Chaos ein Hindernis. In der geschlossenen Welt der klassischen Rationalität konnte das Streben nach Erkenntnis leicht zu geistiger Überheblichkeit führen. In der offenen Welt, die wir jetzt zu beschreiben lernen, bedingen Erkenntnis und praktische Weisheit sich gegenseitig.« – Prigogine/Stengers, Das Paradox der Zeit, 322. 18 Vgl. Teilkapitel 8.4, Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung, 601.
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12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition
Grenzfragen der Lebensführung, die dann wiederum aus einer theoretischen Fundierung beantwortet werden. Der Bereich, auf den hier die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, bezieht sich vielmehr auf die Normalität des personalen Lebens, auf die Frage, wie das Werden einer personalen Biographie auf der theoretischen Grundlage der Ontologie der Person zu denken ist. Wie die Ausführungen in Teilkapitel 8.4 der vorliegenden Arbeit gezeigt haben, geht Spaemann auf diese Frage nur auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau ein. Er expliziert das personale Verhältnis zur Zeit und die daraus sich ergebende Möglichkeit der Herausbildung einer Zeitgestalt; er erläutert die Bedeutung des Gewissens als ›Stimme von nirgendwo‹ für die Person als ›ontologisches Versprechen‹ ; mit Bezug auf das zentrale Ereignis der Begegnung bestimmt er Willensfreiheit als die Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit auf ein Begegnendes länger zu richten, als dies von Natur aus geschehen würde. Nach meiner Überzeugung wäre es ein großer Gewinn für die Philosophie der Begegnung, wenn über diese allgemeinen Grundlagen hinaus die Normalität personalen Lebens konkreter vergegenwärtigt werden könnte. Aus Spaemanns Gedankengängen ergibt sich, dass diese Normalität wohl als eine kontingente, unplanbare und unvorhersehbare Selbstkomposition des personalen Lebens begriffen werden müsste. Bei der Normalität des personalen Lebens geht es darum, wie durch Akte der Selbsttranszendenz das Haben der eigenen Natur sich in einer Weise verwirklicht, die nicht aus dieser Natur ableitbar und darum frei ist. Die weitere Entfaltung der Personenkonzeption, um die es hier gehen kann, müsste also genau an jener Grenze des Denkens, von der im Zusammenhang mit dem ›Haben einer Natur‹ immer wieder die Rede war, an jenem »Indifferenzpunkt der Freiheit« 19, der weder Natur ist noch zu einer selbständigen Entität hypostasiert wird, angesiedelt sein. Daher stellt sich die Frage, ob diese Erweiterung im Rahmen der Philosophie überhaupt möglich sein kann. Kann es eine Wissenschaft geben, die sich mit diesem Bereich an der Grenze des Denkbaren beschäftigt? Die abstrakte Bestimmung dieser Grenze des Denkbaren hat Spaemann ja durchaus geleistet. Darüber hinaus scheint kein Weg zu führen, da es sich bei diesen – wenngleich biographisch sehr bedeutsamen – Grenzereignissen um einen per definitionem der Theorie sich entziehenden Bereich handelt. Ein Nachdenken über Begegnungsereignisse und ihre Folgen ist grundsätzlich nur a posteriori 19
Spaemann, Personen (1996), 82.
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
möglich. Wenn dieses Nachdenken nicht auf den privaten Bereich beschränkt und doch noch Gegenstand einer möglichen weiteren Entfaltung der Personenphilosophie werden soll, kann es dabei nur um eine bereits mediatisierte Form dieses Nachdenkens und um die reflektierte Bezugnahme auf dieses gehen. Eine solche kann gefunden werden in der Literatur, wobei die Aufmerksamkeit sich konzentrieren wird auf solche literarische Texte, die biographische Verläufe darstellen, in denen an Stelle einer autonomen Lebensplanung die erwähnte unvorhersehbare Selbstkomposition des personalen Lebens erkennbar wird. Die Untersuchung solcher Texte würde insofern an die hier entwickelte philosophische Konzeption anknüpfen können, als diese selbst sich als adäquate Rekonstruktion von Zusammenhängen erweisen könnte, in deren Betrachtung sie auch unter Ausblendung der theoretischen Hintergründe einen Deutungswert besitzt. Zu denken ist also an literarische Darstellungen biographischer Zusammenhänge, deren Deutung sich auch nach umfangreichen hermeneutischen Bemühungen als widerständig erweist und in denen Ereignisse der Begegnung eine exponierte Rolle spielen. Auch wenn an dieser Stelle detaillierte Ausführungen zu möglichen Referenztexten nicht möglich sind, sollen zwei Rätselwerke der Weltliteratur genannt werden, deren Betrachtung in diesem Sinn aussichtsreich sein könnte. Zum einen handelt es sich um den zweiten Teil der Faust-Dichtung. Die Helena-Handlung ist das wesentliche Organisationsprinzip, das die sehr disparaten Schichten zumindest der ersten drei Akte des zweiten Teils zusammenhält. Nach der ersten Begegnung mit Helena bereits in der Hexenküche des ersten Teils entfalten sich die Zusammenhänge des zweiten Teils zwischen der Begegnung Fausts mit dem Luftbild der Helena im ›Rittersaal‹ im ersten Akt über die Suche nach ihr in der ›Klassischen Walpurgisnacht‹ des zweiten Aktes bis zur eigentlichen Begegnung von Helena und Faust im ›Inneren Burghof‹ des dritten Aktes. Aufbauend auf einer Textanalyse könnte nach meiner Überzeugung gezeigt werden, dass mit dem hier entwickelten Instrumentarium einer Philosophie der Begegnung die überaus verschlungenen Zusammenhänge der Helena-Handlung sich in erheblichem Maß entwirren lassen. Denn die Imagination des Bildes der Helena und des Paris im Rittersaal war der geniale dramatische Kunstgriff, durch den Goethe Faust in seiner erklärten Transzendenzfeindlichkeit auf den Weg bringen konnte, dem Anderen seiner selbst, das nur als unabhängig von seiner eigenen lebendigen Zentralität begriffen werden kann, durch einen in die Entstehungsgeschichte des 918 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition
klassischen Griechenlands führenden Bildungsgang, in dem er zu sehen lernt, auf dem Höhepunkt des Dramas begegnen zu können. Die hier dargelegten Grundzüge einer philosophischen Deutung des Begegnungsgeschehens werden dabei in Goethes Drama durch das Spiel mit kulturellen Archetypen in einer aufs äußerste verallgemeinerten und dabei doch das zutiefst Menschliche des Geschehens bewahrenden Form ins Bild gesetzt. – Mit Goethes »Faust« ist auch der zweite, scheinbar weit von diesem entfernte Text, der hier erwähnt werden soll, durch seine Entstehungsgeschichte verbunden. Während der Arbeit an seinem Roman »Doktor Živago« schuf Boris Pasternak eine als kongenial geltende Übersetzung beider Teile der Faust-Dichtung ins Russische. Ähnlich wie der zweite Teil der Faust-Dichtung ist Pasternaks Roman ein äußerst umstrittener Text, der eine kaum überschaubare Vielzahl an Deutungen hervorgerufen hat. Zu den Besonderheiten, aufgrund deren die Deutung des Romans in der Forschungsliteratur umstritten ist, gehört der scheinbare Gegensatz zwischen der auf die Hauptfigur ausgerichteten biographischen Rahmenstruktur und der in diesem Rahmen sich entfaltenden Fülle historischer Ereignisse, denen die Hauptfigur zumeist passiv – angemessener wäre zu sagen: kontemplativ – gegenübersteht. Eine zentrale Frage, um die die Literatur zum Roman von Anfang an kreiste, besteht darin, ob ein großer Dichter an der epischen Großform gescheitert ist oder ob es sich um die in sich stimmige Umsetzung einer künstlerischen Absicht handelt, aus der sich eine neue Form des Romans ergeben hat. Aufbauend auf einer Textanalyse könnte auch in diesem Fall nach meiner Überzeugung gezeigt werden, dass sich die zweite Lesart mit dem hier entwickelten Instrumentarium einer Philosophie der Begegnung auf neue Art belegen ließe. Auch in Pasternaks »Doktor Živago« sind es exponierte Begegnungsereignisse, 20 die als das wesentliche Organisationsprinzip der Romanhandlung begriffen werden können. Eindringlicher noch als in Goethes »Faust« wird in Pasternaks Roman deutlich, wie die Hauptfigur durch ein zunächst kontingentes Begegnungsereignis auf den Weg einer Entwicklung geführt wird, auf dem die Ansätze eines autonomen Lebensentwurfs verworfen und zugleich eine Verwirklichung der natürlichen Anlagen erreicht wird, die paradoxerweise aus der eigenen Natur nicht Es geht dabei um die Begegnungen der Hauptfiguren Jurij Živago und Larisa Antipova, insbesondere um die, von denen am Ende des zweiten Teils und im 13. Teil erzählt wird.
20
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
ableitbar ist. Erst die perspektivische Ausrichtung auf diese Begegnungsereignisse kann das Kompositionsprinzip des Romans verständlich machen, durch das mit künstlerischer Absicht kontingente Ereignisse montiert werden, um das nicht planbare Werden einer Zeitgestalt zu vergegenwärtigen.
12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs Nach der Andeutung zweier Richtungen der Weiterentwicklung der Grundgedanken der Philosophie der Begegnung sollen nun, wie angekündigt, die philosophischen Ansätze einiger Denker schlaglichtartig beleuchtet werden, deren vergleichende Einbeziehung in die hier verfolgte Konzeption aussichtsreich erscheint. Eine frappierende Parallele besteht zwischen der Personenphilosophie Spaemanns und der Philosophie des Dialogs insbesondere Martin Bubers, auf die am Anfang dieser Arbeit im Rahmen einer ersten Befragung des philosophischen Begriffs der Begegnung eingegangen wurde. 21 Eine Vermittlung zwischen der Dialogik und der akademischen Philosophie ist, wie dort ausgehend von Michael Theunissens Studie »Der Andere« gezeigt wurde, bislang nicht gelungen und die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Vermittlung wurde mit Verweis auf die Arbeit Jochanan Blochs »Die Aporie des Du« ausdrücklich in Frage gestellt. An dieser Stelle soll angedeutet werden, dass mit dem hier entfalteten Instrumentarium einer Philosophie der Begegnung die Anschlussfähigkeit der Buber’schen Dialogik an den philosophischen Diskurs hergestellt werden könnte. Dazu soll zunächst die Aufmerksamkeit auf ein Beispiel der konstitutiven Paradoxie des dialogischen Denkens gerichtet werden, aufgrund deren Theunissen bei Buber ein Überschreiten der Grenzen der Philosophie in Richtung einer »›Theologie‹ des Zwischen« 22 erkennt, um anschließend zu zeigen, wie unter Einbeziehung zentraler Gedanken Spaemanns diese Paradoxie sich mit genuin philosophischen Mitteln denken lässt. In »Ich und Du« betont Buber, dass das Du zugleich als dasjenige begriffen werden muss, das von außen auf mich zukommt, dem ich also passiv gegenüberstehe, und dass dennoch das Ereignis der Begegnung mit dem Du aus einer Vgl. Teilkapitel 1.1, Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs, 19–27. 22 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 330. 21
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12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs
Aktivität des Subjekts hervorgeht: »Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat.« 23 Das Du ist also zugleich das Objekt einer intentionalen Handlung und ein nur passiv Hingenommenes: »So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. Wie denn eine Aktion des ganzen Wesens, als die Aufhebung aller Teilhandlungen […], der Passion ähnlich werden muss.« 24 Theunissen bemerkt zu dieser Darstellung: Die Beziehung zum Du entschwindet in eine Region, die jenseits der Differenz von Aktion und Passion liegt. Könnte Buber diese Region benennen und gedanklich artikulieren, ohne von den Begriffen »Aktion« und »Passion« Gebrauch zu machen, so wäre er in diesem Punkt zu einer positiven Ontologie der Ich-Du-Beziehung durchgedrungen. Faktisch vermag er es nicht. Statt dessen begnügt er sich damit, das, was weder Aktion noch Passion ist, als die Einheit beider zu fassen. 25 Buber, Werke I, 85. Ebd. – In diesem Zusammenhang ist auch ein vergleichender Seitenblick auf E. Levinas lohnend, der sich in »Totalität und Unendlichkeit« explizit von Buber abhebt, wenn er mit Bezug auf dessen Grundwort Ich-Du schreibt: »Man kann sich indes fragen, ob das Du nicht den Anderen in eine Beziehung der Gegenseitigkeit bringt und ob diese Gegenseitigkeit einen ursprünglichen Sachverhalt trifft. Andererseits bewahrt die Ich-Du-Beziehung bei Buber einen formalen Charakter: Sie kann ebenso Menschen mit den Dingen vereinen wie den Menschen mit dem Menschen. Der Formalismus des Ich-Du bestimmt keinerlei konkrete Struktur. Das Ich-Du ist Geschehen, Stoß, Verstehen – aber es erklärt nur die Freundschaft und keine andere Lebensform: etwa die Ökonomie, die Suche nach dem Glück, den Vorstellungsbezug zu den Dingen. Letztere bleiben in einer Art verächtlichen Spiritualismus’ unerforscht und unerklärt. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den lächerlichen Anspruch, Buber in diesen Punkten zu ›korrigieren‹. Indem sie von der Idee des Unendlichen ausgeht, steht sie in einer anderen Perspektive.« – E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 92. – Obwohl Levinas von einer absoluten Passivität im Verhältnis zum Anderen ausgeht und sich insofern von Bubers hier zitierter Darstellung unterscheidet, ergibt sich doch bei ihm eine ähnlich wie bei Buber paradoxe Situation im Sagen des Ereignisses der Begegnung. Vgl.: »Ich bin zwar vom Ereignis inspiriert worden, doch gleichzeitig auch der ›Urheber‹ (auteur) des Sagens des Ereignisses. Das Zeugnis der Inspiration durch das Ereignis ist also zweideutig: Es bezeugt etwas ander[e]s als mich und doch nur mich. […] Levinas spricht diesbezüglich von der ›Ambiguität der Inspiration‹ […].« – Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion, 303. – Um die Buber und Levinas gemeinsame Affinität zu paradoxen Denkfiguren philosophisch fruchtbar machen zu können, bedürfte es einer Konzeption, die das logische Prädizieren als Paradoxie selbst von einer grundsätzlicheren Position aus relativieren könnte. 25 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 317. 23 24
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Bubers Verwendung einer paradoxen Gedankenfigur in der »Charakterisierung der reinen Tat als Einheit von Aktion und Passion« 26 ist für Theunissen im Bereich des philosophischen Denkens nicht zulässig und verortet den dialogischen Ansatz im Bereich »religiöser Erfahrung«. 27 Die Identität von Tun und Nichttun ist aber eine Paradoxie, die als solche nicht gedacht werden kann. In ihrer Unausdenklichkeit enthüllt sich die Rede von ihr als Chiffre eines Seins, das über der Differenz von Aktion und Passion west. Dieses Sein läßt sich zeichenhaft als Einheit von Aktion und Passion denken, weil es weder im Begriff der Aktion noch in dem der Passion aufgeht. Es ist also weder Passion noch Aktion allein und insofern die unausdenkliche Einheit beider. 28
Spaemann stimmt, wie in dieser Arbeit gesehen wurde, dem Ausschluss der Paradoxie aus dem Bereich philosophischen Denkens nicht zu: »Die Paradoxie ist das Kennzeichen der Überwindung der Abstraktion. Nur das Abstrakte unterliegt der Identitätslogik.« 29 Mit Spaemann lässt sich die Region jenseits der Differenz von Aktion und Passion durchaus artikulieren und eine positive Ontologie der IchDu-Beziehung entwickeln. Die Frage nach der Priorität von Subjekt oder Zwischen oder allgemeiner die Frage, ob Intersubjektivität aus Subjektivität oder umgekehrt Subjektivität aus Intersubjektivität abgeleitet ist, versteht Spaemann als Folgeerscheinung eines Reduktionismus, der darauf zurückzuführen ist, dass das Kontinuum von Leben und Vernunft nach dem neuzeitlichen Ausfall des Lebensbegriffs nicht mehr verstanden wird und als philosophisches Zerfallsprodukt der Entteleologisierung ein Dualismus von Spiritualismus bzw. Transzendentalismus und Naturalismus entsteht, von dem aus das Ereignis der Begegnung nicht mehr wahrgenommen werden kann, weil es sich in zwei unvermittelte Seiten aufspaltet. Theunissens Buber-Deutung kann selbst als Ausdruck des genannten Dualismus gelesen werden: Einerseits versucht Theunissen, Bubers Dialogik vom transzendentalphilosophischen Ansatz aus als dessen dialektische Alternative zu verstehen, andererseits verleiht er seiner Überzeugung Ausdruck, »daß sich hinter der Vorstellung vom unbedingten Vorrang des Zwischen vor der Subjektivität in allen ihren 26 27 28 29
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 316. Ebd. 258. Ebd. 318. Spaemann, Antinomien der Liebe (2007), 25.
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12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs
Seinsformen eine bestimmte, aber eben der Philosophie unerreichbare Wahrheit verbirgt«. 30 Sein Programm der Idealisierung der Buber’schen Reflexionsposition mit dem Ziel einer Ontologie des Zwischen versteht das dualistische Haltungsschema von Ich-Du und IchEs dialektisch und missversteht es dadurch offensichtlich. Der gewählte Untersuchungsansatz und die leitende Motivation erweisen sich als unvermittelbar, was Theunissen in seiner in die zweite Auflage aufgenommenen »Nachschrift« selbst einräumt: Wer nun aber die Wirklichkeit des menschlichen Lebens unvoreingenommen prüft, muß anerkennen, daß der Andere beides ist: der sich in meinem Weltentwurf Konstituierende und der, welcher sich der subjektiven Konstitution entzieht, der bloß mittelbar und der unmittelbar Begegnende. Nicht weniger gewiß ist er sowohl der, der mich mir entfremdet, wie auch der, der mich zu mir selbst bringt. 31
Dieses Geltenlassen von Paradoxien in der »Nachschrift« geht einher mit Erwägungen zu einer alternativen Denkweise, wobei Theunissen beispielsweise mit Bezug auf G. Marcel von der »Liebe« spricht, die sich aus der Dialektik »herauswindet«: Die Dialektik ist in der tiefsten Wurzel der Umschlag der Aneignung des Anderen in die Veranderung des Eigenen. Aus der Veranderung aber kehrt der Mensch, der als transzendentaler Weltmittelpunkt zunächst sein Ich gegen den Anderen durchsetzt, nicht durch Integration des Anderen in sein Selbst zurück, sondern durch die Gründung seines Selbst auf den Anderen. Er entdeckt den Anderen als den Grund seines Selbstseinkönnens. 32
Inwiefern jedoch in der ›personalen Liebe‹, von der Theunissen hier spricht, ein Standpunkt oberhalb der Dialektik, an der seine BuberDeutung scheiterte, gewonnen ist, bleibt offen. Die für Spaemanns Denken zentrale Fundierung der Personalität in der natürlichen Teleologie gibt die Möglichkeit, die von Theunissen beanstandete Negativität der dialogischen Ontologie positiv zu erhellen und eine begriffliche Rekonstruktion des Buber’schen Grundwortes ›Ich-Du‹ zu leisten. Aber wiederholt sich damit nicht die Logisierung des Du, die Bloch in seiner Studie als der ihr zugrunde liegenden Erfahrung prinzipiell unangemessen bezeichnet hat? Bloch unterstreicht: »Das 30 31 32
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 501. Ebd. 491. Ebd. 490.
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
ist der nicht aufzubrechende Teufelskreis, in den jede philosophierende oder ›logisierende‹ Bearbeitung der dialogischen Grunderfahrung hineingerät: der Erfahrung, daß Gegenwart ohne Erkennbarkeit ist.« 33 Wie ich meine, ist das im Denken Spaemanns nicht der Fall. Das Begegnende bleibt transzendent und Sein ein Jenseits des Begriffs. Und dennoch erhält die Wirklichkeit des Grundwortes ›IchDu‹ eine Denkbarkeit durch die Fundierung der Personalität in der Teleologie und den hermeneutischen Zugang zur Entdeckung der Person. Der Ausgang des Denkens beim Kontinuum von Leben und Vernunft bedeutet, dass das Unvordenkliche sein konstitutiver Bestandteil ist. Spaemanns Denken kennzeichnet gerade die Differenzierung zwischen dem, was begrifflich, und dem, was nur durch die begleitende Reflexion auf die Unangemessenheit unserer Begriffe gedacht werden kann. Blochs Unangemessenheit des Denkens wird so bei Spaemann zu einer Grenzbewusstheit des Denkens selbst.
12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes Aussichtsreich erscheint mir auch eine Untersuchung der Parallelen zwischen dem Denken Spaemanns und dem Maurice Merleau-Pontys, insbesondere in seinem Hauptwerk »Phänomenologie der Wahrnehmung« aus dem Jahr 1945, in dem er – darin den Vertretern des dialogischen Denkens ähnlich – seinen wesentlichen Grundgedanken in Abstoßung von der Transzendentalphilosophie entwickelt. Prinzipiell unzulässig ist für Merleau-Ponty der Ausgang des Denkens von einem »transzendentalen Ich, an dem die empirischen teilhaben, ohne es zu zerteilen« 34. Insofern er demgegenüber eine »Reflexion auf diese Reflexion selbst« 35 fordert, steht sein programmatischer Ansatz in auffälliger Nähe zu Spaemanns Denken. Merleau-Pontys Projekt einer Phänomenologie, die statt einer Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung »das Mögliche auf das Wirkliche gründet« 36, kann an die Aussage Spaemanns erinnern, wonach wir als Personen »die Transzendentalphilosophie als Möglichkeitsphilo-
33 34 35 36
Bloch, Die Aporie des Du, 265. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 86. Ebd. Ebd. 14.
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12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes
sophie immer schon transzendiert« 37 haben. Für beide Denker hat die kritische Auseinandersetzung mit dem cartesischen ›cogito sum‹ zentrale Bedeutung. 38 Der für Spaemanns metaphysisch-analoges Denken grundlegende Schritt vom ›cogito‹ – gegen seine Hypostasierung zur unabhängigen Entität bei Descartes – zurück auf das lebendige Subjekt ist auch das zentrale Anliegen Merleau-Pontys in seinem Hauptwerk, das er durch eine Theorie der Leiblichkeit zu verwirklichen sucht. Obwohl sich bei Merleau-Ponty keine explizite Auseinandersetzung mit dem teleologischen Denken finden lässt, liegt seiner Deutung menschlicher Subjektivität offensichtlich das zugrunde, was bei Spaemann als Aussein-auf bezeichnet wird: Allen Bedeutungen des Wortes »Sinn« zugrunde liegend finden wir den einen Grundbegriff eines Seins, das auf etwas hin, was es nicht selber ist, orientiert oder polarisiert ist, und alles verweist uns so auf den Gedanken des Subjekts als Ek-stase und auf ein aktives Transzendenzverhältnis zwischen Subjekt und Welt. 39
Im Unterschied zur Philosophie Spaemanns spielt dieser Gedanke des Ausseins-auf bei Merleau-Ponty jenseits der Betrachtung menschlicher Selbsttranszendenz keine Rolle. Dennoch ist es gerade die wesentliche Gelenkstelle zwischen der Teleologie und der Personalität in Spaemanns Denken, an der sich der Ansatz Merleau-Pontys systematisch verorten lässt. Im Abschnitt 8.4.1 der vorliegenden Arbeit wurde erläutert, dass eine wesentliche Schwierigkeit, das Verhältnis der Personen im apriorischen Beziehungsraum zu denken, in der Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität besteht. Es wurde gezeigt, dass nach Spaemann durch die dialektische Gegenüberstellung von Subjektivität und Intersubjektivität bereits der Blick auf den eigentlichen Zusammenhang verstellt ist, 40 von dem aus eine Lösung entwickelt werden kann, dass nämlich »Leben und Bewußtsein ein Kontinuum bilden« 41. Die Idee eines solchen Kontinuums von Leben und Bewusstsein bildete zumindest seit den Essays der 80er Jahre einen Leitgedanken Spaemanns, ohne dass er ihn allerdings im Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt«, 46. Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Kapitel »Das cogito«, 421–465. 39 Ebd. 488–489. 40 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 604–606. 41 Spaemann, Personen (1996), 169. 37 38
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Hinblick auf das zentrale Moment der Leiblichkeit näher untersucht hätte. Genau dieses Ziel aber verfolgt Merleau-Ponty in seiner »Phänomenologie der Wahrnehmung«: »In der Wahrnehmung denken wir nicht den Gegenstand und denken nicht uns als ihn denkend, wir sind vielmehr zum Gegenstand und gehen auf in unserem Leib, der mehr als wir selbst von der Welt und von den Motiven und Mitteln weiß, sie zur Synthese zu bringen.« 42 Entscheidend ist für MerleauPonty der Gedanke des ›Seins zur Welt‹ – être au monde 43 –, durch den die Idee einer unabhängigen Subjektivität als Fiktion abgetan wird: »[…] es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt.« 44 Die Reflexionsbewegung Merleau-Pontys kann daher beschrieben werden erstens als Rückgang vom Bewusstsein auf die ihm zugrunde liegende Wirklichkeit und zweitens als phänomenologische Analyse der von ihr ausgehenden Entfaltung menschlichen Bewusstseins. Der Rückgang erfolgt durch die Reflexion auf den Anfang des Bewusstseins, durch »Reflexion auf ein Unreflektiertes« 45. Erst durch diese Reflexion auf die Grenze der Reflexion selbst kann diese sich als Reflexion begreifen: Die Reflexion vermag also ihren eigenen vollen Sinn selbst nur dann zu erfassen, wenn sie des unreflektierten Untergrundes eingedenk bleibt, den sie voraussetzt, aus dem sie sich nährt und der für sie so etwas wie eine ursprüngliche Vergangenheit konstituiert, eine Vergangenheit nämlich, die niemals Gegenwart war. 46
In Bezug auf diesen unreflektierten Untergrund spricht MerleauPonty von einem »inkarnierten Subjekt« 47, dem »präreflexiven« 48 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 279. Der Übersetzer der »Phänomenologie der Wahrnehmung« Rudolf Boehm bemerkt zum Ausdruck »être au monde« in einer Fußnote zum Text: »Es scheint angezeigt, den Ausdruck ›est au monde‹ bei Merleau-Ponty in der Regel mit ›ist zur Welt‹ zu übersetzen (wie ›ist zur Welt gekommen‹), wenngleich der Begriff des ›être au monde‹ ohne Zweifel dem des ›In-der-Welt-seins‹ Heideggers abgenommen ist. Man wird beachten, daß ›au monde‹ ein Dativ ist und so eine ›Hingebung‹ des Subjekts an die Welt bedeutet, deren Gedanke bei Merleau-Ponty den Begriff des Zur-Welt-seins aufs unmittelbarste eher dem Phänomen annähert, das Heidegger ›Aufgehen in der Welt‹ und dann das ›Verfallen‹ nennt und als einen – zwar alltäglichen und primären – Modus des In-der-Welt-seins von diesem selbst scharf genug unterscheidet.« – Ebd. 7. 44 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 7. 45 Ebd. 6. 46 Ebd. 283. 47 Ebd. 229. 48 Ebd. 346. 42 43
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12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes
bzw. »schweigende[n] cogito« 49 und dem »primordinale[n] Ich« 50, die jeweils die fundamentale Wirklichkeit des Leibes bezeichnen sollen. Der Leib kann dabei weder als ein Gegenstand noch als ein Gedanke aufgefasst werden: »So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in Wirklichkeit gibt.« 51 Ganz ähnlich wie bei Spaemann wird so bei Merleau-Ponty das transzendentale ›ich denke‹ in einem primären ›ich lebe‹ fundiert: 52 »Die Funktion des lebendigen Leibes kann ich nur verstehen, indem ich sie selbst vollziehe, und in dem Maße, in dem ich selbst dieser einer Welt sich zuwendende Leib bin.« 53 Das präreflexive ›être au monde‹ des Leibes – »[d]ie Welt ist da, vor aller Analyse« 54 – spiegelt seinerseits Spaemanns Verständnis des Seins als Jenseits des Begriffs wider. Ausgehend von der Leiberfahrung wird für Merleau-Ponty dann eine adäquate Analyse des ›cogito‹ möglich: »es ist die ursprüngliche Bewegung des Transzendierens, die mein Sein selbst ist, die gleichursprüngliche Berührung mit meinem Sein und mit dem Sein der Welt« 55. Das ›ich denke‹ findet sich also immer schon integriert in die »Bewegung der Transzendenz des Ich-bin« 56. – Die Parallelen im Denken Spaemanns und Merleau-Pontys sind, wie diese Streiflichter gezeigt haben, mehr als deutlich. Durch eine vergleichende Analyse könnten sowohl für Spaemanns Denken – insbesondere durch Merleau-Pontys Analysen des leiblichen Zur-Welt-seins – als auch für das Merleau-Pontys – etwa durch Spaemanns Idee des apriorischen Beziehungsraums der Personen – im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Gemeinsamen in beiden Ansätzen aussichtsreiche Bezüge hergestellt werden.
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 458. Ebd. 460. 51 Ebd. 234. 52 Vgl. Spaemann, Zum Begriff des Lebens (1994), 85, u. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 554, u. Fn. 121. 53 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 99. 54 Ebd. 6. 55 Ebd. 430. 56 Ebd., 437. 49 50
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
12.3.5 Pavel Florenskij und die Fundierung der Personenphilosophie im Begriff des Lebens Nach der Andeutung selbständiger Untersuchungen würdiger Parallelen zwischen der Philosophie Spaemanns und – ausgehend von der philosophischen Bedeutung des ›Du‹ – der dialogischen Philosophie Bubers sowie – ausgehend von der philosophischen Bedeutung des Leibes – der Phänomenologie Merleau-Pontys soll nun abschließend ein Blick auf die russische Philosophie des 20. Jahrhunderts geworfen werden. Der wie Spaemann aus der Ritter-Schule hervorgegangene Experte für russische Philosophie Wilhelm Goerdt, der 1984 den bis heute einzigen neueren Versuch, »eine Gesamtanschauung von russischer Philosophie in deutschem Original zu geben« 57, unternommen hat, spricht in seinem Buch »Russische Philosophie« von der »bisher noch kaum in Angriff genommene[n]« Aufgabe »der philosophischen Verständigung (West-)Europas mit (Ost-)Europa-Rußland« 58: […] die andauernde Unkenntnis artikuliert sich etwa in der Meinung, daß russische Philosophie »nicht dazugehöre«, daß sie nicht in der Einheit der europäischen Philosophie als unterschiedenes Glied aufgehoben sei – vielmehr wird gerade dieser Unterschied, die Differenz von westeuropäischer und russischer Philosophie so stark empfunden, daß hier von einem allgemeinen verbreiteten Gefühl absoluter Fremdheit (verlautbart im Reden von der »Russischen Seele«) gesprochen werden kann. 59
Im Sinne des von Goerdt in seiner Gesamtdarstellung russischer Philosophie vorgetragenen Plädoyers für die »Möglichkeit einer philosophischen Verständigung« 60 sollen im Folgenden einige Hinweise auf die Anschlussfähigkeit des hier untersuchten Spaemann’schen Denkens an die russische Philosophie gegeben werden. Vasilij Zen’kovskij, der Autor einer umfangreichen Gesamtdarstellung russischer Philosophie aus dem Jahr 1948, spricht vom »Ontologismus«, also der »Lehre von der primären Erkennbarkeit des absoluten Seins durch den endlichen Intellekt« 61, als allgemeinem Charakteristikum 57 58 59 60 61
Goerdt, Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke, 17. Ebd. 29. Ebd. 33. Ebd. 35. Malter/Pfurtscheller, Ontologismus, in: HWPh VI, col. 1203. – Vgl.: »Für alle
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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens
russischer Philosophie: »[…] der russische Ontologismus drückt nicht den Primat der ›Wirklichkeit‹ vor der Erkenntnis aus, sondern die Eingebundenheit der Erkenntnis in unser Verhältnis zur Welt, in unsere ›Handlungsvollzüge‹ in ihr.« 62 An anderer Stelle spricht Zen’kovskij zur Charakterisierung des russischen Denkens von einem »mystischen Realismus, der die ganze Wirklichkeit der empirischen Realität anerkennt, aber hinter ihr eine andere Realität sieht; beide Sphären des Seins sind wirklich, aber hierarchisch ungleichwertig; das empirische Sein besteht nur durch die ›Teilhabe‹ an der mystischen Realität.« 63 Um anzudeuten, dass die hier erkennbar werdenden Parallelen zu Spaemanns Verständnis des Seins als Korrelat eines Aktes der Anerkennung und zu seiner Konzeption des metaphysischen Realismus nicht zufällig sind, soll im Folgenden mit Pavel Florenskij exemplarisch nur auf einen russischen Philosophen verwiesen werden. 64 In seiner Studie »Der Sinn des Idealismus« 65 aus dem Jahr 1915 geht Florenksij von Platons Begriff der Idee als ἕν καὶ πολλά aus, um die Frage nach den Universalien als Grundproblem der Philosophie zu stellen. 66 In Anlehnung an Porphyrios entwickelt er eine (ausnahmslos der christlichen Theologie verpflichteten) ontologistischen Denker gilt, daß diese primäre, jegliche andere Erkenntnis bedingende Erkenntnis des absoluten Seins weder eine Einsicht in dessen Wesenheit noch eine Schau Gottes im Sinne der von der Offenbarungstheologie gelehrten ›visio beatifica‹ darstellt, sondern lediglich ein apriorisches intuitives Wissen um die unvorgreifliche Präsenz des realen absoluten Seins in dem Selbstvollzug des endlichen Geistes.« – Ebd. 62 Im Original: »[…] русский онтологизм выражает не примат ›реальности‹ над познанием, а включенность познания в наше отношение к миру, в наше ›действование‹ в нем.« – Zen’kovskij, Istorija russkoj filosofii, I, 16 (Übersetzung: MM). 63 Im Original: »[…] мы имеем здесь дело с мистическим реализмом, который признает всю действительность эмпирической реальности, но видит за ней иную реальность; обе сферы бытия действительны, но иерархически неравноценны; эмпирическое бытие держится только благодаря ›причастию‹ к мистической реальности.« – Zen’kovskij, Istorija russkoj filosofii, I, 39–40 (Übersetzung: MM). 64 Pavel Florenskij (1882–1937) wird von Spaemann selbst in mehreren Texten erwähnt, vgl. z. B. Spaemann, Perspektive und view from nowhere (2005), 273, Ders., Was heißt »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 342, Ders., Antinomien der Liebe (2007), 22, Ders., Über Gott und die Welt (2012), 267. 65 Titel im Original: »Смысл идеализма«. – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 68–144. – N. O. Losskij zählt diese Studie in seiner »Geschichte der russischen Philosophie« zu den drei wichtigsten Werken Florenskijs. – Vgl. Losskij, Istorija russkoj filosofii, 231. 66 Vgl.: »Проблема универсалий есть вершина основной проблемы философии, и надо ничего не понимать в философии, чтобы не видеть этой про-
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Typologie möglicher philosophischer Lehren, in der je zwei Formen des »Realismus« (»Platonismus« und »Peripatetismus«) und des »Terminismus« (»Conceptualismus« und »Nominalismus«) sowie drittens der Nihilismus unterschieden werden. 67 Terministische Lehren führt Florenskij zurück auf einen »metaphysischen und gnoseologischen Egoismus« 68, der zum Solipsismus tendiert, wohingegen realistische Lehren hervorgebracht werden von der »Empfindung einer Seinsverwandtschaft« 69, die in der Erfahrung von Lebendigkeit begründet ist. Während Florenskij Antike und Mittelalter von realistischen Lehren dominiert sieht, steht das neuzeitliche Denken – in seiner leitmotivischen Kritik an diesem spricht er von der »Renaissancezivilisation« 70 – im Zeichen terministischer Lehren. Ähnlich wie im Denken Spaemanns ist der Umbruch an der Schwelle der Neuzeit bei Florenskij mit der Verdrängung des Lebensbegriffs durch das »Gesetz der Identität« 71 verbunden. Realistische Lehren bzw. der Idealismus sind daher für ihn untrennbar mit dem Begriff des Lebens verbunden: Der Idealismus ist das »Ja« zum Leben, denn eben das Leben ist die ununterbrochene Verwirklichung des ἕν καὶ πολλά. Und wenn man sich fragt, woraus sich die Lehre von den Ideen entwickeln konnte, dann kann man kaum irgendetwas hierzu Geeigneteres finden als das lebendige Wesen. Das lebendige Wesen ist die anschaulichste Erscheinung der Idee. 72
Ähnlich wie Spaemann gibt es auch für Florenskij keine zwingende Evidenz, die zum Idealismus führen kann, sondern es geht dabei um eine freie Entscheidung und den Akt der Anerkennung. Nur durch блемы.« – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 83. – Deutsch: »Das Problem der Universalien ist der Gipfel des Grundroblems der Philosophie und man muss nichts von Philosophie verstehen, um dieses Problem nicht zu sehen.« (Übersetzung: MM) 67 Vgl. Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 79–83. 68 Vgl.: »[…] метафизический и гносеологический эгоизм«, ebd. 83. 69 Vgl.: »[…] движения реалистические порождаются ощущением сродственности бытия«, ebd. 84. 70 Im Original: »возрожденская цивилизация« – vgl. z. B. »Итоги«, deutsch: »Bilanz«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (1), 369. 71 Vgl.: »законъ тождества«, in: Florenskij, Stolp i utverždenie istiny, 27. 72 Im Original: »Идеализм есть ›да‹ жизни, ибо жизнь-то и есть непрерывное осуществление ἕν καὶ πολλά. И если спрашивать себя, из чего могло образоваться учение об идеях, то едва ли можно найти что-нибудь более пригодное сюда, нежели живое существо. Живое существо – это наиболее наглядное проявление идеи.« – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 91 (Übersetzung MM).
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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens
die Wahl der Selbsttranszendenz kann das Gesetz der Identität überwunden werden, wodurch sich die von Zen’kovskij erwähnte philosophische Einbindung des Erkenntnisakts in unsere Handlungsvollzüge ergibt. Der paradigmatische Fall dieses Erkenntnisakts ist für Florenskij die Wahrnehmung der ›Person‹ (ličnost’): »Die Erkenntnis ist also kein Ergreifen des toten Objekts durch das raubgierige gnoseologische Subjekt, sondern eine lebendige sittliche Gemeinschaft der Personen, von denen jede jeder als Subjekt und als Objekt dient. Im eigentlichen Sinne erkennbar ist nur die Person und nur durch die Person.« 73 Ebenso wie für Spaemann ist die Person für Florenskij kein »qualitativer Bestand« 74, geht ihr ›esse‹ nicht in ihrem ›percipi‹ auf: 75 […] die menschliche Person, die nicht sinnlich gegeben ist, die überall im Sinnlichen durchscheint, immer im Sinnlichen schimmert ähnlich einem sich hinter einem Zaun Verbergenden, gerade sie ist das ens realior im Vergleich zu der sinnlichen Hülle, in der sie wahrgenommen wird; die Person ist eine Realität mit einer höheren Dichte im Vergleich zu der mageren Realität der Sinnlichkeit. 76
Wie bei Spaemann ist die Person bei Florenskij paradigmatisch für die ontologische Differenz, die erst von ihr bewusst wahrgenommen werden kann, das Sein aber insgesamt durchwirkt: »Nichts Äußerliches für sich genommen kann mit dem Universale gleichgesetzt werden; andererseits aber ist alles in der einen oder anderen Weise von ihm durchleuchtet.« 77 An dieser Stelle klingt die für die russische Philosophie typische Gedankenfigur der ›Ungetrenntheit‹ und ›UnvermischIm Original: »Итакъ, познанïе не есть захватъ мертваго объекта хищнымъ гносеологическимъ субъектомъ, а живое нравственное общенïе личностей, изъ которыхъ каждая для каждой служитъ и объектомъ и субъектомъ. Въ собственномъ смыслѣ познаваема только личность и только личностью.« – Florenskij, Stolp i utverždenie istiny, 74 (Übersetzung: MM). 74 Spaemann, Personen (1996), 39. 75 Vgl. ebd. 191. 76 Im Original: »[…] личность человеческая, не данная нам чувственно, повсюду в чувственном сквозящая, всегда меж чувственного мелькающая, подобно притаившемуся за частоколом, она-то и есть ens realior в сравнении с чувственной оболочкой, в которой она воспринимается; личность – реальность высшей плотности, в сравнении с тощей реальностью чувственного.« – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 119 (Übersetzung: MM). 77 Im Original: »Ничто внешнее, само по себе, не может быть отождествлено с universale; но, с другой стороны, все, так или иначе, просвечивает им.« – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 136 (Übersetzung: MM). 73
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theit‹ (›nerazdel’nost‹ – ›neslijannost‹) 78 des Transzendenten und des Immanenten an. Dieses Verhältnis ist kennzeichnend für alles Lebendige, in dem es als ontologische Differenz wahrnehmbar ist: »Die ganze Natur ist beseelt, durch und durch ist sie lebendig, – im Ganzen und im Einzelnen.« 79 Dieser lebendige Zusammenhang der Natur kommt nach Florenskij erst in der menschlichen Person bzw. in der Gemeinschaft der Personen zu sich selbst: Wirklichkeit ist nur dem Leben gegeben, der lebendigen Beziehung zum Sein; Leben ist ein unablässiges Umstürzen abstrakter SelbstIdentität, ein unaufhörliches Absterben von Einzigkeit, um in Gemeinschaft zu wachsen. Indem wir leben, gelangen wir zur Gemeinschaft mit uns selbst – im Raum und in der Zeit – als ein ganzheitlicher Organismus; aus einzelnen, nach dem Gesetz der Identität einander ausschließenden Elementen, Teilchen, Zellen, Seelenzuständen usw. usw. sammeln wir uns zu einem Ganzen. So sammeln wir uns zur Familie, zum Geschlecht, zum Volk usw., einen uns zur Menschheit und umfassen in der Einheit des Menschlichen die ganze Welt. 80
Florenskijs Begriff der Gemeinschaft (sobornost’) an dieser Stelle kann im Zusammenhang gesehen werden mit Spaemanns Gedanken des apriorischen Beziehungsraums der Personen, insofern auch für Florenskij die Fundierung des Personseins im Leben die ursprüngliche Verbundenheit der Personen in der Gemeinschaft impliziert. – Über diese knappen Andeutungen kann an dieser Stelle nicht hinausgegangen werden. Deutlich sollte in ihnen jedoch geworden sein, dass eine vergleichende Analyse der Philosophie Spaemanns mit dem
Vgl.: »… трезвое чувство ›нераздельности‹, но и ›неслиянности‹ мира божественного и человеческого …«. – Zen’kovskij, Istorija russkoj filosofii, I, 39. 79 Im Original: »Вся природа одушевлена, вся – жива, в целом и в частях.« – »Общечеловеческие корни идеализма«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 151 (Übersetzung: MM). 80 Im Original: »Реальность дается лишь жизни, жизненному отношению к бытию; а жизнь есть непрестанное ниспровержение отвлеченного себе-тождества, непрестанное умирание единства, чтобы прозябнуть в соборности. Живя, мы соборуемся сами с собой – и в пространстве, и во времени, как целостный организм, собираемся воедино из отдельных взаимоисключающих – по закону тождества – элементов, частиц, клеток, душевных состояний и пр. и пр. Подобно мы собираемся в семью, в род, в народ и т. д., соборуясь до человечества и включая в единство человечности весь мир.« – »Итоги«, deutsch: »Bilanz«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (1), 366 (Übersetzung: Fritz Mierau, in: Florenski, An den Wasserscheiden des Denkens, 254). 78
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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens
Denken beispielsweise Florenskijs aussichtsreich sein und im Sinne Goerdts auch zu einer west-östlichen philosophischen Verständigung zwischen deutscher und russischer Philosophie beitragen könnte. 81
Vgl. den »philosophischen Nekrolog« von Vladimir Mironov und Dagmar Mironova auf Robert Spaemann »Философ и общественная позиция. Роберт Шпеман (1927–2018)«, [Deutsch: »Philosoph und gesellschaftliche Position. Robert Spaemann (1927–2018)«], in: Sociologičeskoe obozrenie. 2019. T. 18. Nº 1, 282–293.
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Schlusswort
Im Ineinandergreifen der Argumentationslinien des zweiten und des dritten Teils dieser Arbeit, des Nachvollzugs eines philosophischen Denkens am Leitfaden des Begriffs der Begegnung im zweiten Teil und der Thematisierung alternativer Perspektiven auf dieses Denken bzw. seinen Themenbereich im dritten Teil, stand immer wieder die Frage nach der Grenze des Wissbaren im Mittelpunkt. Die Kohärenz dieser Arbeit ergibt sich aus einem Geist, der unter Rückbezug auf Kapitel 4 und den amour-pur-Streit vergegenwärtigt werden kann. Ein philosophisches Denken, das sowohl religiösen Inspirationen als auch einer intersubjektiven Verständigung im Diskurs gegenüber offen ist, muss Außenperspektiven auf sich zulassen und die Motive der eigenen Argumentationen reflektieren. Das einzige Motiv, das im philosophischen Diskurs rechtfertigbar ist, liegt im Streben nach Wahrheit. Spaemanns Philosophie, die ausgehend vom teleologischen Phänomen zur Grenze des Denkens im personalen Standpunkt führt, ist in ihrer Klarheit und Nüchternheit ein Versuch, den amour pur zu aktualisieren, auch wenn seine Philosophie sich im Sinne einer Doppelcodierung mit Erwägungen verbindet, die auf andere Motive als das genannte zurückgeführt werden könnten. Spaemann muss nach allem, was diese Studien ergeben haben, als Grenzgänger gesehen werden zwischen dem philosophisch Wissbaren und seinem Anderen – dem Gefühl, dem Unbewussten, dem Absoluten. Und nur von einem solchen Grenzgänger ist auch eine Philosophie der Begegnung zu erwarten, deren Charakteristikum es gerade ist, an dieser Grenze ihr gedankliches Zentrum zu haben. Zum Abschluss sei noch einmal Bezug genommen auf den Begriff der Perspektive, mit dessen Reflexion der abschließende dritte Teil dieser Arbeit begonnen wurde. Der zuletzt thematisierte Pavel Florenskij führte die Entwicklung der Zentralperspektive in der Malerei der
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Schlusswort
Renaissance auf das »Identitätsgesetz des abstrakten Denkens« 1 zurück und untersuchte ihr gegenüber die »umgekehrte Perspektive« als Eigenschaft des »geistigen Raums« ebenso in der Ikonenmalerei wie in zahlreichen Werken der neuzeitlichen Kunst. 2 Das Ergebnis der abschließenden Untersuchungen dieser Arbeit steht in einem engen Verhältnis zu dieser Idee der umgekehrten Perspektive. Der Ausgang von der konkreten – leiblich situierten – Perspektive als Gegenentwurf zur abstrakten – transzendentalen – Perspektive führte seit dem sechsten Kapitel der vorliegenden Arbeit durch die Idee einer Umkehr der Perspektive zur zentralen Verbindung von Teleologie und Personalität. Im dritten Teil wurde dieser Zusammenhang abschließend durch den ontologischen Begriff der Begegnung als ZumSein-Kommen diskreter, von ihrem Aussein-auf bestimmter Entitäten gefasst. Die Seinswahrnehmung, die als Voraussetzung jedes Begegnungsgeschehens gekennzeichnet wurde, ist, da es sich bei ihr nicht um eine qualitative sinnliche Wahrnehmung handeln kann, am genauesten als Schönheitswahrnehmung bestimmbar. Wahrnehmung von Schönheit aber ist die Wahrnehmung eines von der eigenen Perspektive unabhängigen Zentrums von Bedeutsamkeit. Durch diese Wahrnehmung vollzieht sich das Paradoxon der Umkehr der Perspektive im Ereignis der Begegnung.
1 Vgl.: »Перспектива в изобразительности и схематизм в словесности – последствия этого отрыва от реальности; впрочем, это даже не последствия, а последствие, единое последствие – рассудочность, – она же – закон тождества отвлеченного мышления.« – »Итоги«, deutsch: »Bilanz«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (1), 364–365. – Deutsch: »Die Perspektive in der Malerei und der Schematismus in der Literatur sind die Folgen dieser Loslösung von der Wirklichkeit; übrigens weniger die Folgen als vielmehr die eine Folge – bloße Verstandestätigkeit, bzw. das Identitätsgesetz des abstrakten Denkens.« – Übersetzung: Fritz Mierau, in: Florenski, An den Wasserscheiden des Denkens, 252. 2 Vgl. »Обратная перспектива«, deutsch: »Die umgekehrte Perspektive«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (1), 46–103.
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Literaturverzeichnis
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 98 f., 308, 911 Albertus Magnus (Albert der Große) 204, 235, 240, 359, 374 Anaxagoras 220 f. Aristoteles 45 f., 52, 54, 59, 85, 119, 122, 174–177, 220, 222, 225–233, 235–239, 241 f., 274, 287, 290, 306, 308, 312–314, 323, 324–330, 333, 335 f., 338 f., 341–343, 346, 348, 359, 362, 368 f., 373 f., 378, 386, 396, 398, 424, 431, 439–446, 452, 468, 485, 489, 500, 506 f., 533 f., 536, 540 f., 543, 573, 578, 580, 582, 614, 638, 654, 684, 692 f., 734, 770, 791 f., 804 f., 869–874, 876, 878, 882, 885 f., 897, 900–903, 912 Augustinus 78, 103, 204, 354, 359, 483, 505, 569, 630, 793 f., 803 f., 875 Averroes 235, 237, 244 Avicenna 235, 237, 338, 526, 581 Bacon, Francis 139, 217, 246, 377, 730 Bexten, Raphael E. 534, 579 Bloch, Jochanan 23, 25 f., 57, 920, 923 f. Blumenberg, Hans 142, 878 Boethius 579, 792, 804 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 102–125, 133, 135 f., 138, 167, 180, 186 f., 246 f., 300, 319, 342, 350, 363, 444, 735, 761 Breitsameter, Christof 200, 205, 869 Buber, Martin 19–21, 23–26, 28, 58, 184, 851, 920–924
Buchheim, Thomas 79 f., 352, 517, 557, 558–560, 685, 705–707, 716– 723 Campanella, Tommaso 122, 141, 246 Comte, Auguste 124, 167, 363 Cramer, Friedrich 688, 913 Cusanus, Nikolaus 693 Darwin, Charles 248–250, 252–254, 687 Descartes, René 47–50, 60, 103, 107, 119–121, 153–158, 178, 181, 245, 309–313, 323 f., 335, 340, 341–351, 360 f., 363, 373, 376–380, 387, 391, 399, 405 f., 460, 512, 522, 525–529, 531, 533–539, 542, 548–552, 558, 562 f., 573, 594, 606 f., 639, 643 f., 676, 709, 711 f., 714, 727, 731, 741, 765, 781 f., 800, 815 f., 830, 832, 873–875, 912, 925 Duns Scotus 235, 274, 534 Duplá, Leonardo Rodriguez 472 f., 478 Ebeling, Hans 142 f., 878 Empedokles 229 Epikur 140, 159, 234, 445 f. Fénelon, François 103, 113, 133–184, 187, 190, 204, 212, 219, 240 f., 246, 294, 320 f., 337, 350, 434, 450 f., 480, 562, 602, 613, 694 f., 747 Fichte, Johann Gottlieb 21, 183, 868 Florenskij, Pavel Aleksandrovič 890, 928–933, 935 f.
959 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Personenregister Foot, Philippa 673 Foucault, Michel 389–391, 652 Frankfurt, Harry G. 510, 602, 628, 732, 801, 840, 852, 911 Goethe, Johann Wolfgang von 28–32, 412, 482, 518, 656, 903, 918 f. Grimm, Jacob und Wilhelm 22, 662, 890 Habermas, Jürgen 100, 491, 871 Hartmann, Nicolai 98, 768 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 52 f., 57, 68, 99, 102, 111, 114, 176, 258, 268, 271, 297, 299, 308, 316, 330, 345, 398, 444, 560, 572, 584, 726, 793, 796, 868, 897 Heidegger, Martin 48, 98, 323–325, 327, 330, 340 f., 373, 400, 465, 468 f., 614, 768, 926 Henrich, Dieter 63 f., 142 Hobbes, Thomas 49, 111–113, 115, 203, 245, 278 f. Hoerster, Norbert 515 f. Homer 436, 564 f. Horkheimer, Max 98 f., 308, 911 Hume, David 49 f., 103, 512, 525, 529, 531–533, 535 f., 587, 703, 832 Husserl, Edmund 23, 47, 346, 538, 551 f., 670, 674, 760 Isak, Rainer 280–286, 291, 867–869, 912 f. James, William 634 Jantschek, Thorsten 519 f. Jaspers, Karl 268, 707–715, 768 Jean Paul 146, 180, 183 f. Jonas, Hans 266, 284, 871, 913 Kaempfer, Wolfgang 688, 913 Kallikles 305, 387–389 Kant, Immanuel 42, 44, 50–52, 54, 56 f., 66, 68, 74, 77–80, 109 f., 141, 168–171, 183, 197, 243, 250 f., 255, 261–267, 308 f., 311, 325, 340, 361–
363, 369, 393, 399 f., 415 f., 421 f., 425 f., 451–454, 460, 465, 476, 480 f., 484, 495–497, 499 f., 505 f., 523, 537 f., 543, 553 f., 570, 615, 620 f., 682 f., 695, 704, 741 f., 749, 787, 795, 798, 802, 805, 823, 827, 832, 835 Kleist, Heinrich von 172–174, 621, 695 Kobusch, Theo 628, 786–788, 789– 807, 809 f., 818, 828, 832, 861–863 Kruse-Ebeling, Ute 379 f., 471, 684 f. Kuciński, Andrzej 281, 286, 520, 757, 759, 775–784, 861 Kuhn, Thomas S. 253, Langthaler, Rudolf 553, 620 Larmore, Charles 608 La Rochefoucauld, François de 146 f., 190 Leibniz, Gottfried Wilhelm 50, 103, 113, 158–161, 180, 321, 324, 351– 361, 363, 385, 562, 694 f., 732, 748, 810, 818, 821, 832, 842, 892 Lessing, Gotthold Ephraim 748 Levinas, Emmanuel 21, 419, 827, 921 Lewis, Clive Staples 460 Locke, John 49, 103, 512, 525, 529– 533, 535 f., 587, 787, 810, 818–823, 831 f., 840–843 Lorenz, Konrad 251, 257, 260 Löw, Reinhard 185, 215–291, 320, 723, 777, 780, 867 f., 870–872, 900, 912 Madigan, Arthur 757 f. Marcel, Gabriel 21, 923 Meisert, Stefan 624, 757 Meister Eckhart 297 f. Merleau-Ponty, Maurice 924–927 Musil, Robert 35, 537 Nagel, Thomas 548, 657, 813, 815, 828, 911 Nietzsche, Friedrich 74, 187, 261 f., 268–272, 395, 453–455, 460, 477,
960 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Personenregister 668, 723 f., 726, 750, 792, 796, 798, 805, 891 f. Nusser, Karl-Heinz 382, 560 Origenes 576, 799 Ortega y Gasset, José 750–753 Pareto, Vilfredo 304 Parfit, Derek 515, 533, 786 Pascal, Blaise 183, 335, 413, 704 Paulus 199, 567 f., 706, 710 Philon von Alexandreia 78 Pietrowski, Damian 89, 520, 757 Platon 22, 59, 174, 176 f., 191, 207, 219, 220–225, 226 f., 231, 233, 235, 246, 258, 262, 292, 294, 305, 308, 327, 329, 353 f., 375, 384, 386–396, 398, 422, 424, 431, 435–440, 444 f., 452, 489, 500, 506 f., 536, 554, 564– 566, 580, 633, 650, 653 f., 663, 682, 691 f., 707, 709–713, 790, 880, 929 Plessner, Helmuth 61, 69, 75, 392, 447, 458, 798 Plotin 59, 297, 575 f. Portmann, Adolf 686 f., 884, 913 Putnam, Hilary 512, 753 f., 889 Quante, Michael 785, 787 f., 837–859, 862 f. Quine, Willard van Orman 326, 341, 363, 365, 374, 656 Ricœur, Paul 528, 800 Ritter, Joachim 85, 98–100, 102, 105, 124 f., 136, 211, 313–315, 911 Rousseau, Jean-Jacques 108 f., 112 f., 115, 180, 185 f., 187–214, 241, 285, 296 f., 316, 321, 446, 465 f., 469, 639 f., 795 Scheler, Max 510, 630, 666, 668–679, 683, 688, 714 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 557, 561, 762, 767, 824, 832 f. Schiller, Friedrich 453, 872
Schönberger, Rolf 47, 273, 336, 338, 346, 582, 705, 724, 758, 768–774, 861 Schopenhauer, Arthur 169 f., 174, 268, 291, 453 f., 465, 470, 796, 808 Schramm, Matthias 218 f., 250, 254, 263 Schweidler, Walter 33, 60, 670, 683, 737 f., 739 Singer, Peter 515–517, 533 Sokrates 22, 191, 220, 326, 388 f., 436, 530, 650, 709, 795 Spinoza, Baruch de 53, 68, 112, 122 f., 138–141, 200, 247 f., 270, 362, 751 Strauss, Leo 210, 242, 871 Struve, Wolfgang 55–59, 76 Sturma, Dieter 785–788, 808–836, 862 f. Suarez, Francisco 175, 360, 795, 798 Taylor, Charles 800 Telesio, Benardino 122, 141, 246 Tetens, Holm 67, 545 Theunissen, Michael 19 f., 23–25, 57 f., 750, 920–923 Thomas von Aquin 52, 112, 126–131, 139, 150, 161–166, 174, 178 f., 199 f., 219, 234–241, 246, 274, 286 f., 321, 326, 332–336, 339, 353 f., 357, 359, 361, 374, 448 f., 452, 471, 536, 580–582, 587, 680, 719, 730, 780, 804, 807, 869, 871– 875, 877, 882, 901 Wald, Berthold 807 Wetz, Franz Josef 73–75 Whitehead, Alfred North 361–371, 562, 735, 768, 911 Wittgenstein, Ludwig 88, 345, 403, 407, 816 Zaborowski, Holger 33–35, 121 f., 125, 294, 520, 561, 754, 757–759, 760–767, 861 Zwierlein, Eduard 246, 375, 597, 704
961 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
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Sachregister
Absolute, das 125, 136, 186, 240, 246, 258, 292–294, 299 f., 302 f., 309, 318, 354, 379, 382, 396, 398, 406, 409–411, 413, 418, 447, 466, 472, 481, 503, 508, 514, 576, 593–595, 601, 643, 645 f., 648 f., 667, 677, 703, 708, 712 f., 719, 737, 802, 866, 904, 935 Agnostizismus, agnostisch 32, 73, 265, 591, 697, 819, 882 Ähnlichkeit 230, 342, 381, 479, 652– 666, 673, 677, 680, 684, 726, 742, 883 f., 892 f. Aktualisierung, Aktualisierbarkeit 28, 41 f., 54 f., 65, 68, 86, 286, 328, 332, 360, 370, 374, 384, 390 f., 393 f., 396–399, 408, 410, 416, 421– 423, 445, 455 f., 475, 489, 500, 506, 512, 525, 541, 543, 548 f., 551, 554 f., 557, 560, 562 f., 572 f., 597, 599, 638, 682 f., 713 f., 722, 736 f., 753, 765, 804, 864, 869–871, 874, 876 f., 881 f., 885 f., 910 Akzidens, Akzidentien 46–50, 346, 348, 378, 510, 533, 789, 793 amor (s. auch ordo amoris) 144, 148, 162, 165, 436, 463, 507, 555, 568– 570, 630 – amor benevolentiae 394, 396, 411, 413, 420, 456, 468, 473, 478, 480, 487, 555, 598, 732, 778 – amor concupiscentiae 178, 394, 468, 473, 598 Anachronismus, anachronistisch 54, 75, 86, 165, 176 f., 325, 328, 737, 792, 804
Analogie, analog (s. auch metaphysisch-analoges Denken) 42, 51, 76, 197, 259, 267, 278, 329 f., 335, 342 f., 369, 374 f., 377, 383, 389, 406, 420, 460, 462, 478, 513, 536, 552, 558–561, 573, 586–588, 595 f., 599, 646 f., 658–661, 677 f., 684 f., 696, 770, 782 f., 883, 886, 906 Andere, der/das 21, 37, 43, 54, 56, 80 f., 165, 183, 198, 223, 296, 298, 307, 350 f., 370, 392, 417–419, 427, 448 f., 458 f., 468, 472–476, 483, 485, 487 f., 494 f., 498, 502, 504, 546, 555 f., 568 f., 571, 573, 576, 607–609, 620, 640, 662, 683, 695 f., 713, 725, 731 f., 773, 776, 807, 822 f., 827, 834–846, 854, 862 f., 876, 880, 889, 907, 918, 921, 923, 935 Anerkennung 76, 86, 284, 287, 289, 291, 302, 304, 315, 317 f., 321, 326 f., 340, 370, 372, 392–395, 399– 401, 406 f., 411, 418, 420, 443, 471, 475, 483, 487 f., 495, 500, 503, 518, 523, 542, 549, 553, 556 f., 592, 597 f., 607 f., 616, 631, 660 f., 674 f., 689, 715, 722, 732–735, 738, 740– 742, 753, 771, 773, 781 f., 799, 826, 828 f., 834–836, 852, 854, 856 f., 881 f., 884, 889, 906, 929, 931 animal rationale, ζῷον λόγον ἔχον 119, 444, 587, 618, 862, 903 An-sich 331, 448 f., 527, 554, 641 Anthropologie, anthropologisch (s. auch anthropologischer Dualismus) 32, 68, 103, 130, 160, 164,
963 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister 207, 300 f., 331, 334–337, 339 f., 392, 399, 416, 451, 453, 456, 458, 464, 467, 481, 509 f., 512 f., 525, 537, 549, 555, 564, 571 f., 575, 578 f., 583, 618, 644, 736, 742, 766, 777 f., 797, 801, 893 Anthropomorphismus, anthropomorph 29 f., 217, 228, 239, 244, 260, 278 f., 282, 288, 342, 364, 381, 478, 657, 661, 737–740, 883, 887, 891–893, 906, 915 Antinomie 187 f., 211, 287, 422, 439, 441, 444, 447–452, 457, 475, 481, 500, 573, 632 Aporie, aporetisch 32, 43, 57, 135, 206, 213, 421 f., 450, 457, 462, 464, 505, 508, 536, 811, 873 Apperzeption, transzendentale 52, 54, 56 f., 66, 68, 537 Apriori, apriorisch 55 f., 66 f., 250, 255, 267, 315, 399, 465, 513, 554, 598, 601–603, 616 f., 625, 630, 644, 651, 666, 676, 681, 687–690, 774, 856, 880, 886, 889, 891, 904 f., 907– 909, 916, 925, 927, 932 Aufklärung 114, 116 f., 167 f., 191, 202 f., 214, 297–299, 301, 307, 491, 517, 636 Aussein-auf 80, 376, 382, 447, 486, 539, 542, 546 f., 549, 585, 587–590, 593, 595, 597, 599, 601, 610, 646 f., 652, 656, 658, 664, 677 f., 683, 703, 713, 724 f., 727, 741–743, 872, 874, 876 f., 882, 885 f., 888, 898 f., 901, 903, 905, 909, 925, 936 Autonomie 42, 76–79, 154 f., 167, 201, 317, 339, 383, 425, 442, 454, 473, 503, 564–566, 631–633, 635, 691, 798, 802, 823, 832, 835, 841, 852 f., 908 f. Autopoiesis, autopoietisch 538 f., 542, 552, 560, 588 Axiom 138 f., 175 f., 204, 237, 239, 274, 295, 336, 398, 912 Báñezianismus 357, 360 Begegnung 19–22, 24–28, 30–33, 35–
39, 44 f., 52–58, 67 f., 80–82, 85 f., 90, 182, 219, 280, 285, 351, 396, 408 f., 420, 456, 467, 472 f., 475, 482, 488, 514, 555 f., 593, 596, 598, 602–606, 609–613, 615, 621–623, 625, 631–633, 636, 648 f., 652 f., 659, 665, 675, 680, 725, 732, 737 f., 747, 752–757, 774, 786, 790, 803, 805, 808, 811, 832, 835, 839, 861– 867, 877, 879–884, 886–891, 894 f., 898, 900 f., 903–911, 914 f., 917– 920, 922, 935 f. Bewandtnis, Bewandtniszusammenhang 468–472, 554, 569, 588, 771, 773, 876 f., 879 Bewegung 80 f., 85, 221–223, 226– 229, 266, 276, 329, 536, 769, 840, 890–893, 899–901, 904, 906, 909 f. Beweislast 218, 276 f., 381, 475, 543, 687, 689, 845, 893, 907 Beziehungsraum 598, 601–603, 606, 610, 612, 644, 651, 680, 774, 856, 889, 891, 907–909, 916, 925, 927, 932 Bild 31, 55, 81 f., 135, 395, 406, 471 f., 474 f., 479, 481 f., 501, 503 f., 507, 569, 573, 593, 604, 617, 631, 684, 694, 699–701, 712, 748, 753, 773, 877 f., 880, 886, 899, 903 f., 916 Biologie 248 f., 251–254, 259, 396, 686, 692, 912 Blick von nirgendwo, view from nowhere 548, 553, 588, 594, 596 f., 601, 618 f., 663, 677, 731, 874, 917 Christentum, christlich 104, 135, 144, 148, 150, 152, 158, 167, 174, 192 f., 199 f., 205, 207 f., 219, 234 f., 238, 240, 272, 295–297, 302, 315, 333, 336–338, 348, 353 f., 395, 399, 403– 407, 424, 446–448, 454, 468, 506 f., 509 f., 513, 540 f., 564, 568, 571, 574–580, 583, 626, 668, 692 f., 706, 709 f., 726, 732, 762, 765, 778, 786, 794 f., 797, 799, 803–806, 871 Codierung, doppelte 703 f., 725, 727, 744, 935
964 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister cogito, cogitatio 44, 47 f., 98, 120 f., 153 f., 178, 324, 341–351, 372 f., 376–379, 406, 460, 526 f., 532–535, 539, 548, 551 f., 573, 586, 600, 606, 642–644, 647, 672, 676, 678, 712, 733, 752, 754, 781 f., 830, 833, 873, 906, 925, 927 cognitio certa 153, 155, 165, 526, 542, 598 f., 639, 688, 708, 710 f., 713 conditio humana 317, 328, 333, 340, 411, 439–442, 456, 464, 466, 487 f., 504, 612, 623, 638, 734, 737, 754, 806, 832, 862 f., 895 Darwinismus 248 f., 252–254, 269 delectatio 159–161, 178, 694 f., 732 Determinismus 79, 357, 360 f., 626 f., 811 f., 915 Dialektik, dialektisch 20, 25, 57 f., 60, 98 f., 106, 114–117, 122, 129, 177, 197 f., 200, 202, 214, 223, 269, 297, 307, 313, 324, 345, 351, 364 f., 373, 377 f., 398 f., 541 f., 551–554, 566, 600, 604 f., 642 f., 657, 670, 699 f., 710–712, 728, 731, 737, 740 f., 744, 750, 752–754, 760 f., 765, 777, 782, 863, 874, 882, 905, 910, 922 f., 925 Dialog, dialogisch 19–25, 38, 183, 797, 920, 922–924 Dialogik, Dialogphilosophie 20 f., 23, 25–28, 42, 53, 57, 184, 798, 920, 922 Diastase 58, 710, 767 Differenz 32, 42, 62 f., 68–71, 82, 88, 127–129, 338, 346, 527, 546, 572, 577–579, 581, 589, 596, 602, 618 f., 622, 625, 653, 700, 715, 726, 731, 747, 899 – Innen-Außen-Differenz 523, 539 f., 546 f., 552 f., 587 f., 595, 874, 882, 895 f., 898 f. –, innere 59, 128, 130, 339, 349, 578, 580, 585, 617, 620, 624 f., 783, 901 –, ontologische 73, 76, 150, 224, 231, 585, 588, 596, 599, 651 f., 663, 665 f., 677 f., 685, 689 f., 712, 715, 738, 773 f., 784, 870, 874, 888, 899, 901–905, 931 f.
Diskurs, diskursiv 45, 53, 130, 184, 289, 292 f., 376, 390 f., 393, 413, 419, 421, 495–499, 754 f., 791, 806 f., 861 f., 935 Dualismus, anthropologischer 323, 332–334, 339 f., 348, 350, 365, 377, 385, 396, 405, 447, 539–542, 642, 874 dynamis/energeia, δύναμις/ἐνέργεια 225, 368, 884, 900, 905, 909 Einheitspunkt (von Ethik und Ontologie/Metaphysik) 417, 419, 421 f., 476–479, 504, 508, 512 f., 561, 564, 569, 598 Emanzipation 189, 195, 197 f., 205 f., 243, 279, 309, 649, 737, 743, 897 Empirismus 49 f., 529, 533, 535, 767 Entdeckung der Person 508, 513, 563–565, 571–574, 581, 583–585, 588, 592, 596, 598 f., 602, 606, 613, 615, 618, 627, 636, 638, 656, 663 f., 697 f., 704, 713 f., 740, 767, 786, 803, 856, 896 f., 902, 907 f., 924 Entelechie, ἐντελέχεια 122, 198, 204, 213, 227 f., 539, 884, 900 Entfremdung (Selbstentfremdung) 81, 99, 135, 147, 152, 176, 187, 190, 192, 194, 205, 207–209, 562, 639 Entität 71, 74, 521 f., 527, 529, 534 f., 538 f., 548 f., 551, 553, 571, 586, 595, 600, 606, 626, 651, 654, 657, 659, 661, 676 f., 733, 738, 740, 743, 752, 754, 786, 807, 819, 822, 827, 833, 837 f., 840, 844, 846, 850, 858, 873, 875, 881 f., 887, 890–896, 898– 901, 903–906, 909, 917, 925, 936 Entropie (s. auch Negentropie) 602, 604, 609, 611, 613, 622, 648, 688, 718, 879 Entscheidung 21, 303, 306, 463 f., 476, 503, 506, 540, 566, 569–571, 574 f., 588, 591, 594, 619, 629 f., 632 f., 713, 715, 725 f., 777, 780, 875, 930 Entteleologisierung 123, 198, 207, 218 f., 242, 245, 248, 285–287, 331,
965 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister 342, 355, 360, 373, 377, 541, 548, 711, 729, 733, 744, 805, 870, 882, 922 Entzweiung 99, 102, 135 f., 148 f., 152, 157, 176, 187, 190–193, 205, 211, 294, 296–299, 314 f., 640, 735 epekeina tes ousias, ἐπέκεινα τῆς οὐσίας 392, 581, 654 Epistemologie, epistemologisch (s. auch Spur, epistemologische) 68 f., 81, 276, 589, 592, 599, 602, 651, 656, 697 f., 705, 713, 740, 762, 810, 812, 814, 817, 844 Ereignis 20–22, 24–26, 30–33, 42, 78, 80 f., 86, 365, 367–369, 396, 458 f., 467, 470, 472, 508, 555, 563, 569, 574, 593, 597–604, 606, 609, 613, 623, 625, 649, 664, 688, 713 f., 741, 767, 835, 866, 889–891, 898, 904 f., 907 f., 910, 915, 917–922, 936 Erinnerung 28, 31, 88, 317, 364, 383, 457, 530, 532, 607, 609 f., 653, 741, 743, 765, 823, 908 f. Erkenntnistheorie, erkenntnistheoretisch 41, 44, 48 f., 56, 107, 244, 250, 255, 675, 690, 698, 723, 888, 893, 902 Erscheinung 51 f., 265, 418, 475, 499, 503, 557, 590 f., 666, 686, 688 f., 691, 697, 796 – des Seins 475, 593, 596, 776 Erwachen, Erwachtheit, Erwachtsein 394, 459, 462–464, 467, 469 f., 473– 475, 477, 479–481, 484, 494, 500, 505, 507, 554 f., 569, 588, 591, 604, 610, 617, 619, 633, 866 – ursprüngliches Erwachtsein 463 f., 466, 481, 555, 570, 605 Es-ist-zu-sein-Zustände 657, 659, 813, 829, 835, 840 Essayistik, Essayismus 34 f., 88, 172, 808, 837 esse 150, 338 f., 341, 343, 348 f., 350, 360 f., 374, 405, 488, 533 f., 581, 596, 598, 660, 700, 731, 794 f., 798, 800, 874, 902, 931
essentia 150, 339, 341, 348, 350, 360 f., 405, 488, 534, 874 Essenz 127 f., 130, 597, 901 f., 904 f. Ethik 109, 136, 138, 140 f., 145, 159, 167–169, 180, 247, 249, 260, 304, 306, 308 f., 311, 387, 397, 402, 407, 409, 411, 413, 416–423, 425, 428, 435 f., 446, 448, 476, 485, 490–500, 502, 554, 683, 695, 698, 738, 775, 785 – Pflichtethik 309, 422, 451–455, 460, 484, 506 Eudämonismus, Eudämonie, εὐδαιμονία 111, 140 f., 145 f., 167–169, 176, 180, 308, 311, 315, 416, 421– 425, 428 f., 430–438, 440 f., 443– 447, 448, 450–457, 460, 467, 475 f., 485, 489, 506, 554, 562, 573, 638, 802, 832 Evolution 248–261, 270, 281–285, 364, 385 f., 666, 681, 686–688, 700, 719 Existenz 73, 127 f., 130, 325, 337–339, 349, 354, 393, 405, 417, 502, 559 f., 581, 586, 593, 597, 708–710, 715, 721 f., 784, 809, 814 f., 817–820, 822 f., 825–827, 833, 836, 892, 901 f., 904 f. Existenzphilosophie, existenzphilosophisch 188, 196, 212, 294 f., 297 extensional/intensional 70 f., 343, 515 Exzentrizität, exzentrisch (s. auch Positionalität) 42, 61 f., 69–71, 73, 80, 392 f., 397, 447, 458 fieri aliud inquantum aliud 296, 392, 449, 458, 732, 740 finis cuius/finis quo (finis cui) 231– 233, 237, 239, 244, 277, 288, 290, 376, 431, 468 f., 474, 630, 870, 876, 903 Freiheit 42, 56, 76–81, 106, 115, 158, 168, 189, 197, 204, 282, 284, 315, 317, 352–358, 360 f., 400, 404, 425 f., 430, 451, 461, 463–466, 473, 497, 503, 514, 556, 565–567, 576,
966 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister 581 f., 594, 598, 602, 622 f., 625– 635, 638, 641, 645–647, 677, 708, 733, 741, 760–762, 785 f., 789 f., 793–807, 809, 811 f., 828, 831, 879– 881, 883, 902, 914 f., 917 Funktionalismus (Funktionalisierung), funktionalistisch 120 f., 124–126, 136, 139, 300 f., 307, 313, 403, 425, 431, 444, 685 f., 743, 886, 888, 897, 904 Für-sich 331, 366, 394, 448 f., 726 futurum exactum 648, 703–705, 707, 714–716, 718, 721, 744, 772, 856 Gabe 203, 443 f., 464, 468, 473, 475, 505, 897 Geltung 221 f., 259, 325, 385 f., 396, 411, 417, 420, 471, 477, 672, 743 genius malignus, Täuschegeist 155, 344, 347 f., 781 Gewissen 210 f., 310 f., 409–411, 415, 418, 454, 514, 614, 618–621, 635, 641, 917 Glaube 57 f., 124 f., 134, 136, 167 f., 177 f., 181, 272, 282, 295–297, 301, 337, 363, 402, 404 f., 437, 452, 571, 575, 704–715, 723–727, 738, 741, 744, 792, 805, 882 Gleichnis 31, 88, 144, 173, 363, 424, 433 f. Gnade, gratia 140, 150, 199–201, 207, 235, 240, 355, 357, 359 f., 468, 540, 777, 793, 797 f., 806 f., 921 Gott, göttlich 29 f., 56, 59, 103–105, 110 f., 124, 126–130, 134 f., 144, 147–151, 156–159, 162–164, 167, 170, 172, 174–176, 181 f., 199–201, 207, 223, 231–234, 236–240, 244, 246, 269, 272, 274, 283, 287, 290, 295, 298, 300–303, 333–337, 347– 349, 352–361, 394 f., 399, 404 f., 407, 431, 440, 443 f., 447, 449 f., 464–466, 468, 481 f., 492, 509 f., 540, 568, 570, 575–582, 595, 610, 613, 638, 643, 645–648, 678, 693 f., 703–708, 710–712, 722–724, 726 f., 777 f., 782, 792, 797–799, 802,
806 f., 870 f., 873, 875 f., 878, 886, 897 f., 904 – Gottesbeweis 302, 648, 667, 704, 714 f., 723 f., 744 Grammatik 44, 509, 578, 723, 792, 816 Gute, das 59, 207, 223–225, 229, 290, 292, 304–306, 320, 387–389, 392, 395, 408, 411, 436–440, 445, 451, 507, 554, 566, 571, 587, 654, 669, 675, 680, 682 f., 691, 708–710 Hermeneutik, hermeneutisch 85 f., 89, 100, 117, 136, 295, 306, 308, 314, 331, 340, 424, 439, 441, 513, 563 f., 570, 573 f., 583, 741, 803, 839, 851, 918, 924 Herrschaft 61, 114, 195, 217, 245, 277–279, 298, 317, 496 f., 528 f., 535, 549, 565, 570, 607, 646, 726, 742–744 Herz 183 f., 513, 564, 570 f., 574 f., 580, 589, 591, 602, 627, 630 f., 705, 803 f. Horizont 32, 41 f., 44, 55 f., 58 f., 61– 63, 65, 69–71, 81, 86, 97, 130, 272, 289 f., 292 f., 344–348, 363, 392 f., 418, 429 f., 432, 442, 445, 447, 458 f., 466, 479, 487, 550, 562 f., 566, 570, 573, 613, 621, 718, 874 hypokeimenon, ὑποκείμενον 45 f., 82, 226, 368 Hypostasierung, hypostasieren 74, 410, 527, 534 f., 537, 539, 548 f., 553, 586, 595, 600, 606, 651, 677, 733, 738, 740, 743, 752, 754, 807, 833, 873, 875, 881 f., 906, 917, 925 Ich-Du/Ich-Es 19 f., 24 f., 57 f., 851, 921–924 Identität 80, 126–129, 148, 150, 152, 159 f., 175, 177, 207, 211 f., 224, 257, 271, 297, 301, 305, 367 f., 371, 382, 421, 437, 482, 513, 522 f., 527, 529–531, 536, 555, 571, 606, 610, 615, 622, 633, 637, 639 f., 649, 653,
967 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister 662, 678, 682 f., 709, 783 f., 823, 827, 833, 838, 843, 847, 849, 851, 854, 857, 873, 881, 888, 890–892, 899 f., 902, 922, 930–932, 936 –, numerische 527, 534, 555, 593, 838 –, personale 50, 514, 529–533, 587, 600, 607, 613, 623, 786, 818–822, 831, 837, 840, 844, 881 Idiosynkrasie 55, 70, 108, 111, 155, 345, 379, 551, 594 f., 661, 674, 697, 715, 738, 740, 885, 889, 915 Imperativ 397, 475–477, 481, 494, 570 –, kategorischer 77, 169, 308, 415, 452, 454, 495, 499, 823, 863 Impersonalität, impersonaler Standpunkt 823, 832, 835, 863 Indexikalität 662 f., 665, 822 f., 831, 880, 887 Inkommensurabilität, inkommensurabel 213, 377, 430, 471, 479, 514 f., 615, 659 Instantaneität, instantan 50, 527 f., 530–533, 535, 600, 606 f., 609, 622, 672, 779, 833 Intellektualismus 424, 435, 437 f., 443, 566 Intention, Intentionalität 19 f., 42, 56–59, 62 f., 65, 68 f., 81, 115, 188, 216, 218, 224, 288, 302, 349, 376, 401, 411, 435, 438, 442, 538, 542– 551, 554–556, 604, 635, 641, 643, 647–649, 672, 674–676, 678, 683, 688 f., 801, 816, 819, 871, 874, 921 – intentio obliqua 433, 438, 607, 775 – intentio recta 89 f., 225, 433 f., 438 Interesse 48, 55, 63, 65, 68, 70, 81, 106, 111, 117, 134, 141, 146–148, 159, 163, 176–178, 182, 245, 266, 276–279, 293, 298, 305, 318, 379, 386–389, 409, 412, 437, 446, 467, 474 f., 482, 484, 495 f., 498, 573, 607 f., 613, 617 f., 632, 635, 638, 664, 685, 694, 696, 728, 741–743, 827 f., 835, 877, 897–899, 903 – interesseloses Wohlgefallen 63, 161, 682 f., 685, 687, 695
Interpersonalität, interpersonal 81, 456, 472 f., 475, 488, 502, 507, 555 f., 593, 596, 604 f., 612, 621 f., 631, 649, 652, 659 f., 665, 675, 680, 738, 752 f., 822, 832, 835 f., 862, 866, 877, 879, 883 f., 886, 888 Intersubjektivität, intersubjektiv 20, 80, 367, 370, 420, 467, 527 f., 532, 602, 604–606, 608 f., 612 f., 616, 622 f., 625, 793, 796, 798 f., 803, 845, 855, 876, 879, 908, 922, 925 Intuition, intuitiv 33, 35, 44, 53, 55, 76, 154, 319, 410, 413, 416, 421, 439, 457, 492, 494, 615, 626, 764, 804, 845, 851 Iteration 272, 293, 463, 601, 618 f., 676 Kausalität, kausal 78, 161, 168, 181, 216 f., 231, 234, 242, 246, 248, 252, 254–256, 259, 261, 264–266, 274, 276–278, 287, 289 f., 298, 355 f., 379, 459, 486, 539, 543, 647 f., 673, 689, 743, 769, 811 f., 839, 844, 846, 851, 854, 872, 906, 912, 915 koinon, κοινόν 149, 171, 181, 292, 296 f., 308, 388, 390 Kompromiss 388, 424, 444–446, 482, 485, 489, 638 Kontemplation, kontemplative Haltung 63, 107, 133 f., 440, 480 f., 689, 719, 884, 886, 896–899, 903, 919 Kontext –, apriorischer 602, 616 f., 625, 880 –, universaler 614, 617, 625, 652, 659, 661, 663, 880 Kontextunabhängigkeit 514, 602, 614–617, 619, 636, 652, 659, 663 Kontingenz, Kontingenzbewusstsein 42, 72–76, 86, 127, 129 f., 149, 270, 338 f., 341, 348 f., 354–358, 363, 405 f., 410 f., 442 f., 464 f., 482–488, 492, 503, 561, 563, 573–577, 581, 584 f., 593 f., 599–601, 638, 655, 686, 704, 712–715, 719, 735, 767,
968 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister 799, 804, 825 f., 828, 832–834, 847, 868, 874, 901–903, 905 f., 908, 917, 919 f. Kontinuum 80, 555 f., 604–606, 612, 616, 626, 629 f., 632, 652, 655, 659, 661, 664, 753, 881, 922, 924 f. Korrelation, korrelativ 20, 391, 584, 676 f., 904 Krise 97, 100 f., 126, 221, 234, 278 f., 294, 312 f., 317, 453, 525, 536, 760 f., 766, 797, 800, 832 liberum arbitrium 567, 627 Liebe 31, 109, 156, 159 f., 163–165, 169, 174, 178, 182–184, 301 f., 319 f., 410, 451 f., 468, 474, 555 f., 567 f., 571, 604, 630–632, 641, 649, 668, 732, 923 – Eigenliebe, amour propre 138, 145–148, 152, 160, 162–164, 175 f., 182, 190, 208, 450 –, reine, amour pur, amore puro 133– 135, 138, 140, 143–146, 148, 150– 153, 158, 160 f., 163, 165, 167–170, 172, 175, 177 f., 181, 350, 480, 562, 613, 682, 694 f., 935 – Selbstliebe, amour de soi 109, 162– 164, 169, 171, 177 f., 184, 190, 207– 209, 234, 473, 568 metabasis, μετάβασις 598 f. metanoia, μετάνοια 168 f., 458, 466 f., 469 f., 499, 573, 741 Metaphysik, metaphysisch (s. auch Realismus, metaphysischer) 23, 28, 46, 56, 58, 66, 68, 73–75, 98– 101, 103–105, 111 f., 116, 122, 124– 126, 130, 138, 141, 156–159, 160, 171, 178 f., 254, 256, 258, 261, 269, 272, 281, 291, 295, 324, 326, 336, 356, 360, 362, 372, 394, 396, 402– 404, 406 f., 410 f., 417–420, 422 f., 444, 456, 462, 471, 476–479, 500, 502–504, 513, 523, 533, 537 f., 542, 580–583, 585, 588, 609, 673, 675, 678, 703, 713, 715, 725 f., 738–740, 776–778, 781, 789–807, 812, 815,
831, 835, 889, 901–903, 906, 909, 930 – metaphysisch-analoges Denken 373, 375–381, 384, 391, 397, 400, 406, 411, 460, 462, 467, 533, 549, 552 f., 555, 559, 587, 590, 644 f., 647, 657, 661, 676, 712, 714, 733, 765, 782, 830 f., 874, 925 methexis, μέθεξις (s. auch Teilhabe) 232, 290, 336, 431, 447, 777, 870 f., 878, 886 Moderne, modern 97–99, 103, 106 f., 122, 124 f., 135, 148, 189, 206, 210, 214, 314, 316, 321, 328 f., 332, 384, 389, 399, 465, 491, 639 f., 760–762, 765 f., 800 Möglichkeit, möglich (s. auch potentia, dynamis) 72–75, 108, 225–228, 325, 352–354, 356, 398 f., 439, 443, 467, 584, 586, 590, 593, 693, 715, 738, 767, 897, 899–902 Molinismus 355, 357, 360 Monismus, monistisch 200, 249 f., 281, 284 f., 543 f., 642, 814, 824 Mystik, mystisch 128, 133, 136, 143, 145, 149–151, 153, 156–158, 170, 182, 184, 251, 297–299, 388, 410, 929 Mythos 193, 353, 464–466, 468, 481, 505, 508, 570, 605 f., 766 f. Nähe 484, 502, 652 f., 655 f., 659, 662–665, 667, 680, 703, 867, 883 f., 887 Natur (s. auch physis) – Haben einer Natur 69, 71, 82, 512, 517, 561, 592, 599–602, 607, 612 f., 623–625, 637, 642, 649, 651–653, 659, 661, 677, 718, 780, 784, 801– 803, 831, 833, 853, 866, 880, 891, 902 f., 917 – natura pura 201–205, 208, 335, 359 f., 465 – Naturbeherrschung 245, 274, 277– 279, 298, 317, 638, 897 – Naturphilosophie 32, 240, 252, 262, 361 f., 524, 541, 690, 911
969 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister – Naturrecht, naturrechtlich 186, 195, 203, 294, 311, 313–318, 759, 775, 777, 795 – Naturwüchsigkeit 317, 623 Naturalismus, naturalistisch 111, 285, 317, 331 f., 339, 365, 377, 385, 392, 394, 399, 408, 455, 542, 618, 627, 642, 657, 682, 710, 719, 725, 728, 731, 740 f., 744, 765, 787, 814, 828, 882, 922 Natürliche, das (s. auch das Vernünftige) 42, 61–63, 68, 80, 307 f., 340, 372, 381, 385 f., 389, 391, 394–396, 447, 456 f., 486, 540, 589, 596, 645 f., 737, 862 Negation, negatio 28, 58, 68, 99, 118 f., 128, 157, 178, 272, 287, 325– 328, 369, 416, 447, 470, 525, 541, 560, 562, 598, 843, 874, 888 –, bestimmte 98, 524, 826, 857 –, doppelte 271, 524 f., 550–553, 556, 587 f., 594, 676, 683, 857, 874–877, 882 Negativität, das Negative 24 f., 42, 58 f., 65, 86, 90, 92, 151, 181, 257, 294, 382, 392, 406, 409, 474, 522, 524, 546–549, 585, 614, 660, 683 f., 688, 726, 874, 923 Negentropie 612, 623 Nihilismus, nihilistisch 123, 126, 221, 268–270, 278, 470, 472, 555, 569, 631, 695, 893, 930 Nominalismus, nominalistisch 244, 358, 497, 654, 930 Normalität 215, 276, 362–364, 381, 424, 438–441, 443–445, 464, 466, 476, 485–487, 489, 504, 512, 585, 638, 865, 917 Notwendige, das, notwendig 72 f., 79, 126–129, 193, 201, 209, 221, 223 f., 259, 263, 283, 334, 353, 356, 386, 566, 576 f., 693, 767 – necessarium ex suppositione, das bedingt Notwendige 128–130, 747 nous poietikos, νοῦς ποιητικός 333, 567
Offenheit, das Offene 68 f., 120, 216, 349, 364, 631 f., 640, 666, 767, 786, 831, 882, 902–905, 908 oikeiosis, οἰκείωσις 216, 277, 362, 529, 566, 568 on he on, ὄν ᾗ ὄν 324 f., 327, 341 Ontologie, ontologisch (s. auch Substanzontologie) 24 f., 42, 45 f., 68– 70, 73, 81 f., 111, 127, 136, 138–140, 148–151, 163, 165, 170, 179, 199, 219, 223, 226, 235, 247, 255, 265, 268 f., 271 f., 290, 302, 314, 318, 326, 330, 352, 356, 358, 364, 366– 368, 370 f., 377, 397, 403, 413, 420– 423, 464, 466 f., 476–478, 483, 487, 489 f., 500–502, 504, 508, 510, 512 f., 515, 525, 536 f., 540, 544 f., 547, 552, 554 f., 561, 564, 567, 569 f., 572–574, 579, 601, 603, 610, 642, 653, 661, 665, 674, 676, 684 f., 690, 694, 705, 722 f., 727, 756, 776– 778, 789, 791, 794, 801–804, 812, 814 f., 864 f., 883 f., 888, 903, 905 f., 921–923 – der Person 514, 517, 613, 651 f., 654, 659, 662, 665–667, 675, 678, 690 f., 698, 702 f., 725, 782, 787, 802, 809, 811, 834, 862, 864 f., 867, 869, 879, 883, 889, 891, 902, 916 f. – des Zwischen 24 f., 58, 923 ordo amoris 162, 171, 456, 483, 485– 487, 489, 501 f., 734 Organ des Allgemeinen (s. auch Vernunft) 566, 568, 571, 574, 596, 613 f., 617, 682, 712, 907 Organismus 263, 266, 371, 392, 484, 632, 637, 841, 846, 848 f., 854, 857 f., 862, 932 Paradigmenwechsel 104, 497, 563, 913 Paradoxon, Paradoxie 24, 62, 76, 80 f., 126, 128–130, 208, 212 f., 230, 316, 376, 439–442, 456, 459, 463 f., 466, 473 f., 479, 481 f., 504 f., 507, 575, 577 f., 589, 619, 634, 640, 646, 652,
970 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister 677, 696–700, 743, 752 f., 880 f., 899, 920, 922 f., 936 perceptio, clara et distincta 153, 340, 343, 374, 420, 460, 542, 550, 557 Person, Personalität 31 f., 49, 69–76, 130, 297, 378 f., 393, 399 f., 463 f., 474, 484, 501–504, 507 f., 509–650, 651–653, 659–666, 675–678, 681, 683, 696–698, 731–734, 761–767, 771–776, 778–784, 785–859, 867, 879–881, 883–888, 891, 902, 907– 910, 915, 931 f. – personaler Ort 533 f., 589, 594– 596, 599, 601, 678, 719, 831, 881, 884 f., – personaler Standpunkt 42, 69–76, 560, 565, 574, 581, 603, 613 f., 651 f., 677, 682, 712, 738, 740, 802, 810, 824, 827, 880, 935 Perspektive, perspektivisch 73, 128– 130, 172 f., 327 f., 350, 354, 375, 378, 394, 417, 421, 434, 439, 441, 449, 469 f., 478 f., 483 f., 517, 520, 522 f., 561, 567, 569 f., 573, 577, 592, 600, 603, 611, 651 f., 662–666, 680, 682–684, 690, 699, 706, 747– 756, 861, 864, 893–895, 899, 902, 904, 906 f., 935 f. – perspectiva artificialis/pingendi 749, 864, 894 – perspectiva communis/naturalis 749, 753, 864, 894–896, 898–901, 904, 906 f., 910 –, umgekehrte (Umkehr der Perspektive) 42, 81, 394, 666, 747, 752 f., 864, 895, 907 f., 910, 936 petitio principii (s. auch Zirkel) 98, 254, 308, 382, 585, 714 Phänomenologie, phänomenologisch 23 f., 299, 331, 456, 467, 551 f., 653, 659, 666 f., 668, 670, 674, 678, 683, 760, 797, 802, 924, 926 Philosophie 25 f., 32, 34, 38, 85, 97, 100, 103–107, 138, 151, 292–300, 303, 307, 362–366, 384, 398–401, 403, 418, 439, 650, 703, 711, 713, 741, 744, 917 f., 935
– philosophia prima, Erste Philosophie 100, 105, 116, 124, 180, 399, 401, 403, 762 –, positive 557, 561, 599–601, 650, 762, 767, 916 physis, φύσις (s. auch Natur) 59, 196, 323, 343, 374, 378, 401, 408, 411, 533, 567, 579, 684, 701, 734 f., 737, 743, 802, 891, 898 – physei onta, ϕύσει ὄντα 59, 226, 696 Platonismus 107, 234, 930 poiesis, ποίησις 426, 656, 680, 684, 691, 883, 897 Polis 191 f., 306–308, 311, 335, 424, 441–447, 485, 638 Positionalität, exzentrische (s. auch Exzentrizität) 42, 61, 70 f., 73, 80 potentia (s. auch Möglichkeit, dynamis) 225 – oboedentialis 201, 205 Potenz-Akt-Schema, Potenz-AktLehre 139 f., 179, 581 Präreflexive, das, präreflexiv 64, 287, 289, 376, 379, 457, 756, 825, 862, 877, 899, 905, 926 f. praxis, πρᾶξις 151, 199, 235, 312 f., 426 f., 440, 442, 845, 855, 859, 897 Realdistinktion/Realunterscheidung 127, 130, 150, 339, 341, 348–350, 360 f., 405, 533 Realismus, metaphysischer 512 f., 525, 556 f., 563 f., 583, 599 f., 714, 723, 738, 741, 753 f., 760, 778, 781, 864, 889, 929 recurvatio 240, 555, 875 reductio ad absurdum 313, 550, 626 f., 723, 881, 893 Reduktionismus, reduktionistisch 37 f., 73, 122, 280, 282, 284 f., 290, 331, 368, 370, 382, 394, 480, 545– 547, 549, 589–591, 626, 647, 657, 686 f., 689, 787, 797, 808, 810, 812– 816, 818, 828 f., 912 f., 922 Referenz, numerische 521 f.
971 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister Reflexion 33, 74 f., 119, 130, 134, 138, 141, 144–149, 153–156, 159–161, 173 f., 176 f., 204, 289, 292 f., 328, 449–451, 480, 613 f., 617 f., 620 f., 641–644, 908 f., 926 – Reflexionsphilosophie 107 f., 168, 175 – reflexive Wendung 63, 65, 73, 80, 336 f., 348–350, 365, 370, 378, 391, 399 f., 405 f., 447, 568, 571, 573, 584, 588 f., 596, 601, 651 f., 664, 677, 740, 742, 749 f., 826, 829, 863, 876 f., 879 f., 883, 888, 896 f., 905, 907 f. Relationalität 69, 71, 510, 673 Religion, religiöses Denken, Religionsphilosophie 42, 57, 73, 99, 104 f., 125, 131, 167, 192 f., 250, 296, 299 f., 310, 338, 402–407, 413, 446, 505, 637, 643–647, 706, 763, 777 f., 780, 797 Repräsentation, repraesentatio 233, 238, 290, 302, 322, 358, 372, 395 f., 406 f., 411, 418, 420, 471, 479, 494, 499, 501, 503 f., 604, 608 f., 680, 690, 701, 866, 870, 878, 886 res cogitans 48, 245, 324, 340, 342 f., 345 f., 348 f., 377 f., 405, 522, 531– 535, 537, 539, 541 f., 548, 731, 777, 782, 815, 830 Schein 33, 116, 148, 189, 191–193, 197, 205, 209, 291, 426, 433, 554, 565, 639 f., 643, 691 f., 698–700, 775, 910 Schöne, das 386, 436 f., 666, 680–702, 885 f. Schöpfung 29 f., 126–129, 157, 234, 238, 240, 265, 267, 283 f., 336–338, 348, 353 f., 356, 404–406, 540, 575– 577, 580, 645–647, 692–695, 727, 764, 767, 771, 861, 871, 874, 901 Schwebe 303, 555, 594 f., 601, 644– 646, 649, 677, 712 f., 715, 719 Seele 51, 56, 134, 149 f., 170, 184, 223, 333, 360, 441, 512, 525, 532, 533 f., 537–543, 548 f., 552 f., 556,
560, 570, 579, 586, 588, 606, 647– 650, 709 f., 778, 785, 815, 928, 932 Sein 324–330 – Dasein 56, 70, 72 f., 75 f., 82, 104, 111 f., 119, 123, 127–129, 140, 146, 174, 195, 205, 209, 221, 229, 248 f., 260, 278, 307, 314, 325 f., 338, 379, 416, 427, 442, 448, 468, 539, 542, 581, 585, 588, 593, 596, 615 f., 624, 651, 658, 668, 672–678, 683, 685, 690, 708, 712 f., 715, 717, 738, 825, 888, 899, 902 f., 905, 915 – Mitsein (Mit-Sein) 42, 76, 181, 245, 367, 391, 393, 400, 557, 726, 774 – Seinlassen 168, 317 f., 370, 391, 400, 494, 556 – Seinsakt, Akt des Seins 349, 534, 564, 581, 584, 590, 592, 697 – Selbstsein 32 f., 41 f., 44, 53–55, 82, 221, 259, 261, 289, 291, 302, 329, 366, 371, 391, 394, 413, 417–419, 421, 471, 473, 476 f., 479, 483, 485, 488, 494 f., 499, 502, 507, 512, 525, 555 f., 569, 579, 583, 598, 604, 607, 614 f., 631 f., 674, 688 f., 695–699, 708, 712, 725, 730, 733–735, 743, 753, 761–764, 769, 771 f., 884–886, 889, 906 f., 923 – Sosein 72 f., 76, 122, 129, 175, 222 f., 231, 325 f., 338 f., 349, 405, 488, 508, 528 f., 534 f., 555 f., 558, 571, 577 f., 581, 584 f., 588, 590, 593 f., 596, 614, 618, 627, 651, 661, 663–665, 674, 677, 685, 690, 697, 712, 715, 717–719, 722, 738, 779, 783 f., 881, 887 f., 899, 902, 905 Selbstdarstellung 395, 666, 686 f., 689 f., 884, 886, 888, 904 f. Selbsterhaltung 105, 112 f., 118, 120, 123 f., 139–143, 164 f., 198, 204, 225, 231–233, 246–248, 268, 270, 290 f., 330, 445, 448, 469 f., 494, 648 f., 665, 671, 690, 870, 876, 878, 886, 888, 908 Selbstverständliche, das 276, 292 f., 302, 362, 407, 410, 760, 912
972 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister Selbstzentriertheit 465 f., 552 f., 556, 629, 766, 874 Sinnenwelt/Verstandeswelt, κόσμος αἰσθητός/ κόσμος νοητός 78, 80, 499 Solipsismus, solipsistisch 23 f., 108, 331, 343, 347, 421, 469, 532, 574, 591 f., 599, 605, 713, 715, 725, 738, 740, 781, 835, 876, 930 Sortale, sortaler Ausdruck/Term 368, 515, 518 f., 521, 524, 837, 846, 848, 853, 858 f., 862 So-und-So, das 348, 519, 521 f., 524, 659, 681, 696, 884 Spekulation, spekulativ 42, 104, 130, 143, 157 f., 177 f., 181, 202, 348, 350 f., 360, 363, 373, 377 f., 380, 391, 393, 405 f., 512, 548, 551–553, 557, 573, 578, 644, 658, 669, 678, 690, 712, 716, 719, 767, 815, 874, 885, 904 Spiel 432–434, 638, 640 Spiritualismus, spiritualistisch 103 f., 285, 360 f., 642, 657, 710, 728, 731, 740 f., 744, 765, 814, 828, 882, 922 Spontaneität 62, 68, 70, 76, 146 f., 149, 151, 161, 170, 174, 181, 184, 204, 357, 451, 464, 481, 602, 604 f., 613, 656, 680, 730, 751, 872, 875, 883 Sprung 64, 147 f., 155, 260, 396 f., 411, 413, 418, 420 f., 456, 458 f., 475–478, 512, 523, 552, 561, 564, 573 f., 583, 598–600, 714, 778, 827, 834, 905 Spur, epistemologische 592, 599, 651, 656, 697 f., 713, 740 Stoa, Stoiker 234, 265, 446, 564, 566, 568 Subjekt, Subjektivität 19 f., 24, 44– 54, 105–110, 153–156, 341, 346 f., 349 f., 399–401, 527–529, 531–533 – Subjektphilosophie 66, 141, 180, 287, 295, 366, 399, 403, 749–751, 873 f., 882, 906–908 – Subjekt-Wechsel 41, 50, 54, 56, 60, 346, 531, 592
Substanz 46–54, 346, 348–350, 378, 471 f., 533 f., 592 – Substanz/Akzidens-Schema 47 f., 346, 378, 533 – Substanzontologie, substanzontologisch 41, 47–50, 53, 57, 178, 184, 323, 350, 370, 399, 531, 562, 789, 791, 796, 804 f., 902 – Substanz-Subjekt 41 f., 54 f., 68, 82 Sündenfall 148 f., 173, 201 f., 205, 207 f., 211, 465, 468, 505, 570, 605 f., 766 Symbol (Symbolisierung), symbolisch 124, 291, 302 f., 433, 456, 481 f., 608, 638, 680, 686, 698–700, 894, 910 Szientismus 331, 371, 381, 691, 700 Teilhabe (s. auch methexis) 59, 110, 116, 129, 224 f., 232 f., 238, 246, 290, 302, 336, 438 f., 445, 447, 540, 577, 580, 638, 678, 777, 870 f., 873, 876, 886, 903, 929 Teleologie (Naturteleologie) 31 f., 179, 213, 215–291, 330, 338, 359, 370, 374, 381, 385 f., 389 f., 393 f., 396, 400, 406, 411, 416, 420, 427, 461, 466, 477, 482, 523, 536, 554 f., 567, 585, 588 f., 593, 595 f., 639, 645, 690, 730, 733, 736, 739, 744, 758, 762–765, 769, 772–780, 802, 861, 863, 867–878, 882 f., 901–904, 912, 915 f., 923–925, 936 – der Selbsterhaltung 117 f., 123, 268, 272, 291 –, immanente 30, 200, 231 –, invertierte 139, 186, 198, 225, 246– 248, 290, 339, 448, 450, 694 – Universalteleologie 234, 242 f., 262, 265, 267, 287, 366, 896 Teleomatie 252, 257 f. Teleonomie 229, 234, 249, 252, 258, 291 telos, τέλος 59, 178, 198, 200, 204, 228, 229–231, 233, 236, 238–241, 246, 270, 431, 445, 777, 870, 882
973 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister Theologie 24, 57, 74, 100, 135, 157, 167, 201, 238, 241, 247, 280, 282– 284, 291, 295, 300, 355, 359, 396, 399, 406, 513, 564, 574 f. 579, 581 f., 584, 586, 590, 597, 803, 806, 871, 920 Theologisierung (der Ontologie) 24, 348, 351, 360, 377, 379, 405, 460, 548 f., 552, 595, 643 f., 650, 676, 733, 741, 779 f., 782, 784, 802, 806, 830, 871 f., 874 f., 877 theoria, θεωρία 125, 130, 233, 312, 440 f., 443 f., 478, 540, 567, 599, 874, 897 thyrathen, θύραθεν 333, 396 f., 478 Totalität 31, 124, 158, 192, 202, 213, 264, 266, 314, 367, 397, 449, 503, 572, 574, 596, 615 f., 621 Trias, Trichotomie (Sein – Leben – Denken/Person) 375, 536, 560, 730 f., 778, 782 Trieb 62, 198, 207, 224, 278, 375, 395, 452–454, 459, 461, 468–470, 473, 475 f., 484, 507, 540, 546, 626, 656, 660, 673, 685, 690, 772, 895 f., 898 f., 904 – Triebhang 470, 474, 555, 569, 612, 633, 747, 752 Transzendentalphilosophie, Transzendentalismus 19, 23 f., 42, 51, 56–58, 68, 76, 255, 298–300, 364, 369, 372, 399 f., 551, 750, 752, 776, 924 Transzendenz (Transzendieren) 55– 67, 135 f., 140 f., 145, 149, 153, 160, 169, 171, 180–184 –, absolute/graduelle 56, 65 – Selbsttranszendenz 62, 70, 73, 76 f., 81, 86, 90, 107 f., 110, 116, 135, 140 f., 149, 180–183, 200 f., 240, 246, 278, 290, 299, 321, 335–339, 348–350, 359 f., 370, 372 f., 378, 391 f., 394 f., 400, 405 f., 409, 411, 442, 447–449, 466, 474, 476, 487 f., 507, 522 f., 532, 548, 553, 568, 571, 573 f., 589, 591, 596, 601, 603, 617, 623, 642, 646 f., 649, 651, 664, 677, 683, 688, 694, 696, 698, 702, 712 f.,
722, 724, 732, 737, 740, 743, 752, 773 f., 801, 822, 835, 855, 863, 874– 876, 879 f., 884–886, 889, 899, 904 f., 908, 917, 925, 931 Überdetermination 685, 691 Umwelt 61, 72, 249, 275 f., 366, 370, 392, 457 f., 484, 486, 539, 542, 552, 587, 629, 632, 640, 663, 673 f., 734, 742, 770, 874, 892, 896, 898 f., 914 Umwillen, das 337, 391, 395, 400, 416, 427 f., 431 f., 435, 439, 468– 470, 472, 474, 554, 569, 588, 630, 773, 876, 879 Unbedingte, das 287, 289–291, 395 f., 403, 406 f., 418, 421, 439 f., 444, 459, 471, 479, 482, 494, 501, 503 f., 604, 631, 712, 773, 777, 779, 792, 876 f., 903, 916 Unbestimmtheit, bestimmte 521– 523, 534 Uneinholbare, das 20, 37, 71, 75 f. Unmittelbarkeit, das Unmittelbare 144, 146, 159, 170, 174, 181, 289, 292, 306, 346, 449 f., 480, 514, 542, 556, 602, 614, 616, 618, 621 f., 664, 666, 818 Unvordenkliche, das, unvordenklich 294, 309, 320, 462, 502, 527, 585 f., 643, 645, 650, 726, 729 f., 767, 873, 877 Urphänomen 864, 889–891, 895, 906 f., 910 Ursachen (des Seins) – Formursache, causa formalis 175, 538, 654, 898, 901–903 – Wirkursache, causa efficiens, Kausalität 234, 237 f., 242, 274, 871 – Zweckursache, causa finalis, Finalität 160, 228, 231, 234, 237 f., 242, 274, 538, 542, 871 Vernunft 61–71, 80 f., 107–111, 115– 121, 155–158, 223 f., 334 f., 389– 391, 439–444, 457–466, 469 f., 474– 478, 482–489, 566–574, 621, 897 f.
974 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister –, autonome 42, 66, 69–71, 74 f., 308, 376, 573, 600 –, natürliche 42, 60, 70 f. –, personale 564, 573 f., 614 Vernünftige, das (s. auch das Natürliche) 42, 61–63, 68 f., 80 f., 307 f., 389, 391 Versprechen, ontologisches 489, 602, 614, 621–625, 641, 917 Verzeihung, ontologische 456, 487, 489, 501, 504, 624 Wahl 156, 224, 413, 418, 465, 501, 529, 546, 567, 569, 619, 627, 629 f., 632 f., 641, 931 Wahrnehmung 42, 44, 54 f., 76, 81 f., 221, 275, 382 f., 472–479, 505, 523, 590–593, 596–599, 680 f., 683 f., 688 f., 696–698, 752–754, 863 f., 876 f., 883–886, 905, 936 – Wahrnehmungsevidenz 417, 420 f., 467, 476 f., 501, 508, 556, 561, 564, 569 f., 773, 829 Wert 109, 145, 221, 270, 314, 341, 364, 408–411, 492, 619, 668–673, 680, 683, 714, 737, 795, 799, 802 Wesen (s. auch essentia, Essenz) 45, 59, 73, 119 f., 126–130, 139 f., 150, 175, 225, 325, 338, 358, 488, 502, 504, 522, 570, 572, 578–582, 590, 592–594, 601, 677 f., 712, 719, 784, 791, 833 Wille 56, 77 f., 106, 108, 111, 116, 118, 126–129, 141, 147, 151, 157 f., 161, 167 f., 170, 178, 183, 234, 268– 272, 277, 298, 308, 311, 334, 354– 357, 383, 437, 451–454, 459, 480, 494, 507, 568, 579, 668, 695, 708, 732, 791, 796 f., – Willensfreiheit 625–635, 917 Wirklichkeit 20, 25, 35, 55, 85, 100, 108–110, 116, 119, 122, 138 f., 165, 178, 227 f., 239, 269, 297, 325, 338, 341, 347, 394, 399, 408–412, 417 f., 426 f., 443, 449, 463, 467, 469–471, 473 f., 476 f., 484–487, 502, 507, 527 f., 534, 546 f., 554 f., 557, 573 f.,
590, 592 f., 632, 643, 728, 733–735, 738–740, 751 f., 873, 889, 900 f., 932 Wohlwollen (s. auch amor benevolentiae) 410, 421–424, 456, 463, 468, 472–477, 479–487, 496, 498, 500–502, 506–508, 555, 569, 573, 638, 732, 832 Wollen, primäres (secondary volitions) 628 f., 635, 840, 852 Zeigen (Hinzeigen), das 20, 25, 301 f., 329, 433, 474 f., 481, 507, 552, 592, 680, 685, 753, 894 Zeit 250, 299, 383, 450, 514, 522, 529, 533, 547, 602, 604, 607–612, 622 f., 625, 648 f., 660, 662, 665, 717–722, 811, 819, 821 f., 824–828, 834, 838, 840 f., 844, 846, 848, 879–881, 891– 893, 896, 906, 914 f., 917 – Zeitgestalt 81, 514, 604, 611 f., 623, 633, 635, 648, 718 f., 834, 883 f., 917, 920 zen/eu zen, ζῆν/εὖ ζῆν 59, 122, 138, 268, 737 Zentralität, Zentriertheit 61 f., 69–71, 73, 378, 457, 469, 484, 487 f., 507, 548, 553, 555, 598, 601, 610–612, 614, 624, 649, 664 f., 682, 712, 729, 734, 740, 752, 772 f., 831, 866, 874– 877, 880, 882, 884 f., 887, 896, 898 f., 908, 918 Zentrum der Bedeutsamkeit 42, 71, 81, 569, 598, 601, 666, 683, 689, 697, 712, 771 Ziel 80 f., 139, 164, 182, 200, 207, 223 f., 228, 232, 236–239, 244, 275 f., 287–290, 336, 359, 376, 426– 438, 445, 469 f., 646, 870 f., 873, 888, 912 Zirkel, Zirkularität, zirkulär 63, 65, 147, 253, 259 f., 305, 308, 492, 588, 686, 812, 820 f., 842 f., 846 zoon politikon, ζῷον πολιτικόν 388, 738, Zweck 65, 70, 77, 224, 228–231, 238 f., 242–245, 249, 252, 262–267, 271, 274, 278, 288–290, 304–306,
975 https://doi.org/10.5771/9783495825488 .
Sachregister 308, 314, 365, 395, 397, 426 f., 429– 434, 436, 438, 492, 500, 546, 567, 627, 684 f., 689, 798, 870, 897 Zweifel 70, 106 f., 153–156, 265, 301, 310, 343–345, 347, 380, 387, 417, 477 f., 497, 526, 551, 727, 738–740 – Zweifelsbeweis 47, 342, 460, 528, 549, 815, 829
Zwischen, das 24 f., 57 f., 81, 605, 900, 820, 922
f.
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