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German Pages 188 [196] Year 1999
Kögaku Arifuku Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus
Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus Komparative Studien Mit einer Einleitung von Günter Wohlfart
U
K
Akademie Verlag
Abbildung auf dem Einband: Isamu Noguchi, Weiße Sonne Princeton University, the John B. Putnam, J r , Memorial Collection
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Arifuku, Kögaku: Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus : komparative Studien / Kögaku Arifuku Mit einer Einleitung von Günter Wohlfart - Berlin : Akad. Verl., 1999 ISBN 3-05-003214-6 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt Einleitung von Günter Wohlfart
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I. Philosophische Annäherungen an den Zen-Buddhismus 1. Was ist die Buddha-Natur? Anstelle der Frage: Was ist der Zen-Buddhismus? 2. Das Problem des Selbst im Zen-Buddhismus 3. Das Verhältnis des Menschen zur Natur im Buddhismus
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II. Kant und der Zen-Buddhismus 4. Das Prinzip des denkenden Ich und des nicht-denkenden Selbst 5. Die Philosophie der Weisheit. Der Zusammenhang und die Differenz zwischen der Kantischen Philosophie und der buddhistischen Weltanschauung
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III. Nietzsche und der Zen-Buddhismus 6. Der aktive Nihilismus Nietzsches und der buddhistische Gedanke der Leerheit (sünyatä) 7. Nietzsches Zarathustra und der Zen-Buddhismus. Das Verhältnis des Menschen zum Übermenschen und zu Buddha 8. Der Leib als große Vernunft bei Nietzsche und das Problem des Leibes in der Zen-Theorie Dögens
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IV. Heidegger und der Zen-Buddhismus 9. Heidegger und Dogen. Der Begriff ,Sein zum Tode' und die Idee der ,Unzweiheit von Leben und Tod' 151 10. Die Antinomie von Technik und Umwelt. Heidegger und der Buddhismus 167 Bibliographische Hinweise (zusammengestellt von Rolf Elberfeld)
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Einleitung von
Günter Wohlfart Die folgenden komparativen Studien zur deutschen Philosophie und zum ZenBuddhismus sind als Versuche zu sehen, einen Anfang zu machen mit der ,vergleichenden Philosophie' in Deutschland. Im Unterschied zur vergleichenden Sprachwissenschaft, zur vergleichenden Religionswissenschaft und zur vergleichenden Anthropologie etwa, ist die vergleichende Philosophie in Deutschland bis heute immer noch so gut wie unbekannt. Soweit ich zurückblicken kann, ist mir kein ,Deutscher Kongreß für Philosophie' bekannt, bei dem es eine Sektion ,vergleichende Philosophie' gegeben hätte - wobei unter ,Vergleich' der interkulturelle Vergleich zu verstehen ist. Ein Hauptgrund dafür wird in der immer noch bestehenden interkulturellen Inkompetenz der akademischen, deutschen Philosophie zu suchen sein. Eine repräsentative Umfrage in den philosophischen Seminaren deutschsprachiger Universitäten über einen Zeitraum von etwa 10 Jahren ergab, daß sich 98,7 % der Lehrveranstaltungen auf Europa und Nordamerika beziehen. Die übrige Welt wird mit 1,3 % bedacht, wobei auf Ostasien 0,3 % entfallen. 1 Im ,Historischen Wörterbuch der Philosophie' findet sich interessanterweise nicht das Stichwort .Philosophie, vergleichende' sondern: ,Philosophy, comparative'. 2 Der Ausdruck .comparative philosophy' kam gegen Ende des 19. Jh. a u f - 1899 erscheint der Ausdruck bei dem indischen Autor B.N. Seal - und fand vor allem in Indien und Nordamerika Verbreitung. In den USA wird das Interesse an comparative philosophical studies u. a. durch die auf Initiative von Ch. A. Moore seit 1939 an der University of Hawaii bis heute veranstalteten East West Philosophers' Conferences sowie durch die Society for Asian and Comparative Philosophy und deren renommierte Zeitschrift Philosophy East and West bezeugt, die seit 1951 erscheint. Zu erwähnen sind auch die Aktivitäten des dortigen East-West Centre. Vor allem in Japan - hier denke ich zuerst an die Philosophie der Kyöto-Schule - aber auch in Korea und China - spielt die vergleichende Philosophie seit geraumer Zeit eine erhebliche Rolle. - Das hier in deutscher Sprache vorgelegte Buch meines japanischen Kollegen Arifuku ist ein Beweis dafür. Eine vergleichsweise unbedeutende Rolle spielt die vergleichende Philosophie offenbar in Europa insbesondere in Deutschland. Zu erinnern ist freilich an das bereits 1923 in Paris erschienene Werk von P. Masson-Oursels La philosophie comparée und an die Empfehlung der vergleichenden Methode für die Philosophiegeschichte durch W. Dilthey, der diese Methode selbst allerdings kaum auf außereuropäische Traditionen anwandte. Dies geschieht erst bei seinem Schüler Georg Misch, der in seinem Weg in die Philosophie von 1926 den Ursprung der Philosophie bei den Griechen, Indern und Chinesen vergleicht. 1 2
Cf. J. G. Kitzel, Thema und Tabu, Würzburg 1997,14. Bd. 7, Spalte 922ff.
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Bei W. Dilthey heißt es: „Wie der Botaniker die Pflanzen in Klassen ordnet und das Gesetz ihres Wachstums erforscht, so muß der Zergliederer der Philosophie die Typen der Weltanschauung aufsuchen und die Gesetzmäßigkeit in ihrer Bildung erkennen. Eine solche vergleichende Betrachtungsweise erhebt den menschlichen Geist über die in seiner Bedingtheit gegründete Zuversicht, in einer dieser Weltanschauungen die Wahrheit selber ergriffen zu haben." 3 Trotz dieser Empfehlung scheint bis heute eher die Haltung Hegels vorzuherrschen, der in der orientalischen Philosophie nur etwas .Vorläufiges' sah, von dem wir „[...] nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben, warum wir uns nicht weitläufiger damit beschäftigen, und in welchen Verhältnissen es zum Gedanken, zur wahrhaften Philosophie [seil, der europäischen G.W.] steht." 4 In Deutschland steckt die vergleichende Philosophie', sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, noch immer in den Kinderschuhen. Dennoch stimme ich der Auffassung von W. Halbfass zu, daß „die grundsätzliche Wirksamkeit des Ansatzes, philosophische Begriffe und Lehren und den Begriff der Philosophie selbst in einen nicht bloß abendländischen hermeneutischen Kontext zu stellen, jedoch nicht mehr zu bezweifeln" ist.5 Kant hat im Unterschied zu Leibniz und Wolff kein ernsthaftes Interesse an ostasiatischem Denken gezeigt. Im § 6 der Jäsche-Logik finden sich jedoch einige interessante Ausführungen zu den ,logisch(en) Actus der Comparation, Reflexion und Abstraction', die man - zumindest was die Komparation und die Reflexion angeht - mutatis mutandis auf die vergleichende Philosophie als komparative Philosophie, übertragen könnte. In Anm. 1 zu § 6 heißt es: „Um aus Vorstellungen Begriffe zu machen, muß man also comparieren, reflectieren und abstrahieren können, denn diese drei logischen Operationen des Verstandes sind die wesentlichen und allgemeinen Bedingungen zur Erzeugung eines jeden Begriffs überhaupt. Ich sehe z.B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde. Indem ich diese Gegenstände zuvörderst unter einander vergleiche, bemerke ich, daß sie von einander verschieden sind in Ansehung des Stammes, der Äste, der Blätter u. dgl. m.; nun reflektiere ich aber hiernächst nur auf das, was sie unter sich gemein haben, den Stamm, die Äste, die Blätter selbst und abstrahiere von der Größe, der Figur derselben u.f.w.; so bekomme ich einen Begriff vom Baume." Ich denke, daß das Komparieren in Form der in philosophischen Seminaren deutscher Universitäten bisher fast unbekannten interkulturellen, komparativen Philosophie die erste Voraussetzung ist für eine philosophische Reflexion, in der es darum geht, sich wirklich einen Begriff zu machen von fremdem Denken. Bemerkenswert scheint mir vor allem zu sein: Im Komparieren, d.h. im Vergleichen, bemerkt man nach Kant zunächst, inwieweit die Vorstellungen verschieden, different sind, um erst dann auf das reflektieren zu können, was sie unter 3
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W. Dilthey, Das Wesen der Philosophiegeschichte, Schriften 5, 3 1961, 380, zitiert nach dem Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Sp. 923. Hegel, Sämtliche Werke (Glockner), Bd. 17, 151, cf. Vom Verfasser 'Hegel und China' in: Jahrbuch für Hegelforschung 3/97. W. Halbfass, in: Hist. Wörterbuch, d. Phil., Bd. 5, 924.
EINLEITUNG
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sich gemein haben bzw. worin sie sich gleichen. Die wirkliche interkulturelle kommunikative Kompetenz besteht in der Einsicht, die man mit den Worten Christian Morgensterns so formulieren könnte: „Einander kennenlernen, heißt lernen, wie fremd man einander ist". Jeder, der nicht nur hochfahrende Vorteile hat, sondern wirkliche Erfahrungen mit einer fremden Kultur gemacht hat, wird dies bestätigen. Beim Vergleichen als Komparieren geht es also zunächst nicht darum, das Gleiche zu betonen, sondern vielmehr das Verschiedene, Disparate, die Differenzen herauszuarbeiten. What matters is that which makes a difference. ,Retten wir die Differenzen'! 4 ,Vive la différence'! Es kommt auf die kleinen Unterschiede an. Nur durch diese Differenzen kann die interkulturelle ,Kopulation' fruchtbar sein. Das rechte Motto für vergleichende philosophische Studien wäre deshalb m. E. das Wort aus Shakespeares King Lear, das Wittgenstein als Motto für seine Philosophischen Untersuchungen erwogen haben soll: „1*11 teach you differences". Die vergleichende Philosophie ist kein Schmelztiegel, in dem fremde Horizonte verschmolzen bzw. eingeschmolzen werden sollen. Vielmehr geht es darum, das Fremde vor erdrückenden Umarmungen und Vergewaltigungen durch das Eigene zu schützen bzw. Fragen vor schnellen Antworten in Schutz zu nehmen. Nur um den Preis des geduldigen Aufschiebens bzw. Verschiebens des Abstrahierens vom Differenten im Besonderen, nur um den Preis großer Behutsamkeit beim Versuch der Beantwortung der Frage nach dem Einen, allgemeinen Gemeinsamen, scheint es mir möglich zu sein, zu distinguieren, worin man bei aller Verschiedenheit einig ist. Das Ergebnis solcher interkultureller Behutsamkeit ist: An die Stelle eines Identischen treten verschiedene Entsprechungen, d.h. Identitäten in den Differenzen ohne Vernachlässigung der Differenzen in den Identitäten. An die Stelle eines ,logisch' Identischen treten Analogien. An die Stelle des ,Selben' treten Ähnlichkeiten. Was Wittgenstein von der Sprache im Allgemeinen sagt, gilt auch für die Sprachspiele der vergleichenden Philosophie im Besonderen: „Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, - sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. Und dieser Verwandtschaft oder diesen Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle .Sprachen'" 7 Zu vernehmen sind im Gespräch mit einer fremden Kultur - wie der Ostasiens - bestenfalls Entspre6 7
J.-F. Lyotard, Postmoderneßr Kinder, Wien 1987,31. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 65. Es gibt nicht einen abstrakten, gemeinsamen Nenner. Es gibt nicht einen ,overlapping consensus'. Es gibt nicht eine präzise gemeinsame Schnittmenge der sich überschneidenden Denk-Kultur-Kreise. Die Ränder dieser Kreise sind .verschwommen'. Zu erkennen sind so in den verschiedenen Denk-Ansichten der Völkerfamilie nur mehr oder weniger entfernte ,Familienähnlichkeiten', cf. I.e. 66f.
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chungen; und dies genügt. „Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, [...], daß sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, daß sie gegenseitig ineinander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, [...], worauf alsdann in jedem entsprechende [Hervorhebung von mir G.W.] nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen." 8 Um das Auffinden solcher Entsprechungen zwischen der deutschen Philosophie und dem Zen-Buddhismus geht es in den vorliegenden komparativen Studien. 9 *
In den Kapiteln 1-3 geht es um philosophische Annäherungen an den ZenBuddhismus, wobei in Kapitel 1 versucht wird, eine Antwort auf die Frage ,Was ist der Zen-Buddhismus?' zu geben, die in Form der Frage 'Was ist die BuddhaNatur?' gestellt wird. Der Dögen-Kenner Arifuku 10 geht dabei von Dogen (1200 - 1253), dem Gründer der japanischen Sötö-Zen-Schule aus, der in seinem Hauptwerk Shöbögenzö die Idee von der Buddha-Natur (bussho) verdeutlicht. Die bisher nur unzureichend ins Deutsche übersetzten und bei uns so gut wie unbekannten 95 Bücher dieses literarischen Lebenswerks des großen japanischen Zen-Meisters sind der philosophisch wohl bedeutsamste japanische Zen-Text, dessen Gedanken-Reichtum bisher immer noch nicht vollständig erschlossen ist. Von seinen Zen-Studien in China berichtet Dögen mit den folgenden denkwürdigen Worten: „Ich habe in China nicht gar zu viele Zen-Tempel besucht, habe nur unter der Leitung des verstorbenen Meisters Ju-Ching studiert, und was ich dabei erkannt habe, ist dies: die Augen sind waagerecht, die Nase ist senkrecht. Von niemandem in die Irre geführt, kam ich mit leeren Händen nach Hause zurück. Ich kam ohne eine Spur des Buddha-Gesetzes zurück und lasse der Zeit ihren Lauf. Jeden Morgen geht die Sonne im Osten auf, jede Nacht geht der Mond im Westen unter. Die Wolken verschwinden, die Berge werden sichtbar. Der Regen geht vorüber, und die vier Berge (Geburt, Alter, Krankheit, Tod) sind niedrig." 11
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W. v. Humboldt, Werke in fön/ Bänden, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, Stuttgart 1963, Bd. 3, 559. Zum Thema „Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus" möchte ich wenigstens auf die folgenden Arbeiten aufmerksam machen, die mit dem Thema in mehr oder weniger engem Zusammenhang stehen: Kitarö Nishida, Über das Gute, aus dem Japanischen übersetzt und eingeleitet von P. Pörtner, Frankfurt 1989; Shin'ichi Hisamatsu, Philosophie des Erwachens, München 1990; Keiji Nishitani, Was ist Religion?, Frankfurt 1982; Toshihiko Izutsu, Philosophie des Zen-Buddhismus, Hamburg, 1986; Die Philosophie der Kyöto-Schule, hg. von R. Öhashi, Freiburg / München, 1990. Vgl. hierzu seine drei Bücher: Dögen no Sekai (Die Welt Dögens), Osaka 1985; „Shöbögenzö" ni shitashimu (Annäherung an das „Shöbögenzö), Tökyö 1991; „Shöbögenzö" no kokoro (Der Geist des „Shöbögenzö"), Tökyö 1994. Zitiert nach: P. Pörtner u. J. Heise, Die Philosophie Japans, Stuttgart 1995,204.
EINLEITUNG
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Dogen war davon überzeugt, daß die Buddha-Natur immer und überall gegenwärtig ist. Diese Grundidee der Gegenwärtigkeit der Buddha-Natur nannte Dogen genjököan.11 Die Wortverbindung genjö-köan, wörtlich übersetzt etwa: .öffentliche Bekanntmachung der Gegenwart der Welt im Ganzen' 13 bedeutet, daß diese Erscheinungswelt in ihrer Gegenwärtigkeit, so wie sie ist, die wahre, offenbare Wirklichkeit ist bzw. daß alle offen daliegenden Dinge die Buddha-Natur sind, wobei diese sich gerade wegen ihres Offenseins dem Zugriff der Erkenntnis entzieht. Dennoch ist die Buddha-Natur in jedem Augenblick unverborgen da. Das Wesen der Buddha-Natur erscheint nach Dogen ,offen und weit, leer und licht'. 14 Darin gleicht sie dem Vollmond, und - wie ein altes Zen-Wort sagt: „Denke nicht, der Mond ginge auf, wenn die Wolken verschwunden sind. Die ganze Zeit über stand er am Himmel in vollkommener Klarheit." Er war nur verdunkelt vom gedankenumwölkten Ego. Deshalb enthalten die berühmten Worte aus dem Buch Genjököan wohl in „prägnantester Form die Quintessenz der ZenLehre Dögens": „Den Buddha-Weg lernen heißt das Selbst lernen. Das Selbst lernen heißt das Selbst vergessen. Das Selbst vergessen heißt von allen dharma erleuchtet werden." 15 In Kapitel 2 geht es um das Problem des Selbst im Zen-Buddhismus. Die Klärung des Selbst ist die höchste Aufgabe im Zen. Während es dem Philosophen um die Beantwortung der abstrakten Frage geht „Was ist der Mensch?" stellt sich diese Frage für den Zen-Buddhisten in der konkreten Form: „Wer bin ich?" Die Übung des Zazen, der sitzenden Meditation ist der Weg zum ichlosen wahren Selbst. Der entscheidende Punkt im Zen ist es, 'um jeden Preis über das egoistische Ich hinauszugelangen.' Die schwerste Aufgabe des Selbst ist die Aufgabe des Selbst. Das wahre Selbst des ,Von-selbst-so' ist nicht unser kleines egoistisches Ich, sondern das ,große Selbst' (daiga), das den ,großen Tod' des Ego gestorben ist. Eine alte Weisheit lautet: ,Wenn du nicht stirbst, bevor du stirbst, verdirbst du, wenn du stirbst'. ,Das große Selbst' ist das selbstvergessene Selbst, dessen Ichheit abgestorben ist, wie ,trockenes Holz' und ,tote Asche'. Der Augenblick der Klarheit bzw. der ,Selbstwesensschau' (kensho) nach dem Tod des Ego des ,dunklen Despoten' ist der Blick, der frei von mir selbst ist und frei für die Dinge in ihrer 12
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Genjököan ist der Titel des ersten, am häufigsten übersetzten und bekanntesten Kapitels des Shöbögenzö, cf. insbes. die Übersetzung von H. Dumoulin, Monumenta Nipponica, Vol. XV, 1959/60, 217-232 sowie ders. ,Die religiöse Metaphysik des japanischen Zen-Meisters Dogen, in .Saeculum Bd. 12, 1961, 205-236 und R. Ohashi/ H. Brockard, Das Buch Genjököan aus dem Shöbögenzö von Dögen, Übersetzung und Erläuterungen, Philos. Jahrbuch 83,1976,402-415. Der zweite Teil des Begriffs genjö-köan ist uns vor allem aus der Samnilung der 48 Köan des Meister Mumon, dem Mumonkan, bekannt. Cf. H. Dumoulin, Die religiöse Metaphysik des japanischen Zen-Meisters Dögen, I.e. 215, 222f. u. 225. In diesem Zusammenhang sei auch an die im 1. Köan des Hekiganroku enthaltene Antwort Bodhidharmas auf die Frage nach dem Sinn des Zen erinnert: ,Offene Weite - nichts von heilig." Bi-Yän-Lu, übersetzt von W. Gundert., Frankfurt/ Berlin/ Wien 1983, 37. H. Dumoulin, Das Buch Genjököan, I.e. 226.
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Selbstverständlichkeit, d.h. für die Dinge wie sie daselbst so sind. Der Fluß fließt, wie er fließt; die Pflaume blüht, wie sie blüht. Der Augenblick der Klarheit - ,der Augenblick, in dem mir ein Licht aufgeht', - um den Ausdruck ,Erleuchtung' besser zu vermeiden -, ist der Augenblick der Freiheit des Selbst vom Ich. Dieser .Lichtblick' ins Freie ist der Augenblick des Nicht-Ich (muga), in dem auf einmal mein Selbst vergessen ist. Das Vergessen und Entäußern des kleinen Selbst, d.h. des Ich ist das Erinnern, daß das kleine Selbst in Wahrheit das große Selbst ist bzw. daß das, was vom Selbst kommt, in Wahrheit von selbst kommt. Das Prinzip der Ichlosigkeit (muga) ist eines der Grundprinzipien des Buddhismus. Es gilt, die Illusion des Ich zu durchschauen. Das Ich ist in Wahrheit ein Nichts. Zu erinnern ist hier mit Arifuku an die Nähe zu Nietzsches Nihilismus 16 . Entscheidend ist: Selbstlos bzw. Selbstvergessen-Sein und Von-selbstso-sein (shizen, chin.: ziran) sind in Wahrheit dasselbe. Das Selbst des ,Vonselbst-so' ist ein Selbst ohne Selbst (bzw. Ich). ,Der höchste Mensch ist frei vom Ich' heißt es im 1. Buch des Zhuangzi. Ohne Selbst bzw. Ich ist der Zen-Mann. Von selbst den Weg gehen heißt: weggehen vom Selbst, vom Ego. Im Zen geht es um die Selbstbefreiung als Ungezwungenheit, Spontaneität und Natürlichkeit (shizen). Der Zen-Buddhismus betont die Ichlosigkeit sowie die Natürlichkeit. Arifuku sagt: „Das sogenannte Erwachen bedeutet nichts anderes als die Übereinstimmung von Ichlosigkeit und Natürlichkeit, von dem wahren Selbst und der großen Natur." Kapitel 3 behandelt das buddhistische Natur- und Menschenbild. Arifuku versucht, den durch die Unzweiheit von Natur und Mensch bzw. von Natur und Freiheit gekennzeichneten buddhistischen Naturbegriff, wie er im jap. shizen bzw. jinen (chin.: ziran)17 zum Ausdruck kommt, im Unterschied zum Naturbegriff im neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Sinn zu verdeutlichen, in dem die Natur zum Objekt für ein menschliches Subjekt wird, das sie ,nötigt' auf seine Fragen zu antworten.18 Das ziran steht im engsten Zusammenhang mit dem wu wei (,ohne Tun'); dieses wu wei ziran (j a P- muishizen) bedeutet: ,Tun ohne menschliche Absicht' bzw. ,natürliches Tun ohne Künstlichkeit'. Hinsichtlich der ,Natur/ Freiheit' zeigt sich der starke daoistische Einfluß auf den ZenBuddhismus, der nicht nur in dieser Hinsicht als Zusammenfluß des MahäyänaBuddhismus mit dem Daoismus angesehen werden kann. Die höchste Wahrheit des Zen-Buddhismus besteht nach Arifuku ,in der 16 17
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Vgl. den 3. Teil der hier vorliegenden Komparativen Studien: Nietzsche und der Zen-Buddhismus. Der locus classicus des ,ziran' findet sich am Ende des 25. Kapitels des ,Laozi', wo es heißt, daß der Weg (dao) zu seinem Gesetz sich selbst - bzw. das Selbst-So (ziran) habe. Das chin. Binom ,ziran' bedeutet wörtlich ,selbst-so' und meint soviel wie ,von alleine vor-sich-gehend bzw. verlaufend'. Es wird häufig durch Natur bzw. Natürlichkeit oder natürlich übersetzt. Dies ist jedoch insofern einseitig und irreführend, als es zugleich soviel wie ,spontan' oder .freiheitlich' (bzw. .freilich') bedeutet, was aus neuzeitlich-westlicher Sicht schwer zusammenzubringen ist, da hier Natur und Freiheit Gegenbegriffe sind. Da es beim ,ziran' aber gerade um die Unzweiheit von Natur und Freiheit geht, scheint die Übersetzung ,Natur/ Freiheit' bzw. .natürlich/ spontan/ frei(heit) lieh' angemessener. Cf. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B. X m .
EINLEITUNG
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Natürlichkeit der menschlichen Handlung ohne absichtliche Künstlichkeit'. Die beste Handlung im Zen ist ,ein so freies und natürliches, d.h. ichloses Spiel' wie es die Natur selbst ist. „Etwas, das aus ,Leere' kommt, ist Natürlichkeit, wie ein Same oder eine Pflanze, die aus dem Boden kommt. Der Same hat keine Vorstellung davon, daß er eine besondere Pflanze ist, aber er hat seine eigene Form und ist in vollkommener Harmonie mit dem Boden, mit seiner Umgebung." 19 Nichts im Sinn zu haben ist Natürlichkeit. 20 In den Kapiteln 4 und S geht es um Kant und den Zen-Buddhismus. Kapitel 4 behandelt das Prinzip des denkenden Ich bei Kant und die Idee des nicht-denkenden Selbst bei Dogen. Der erste Teil enthält eine subtile Analyse der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption als ,höchstem Punkt' der kantischen Transzendentalphilosophie 21 im Unterschied zum cartesischen cogito ergo sum als ,premier principe de la philosophie' 22 . Das ,stehende und bleibende Ich der reinen Apperzeption' 23 , das ,ich denke', das alle meine Vorstellungen muß begleiten können 24 ist nach Kant eine unabdingbare Denkbedingung im Unterschied zu Descartes' Ich als Renkendem Ding' (res cogitans). Die transzendentale Apperzeption bezeichnet Kant als das ,reine ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein' 25 . Der erste Satz der kantischen Anthropologie lautet: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf der Erde lebenden Wesen". Im zweiten Teil arbeitet Arifuku im Unterschied dazu den zen-buddhistischen Standpunkt des nicht-denkenden Selbst heraus. Im Zen-Buddhismus ist der von den Fesseln des Ich befreite Mensch der Mensch des Nicht-Denkens und des Nicht-Geistes bzw. Herzens (mushin, chin.: wu xin), was rechtverstanden weder etwas mit Herzlosigkeit noch mit Geistlosigkeit zu tun hat. Die »Technik' des Nicht-Geistes besteht darin, daß man offen bleibt und wirkt, ohne sich irgendwo festzulegen. Der Nicht-Geist bedeutet nicht, daß man gedankenverloren ist, sondern daß man ruhig, entspannt und konzentriert der Situation begegnet, d.h., daß man offen für sie ist. Der leere HerzGeist ist wie ein leerer Spiegel, der nur so die Dinge wirklich widerspiegeln bzw. reflektieren kann. Wer dagegen ganz von sich selbst - und seinen Gedanken und Gefühlen - erfüllt ist, wird nicht von selbst, d.h. frei und spontan auf den Anspruch der Dinge antworten können. ,In Japan hat man deshalb diesen Zustand des ,Nicht-Geistes' (mushin) für die höchste Haltung des Geistes gehalten und noch heute wird er gelehrt und geübt, und man bemüht sich darum, ihn als Ideal im Bereich der traditionellen Künste und Kampfwege zu verwirkli19 20 21 22
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Shunryü Suzuki, Zen-Geist, Anfänger-Geist, Zürich 1975,115. Cf. I.e. 116. Cf. Kant, KrV, B 134, Anm. Cf. Descartes, Discours de la Methode, Quatrième Partie, Oevres philosophiques, édition de F. Alquie, Tome 1, Paris 1963,603. Cf. Kant, KrV, A 123. Cf. I.e. B 131f. Cf. I.e. A 107.
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chen'. Höchstes Tun ist ein Tun ohne selbstbewußtes, absichtliches Tun (chin.: wei wu wei), es ist ein selbstvergessenes Tun, das sich von selbst so der jeweils gegebenen Situation anpaßt, so wie das Wasser die Form des Gefäßes annimmt. Diese Haltung des Nicht-Tuns (mui, chin.: wu wei) bzw. die Haltung des NichtGeistes (mushin, chin.: wu xin) ist nichts anderes als die praktische Anwendung des zen-buddhistischen Prinzips der Leerheit und Ichlosigkeit bzw. des Nicht-Ich (muga, chin.: wu wo). Muishizen, mushin und muga gehören zusammen. Das Ziel des Zen-Buddhismus besteht darin, sich jederzeit und überall als ein natürlich-ungezwungener, frei-spielender, spontaner und selbst- bzw. ichloser Mensch zu verhalten. Im dritten Teil, in dem das Prinzip des denkenden Ich mit dem des nichtdenkenden Selbst verglichen wird, erinnert Arifuku noch einmal an das berühmte Wort Dögens: „Den Buddha-Weg lernen heißt, das Selbst lernen, das Selbst lernen heißt, das Selbst vergessen. Das Selbst vergessen heißt, durch die zehntausend dharma erwiesen werden. Durch die zehntausend dharma erwiesen werden heißt, den Leib und Geist des Selbst und des Anderen abfallen lassen [= sich von den leiblichen-geistigen Fesseln befreien lassen]." Der Gedanke ,Das Selbst lernen' bzw. das Selbst zu erkennen, könnte - isoliert betrachtet - auch aus der westlichen Philosophie stammen, wohingegen es schwieriger ist, das Motto ,das Selbst vergessen' dort zu finden. 26 Zusammengefaßt läßt sich sagen: Im Buddhismus wird vor allem das (nichtdenkende) ichlose Selbst (und der Nicht-Geist) betont, wie bei Dogen, während in der abendländischen (insbes. in der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes) Philosophie das denkende Ich hochgeschätzt wird wie bei Kant. Philosophie im neuzeitlich-westlichen Sinne ist mehr ,Wissenschaftstheorie' als ,Weisheitsliebe'. Kapitel 5 behandelt unter dem Titel ,Die Philosophie der Weisheit' noch einmal unter einem anderen Aspekt den Zusammenhang und die Differenz zwischen der Kantischen Philosophie und der buddhistischen Weltanschauung. Nach Kant ist der , Schulbegriff' der Philosophie von ihrem ,Weltbegriff' zu unterscheiden. Ihrem Schulbegriff gemäß ist die Philosophie ein „System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zwecke zu haben"". Ihrem Weltbegriff (conceptus cosmiscus) gemäß ist die Philosophie dagegen „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae) und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft"2®. Ihrem Weltbegriff gemäß ist die Philosophie nach Kant ,doctrina sapientiae', also eine Kunst von dem, was der 26 27 28
Freilich könnte man z.B. an Meister Eckharts .mystischen Imperativ: ,Laß Dich!' denken. Kant, KrV, A 838/B 866. L.c. A 839/B 867.
EINLEITUNG
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Mensch aus sich machen soll. V\n\o-sophia ist Studium (bzw. doctrina) sapientiae. Wissenschaft hat einen wahren Wert nur als ,Organ des Weisheit' 29 . Die ,Kritik der praktischen Vernunft' schließt mit den Worten: „Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt f...]" 30 . Am Ende ist unser Vernunftsinteresse praktisch und insofern ist der Zweck der Philosophie nicht Wissenschaftstherorie bzw. Schulweisheit, sondern Weltweisheit bzw. Lebensweisheit (ars vitae). Interessant ist nun der von Arifuku im 2. Teil durchgeführte Vergleich der dualistischen Weltanschauung Kants mit der buddhistischen Weltanschauung. Während der Denkweg Kants der kritische Weg31 des Unterscheidens - gr. krinein = unterscheiden - bzw. der dualistischen Spaltung von Subjekt und Objekt ist, auf dem er versuchte, der Philosophie ,den sicheren Gang einer Wissenschaft' 31 zu weisen, um so .gesichert' und nicht ,irregeleitet' 33 zur Weisheit fortzuschreiten, wobei diese gegenüber der Wissenschaft weitgehend im Hintergrund bleibt, gehen die Buddhisten nach Arifuku von der Un-Zweiheit aus, um durch die Zweiheit auf die Un-Zweiheit zurückzukommen. Dieser Begriff der Un-Zweiheit von Subjekt und Objekt ist der Inbegriff der Zen-Weisheit, der in der buddhistischen Weltanschauung im Vordergrund steht. Als Beispiel nennt Arifuku den Augenblick der ,reinen Erfahrung' 34 der Schönheit einer Blume, in dem ich mich so auf das Sehen der Blume eingelassen habe, daß mein Sehen der Blume (genitivus obiectivus) zugleich ein Gesehenwerden von der Blume - Sehen der Blume (genitivus subiectivus) - ist. Ich gehe so im Sehen der Blume auf, daß diese reine Erfahrung eine Erfahrung des ,muga', des Nicht-Ich, bzw. der Un-Zweiheit von Sehendem und Gesehenem ist. In dieser Un-Zweiheit ,können sowohl das Subjekt als auch das Objekt das wahre (ichlose) Selbst verkörpern'. Arifuku kommt zu dem Schluß (Teil 2.5), daß es im Zen-Buddhismus um die Un-Zweiheit bzw. Unterschiedslosigkeit z. B. von Subjekt und Objekt, Mensch und Buddha, Endlichem und Unendlichem, Relativem und Absolutem etc., bei Kant dagegen um die synthetische Einheit des Gegensatzes gehe. Im Blick auf das Beispiel der Blume wäre freilich eine im Rahmen einer Einleitung nicht zu leistende feinere Differenzierung zwischen der ,zen-buddhistisch inspirierten' reinen Erfahrung des ,Durchduftetseins von Soheit' bei Nishida und der ästhetischen Reflexion auf die ,pulchritudo vaga' einer Blume als
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Cf. Kant, Logik, Akademieausgabe IX, 26. Kant, KpV, 292. Cf. KrV, A 856/ B 884: „Der kritische Weg ist allein noch offen". Cf. KrV, Vorrede zur zweiten Auflage. Cf. KpV, 255. Dort führt Kant aus, „daß der Weg zur Weisheit, wenn er gesichert und nicht ungangbar oder irregeleitet werden soll, bei uns Menschen unvermeidlich durch die Wissenschaft durchgehen müsse." Zu diesem Schlüsselbegriff cf. Nishida, Über das Gute, Frankfurt 1989.
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.freier Naturschönheit' bei Kant 35 von Interesse. Die Kapitel 6 - 8 beschäftigen sich mit Nietzsche und dem Zen-Buddhismus. In Kapitel 6 geht es um den aktiven Nihilismus Nietzsches und den buddhistischen Gedanken der Leerheit (äünyatä). In einem nachgelassenen Fragment aus der Zeit vom Herbst 1885 - Herbst 1886 konstatiert der Prophet Nietzsche: „Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste alle Gäste?" 36 . In einem späten Fragment (Nov. 1887 - März 1888) sagt Nietzsche, der „erste vollkommene Nihilist Europas, der den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat" 37 : „Was ich erzähle ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus."38 Der Nihilismus ist „die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werthe und Ideale". 39 Als die ,beiden großen nihilistischen Bewegungen' begreift Nietzsche den Buddhismus und das Christentum,40 die er beide als ,décadence-Religionen' versteht 41 , ohne dabei zu übersehen, daß beide voneinander ,in der merkwürdigsten Weise getrennt' sind. Der Buddhismus ist nach Nietzsche42 „hundert Mal realistischer als das Christenthum, - [...], er kommt nach einer hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung, der Begriff ,Gott' ist bereits abgethan, als er kommt." 43 „Er hat - dies unterscheidet ihn tief vom Christentum - die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich, - er steht, in meiner Sprache geredet Jenseits von Gut und Böse."44 „Der Buddhismus, nochmals gesagt, ist hundert Mal kälter, wahrhafter, objektiver." 45 Arifuku betont die Nähe zwischen dem zenbuddhistischen Gedanken der Leerheit (Sünyatä) und Nietzsches Einsicht in die Nichtigkeit alles Seienden sowie die Nähe zwischen Nietzsches Begriff der Selbstverneinung bzw. 35 36
37 38 39 40 41 42
43 44 45
Cf. K.U. § 16. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, KSA 12, 125 (2[127]). Nietzsche unterscheidet zwischen dem Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes und der Stärke, dem aktiven Nihilismus und dem Nihilismus als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes, dem passiven Nihilismus. Cf. I.e. 350f., (9[35](27)). Cf. KSA 13,190 (11[411]). L.c. 189. L.c. 190. L.c. 167 (11[373]). Cf. KSA 6,186. Zu beachten ist Folgendes: wenn Nietzsche vom Buddhismus spricht, so hat er nicht den ZenBuddhismus im Besonderen im Sinn, von dem er keine Kenntnis hatte. Der Eigenart des Zen(ismus) als eine Fusion von indischem Mahäyäna-Buddhismus und chinesischem Daoismus ist Nietzsche deshalb in einigen Punkten nicht gerecht geworden. Ibid. Ibid. L.c. 189. Ich denke, daß die Kenntnis des Zen-Buddhismus Nietzsche in dieser Auffassung noch bestärkt hätte.
EINLEITUNG
il
Selbstüberwindung des Subjekts44 einerseits und der buddhistischen Selbstbefreiung andererseits, arbeitet dann aber auch die Unterschiede heraus: „Nietzsche gelangt zu seiner Einsicht durch die Überwindung der subjektivistischen Erkenntnistheorie des neuzeitlichen Denkens und ist insofern immer noch genötigt vom Subjekt auszugehen, während der Buddhismus vom Standpunkt der kosmischen Einheit, der Un-Zweiheit von Subjekt und Objekt bzw. Mensch und Natur ausgeht und alle Erscheinungen von diesem Gesichtspunkt her betrachtet." Nietzsches ,Hauptgedanke1". „Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen'. ,Die Irrthümer des Ego entdecken'. ,Den Egoismus als Irrthum einsehen'. [...] kosmisch empfindend47 bleibt ein Wunschgedanke; im ZenBuddhismus ist es der Grundgedanke. Während Nietzsches nihilistische Einsicht aus einer historischen Erfahrung entspringt und die Überwindung der platonischen Metaphysik und des Christentums voraussetzt, ist das Vergänglichkeitsgefühl im Buddhismus geschichtsunabhängig; es drückt nach Arifuku ein kosmisches Grundprinzip der Welt und des Daseins aus, das zu jeder Zeit erfahren werden kann. In Kapitel 7: ,Nietzsches Zarathustra und der Zen-Buddhismus' geht es um das Verhältnis des Menschen zum Übermenschen und zu Buddha. Trotz der großen Unterschiede zwischen der Philosophie Nietzsches und dem buddhistischen Denken findet Arifuku - wie einige Denker vor ihm44 - Entsprechungen. Die bedeutsame 1. Rede Zarathustras in Nietzsches ,Also sprach Zarathustra' handelt von den drei Verwandlungen des Geistes: 1. zum Kamel, dem befohlen wird ,Du sollst' - zu denken ist zuerst an den christlichen Dekalog 49 ; 2. zum Löwen, dessen Geist sagt ,ich will' - zu denken ist nach Nietzsche an die Heroen 50 ; und 3. zum Kinde: es spielt, - zu denken ist an die Götter Griechenlands 51 , insbes. aber an den Aion, das spielende göttliche Kind in Heraklits Fragment B 52:5Z „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen." 53 Bedenkt man, daß Zarathustra als Lehrer des Übermenschen zugleich der Lehrer der ewigen Wiederkunft ist, beide Lehren also zusammengehören54 und Heraklits Aion offenbar sowohl die Präfiguration von Nietzsches spielendem Kind nach der 3. Verwandlung des Geistes als auch die Präfiguration von Nietzsches ,großem Jahr' der Wiederkunft ist, so wird man zu dem Ergebnis kommen 46 47 48
49 50 51 52 53 54
Cf. KSA 12, 313 (7[54]). KSA 9,442 f. (11[7]). Ich verweise hier lediglich auf: Nietzsche and Asian Thought, ed. by G. Parkes, Chicago and London, 1991, sowie auf Ökochi Ryögi, Wie man wird, was man ist, Darmstadt 1995. Cf. KSA 11,105 [351], Cf. ibid. Cf. ibid. Cf. KSA 12,129 (2[130]). KSA 4, 31. „Er [seil. Zarathustra] vergißt sich und lehrt aus dem Übermenschen heraus die Wiederkehr: der Übermensch hält sie aus und züchtigt damit." KSA 10, 378 (10[47]).
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können, daß auch der die ,Überzeit' der ewigen Wiederkunft aushaltende Übermensch im Aion als pais paizon präfiguriert ist. Mit einem Wort: Der Übermensch ist als ,Ideal des mit Kraft Überhäuften' das göttliche Kind, welches mit ,heiligem Ja-sagen' das Weltspiel spielt.55 Der Übermensch, der nicht heroischer ,Superman 154 ist, sondern göttlicher ,overman' bzw. ,overhuman' ist nicht die ,blonde Bestie', sondern vielmehr der sich und seinen Geist des Löwen, welcher brüllt': ,ich will' überwindende Mensch, dessen Geist zum Kind wird.57 Ausgehend von dieser Interpretation des Übermenschen als spielendem Kind zeigt sich eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem Buddha, dem Erwachten. Arifuku sagt: ,Die höchste Stufe des Erwachens im Zen-Buddhismus ist das Vergessen des Erwachens und der Standpunkt des Spiels, wobei man sich frei und natürlich verhalten kann, wie man will.' Der wahre Buddha ist das wahre Selbst in spontanem, ichlosem, freiem Spiel. Der ichlose freie und natürliche Mensch ist ein gebender Buddha'. Kapitel 8 handelt vom Leib als großer Vernunft bei Nietzsche und dem Problem des Leibes in der Zen-Theorie Dögens. Im 1. Teil wird zunächst Nietzsches Begriff der Vernunft des Leibes untersucht, im 2. Teil wird Dögens Idee der Leib-Übung betrachtet, um dann im Schlußteil beide Auffassungen zu vergleichen, wobei wiederum auf Ähnlichkeiten wie auf Unterschiede hingewiesen wird. „Ehemals [...] glaubte man an ,die Seele', wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte..."58 „Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe." Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ,Geist' nennst, ein kleines Werk - und Spielzeug deiner grossen Vernunft. „'Ich' sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, - dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich aber thut Ich."59 Der Leib ist das wahre Subjekt unseres Tuns. Unser Leib ist weiser als unser Geist. Der Leib ist das ichlose Ich, das ,große Selbst'. Die ,große Vernunft' des Leibes ist das »große Selbst'. Hier werden entfernte Ähnlichkeiten zwischen Nietzsche und Dogen sichtbar, trotz des Unterschieds, der ein Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissen und Übung ist. Nach Dogen kann man sich dem Buddhaweg desto mehr nähern, , j e weiter man sich von dem ichhaften egoistischen Bedenken, Wissen, Meinen und Vernehmen befreit, indem man sich ausschließlich mit der 55 56
57 58 59
Cf. KSA 12,129 (2[130]). Cf. Die Übersetzung von R.J. Hollingdale in der Penguin Classics Ausgabe, London 1961, 4Iff. und dazu das Cover von F. Hodler. Cf. dazu Wohlfart Wer ist Nietzsches Zarathustra? in: Nietzsche-Studien, Bd. 26, 1997, 319 -330. Nietzsche, KSA 5, 73. KSA 4, 39.
EINLEITUNG
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Zazen-Übung durch den Leib beschäftigt. Den Buddha-Weg zu erreichen ist also vor allen Dingen durch die leibliche Übung möglich." 40 Die Zazen-Übung vollziehen bedeutet nach Arifuku, die Beherrschung des Leibes durch das Bewußtsein bzw. den Geist aufzugeben, was der gewöhnlichen Vorstellung gerade widerspricht. „Man soll beim Zazen unbeweglich sitzen, wie ein großer Berg, was zugleich ein Nichtdenken ist. Nicht-Denken bedeutet, alle Vorstellungen und alles Wollen zu verlassen und zu transzendieren. Das Nicht-Denken ist also nichts anderes, als daß der Mensch durch seinen Leib zu einem Ding und zur Natur wird. Darin liegt eben die geheimnisvolle Kunst der Zazen-Übung." Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Nietzsche und Dogen ergibt sich hinsichtlich des Begriffs der Erde. Nietzsche beschwört uns: „bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!" 61 Er lehrt das ,Erdenreich' anstelle des christlichen ,Himmelreichs'. Nach Dogen ist die ganze Erde „der wahrhafte Leib des Buddha, die ganze Erde ist das Tor zur Befreiung [...]". In der Tat lebt unser großes Selbst als Leib mit der ganzen Erde und ist ein Teil der großen Natur, obwohl wir dies meist vergessen und uns als ,maîtres et possesseurs de la nature' verstehen. Das selbstvergessene Selbst ist kein kleines egoistisches Ich, sondern ein ichloses großes Selbst, ein ,kosmisches' Selbst, das mit der ganzen Erde lebt, handelt, spricht, fühlt und denkt. In der Zazen-Übung erfahren wir die innige Verbundenheit zwischen uns und der Natur bzw. die Un-Zweiheit unseres Selbst und der Erde. Nach Arifuku unterscheiden sich aber beide Denker dennoch darin, daß Nietzsches Leib und seine ,große Vernunft' noch ein „den Sinn der Erde gebendes, aber von der Erde zu unterscheidendes Wesen ist, während Dögens ichloses Selbst den Leib mit der Erde fast identifiziert". Trotz aller Ähnlichkeiten sind die Unterschiede zwischen philosophischer Reflexion einerseits und religiöser Übung bzw. Meditation andererseits unübersehbar. Die Kapitel 9 und 10 behandeln Heidegger und den Zen-Buddhismus. Kapitel 9 ist eine komparative Studie zu Heidegger und Dogen, wobei es um den Begriff des ,Seins zum Tode' einerseits und die Idee der ,Unzweiheit von Leben und Tod' andererseits geht. Im 1. Teil analysiert Arifuku die Seinsweise des Daseins als Sein zum Tode bei Heidegger, wobei im Einzelnen der Todesbegriff bei Heidegger und die Sorgestruktur des Daseins sowie die vorlaufende Entschlossenheit als Sein zum Tode näher betrachtet werden. Im 2. Teil untersucht Arifuku das Problem von Leben und Tod bei Dogen, wobei es zunächst um Dögens Erklärung von Leben und Tod als Nicht-Leben und Nicht-Sterben und dann um das Problem von Leben und Tod in der absoluten Gegenwart geht. Im 3. Teil werden Entsprechungen und Unterschiede aufgezeigt. Insbesondere wird auf den Vorrang der Zukunft in der Zeitigung der Zeitlichkeit bei Heidegger 60 61
Dogen, Shöbögenzö - Zuimonki, Kap.2. KSA4,15.
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einerseits und auf den Vorrang der absoluten Gegenwart in der ,ganzen Aktivierung von Leben und Tod' bei Dogen andererseits hingewiesen. Schließlich wird Heideggers dualistischer Gedankengang im Begriff ,Sein zum Tode' mit Dögens Logik der Unzweiheit von Leben und Tod verglichen. Trotz Heideggers Behauptung des Vorranges der Zukunft hält Arifuku dafür, daß die absolute Gegenwart für das menschliche Leben ursprünglich ist. Die Zeitlehre der absoluten Gegenwart als absoluter Trennung von Vor und Nach bei Dogen kommt in dem zen-buddhistischen Motto zum Ausdruck: „Leben ist die ganze Aktivierung des Lebens. Tod ist die ganze Aktivierung des Todes." Dies bedeutet nach Arifuku, daß man sich im Leben auf das Leben konzentriert und im Tod auf den Tod. Das heißt, man soll mit aller Kraft leben und sterben. Nur durch die Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick ist nach Dogen der Gegensatz von Leben und Tod zu überwinden. Kapitel 10 behandelt die Antinomie von Technik und Umwelt. Dabei werden zunächst die Grundzüge der Technik überhaupt aufgezeigt und das Wesen der modernen Technik als Ge-stell bei Heidegger betrachtet. Ferner geht es um den Charakter der poiesis und die ursprüngliche Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, um schließlich die Frage zu behandeln, wie man sich zur Technik und den Umweltproblemen verhalten muß. Gelasssenheit bedeutet nicht nur Ablassen vom kleinen Ich, sondern zugleich das Sich-Einlassen auf die Dinge, um so durch die Einfühlung des Menschen in die Welt der Dinge und das Mitfühlen mit ihnen die Un-Zweiheit von Mensch und Natur bzw. die Un-Zweiheit der Dinge und des sog. ,denkenden Dings' zu erfahren. Arifuku erinnert an den japanischen Begriff mono no aware (wörtlich etwa die ,Ach-heit der Dinge'), der sowohl ästhetisch wie ethisch verstanden werden kann. ,^4ware war ursprünglich eine Interjektion, mono bedeutet ,Ding', ,Etwas' (zugleich im Sinne eines tremendum und eines fascinosum), mono no aware bedeutet somit den Respons eines wahrnehmenden Bewußtseins auf die pathoserzeugende Qualität der Dinge". 62 Abschließend sei die Frage gestattet, inwiefern sich Heidegger, dessen Einfluß auf die Philosophie Japans in diesem Jahrhundert kaum überschätzt werden kann, wirklich auf ostasiatisches, insbesondere japanisches Denken eingelassen hat. 63 Ist sein ,Gespräch von der Sprache - Zwischen einem Japaner und einem Fragenden' 64 am Ende doch nur ein Monolog geblieben? Wie dem auch sei: Zweifellos zählt es zu seinen größten Verdiensten, den philosophischen Dialog mit Ostasien, insbesondere mit Japan, vorbereitet zu haben. 62 63
64
P. Pörtner, J. Heise, Die Philosophie Japans, Stuttgart 1995,224, cf. I.e. 319. Aus der Vielzahl der Literatur sei hier auf Folgendes verwiesen: Heidegger and Asian Thought, hg. von G. Parkes, Hawaii 1987; G. Parkes, Heidegger and Japanese Thought: How much did he know and when did he know it?, in: Martin Heidegger. Critical Assessments, hg. von Chr. Macann, London / New York 1992, 377-406; R. May, Ex Oriente Lux. Heideggers Werk unter ostasiatischem Einfluß, Stuttgart 1989; Japan und Heidegger, hg. von H. Buchner, Sigmaringen 1989. In: M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 2 1960.
I. Philosophische Annäherungen an den Zen-Buddhismus
1. Kapitel Was ist die Buddha-Natur? Anstelle der Frage: Was ist der Zen-Buddhismus? Im folgenden möchte ich Dögens Ü7i; (1200-1253) Grundidee von der BuddhaNatur (busshö {Att) verdeutlichen, wie sie in seinem Hauptwerk Shöbögenzö lE^BS/U zur Sprache kommt und entwickelt wird. Meines Erachtens ist die Buddha-Natur der wichtigste unter allen buddhistischen Begriffen. Das gilt insbesondere für den Zen-Buddhismus, dessen Grundthese darin besteht, daß man diese Natur durch sich und bei sich selbst realisieren muß. Deshalb habe ich im Titel die Frage: Was ist der Zen-Buddhismus? durch die andere Frage Was ist die Buddha-Natur? ersetzt. Jene erste ist in dieser zweiten Frage aufgehoben. Zum Zweck der Darstellung meines Themas werde ich erstens die Bedeutungen des sino-j apanischen Wortes busshö und der entsprechenden Wörter aus dem Sanskrit analysieren. Diese Bedeutungen sind näher zu erläutern, indem ich zweitens das Verhältnis zwischen Buddha-Natur und Buddha mit demjenigen zwischen Ding und Dingheit, Sein und Seiendem, eidos und hyle, essentia und existentia, Begriff und Gegenstand usw., d.h. mit traditionellen Begriffspaaren aus der europäischen Philosophie, in Beziehung setze. Drittens werde ich Dögens Betonung der Un-Zweiheit von Wesen und Erscheinung betrachten, um dann viertens Dögens eigentümliche Interpretation der Buddha-Natur als ein notwendiges Resultat jener Un-Zweiheit hervortreten zu lassen. Nach Dögens Interpretation ist alles Sein Buddha-Natur, so daß die ganze Natur (Berg, Fluß und Erde) als „großes Meer der Buddha-Natur" bezeichnet werden kann, was fünftens zu behandeln sein wird. Zum Schluß möchte ich erörtern, aus welchem Grund Dogen seine eigentümliche Interpretation der Buddha-Natur entfalten mußte und welche Vorteile eine solche Interpretation zu bieten vermag.
1. Was ist die Buddha-Natur? Das japanische Wort busshö (chin.: foxing) bedeutet auch nyoraizö (skrt.: tathägata-garbha), es bedeutet die Möglichkeit, ein Nyorai, d.h. ein Buddha werden zu können; bzw. kakushö d.h. die Fähigkeit zum Erwachen zu gelangen. Das sino-japanische Wort busshö ist die chinesische Übersetzung der Sanskrit-Wörter buddhatä, buddhatva und buddhadhätu. Busshö bedeutet also, noch genauer definiert, die Natur des Buddha bzw. Buddha-Natur, mit anderen Worten: die Möglichkeit und Fähigkeit, in der Zukunft ein Buddha werden zu können. Dabei bedeutet das Sanskrit-Wort dhätu einerseits Platz, Basis und Grundlage, andererseits Herkunft, Abstammung, Stamm (gotra) und Ursache
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PHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNGEN AN DEN ZEN-BUDDHISMUS
(hetu). Von diesem Standpunkt aus gesehen weist busshö, d.h. die Buddha-Natur auf die Herkunft und Familienabstammung Buddhas hin.1 In diesem Punkt bedeutet die Buddha-Natur eine Beschaffenheit, die den aus der Buddhafamilie Abstammenden gemeinsam ist. Deren Besitzer heißen Bodhisattva (jap.: bosatsu); es handelt sich um diejenigen Menschen, die entschieden sind, sich um das Erwachen nach bestem Wissen und Gewissen zu bemühen. Das Wort nyoraizö bedeutet einen Embryo des nyorai, d.h. einen Embryo (skrt.: garbha), der in Zukunft ein Buddha werden kann und soll. Er ist derjenige, der einen nyorai (skrt.: tathägata = Buddha) unter dem Herzen trägt.2 Busshö (Buddha-Natur) ist - allgemein gesagt - das Wesen und die Natur des Buddha, d.h. das, was Buddha als solcher ist. Derjenige, der dieses Wesen verwirklicht (realisiert), heißt ein Buddha. Denn Buddha ist eigentlich kein Eigenname, sondern bedeutet nur „Erwachter". Also haben die meisten Menschen im alltäglichen, gewöhnlichen Leben zwar die Buddha-Natur als Möglichkeit in sich, aber noch nicht als Wirklichkeit. Da die Buddhisten in Indien, China und Japan von alters her diese Ansicht hatten, haben sie z.B. darüber diskutiert, welche Menschen Buddha werden können und welche nicht. Aufgrund der verschiedenen Lehren und Theorien von der Buddha-Natur haben sie auch verschiedene Sekten und Schulen gestiftet. Das gilt auch für andere buddhistische Begriffe und Theorien, was von konstitutiver Bedeutung für die Entwicklung des Buddhismus selbst und die Entfaltung der buddhistischen Geschichte war. Solche Argumentationen und Diskussionen um die Buddha-Natur sind aber vom Standpunkt des Zen-Buddhismus aus gesehen unsinnig, weil das Zen gerade darin besteht, daß jeder Mensch die Buddha-Natur in sich trägt und sie jederzeit und überall realisieren kann und muß. Deshalb möchte ich hier nicht mehr weiter auf die geschichtliche Entfaltung des Begriffes der Buddha-Natur eingehen, sondern werde im folgenden vielmehr den Begriff mit einem ähnlichen Ansatz in der abendländischen Philosophie vergleichen. 2. Dingheit des Dinges und Buddha-Natur Das Verhältnis von Buddha und Buddha-Natur könnte z.B. dem von Gegenstand und Gegenständlichkeit, Substanz und Substanzialität bzw. Seiendem und Sein in der europäischen Philosophie entsprechen, obwohl man den europäisch-philosophischen Ansatz vom indisch-buddhistischen in verschiedenen Einzelheiten gründlich unterscheiden muß. Dementsprechend haben Buddhas die BuddhaNatur in sich ebenso wie Seiendes das Sein. Ein Gegenstand kann deshalb Gegenstand heißen, weil er seine eigentümliche Gegenständlichkeit besitzt. Die Substanz kann nur aufgrund und aus ihrer eigentümlichen Substantialität zur Substanz werden. 1 1
Vgl. Hajime Nakamura (Hg.), Shin-bukkyö jiten, Tökyö 1962, 452. Vgl. ebd., 413.
WAS IST D E BUDDHA-NATUR?
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Es ist nur der Gegenstand oder die Substanz als Seiendes, aber nicht die Gegenständlichkeit oder die Substantialität als Sein selbst, die wir Menschen unmittelbar als konkrete und empirische Sache beobachten können. Das Verhältnis von Gegenständlichkeit und Gegenstand, Substantialität und Substanz entspricht dem von Allgemeinem und Individuellem, Form (eidos) und Materie (hyle), Möglichkeit (dynamis) und Wirklichkeit (energeia), Wesen und Existenz, Begriff und Gegenstand, Ding an sich und Erscheinung, Transzendentem und Empirischem usw. In der wirklichen, empirischen Welt kann es nur Gegenstände bzw. Seiendes als Individuelles geben. Trotzdem kann man nur dann jedem Individuum ein Allgemeines (z.B. einen Gattungsnamen) zusprechen, wenn es irgendeinen allgemeinen Charakter besitzt. Wir können sowohl sagen „Sokrates ist ein Mensch", als auch „Hitler ist ein Mensch". Wieso können wir ein- und denselben Begriff „Mensch" auf beide anwenden, obwohl sie ganz verschiedene Charaktere, Lebensläufe und unterschiedliche Mentalitäten besitzen? Weil sie das Menschsein, ohne die ein einzelner Mensch nicht möglich ist, in sich tragen, kann man jeden von beiden einen Menschen nennen. Auch gibt es verschiedene Blüten, z.B. Pflaumen- und Kirschenblüten. Warum kann man so verschiedene Blüten mit verschiedenen Formen und Farben „Blüte" nennen? Weil beide eine gemeinsame Beschaffenheit (sozusagen die Natur der Blüte) in sich tragen. Die Definition eines Dinges als „Blüte" muß eine für alle Blüten gemeinsame Beschaffenheit ausdrücken. In diesem Punkt kann und muß also die Definition eines Gegenstandes (Dinges) mit der Gegenständlichkeit (Dingheit) des Gegenstandes deckungsgleich sein. Auch im Buddhismus gibt es ein dem Verhältnis von Wesen und Existenz, Form und Materie nach der Terminologie der europäischen Philosophie genau entsprechendes terminologisches Verhältnis: das von shö ft und so Unveränderlichem und Veränderlichem, Wesen (Dingheit) und Erscheinung (Ding) bzw. Ding an sich und Erscheinung. Man kann einige Gründe dafür angeben, weshalb es eine solche Entsprechung zwischen der buddhistischen Philosophie und der europäischen gibt. Der Buddhismus ist nichts anderes als eine der Entwicklungsgestalten der indischen Philosophie. Die Schöpfer des Buddhismus waren Arier und ihre Sprache war eine indogermanische wie die der Europäer. Wenn man dies bedenkt, ist es wahrscheinlich, daß es im Buddhismus Elemente gibt, die sich auch in der europäischen Philosophie finden lassen. Im nächsten Abschnitt möchte ich Dögens Lehre von Wesen und Erscheinung skizzieren, der die buddhistische Theorie von Wesen und Erscheinung übernommen und zugleich die Un-Zweiheit (Einheitlichkeit) beider vertreten hat. 3. Un-Zweiheit von Wesen und Erscheinung Dogen hat den dualistischen Standpunkt von Wesen und Erscheinung, von dem her man die Sterblichkeit des Körpers und zugleich die Unsterblichkeit der Seele behauptete, im Kapitel Bendöwa (Über die Übungsarten des Buddhawegs) des
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PHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNGEN AN DEN ZEN-BUDDHISMUS
Shöbögenzö scharf kritisiert und als Meinung der Nicht-Buddhisten, der Sennige dö (-JS, verurteilt. Nach dieser dualistischen Denkweise kann die Seele des Menschen nach dem Tod seines Körpers noch weiter leben, vergleichbar der Zikadenhülle und der Schlangenhaut. Der Ansicht eines Senni-gedö nach ist es unnötig, über Leben und Tod zu klagen, da es einen leichten Weg gibt, durch den man sich sofort vom Leiden in Leben und Tod befreien kann. Dazu ist zuerst erforderlich, die Beharrlichkeit der Seele zu kennen, die nie verschwindet, obwohl dieser schon einmal geborene Körper bald notwendigerweise vom Tode hinweggerafft wird. Wenn man um die Existenz der Seele in seinem Körper weiß, die sich weder auf die Geburt noch auf den Tod bezieht, kann man diese Seinsart als ihr eigentliches Wesen ansehen. Demgemäß ist der Körper eine provisorische Erscheinung bzw. Gestalt, die wandelbar ist, hier geboren wird und dort stirbt. Die Seele dagegen bleibt immer unwandelbar sowohl in der Vergangenheit und in der Gegenwart als auch in der Zukunft. Man kann den Zustand, um die derartige wesenhafte Wahrheit der Seele zu wissen, Befreiung von Leben und Tod nennen. Wer diese Bedeutung wirklich versteht, der kann nach dem Ende des körperlichen Lebens in die unveränderliche Welt der Buddha-Natur einziehen, indem er sich von der Welt des Lebens und des Todes zurückzieht. Wenn man zur Welt der Buddha-Natur gehört, ist man ebenso tugendhaft wie die Buddhas und die nyorai (tathägata). Selbst wenn man um die Bedeutung der Buddha-Natur weiß, könnte es dennoch sein, daß man noch nicht den Heiligen gleich ist, da man an seinen gegenwärtigen Körper gebunden ist, was eine Folge der irrtümlichen Handlungen in der früheren Existenz bzw. im vorangegangenen Leben ist. Wer diese Bedeutung noch nicht versteht, der muß ewig in der Welt von Leben und Tod weiter irren. Deswegen ist es unbedingt erforderlich, die Bedeutung der Beharrlichkeit der Seelen-Natur zu verstehen. Was kann man überhaupt davon erwarten, wenn man während des ganzen Lebens bloß sitzt (d.h. Zazen übt), ohne irgend etwas Nützliches zu tun?3 Dögens Ansicht nach sind alle diese Meinungen für den Buddha-Weg ungeeignet. Es handelt sich hier vielmehr um die fälschliche Auffassung der Sennigedö, einer der außerbuddhistischen Schulen in Indien, die an die Existenz des absoluten Ich glaubte und sie demonstrieren wollte. Im Kapitel Bendöwa faßt Dogen die Meinung der Senni-gedö folgendermaßen zusammen: Nach der Meinung der Senni-gedös hat man in seinem Körper ein seelisches Vermögen, das bei jeder Gelegenheit zwischen gut und böse, richtig und falsch geschickt unterscheiden kann. Das ist alles kraft des seelischen Vermögens, das zwischen Schmerz und Jucken, Freud und Leid unterscheidet. Da jene seelische Natur nach dem Sterben dieses Körpers in die andere Welt verwandelt geboren 3
Dogen, Shöbögenzö, Kapitel Bendöwa, hrsg. u. kommentiert von Yaoko Mizuno, 4 Bde., Iwanami-bunko, Tokyo 1990/94, I, 3 lf. (Die römische Zahl zeigt die Bandnummer und die arabische die Seitenzahl der genannten Ausgabe an.)
WAS IST DIE BUDDHA-NATUR?
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wird, so wie die Schlange die Haut abwirft und die Zikade ihre Hülle abstreift, so ist sie ewig unsterblich und bleibt immer dort, obwohl sie hier zu verschwinden scheint.4 Daß man diese Meinung für die buddhistische hält, ist nach Dögens Auffassung noch dümmer, als wenn man einen Schutthaufen für einen goldenen Schatz hielte. Man meint sich durch diese falsche Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele und der Sterblichkeit des Körpers als ausgezeichneter buddhistischer Lehre von Leben und Tod zu befreien, obgleich man sich gerade dadurch die Grundursache der Fesselungen von Leben und Tod geschaffen hat. Dies entspricht nicht der buddhistischen Lehre. Aber man glaubt dennoch zunächst und zumeist an die Sterblichkeit des Körpers und die Unsterblichkeit der Seele. So ist es der Fall bei der Feier bzw. bei der Messe zur Beruhigung der Seelen der Verstorbenen. Darauf stützt sich der vulgäre und populäre Buddhismus in Japan. Shöin Yoshida, Patriot in der späten Edo-Zeit, hat bei seiner Hinrichtung folgendes Gedicht mit einunddreißig Silben von sich gegeben:
ft-htek fc
t
mi wa tatoi musashi no nobe ni kuchinu tomo todome okamashi yamato-damashii
Obwohl mein Körper im Feld von Musashi dahinstirbt, soll meine japanische Seele überleben 5 Er hat sich die ewige Existenz seiner Seele gewünscht. Sokrates hat kurz vor dem Einnehmen des Giftes seine Schüler dazu zu bewegen versucht, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben und keine Angst um seinen Tod zu haben (vgl. Piaton, Phaidon, 105e - 107a). Trotzdem bringt das Problem der Unsterblichkeit der Seele eine für uns Menschen unauflösliche prinzipielle Schwierigkeit mit sich, die von Anfang an besteht, denn die Seele ist kein Gegenstand, der durch die menschlichen Sinne erkannt werden kann. Der Mensch kann nicht den Tod seines eigenen Körpers, geschweige denn den Tod seiner Seele erleben. Denn er
4 5
Ebd., 1,33. Shöin Yoshida, Ryukonroku (Niederschrift zum Immerbleiben Oka, Shökasonjuku no Shidösha (Führer der Shöka-Dorfschule),
der Seele); vgl. Fukashi Tokyo 1942, 500.
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PHILOSOPHISCHE ANNÄHERUNGEN AN DEN ZEN-BUDDHISMUS
muß im Augenblick des Todes schon sterben und seine Sinne funktionieren nicht mehr. 6 Warum weist Dogen den Gedanken der Sterblichkeit des Körpers und der Unsterblichkeit der Seele zurück, obwohl sowohl die platonisch-christliche Philosophie als auch der vulgäre Buddhismus die Unsterblichkeit der Seele annehmen? Es ist klar, daß der von Dogen zurückgewiesene Standpunkt ein dualistischer ist, von dem aus man den Körper von der Seele, die Erscheinung vom Wesen trennt und damit das eine für etwas ganz anderes als das andere ansieht. Deshalb neigt man teils zu der Annahme, daß man nach dem Tod ins Paradies kommen kann, obwohl man während seines Lebens im Tal des Jammers bleiben muß, teils trachtet man nach dem jenseitigen Nirvana, weil man dem Problem von Leben und Tod in dieser wirklichen Welt ausweichen will und sich davon abwendet. Das ist dem Laster vergleichbar, das darin besteht, seine Zeit zu vergeuden, indem man jetzt nachlässig ist, ohne das zu tun, was gerade jetzt getan werden muß. Man vernachlässigt und verschiebt das, wozu man verpflichtet ist. Natürlich sind Körper und Seele als Seinsarten verschieden. Obwohl ostasiatische Denker wie Dogen die Un-Zweiheit von beiden vertreten, weist das Wort „Un-Zweiheit" selbst schon darauf hin, daß beide zwar unterschiedliche Elemente, zugleich aber untrennbare Momente sind. Dogen antwortet auf die zehnte Frage im Kapitel Bendöwa folgendermaßen: Man soll wissen, daß nach dem buddhistischen Prinzip buppö {kfe (Buddhadharma) Körper und Geist einheitlich sind und Wesen und Erscheinung untrennbar sind, und man darf nicht wagen, das zu bezweifeln, was sowohl in Indien als auch in China als gewiß angenommen und geglaubt wird. Wo von der Unveränderlichkeit (Beständigkeit) die Rede ist, da findet man alles unveränderlich (beständig) und dabei Körper und Geist untrennbar, und wo von der Veränderlichkeit (Vernichtung) die Rede ist, da findet man alles veränderlich und dabei Wesen und Erscheinung untrennbar. Warum kann man dann aber den Körper als veränderlich ansehen und den Geist als unveränderlich, was dem wahren Prinzip des Buddhismus widerspricht? Überdies soll man noch dessen gewahr werden, daß Leben und Tod zugleich das Nirvana sind, da man ohne Leben und Tod vom Nirvana gar nicht sprechen kann. Wenn man auch meint, buddhistische Kenntnisse unabhängig von Leben und Tod zu haben, indem man den Geist als vom Körper getrennt und als unveränderlich auffaßt, so ist dieser Geist als Auffassungs- und Wahrnehmungskraft an sich doch veränderlich und gar nicht beständig. Findet Ihr diese Tatsache nicht unbeständig? 7 Wie hier erwähnt, ist es ganz klar, daß während des menschlichen Lebens Körper und Geist eine Einheit bilden und Wesen und Erscheinung untrennbar sind. Denn da Körper und Geist zusammenwirken und -arbeiten, kann es weder bloß körperliches Leben ohne Geist, noch geistiges Leben ohne Körper geben. 6 7
Vgl. mein Buch Dogen no sekai (Die Welt Dögens), 159-193. Shöbögenzö (Bendöwa), I, 34f.
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Alle Dinge haben ihrem Namen nach allgemeine und gemeinsame Beschaffenheiten. Trotzdem sind sie als Individuen durch Einzelheiten und Besonderheiten ausgezeichnet. Das menschliche Leben kann also nur in einer synthetischen Korrelation bestehen. Doch dann kann man keinen anderen Weg zur Selbsterlösung finden, als ausschließlich im wirklichen und konkreten Leben - auch im Angesicht des Todes - schon Herzensruhe (Seelenfrieden) und Befreiung (nirväna) zu suchen. Man soll sich deshalb jetzt und hier offen und ehrlich den Problemen von Leben und Tod stellen, um inmitten des Lebens die Selbsterlösung und Herzensruhe zu finden, ohne die Befreiung vom Leiden des Lebens und des Todes in die entfernte Zukunft und das jenseitige Nirvana zu verschieben. Nur das verdient im Zen-Buddhismus echte Lebensweisheit genannt zu werden. So schreibt Dogen am Ende des Abschnitts der zehnten Fragestellung des genannten Kapitels wie folgt: Man soll wissen, daß nach dem buddhistischen Prinzip alle Erscheinungen nichts anderes sind als das einzige Herz (die einzige Geistigkeit) und man dabei weder das Wesen von der Erscheinung trennt noch zwischen Werden und Vergehen (Erscheinen und Verschwinden) unterscheidet. Nach diesem Prinzip gibt es von Leben und Tod bis bodhi (Erwachen) und nirväna (Beruhigung) nichts anderes als die einzige Geistigkeit. Alles Seiende und alle Erscheinungen sind sowohl vom einzigen Herz erfüllt als auch damit verbunden. Sie alle stammen gleichermaßen vom einzigen Herz. Wenn man diese Denkungsart als nicht befremdlich empfindet, dann ist dies eben ein Zeichen dafür, daß man mit der buddhistischen Geistigkeit wohlbekannt ist.8 Die Logik der Un-Zweiheit von Wesen und Erscheinung, Körper und Geist, Leben und Tod ist mit der Eigentümlichkeit von Dögens Lehre der Buddha-Natur eng verbunden. Es soll im folgenden Abschnitt Dögens Theorie der BuddhaNatur selbst verdeutlicht und mit der Theorie des Zen erörtern werden. 4. Dogens Interpretation der Buddha-Natur Der Sinn von issai-shujö-shitsu-u-busshö
—^U^ifcjSW'fAtÜ:
Dogen beginnt das Kapitel Busshö (Buddha-Natur) mit einem Zitat aus dem Nehangyö (Mahäparinirväna-sütra): § äkyamuni-Buddha sagte: Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur in sich und tathägata bleibt immer und beharrt unveränderlich. Obzwar diese Aussage eine mächtige Predigt unseres großen Meisters § äkyamuni-Buddha ist, wie das Gebrüll eines Löwen, ist sie auch das Wesen und der Kern von allen Buddhas und Patriarchen.9 8 9
Shöbogenzö (Bendöwa), I, 35. Shöbögenzö (Busshö), I, 72.
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Hierbei muß man auf Dögens eigentümliche Lesart des chinesischen Satzes achten. Während man gewöhnlicherweise einen chinesischen Satz nach japanischer Lesart und -Ordnung liest und auslegt - so wie ich ihn oben übersetzt habe liest und legt Dogen den chinesischen Satz von oben nach unten aus, entsprechend der chinesischen Lesart. Dabei muß man eine spezifisch japanische Eigentümlichkeit beachten. Damit die Japaner einen chinesischen Satz auf japanisch richtig verstehen können, müssen sie normalerweise zuerst die chinesische Ordnung der Worte, die den chinesischen Satz ausmachen, nach der japanischen Grammatik umstellen. Im japanischen Satz folgt das Verb nicht dem Subjekt, sondern meistens dem Objekt, das im chinesischen Satz am Ende steht. Aber die Lesart, die Dogen bevorzugt, ist genau genommen weder chinesisch noch japanisch, denn nicht nur Japaner, sondern auch Chinesen lesen den Satz eben so, wie ich ihn oben übersetzt habe. Nach der gewöhnlichen Lesart verhält sich das Lebewesen zur Buddha-Natur wie das Subjekt zum Objekt. Obwohl das Subjekt, d.h. das Lebewesen eine Möglichkeit, nämlich die Buddha-Natur, in sich hat, ist es, als nur lebendiges, ein unvollendetes und ungenügendes Wesen, da es jene Möglichkeit weder verwirklicht, noch sich aneignet. Deshalb liegen zwei Gefahren in der gewöhnlichen Lesart, nämlich erstens die Buddha-Natur zu vergegenständlichen und zu objektivieren, mit anderen Worten: zu substantialisieren, und zweitens die BuddhaNatur als Ding nicht auf das Selbst eines übenden Zen-Buddhisten zu beziehen. Daraus ergibt sich eine Distanz, es wird eine Mauer errichtet zwischen dem Lebewesen und der Buddha-Natur. Es ist aber gerade der Ausgangspunkt und die Grundeinstellung des Mahäyäna-Buddhismus, daß man in ihm die drei verschiedenen Stufen: shömon (skrt.: srävaka), engaku j^'M, (pratyeka-buddha) und bosatsu (bodhisattva) gleichsetzen muß, ohne zwischen ihnen zu unterscheiden. Die Haltung bzw. Einstellung, die im Zen-Buddhismus am meisten gemieden wird, ist diejenige, in der man z.B. das Prinzip „Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur" nur zum Gegenstand einer Sprachanalyse macht, ohne es auf das Problem der Selbstübung bzw. Selbstbefreiung zu beziehen. Ich möchte im folgenden die erste Gefahr erörtern. Davor warnend, daß der Senni-gedö die Seele mit der Buddha-Natur verwechselt, sagt Dögen: Sogar viele buddhistische Gelehrte haben das Wort 'Buddha-Natur' so mißverstanden, als handele es sich dabei um das Ich im außerbuddhistischen Sinne, weil sie darin weder den bewanderten Menschen noch das wahre Selbst gesehen haben und auch keinen wahrhaften Meister. Sie kennen nur das wie Wind und Feuer schwankende Gemüt und Bewußtsein, das Wahrnehmen und Begreifen der Buddha-Natur. Doch wer hat überhaupt gesagt, daß man die Buddha-Natur wahrnehmen und begreifen kann? Obwohl man den Buddha den Erwachten bzw. den Wissenden nennt, kann man die Buddha-Natur weder wahrnehmen noch begreifen. Die Bedeutung von 'Erwachen', die im Wort 'Buddha' enthalten ist, ist ganz verschieden, sowohl von dem gegenständlichen Wahrnehmen und Erkennen der 'BuddhaNatur', als auch von der Bewegung des Gemüts und des Bewußtseins. Man kann
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nur die das menschliche Denken und Bewußtsein transzendierenden Handlungen das Erwachen und Wissen des Buddha nennen.10 Nach Dögens Ansicht ist die Buddha-Natur nicht etwas wie Ich bzw. Gemüt bzw. Seele, sei es das Subjekt der Handlung, des Geistes und Bewußtseins, sei es die ewige und unsterbliche Substanz, welche die Nicht-Buddhisten vertreten. Gewöhnliche Menschen - man denke an das „Man" in der Philosophie Heideggers -, identifizieren die Handlung des wie Wind und Feuer schwankenden Gemüts mit dem Wahrnehmen und Wissen der Buddha-Natur. Doch obwohl man den Buddha den Erwachten bzw. den Wissenden nennt, kann man, so Dogen, die Buddha-Natur weder wahrnehmen noch erkennen. Denn sofern die BuddhaNatur als Gegenstand des Erkennens und Wahrnehmens angenommen wird, wird sie verendlicht. Sofern die Buddha-Natur dagegen als unendliches, kosmisches Leben des eigentlich-ursprünglichen Selbst angesehen wird, das auf der UnZweiheit von Mensch und Natur, von Selbst und dharma (Kosmos), von Subjekt und Objekt beruht, also mit einem Wort als Ur-Natur des Selbst und des Kosmos betrachtet wird, ist sie für das menschliche Erkenntnissubjekt als dem Gegenpol des Objekts und demgemäß als Hälfte des Ganzen, weder wahrzunehmen noch zu erkennen." Obwohl man zwar das Leben bzw. eine Handlung sprachlich erklären kann, sind sie an sich von der sprachlichen Erklärung verschieden. Im Augenblick der Erklärung entwickelt sich das Leben weiter und eine Handlung geht in die andere über. Also kommt die Sprache für die Sache selbst zu spät bzw. zu früh. Denn die Sache existiert sowohl schon vor, als auch nach der sprachlichen Erfassung. Es gibt deshalb im Zen-Buddhismus das folgende Sprichwort: „SäkyamuniBuddha habe 49 Jahre lang kein Wort gepredigt"; „keine Worte" bzw. „keine Lehre", außer der absoluten Wirklichkeit; „Offene Weite ohne Heiligkeit" und „Nicht-Wissen" bei Meister Bodhidharma; „Ein Wort kann die Sache selbst gar nicht treffen" bei Meister Nangaku-Ejö. Diese Worte drücken die absolute Freiheit der menschlichen Handlung aus, die von der sprachlichen Fesselung im menschlichen Bewußtsein ganz unabhängig ist, und die nichts anderes ist als die reine Tätigkeit und Aktivität von ku Q (iünyatä = Leerheit) bzw. shinnyö (tathatä = Wahrheit) bzw. jissö U t S (Wirklichkeit, Wahrhaftigkeit), hosshö ifett (dharmatä = Wesen, Natur) und busshö (Buddha-Natur) usw. Diese Termini weisen alle auf die buddhistische Freiheit hin, die nur durch die reine Tätigkeit und Handlung des von allerlei Fesselungen und Gefangenschaften befreiten Menschen möglich ist, der sich die buddhistische Wahrheit als sünyatä (Leerheit) aneignen kann. Im Zen-Buddhismus besteht das höchste Wissen darin, über das Wissen selbst hinauszugehen. Deshalb könnte man es das Über-Wissen nennen, zugleich aber auch das Nicht-Wissen. Allgemein gesagt ist der Grund des Wissens dem Wissen nicht mehr zugänglich, weil der Grund schon vor dem
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Shöbögenzö (Busshö), I, 72. Vgl. mein Buch Dogen no sekai, a.a.O., 312-317.
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Wissen besteht. Das höchste Wissen als Über-Wissen und Nicht-Wissen im Buddhismus ist die prajnä (Weisheit) als Wissen der Leerheit. In bezug auf das buddhistische Nicht-Wahrnehmen und Nicht-Wissen schreibt Dogen folgendes: Obwohl alle Buddhas ihre Wahrnehmung gebrauchen, lassen sie in jeder Richtung kaum deren Spur zurück. Obwohl alle Lebewesen hierin ihre Wahrnehmung gebrauchen, erscheint keine feste Richtung in der Wahrnehmung.12 Das Wahrnehmen als höchstes Wissen, d.h. als Leistung der prajnä-Weisheit, kann kein sogenanntes gegenständliches Wahrnehmen sein, sondern es ist ein „Über-Wahrnehmen" und Nicht-Wahrnehmen, so daß man darin keine Spur einer bestimmten Richtung finden kann. Denn das Wahrnehmen selbst ist die höchste Freiheit als Leistung von prajnä. Mit den Worten Dögens kann man diesen Sachverhalt auch so ausdrücken: Wenn Buddhas richtige Buddhas sind, brauchen sie nicht wahrzunehmen, daß sie selbst Buddhas sind. Trotzdem ist ihre Existenz schon der Beweis und sie beweist, daß sie selbst Buddha sind. / Es gibt deshalb immer das Unerkennbare an der Grenze des Erkennbaren, weil das erste in bezug auf die Erforschimg der buddhistischen Wahrheit mit dem zweiten zusammenfallt und spielt." Diese Lehre vom Nicht-Wahrnehmen und Nicht-Wissen ist eines der bekanntesten Charakteristika des Buddhismus. (Ihren philosophischen Sinn werde ich weiter unten erörtern.) Zunächst möchte ich mich mit der Gefahr des Argumentierens über die Buddha-Natur befassen. Insofern wir nämlich nicht nur den Begriff der Buddha-Natur, sondern auch alle anderen - die in diesem Aufsatz vorkommenden eingeschlossen - nur als Gegenstand der theoretischen Erkenntnis behandeln wollen, sind wir immer in der Gefahr, uns von der Übung, als der Realisierung unserer Buddha-Natur, selbst zu entfernen. Dogen deutet die Lehre der Buddha-Natur aller Lebewesen wie folgt um: Was ist eigentlich das Wesen und der Kern von Säkyamunis Wort 'Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur'? Das ist gleich den Worten des sechsten Patriarchen Huinengs (jap.: Enö) 'Wer ist eigentlich wozu gekommen?' Mit dem Wort 'Wer ist wozu gekommen?' stellte Huineng seinem Schüler Nanyue 0 a P- : Nangaku) eine Zen-Frage. Darauf konnte Nanyue erst nach achtjähriger Übung folgendermaßen antworten: „Wie man die Wahrheit (BuddhaNatur) selbst auch mit Worten erklären mag, kann man sie damit nicht treffen." Darauf fragte der sechste Patriarch wieder: „Braucht man Übung und Erweis, um zur Wahrheit zu kommen?" Darauf antwortete Nanyue: „Obwohl man dazu 12 13
Shobogenzö (Bendöwa), I, 11. Shöbögenzö (Genjököan), I, 54/59.
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natürlich Übung und Erweis braucht, darf man auch daran nicht hängen, muß man dabei fleckenlos bleiben." Zum Schluß antwortete der sechste Patriarch: „Diese Fleckenlosigkeit ist gerade das, was alle Buddhas immer im Herzen tragen (denken), ich bin auch so, und du bist auch so."14 Warum hat Dogen den Satz „Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur" so verstanden wie die Frage „Wer ist wozu gekommen"? Der sechste Patriarch wußte wahrscheinlich schon, wer der neue Schüler im gesellschaftlichen Sinne war. Deswegen muß man die Frage „Wer ist wozu gekommen?" in einem anderen Sinne verstehen als bloß im buchstäblichen. Denn der Zen-Buddhismus fordert uns dazu auf, Worte wie „Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur" zu unserer eigenen Sache zu machen. Mit anderen Worten: Zen besteht lediglich darin, daß sich unser ganzes Sein, Handeln, Erkennen, Wollen und Fühlen mit der Realisierung der Buddha-Natur vereinigen muß. Deshalb hat Dogen den Satz issaishujö-shitsu-u-busshö nicht gelesen im Sinne von „Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur" sondern im Sinne von: „Alles ist Lebewesen". Das ganze Sein ist Buddha-Natur. Nyorai ist beständiges Bleiben, Nichts und Sein und Veränderung. Nach Dögens Interpretation ist das ganze Sein eben die Buddha-Natur. Nennt man einen ganzen Teil des ganzen Seins das Lebewesen, dann gibt es nur das ganze Sein der Buddha-Natur, sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Lebewesen. Darin besteht nicht nur das Wesen und der Kern des Zen-Buddhismus, der vom Herzen (Geist) des Meisters (Patriarchen) zum Herzen (Geist) des Schülers (Patriarchen) übermittelt (bzw. überliefert) wurde, sondern auch der Zen-Buddhismus, den Du (Nangaku) von Mir (Enö) selbst unmittelbar erhalten hast.15 Die Frage „Wer ist wozu gekommen?" besteht aus den zwei Fragen: „Wer bist Du eigentlich?" und „Wozu bis Du überhaupt hierhin gekommen?". Geneigter Leser: Wer sind Sie eigentlich? Wozu sind Sie überhaupt hierhin gekommen? Diese zwar einfache, aber überraschende Frage im Zen ist so kraftvoll, daß sie unser alltägliches und gewöhnliches Selbst, welches sein eigentliches und wahres Selbst als Buddha-Natur vergißt, verwirrt und dadurch aus dem Traum des alltäglichen Lebens erweckt. Also bedeutet der Satz „Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur" nicht, daß es im Körper des Lebewesens die Buddha-Natur gibt, sondern daß sowohl das Lebewesen, als auch der Buddha das ganze Sein ist und der Berg, der Fluß und die große Erde das unmittelbare Sein der überall unverborgenen BuddhaNatur ist.16 14
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Shaku-Dögen (Shi Daoyuan), Keitoku-Dentöroku, 5. Kapitel, Nangaku (Nanyue); vgl. Shöbögenzö (Henzan), III, 242f. Shöbögenzö (Busshö), I, 73. Röran, Shöbögenzö-Naippö, in: Shöbögenzö-Chükaikaizenshö (Kommentar-Sammlung zum Shöbögenzö), hrsg. v. N. Jinbo und B. Andö, 10 Bde., Tökyö 1913/14, Bd. 3, 75.
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Die Buddha-Natur liegt weder in der Welt, wie die Dinge, noch im Körper des Lebewesens, wie ein Embryo, sondern besteht lediglich darin, daß wir die Frage „Wer ist wozu gekommen?" zu unserer eigenen Frage machen und die Verantwortung dafür übernehmen, d.h. sie besteht nur in der Realisierung unserer eigenen Buddha-Natur. In bezug auf den Satz „Alle Lebewesen haben die BuddhaNatur" legt „man irrtümlicherweise (versehentlich) allen Lebewesen eine Buddha-Natur" bei. Das ganze Sein, die Buddha-Natur und das Lebewesen sind je andere Namen einund derselben Wahrheit (dharma) bzw. Wirklichkeit. Da keine andere Wahrheit (idharma) außer dieser übrigbleibt, so nannte man die Buddha-Natur das Wesen und den Kern der zen-buddhistischen Wahrheit, die von dem einen Buddha (Patriarchen) zu dem anderen Buddha (Patriarchen) übermittelt wurde und werden kann. Es gibt nicht nur die auf diese Weise überlieferte Wahrheit, sondern auch das ganze Sein als das der Wahrheit, die Du von mir direkt bekommen hast. Das Wesen, der Kern, Du und Ich verwirklichen sich nur im und durch den so seienden Menschen (jap.: nyorai, skrt.: tathägata)." Dieser so seiende Mensch heißt, mit anderen Worten, der sich zum eigentlichen Selbst beruhigende Mensch (honbunnin A ) bei Dogen 18 , der wahre Mensch ohne Rang bei Rinzai und der frei übende Mensch ohne Erlernen und Tun bei Yöka. Er ist ein Mensch, der sich die zen-buddhistische Freiheit (Sünyatä) aneignet. Also sollte man wissen, „daß bei einem solchen freien und befreiten Menschen das Sein als ganzes Sein der Buddha-Natur kein Sein als ein Teil von Sein und Nichts (d.h. eine Hälfte des Ganzen), sondern daß das Wort Buddhas, die Zunge Buddhas, die Augen Buddhas und das Nasenloch Buddhas zugleich diejenigen des Zenmönchs sind."19 Wir sollen als solche so seiende Menschen handeln. Nein, wir sind schon so seiende Menschen. Nach Dögens Auslegung sind das ganze Sein und die Lebewesen so eng miteinander verbunden, daß es für beide gerade deshalb sehr schwierig ist, einander zu begegnen. Dogen sagte darüber, „daß man alle Lebewesen im ganzen Sein kaum antreffen kann. Wenn man das ganze Sein so versteht, ist das ganze Sein das durchsichtige Ausfallen."20 Dogen ist durch und durch davon überzeugt, daß die Buddha-Natur immer und überall gegenwärtig ist. Diese Grundidee der Gegenwärtigkeit der Buddha-Natur nannte Dogen genjököan JÜJE&^ljt. Das bedeutet, daß die Wirklichkeit bzw. die Gegenwärtigkeit schon die Wahrheit selbst ist. (Dieser Gedanke ist in gewisser Hinsicht dem der Wahrheit des Seins bei Heidegger ähnlich.) Dögens genjököan (Wahrheit der Gegenwärtigkeit) entspricht den traditionellen buddhistischen 17 18 19 20
Zokai, Shöbögenzö-shiki, in: Shöbögenzö-Chukaikaizensho, Shöbögenzö (Genjököan), I, 55. Shöbögenzö (Busshö), I, 80. Shöbögenzö (Busshö), I, 80.
a.a.O.
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Begriffen jinenhöni f=j ^Üfelf (Gesetzmäßigkeit der Natürlichkeit/des Selbst-So) und muishizen g (Natürliches Tun ohne Künstlichkeit). Aber man darf dabei nicht vergessen, daß Dögens Gedanke des genjököan eine streng praktische Bedeutung hat. Es war das Grundproblem Dögens zu erfahren, warum die Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den Buddha-Weg suchen, warum sie üben, zum Erwachen und zum Nirvana kommen wollten und wollen, obwohl doch alle Menschen die Buddha-Natur bereits in sich haben und von Natur aus einen Buddha-Körper besitzen. Um dieses Problem zu lösen, besuchte Dogen den ZenMeister Eisai im Kenninji-Tempel und begab sich danach weiter nach China. Wenn man sich die Wahrheit nur durch das natürlich-instinktive Leben aneignen könnte, ohne sich einzuüben, würde man wohl freiwillig keine strenge Übung auf sich nehmen. Damit Wirklichkeit (Natürlichkeit, ganzes Sein) zur Wahrheit (Gesetzmäßigkeit, Buddha-Natur) im zen-buddhistischen Sinne erhoben werden kann, bedarf es der Übung einer Selbst-Negation. Deshalb sagt Dogen: „Den Buddha-Weg lernen heißt, das Selbst lernen, das Selbst lernen heißt, das Selbst vergessen." 21 Schließlich kann man sagen: Dögens Grundidee von der BuddhaNatur bzw. von deren Gegenwärtigkeit, enthält sowohl eine natürliche Philosophie, als auch eine praktische, denn er sieht in der großen Natur die Gegenwärtigkeit der Buddha-Natur und er betont im gesamten Shöbögenzö, daß deren menschliche Realisierung ohne Übung unmöglich ist."
5. Die große Natur als Meer der Buddha-Natur Dögen erklärt das Verhältnis von Buddha-Natur und Natur (Berg, Fluß und Erde usw.) folgendermaßen: Der 12. Patriarch (ASvagho§a) im indischen Buddhismus erklärte dem 13. Patriarchen (Kapimala) das Meer der Buddha-Natur an folgendem Beispiel: 'Der Berg, der Fluß und die große Erde sind alle durch die Buddha-Natur errichtet (erbaut) und das samädhi (Versunkensein, Vertieftsein), und die sechs päramitä (bodhisattva-Tugenden) sind nur daraus entsprungen.'23 Man kann zwar die letzte Hälfte des Satzes gut verstehen, die erste Hälfte aber ist schwer zu begreifen. Denn wer sich die Buddha-Natur aneignen kann, der kann über das samädhi und die sechs Bodhisattva-Tugenden frei verfügen. Wieso kann man überhaupt sagen, daß die Natur im Sinne von Berg, Fluß und Erde durch die Buddha-Natur „errichtet" werden kann? Dögens Erklärung lautet:
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Shöbögenzö (Genjököan), I, 54. Vgl. mein Buch Dögen no sekai, a.a.O., 284-299. Shöbögenzö (Busshö), I, 79f.
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Demgemäß sind dieser Berg, dieser Fluß und diese große Erde alle das Meer der Buddha-Natur. Was bedeutet ihre „Errichtung" durch die Buddha-Natur? Sie werden gerade deshalb Berg, Fluß und Erde genannt, weil sie durch die Buddha-Natur errichtet werden, und zwar nur dann, wenn sie so errichtet werden. Die Gestalt des Meeres der Buddha-Natur ist so, wie sie ist. Sie ist überall gleich, ganz unabhängig von Ort und Lage, sei es Innen, sei es Außen, sei es in der Mitte. Insofern kann man die Buddha-Natur sehen, indem man den Berg und den Fluß sieht. Die Buddha-Natur zu sehen heißt, das Kinn des Esels und den Mund des Pferdes zu sehen.24 Vom Meer der Buddha-Natur ist die Rede, weil das Meer ein Beispiel für etwas Erhabenes und Unendliches ist. Außerdem ist das Meer der Ort, in den alle Flüsse, Ströme und Bäche münden. Von diesem Gesichtspunkt her gesehen sind Berg, Fluß und Erde als Meer der Buddha-Natur etwas Konkretes und real Vorhandenes und zugleich ein Erscheinen und Erschienensein der Buddha-Natur selbst. Da Berg, Fluß und die große Erde andere Namen der Buddha-Natur sind, gibt es keinen Unterschied zwischen Innen, Außen und Mitte. Gerade deshalb bedeutet „Die-Buddha-Natur-Sehen" nicht nur, Berg, Fluß und Erde zu sehen, sondern auch das Kinn eines Esels und das Maul eines Pferdes. Alles, was ist, das ist die Buddha-Natur und die Buddha-Natur ist umgekehrt alles, was ist und gesehen wird. Sei es Verstehen, sei es Nicht-Verstehen, alles ist das Sich-Rühren und Vorkommen der Buddha-Natur. Was für einen Sinn hat die Buddha-Natur, wenn von ihr insbesondere im Zusammenhang mit der Natur die Rede ist? Die große Natur - d.h. Berg, Fluß und die große Erde - bedeutet Stärke, Größe, Festigkeit, Unerschütterlichkeit und Beständigkeit, Dinge also, die die kleine Kraft des endlichen und unvollkommenen Menschen letztlich weder beherrschen noch meistern kann. Die Wahrheit der großen Natur weist auf die folgenden Beschaffenheiten der Buddha-Natur hin: Erstens kann man die Buddha-Natur ohne Überwindung der egoistischen Denkund Verhaltensweisen weder sehen noch kennen. Das ergibt sich aus Nägärjunas Antwort auf die Frage eines Süd-Inders der damaligen Zeit, wer überhaupt die Buddha-Natur gesehen habe: „Wenn du die Buddha-Natur sehen willst, mußt du zuerst deine Eigensucht ausschließen." 25 Zweitens weist die Tatsache, daß die Buddha-Natur überall in dieser Welt gegenwärtig ist, darauf hin, daß unsere Übung und Erleuchtung nicht auf bestimmte festgelegte Formen und Weisen beschränkt ist, sondern ganz frei davon vollziehbar ist. Drittens ist die Buddha-Natur jederzeit und überall gegenwärtig, obwohl wir das zunächst und meistens vergessen. Deshalb ist es am wichtigsten, daß jeder seine Buddha-Natur jetzt und hier realisiert. Das heißt, daß man immer aufmerksam sein muß und nicht einmal einen Augenblick unvorsichtig sein darf.
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Shöbögenzö (Busshö), I, 80. Shöbögenzö (Busshö), I, 93.
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Viertens ist das Problem der Buddha-Natur nie das der anderen, keine Sache der Anderen, sondern dein Problem, deine eigene Sache. Deswegen kann niemand dem Problem der Buddha-Natur ausweichen. Fünftens weist Dögens Lehre der großen Natur als Vergegenwärtigung der Buddha-Natur auf den engen Zusammenhang von Mensch und Natur hin, nämliche auf die untrennbare Entsprechung zwischen dem menschlichen Selbst und der Buddha-Natur (dharma). Dogen lehrt und zeigt, daß die Realisierung unserer eigenen Buddha-Natur als wahres Selbst des eigentlich-ursprünglichen Menschen nur in dieser Entsprechung bestehen kann. 6. Schluß Die Zen-Theorie, die die zwei Gefahren in der Auffassung der Buddha-Natur erstens deren Verdinglichung und Substantialisierung, zweitens deren NichtBeziehung auf das eigene Selbst - überwinden will, möchte ich im folgenden zusammenfassen. Wie aus dem oben Erwähnten bereits hervorgeht, sind die Behauptung des Zen-Buddhismus, daß man die endgültige Wahrheit selbst weder wahrnehmen noch wissen kann, und die Denkweise, daß man alles Seiende (Gegenstände) zu seiner eigenen Sache, d.h. alles zum Spiegel, zum Wesen und zur Natur des Selbst macht, eigentlich ungetrennt und die Vorder- und Rückseite eines- und desselben Sachverhalts. Dieser hat folgende Implikate. Der Grund auf dem der Zen-Buddhismus beruht, ist gleichursprünglich mit dem Grundprinzip, das den Hintergrund des Buddhismus überhaupt ausmacht. Dieser zen-buddhistische Grund besteht darin, daß nicht nur die Buddha-Natur, sondern alle möglichen Begriffe bzw. Themen, nur durch prajnä (Weisheit), als kosmisches intuitives Wissen, eingesehen und realisiert werden. Daraus besteht im Grunde genommen und ursprünglich auch unser alltägliches, verstandesmäßiges und diskursives Wissen, das auf der dualistischen, gegenständlichen Logik von Subjekt und Objekt beruht. Das ist so, obwohl dieses diskursive Wissen jenes intuitive Wissen im alltäglichen Leben ganz vergißt, da es aufgrund seiner eigenen Erkenntnisart gar nichts davon wissen kann. Trotzdem muß man wissen, oder genauer gesagt, von sich aus durch Intuition erfahren, daß es das diskursive nur aufgrund des intuitiven Wissens geben kann. Die Logik des Zen ist also erstens als Logik der Leerheit bzw. Weisheit nicht die des relativen diskursiven Wissens von Gegenständen (Seiendem), sondern die des absoluten intuitiven Wissens des Selbst. Zweitens ist sie eine Logik der Negation und Transzendenz (Überwindung) bzw. die des „mittleren Weges" der acht Negationen bei Nägärjuna. Sie will nämlich über die gegensätzlichen Behauptungen - z.B. von Entstehen und Vergehen, Beharren und Nicht-Beharren, Eins und Vieles, Kommen und Gehen etc. - hinausgehen und uns von der sprachlichen Gefangenschaft und Beschränkung befreien, in die wir oft geraten, d.h. sie will die beiden Extreme durch Negation
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und Überwindung wieder lebendig machen und anwenden. Die Logik der sünyatä ist also nichts anderes als der Weg zur absoluten Affirmation durch die absolute Negation. 26 Drittens ist diese Logik, die auf dem Boden der prajnä-Weisheit steht, nicht diejenige, von deren Standpunkt aus gesehen Subjekt und Objekt dualistisch und zweipolig getrennt und gegensätzlich erscheinen, sondern die Logik der UnZweiheit bzw. Einheit von Subjekt und Objekt. Viertens ist sie nicht die des gegenständlichen Erkennens und Wissens, sondern die der Erfahrung und Handlung unter dem Gesichtspunkt des eigentlichursprünglichen Selbst als Unzweiheit von Subjekt und Objekt. Denn alles Seiende, sei es Berg, sei es Fluß, sei es Erde, wird im Zen-Buddhismus nicht nur als untrennbar vom Selbst, sondern sogar als das Wesen und die Natur des Selbst an sich angesehen.
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Vgl.: Die Philosophie der Leere. Nägärjunas Mülamadhyamaka-Kärikäs. Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierender Einführung, B. Weber-Brosamer und D. M. Back, Wiesbaden 1997.
2. Kapitel Das Problem des Selbst im Zen-Buddhismus Im folgenden möchte ich zunächst den Begriff des Selbst (jiko g Q ) im ZenBuddhismus verdeutlichen, dessen Endzweck darin besteht, zum wahren bzw. eigentlichen Selbst zu erwachen. Die Grundlage dafür ist die Konzeption des Selbsterkennens bzw. -erwachens als Ichlosigkeit bzw. Selbstvergessenheit. Ich möchte erstens verdeutlichen, wie die Klärung des Selbst im Zen-Buddhismus möglich ist, wie sich Jetzt, Hier und Ich als die drei Grundmomente im Leben des menschlichen Selbst aufeinander beziehen und was das Selbsterkennen als Selbsterwachen ist. Dabei werde ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem buddhistischen Prinzip des Selbsterwachens und dem philosophischen Grundsatz vom denkenden bzw. handelnden Ich eingehen. Zweitens möchte ich das Prinzip der Ichlosigkeit (muga als eines der drei Grundprinzipien des Buddhismus, ins Auge fassen, wobei ich die wechselseitige Beziehung zwischen den Ideen der Leerheit (kü chin.: kong, skrt.: Sünyatä), der Abhängigkeit aller Geschehnisse voneinander (engi ¡¡f:j|-3, chin.: yuanji, skrt.: pratityasamutpäda) und des Mittleren Wegs (chüdö ^ j l , chin.: zhongdao, skrt.: madhyamaka) erläutern werde. Das Prinzip der Ichlosigkeit ist mit der Idee der Leerheit eng verbunden und zudem ist diese Idee nur im Zusammenhang mit den Ideen der Abhängigkeit aller Geschehnisse und des Mittleren Weges zu denken. Drittens konzentriere ich mich auf das Problem der Selbstvergessenheit als zenbuddhistische Anwendung des Prinzips der Ichlosigkeit, das Dogen in seinen Schriften Shöbögertzö und Gakudö-yöjinshü und in Shöbögenzö-Zuimonki ausführlich behandelt hat. Viertens verdeutliche ich das Verhältnis zwischen Selbst und dharma1, als Entsprechung von Mensch und Natur im buddhistischen Sinne. 1
Das Wort dharma bzw. jap. hö hat im Sanskrit verschiedene Bedeutungen. Dharma leitet sich her aus der Wurzel dhr und bedeutet „das, was denselben Charakter behält", „Unterstützer, Erhalter", „Gesetz", „Norm der Handlung", „Ordnung", „Regel" und „Sitte" usw. Die Bedeutungen des Wortes dharma werden in fünf Klassen unterteilt: 1. Gesetz, Gerechtigkeit, Norm; 2. Die Lehre des Säkyamuni-Buddha; 3. Tugend, Eigenschaft; 4. Ursache; 5. Dinge. Der speziell buddhistische Sprachgebrauch nennt mit dem Wort vor allem die Lehre Buddhas und zugleich die existierenden Dinge. Das Wort dharma in der Wendung „die zehntausend dharma " ist mit der Wendung „alle dharma " (bzw. „alle Handlungen und Erscheinungen) synonym. Die Inder selber verwendeten die Redensart „zehntausend dharma" nicht. Sie stammt aus dem chinesischen Wortgebrauch von 'zehntausend', was im Chinesischen oft „alles" oder „alle" bedeutet. Das chinesische Übersetzungswort für dharma fa bedeutet urspünglich nur Gesetz, Regel und Prinzip. In der buddhistischen Terminologie übernimmt es aber die gerade erwähnten Bedeutungen. Deshalb besagen die zehntausend dharma zunächst nur alle Seienden, Dinge und Erscheinungen, aber nicht sogleich auch Gesetz und Regel. Insofern aber das letzte auf das Seiende bzw. das Ding im weitesten Sinne hindeuten kann, ist das als solches schon in allen dharma enthalten. Insoweit sind alle dharma auch mit dem Inhalt des ganzen Seins in der Wirklichkeit identisch.
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Fünftens, zum Schluß, erläutere ich den Begriff des Buddha-Weges, der nichts anders ist, als ein Weg zum eigentlichen Selbst. 1. Die Klärung des Selbst als Grundproblem des Menschen 1.1. Das Problem des Selbst als Problem des Menschen Man nennt den Zen-Buddhismus oft die Religion des Selbsterwachens bzw. Selbst-erkennens (jikaku no shükyö G J^COTK^) und zugleich der Übung (gyö ff), womit vor allem die Zazen -Übung gemeint ist. Ohne die Zazen-Übung gibt es keinen Zen-Buddhismus. Wo liegt aber der Endzweck des Zen-Buddhismus? Er besteht in der Übung und im Erwachen zum Selbst im Menschen. Deshalb kann und darf man eigentlich die Übung vom Erwachen nicht trennen. Was ist der Inhalt der Übung? Er ist das Handeln, Sprechen, Denken, Sitzen, Essen des wahren und eigentlichen Selbst des Menschen, der die Buddha-Natur (busshö f A t t ) durch sein Tun und Lassen realisieren soll. Zazen ist der Weg zum wahren Selbst und zugleich der Weg des eigentlichen wahren Selbst, das wir im alltäglichen Leben oft vergessen. Der Weg ist schon da, obwohl wir ihn noch nicht genau erkennen können. Wir sind immer schon auf dem Weg. Dies gilt auch im Hinblick auf das Problem des Selbst. Denn das Selbst ist schon da, obwohl es ohne beständige Selbstbildung vernichtet wird. Um nur instinktiv und tierisch zu leben, zu essen und zu schlafen, braucht man natürlich nicht danach zu fragen, was das wahre Selbst ist. Das heißt andererseits, daß die Frage nach dem wahren Selbst gleichzeitig die Frage nach dem Menschen ist. Der Zen-Buddhismus beschäftigte sich von Anfang an mit dem Problem des Menschen, wie Toshihiko Izutsu erklärt.2 Denn die beunruhigenden Nöte des menschlichen Daseins, die Säkyamuni-Buddha in seiner Umgebung beobachten konnte, bildeten den Ausgangspunkt seiner Suche nach der Wahrheit. Diese anthropozentrische Tendenz des Buddhismus wurde durch die Entstehung und Entwicklung des Zen-Buddhismus verstärkt. Indem die wirkliche Erfahrung des Erwachens durch unser menschliches Selbst zur Kernfrage der zen-buddhistischen Weltanschauung erhoben wurde, formulierte und vertiefte er das traditionelle Problem des Menschen zum Problem des ursprünglichen und eigentlichen Selbst. 1.2. Jetzt, Hier und Ich Zur Menschenauffassung des chinesischen Zen-Buddhismus sagt Izutsu folgendes: „Lin-Chis Gedanke ist typisch chinesisch, insofern er den Menschen zum Mittelpunkt einer ganzen Weltanschauung macht und darüber hinaus dieser Be2
Izutsu Toshihiko, Philosophie des Zen-Buddhismus, Hamburg 1979, 11. Linji ist ein chinesischer Zen-Meister, von dem noch die Rede sein wird.
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griff vom Menschen äußerst realistisch und beinahe pragmatisch ist. Er ist in dem Sinne pragmatisch, als er den Menschen jeweils als das konkrete Individuum vorstellt, welches an diesem bestimmten Ort und zu dieser bestimmten Zeit lebt." 3 Dieser Pragmatismus des Zen-Buddhismus enthält in sich eine Philosophie der ursprünglichen Alltäglichkeit. Es gibt kein menschliches Leben außerhalb der Alltäglichkeit. Aber man darf sich nicht in dieses alltägliche Leben verlieren, sondern man muß darin sein eigentliches Selbst finden und sich als solches verhalten. Somit könnte der Zen-Buddhismus ein Pragmatismus und Naturalismus des ursprünglichen und eigentlichen Selbst genannt werden. Linji f^^f (jap.: Rinzai), ein großer chinesischer Zen-Meister, belehrt seine Schüler darüber mit folgenden Worten: „Weggefahrten, das Buddha-dharma existiert und ereignet sich aus sich selbst heraus ohne jegliches Zutun von außen. Seid einfach nur ihr selbst, und sucht nach nichts. Verhaltet euch natürlich. Tragt eure Kleider und eßt. Wenn ich müde bin, dann schlafe ich. Die Dummen lachen über mich, die Weisen verstehen es! Ein Alter Meister sagte: 'Wer sich der Außenwelt zuwendet und an ihr festhält, ist ein sturer, eigensinniger Trottel.' Meistert ihr jede Situation, wo immer ihr euch befindet, dann geschieht alles entsprechend, und ihr werdet nicht, vom Zwang der Umstände bedingt, umhergetrieben."4 Der wichtigste Punkt im Zen besteht darin, daß ich weiß, was ich jetzt und hier machen soll. Der Mensch als Individuum muß in jedem Jetzt und Hier jeweilig handeln. Außer jetzt und hier gibt es für uns keine konkrete Wirklichkeit. Unser Anfangs- und Ausgangspunkt ist immer „Jetzt" und überall „Hier". Man darf und kann nicht von „Jetzt" und „Hier" abweichen. Außerdem muß und kann man als Handelnder nur durch dieses individuelle Jetzt und Hier, d.h. durch seinen konkreten Körper und Geist seine Absicht und seinen Vorsatz realisieren. Linji betont immer dieses individuelle Jetzt und Hier: „Wollt ihr wirklich wissen, wer der Buddha ist? Kein anderer als ihr, die ihr hier dem dharma lauscht. Gerade wegen eures Mangels an Selbstvertrauen wendet ihr euch nach außen und rennt, aufgeregt suchend, umher. Selbst wenn ihr dort in der Außenwelt etwas findet, so sind es doch nur Worte und Buchstaben. Nie findet ihr dort den lebendigen Geist der Patriarchen. Laßt euch nicht betrügen."5 Es gibt die Geschichte eines Dialogs zwischen den bekannten Zenmeistern Xuansha Shibei (jap.: Genshashibi, 835-908) und Jingqing Daofu (jap.: Kyöshödöfu, 868-937), die zur Zeit der Tang-Dynastie in China lebten. 3 4
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ebd., 14. Linjilu (jap.: Rinzairoku), in: Das Zen von Meister Rinzai, herausgegeben von Sötetsu Yüzen, Leimen 1990, 38; vgl. auch die japanische Ausgabe: Rinzairoku, Iwanami-Bunko, übersetzt und kommentiert von Yoshitaka Iriya, Tokyö 1989, 50f. Ebd., dt. 30.
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Jingqing übte bei seinem Meister Xuansha zwar sehr fleißig Zazen, konnte aber den Kernpunkt des Zen nicht wirklich verstehen. Eines Tages gestand er dies dem Meister offen und bat ihn um einen Fingerzeig. Da fragte der Meister Xuansha, dem Murmeln des Gebirgsbachs zuhörend, seinen Schüler: „Kannst Du das Murmeln hören?" Darauf antwortete Jingqing: „Ja." Meister Xuansha wies Jingqing darauf hin, daß er gerade durch das Murmeln des Gebirgsbaches in den Zen-Weg eintreten könne. Diese Geschichte weist darauf hin, daß das Leben des menschlichen Selbst gerade nur in der Korrelation von Jetzt, Hier und Ich besteht. 1.3. Die Selbsterkenntnis als Selbsterwachen bzw. Selbstbefreiung Die folgenden Aussagen aus grundlegenden Schriften des Buddhismus zeigen, wie wichtig in der zen-buddhistischen Übung die Klärung des Selbst ist: Eine berühmte Stelle aus Dögens Shöbögenzö lautet: „Den Buddha-Weg lernen heißt das Selbst lernen, das Selbst lernen heißt das Selbst vergessen". 6 In Daimuryöjukyö (skrt.: Sukhävatlvyüha-sütra) steht geschrieben: „Du sollst Dich von Dir selbst aus erkennen". 7 Im Dainichikyö (skrt.: Mahävairocana-sütra) heißt es: „Erkenne Dein eigenes Herz selbst, wie es ist."8 Die Klärung des Selbst ist also die höchste Aufgabe im Zen-Buddhismus. Hier fallt sogleich eine Parallele zur abendländischen Philosophie auf, wo man es ebenfalls für eine der wichtigsten Aufgaben gehalten hat, das wahre, eigentliche Selbst zu suchen. Man denke nur an die Worte gnothi s'auton als dem Anspruch des Gottes an den Menschen bei den Griechen und als den fundamentalen philosophisch-ethischen Ansatzpunkt bei Sokrates. Oder dem cogito ergo sum bei Descartes und der gute Wille und das eigentliche Selbst bei Kant usw. Gleichzeitig besteht eine Differenz und Distanz, insofern im Buddhismus vor allem das ichlose Selbst betont wird (vgl. Dögens oben angeführte Worte „das Selbst lernen heißt das Selbst vergessen"), während die abendländische Philosophie dem denkenden bzw. handelnden Ich (Selbst), als dem Subjekt des guten Willens, den höchsten Wert beimißt. Das Sanskrit-Wort Buddha bedeutet „Erwachter" bzw. „derjenige, der die Wahrheit eingesehen und erkannt hat und so zum Erwachen gelangt ist". Der Buddhismus ist die Lehre des Buddha (des Erwachten) und zugleich die Lehre, nach der und in der jeder von uns Menschen zum Erwachen gelangen kann und soll. Dagegen ist die Philosophie im griechischen Sinne eine Liebe zur Weisheit bzw. zum Wissen. Der Philosoph ist derjenige, der die Weisheit und das Wissen liebt und sucht. Wenn das Wort sophia nur „Wissen" bedeutet, so muß man zwischen Buddhismus und Philosophie ganz streng unterscheiden. Die Philosophen
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Shöbögenzö (Genjököan), I, 54.
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im Abendland haben stets das Wissen von den Gegenständen (unter Vernachlässigung des Ich bzw. Selbst) bevorzugt, während die „Erwachten" im Buddhismus durch die Übung, d.h. durch körperliche Praxis, das Selbst zu erkennen versuchten. Wenn aber die Philosophie immer in irgendeiner Weise mit Weisheit zu tun hat, kann man zwischen beiden Seiten trotzdem eine Entsprechung finden. Man wird hier aber vielleicht sagen können, daß die europäische Philosophie allzu einseitig den Weg der Wissenschaft eingeschlagen hat. Wie bekannt, nannte Descartes den Satz cogito ergo sum „das erste Prinzip der Philosophie" und Kant den Grundsatz der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen durch das denkende Ich als transzendentale Apperzeption „das oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs". 9 Dies nur als Zeichen dafür, daß in der europäischen Philosophie der Neuzeit stets das denkende Ich als Grund allen menschlichen Erkennens, Urteilens und Verstehens angesehen wurde, wogegen im Buddhismus das Prinzip der Ichlosigkeit eines der vier höchsten Prinzipien ist. Die Vier Grundprinzipien des Buddhismus lassen sich durch die folgenden sino-japanischen Begriffe wiedergeben: 1. shogyömujö ^ f f M ^ (Vergänglichkeit aller Erscheinungen), 2. shohömuga K (Ichlosigkeit aller Seienden), 3. nehanjakujö S ^ ^ f ^ (Nirvana als Stille bzw. Ruhe oder Beruhigung), und 4. issaikaiku — ty^jü (Alles ist Leiden). Im folgenden möchte ich das Prinzip bzw. die Theorie der Ichlosigkeit als Standpunkt des Zen-Buddhismus verdeutlichen, was für den Zen-Buddhismus zugleich bedeutet, das Problem des Menschen zu untersuchen. 2. Das Prinzip der Ichlosigkeit „Ichlosigkeit" ist für den Buddhismus sowohl ontologisch-metaphysisch bzw. theoretisch, als auch moralisch-religiös bzw. praktisch zentral. Ontologischmetapysisch gewendet besagt „Ichlosigkeit": Alle Handlungen und alles Seiende vergehen, sind unbeständig und immer im Fluß. Also gibt es keine ewige Substanz, sondern alles ist leer (skrt.: iünya). Alles entsteht, vergeht und verschwindet. Alles existiert deshalb eigentlich ichlos und selbstlos, was wir im alltäglichen Leben nur vergessen. Der Buddhismus führt als Begründung an, daß alles Seiende dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterliegt. Daher kann es kein in sich selbständiges Ding geben, sondern man muß die wechselseitige Abhängigkeit alles Seienden von anderen Seienden zugeben, was die absolute Relativität allen Geschehens bedeutet.
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Vgl. Descartes, Discours de la méthode, Quatrième Partie, Oeuvre philosophiques, Édition de Ferdinand Alqié, Tome 1, Paris 1963, 603; Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, 2. Auflage, §17. Über die Differenz und Distanz zwischen dem Prinzip des denkenden Ich und dem der Ichlosigkeit verweise ich auf den zweiten Absatz dieses Kapitels.
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Dieser Gedanke wird im Buddhismus durch den Begriff engi Üijiitl (Abhängigkeit aller Ereignisse voneinander) ausgedrückt. Den eng/-Gedanken erklärt Izutsu mit folgenden Worten: An diesem Punkt angelangt, sollten wir uns daran erinnern, daß der Buddhismus ganz allgemein auf dem Begriff des engi aufgebaut ist, das heißt auf der Idee, daß alles entsteht und als das existiert, was es ist, dank der unendlichen Anzahl von Beziehungen, die es mit anderem verbindet; all diese 'anderen Dinge' erhalten ihrerseits ihre vermeintlich selbständige Existenz von anderen Dingen. So gesehen, ist der Buddhismus ein ontologisches System, das auf der Kategorie der relatio gründet, im Gegensatz zum Beispiel zum platonisch-aristotelischen System, das auf der Kategorie der substantia gründet.10 Weil alles nur in wechselseitigen Beziehungen entsteht, ist es weder ewig noch beständig, sondern veränderlich, flüchtig und vergänglich. Diese Seinsart des Seienden bezeichnet man im Buddhismus als „ichlos" und „leer". Obwohl der Buddhismus die „Leerheit" der Welt behauptet, nimmt er keine himmlische jenseitige Welt an. In diesem Punkt unterscheidet er sich sowohl vom Piatonismus als auch vom Christentum. Seine ontologische und metaphysische Welt-Interpretation weist eher eine Nähe zu Nietzsches Nihilismus auf, der die Fiktionalität der Begriffe und der Prinzipien und die Scheinbarkeit der Welt behauptet. Natürlich hat der buddhistische Gedanke von der Leerheit (skrt.: sünyatä, jap.: kü) allerdings weniger mit Geschichtsphilosophie zu tun als der Nihilismus bei Nietzsche. Um den Begriff kü Q zu erklären, haben die buddhistischen Gelehrten den Begriff engi und den Begriff chüdö t ^ ü (der mittlere Weg) eingeführt. Kü bedeutet zunächst absolute Negation aller Erscheinungen, während engi absolute Affirmation aller Erscheinungen besagt. Im Han'nyashingyö Jfö^Sf'bH (skrt: Prajnäpäramitä-hrdaya-sütra) steht geschrieben: Erscheinung ist nichts anderes als Leerheit, Leerheit ist nichts anderes als Erscheinimg. Erscheinung ist zugleich Leerheit, Leerheit ist zugleich Erscheinung.11 Worin, wodurch und wie kann dieses „zugleich" möglich sein? Obwohl die Buddhisten seit Nägärjuna gemäß den eigenen Denkweisen der Mädhyamika-Schule die Beziehung zwischen pratityasamutpäda (wechselseitige Abhängigkeit aller Geschehen), Mittlerem Weg und sünyatä (Leerheit) immer differenzierter und ausführlicher behandelt haben, waren sie darin einig, daß der Mittlere Weg als Vermittler zwischen den anderen beiden Begriffen die wichtigste Rolle spielt. Meiner Auffassung nach ist der Mittlere Weg nur durch und im Handeln zu realisieren. Denn man muß in der Praxis, jetzt und hier, eine bestimmte Handlung
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Izutsu, a.a.O., 28. Zitat aus dem „Herz-sütra". Vgl. Han'nyashingyö und Kongöhan 'nyakyö, übers, und kommentiert v. H. Nakamura u. K. Kino, Tokyff "i960, 8f, 23ff.
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vor allem durch seinen Leib vollziehen, während man in der Theorie nur darüber nachdenkt, wie z.B. zwischen gut und schlecht, richtig und falsch, schön und häßlich usw. zu unterscheiden ist. Deshalb ist der Mittlere Weg die praktische Überwindung des theoretischen Gegensatzes zwischen „Leerheit" und Wirklichkeit der Erscheinungen. Moralisch-religiös bedeutet „Ichlosigkeit": Den Buddha-Weg lernen heißt, das Selbst zu lernen. Das Selbst lernen heißt, das Selbst zu vergessen. Das Selbst vergessen heißt, durch alle dharmas zu erwachen. Durch alle dharmas zum Erwachen zu gelangen heißt, sich sowohl den eigenen Körper und Geist als auch den fremden Körper und Geist ausfallen lassen (d.h. Körper und Geist von ichhaften Fesselung und Gefangenschaft befreien, mit anderen Worten gesagt, das Selbst bzw. Ich von der körperlich-geistigen Fesselung befreien).12 Konsequenterweise verlangt der Buddhismus, daß der Mensch die Illusion des Ich durchblickt, weil er in der Ichheit, oder besser gesagt in der Ichhaftigkeit, die Quelle alles Bösen und aller Irrtümer sieht. Sie stammen nach buddhistischer Theorie im Grunde genommen aus der Gefangenschaft des „kleinen" egoistischen Ichs. Der Ausgangspunkt des Buddhismus ist daher, um jeden Preis über das egoistische Ich hinauszugelangen. Dieser Imperativ weist darauf hin, wie oft und wie stark wir Menschen im alltäglichen Leben vom egoistischen Ich gefangen sind. In bezug auf das Verhältnis zwischen dharma (Buddha-Gesetz) und Selbst erklärt Dogen: Man soll den Grund davon wissen, daß dharma das Ich leitet und umgekehrt das Ich das dharma führt. Wenn aber das Ich den dharma führt, ist dann das Ich stark und der dharma schwach. Wenn das dharma umgekehrt das Ich leitet, ist dann der dharma stark und das Ich schwach.13 Oder: Es ist ein Irrtum, wenn man den dharma durch das Selbst erweisen will. Es ist aber Erwachen, wenn der dharma zum Selbst kommt und der erste das zweite erweist. [...] Der Mensch, wenn er zuerst das dharma zu suchen anfängt, entfernt sich weit vom Ort und der Stelle des dharma. Aber wenn der dharma ihm schon richtig übermittelt wurde, ist er sogleich der eigentliche und ursprüngliche Mensch (honbunnin Dieser eigentlich-ursprüngliche Mensch ist ein freier und von allen Fesselungen und Gefangenschaften befreiter Mensch, nämlich derjenige, der, wie es heißt, „Körper und Geist" hat „ausfallen" lassen oder jederzeit und überall ausfallen 12 13
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Shöbögenzö (Genjököan), I, 54f. Dogen, Gakudö-Yöjinshü (Anweisungen zum Erlernen des Buddha-Weges), IwanamiBunko, hrsg. v. Döshü Ökubo, Tokyö To 1987, 39. Shöbögenzö (Genjököan), I, 54f.
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lassen kann. Wie ist das aber für uns gewöhnliche Menschen möglich? Um darauf antworten zu können, müssen wir uns noch ausführlicher und konkreter mit dem Problem der Selbstvergessenheit in bezug auf das Prinzip der Ichlosigkeit befassen. 3. Das Problem der Selbstvergessenheit Am Anfang des Buddhismus stand, daß Säky am uni-Buddha, dessen Familienname Gautama Shiddhärta war, Haus und Familie verließ, um sich selbst und alle anderen aus dem Leiden an Leben und Tod zu befreien. Er erkannte den Zusammenhang zwischen dem Leiden und der Anhänglichkeit des Menschen an die Dinge und Gegenständen, die letztlich aus der Fesselung an die Ichhaftigkeit überhaupt entspringt. Dogen sagt oft, daß jemand, der Zen übt, sich von allen unnötig starken Interessen für Essen und Kleidung entfernen muß und nicht nach Eigentum und Schätzen gieren darf. Besonders betont Dogen, daß der Zenmönch sich vor allem von jeder Gier nach Ruhm und Gewinn fernhalten muß. Dementsprechend haben z.B. §äkyamuni-Buddha selbst, der erste Patriarch Boddhidharma und der zweite Patriarch Huike Ü"nf 0 a P- : E'ka, 487-593) gehandelt. Das ist, mit einem Wort gesagt, die Handlung, in der wir das Selbst vergessen. Diese Selbst-Vergessenheit als absolute Verneinung des Ich bedeutet die Befreiung von jeder Gefangenschaft und Fesselung an das, was das Selbst sonst jederzeit und überall beherrscht und fesselt, sei es Kultur, sei es Philosophie, sei es Religion, oder auch Staat, Gesellschaft und Familie. Wir sind meistens von unseren eigenen Meinungen und Denkweisen überzeugt, wenn sie auch oft aus ichhaften egoistischen Gründen entstanden sind. Nach der buddhistischen Theorie hat das menschliche Ich vier Arten von Ichhaftigkeit, nämlich ichhafte Dummheit, Meinung, Eigendünkel und Eigenliebe (gachi gaken gaman gaai ffeSI). Das Selbst vergessen heißt, solche Ichhaftigkeiten zu überwinden. In bezug auf den zen-buddhistischen Selbstbegriff berichtet Dögen im 17. Dialog (Mondö) des Kapitels Bendöwa seines Hauptwerkes Shöbögenzö, wie ein chinesischer Zenmönch sein Selbst gelernt und damit zugleich vergessen hat: Ein Mönch wurde von seinem Meister Fayen ifeiH (jap.: Högen) gefragt, warum er ihm nicht die Frage nach dem Buddha-dharma gestellt habe. Der Mönch antwortet darauf: er habe das Buddha-c/Aarma schon früher bei einem anderen Zen-Meister erreicht. Auf die Frage, wie er zu dieser Erfahrung gekommen sei, antwortete der Mönch: er habe seinen Meister gefragt, 'was ist das Selbst eines buddhistischen Schülers?' Darauf habe der andere Meister geantwortet: 'Der Feuergeist kommt, um das Feuer zu suchen.' Fayens Antwort war, daß der Mönch ein gutes Wort gehört, aber wohl dessen Bedeutung nicht verstanden habe. Darauf erklärte der Mönch sein Verständnis dieses Wortes folgendermaßen: 'Der Feuergeist gehört zum Feuer. Mit dem Feuer nach dem Feuer zu suchen ist ähnlich wie mit dem Selbst nach dem Selbst zu suchen.' Aber Fayen entgegnete, daß der Mönch das
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Wort wirklich nicht verstanden habe. Verwirrt über diese Antwort verließ der Mönch seinen Meister. Unterwegs aber dachte er, daß ein so berühmter Meister wie Fayen ihm vielleicht doch etwas Richtiges habe lehren wollen, kehrte zum Kloster zurück und stellte Fayen dieselbe Frage wie seinem früheren Meister: 'Was ist das Selbst des buddhistischen Schülers?' Darauf antwortete Fayen mit demselben Wort wie der frühere Meister: 'Der Feuergeist kommt, um das Feuer zu suchen'.15 Diesmal verstand der Mönch nicht nur das Wort wirklich richtig, sondern dadurch auch das Buddha-rf/iarma. Als der Mönch sich dazu entschloß, zum Kloster zurückzukehren und etwas zu lernen, d.h. den Buddha-Weg bei dem Meister zu lernen, nämlich das Selbst zu lernen, hatte er das Selbst schon vergessen. In diesem Augenblick waren das Selbst und das Buddha-