Personenverstehen: Zur Hermeneutik der Individualität 9783110333152, 9783110332957

Was Milan Kundera an einer Stelle in seinem Roman "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" knapp, aber doch

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German Pages 234 [240] Year 2004

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Table of contents :
Vorrede
0. Modelle des Personenverstehens
1. Die Geschichtlichkeit des Personenverstehens
2. Der Begriff der Person - jemand und nicht etwas
2.1 Merkmale des Personseins
2.2 Personalpronomen und Identität
2.3 Semantisch-hermeneutische Tiere
3. Wie muß man Verstehen verstehen?
4. Verstehen von Handlungen und Texten
5. Der Begriff des Personenverstehens
5.1 Kognitives Fremdverstehen
5.1.1 Wissensbedingungen
5.1.2 Probleme mit den Wissensbedingungen
5.1.3 Beobachtung, Deutung, Voraussage
5.2 Kognitives Selbstverstehen
5.2.1 Wissensbereiche und Wissensarten
5.2.2 Selbsttäuschung
5.2.3 Selbstmißverstehen, Selbstverlust
5.3 Zusammenhänge zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen
5.4 Verstehen von Kollektiven und kollektives Verstehen
6. Zeit(en) des Personenverstehens
7. Nichtkognitives Personenverstehen
7.1 Emotionales Fremdverstehen
7.2 Praktisches Fremdverstehen
7.3 Selbstverstehen: emotional, praktisch
8. Interdependenz von Sprach-, Handlungs- und Personenverstehen
9. Hermeneutische Maximen und ein Verstehensprinzip
10. Grenzen des Personenverstehens und des Verstehens überhaupt
11. Literaturverzeichnis
12. Stichwortregister
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Personenverstehen: Zur Hermeneutik der Individualität
 9783110333152, 9783110332957

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Wolfgang R. Köhler Personenverstehen

Wolfgang R. Köhler

Personenverstehen Zur Hermeneutik der Individualität

ontos verlag Frankfurt

.

Lancaster

Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie; detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.ddb.de

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2004 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 3-937202-54-4 2004

No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 Printed in Germany.

„Die Grenzen der Seele wirst du nicht finden, auch wenn du alle Wege durchwanderst, so tiefen Grund hat sie.“ Heraklit, Fragmente „Lear: Then let them anatomize Regan, see what breeds about her heart.“ Shakespeare, King Lear, Akt III, Szene VI, 77 „Das Gesicht ist die Seele des Körpers.“ Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen S. 50 „DANTON. Was weiß ich! Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter... Wir sind sehr einsam. JULIE. Du kennst mich, Danton. DANTON. Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieber Georg! Aber er deutet ihr auf die Stirn und Augen da, da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ Georg Büchner, Dantons Tod, 1. Akt

Für Gabriele Quandt-Langenscheidt und Georg Meggle. Ohne die eine Person wäre dieses Buch nicht möglich gewesen und ohne die andere nicht wirklich geworden.

Vorrede.........................................................................................................5 0. Modelle des Personenverstehens............................................................7 1. Die Geschichtlichkeit des Personenverstehens ....................................13 2. Der Begriff der Person - jemand und nicht etwas ................................29 2.1 Merkmale des Personseins ..........................................................29 2.2 Personalpronomen und Identität..................................................44 2.3 Semantisch-hermeneutische Tiere...............................................49 3. Wie muß man Verstehen verstehen? ....................................................51 4. Verstehen von Handlungen und Texten ...............................................65 5. Der Begriff des Personenverstehens.....................................................71 5.1 Kognitives Fremdverstehen.........................................................82 5.1.1 Wissensbedingungen...................................................................93 5.1.2 Probleme mit den Wissensbedingungen....................................111 5.1.3 Beobachtung, Deutung, Voraussage .........................................119 5.2 Kognitives Selbstverstehen .......................................................134 5.2.1 Wissensbereiche und Wissensarten...........................................142 5.2.2 Selbsttäuschung.........................................................................152 5.2.3 Selbstmißverstehen, Selbstverlust .............................................154 5.3 Zusammenhänge zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen .........................................................................157 5.4 Verstehen von Kollektiven und kollektives Verstehen .............165 6. Zeit(en) des Personenverstehens ........................................................171 7. Nichtkognitives Personenverstehen ...................................................179 7.1 Emotionales Fremdverstehen ....................................................183 7.2 Praktisches Fremdverstehen......................................................186 7.3 Selbstverstehen: emotional, praktisch .......................................191 8. Interdependenz von Sprach-, Handlungs- und Personenverstehen.....195 9. Hermeneutische Maximen und ein Verstehensprinzip.......................201 10. Grenzen des Personenverstehens und des Verstehens überhaupt.......207 11. Literaturverzeichnis............................................................................218 12. Stichwortregister ................................................................................233

Vorrede Das vorliegende Buch wurde im großen und ganzen Anfang 2000 fertiggestellt. Im Jahr 2003 wurde es als Habilitationsschrift an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Fach Philosophie anerkannt. Diese Schrift ist 2004 nochmals überarbeitet worden, mit Ausnahme des theoretisch wilden ersten Kapitels, das zu überarbeiten mir zu heroisch vorgekommen wäre. Wie gelungen die Überarbeitung insgesamt ist, muß ich den Lesern zur Beurteilung überlassen, deren Einbildungskraft ich vertraue und deren Lesekräfte diese knappe Darstellung schonen soll. Und mit der Veröffentlichung dieses Textes will der Autor auf keinen Fall sich anmaßen, auch nur irgendeine Person verstehen zu können – nicht einmal sich selbst. Neuere Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Erwähnen möchte ich aber doch Emil Angehrn: „Interpretation und Dekonstruktion Untersuchungen zur Hermeneutik“, Weilerswist 2003 (Velbrück). Innerhalb dieses Theorierahmens wäre das vorliegende Buch auch zu verorten gewesen, nämlich als Interpretation. Frühere Fassungen des Buchs wurden an den Universitäten Essen, Saarbrücken, Leipzig und Frankfurt am Main vorgetragen sowie im Forum für Philosophie in Frankfurt am Main. Für hilfreiche Diskussionsbemerkungen möchte ich mich bedanken. Auch bedanken möchte ich mich bei Petra Acker. Sie hat nicht nur Korrektur gelesen, sondern auch mit Vorschlägen das Projekt verfolgt. Mein Dank gilt ebenso dem Verleger Dr. Rafael Hüntelmann für seine Entscheidung zur Publikation.

Frankfurt am Main im August 2004

0.

Modelle des Personenverstehens

Was Milan Kundera an einer Stelle in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ knapp, aber doch plastisch schildert, gibt eine Erfahrung wieder, die mich veranlaßt hat, dieses Buch zu schreiben: „Er hörte sich ihre Lebensgeschichte begierig an, und sie hörte ihm genauso begierig zu. Sie verstanden zwar die Bedeutung der Wörter, die sie einander sagten, doch das Rauschen des semantischen Flusses, der diese Wörter durchströmte, konnten sie nicht hören.“

Stellt nicht, so fragte ich mich beim Lesen dieser Stelle, „das Rauschen des semantischen Flusses, das man nicht hören kann“, die Metapher dar, die das von einer Person Ungesagte bezeichnet - das, was sie vielleicht zu verstehen gab, vielleicht aber auch nicht zu verstehen geben wollte oder vielleicht auch das, was nicht verstehbar ist? Und wie ist es mit dem Verstehen, wenn eine Person einer anderen gar nicht ihre Lebensgeschichte erzählt, sondern einfach nur mit ihr zusammen lebt? Und was ist der Fall, wenn eine Person über viele Jahre nur Arbeitskollege ist, immer die „Bedeutung der Wörter, die sie einander sagten“ verstanden hat und trotzdem nicht weiß, was dieser Arbeitskollege für ein Mensch ist? Und wer kennt nicht das Erlebnis einer großen und gegenseitigen Zuneigung zu einem anderen Menschen, die irgendwann zu Ende geht und nur noch ein absolutes Rätsel des Verstehens übrig bleibt, worum es sich bei diesem Menschen gehandelt hat? Nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern auch im Alltag wird eine wesentliche Art menschlicher Erfahrung oder Erkenntnis als möglich vorausgesetzt: nämlich das Verstehen. Genauer gesagt: daß Menschen zumindest ihre sprachlichen Äußerungen und nichtsprachlichen Handlungen verstehen (können) oder wenigstens glauben, sie zu verstehen, obwohl gar nicht so selten vieles davon als nicht verstehbar oder unverständlich bezeichnet wird - und auch so ist. Meine Frage ist nun, ob Menschen einander und auch sich selber als (individuelle) Personen verstehen können und welche Bedingungen dafür erfüllt sein müßten. Im Sinne des Zitats gefragt: wenn man Personen - und nicht nur ihre Wörter z. B. - verstehen könnte, wäre dann „das Rauschen des semantischen Flusses“, das ihre Wörter durchströmt, zu hören?

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Die Problematik des Personenverstehens wird traditionellerweise und auch berechtigterweise in das Verstehen anderer Personen und in das Verstehen der eigenen Person gegliedert, für die sich (meines Wissens spätestens seit Heidegger) die Termini „Fremdverstehen“ bzw. „Selbstverstehen“ eingebürgert haben, die auch ich übernehme. Man sollte zwei grundsätzlich verschiedene Modelle des Personenverstehens unterscheiden: das kognitive und das nichtkognitive Modell des Personenverstehens. Ich betrachte diese beiden als im Grundsatz verschieden. Darüber hinaus aber existiert das nichtkognitive Modell in zwei nicht grundsätzlich verschiedenen Varianten, die gleich erwähnt werden. In dem kognitiven Modell des Personenverstehens wird angenommen, daß das Personenverstehen in einem Wissen (bzw. in einer Erkenntnis) besteht, nämlich in einem Wissen, daß es sich mit einer Person soundso verhält, insbesondere, daß sie eine bestimmte Perspektive auf das hat, was ihr im Leben wichtig ist und bedeutsam erscheint: ihre fundamentalen Überzeugungen, Präferenzen und Wünsche, aber auch ihre zentralen Emotionen und Grundstimmungen. Mit diesem Wissen wird beansprucht, jemanden zu verstehen und nicht nur, sich mit jemandem (gut) zu verstehen. Im Unterschied zu den nachfolgenden Unterscheidungen könnte man hier auch von einem theoretischen Personenverstehen sprechen. Das nichtkognitive Modell des Personenverstehens hingegen unterstellt die Möglichkeit, daß das Personenverstehen auch ohne ein Wissen-daß auskommt. Inwieweit diese Annahme verstehenstheoretisch gerechtfertigt ist, muß an dieser Stelle offen bleiben, wird aber im Buch diskutiert. Der Anspruch, der mit diesem Modell des Personenverstehens verbunden ist, ist der des „Sich-mit-jemandem-Verstehens“. Dabei kann dieses Personenverstehen asymmetrisch oder symmetrisch sein, und bei letzterem spricht man oft von einem „Einander-Verstehen“. Das nichtkognitive Modell des Personenverstehens tritt in zwei wichtigen Varianten auf, sozusagen in einer harten und in einer weichen Variante. Die harte Variante des nichtkognitiven Personenverstehensmodells nimmt an, daß es sich beim Personenverstehen um ein Wissen-wie handelt, nämlich um ein Wissen, wie man mit einer Person umgeht. Da das Wissen-wie in der Philosophie als ein Können begriffen wird, scheint es auch im Hinblick auf das Personenverstehen angemessen zu sein, das Wissen-wie man

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mit einer Person umgeht (oder, häufiger, umzugehen hat), als ein Können aufzufassen. Ich werde daher auch von einem „praktischen Personenverstehen“ sprechen. In der weichen Variante wird das Personenverstehen nach dem Modell der Neigung-zu-einer-anderen-Person dargestellt, wobei hier der Begriff der Neigung in Sinne einer gefühlsmäßigen Einstellung gemeint ist. In dieser weichen Variante sind alle Ansprüche auf ein Wissen-daß und auf ein Wissen-wie ausgeblendet. Als einschlägige Bezeichnungen für diese Art des Verstehens sind folgende Formulierungen geläufig: jemanden „lieben“, „sympathisch finden“, „mögen“, „gern haben“ usw. Ich nenne diese weiche Variante des Personenverstehens auch das „emotionale Personenverstehen“ - mit einem gewissen Vorbehalt. Denn es gibt nicht nur positive, sondern auch negative Neigungen, und man würde meines Erachtens etwa bei einer Abneigung gegenüber einer anderen Person gerade nicht von einem Personenverstehen sprechen, sondern eher vom Gegenteil, obwohl das nicht völlig klar ist. Der Begriff des emotionalen Personenverstehens scheint also eher positiv konnotiert zu sein: im Sinne der Zuneigung. Das Personenverstehen wird dem Gesagten entsprechend also als dreidimensional aufgefaßt: 1) als kognitives Modell: jemanden verstehen, 2a) als nichtkognitives Modell in seiner praktischen Variante: sich mit jemandem verstehen, 2b) als nichtkognitives Modell in seiner emotionalen Variante: zu jemandem eine Neigung haben. Mit anderen Worten: es wird der umgangsprachlich mehrdeutige Begriff des Verstehens in seiner Anwendung auf individuelle Personen durch drei Verwendungsweisen expliziert, die in etwa den klassischen Vermögen Verstand, Wille und Gefühl entsprechen, nämlich: 1) als ein Wissen: es verhält sich mit jemandem soundso, 2a) als ein Können: mit jemand umgehen können, 2b) als ein Fühlen: jemandem soundso geneigt sein.

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Den drei Modellen des Personenverstehens könnten drei verstehende Idealtypen bzw. drei idealtypische Verstehende zugeordnet werden, nämlich zu (1) der Historiker und Psychoanalytiker, zu (2) der Politiker, (3) der Liebende sowie Freund und Feind. Ersichtlich schließen diese drei Weisen des Personenverstehens einander ebensowenig aus wie die Idealtypen einander ausschließen. Sie können in der Realität zusammen vorkommen. Es stellt sich selbstverständlich die Frage, ob die beiden Varianten des nichtkognitiven Modells des Personenverstehens, also das emotionale und das praktische Personenverstehen, trennscharfe Modelle des Personenverstehens darstellen. Denn es scheint häufig so zu sein, daß das emotionale Personenverstehen ein praktisches Personenverstehen voraussetzt oder einschließt, auch wenn das Umgekehrte nicht der Fall zu sein braucht. Bekanntlich kann man wissen, wie man mit jemandem umgeht oder umzugehen hat, ohne ein positives, emotionales Verhältnis zu dieser Person zu haben. In dem kognitiven Modell des Personenverstehens muß die Möglichkeit des Personenverstehens auch für Personen offengehalten werden, mit denen aus kontingenten Gründen (des Raumes oder der Zeit) kein Umgang möglich ist. Es läßt sich nicht begründen, daß man nur Personen verstehen kann, die man erlebt oder die leben. Daher ist es angebracht, das kognitive Personenverstehensmodell nicht nur auf Personen anzuwenden, die kontingenterweise (für die verstehende Person) erlebbar sind, sondern auch auf tote Personen. Es empfiehlt sich, den bekanntesten Kandidaten für das Personenverstehen, nämlich: das sogenannte Nachvollziehen und das (Sich-)Hineinversetzen(können), nicht als ein Können oder Fühlen zu betrachten, sondern als ein Wissen. Denn hinter dieser Metaphorik verbergen sich Andeutungen von kognitiven Prozessen und Resultaten. In einem ganz trivialen Sinn vollzieht jede Person ihr Leben, und in einem nicht ganz so trivialen Sinn kann gesagt werden, daß das Personenverstehen (zumindest als Fremdverstehen) in einer Art Nachvollzug, soll heißen: in einer kognitiven Simulation dieses Vollzugs (d. h. wie das Dasein für die andere Person ist) besteht. Daß eine solche kognitive Simulation (als Imagination kontrafaktischer Situationen) mindestens zweideutig wäre, ergibt sich aus der Überlegung,

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daß in dieser Simulation das andere Leben oder das eigene Leben zum Modell eines vergleichenden Verstehens genommen werden kann. Wichtig ist offensichtlich auch die Frage, ob das nichtkognitive Modell für das Selbstverstehen anwendbar ist, ob man also sinnvollerweise von einem praktischen Selbstverstehen sprechen kann. Mir scheint die Annahme, daß eine Person wissen kann, wie sie mit sich umgeht oder umzugehen hat, äußerst explikationsbedürftig zu sein, weil sie voraussetzungsreich ist. Wenn man jedoch das Wissen-wie-man-mit-jemandem-umgeht so weit auffaßt, daß dazu auch z. B. die Äußerungen einer sich selbst verstehen wollenden Person gehören, dann scheint es so zu sein, daß eine Person auch mit sich selbst umgehen kann, weil sie ihre Äußerungen steuern und bewerten kann. In diesem Sinn kann man ein moralisch-praktisches Verhältnis zu sich selbst haben. Darüber hinaus scheint es evident zu sein, daß das Selbstverstehen auch eine moralische Bedeutung für die Lebensführung hat. Andererseits fragt es sich, ob und inwieweit sinnvollerweise von einem emotionalen Selbstverstehen gesprochen werden kann. Doch in einem gewissen, aus der Psychoanalyse bekannten Sinn, kann eine Person emotionale Beziehungen zu sich selbst haben. Zu klären ist daher, ob das emotionale Selbstverstehen nur in den gefühlsmäßigen Beziehungen besteht, die man zu sich selbst hat, auch wenn sie (zunächst) noch so unbewußt sind wie z. B. Selbstliebe oder Selbsthaß. Oder ob hier nicht auch ein Wissen, daß man soundso fühlt und empfindet, dazukommen muß. Daß man selbst soundso ist, scheint kein problematischer Wissensinhalt zu sein, auch wenn die Erkenntnis dieses Sachverhalts nicht geradewegs, sondern erst mit fremder Hilfe zustande gekommen sein mag. Da (2b), wie die Diskussion noch ergeben wird, selbst für das Fremdverstehen kein alles in allem befriedigendes Verstehensmodell abgibt, und da außerdem das Fremdverstehen entsprechend einer der zentralen Thesen dieses Buchs nur vermittels eines Selbstverstehens möglich ist, wird ein kognitives Selbstverstehen benötigt, das in einem Wissen-daß (man soundso ist oder soundso sein/leben möchte usw.) besteht. Daher wird sich die theoretische Fruchtbarkeit des kognitiven Modells des Personenverstehens sowohl für das Fremdverstehen als auch für das Selbstverstehen zeigen.

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Bei dem kognitiven Modell handelt es sich - im Unterschied zu den nichtkognitiven - um ein Modell, demzufolge bei der verstehenden Person) bestimmte Wissensbedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Person verstanden worden ist. Das Modell geht aufgrund dieser Wissensbedingungen von relativ starken Voraussetzungen aus. Will sagen: das kognitive Modell soll keine Abbildung oder Beschreibung der Realität (der tagtäglich vorkommenden Verstehensversuche) sein, sondern formuliert die Bedingungen für ein Personenverstehen, die man vernünftigerweise annehmen sollte, wenn man von einem Personenverstehen sprechen will. Eher geben die hier vorgeschlagenen nichtkognitiven Modelle die Realität wieder, da sie schon als Beschreibungen der alltäglichen Versuche interpretiert werden können, praktisch oder emotional Personenverstehen auszuüben. Thematisiert wird auch die Frage, wie man erkennen kann, ob man als Verstehenwollende(r) die Wissensbedingungen erfüllt hat. Das hat für das kognitive Personenverstehen zur Konsequenz, daß es aufgrund dieser Annahmen nicht ausgeschlossen ist, daß manche Personen kognitiv nicht verstehbar sind. Es hat aber auch die, für manche sicherlich unliebsame, Konsequenz, daß ein Mißverstehen häufiger vorkommt als ein Verstehen. Aber mir scheint, daß man nicht auf der Grundlage eines nichtkognitiven Modells, d. h. nur mit einem Verständnis von „Verstehen“ als einem Können oder Fühlen, von einem Personenverstehen sprechen darf. Mit dem Gesagten will ich nicht suggerieren, daß ein Handlungs-, Redeund Textverstehen möglich ist, ein Personenverstehen aber nicht. Diese Ansicht hielte ich für ein Vorurteil. Ebenso die häufig vorgetragene These, daß man nur Sätze, Sprechakte oder Propositionen verstehen kann. Daß das Personenverstehen mit dem Verstehen der sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen der zu verstehenden Person zusammenhängt, scheint evident; doch wie - das ist die Frage, auf die es aber keine operationalisierbare Antwort geben kann, die eine Art Anleitung böte, wie man denn nun im einzelnen vorzugehen habe, wenn man eine fremde Person oder gar sich selbst verstehen wollte.

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1.

Die Geschichtlichkeit des Personenverstehens

Der Weg von der Selbsterkenntnis als sokratischem Projekt zur Menschenkenntnis als Wissenschaft der Psychologie kann als ein Weg rekonstruiert werden, den die europäische Philosophie mit der jüdisch-christlichen Religion zusammen zurückgelegt hat.1 Die grundlegende Idee dieses Projekts scheint die Ahnung, Hoffnung oder Überzeugung gewesen zu sein, daß nur Selbsterkenntnis und ein dieser Erkenntnis entsprechendes Handeln zu einem guten und richtigen Leben führt oder wenigstens zu einem Leben, das aus der eigenen Perspektive für wertvoll gehalten werden kann. Das Projekt des Sokrates kreiste um das Selbst, um alles, was mit dem Selbst zu tun hat.2 Dazu gehören Selbstbesinnung3, Selbstdenken4,

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Vgl Platon, Apologie, Phaidon, Charmides. Vgl. Bultmann 1992 S. 225, Elias 1991. Habermas 1988 S. 23 schreibt: „So glaube ich nicht, daß wir als Europäer Begriffe wie Moralität und Sittlichkeit, Person und Individualität, Freiheit und Emanzipation - die uns vielleicht noch näher am Herzen liegen als der um die kathartische Anschauung von Ideen kreisende Begriffsschatz des platonischen Ordnungsdenkens - ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen.“ Böhme 1988 S. 32: „Sokrates war eine anthropologische Innovation.“ Damit trifft Böhme eine Unterscheidung zwischen dem historischen Sokrates und dem Typ Sokrates (Vgl. Kap II). Auf S. 163 erläutert er den „Typ Sokrates“ als „denjenigen anthropologischen Zustand, der durch Bewußtheit organisiert ist.“ Vgl. auch S. 34 über die „anthropologischen Umbrüche“ des 5. Jahrhunderts v. Chr. Böhme bezieht sich dort auf die „Entdeckung des Geistes“ (Snell), die „Erfindung der Seele“ und die „Introjektion der Gefühle“ (H. Schmitz). Das homerische Menschenbild war vermutlich weniger differenziert als das sokratisch-platonische. Vgl. Dilthey Ges. Schriften V. Bd. S. 286: „Über alle früheren Darstellungen der menschlichen Innerlichkeit reicht Plato hinaus, welcher in dieser Rücksicht der größte Künstler der Griechen nach Homer war; sein Sokrates ist eine der paar Gestalten, welche der ganzen Menschheit angehören.“ Vgl. Platon, Apologie. Mit diesem Begriff ist auch Nietzsches Interpretation des apollinischen Spruchs verbunden. Vgl. Nietzsche „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, Kap.10 in: ders. 1967 ff, Bd. 1. Aufgrund dieses Kant-Terminus könnte das mit Kants Sokrates-Verständnis in Verbindung gebracht werden.

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Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung5, Selbstprüfung6, Sich-um-sichselbst-Kümmern7 bis hin zur Selbststilisierung.8 Hegel betonte in seiner „Geschichte der Philosophie“, daß das Projekt des Sokrates' weltgeschichtlich etwas Neues war: „Das Prinzip des Sokrates ist, daß der Mensch, was ihm Bestimmung, was sein Zweck, der Endzweck der Welt, das Wahre, Anundfürsichseiende ist, - daß er dies aus sich zu finden habe, daß er zur Wahrheit durch sich selbst gelangen müsse.“9

Dilthey beschrieb diese Entwicklung so (a.a.O. V. Bd. S. 226): „Die Erkenntis von der Natur und dem Werte der Individualität hat sich langsam in der europäischen Menschheit ausgebildet. Sokrates zuerst erhebt sich zu der Bewußtheit über den sittlichen Vorgang in ihm, welche erst die Durchbildung der einheitlichen Person ermöglicht. Dieses `Erkenne dich selbst´ war zunächst auf das Gleichförmige der Menschennatur gerichtet, aber es mußte sich von diesem Allgemeingültigen in ihm, das er zum Lichte des Wissens heraufhob, das Mächtige, Unerforschliche abheben, welches er als Daimonion bezeichnete und das ohne Zweifel der Tiefe der Subjektivität angehörte. Sokrates wurde von da ab, für seine Schüler, die Stoa, Montaigne usw. der Typus für den Rückgang des Denkens in die Tiefe der Person.“

Aus urchristlicher Sicht unterschied sich die Selbsterkenntnis mitsamt dem geforderten Handeln (wie z. B. Reue zeigen und Buße tun, um zur Erlösung zu gelangen10), gewaltig von dem griechischen Vorhaben. Denn, so Nietzsche: „Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisieren, dadurch, daß sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heißt auf ihre echten Bedürfnisse zurückbesannen...“11 Übergeht man die Rede

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Vgl. Platon, Charmides Vgl. Günther a.a.O. S. 2 Maier 1913 S. 269 ff sprach in seiner Sokrates-Monographie sogar von dem „sokratischen Evangelium“. Vgl. Martens 1992 Hegel Werke 18, 1971 S. 443. So schrieb Camus 1953 38: „Christus kam, zwei Hauptprobleme zu lösen: das Böse und den Tod.“ Nietzsche a.a.O. Kap.10 - herv. v. Nietzsche. Diese Interpretation vollzieht Nietzsche zur Belehrung seiner Zeitgenossen, es doch den Griechen gleichzutun. Im übrigen bezeichnet er den Spruch des delphischen Gottes als „schwer“, „denn Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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von den „echten“ Bedürfnissen, so ergeben sich aus dieser Interpretation der griechischen Welt und ihrer Differenz zur jüdisch-christlichen Welt zwei Vorstellungen über Selbsterkenntnis: (a) die griechische Vorstellung der Organisierung des Eigenchaos, des „Chaos in sich“, wie Nietzsche sagte12, (b) die jüdisch-christliche Vorstellung der Erlösung vom Chaos, sowohl des eigenen, inneren wie des fremden, äußeren, wozu insbesondere im christlichen Modell die Überwindung des selbstsüchtigen Willens und die Aufrichtigkeit der Beweggründe gehören.13 Nietzsche wagte in seiner „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ die Hypothese, daß die Griechen in Apollon die „Individuation, die Einhaltung der Grenzen des Individuums, vergöttlichten.“14 Er schrieb „Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maßen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergaß die apollinischen Satzungen.“15

Bei Kant hatte das sokratische Projekt insgesamt zur Selbstbeschreibung der Erkenntnis in der Gestalt mehrerer „Kritiken“ geführt, insbesondere jedoch zu der These, Selbsterkenntnis sei das „erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst“: „Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit...sondern nach der moralischen, in Beziehung auf deine Pflicht - dein Herz - ob es

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jener Gott `verbirgt nicht und verkündet nicht, sondern zeigt nur hin´, wie Heraklit gesagt hat.“ a.a.O. Man kann in paralleler Weise das sokratische und das augustinische Modell der Selbsterkenntnis unterscheiden. Vgl. Günther a.a.O. S 3. Dem sokratischen Modell entspreche die „Metaphysik des Kosmos“, dem augustinischen die „Metaphysik der Seele“. Günther a.a.O. S. 4 sieht bei aller Verschiedenheit von Sokrates und Augustinus eine gemeinsame „religiös-ethische Persönlichkeitsstruktur“. So wörtlich Habermas 1988 S. 115 mit Bezugnahme auf Nietzsche. Nietzsche 1967 ff, Bd.1, S. 41.

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gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was, als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag. Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang...Nur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung.“16

Eine solche Vorstellung der Selbsterkenntnis entsprach nicht Hegels Philosophie. In der Einleitung zu seiner „Philosophie des Geistes“ im 3. Teil seiner „Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften“ (§ 377) hat es den Anschein, als würden die beiden Modelle der Selbsterkenntnis nur als Momente des absoluten Geistes anerkannt: „Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikularen Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen, wie des Wahrhaften an und für sich, des Wesens selbst als des Geistes.“

Hegels objektiver Idealismus in bezug auf die Selbsterkenntnis stellt gewissermaßen eine Synthese aus dem griechischen und dem jüdischchristlichen Modell dar. Er fordert die Aufhebung des partikularen Eigenchaos durch Erkenntnis des Geistes des Menschen als Moment des absoluten Geistes. Dabei geht er einerseits über den ethischen Anspruch des griechischen wie des jüdisch-christlichen Modells hinaus, also über Sokrates, Augustinus und Kant. Andererseits weist er auch einen psychologischen Anspruch, der ihm aus der zeitgenössischen romantischen Hermeneutik vertraut ist, unmittelbar zurück, wobei eine gewisse Verachtung der Individualität bei ihm mitschwingt. Denn im nächsten Satz der gerade zitierten Stelle aus der „Enzyklopädie“ schrieb Hegel: „Ebensowenig hat die Philosophie des Geistes die Bedeutung der sogenannten Menschenkenntnis, welche von anderen Menschen gleichfalls die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, - eine Kenntnis, die teils nur unter Voraussetzung der Erkenntnis des Allgemeinen des Menschen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, teils

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Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, § 14, A 104

17 sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substantiellen, dem Geiste selbst, nicht dringt.“

In Hegels Philosophie kulminierte das sokratische Projekt in einer Autobiographie des absoluten Geistes, die bekanntlich nicht bei dem subjektiven Geist und dessen Partikularitäten stehen bleiben soll. Hegel markiert eben den Höhepunkt der rationalistisch-idealistischen Tradition, in der die Selbsterkenntnis nichts anderes war als die Erkenntnis der Vernunft des Menschen als des eigentlichen Wesens des Menschen.17 Aber es war auch Hegel, der auf die Geschichtlichkeit des Geistes hinwies, in der der Geist in seinen verschiedenen Ausprägungen durch ein Verstehen seiner selbst zu sich selber kommt.18 In der von Descartes inaugurierten Tradition der Bewußtseinsphilosophie wurde Subjektivität derart zu einem Prinzip formuliert, daß daraus gleichsam der zugespitzte Gedanke erwachsen konnte, jedes einzelne menschliche Wesen sei ein besonderes Individuum19, das in seiner Einzelheit und Einmaligkeit, auf vielleicht unbegreifliche Weise begreifbar sei.20 Wenn Hegel in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ davon spricht, daß „in der modernen Welt“ „die Subjektivität die Spitze ihres Fürsichseins erreicht hat, zur Totalität gekommen ist“, von einer „Vertiefung des Subjekts in sich“ und davon, „daß das Endliche sich als Unendliches weiß“21, so darf man seine Ausführungen vielleicht so deuten, daß nach seiner Meinung es einen Fortschritt von der abstrakt-allgemeinen Subjektivität der res cogitans über die besondere Personalität des kantischen Vernunftwesens zur einzelnen fürsichseienden Individualität gegeben habe. In der „Wissenschaft der Logik“ nennt er die Einzelheit einmal das „Prinzip

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Vgl. Günther a.a.O., S. 10 Vgl. Günther a.a.O. Nach Elias 1991 S. 216 bezieht sich der Ausdruck „Individuum“ seit der Renaissance nur auf die Einzigartigkeit von Menschen, obwohl schon die Scholastiker gesehen hatten, daß „jedes Ding auf dieser Welt in bestimmter Hinsicht ein Individuum, also einzigartig ist.“ Bultmann 1992 S. 53 bemerkt, daß in dem alttestamentlichen Judentum das „Ideal der Persönlichkeit“ fehlt. Dem entsprechend gebe es keine Statuen der menschlichen Gestalt und keine Biographien - weder von Moses noch von den Propheten. Werke, Band 17 S. 207

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der Individualität und Persönlichkeit“.22 Unabhängig von jeder HegelExegese darf man wohl annehmen, daß diese drei Stufen sich in dieser Reihenfolge historisch herausgebildet haben, zumal in der Romantik die Individualität ihren Triumph feierte. Jedenfalls sollten sie als Allgemeines, Besonderes und Einzelnes unterschieden werden. Ein Kenner des deutschen Idealismus Manfred Frank schreibt23: „`Subjekt´ (und `ich´) meinen ein Allgemeines, `Person´ ein Besonderes, `Individuum´ ein Einzelnes. Diese Unterscheidung ... entspricht übrigens der traditionellen, z. B. idealistischen Terminologie.“ „Individuell ist ..., was von jedem Universalitätsanspruch ausgenommen und aus einem Allgemeinen auch nicht bruchlos deduziert werden kann. Ein aus einem Allgemeinen Ableitbares nenne ich ein Besonderes, nicht ein Individuelles.“ „Daß das Pronomen `ich´ auf einer Stufe mit dem `Subjekt´ steht, liegt daran, daß es einerseits zwar „zur Bezeichnung der `Einzelheit'´und `absoluten Bestimmtheit´ unserer `individuellen Persönlichkeit´ ... andererseits aber auch zur Bezeichnung des „Subjekts-im-allgemeinen“

bzw. der Subjektivität. Gleichwohl dient das Pronomen nicht zur Beschreibung der Einzigartigkeit jedes Individuums, wie Frank auch einräumt. Es identifiziert nur einen und jeden Sprecher, der es gebraucht, als Person aber nicht als Individuum. Für das Problem des Personenverstehens sind die letzten beiden Stufen wichtig, wobei die letzte die zentrale ist. Historisch gesehen beginnt Personenverstehen erst als Verstehen der Individualität, d. h. erst dann, als Menschen begannen, sich als Individuuen zu verstehen. Es scheint offensichtlich, daß erstens die Herausbildung des Gedankens einer Einmaligkeit bzw. Individualität24 und zweitens auch das Wissen bzw. die Reflexion dieses Prozesses die unabdingbare Voraussetzung für

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Werke, Band 6 S. 297 Vgl. Frank 1986 S. 23 ff Schopenhauer war ein Kritiker dieser Entwicklung zur Individualität, obwohl er als Person selber ein herausragendes Beispiel dafür war. Der Egoismus gründet sich nach Schopenhauer in dem Anspruch, unbedingt eine individuelle Person, man selbst, sein zu wollen. Konsequenterweise erscheint ihm das Sterben als ein Befreiungsakt von der „Einseitigkeit einer Individualität“ (W.a.W.u.V., 2. Bd. 2. Teilbd. 4. Buch, Kap. 41)

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den Versuch darstellen, sich so etwas wie Personenverstehen auch nur als Möglichkeit auszudenken.25 Mit anderen Worten: das Personenverstehen selber ist ein geschichtliches Phänomen - ebenso wie der Begriff der (individuellen) Person.26 Als ebenso geschichtlich entwickelt und gebildet erweisen sich vermutlich die eng mit dem Personsein verbundenen Merkmale wie z. B. Gewissen, Verantwortung, aber auch Emotionen wie Reue, Scham, Trauer, Liebe, Haß und vielleicht sogar Schmerz. Alle diese Merkmale und Emotionen sind uns ja auch immer sprachlich vermittelt gegeben und dadurch ein Gegenstand des Verstehens. Eine Art Kenntnis der Menschen voneinander gab es aber wahrscheinlich schon in der antiken Lebenswelt. Jedenfalls gibt es sie in der poetischen Kunst seit den griechischen Tragödien. Aber erst mit der Herausbildung des Begriffs der Person, ja noch spezieller: erst mit der Entwicklung des Begriffs des Individuums im Sinne einer individuellen Person27 wurde so etwas wie der Begriff des Personenverstehens denkbar.28 Seinen (wie auch immer wissenschaftlichen) Niederschlag fand dieser Prozeß im übrigen in der Entstehung der Psychologie im 19. Jahrhundert. Und deren Ergebnisse wirken in die alltägliche Lebenswelt zurück.29 25

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Allerdings muß der vielleicht zuerst von Fenelon geäußerte Gedanke beachtet werden, daß die Reflexion eine Preisgabe der Unmittelbarkeit darstellt sowie die von Rousseau aufgestellte These, daß die Reflexion zu einem Verlust der Unschuld des natürlichen Zustandes führt. Für Schelling ist die „bloße Reflexion eine Geisteskrankheit des Menschen“ und beim frühen Hegel „die trennende Tätigkeit“ überhaupt - Vgl. dazu Zahn 1992. Vgl. Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches“ I., 2. Hauptstück „Zur Geschichte der moralischen Empfindungen“. Und Taylor 1994, Kobusch 21996 sowie van Dülmen 1997. Vgl. den Artikel „Individuum, Individualität“ in „Historisches Wörterbuch der Philosophie“ Basel/Stuttgart 1976, S.300-323. Man kann sich sogar vorstellen, daß das Personenverstehen bzw. die Menschenkenntnis in den frühen hierarchischen Gesellschaften entweder asymmetrisch (nur von oben nach unten) oder gar tabuisiert war. Den Kaiser durfte man als Person bzw. Individuum nicht verstehen. Der im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem 2. Weltkrieg, aufgekommene Behaviorismus stellte eine weit radikalere Absetzbewegung vom Begriff der Person dar als die nach ihm entstandene Handlungstheorie. In dieser wurde das Beschreiben und Erklären bzw. Verstehen von Handlungen reflektiert, und zwar unter Nichtberücksichtigung des Personenverstehens, so als sei es einfacher, Teile von Personen als diese selbst zu verstehen. Daher ist es eine gewisse Ironie, wenn Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Nicht zu vernachlässigen für die Geschichtlichkeit des Personenverstehens ist auch jene Diagnose Max Schelers, derzufolge „zu keiner Zeit der Geschichte“ „der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart“, weil er „nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber weiß, daß er es nicht weiß.“30 Wenige Jahre später, nämlich 1934, schreibt Hans R.G. Günther in einer umfangreichen Monographie über das Problem des „Sichselbstverstehens“ unter Bezugnahme auf eben jene Diagnose Schelers nicht ohne Pathos: „Die zahlreichen Bemühungen um die wissenschaftliche Begründung einer Philosophie der Persönlichkeit sind zeitgeschichtlich aus der inneren Reaktion gegen die zunehmende Entseelung, Verdinglichung, Versachlichung, Entpersönlichung usw. der menschlichen Persönlichkeit zu verstehen.“ „Ihnen allen“ (Dilthey, Klages, Häberlin, Scheler, Jaspers, Kretschmer) „ist die tiefe Sehnsucht gemeinsam, den Menschen in einer eigentlichen Wesenheit und Ganzheit zu erfassen.“31

In der deutschen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts wurde das Verstehen selber zu einem philosophischen Problem32, so daß eine Wissenschaft der Kunst des Verstehens, also der Hermeneutik, ausgebildet wurde.33 Diese zunächst nur auf Schrift und Rede bezogene Verstehenslehre wurde von Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt psycholo-

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es trotzdem im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ (1971 ff) keinen Artikel über Handlungsbeschreibungen oder Handlungserklärungen gibt. Scheler 1929 S. 449 Günther a.a.O. S. 71 f Vielleicht hat Heinrich Heine das als erster bemerkt, denn er schrieb in seiner „Religion und Philosophie in Deutschland“, 3. Buch, 1834: „Er“ (gemeint ist Fichte) „hat überhaupt über Verständnis ganz eigene Grillen. Als Reinhold mit ihm gleicher Meinung war, erklärte Fichte, daß niemand ihn besser verstehe wie Reinhold. Als dieser aber später von ihm abwich, erklärte Fichte: er habe ihn nie verstanden. Als er mit Kant differenzierte, ließ er drucken: Kant verstehe sich selber nicht. Ich berühre hier überhaupt die komische Seite unserer Philosophen. Sie klagen beständig über Nichtverstandenwerden. Als Hegel auf dem Todbette lag, sagte er: `nur Einer hat mich verstanden', aber gleich darauf fügte er verdrießlich hinzu: `und der hat mich auch nicht verstanden´.“ Vgl. Gadamer 21965 S. 162 ff. Auch die Hermeneutik hat ihre Geschichte. Vgl. Dilthey 1900, Gadamer 1986, Regehly 1992, Grondin 1994, Seiffert 1994, Jung 2001, Angehrn 22004.

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gisch, von Droysen historisch-methodisch34, von Dilthey lebensrekonstruktiv umgedeutet, so daß so etwas wie ein Personenverstehen (unter dem Titel einer Menschenkenntnis) als möglich35 und sogar als notwendig für Textverstehen angesehen werden konnten. Diese klassische hermeneutische Tradition überbot dann Heidegger, indem er das Verstehen als ursprüngliche Seinsweise des menschlichen Lebens behauptete: „Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten.“36 Diese heideggerianisch-hermeneutische Tradition liefert den historischen Bezugspunkt für meine Fragestellung.37 Durch diese Tradition erst, zu der die Bekenntnisliteratur eines Rousseau sowie die romantische Poesie gehören, wurde das Personenverstehen als eine Wissensmöglichkeit philosophisch zu begründen versucht. Das moderne Personsein erscheint uns heute als Produkt von Aufklärung und Romantik. Trotzdem waren jenen Epochen die Merkmale der Entzweiung (von Hegel) und der Entfremdung (von Marx), wenn auch aus verschiedenen Gründen, zugeschrieben worden.38 Das Projekt des Personenverstehens muß daher auch als ein Projekt der Moderne angesehen werden39 oder besser: in seiner heutigen Gestalt stellt es eine Variation der romantisierten Selbstaufklärung des Menschen über sich selbst dar, erschüttert durch die nihilistischen Attacken 34

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Gadamer 21965 S. 185 ff legte dar, daß die historische Schule im Anschluß an die „romantische Hermeneutik“ entstanden oder die Hermeneutik auf die Historik „übertragen“ worden sei, so daß gelte: „Die Grundlage der Historik ist also die Hermeneutik.“ (a.a.O. S. 187). Vgl. dazu Ott 1989 Heidegger 101963 S. 148. Frank 1991 S. 183 kommentiert: „Insofern ist Verstehen (also die Art und Weise, in der uns Bedeutungen zugänglich werden) vorgängig (a priori) vor unserem Weltbezug.“ Vgl. Gethmann 1974 „Bei Leibniz findet sich erstmals die Nominalisierung des Pronomens der ersten Person `ce moy'.“ So Frank 1991 S. 190. Vgl. Mittelstraß 1970 S.171-200 sowie R. Pflaumer 1969 S. 148-160. Doch bei Descartes findet sie sich auch schon. Parallel zu dieser geistesgeschichtlichen Tradition gehört auch die Sozialgeschichte, also der Umbruch von der feudalen Hausgesellschaft zur aufgeklärten Marktgesellschaft zwischen 1750 und 1850 mit 1800 als dem Kulminationspunkt. Mit der Revolutionierung des vormodernen Haushalts entstand auch der moderne, autonome Mensch. Vgl. Peter Gay, „Die Macht des Herzens - Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich“, München 1997.

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Nietzsches. Da diese sich in der sogenannten Postmoderne fortzusetzen scheinen, hat Manfred Frank für die philosophische und politische „Unhintergehbarkeit der Individualität“ plädiert.40 Nietzsches Desillusionierungen der Vernunft und des Selbstbewußtseins, ja von Subjektivität überhaupt, erschütterten das sokratische Projekt der Selbsterkenntnis oder der Selbsterhellung durch Reflexion: „Die Illusionen des Selbstbewußtseins, die Idole der Selbsterkenntnis waren die neue Entdeckung Nietzsches...“41 Gadamer hat gemutmaßt, daß durch Nietzsches „Radikalismus im Zweifeln“ der Begriff der Interpretation „eine weit tiefere und allgemeiner Bedeutung (erlangte)“, weil durch ihn mit diesem Begriff nicht mehr nur das harmlose Geschäft des Verstehens von schwierigen Texten bezeichnet wurde, sondern „das Zurückgehen hinter die offenkundigen Phänomene und Gegebenheiten“42 Und daß man mit dem Verstehen etwas Nichttriviales machen kann, kann auf eine Erkenntnis Freuds zurückgeführt werden; daher das Verhältnis zwischen Hermeneutik und praktischer Philosophie.43 Diese Überlegungen ergeben sich aber nicht nur aus der hermeneutischen Tradition, sondern sie stehen besonders in der Traditionslinie der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die von Wittgenstein und Heidegger dominiert wird. Im Rückblick verhalten sich deren Sprachanalyse und Daseinsanalytik fast komplementär. Außerdem sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch von anderen als den genannten Philosophen, Historikern oder Psychologen, nämlich z. B. von Sartre und seinem Konzept einer „existentiellen Psychoanalyse (in „Das Sein und das Nichts“ von 1943) 40 41 42

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So lautet der Titel seines Buchs von 1986. Gadamer 1972 S. 334. Nietzsches Stellung zu Sokrates ist im übrigen nicht einheitlich geblieben. Vgl. Gadamer a.a.O. S. 334. Nietzsche sei es gewesen, so insinuiert dort Gadamer, der auf den Zusammenhang zwischen Hermeneutik und praktischer Philosophie aufmerksam gemacht und damit jene zu „einer Sache von universaler Bedeutung“ gemacht habe, die von Heidegger nochmals überboten wurde. Gadamer a.a.O. S. 342: „Verstehen ist ein Abenteuer und ist wie jedes Abenteuer gefährlich.“ Wenn Figal 1992 S. 26 behauptet: „Verstehen, so müßte man mit Gadamer sagen, ist die geschichtliche Variante des praktischen Wissens“ und überhaupt Verstehen als „geschichtliche Phronesis“ kennzeichnet, so bringt er damit eine wichtige Eigenschaft des Verstehens zur Sprache.

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Themen besprochen worden, die eine entfernte Verwandtschaft mit dem Problem des Personenverstehens haben. Aber die durch Wittgenstein inspirierte und dann von P.F. Strawson weitergeführte Erörterung des Begriffs der Person aus einer „deskriptiv metaphysischen“ Einstellung erlauben vielleicht eine präzisere Fassung dieser Problematik.44 Vielleicht - denn es ist die Frage, inwieweit man mit Strawsons Personenbegriff dem Phänomen des Selbstbewußtseins gerecht werden kann.45 Wie auch immer sich Strawsons für gewisse Zwecke brauchbarer Personenbegriff von dem Kants unterscheidet und seine deskriptive Metaphysik von einer „transzendentalen Psychologie“, so führt diese nicht zum, sondern weit weg vom Personenverstehen. Denn diese Art Disziplin kreist nur um den zentralen Gedanken des „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“. Bei dem Personenverstehen geht es aber nicht um das mit diesem Ausdruck gemeinte noumenale Selbst bzw. transzendentale Ich oder Subjekt. Es ist gerade nicht „das stehende und bleibende Selbst“ Kants, das hier als Gegenstand des Verstehens thematisiert werden soll, sondern, in metaphorischer Gegenwendung, „das gehende und sich verändernde Selbst“, das Individuum. Außerdem ist es so, daß es im Hinblick auf das „stehende und bleibende Ich“ gar nicht zu analogen Problemen wie beim Personenverstehen kommt, denn weder kann davon gesprochen werden, daß das „stehende und bleibende Ich“ sich selbst versteht oder mißversteht, weil man den Verstehensbegriff auf es mangels eigenen Handelns, pace Kant und Fichte, nicht, wie auf Personen, anwenden kann, jedenfalls dann nicht, wenn zum Handeln ein körperliches Substrat erforderlich ist.46 Noch kann

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Vgl. Strawson 1959, 1966, 1974 und 1987 Vgl. dazu kritisch Sturma 1997. Vgl. Dilthey (Gesammelte Schriften I. Bd. S. XVIII): „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.“ Ähnlich hat E. Troeltsch gedacht: „Das logische oder transzendentale Subjekt ist überall identisch und scheint dem Verstehen keine Schwierigkeiten zu bieten. Aber in Wirklichkeit ist sein Verhältnis zum psychologischen Subjekt völlig dunkel und sind die Auswirkungen des transzendentalen Subjekts überall andere.“

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zwanglos davon gesprochen werden, daß ein „stehendes und bleibendes Ich“ ein anderes versteht oder mißversteht, weil es überhaupt nicht eindeutig entscheidbar ist, ob es nur ein solches, numerisch identisches Ich oder mehrere davon gibt, vorausgesetzt, es gibt überhaupt eines, das qualitativ identisch ist.47 Das transzendentale Ich bzw. Subjekt Kants ist bloß eine Art logisches Selbstbewußtsein.48 Strenggenommen geht es bei dem Personenverstehen nicht um ein oder das „Selbst“.49 Es geht hier aber auch nicht um Iche, denn ein Ich macht für sich noch keine Person. Und es geht schon gar nicht um Seelen, sondern um individuelle Personen.50 Das Wissen bzw. das Erfahrungswissen, das Kant als möglich begründen will, bezieht sich nur auf materielle Gegenstände in Raum und Zeit sowie auf deren gesetzesartige Zusammenhänge - nicht aber auf Entitäten, die mit Sinn bzw. Bedeutung oder mit Intentionalität51 ausgestattet sind. Nach Kant kann ich wissen, daß z. B. ein Schiff, das ich zu einem Zeitpunkt hörte, dasselbe ist wie das, das ich jetzt sehe - aber nicht wissen, wer oder was ich an sich bin (was „dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt“52, ist), wenn ich nicht einem Paralogismus53 aufsitzen will, indem ich ein Subjekt an sich mit seiner Erscheinung verwechsle. Wenn Kant sagt: „...ich habe also demnach“ (weil ich mir nur in der inneren und nicht in der äußeren Anschauung gegeben bin) „keine Erkenntnis von mir wie ich bin, sondern bloß wie ich mir selbst erscheine. Das Bewußtsein seiner 47 48

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Vgl. zu dieser Problematik auch Wolff 1973 Vgl. Rovane 1986 S. 422: „All Kant seems to mean by `self-consciousness' is consciousness of self-hood (as opposed to consciousness of oneself).“ – kursiv von Rovane. Vgl. Blau 1986 sowie dazu Essler 1990 Wenn daher Kant (KdrV B 710) sagt, daß „ich selbst, bloß als denkende Natur (Seele) betrachtet“, das „erste Objekt einer solchen Idee“ der Vernunft bin, die sich „einen Gegenstand gibt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kann“ (a.a.O. B 709), so trifft das auf Seelen zu, aber nicht auf Personen. Denn Personen sind, was auch immer sie sind, in der Erfahrung gegeben bzw. erfahrbar. Vgl. Searle 1987, Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.) 1990 und Beckermann 1992, mit circa 30 Kritiken dieses Aufsatzes in demselben Heft. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 404 Vgl. Strawson in: Cramer 1987, S. 203-219. Vgl. dazu Øfsti in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.) 1988 S. 232-279, bes. S. 253.

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selbst ist also noch lange nicht eine Erkenntnis seiner selbst...“54, dann bringt er damit seine problematische Fundamentaldifferenz zwischen Ding an sich und Erscheinung ins Spiel55. Wenn man diese Differenz akzeptiert, ist das Ergebnis niederschmetternd: „das Ego, das ich bin, findet keinen Platz im kantischen System.“56 Oder anders gesagt: Selbsterkenntnis (in theoretischer, nicht in moralischer Hinsicht) ist nach Kant unmöglich.57 Im besonderen ist es so, daß eine Person im Rahmen des Kantschen Systems hinsichtlich ihres Wissens über ihre eigene Intentionalität um keinen Deut besser gestellt ist als hinsichtlich ihres Wissens über die Intentionalität anderer Personen.58 Dilthey zufolge (a.a.O. V. Bd. S. 221) werden durch die Transzendentalphilosophie Charakter, Genie und Held zu „Unfaßbarkeiten“ gemacht. Wenn man in dieser Hinsicht also Kant folgen wollte, könnte man das Projekt des Personenverstehens von vornherein begraben. Die Problematik des Personenverstehens sprengt andererseits den Rahmen einer (Individual-)Psychologie59, insofern diese eine Verhalten erklärende Wissenschaft ist. Bekanntlich hatte schon 1894 Dilthey Bedenken gegenüber einer zu seiner Zeit herrschenden Psychologie von dieser Art geltend gemacht: „Aus allen dargelegten Schwierigkeiten kann uns allein die Ausbildung einer Wissenschaft befreien, welche ich, gegenüber der erklärenden oder konstruktiven Psychologie, als beschreibende oder zergliedernde Psychologie bezeichnen will. Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, 54

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KdrV, B 158 - Herv. v. Kant. In der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, S. 451. gibt er die Begründung, daß „der Mensch... sich nicht... erkennen kann, wie er an sich selbst sei..., da er doch sich selbst nicht gleichsam schafft“. Vgl. dazu Cassam 1994 S. 2 ff. Kant hat dieses Problem von Hume übernommen („Treatise“, 1. Buch, 4. Teil, 2. Abschnitt: „Die Frage ist also die, wie weit sind wir selbst Objekt unserer Sinne.“ Herv. v. Hume. Rogozinski 1988 S. 207 Vgl. Cassam a.a.O.. Es bleibt eine Frage: wie soll man nach Kant ein Wissen von nur irgendeinem eigenen geistigen Zustand haben, wenn man nicht wissen kann, wer man ist. Vgl. dazu Rovane a.a.O., dort S. 422 Vgl. dazu den gleichnamigen Artikel von O. Brachfeld 1976, S. 291-295.

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wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist.“ (a.a.O. V. Bd. S. 152) Und er fügt hinzu: „Die mächtige inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens reicht weit über diese Psychologie hinaus. In den Werken der Dichter ... ist ein Verständnis des Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit enthalten, hinter welchem alle erklärende Psychologie weit zurückbleibt.“ (a.a.O.). Auf diesen Zusatz komme ich zurück. Und zu der Hauptthese möchte ich nur bemerken, daß der argumentativen Stoßrichtung Diltheys zuzustimmen ist, auch wenn hier nicht untersucht werden kann, inwiefern durch seinen Begriff des Lebens ein anderer Akzent gesetzt wird als durch meine Verwendung des Begriffs der Person. Worum es sich bei dem Thema Personenverstehen handelt, ist nichts anderes als eine Hermeneutik der individuellen Person, in der es um die Frage geht, ob Personen als Individuen verstehbar sind und wenn ja, wie. Wenn man unbedingt wollte, könnte man vielleicht sogar im Sinne Heideggers von einer Protopsychologie sprechen, sagt er doch am Ende des § 9 von „Sein und Zeit“: „Die existenziale Analytik des Daseins liegt vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht Biologie.“60 Wie sich eine Hermeneutik der individuellen Person von der Heideggerschen fundamentalontologischen Hermeneutik bzw. Daseinsanalytik unterscheidet, indem jene den Verstehensbegriff nur hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf individuelle Personen untersucht und damit einen, wenn man so will, protopsychologischen Verstehensbegriff benutzt61, muß hier nicht entschieden werden.62 Es muß nicht entschieden werden, welcher Verstehensbegriff 60 61

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Kursiv von Heidegger Vgl. Gadamer 21965 S. XVI: „Heideggers temporale Analytik des menschlichen Daseins hat, meine ich, überzeugend gezeigt, daß Verstehen nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise des Daseins selber ist. In diesem Sinne ist der Begriff `Hermeneutik' hier verwendet worden. Er bezeichnet die Grundbewegtheit des Daseins, die seine Endlichkeit und Geschichtlichkeit ausmacht, und umfaßt daher das Ganze seiner Welterfahrung.“ Wenn es so ist, wie z. B. Figal 1992, S. 26 sagt, daß es „im Verstehen“ darum gehe, „eine Weise, in der man immer schon ist, am einzelnen zur Geltung zu bringen“, dann schließt die Heideggersche Hermeneutik das Personenverstehen a fortiori ein. Vgl. Villwock 1982

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fundamentaler ist; es genügt zu sagen, daß sie miteinander verträglich sind. Und es wäre auch für eine Untersuchung über das Personenverstehen nichts verloren, wenn zugestanden würde, daß der daseinsanalytische Begriff des Verstehens noch fundamentaler ist als der hermeneutische des Personenverstehens.63 Es kommt für die Thematik des Personenverstehens darauf an, aus einem verengten bewußtseins- bzw. subjektphilosophischen Paradigma auszubrechen, von dem diejenigen Probleme lange Zeit beherrscht waren, in denen es um die Begriffe der Person und des Verstehens ging. Das impliziert wesentlich, die im Rahmen der sprachanalytischen Philosophie gewonnenen, semantischen und pragmatischen Dimensionen zu berücksichtigen. Dazu wird die Reflexion erfordert, wie wir Menschen erstens auf uns selbst und auf andere sprachlich Bezug nehmen (Identifikation und Reidentifikation unter Benutzung von Personalpronomina, Namen, Kennzeichnungen), zweitens wie wir nach der Identifikation verschiedene Arten von Prädikationen vollziehen (Zuschreibungen von mentalen und nichtmentalen Prädikaten durch sprachliche Handlungen) und drittens wie dieses sprachliche Handeln das Zentrum des kommunikativen Handelns darstellt und das für das Individuum konstitutive Verstehen ermöglicht. Es geht bei dem Thema des Personenverstehens gar nicht um subjektivitätstheoretische Überlegungen, sondern um eine im weitesten Sinne hermeneutische Theorie der Personalität und der Individualität. Theoretisch verwandt ist das Problem des Personenverstehens auch der „verstehenden Soziologie“, wie sie Alfred Schütz 1932 in seinem Buch „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“64 vorgelegt hat, in dem in einem Kapitel die „Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens“ erarbeitet werden. Aber Schütz hat (als Soziologe konsequenterweise?) das Selbstverstehen nicht thematisiert.

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Vgl. Marten 1982 wieder aufgelegt in Frankfurt am Main 1974

2.

Der Begriff der Person - jemand und nicht etwas65

Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, einen voll entwickelten Personenbegriff zu explizieren, der alle Facetten des Personseins umfaßt. Denn in diesem Buch soll die Möglichkeit des Personenverstehens erörtert werden und nicht der Begriff der Person. Auf der anderen Seite darf in diesem Buch nicht nichts zu diesem Begriff gesagt werden, denn er wird als nichtleerer Begriff mit einem bestimmten Inhalt vorausgesetzt.66 Viele Thesen und Hypothesen sind über den Begriff der Person, über ihr Wesen und ihre Identität, aufgestellt worden.67 Kein Geringerer als David Hume meinte, man müßte für die Beantwortung dieser Frage, was eine Person ist, zu den „tiefsten Tiefen der Metaphysik“ Zuflucht nehmen (a.a.O.). Trotzdem macht es Sinn und ist es notwendig, Personen so etwas wie eine Identität oder ein Selbst zuzuschreiben, wobei das Problem der gespaltenen Persönlichkeit gesondert betrachtet werden müßte. Ontologisch gesehen ist es seit Strawson üblich geworden, Personen zwei verschiedene Arten von Prädikaten zuzuschreiben, nämlich mentale und physische. Dadurch sollen individuelle Eigenschaften von Personen bezeichnet werden wie z. B. das Haben einer bestimmten Überzeugung oder eines bestimmten Körpergewichts. Es wird hier also ein EigenschaftsDualismus von Personen angenommen. Diese beiden Arten von Prädikaten sollen aber im Folgenden durch metaphysische Merkmale des Personseins ergänzt werden - mit nicht-naturalistischen Eigenschaften, die allen personalen Individuen gemeinsam sind. 2.1 Merkmale des Personseins In der europäischen Geistesgeschichte samt ihren Lebensformen gab es keine einheitliche Auffassung vom Personsein, obwohl sie trotz aller Unterschiede z. B. der buddhistischen Tradition diametral entgegengesetzt

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Das ist eine Anlehnung an den Buchtitel von Spaemann 1996 Vgl. Dennett 1978, Sturma 1997, Leder 1999 David Hume bemerkte 1739 in seinem „Treatise“, 1. Buch, 4. Teil, 2. Abschnitt: „Es gibt gewiß in der Philosophie keine abstrusere Frage als die nach der persönlichen Identität oder der Natur des Faktors, der die Einheit der Persönlichkeit konstituiert.“

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ist.68 Die europäische, rationalistische Tradition faßte Personen als sich selbst durchsichtige, freie und vernünftige Wesen auf69; die existentialistische als sich selbst erschaffende, aber immer von Uneigentlichkeit und Selbsttäuschung bedrohte Wesen ohne essentia70; die materialistische einerseits als biologische Verwandte der Tiere, andererseits als ökonomische Sklaven oder sogar als Maschinen71; die lebensphilosophisch-tiefenpsychologische schließlich als triebhaft wollende, unfreie und unvernünftige Kreaturen.72 Für das Problem der Möglichkeit des Personenverstehens braucht nicht entschieden zu werden, welche von diesen eher weltanschaulichen Theorien vom Menschen wahr ist. Denn die Verstehbarkeit einer individuellen Person scheint zunächst unabhängig von der Wahrheit metaphysischer Theorien über Personen zu sein, es sei denn, aus einer solchen wahren Theorie würde eine Unverstehbarkeit logisch folgen. Aber eine solche Theorie, aus der das folgte, gibt es nicht. Und es wird sie wohl nie geben können.

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Vgl. Carrithers et al. sowie Carruthers 1986 Diese Tradition geht mindestens auf Boethius zurück: „Persona est naturae rationalis individua substantia“. („De duabis naturis et una persona Christi“, Kap. 3). Vgl. direkt dazu Lutz-Bachmann 1983. Elias 1991 S. 214 erläutert: „Der Begriff der Person entwickelte sich aus dem römischen Schauspielerbegriff persona nicht durch die individuelle Abstraktion eines einzelnen Menschen. Ein langer sozialer Prozeß war hier am Werk, und was dabei herauskam, war nicht nur etwas Negatives, das Abstreifen der Besonderheiten von Einzelfällen und das Herausarbeiten des allen Gemeinsamen oder Allgemeinen; was dieser Prozeß zustande brachte, war das Zusammensehen von vielen Gemeinsamkeiten, das etwas Neues, zuvor Unbekanntes der Kommunikation zugänglich machte und ins Licht des Begreifens hob. Der Begriff der Person stellt - verglichen mit seinem Ahnen, dem lateinischen persona - nicht nur ein Absehen, sondern ein Zusammensehen auf höherer und neuer Warte dar.“ Vgl. Heidegger a.a.O. S. 47: „Person ist kein Ding, keine Substanz, kein Gegenstand.“ Und S.48: „Zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert im Vollzug intentionaler Akte, sie ist also wesenhaft kein Gegenstand.“ Vgl. LaMettries „L'homme machine“ Vgl. Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“ § 354: „Vom `Genius der Gattung'„ sowie selbstverständlich Schopenhauer und Sigmund Freud.

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Jedes der nachfolgenden Merkmale, die Personen im allgemeinen zukommen, also so etwas wie transzendentale Konstanten darstellen, sind mit jeder dieser Theorien vom Menschen verträglich - bis auf tiefenpsychologische Anschauungen, die dem Menschen ein gehöriges Maß an Irrationalität zuschreiben: 1. Rationalität, 2. Emotionalität, 3. Sprachlichkeit, 4. Handlungsfähigkeit, 5. Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit, 6. Zeitbewußtsein bzw. Geschichtlichkeit 7. Sterblichkeit. Diese Merkmale sollen hier nicht gewichtet oder hierarchisiert werden. Denn für die Möglichkeit des Personenverstehens ist das meines Erachtens nicht nötig, weil auf sie je nach Verstehensmodell verschieden bezug genommen werden muß. Es wird auch nicht suggeriert, daß diese Merkmale trennscharf sind. Im Gegenteil. Wichtig ist bloß, daß dann, wenn man einem Wesen wie dem Menschen eines dieser Merkmale abspräche, man ihm auch das Personsein absprechen müßte. Es handelt sich also bei diesen Merkmalen nicht um kontingente Eigenschaften eines Individuums. Zu 1. „Rationalität“ ist mindestens zweideutig, d. h. es kann sowohl „Vernünftigkeit“ als auch „Vernunftfähigkeit“ bedeuten. Und es ist offensichtlich, daß Vernünftigkeit weder im Sinne von moralischer Vollkommenheit noch im Sinne von Klugheit zur notwendigen Bedingung für Personsein gehört. Es gibt gute Gründe dafür, zu sagen, daß Personen „vernünftige Tiere“ sind, wenn man diese Bestimmung so expliziert, wie das z. B. Davidson vorschlägt.73 Ein wichtiger Teil der Rationalität ist die Intentionalität bzw. das Haben von propositionalen Einstellungen. In Bezug auf Personen spricht man auch von einer höherstufigen Intentiona-

73

Vgl. Davidsons Aufsatz „Rational Animals“ von 1982 - auf deutsch in: Davidson 2004, S. 167-185

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lität.74 Von daher kann auch das Böse und Dumme, also das im weitesten Sinne Irrationale, erläutert werden.75 Zu 2. Daß Menschen und Tiere gemeinsam Empfindungen und vielleicht auch Gefühle haben, ist heute fast allgemein anerkannt. Man sollte Empfindungen, Gefühle, Emotionen und Stimmungen unterscheiden, auch wenn die Unterscheidung nicht unkontrovers ist. Von „Empfindungen“ kann im Rahmen von Sinnesempfindungen gesprochen werden; von „Gefühlen“ im Hinblick auf die Skala zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen; von „Emotionen“ in Bezug auf Intentionalität, insbesondere Gedanken und Wünsche, die beide mit einem Gefühl verknüpft sind und von Stimmungen im Hinblick auf ihre intentionale Ungerichtetheit.76 Im Sinne dieser Unterscheidungen Tieren Emotionen zuzusprechen scheint nicht phänomengerecht zu sein, da man sich das Haben von Emotionen kaum ohne eine Sprachkompetenz vorstellen kann. Personen dagegen muß man das Habenkönnen vieler Arten von Emotionen zusprechen.77 Um eine Person zu sein und als solche insbesondere auch in moralisch relevanter Hinsicht gelten zu können, muß man zu dem Haben ganz bestimmter Emotionen fähig sein78, für die es in vielen Sprachen Ausdrücke gibt - im Deutschen die Wörter: „Reue“, „Scham“, „Überraschung“, „Zorn“, „Wut“, „Liebe“, „Bedauern“, „Freude“, „Stolz“, „Eifersucht“ sowie „Ehrgeiz“, „Machtgier“, „Herrschsucht“, „Schadenfreude“, „Geiz“. Nicht nur für das Personsein sind diese Emotionen konstitutiv, sondern selbstverständlich auch für das Personenverstehen. Das gilt unabhängig davon, ob man, wie das in einer rationalistischen Philosophie tendentiell der Fall ist, Emotionen als passiv oder irrational ansieht.79

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Vgl. Frankfurt 1971, S. 5-20 Vgl. Bittner 1989 S. 577-592. Bei Charles Taylor 1996 z. B. findet sich eine davon abweichende Verwendung des Worts „Empfindung“, weil bei ihm Empfindungen im Lauf der Geschichte, genauer gesagt: im 18. Jahrhundert, durch die Theorien der Empfindungen „normativ“ geworden sind. Vgl. dazu die Monographie von de Sousa 1997 Vgl. Strawson 1974 Vgl. Berenson 1981, Kap. 5 sowie de Sousa 1997.

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Zu 3. und 4. Diese Merkmale sind nicht völlig disjunkt; sie überschneiden sich in den sprachlichen Handlungen, den sogenannten Sprechakten. Avant la lettre faßte Hegel, ganz und gar pragmatisch, diese Überschneidung in seiner Ästhetik (Werke, Bd. 13, S. 285) so zusammen: „Die Handlung ist die klarste Enthüllung des Individuums, seiner Gesinnung sowohl als auch seiner Zwecke; was der Mensch im innersten Grunde ist, bringt sich erst durch sein Handeln zur Wirklichkeit, und das Handeln, um seines geistigen Ursprungs willen, gewinnt auch im geistigen Ausdruck, in der Rede allein seine größte Klarheit und Bestimmtheit.“ Hegel befindet sich hier nur einen Schritt von Austins Theorie der Sprechakte in „How to do things with words“ entfernt. Meines Wissens war jedoch Wittgenstein der erste, der diesen Begriff explizit verwendete: „Die Sprache...ist durch die Sprachhandlungen charakterisiert.“80 Ich werde im Folgenden das Kunstwort „SprachHandeln“ verwenden, wenn ich mich sowohl auf das sprachliche als auch auf das nichtsprachliche Handeln einer Person beziehe. Darüber hinaus gilt diese Überschneidung auch für die Sphäre der Moralität, wie Kant sie formulierte: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anderes als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen...“81 Kant verbindet hier Rationalität und Handlungsfähigkeit mit Moralität. Interpretiert man den Handlungsbegriff angemessen, wozu der Begriff der Zurechnung auffordert, so ist auch dasjenige SprachHandeln impliziert, das im Bereich der Moralität exemplarisch ist (z. B. bei der Lüge, bei dem Versprechen usw.). Demgegenüber legte Dilthey den Akzent auf das historisch dokumentierte SprachHandeln: „Darin liegt nun die unermeßliche Bedeutung der Literatur für unser Verständnis des geistigen Lebens und der Geschichte, daß in der Sprache allein das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet. Daher hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins.“ (a.a.O. V. Bd. S. 319).

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Philosophische Grammatik, WA Bd. 4, S. 193 - kursiv von L.W. „Die Metaphysik der Sitten“, Einleitung, IV. Vorbegriffe

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Zu 5. Personen sind im Normalfall Menschen, die als lebende jedenfalls körperliche Wesen sind.82 Daß Personen einander und sich selber körperliche bzw. physische Prädikate zu- und absprechen ist in der Philosophie seit Strawson ein Gemeinplatz83, hat aber Williams nicht an der Frage gehindert: „Sind Personen Körper?“84 Über die Schlußfolgerungen, die man daraus für das Verhältnis zwischen Körper und Geist ziehen darf, besteht alles andere als Konsens. Daß der Körper des Menschen sein Leib ist und insofern die Leiblichkeit ein Merkmal des Personseins, scheint aufgrund einer Diagnose von Anne Reichold dennoch in der analytischen Philosophie vergessen worden zu sein.85 Das war in der idealistischen Philosophie nicht der Fall. Fichte z. B. gibt 1798 eine plausible Beschreibung, wenn er sagt: „Ich bin sonach, als Naturproduct, Materie, und zwar nach dem obigen organisierte Materie, die ein bestimmtes Ganzes ausmacht. Mein Leib.“86 Die verführerische, aber keineswegs unproblematische Konsequenz aus Fichtes Gedanken scheint die Einheit in der Verschiedenheit von Körper und Geist in einer Person zu sein. Und Hegel schreibt in seiner Rechtsphilosophie, nachdem er in § 43 klargestellt hat, daß eine Person auch eine „natürliche Existenz“ hat, im § 47: „Als Person bin Ich selbst unmittelbar Einzelner, - dies heißt in seiner weiteren Bestimmung zunächst: Ich bin lebendig in diesem organischen Körper ... Aber als Person habe ich zugleich mein Leben und Körper, wie andere Sachen, nur insofern es mein Wille ist.“ Hegel präzisiert in einer Anmerkung, was er meint: „Ich habe diese Glieder, das Leben nur, insofern ich will; das Tier kann sich nicht selbst verstümmeln oder

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Searle 1994 S. 15 meint mit Bezug auf Descartes, daß wir auch sagen könnten: „I am a thinking being, therefore I am a physical being.“ Vgl. dazu Williams 1978 und dort z. B. den Aufsatz „Kontinuität des Leibes und Identität der Person“. In dem Buch steht auch eine Rezension von Strawsons Buch „Individuals“. Vgl. Williams 1978, Kap. 5 Vgl. dieselbe 2004: „Die vergessene Leiblichkeit - zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethischen Persontheorien“ mit kritischer Bezugnahme auf Chisholm, Dennett, Frankfurt, Korsgaard, Parfit, Singer, Taylor, Ryle, Strawson, Wiggins und Williams. Werke, Bd. IV, S. 127

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umbringen, aber der Mensch.“87 Ganz ähnlich hatte sich Hegel im § 48 geäußert: „Insofern Ich lebe, ist meine Seele ... und der Leib nicht geschieden, dieser ist das Dasein der Freiheit und Ich empfinde in ihm.“ Eine entscheidende Konsequenz ist die: „Meinem Körper von anderen angetane Gewalt ist Mir angetane Gewalt.“ Denn „für den anderen bin ich in meinem Körper.“ Die Leiblichkeit von Personen ist (bis auf weiteres?) geschlechtlich verschieden realisiert88. Nun ist das Geschlecht der Person nach einer weit verbreiteten Ansicht oft von Bedeutung für die Möglichkeit, auch nur das SprachHandeln einer Person zu verstehen. Umso wichtiger muß das Geschlecht erscheinen, wenn es um die Möglichkeit geht, mehr als nur das SprachHandeln einer Person zu verstehen.89 Darüber hinaus kommt es bekanntlich vor, daß eine Person ihre Geschlechtsrolle oder sogar ihr 87

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Hervorhebungen von Hegel. Ohne solche Präzisierungen scheinen mir Gedanken wie „Ich habe einen Körper“, „Ich habe eine Seele“ an der Grenze der Sinnlosigkeit zu sein. Wenn eine Person solche Gedanken äußerte, könnten sie gar nicht sinnvoll bestritten werden. Und aus diesem Grund sind sie nur scheinbar sinnvoll. Darüber hinaus wäre es widersprüchlich zu sagen: „Ich habe keine Seele“. Das wäre zwar kein formallogischer Widerspruch, aber eine Art performativer Selbstwiderspruch. Eher witzlos als sinnlos ist es, über eine andere (lebende) Person zu sagen: „Sie/er hat einen Körper“, „Sie/er hat eine Seele“. Für alle bisher angeführten Sätze lassen sich keine Umstände denken, unter denen die Äußerung eines dieser Sätze eine Information für einen Hörer darstellen könnte. Eher nicht wahr als informationslos scheinen mir die folgenden Aussagen zu sein: „Sie/er ist eine Seele“ (außer im übertragenen Sinn geäußert). Als falsch sehe ich die folgenden Gedanken bzw. Aussagen an: „Ich bin ein Körper“, „Er/sie ist ein Körper“, „Ich habe keinen Körper“, „Ich bin mein Körper“, „Ich bin meine Seele“, „Er ist sein Körper“, „Sie ist ihre Seele“, „Ich bin eine Seele“. Allgemein nimmt heute die Sexualwissenschaft an, daß das Geschlecht für eine Person eine konstitutive Funktion für ihre Identität oder zumindest für ihr Erleben hat, so daß eine Geschlechtsumwandlung entsprechende Veränderungen bewirkt. Nur in der Fiktion wie z. B. in Virgina Woolf's Roman „Orlando“ 1992 S. 99 kann man das Gegenteil versichern: „Der Wechsel des Geschlechts, wenn er auch die Zukunft der beiden änderte, tat nicht das geringste, ihre Identität zu ändern.“ Vgl. Tanner 1993 passim: „Du kannst mich einfach nicht verstehen. Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden.“ Weniger pessimistisch sieht z. B. Root 1986 S. 301 die Sache: „...a man can understand a woman better by narrowing these differences.“

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Geschlecht nicht akzeptiert, so daß z. B. gesagt werden kann, P verstehe sich nicht als Frau bzw. als Mann. Darüber hinaus entsteht für das Personenverstehen das Problem, ob und wie entkörperlichte, also normalerweise tote Personen verstanden werden können. Wenn jedoch diese Personen relevante Texte produziert und hinterlassen haben, reduziert sich das Problem trivialerweise auf das Verstehen ihres dokumentierten SprachHandelns.90 Aber das trifft Dilthey zufolge nicht für alle Personen zu.91 Man könnte trotzdem sagen: Wenn P1 P2 versteht (und P2 tot ist), dann muß P1 mindestens Texte bzw. Berichte usw. von oder über P2 verstehen.

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Daß hier nicht alles selbstverständlich ist, macht Kundera 1990, S. 263 f klar, wenn er Goethe mit Hemingway im Totenreich folgenden Dialog führen läßt: “Haben Sie immer noch nicht begriffen, daß die Personen, von denen die Leute reden, gar nicht wir sind?“ „Versuchen Sie nicht zu behaupten, daß es zwischen Ihnen und dem Goethe, über den alle schreiben und sprechen, keine Beziehung gibt. Ich gebe zu, daß das Bild, das Sie hinterlassen haben, nicht völlig identisch ist mit Ihnen. Ich gebe zu, daß Sie darin ganz ordentlich verzerrt sind. Aber Sie sind trotzdem darin präsent.“ „Das bin ich nicht“, sagte Goethe sehr bestimmt. „Und ich sagen Ihnen noch etwas. Ich bin auch in meinen Büchern nicht präsent. Wer nicht ist, kann nicht präsent sein.“ „Diese Sprache ist für mich zu philosophisch.“ „Vergessen Sie mal für eine Weile, daß Sie Amerikaner sind, und strengen Sie ein bißchen Ihr Hirn an: wer nicht ist, kann nicht präsent sein. Ist das so kompliziert? Seit dem Moment, in dem ich gestorben bin, bin ich von überall weggegangen, und zwar ganz. Ich bin auch aus meinen Büchern weggegangen. Diese Bücher sind ohne mich auf der Welt. Niemand kann mich mehr darin finden. Weil man nicht finden kann, was nicht ist.“ Dilthey schreibt 1890 (a.a.O. V. Bd. S. 113 f), daß die „Realität der geschichtlichen Personen für uns nicht ausschließlich auf hermeneutischen und kritischen Schlüssen (beruht), welche etwa am Faden der Kausalität von der Geschichtserzählung Rankes, Häußers und unzähliger anderer über Luther zu den Drucken seiner Werke, Briefe und Tischreden sowie den Schilderungen solcher, die ihn sahen, zurückgreifen, von da an weiter zu dem Luther selber, der Buchstabe an Buchstabe reihte, oder dessen Gesichtsbild von einem Zeitgenossen aufgefaßt wurde.“ Zwar seien diese Schlußweisen nicht nutzlos, aber sie bedürften der „Ergänzung durch lebendigere Vorgänge.“ Luther, Friedrich der Große oder Goethe seien „für uns Realitäten, weil ihre große Personalität willensmächtig auf uns wirkt.“

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Wie sieht das Personenverstehen bei fiktiven Personen aus?92 Fiktive Personen wie Hamlet oder Faust sind körperlich, wenn auch nur fiktiverweise. Wenn man also z. B. Hamlet als Person bezeichnen möchte, muß man auch eine fiktive Körperlichkeit zulassen. Und daß man versuchen kann, fiktive Personen zu verstehen, wird niemand bestreiten. Oft werden sie sogar für besonders gut verstehbar gehalten, und das vielleicht wegen ihrer scheinbaren „Unveränderlichkeit“.93 Oft ist gesagt worden, daß es zumindest ein Nebenzweck von literarischen Fiktionen ist, in das Personenverstehen einzuführen und sich darin einzuüben.94 Aber abgesehen von jeder Zweckhaftigkeit gilt Diltheys These: „Die großen Epochen in der Geschichte der Poesie von Europa sind zugleich Abschnitte in der dichterischen Auffassung von der Individuation der allgemeinen Menschennatur.“

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Das theologische Problem, wie ein notwendigerweise körperloses Wesen wie Gott als Person begriffen - und auch noch verstanden - werden kann, klammere ich hier aus. Vgl. Kundera 1992 S. 13: „Ist aber der Mensch, und eine Romanfigur vielleicht noch mehr, nicht als einzigartiges, unwiederholbares Wesen definiert?“ Vgl. auch Schopenhauer, „Parerga“ II, 1, 253 zu Shakespeares Dramen als Exemplifikationen der Menschenkenntnis. Nietzsche meinte im übrigen zur Unveränderlichkeit: „Daß der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heißt dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.“ (Menschliches, Allzumenschliches, Bd. I, 41). von Humboldt schrieb (Werke Bd. 1, S. 433): „Die Moralisten, Geschichtsschreiber und Dichter waren es vorzüglich, in deren Händen sich die Charakterschilderung befand.“ Vgl. a.a.O. S. 435: „Der eigentliche Schöpfer der ächten Kunst dichterischer Charakterschilderung ist erst Shakespeare...“ Man Vgl. die Kritik Nietzsches an der Problematik der „Geschaffenen Menschen“ in: „MenschlichAllzumenschliches I“ Nr. 160: „In der Tat verstehen wir von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und generalisieren sehr oberflächlich, wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer sehr unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen macht (in diesem Sinne `schafft'), als unsere Erkenntnis des Menschen oberflächlich ist.“

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(a.a.O. V. Bd. S. 283). Deswegen ist die Lektüre von Romanen und Dramen konstitutiv für die Bildung personaler Identität und damit auch für das Personenverstehen, zumal eine Person als eine im Kern narrative Struktur betrachtet werden kann, wie in Kap. 5.2.1 und in Kap. 10 noch deutlich wird.95 Zu 6. Die Begriffe des Zeitbewußtseins und der Geschichtlichkeit bezeichnen zwar nicht dasselbe ontologische Phänomen, aber sie sind im Rahmen des Personenverstehens auf dasselbe hermeneutische Problem bezogen.96 Alle Körper existieren eine bestimmte Zeit lang. So auch Personen, insofern sie verkörperlicht sind. Nur Personen haben ein Zeitbewußtsein, und zwar sowohl im Sinne des Früheren, Gleichzeitigen und Späteren (McTaggerts A-Reihe) als auch im Sinne von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (McTaggerts B-Reihe). Spezifischer haben Personen in der Regel aber auch ein Bewußtsein ihrer jeweils schon gelebten Zeit, also ihrer bisherigen Lebensgeschichte. Darüber hinaus können sie oft, obwohl nicht immer, sich auch noch in der geschichtlichen Epoche situieren, in der sie faktisch leben.97 Für Dilthey war sogar klar: „Das Individuum ... versteht die Geschichte, weil es selbst ein historisches Wesen ist.“98 Damit haben sie ein doppeltes Bewußtsein ihrer Geschichtlichkeit.99 Es spricht auch einiges für die Annahme, daß jede Zeit bzw. ein Zeitalter die in ihr bzw. ihm lebenden Personen prägt.100 Es gibt z. B. Menschen, die sich im falschen Jahrhundert geboren fühlen, wenn man von denen absieht, die in 95 96

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Vgl. dazu Taylor 1996, S. 507 ff. sowie die in der Rezension von Quante aufgeführte Literatur. Vgl. Dilthey VII. Bd. S. 192 ff, auch S. 135: „Der einzelne Mensch in seinem auf sich selber ruhenden Dasein ist ein geschichtliches Wesen.“ Und selbstverständlich Heidegger. Ob es sich so verhält, wie Gadamer 1965 S. 261 meint, lasse ich hier offen: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben.“ a.a.O. VII. Bd. S. 151 Grundsätzliches zu den verschiedenen möglichen Prägungen des Geschichtlichen findet sich in Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.“ So heißt es z. B. in Woolfs „Orlando“ (S. 171): „Denn es ist wahrscheinlich, daß der Menschengeist seinen Platz in der Zeit zugewiesen bekommt; manche sind von diesem Zeitalter geboren, manche von jenem...“.

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eine ungünstige Zeit geboren werden.101 Um solche Personen zu verstehen, ist auf der Seite des Verstehenden ein zeitgeschichtliches Bewußtsein nötig. Vgl. Kap. 6. Weil nun die Lebenszeit für jede Person unbestimmt lang ist, haben Personen normalerweise auch ein emotionales Verhältnis zu diesem Zeitraum und zu ihrem eigenen Leben bezüglich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Regel haben Personen, wie Bernard Williams sagte, „kategorische Wünsche“102 bezüglich Länge und Inhalt ihres Lebens. Und insofern es zumindest in der Regel Personen um ihr Leben geht (und nicht nur um Da-Sein, sondern auch um ihr So-Sein), muß sich das Personenverstehen auch an dieser Perspektive von Personen, wie z. B. ihrer Sorge um ihre Existenz, orientieren, um sie verstehen zu können. 7. Die Sterblichkeit von Personen103 kann nicht als eine Disposition wie z. B. die Wasserlöslichkeit von Zucker aufgefaßt werden. Sie ist natürlich, insofern sie gewußt wird und bewußt ist, die Antizipation des Endes der zeitlichen Existenz als körperliche Wesen, der eigenen wie der fremden Existenz.104 Sie ist für Heidegger und andere Fundamentalontologen noch mehr und anderes als eine Antizipation: nämlich eine „Geworfenheit zum Tode“.105 Frank (1990 S. 278) schreibt: „Der Anfang des Menschenwesens 101

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Man muß hier nicht nur an Kriege denken. Eher an so etwas wie Nietzsches Diagnose: „Der moderne Mensch leidet an einer geschwächten Persönlichkeit.“ (1874, Kap. 5). Williams 1978: „Die Sache Makropulos: Reflexionen über die Langeweile der Unsterblichkeit“ S.133-162, hier S. 139 ff. Es gibt hier auch diverse rechtliche Regelungen über das Mensch- bzw. Personsein. Es gibt in der BRD ein „Personenstandsgesetz“. Danach kommt es auf das Gewicht an, ob etwas eine Person ist oder nicht und folglich beerdigt werden muß oder einfach „entsorgt“ werden darf. Daß letztlich pragmatische Regeln entscheiden, offenbart die hier notwendige Willkürlichkeit. Dasselbe Problem ergibt sich bezüglich der Föten. Vgl. Honnefelder 1993 Dilthey, a.a.O. Band VII, S. 80 f: „Der Lebendige weiß vom Tod und kann ihn doch nicht verstehen.“ Mir scheint, als sei in diesem Wissen der Menschen der Sinn jener angeblichen und kryptischen Bemerkungen Silens aus dem griechischen Mythos zu suchen, denen zufolge das größte Unglück eines Menschen darin besteht, geboren zu werden und das zweitgrößte, nicht gleich wieder zu sterben.

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ist der `Zufall´, die `Geworfenheit´, das `Von-Ungefähr´“ und zitiert dann Sartre („Der Idiot der Familie“, dt I, S. 59): „Doch ist der Zufall, sobald er einer menschlichen Person widerfährt, selbst sinnträchtig; ganz allgemein heißt das, daß die Existenz ihre Geworfenheit auf sich nimmt (ohne zwar dahin zu gelangen sie zu fundieren); in allen Einzelfällen, daß jedes Individuum als Mensch-von-ungefähr (und ohne eine Bedeutung zu besitzen) oder als Mensch eines bestimmten Zufalls (und mit einem Zuviel an Bedeutung) muß erscheinen können.“ (kursiv von Frank). Darüber hinaus wurde (von Simone de Beauvoir in ihrem Roman „Alle Menschen sind sterblich“) die These aufgestellt, daß eine unsterbliche Person keinen Lebenssinn und Interesse an der Lebenswelt der Sterblichen mehr haben kann, wenn sie ihre Unsterblichkeit erkennt. Die damit verbundene existentielle Frage wäre die, ob der Tod eine Bedingung von Lebenssinn oder Lebensbedeutsamkeit ist. Diese Frage wurde von KarlOtto Apel (unter Bezugnahme auf Beauvoirs Roman) in die Titel-Frage seines Aufsatzes transformiert: „Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung?“106 und weiter in die Frage umgemünzt: „müßte nicht dieser fiktive Unsterbliche im Laufe der Jahrtausende auch die Fähigkeit zum Verständnis der Wortbedeutungen menschlicher Sprachen verlieren; und müßte er damit nicht auch das sprachvermittelte Verständnis des Unterschieds von Sterblichkeit und Unsterblichkeit (Endlichkeit und Unendlichkeit) und somit am Ende auch das für ihn so verhängnisvolle Bewußtsein seiner Unsterblichkeit wieder verlieren?“ Apel bejaht diese Frage im Sinne Heideggers: „Auch das sprachlich vermittelte Bedeutungsverständnis, das den Romanhelden bis zuletzt in den Stand setzt, seine Unsterblichkeit zu verstehen und darunter zu leiden, daß er der menschlichen Lebenswelt keine existentielle Bedeutsamkeit mehr abgewinnen kann, gründet letztlich selbst noch in jener Endlichkeit des Daseins...“ (S. 227). „Kurz: die Endlichkeit oder das `Sein zum Tode' ist eine quasitranszendentale, sc. existenziale Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnisses im vorontologisch-alltäglichen und im ontologisch-philosophischen Sinn.“ (S. 228)107 So gesehen ist das Bewußtsein der Sterblichkeit nicht 106 107

in : Ebeling 1973 S. 226-235 Vgl. Apel a.a.O. S. 233: „Die Sprache als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von `Tod' bzw. `Schmerz' macht sowohl das intersubjektiv gültige wie das existenziell bezogene Verständnis von `Tod' bzw. `Schmerz' möglich.

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nur für das Personsein konstitutiv, sondern auch für das Personenverstehen als Selbstverstehen und als Fremdverstehen. Mit den vorangegangenen Bemerkungen zur Metaphysik der Personalität sollten notwendige, gleichsam transzendentale Merkmale für das Personsein aufgestellt werden. Und als solche scheinen sie auch die hermeneutischen Voraussetzungen für das Personenverstehen darzustellen. Aber sowohl als Merkmale wie auch als Voraussetzungen erschöpfen sie nicht das Verstehen von individuellen Personen, also der Individualität von Personen - was erst ab Kap. 5.1 erörtert wird. Zu der europäischen Entwicklung des Personenbegriffs muß noch etwas gesagt werden. Konersmann108 zeichnet sie so nach, daß zum Beginn der Neuzeit die persona, also die ehemalige Maske, als „ästhetische Größe faßbar“ wird. Danach wird, nicht zuletzt aufgrund der Lutherschen Bibelübersetzung der biblisch geprägte Begriff der Person (nur Gott sieht nicht nur die Maske, sondern ins Innere, also die Person selbst), sozusagen verrechtlicht: „Das Identische der Verschiedenen ist ihr abstraktes Personsein: Gleich sind die Menschen, insofern sie Personen sind.“109 Die Auffassung vom Menschen als Rechtsperson inauguriert in gewisser Weise Kant, wenn er Personen und nur sie als „vernünftige Wesen“ definiert und ihnen damit Freiheit und Selbstbestimmung (Autonomie) attestiert. In Hegels „Rechtsphilosophie“ (§ 35) wird die Person als Selbstbewußtsein charakterisiert, das in einer „inhaltslosen einfachen Beziehung“ eines für sich freien Willens „auf sich in seiner Einzelheit“ besteht. Und eine Person hat nicht nur ein Selbstbewußtsein von sich als einem „konkreten“ Ich, sondern auch ein Selbstbewußtsein von sich als einem „vollkommen abstraktem Ich, in welchem alle konkrete Beschränktheit und Gültigkeit negiert und ungültig ist.“ Die nachhegelschen ethnologischen, psychologischen und kulturalistischen Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts wie z. B. die von Marcel Mauss („Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des `Ich'“ von 1938)110 oder von Clifford Geertz111 („Dichte Beschrei108 109 110

1993 a.a.O. S. 222 Mauss 1975

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bungen. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme“) bestätigen, daß der Personenbegriff fast universell verbreitet ist, wenngleich der von der christlichen Religion beeinflußte Personenbegriff eine Sonderrolle spiele, wie Geertz schreibt: „Die abendländische Vorstellung von der Person als einem festumrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewußtseins, Fühlens, Urteilens und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und natürlichen Hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee.“112 Es versteht sich wohl von selbst, daß eine sonderbare Idee nicht falsch sein muß. Im übrigen wäre zu fragen, ob einige Vorstellungen nicht mehr oder weniger pragmatisch widersprüchlich sind, wenn sie etwa den Gebrauch von Personalpronomina oder funktional äquivalenter Ausdrucksformen gestatten und gleichzeitig die Existenz von Personen leugnen. Worauf sollten sich „ich“, „ego“, „I“, „je“, „io“, „eu“ denn beziehen? Oder sollte man z. B. punktuelle Personen im Sinne von Bewußtseinszeitscheiben annehmen?113 Wenn es sich allerdings so verhielte, daß Personen in keiner relevanten Hinsicht als identisch114 begriffen werden könnten, weil sie etwa ihre Merkmale permanent mit hoher Geschwindigkeit wechselten, dann hätte es sicher wenig oder keinen Sinn zu fragen, ob man Personen verstehen könnte.115 Pothast zitiert ein Gedicht aus dem älteren Buddhismus, um zu zeigen, daß in dieser Tradition das Folgende angenommen wird: „die strikte Leugnung jeglicher sich in der Zeit durchhaltenden Person als Subjekt...“ Und: „Das buddhistische Lehrstück macht auf sehr einfachem Weg deutlich, daß die Ontologie der Wesen, die wir `Personen' nennen und als sich durchhaltende Subjekte von Erlebnissen, Gedanken, Absichten, Handlungen, auch als Träger von Verdienst und Schuld zu kennen meinen, sowohl bei einer kulturübergreifenden Betrachtung als auch

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Geertz 1983 a.a.O. S. 294 Vgl. Parfit also per impossibile Teile oder Verkörperungen des Nichtidentischen wären, um mit Adorno zu reden. Vgl. Konersmann a.a.O.

43 in dem Diskussionsrahmen unserer eigenen philosophischen Tradition nur wenige philosophisch glaubwürdige... Selbstverständlichkeiten aufweist.“116

Ein Vergleich zwischen den asiatischen Kulturen und der europäischen Tradition belehrt uns darüber, daß es hinsichtlich beider Begriffe relevante Unterschiede gibt: „Im Gegensatz zu den kollektiven östlichen Selbst-Konzeptionen lassen sich die westlich orientierten Ansätze als individualistisch charakterisieren. In östlichen Kulturen wird stärker zwischen privatem und offiziellen Selbst unterschieden als in westlichen Kulturen, obwohl die Differenzierung in der westlichen Persönlichkeitspsychologie erarbeitet wurde. Doch bleibt für Texte außereuropäischer Traditionen das terminologische Problem gegenwärtig unlösbar, ob und mit welchem Recht die Worte `Selbst', `Ich', `Seele' oder `Bewußtsein' u.a., die für uns doch klar unterscheidbar Verschiedenes bedeuten, die jeweiligen Intentionen wiedergeben können.“117

Daher scheint die buddhistische Ansicht nicht phänomengerecht zu sein, sondern kontraintuitiv, jedenfalls für uns Europäer. Das mag als eurozentristisches Vorurteil gelten, doch haben wir als Europäer meines Erachtens keine andere Wahl als so zu denken.118 Mit ein wenig Übertreibung läßt sich vielleicht sagen, daß Europas gegenwärtiger Personenbegriff zwischen einer sokratischen Subjektivität und einer romantisch-anarchistischen Individualität oszilliert.119 Jedenfalls spricht nach meiner Ansicht nichts gegen Kants universalen Anspruch, wonach ein Mensch, „selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann...es doch in Gedanken hat: wie es alle Sprachen, wenn sie in der ersten Person reden, doch denken müssen, ob sie zwar diese Ichheit nicht durch ein besonderes Wort ausdrücken.“ Solange ein Mensch als Kind nicht das Pronomen „ich“ gebraucht, „denkt“ er nach Kant noch nicht 116 117 118 119

1992, S. 159 und 160 Vgl. Schönpflug 1996 S. 311 Vgl. dazu Kämpf 2003 Vgl. dazu die Beiträge in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1993, Heft 2 sowie Undine Eberlein 2000. Sie betrachtet die romantische Individualität als „eine der wirkmächtigsten Erfindungen und Fiktionen der Moderne.“ Ihr gegenüber steht eine „moralische Individualität“ aus der Aufklärung. Für die einen ist „Sei verschieden!“ die Losung und für die anderen „Sei gleich!“.

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„sich selbst“, sondern er „fühlt bloß sich selbst“. Zuvor hatte Kant erklärt, daß der Mensch durch seine Ich-Vorstellung nicht nur ein einzigartiges Lebewesen ist, sondern auch eine „Person und vermöge der Einheit seines Bewußtseins...eine und dieselbe Person...“ ist.120 Kants transzendentalphilosophische Argumentation verweist indirekt (weil bewußtseins- statt sprachtheoretisch) auf den notwendigen Zusammenhang des Gebrauchs des Personalpronomens mit dem Personsein. 2.2 Personalpronomen und Identität Das Personalpronomen der ersten Person bzw. die Ich-Vorstellung sollte jedenfalls schon für Kant nicht mehr so verstanden werden, daß es sich auf ein Ich im Sinne eines substantiellen Subjekts bzw. einer Seele bezieht.121 Mit der Verwendung von Personalpronomina beziehen sich Personen normalerweise auf Personen bzw. Menschen, obwohl sie sie oft genug auch auf Tiere und anderes anwenden. In allgemeinen wird bei solchen Verwendungen eine Einheit unterstellt, die das so identifizierte Wesen haben soll. In Bezug auf die Frage, unter welchen Bedingungen eine Person P1 dieselbe ist wie eine Person P2, unterscheide ich wie üblich122 zwischen numerischer und qualitativer Identität von Personen. Numerisch identisch, also ein und dieselbe Person sein, ist der natürliche bzw. normale Fall bei organischen Lebewesen wie Menschen. Nach meiner Einschätzung hat Strawson völlig recht, wenn er in diesem Kontext auf der „einfachen Regel“ einer Eins-zu-eins-Abbildung von Bewußtsein und Person besteht: „one person, one consciousness; same person, same consciousness.“123

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„Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, 1. Teil, 1. Buch, § 1 Diese Kritik des Ich oder am „ich“ ist spätestens seit Feuerbach und Nietzsche bekannt. Sie trifft aber nur zu, wenn sie diejenige Verdinglichung geißelt, die aus jeder Verwendung des Personalpronomens „ich“ ein Ich machen will. Vgl. Kittsteiner 1993 S. 308 Vgl. Strawson 1959, dt. 1972 S. 41 f Strawson 1974 S. 174 (herv. v. Strawson). Diesen Standpunkt präsentiert Strawson zu Recht als den „anti-cartesianischen“ schlechthin. Nur mit ihm läßt sich der cartesianische Dualismus wenigstens im Ansatz überwinden. Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Von diesem Normalfall weicht scheinbar der Fall ab, der ebenso natürlich, aber krankhaft ist und den Psychologen und Psychotherapeuten die „multiple Persönlichkeitsstörung“ nennen. Diese Personen haben den Eindruck oder die Vorstellung, viele Personen zu sein („ich bin viele“) oder daß viele Personen in ihrem Körper existieren („in mir wohnen mehrere“). Falsch wäre jedoch der Schluß, daß man es hier wirklich nicht mit einer und nur einer Person zu tun hätte. Denn schon durch die Verwendung des Pronomens der ersten Person („ich“) gegebene Bezugnahme auf sich selbst identifiziert sich ein Mensch als eine numerisch identische Person, auch wenn diese glaubt, qualitativ nicht identisch zu sein - gleichsam über die Zeit als dieselbe Person verschiedene Zustände durchzumachen.124 Der unnatürliche Fall wäre ein künstlicher, also einer, in dem von einer Person eine perfekte Kopie hergestellt worden wäre, die mit ihr qualitativ identisch wäre. In den Normalfällen bisherigen menschlichen Lebens jedoch ist es ebenso natürlich, daß eine numerisch identische Person nicht qualitativ identisch bleibt, ihre qualitative Identität sich also in einem unbestimmten Zeitraum ändert. Dieses Faktum kann man als ontische Voraussetzung des Personenverstehens betrachten. Was sind die Bedingungen dafür, ein und dieselbe Person zu zwei verschiedenen Zeiten zu sein?125 Als Antwort auf diese Frage kommt die

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Bewußtseine werden nach der Strawsonschen Theorie (als ein und dasselbe) so identifiziert und gezählt wie Personen. Natürlich muß man hier an Saulus und Paulus denken - Vgl. dazu Rudolf Hallers identitätstheoretische Reflexionen in seinem „Parergon Metaphysicum: Saulus und Paulus“ in Haller 1986, 52-56, hier S.56: „Wenn wir Ausdrücke verwenden und uns auf Saulus und Paulus beziehen, so beziehen wir uns zuerst auf ein räumlich-zeitliches Ding: den sich stetig verändernden Körper des Saulus (und Paulus). Und wir weisen auf einen Körper hin, wenn wir sagen: `Dieser hat es getan.' Wenn aber Paulus sagt: `Ich weiß nicht, was ich tue', dann bezieht er sich indem er `ich' sagt - nicht auf seinen Körper, auch wenn dem, worauf er sich bezieht, ein Leib zugrunde liegt. Und wenn Paulus nicht wüßte, wer Saulus ist oder was Saulus getan hat, weil er - angenommenerweise - sich dessen nicht mehr erinnnerte, wer oder was er war, so wäre Paulus doch Saulus, wenn `Saulus' und `Paulus' ein und dasselbe bezeichneten. Saulus und Paulus sind nicht zwei Dinge, wenn sie ein und dasselbe sind.“ Vgl. Sturma 1991 S. 123, insbes. S. 125 ff

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raumzeitliche physische Kontinuität der Personen in Frage, da Personen Wesen sind, die in Raum und Zeit existieren. Diese Kontinuität, sozusagen ihre Raumzeitspur, darf nicht mit der qualitativen physischen Identität verwechselt werden. Denn ich bleibe numerisch identisch, wenn mir ein Zahn gezogen oder ein Spenderherz eingepflanzt wird, obwohl ich qualitativ physisch nicht identisch bleibe.126 Andererseits ist es nicht für die raumzeitliche physische Kontinuität erforderlich, z. B. sein Herz zu behalten.127 Dagegen wäre, falls es möglich wäre, eine Auswechslung meines Gehirns eine dermaßen große qualitative Differenz, daß ich nicht mehr numerisch identisch bliebe.128 Personen sind Wesen, die sich ihrer numerischen Identität, ihrer raumzeitlichen, physischen Kontinuität und ihrer qualitativen Nichtidentität bewußt sind.129 Kant unterscheidet darüber hinaus die „psychologische“ von der „moralischen“ Person: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf der Erde lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d.i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Tiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen.“130

126

127 128 129

130

Hier könnte jemand in Versuchung geraten, das Sorites-Paradox bzw. das Paradox der Vagheit auf Personen anzuwenden. Man entferne ein Molekül von mir usw., ich existiere immer noch. Ich bin wie ein Haufen ein vager Gegenstand. Wenn es keine vagen Gegenstände geben sollte, gibt es auch mich nicht. Vgl. Sainsbury 1993 Vgl. Parfit 1984 S. 202 Vgl. Quante 1996 Diese Bestimmung geht auf Locke zurück, für den (Essay II, 27 Para. 9) eine Person „ein denkendes, vernünftiges Wesen mit Verstand und Überlegung (ist), das sich als sich selbst und als dasselbe denkende Wesen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten fassen kann, indem dies nur durch das Selbstbewußtsein geschieht, was vom Denken nicht zu trennen und ihm wesentlich ist.“ „Anthropologie“ § 1. Vgl. Rudolph 1993

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Es kann mitunter eine Sache der Entscheidung sein, ein Wesen als Person zu betrachten bzw. anzuerkennen wie z. B. bei einem im Koma liegenden Menschen. Das wäre sozusagen eine juristisch-medizinische Lösung eines metaphysischen Problems. Als philosophische Lösung kommt jedoch nur etwas in Frage, was das Personsein mit Selbstbewußtsein verbindet und zwar so, daß das Selbstbewußtsein (und das heißt: Bewußtsein seiner selbst als man selbst131) eine notwendige und hinreichende Bedingung für Personsein ist. Manche Arten von Tieren mögen auch Bewußtsein haben, aber an Selbstbewußtsein mangelt es ihnen nach allem menschlichen Wissen, denn sie verfügen nicht über eine Sprache, die es ihnen ermöglicht, Gedanken der Form „ich glaube, daß ich selbst...“ usw. zu denken und auszusprechen. Solche Gedanken kann ein Wesen dann und nur dann denken, wenn es irgendeine Menschensprache sprechen gelernt hat.132 Es bleibt die Frage, in welchem Verhältnis die Menge der Menschen zur Menge der Personen stehen. Es lassen sich vier Beziehungen zwischen diesen Mengen denken: a) die Menge der Personen ist koextensiv mit der biologischen Klasse der Menschen, d. h. jeder Mensch ist eine Person und jede Person ein Mensch,133 b) die Menge der Menschen ist eine Teilmenge der Menge der Personen, d. h. jeder Mensch ist eine Person, aber nicht jede Person ein Mensch,134 c) die Menge der Personen ist eine Teilmenge der Menge der Menschen, d. h. jede Person ist ein Mensch, aber nicht jeder Mensch eine Person, d) die Menge der Menschen und die Menge der Personen bilden eine Schnittmenge, d. h. einige Menschen sind auch Personen, andere nicht, und einige Personen sind auch Menschen, andere nicht - es gibt nichtpersonale Menschen und nichtmenschliche Personen.

131 132 133 134

Vgl. Castaneda 1991 und Frank 1994 Vgl. Davidsons Aufsatz „Vernünftige Tiere“ sowie Seebaß 1981 Vgl. Ayer 1963 So Spaemann 1996

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Es muß, ontologisch gesehen, nicht angenommen werden, daß alle Personen Menschen sind. Denn man sollte nicht apriori (sozusagen im Lehnstuhl) ausschließen, sondern offen lassen, ob die Menge der nicht-menschlichen Personen leer oder nicht-leer ist. Schlösse man das aus, würden Personen tendenziell zu einer natürlichen Art gemacht135. Es herrscht unter Philosophen fast ein Konsens darüber, daß Personen nicht-natu-ralistisch, also z. B. biologisch oder neurophysiologisch, definierbar sind. Ob man demgegenüber Menschen naturalistisch definieren kann, ist vielleicht sogar unter Philosophen strittig. Die naturalistisch gesonnenen Hirnforscher, für die aber beide Mengen sowieso koextensiv sind, ist eine derartige Definierbarkeit selbstverständlich. Doch abgesehen von der Unplausibilität, Personen als natürliche Art definieren zu wollen, erscheint es ontologisch abwegig, die Menge der Personen als koextensiv mit der Menge der Menschen zu betrachten. Denn in dem Begriff der Person kulminiert das Geistige - wenn und solange der Begriff des Menschen biologisch oder anthropologisch gebraucht wird. Die ontologische Frage nach dem Verhältnis von Personsein und Menschsein ist eigentlich für das hermeneutische Problem des Personenverstehens nur in einer Hinsicht relevant, nämlich der Verstehbarkeit von Personen. Ontologisch neutraler ist zwar die Auffassung, wonach die Menge der Menschen eine Teilmenge der Menge der Personen bildet. Aber hermeneutisch gesehen müßte es für den Fall, daß man es mit nichtmenschlichen Personen zu tun hätte, mindestens ein Analogon zum verstehbaren menschlichen SprachHandeln bei diesen Wesen geben. Ein verwandtes Problem stellte sich auch, wenn man nichtpersonale Menschen, die es ja nach (d) gibt, verstehen will, obwohl etwa die Kommunikationsmöglichkeiten mit ihnen dauerhaft gestört sind. Wenn die Verstehbarkeit an das Personsein gebunden wäre, wofür in Kap. 2.3 plädiert wird, würden durch (c) und (d) einige Menschen als prinzipiell unverstehbar betrachtet. Es ist also nicht gleich, ob man die Klasse der Personen für koextensiv mit der Klasse der Menschen hält oder nicht (wie schon letzteres Locke), denn 135

Konersmann 1993 S. 227 meint, daß man sich nicht entscheiden müsse, ob der Personbegriff ein apriorischer ist oder nicht, will sagen: ob mit „Person“, wie z. B. mit „Katze“ eine natürliche Art bezeichnet wird oder nur eine irgendwie kulturelle Art.

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eine Person zu sein impliziert, verstehbar zu sein und verstehen zu können, wobei an dieser Stelle noch offengelassen wird, in welcher Hinsicht das Verstehen wirkt bzw. was verstanden wird. Ein Hund, der den Pfiff seines Herrn „versteht“, wird dadurch nicht zu einer Person. 2.3 Semantisch-hermeneutische Tiere Das Personsein wurde in 2.1 durch sieben gleichsam transzendentale Merkmale charakterisiert. Nun ergibt sich allein schon aus dem Merkmal der Sprachlichkeit (und der Handlungsfähigkeit), daß Personen verstehen können und verstehbar sind, was zumindest ihre semantischen Produkte angeht. Deswegen scheint es mir unproblematisch zu sein, zu sagen, daß Personen Sinn oder Bedeutung produzierende und verstehende Tiere sind was in gewisser Weise auch ein transzendentales Merkmal ist. Auch wenn diese Redeweise ungewöhnlich ist, so erfüllt sie doch die Forderung nach einer nicht-naturalistischen Definition des Personenbegriffs136. Und was den Begriff „Tier“ angeht, so kann auf die schon von Aristoteles, Kant oder Nietzsche benützten und daher geläufigen Charakterisierungen des Menschen als eines soundso bestimmten Tieres verwiesen werden. Am geeignetesten erscheint mir daher die zusammenfassende Bezeichnung semantisch-hermeneutische Tiere. Diese Bezeichnung erscheint mir präziser als Charles Taylors Bestimmung, derzufolge gilt: „human beings are self-interpreting animals“137. Weil nämlich der Blick (vorerst) auf die semantischen und pragmatischen Produkte von Personen gelenkt wird und (zunächst) noch kein „Selbst“ ins Spiel kommt. Personen sind zwar auch sich selbst verstehende Tiere (siehe Kap. 5.2), aber nur deswegen, weil sie semantisch-hermeneutische Tiere sind, und das ontogenetisch wie konsti-

136 137

Vgl. zum Beispiel Wiggins 1980 S. 171: „person is a non-biological qualification of animal...“. Vgl. Taylor 1983 S. 144 f behauptet: „...human beings are self-interpreting animals: there is no such thing as what they are, independently of how they understand themselves. To use Bert Dreyfus' evocative phrase, they are interpretation all the way down.“ Nicht zu akzeptieren wäre demgegenüber die Bezeichnung „semantische Maschinen“, da Menschen keine Maschinen sind. Trotzdem können Menschen angeblich semantische Maschinen konstruieren - Vgl. dazu Haugeland 1981

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tutiv. Es wird hier also zunächst nur behauptet, daß Personen Sinnhaftes produzieren und verstehen. Die Davidson-Schülerin Carol Rovane dagegen schlägt eine, mir problematisch erscheinende, Äquivalenz vor: „Verstehbar (x) Person (x)“, zu lesen als: „wenn x verstehbar ist, ist x eine Person und wenn x eine Person ist, ist x verstehbar.“138 Sie untersucht die Folgen, die sich aus dem Prinzip der Nachsicht ergeben, wenn es auf interpretierbare Wesen wie Personen angewandt wird. Rovane versucht zu zeigen, daß personale Identität für Davidson an die Bedingungen der Interpretation geknüpft ist und nicht an die Leiblichkeit des Interpretierten. Rovane zufolge weisen die Bedingungen der Interpretierbarkeit bei Davidson auf den Begriff der Person hin, legen jedoch nicht fest, ob personale Identität aufgrund von physischen oder psychologischen Eigenschaften zu bestimmen ist. Personen könne man nicht unabhängig von Interpretation allein nach physischen Eigenschaften bestimmen. Ihr zufolge „emergiert“ personale Identität im Prozeß der Interpretation. Folglich habe Davidsons Auffassung von Rationalität und Interpretation die Konsequenz, daß eine Person zu sein heißt ein interpretierbares Wesen zu sein, und umgekehrt. Die generelle Strategie von Rovane (und mir) besteht darin, sich vermittels des Begriffs des Verstehens einen Begriff der Person zu machen - und nicht etwa über naturalistisch konzipierte Eigenschaften. Personen bilden für sie daher auch keine natürliche Art. Die Frage bleibt, wie psychische Eigenschaften in eine semantisch-hermeneutische Personalitätskonzeption einzuordnen sind. Schließlich sei noch vor dem Mißverständnis gewarnt, daß es so etwas wie das „Wesen“ einer Person geben müsse und demzufolge jede einzelne Person ein bestimmtes Wesen habe. Nun individuieren die genannten Merkmale keine Person, aber sie sind notwendige Bestimmungen des Personseins, inklusive des semantisch-hermeneutischen Tierseins. Insofern hat der Existentialismus gegenüber dem Essentialismus nur auf der individualitätstheoretischen Ebene recht, aber nicht auf einer personalitätstheoretischen Ebene. 138

Vgl. Rovane 1997, S. 71

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3.

Wie muß man Verstehen verstehen?

Wenn Dilthey (a.a.O. VII. Bd. S. 212) zufolge „der Gegenstand des Verstehens immer ein Einzelnes (ist)“, so wäre der Gegenstand des Personenverstehens die einzelne Person, das Individuum, wenn man einmal von dem Problem absieht, ob auch Kollektive verstehbar sind (Vgl. Kap. 5.4.). Häufig galt und gilt das Individuelle jedoch als unaussprechlich oder als nicht begrifflich einholbar, wie es durch das sattsam bekannte Diktum „individuum ineffabile est“139 propagiert wird. Der Inhalt des Diktums ist aber mindestens zweideutig. Zum einen kann gemeint sein, daß es immer nur Erkenntnis von Allgemeinem, nie von Einzelnem gibt. Zum andern kann gemeint sein, daß das Einzelne niemals als Einzelnes, sondern immer nur als Allgemeines erkannt und beschrieben werden kann. (Auf dieses Problem wird in 5.1.2. eingegangen). Verhielte es sich so, wäre dann nicht jede Erkenntnis von Einzelnem wie z. B. von Personen ausgeschlossen? Darüber hinaus wurde von einigen szientistischen Wissenschafts-theoretikern bestritten, daß Verstehen überhaupt eine Erkenntnisform darstellt, aber dem war schon von Dilthey widersprochen worden: „Das Verstehen und Deuten ist die Methode, welche die Geisteswissenschaften erfüllt. Alle Funktionen vereinigen sich in ihm. Es enthält alle geisteswissenschaftlichen Wahrheiten in sich. An jedem Punkt öffnet Verstehen eine Welt. Auf der Grundlage des Erlebens und Verstehens seiner selbst, und in beständiger Wechselwirkung beider miteinander, bildet sich das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen aus.“ (a.a.O. VII. Bd. S. 205).

Die wissenschaftlichen Ausgestaltungen dieser speziellen Wissensansprüche, die schon im 19. Jahrhundert in der Geschichtswissenschaft als Erkenntnis historischer Individuen sowie in der Psychologie Freuds als Analyse und Therapie seelischer Krankheiten stattfanden, können als

139

Dieses Diktum mit unbekannter Herkunft wird in einem Brief Goethes (Hamburger Ausgabe Bd. 1, 325) zitiert. von Kutschera 1993 S. 216 sagt dazu: „Ich kann auch einen Stein nicht vollständig beschreiben - individuum est ineffabile.“ Und a.a.O. S. 180 heißt es bei ihm: „Für reale Objekte gilt ... das Prinzip individuum est ineffabile: Jedes einstellige Prädikat, das seiner Bedeutung nach überhaupt auf Dinge seiner Art anwendbar ist, trifft entweder auf das Objekt zu oder es trifft nicht darauf zu.“ Vgl. Wiehl 1987

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Widerlegungsversuche dieser skeptischen Einwände gegen das Verstehen als Wissensform gedeutet werden.140 Die Nachhutgefechte dieser Auseinandersetzung vollziehen sich noch heute in der Wissenschaftstheorie.141 Der Begriff des Verstehens142 ist philosophiegeschichtlich ein relativ junger Begriff. (Die Geschichte des deutschen Wortes „verstehen“ geht auf das althochdeutsche „firstân“ und auf das mittelhochdeutsche Wort „verstên“ zurück, mit dem juristischen Sinn von „für etwas eintreten“, es (geistig) beherrschen“.) Der Begriff jedoch spielt keine zentrale, theoretisch entscheidende Rolle bei Kant und Hegel143, obwohl die Hermeneutik schon in der Antike beginnt144. Erst in der nachidealistischen Philosophie wird Verstehen zum großen Thema. So heißt es in Diltheys Aufsatz „Die Entstehung der Hermeneutik“ von 1900 (a.a.O. V. Bd. S. 318): „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen.“ Und statt „ein Inneres“ schreibt er einige Zeilen weiter: „ein Psychisches“. Dieser psychologischen Deutung des Verstehensbegriffs steht eine ebenfalls auf Dilthey, aber auch auf Schütz, zurückgehende, semantische Deutung gegenüber, wonach das Verstehen in einem Erfassen von Sinn oder Bedeutung besteht (Vgl. weiter unten Punkt 7 in diesem Kapitel). Daher bleibt jemandem, der diesen Begriff für einen bestimmten Zweck verwenden möchte, nichts anderes übrig, als sich einerseits an diese Traditionen kritisch anzuschließen und sich andererseits der verschiedenen alltagssprachlichen Bedeutungen dieses Beriffs rekonstruktiv zu versichern.145 Die Tatsache, daß heute in der deutschen Umgangssprache keine klare Grenzziehung zwischen Erklären und Verstehen gemacht wird, weil die 140 141 142 143 144 145

Vgl. Cavell 1997 Vgl. dazu von Wright 1974 Vgl. dazu Apel 1955, 1979, Gadamer 21965, sowie Riedel 1978 und Schnädelbach 1983 S. 138 ff. Bei Kant kommt er laut Register der Werkausgabe gar nicht vor und bei Hegel nur dreimal. Vgl. Jung 2001 Man muß nicht gleich so weit gehen wie z. B. Tugendhat 1979 S. 45, für den „heute die Aufgabe der theoretischen Philosophie“ darin besteht, „die impliziten Voraussetzungen unseres Verstehens aufzuklären“.

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Wörter „erklären“ und „verstehen“ als mehr oder weniger austauschbar verwendet werden, übergehe ich hier. Man sollte allerdings nicht übersehen, daß sich eine Was-Frage (nach der Bedeutung von etwas) von einer Warum-Frage (nach der Ursache eines Ereignisses) unterscheidet und daß sich analog ein Verstehen von einem Erklären unterscheidet. Ich behandele ebensowenig das Problem, daß die übliche wissenschaftstheoretische Gegenüberstellung bzw. Opposition zwischen Erklären und Verstehen eine eigene Geschichte hat und daß sich somit eine Opposition zwischen Erklären und Verstehen keineswegs von selbst versteht.146 Die folgenden allgemein-hermeneutischen Unterscheidungen sind für den Begriff des Verstehens möglich und nötig. Man sollte bei jedem Verstehen mindestens unterscheiden zwischen: 1. dem Gegenstand (Objekt), 2. dem Versuch, 3. dem Vorgang (Prozeß), 4. den Mitteln (Methoden), 5. dem Ergebnis (Resultat), 6. den Arten (Typen). Zu 1. Sehr Verschiedenartiges gilt als möglicher Gegenstand des Verstehens. Nach herkömmlicher Ansicht können sprachliche Äußerungen (Reden, Texte), nichtsprachliche Äußerungen (Gesten, Mimik), Handlungen, Motive, Kunstwerke, Theorien, Personen, Epochen, Völker, Länder usw. zum Gegenstand des Verstehens gemacht werden.147 Und nach einer ehrwürdigen Ansicht sind auch Träume Gegenstand des Verstehens.148

146 147

148

Vgl. dazu Krings 1982 Bei Robert Walser („Die kleine Schneelandschaft“ in: „Kleine Dichtungen“, Frankfurt am Main 1985, S. 90) heißt es: „Jedes Kind, sollte ich meinen, kann die Schönheit einer Schneelandschaft im Herzen verstehen.“ Im 1. Buch Moses 40,8 wird von einem Dialog zwischen Joseph und zwei Bediensteten des Pharaos erzählt: „Warum seid ihr heute so traurig? Sie antworteten: Es hat uns geträumt, und wir haben niemand, der es uns auslege. Joseph sprach: Auslegen gehört Gott zu; doch erzählt mir's.“

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Wenn nun aber gesagt wird: „Die zahlreichen Verwendungsweisen des Ausdrucks `Verstehen´ lassen sich im wesentlichen drei paradigmatischen Fällen zuordnen: Verstehen einer Sprache, Verstehen von Phänomenen und Verstehen von Gesten, Äußerungen, Texten usf.“149 so fällt sofort auf, daß die Klasse der Personen hier nicht explizit zu den möglichen Gegenständen des Verstehens gerechnet wird, obwohl es zu den „zahlreichen Verwendungsweisen des Ausdrucks `Verstehen'“ gehört, auch auf Personen bezogen zu werden. Und darüber hinaus ist es ja so, daß die genannten verstehbaren Entitäten, abgesehen von den nicht als sprachlich gedeuteten, sondern als naturhaft gedeuteten „Phänomenen“ 150, alle auf je verschiedene Weise offensichtlich in Relation zu Personen stehen. Denn es sind Personen, die sprechen, Gesten machen, sich äußern und Texte produzieren. Daher kann man sich darüber wundern, daß Personen von der Klasse der verstehbaren Entitäten ausgeschlossen werden - obwohl hermeneutisch gesehen Personen die Produzenten dieser verstehbaren Gegenstände sind. Metaphysisch wird man kaum begründen können, daß nur sprachliche Äußerungen (seien es Reden, einzelne Sprechakte oder auch Texte) sowie Handlungen verstehbar sind, aber keine Personen, die doch die Produzenten dieser semantischen sowie pragmatischen Produkte sind. Verstehenstheoretisch scheint es angemessener zu sein, die Produzenten dieser Produkte als potentielle Interpreten ihrer Produkte in das Verstehen einzubinden und es nicht apriori auszuschließen, daß Personen über ihre semantischen und pragmatischen Produkte hinaus, wenngleich vermittelt durch sie, selber verstehbar sind. In diesem Sinn schrieb der Soziologe A. Schütz:

149 150

Schnädelbach 1983 S. 139 - (kursiv von H.S.) Das sogenannte Buch der Natur zu entziffern war nach Bacon die neue Methode der Naturerkenntnis. Schon Dilthey konstatierte lakonisch (a.a.O. V. Bd. S. 318): „Verstehen der Natur - interpretatio naturae - ist ein bildlicher Ausdruck.“ Und Gadamer 21965 S. 166 spricht im Anschluß an Dilthey von der Weltgeschichte als „das große dunkle Buch,...dessen Text verstanden werden soll.“ Vgl. auch Blumenberg 1981 und Lenk 1993.

55 „Das Wort `Verstehen' wird allgemein sowohl für die Deutung des subjektiven Sinnzusammenhangs als auch für die Deutung des objektiven Sinnzusammenhangs verwendet. Eben dadurch wird aber das für die Erkenntnis der Sozialwelt wesentliche Problem verdeckt, das erst bei Auflösung dieser Äquivokation überhaupt sichtbar wird: daß nämlich Sinn fremder Erlebnisse und Fremdverstehen eine radikal andere Bedeutung hat, als Sinn eigener Erlebnisse und Selbstverstehen; daß der Sinn, der einem Erzeugnis prädiziert wird - im Gegensatz etwa zu einem Naturding - nichts anderes bedeutet, als daß das Erzeugnis nicht nur in einem Sinnzusammenhang stehe für mich, den Deutenden (oder, da ja nicht ich allein deute und das Erzeugnis als Ding der Welt, nicht nur meiner Privatwelt, sondern der Einen uns allen gemeinsamen intersubjektiven Welt angehört: daß es nicht nur in einem Sinnzusammenhang stehe für uns die Deutenden), sondern daß es auch Zeugnis sei für die Sinnzusammenhänge, in denen es für dich, den Erzeugenden steht. In dieser Wortbedeutung weist also die `sinnhafte Welt´ (im Gegensatz zur Naturwelt) auf das alter ego zurück, welche dieses Sinnhafte setzte.“151

Was aber gehört alles zur „sinnhaften Welt (im Gegensatz zur Naturwelt)“? Gibt es Dinge, die jenseits der Grenzen der sinnhaften Welt liegen, obwohl sie nicht der Naturwelt angehören? Wie steht es mit Kollektivhandlungen wie etwa Kriegen hinsichtlich ihrer Verstehbarkeit? Und wie steht es mit dem Zivilisationsbruch, der mit dem Namen „Auschwitz“ stellvertretend bezeichnet wird? Dolf Sternberger schrieb dazu in der „ZEIT“ 1988: „Verstehen läßt sich das Verständige - und wäre es etwa die technische Verbesserung der Kapazität der Gaskammern...Wer aber den Zweck..verstehen wollte,...müßte darüber den Verstand verlieren.“ Obwohl oft gesagt worden ist, Auschwitz könne man nicht verstehen, sondern höchstens erklären, so glaube ich trotzdem, daß es nur Gegenstand eines Verstehens, aber nicht eines Erklärens sein kann, da es kein Ding der Naturwelt war. Zu 2. Man kann versuchen, etwas zu verstehen oder zu erkennen - und dabei auch scheitern. Deswegen kann gesagt werden: das Ergebnis eines erfolgreichen oder gelingenden Verstehensversuchs ist das Verstehen. Nun könnte man dem Sprachgebrauch entsprechend sagen, das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Verstehensversuchs sei ein Mißverstehen. Diese (schon Schleiermacher bekannte) Redeweise erscheint jedoch problematisch, weil das Mißverstehen erstens nur bei einer kognitiven Interpretation des 151

a.a.O. S. 310 f

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Verstehensbegriffs vorkommen kann und zweitens nur dann anwendbar ist, wenn Kriterien vorliegen, wann ein Versuch gescheitert ist. Wenn jemand die Additionsregel „plus 2“ nicht beherrscht, mißversteht er sie - obwohl einige Menschen eher sagen würden: „er hat sie nicht kapiert“. Aber wenn jemand ein Gedicht anders interpretiert als andere Interpreten - mißversteht er dann das Gedicht?152 Das würde man nur in Ausnahmefällen sagen wollen, weil es keine allgemein akzeptierten Kriterien für die Interpretation von Gedichten gibt. Und wenn es um das Verstehen von Personen geht, ist es offensichtlich fragwürdig, ob man und inwiefern man von einem Mißverstehen sinnvoll sprechen kann. Denn bei dem Personenverstehen bewegen wir uns auf einem ziemlich kriterien- oder maßstablosen Gebiet. Das Problem der Kriterienlosigkeit und damit die Unanwendbarkeit des Mißverstehensbegriffs gilt erst recht für die nichtkognitiven Modelle des Personenverstehens. Vielleicht meinte Wittgenstein in diesem Sinne auch, daß die Regeln für das Erlernen der „Menschenkenntnis“ „unähnlich den Rechenregeln“ seien.153 Aber er könnte es auch für das kognitive Modell gemeint haben. Vgl. Kapitel 5.1. Zu 3. Dilthey schrieb (a.a.O. V. Bd. S. 318): „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen. Das ist der Sprachgebrauch.“ Ich vermute, daß Dilthey es bei dieser Bemerkung nicht wesentlich um eine Beschreibung des Verstehensprozesses ging, sondern eher um eine Beschreibung des Ergebnisses. Wie dieser Vorgang abläuft, dürfte von Verstehensfall zu Verstehensfall variieren. Zu 4. Zum Verstehen als Wissensform gehört ebenso wie zum Erkennen oft, obwohl nicht immer, die Benutzung bestimmter Mittel oder Verfahren. Dilthey spricht von den „Methoden des Verstehens“ (a.a.O.). Um eine nichtsprachliche Handlung (oder z. B. auch eine Stimmung) zu verstehen, muß die handelnde (bzw. sich verhaltende) Person auf irgendeine Weise beobachtet oder wahrgenommen werden. Das trifft auch dann zu, wenn es 152

153

Gadamer 1973, S. 119: „Was ein jeder Leser an dem Gedicht wahrzunehmen vermag, hat er aus seiner eigenen Erfahrung aufzufüllen. Das erst heißt: ein Gedicht verstehen.“ Daraus folgt, daß jeder Leser es anders verstehen muß und keiner es falsch verstehen kann. Wittgenstein 1984, Bd. 1, S. 575

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sich um eine mündliche sprachliche Handlung handelt. Zum Verstehen gehören im allgemeinen das Hypothesenbilden und Schlußfolgern, was auch, wie sich noch in Kapitel 5.1.3 zeigen wird, für das Personenverstehen gilt. In diesem trivialen Sinn kann das Verstehen die Verwendung bestimmter Methoden erfordern. Oft jedoch wurde das Verstehen selber als eine Methode bezeichnet und anderen angeblichen oder wirklichen Methoden wie z. B. dem Erklären gegenübergestellt. Dieser Strategie folge ich hier nicht.154 Diejenigen, die Verstehen für eine Methode halten, haben diese Methode oft folgendermaßen charakterisiert: Verstehen beruhe, falls möglich, auf Anschauung und Erleben und bestehe in einer Einfühlung bzw. in einem Sichhineinversetzen.155 Verstehen sei intuitiv, nicht diskursiv. (vgl. Kapitel 7) Die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung darüber, ob das Verstehen für die Geisteswissenschaften als Methode reserviert ist und in den Naturwissenschaften keine Anwendung findet, kann und muß hier nicht eigens diskutiert werden. Popper z. B. hat behauptet, daß in Einsteins kosmologischen Spekulationen der Begriff des Verstehens, wenn auch nicht das Wort, in einem mindestens vierfachen Sinn vorkommt, der seiner eigenen Verwendung in den Geisteswissenschaften ähnelt.156 (1) Im selben Maße wie Personen einander aufgrund ihrer gemeinsamen Menschlichkeit verstehen, könnten Personen auch die Natur verstehen, weil sie ein Teil der Natur sind. (2) In dem Maß, indem Personen einander aufgrund des rationalen Teils ihrer Handlungen und Gedanken verstehen, könnten sie auch die Naturgesetze verstehen, insofern diese ebenfalls einen rationalen Teil bzw. eine verstehbare Notwendigkeit enthalten. (3) Indem man die Natur verstehen will, betrachtet man sie als Schöpfung, d. h. als ein Kunstwerk. Das werde durch Einsteins Bemerkung ausgedrückt, daß Gott nicht würfele. (4) Schließlich gebe es eine Ähnlichkeit zwischen einem naturwissen154

155

156

Gadamer 21965 S. 275 beklagte, daß die hermeneutische Tradition „viel zu sehr von der Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist“, daß jedoch das Verstehen eigentlich ein „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ sei. Dieser paramilitärischen Historisierung des Verstehens folge ich nicht. Aus Kants „Kritik der Urteilskraft“ § 40 ist eine positive Bezugnahme auf jene Operation bekannt, die bei Kant „in den Standpunkt anderer versetzen“ bzw. „an der Stelle jedes anderen denken“ heißt. Vgl. Popper 1972 S. 184

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schaftlichen Erkenntnisskeptizismus und dem geisteswissenschaftlichen Bewußtsein der Fremdheit anderer Menschen, der Unmöglichkeit des Selbstverstehens und jener unvermeidlichen Vereinfachung, die mit jedem Versuch gegeben ist, das zu verstehen, was einzigartig ist, ganz gleich, ob es kosmisch oder mikrokosmisch ist. Popper zieht aus seinen vier Punkten den Schluß, daß das Verstehen keine aussschließlich den Geisteswissenschaften zukommende Methode ist.157 Diese spekulativen Überlegungen Poppers scheinen für das Thema des Personenverstehens bis auf Poppers Punkt 4 (Vgl. jedoch Kapitel 1 und 10) nicht einschlägig zu sein. Zu 5. Alle Verstehensversuche haben irgendein Ergebnis bzw. Resultat. Sogar zwischen Versuchen und Prozessen des Verstehens könnte man unterscheiden, da Prozesse in der Regel Dauer und Struktur haben, während ein Versuch kurz oder halbherzig sein kann. Bekannt ist, daß Versuche, Personen zu verstehen, mitunter recht schwierige Prozesse sind. Umgangssprachlich wird mit dem Wort „Verstandenhaben“ oft das positive Ergebnis eines Verstehensversuchs bezeichnet. Bei dem Personenverstehen kann plausiblerweise nicht der Anspruch erhoben werden, jemanden so verstanden zu haben wie man z. B. einen Beweis verstanden haben kann. Denn einen Beweis kann man im Idealfall des Verstandenhabens Schritt für Schritt rekonstruieren, das Verstandenhaben einer Person, falls man diese Ausdrucksweise überhaupt für sinnvoll hält, jedoch nicht. Auch wenig Sinn würde es selbstverständlich machen, Personen als vorfindbare Gegenstände von Verstehensprozessen aufzufassen.158 Der gegenteiligen Ansicht liegt (zu Recht?) eine Art hermeneutischer Idealismus zugrunde.159 Zu 6. In einer allgemeinen Hinsicht lassen sich verschiedene Arten des Verstehens unterscheiden: von Kutschera z. B. differenziert zwischen Bedeutungsverstehen, determinativem, kausalem, rationalem, intentionalem, funktionalem und genetischem Verstehen.160 Die meisten Verstehens157 158 159

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a.a.O. S. 185 Den Unterschied zwischen Resultat und Gegenstand macht Gadamer für alle „Gegenstände“ des Verstehens geltend. Vgl. Gadamer a.a.O. S. XVII Root 1986 S. 294 verwendet die Unterscheidung zwischen Produkt und Gegenstand für „other minds“ in genau demselben Sinn und attestiert Davidson einen abgeschwächten Realismus. Vgl. von Kutschera 1981 S. 79 ff.

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arten wirken in vielen Verstehensleistungen zusammen, und daher liegt es nahe, daß dieses Zusammenwirken erst recht für das komplexe Personenverstehen gilt. Dem Personenverstehen kommt das intentionale Verstehen wohl am nächsten. Aber auch das genetische Verstehen spielt beim Personenverstehen eine wichtige Rolle. Denn zu erkennen, wie und warum jemand zu der Person wurde, die sie ist, trägt zum Verstehen der Person sehr viel bei (Vgl. Kapitel 5.1.1.). Man kann dasselbe auf verschiedene Weise verstehen, wie z. B. Handlungen aufgrund verschiedener Motive und/oder Intentionen. Es ist evident, daß das erst recht für Personen zutrifft. Über diese allgemein-hermeneutischen Unterscheidungen des Verstehensbegriffs hinaus sind drei spezielle hermeneutische Probleme des Verstehensbegriffs zu erörtern. Diese Probleme bzw. die Lösungen dieser Probleme sind strittiger als die ersten sechs relativ problemlosen Unterscheidungen, die sich aus der Anwendung des Begriffs ergeben oder zu den Voraussetzungen der Anwendung gehören. Nun geht es um den Inhalt des Begriffs des Verstehens, um seine Bedeutung(en), die zu explizieren sind. Inwieweit diese Explikationen für das Personenverstehen adäquat sind, wird sich später (Kap. 5.1.2) zeigen. 7. Wenn Verstehen kognitiv, also als ein Wissen gedeutet wird, was wird dann gewußt? 8. Ist das Verstehen nur klassifikatorisch oder komparativ, d. h. gibt es Grade des Verstehens, also ein Mehr-oder-weniger-Verstehen?, 9. Wie sieht die Negation des Verstehens aus, wie sind also für den Fall, daß Verstehen kognitiv zu deuten ist, die Analoga zu Nichtwissen und Irrtum zu betrachten? zu 7. Wenn man den Begriff des Verstehens wie folgt definierte: „x verstehen“ := „wissen, welchen Sinn x hat oder was x bedeutet“,

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so daß Verstehen Sinnkenntnis oder Bedeutungswissen wäre161, dann hätte man zwar mit dieser Definition den Verstehensbegriff zugleich kognitiv interpretiert, nämlich als ein Wissen, daß x den Sinn S hat oder die Bedeutung B hat. Diese Definitionen paßten zwar für die herkömmlichen semantischen und pragmatischen Produkte wie Sätze und Handlungen, aber durch sie wäre definitorisch ausgeschlossen, daß Personen ein Gegenstand des Verstehens sein könnten, da Personen weder Sinn noch (sprachliche) Bedeutung haben, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie ein Text oder eine Handlung einen Sinn oder eine Bedeutung haben können. Wenn also Personen verstanden werden sollen, muß etwas anderes gewußt werden als ein Sinn oder eine Bedeutung - Vgl. Kap. 5. Eine kognitive Deutung des Verstehensbegriffs scheint aber gewisse Probleme nach sich zu ziehen. Das erste Problem betrifft die Analogie zwischen der Differenz von Wissen und Glauben (Zu-wissen-Glauben) und der Differenz von Verstehen und Zu-verstehen-Glauben. Jeder Glaube (jedes Zu-wissen-Glauben) hat die Struktur, etwas (ein x) als etwas (als ein f) zu bestimmen. Wenn nun dieselbe etwas-als-etwas-Struktur auch beim Verstehen vorliegen soll162, dann muß folgen: es gibt einen Unterschied zwischen Zu-verstehen-Glauben und Verstehen163, der dem Unterschied zwischen Zu-wissen-Glauben und Wissen analog ist.

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Schütz 1932, 1974 S. 149 definierte unter Bezugnahme auf das Fremdverstehen den „weitesten Begriff des Verstehens“ folgendermaßen: „... Verstehen korrelativ zu Sinn überhaupt“, „denn alles Verstehen ist auf ein Sinnhaftes gerichtet und nur ein Verstandenes ist sinnvoll.“ (Kursiv von Schütz). Gerichtetsein ist aber nicht dasselbe wie Gewußtsein. Frank 1991, S. 185 f sagt unter Bezugnahme auf Heidegger: „Die Grundstruktur des Verstehens ist das `etwas als etwas´, und das ist auch die Struktur des Aussagesatzes; der eigentliche Sinn von `Sein´ - seine Kernbedeutung ist dann die von Wahrsein.“ (Kursiv von M.F.) Statt „Wahrsein“ müßte es jedoch „Sosein“ heißen. Diese Unterscheidung zu beachten ist 1. wichtig (was vermutlich jeder Mensch anerkennt), 2. schwierig (was nicht jeder Mensch erkennt, wenn es als Fall des Prinzips der Zweiwertigkeit gedeutet werden muß, also so: „entweder x versteht oder x glaubt nur zu verstehen, ein Drittes gibt es nicht“). So gibt in Francois Rabelais' Roman „Gargantua und Pantagruel“ 1.Bd., 3.Buch, 35.Kap. der Philosoph Kreiselfritz, Gargantuas Freund Panurg auf dessen Frage, ob er heiraten solle oder nicht, zuerst die Antwort „Alles beides!“ und auf Nachfrage die AntFortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Das zweite Problem: Wenn man eine Geltungsdifferenz zwischen Zuverstehen-Glauben und Verstehen annimmt, sollte man dann nicht auch eine analoge Differenz zu den Wahrheitswerten „wahr“ und „falsch“, annehmen? Anders gesagt: man sollte auch bei dem Zu-verstehen-Glauben die Geltungsdifferenz zwischen dem, was so ist und dem, was so zu sein scheint, machen. Aus hermeneutischer Sicht scheint der Vorschlag akzeptabel, im Hinblick auf das Verstehen zwischen richtig und nicht richtig (verkehrt) zu unterscheiden.164 Wenn Verstehen als eine Form von Wissen gedeutet wird, dann muß folgen: so wie ein Wissen das Wahrsein des Zu-wissen-Geglaubten impliziert, so impliziert auch ein Verstehen das Richtigsein des Zu-verstehenGeglaubten. Danach ist ein „falsches Verstehen“ so wie ein „falsches Wissen“ ein begrifflicher Widerspruch, und ein „richtiges Verstehen“ eine Tautologie. Es wäre ein dürres Fazit zu sagen: Für manche Philosophen ist Verstehen ein Wissen, für manche nicht, und für wieder andere ist Verstehen eine Voraussetzung alles Wissens.165 Zu 8. Wenn aber Verstehen kognitiv als ein Wissen gedeutet wird, dann kann es scheinbar keine Grade haben und sein Begriff muß klassifikatorisch sein. Denn man kann nicht mehr oder weniger wissen, daß etwas der Fall ist, sondern nur entweder wissen oder nicht wissen. Nach der kognitiven Deutung des Verstehensbegriffs müßte Verstehen generell eine Sache der Zweiwertigkeit sein, so daß es in Analogie zur klassischen zweiwertigen Logik des Wahren und des Falschen nur die Alternative zwischen

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wort „Keins von beiden!“. Panurg klagt, daß er die widersprechenden Antworten nicht verstehe, aber Gargantua sagt: „Ich glaube sie zu verstehen.“ Nicht nur zur Überraschung von Meggle sagte von Wright 1989 S. 13: „Ich möchte nicht sagen...daß Verstehen eine Art von Wissen ist. Verstehen impliziert nicht Richtigkeit“. Wenn nach v.Wright nicht jedes Verstehen unbedingt ein Wissen ist und wenn das auch für das Personenverstehen zutrifft, dann ist nicht verwunderlich, daß er nicht einmal das Handlungsverstehen unbedingt für ein Wissen hält. Tugendhat z. B. hält (1979 S. 226) das Verstehen von Absichten für eine „Weise des Wissens“, denn „ich verstehe eine Handlung, eine Person, ein Ding, wenn ich weiß, welche Absicht die Handlung hat, welchem Zweck das Ding dient.“

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„verstehen“ und „nicht verstehen“ geben kann.166 Dieser Alternative widerspricht aber die weit verbreitete Auffassung, daß Verstehen generell eine Sache des Mehr-oder-Weniger und nicht des Entweder-Oder ist. Verstehen wird nämlich häufig als eine Sache von Graden angesehen.167 Denn man sagt ja z. B., daß jemand etwas besser versteht als ein anderer oder daß jemand heute etwas besser versteht als vor einem Jahr. Und diese Auffassung wäre im übrigen auch für das Personenverstehen nur allzu plausibel. Die Irritation rührt daher, daß hier zum einen das kognitive von den nichtkognitiven Verstehensmodellen nicht klar auseinandergehalten wird und zum andern daher, daß der kognitive Verstehensbegriff eben doch Grade zuläßt, da er nicht mit dem Begriff des Wissens bedeutungsidentisch ist, sondern mit dem Begriff des Bedeutungswissens bzw. der Sinnkenntnis. Besserverstehen kann daher heißen: mehr über die Bedeutung zu wissen als ein Anderer oder als vor einem Jahr. Für das kognitive Fremdverstehen wird in Kap. 5.1.1 noch eine Variation des gerade angeführten Arguments und damit für die Möglichkeit des Besserverstehens gezeigt werden. Und was das nichtkognitive Personenverstehensmodell angeht, so ergeben sich mit dem Anspruch des Besserverstehens gar keine Probleme. Zu 9. Wie wäre nun ein „nicht verstehen“ zu begreifen? Die Frage beruht auf dem Problem, den Begriff des Mißverstehens angemessen für das kognitiv gedeutete Verstehen charakterisieren zu können. Es scheint doch zum Irrtum ein Analogon beim kognitiven Verstehen geben zu müssen. Das naheliegende Analogon wäre das Mißverstehen: jemand glaubt etwas (als etwas) zu verstehen, aber sein Glaube ist nicht richtig.168 Deshalb kann

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Daß etwas Grade aufweist bzw. sein Begriff komparativ ist, stellt für sich noch kein Argument gegen die Anwendung dieses Begriffs im Sinne der Zweiwertigkeit dar, falls der Begriff, wie z. B. der Begriff der Länge, auch metrisierbar ist. Dann kann gesagt werden: „X ist entweder 172 cm lang oder nicht“. Ohne die Metrisierbarkeit des Längenbegriffs könnte nur von zwei Objekten gesagt werden, daß sie entweder gleichlang sind oder daß das eine länger ist als das andere, aber nicht, daß ein Objekt entweder lang oder nicht lang ist. Dilthey sagt am a.a.O. V. Bd. S. 319 ganz apodiktisch: „Das Verstehen zeigt verschiedene Grade.“ Vgl. v.Wright 1994 S. 155 ff

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auch von einem „Falschverstehen“ gesprochen werden, wenn dabei beachtet wird, daß man sich auf Verstehensversuche bezieht, die erfolglos waren. Einem Mißverstehen muß also ein Verstehensversuch vorhergegangen sein. Darüber hinaus scheint es auch ein Analogon zum einfachen Nichtwissen geben zu müssen, eben das Nichtverstehen. Wenn das Nichtwissen sich vom Irrtum nur dadurch unterscheidet, daß eine Peson erst gar nicht versucht hat, zu wissen, ob p, dann muß das Nichtverstehen dem Nichtwissen analog sein.169 Es kann also unterschieden werden: Position - Verstehen (=df richtig verstehen) Negation - Mißverstehen (=df falsch verstehen) Privation - Nichtverstehen (=df weder richtig noch falsch verstehen)170 Der Begriff des Nichtverstehens verhält sich zu dem Begriff des Mißverstehens wie der Begriff des Nichtwissens zu dem Begriff des Irrtums. Wenn Verstehen eine Form von Wissen darstellt, dann ist Nichtverstehen eine Teilklasse des Nichtwissens und Mißverstehen eine Teilklasse des Irrtums. Und „falsch“ verstehen kann man nur vor dem Hintergrund eines „richtigen“ Verstehens. (Siehe Kap. 5.1.2 - 1. u. 2. Situation).

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Vgl. Goethe über Spinoza: „Denn daß niemand den andern versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe, was der andere denkt, daß ein Gespräch, daß eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon vollkommen eingesehen, und man wird dem Verfasser von `Werther´ und `Faust´ wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der als Schüler von Descartes durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben..“ (Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 16. Buch). Vgl. dazu Wittgenstein (PU 269) bzw. von Savigny 1994 S. 324 zu PU 269 über Nichtverstehen, Falschverstehen und Richtigverstehen.

4.

Verstehen von Handlungen und Texten

Es gibt heute einen ziemlich allgemeinen Konsens über die metaphysische Prämisse, wonach ein natürliches Ereignis oder ein physischer bzw. materieller Zustand nicht Gegenstand des Verstehens sein kann.171 Trivialerweise sind unsere sprachlichen Äußerungen, physikalisch betrachtet nichts als Schallwellen, Tintenstriche usw.; unter der physikalischen Perspektive allein betrachtet, geben sie daher ihre Bedeutung gerade nicht zu erkennen und bleiben so in dem Sinne unverständlich als sie jenseits der Grenze des Sinns oder der Bedeutung verharren. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, für irgendwie Physisches, insbesondere wenn es als materialisiertes Zeichen (z. B. in Stein) existiert, aber auch z. B. für Bewegungen eines menschlichen Körpers, die ohne Intentionalität keine Handlung darstellen. Man könnte nun sagen, daß die Anwendung dieser hermeneutischen Prämisse die erste Stufe im Verstehensprozeß darstellt.172 Die Annahme, man könne sie in einem bestimmten Fall anwenden, ist dasselbe wie die Voraussetzung, daß ein einzelner physischer Gegenstand bzw. Zustand als sinnhaft bzw. bedeutungsvoll angesehen werden kann. Damit eine Körperbewegung als Handlung gedeutet werden kann, muß vorausgesetzt werden, daß ein sinnhaftes bzw. bedeutungsvolles Element mit ihr verbunden (gewesen) ist, wie z. B. eine Absicht oder ein Grund. Auf dieser Stufe wird also die Frage beantwortet, ob etwas eine Handlung ist oder nur eine Körperbewegung, d. h. es geht darum, festzustellen, daß etwas (ein x) eine Handlung (ein f) ist. Diese Stufe könnte als Stufe der Handlungs- bzw. Textidentifizierung bezeichnet werden. 171

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Diese These wurde vielleicht von Gadamer 21965 S. 450 am prägnantesten in dem Satz ausgedrückt: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ Die Wahrheit dieser metaphysischen Prämisse ist hier nicht Thema - cf. Krings 1982. Popper 1972 S. 183 schreibt: „It must be admitted that...we can understand men and their actions and products while we cannot understand `nature´ - solar systems, molecules, or elementary particles. Yet there is no sharp division here. We can learn to understand the expressive movements of higher animals...On the other end of the scale our intuitive understanding even of our friends is far from perfect.“ Zu den Details und den Problemen vergleiche man Meggle/von Wright 1989, a.a.O.

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Auf der zweiten Stufe, auf der manche Handlungstheoretiker das Verstehen eigentlich erst beginnen lassen wollen, wird die Frage zu beantworten versucht, was für eine Handlung es (gewesen) ist, d. h. was jemand tut bzw. getan hat. Hier geht es darum, ein bestimmtes Verhalten einer Person so zu beschreiben, daß es eine bestimmte Handlung ist bzw. daß es ihr als diese Handlung zuschreibbar ist - und zwar möglichst auf die Weise, die dem subjektiven Sinn oder dem Selbstverständnis der/des Handelnden entspricht, also das zum Ausdruck bringt, was die/der Handelnde gemäß seinem/ihrem Selbstverständnis tun will bzw. wollte. Unter einer bestimmten Beschreibung des Handelns kann auf dieser Stufe eine bestimmte Intentionalität der/des Handelnden sprachlich zum Ausdruck gebracht werden.173 Es versteht sich von selbst, daß eine Handlungsbeschreibung vom Handelnden nicht akzeptiert zu werden braucht, wenn sie seiner bestimmten Intentionalität (dem, was er tun wollte) nicht entspricht.174 Das gilt für alle sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen. Wenn sich der Mund von P1 bewegt, besser gesagt: wenn P1 seinen Mund bewegt, dann können die Beschreibungen, daß P1 ißt, pfeift, spricht usw. von P1 trivialerweise aus irgendwelchen Gründen zurückgewiesen werden. Diese Stufe könnte als Stufe der Handlungsbeschreibungen charakterisiert werden. Auf der dritten Stufe des Verstehens des SprachHandelns kann es zum einen darum gehen, zu wissen, warum jemand soundso handelt oder gehandelt hat und zum andern darum, zu wissen, woraufhin, d. h. mit welchem Ziel. D.h. es könnte hier darum gehen, den (Beweg-)Grund oder die Ziele des Handelnden ausfindig zu machen. Es kann, es muß nicht, denn oft halten wir eine Handlung für verstehbar, wenn entweder ein Grund oder ein Ziel geliefert wird.175 Wenn P1 z. B. pfeift, statt laut zu rufen, dann kann es sein, daß P1 das Pfeifen für die beste Verständigungsmethode in der konkreten Situation hält und daß P1 das Ziel hat, mit 173 174 175

Vgl. Meggle 1977 Vgl. Anscomb e 1957, dt. 1968 von Wright sagt a.a.O. S. 15: „Ein Grund einer Handlung ist nicht immer eine Zielsetzung in Verbindung mit einer Meinung über die Mittel - und die Handlung nicht immer ein Mittel zum Ziel. Ein Grund kann - und ist es im gewöhnlichen Leben sehr oft - auch das sein, was ich einen äußeren Anlaß zum Handeln bzw. eine Aufforderung zum Handeln nennen möchte.“ (kursiv von v. Wright)

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diesem Pfeifen P2 auf sich aufmerksam zu machen. Diese Stufe könnte man auch die Stufe der Handlungserklärungen nennen.176 Auf diesem Gebiet der Handlungserklärungen existieren sehr verschiedene Modelle.177 Rationale Erklärungen sind nach dem Standardmodell auf die Überzeugungen und Präferenzen des Handelnden (die man auch die „Gründe“ nennen kann) beschränkt.178 Diese sogenannte subjektive Rationalität muß nicht mit einer intersubjektiven Rationalität identisch sein, sondern kann gemessen daran vollkommen irrational sein. Man kann auch von den Zielen des Handelnden ausgehen, also davon, was jemand zu erreichen beabsichtigt, und diese Intentionen als einen Gegenstand intentionaler Erklärungen ansehen. Diese bilden eine Teilklasse rationaler Erklärungen.179 Darüber hinaus könnte auch ein vollständiges von einem unvollständigen Verstehen unterschieden werden. Danach würde etwa gelten: eine Handlung vollständig verstehen heißt, die Gründe (rationes) und die Absichten (intentiones) des Handelnden kennen. Wenn man nun diesen (Sinn)Komplex mit der Gesamtabsicht des Handelnden identifizierte, könnte man sagen, man verstünde eine Handlung dann und nur dann vollständig, wenn man diese Gesamtabsicht kennt. Das Verstehen des rein sprachlichen Handelns versuchen ebenfalls zahlreiche sprachphilosophische und hermeneutische Theorien zu erklären. Deshalb sei nur soviel gesagt: bei Sprechakten können mindestens die wörtliche Bedeutung, der propositionale Gehalt, die illokutionäre Rolle und der pragmatisch implizierte Sinn verstanden werden.180 Im allgemei176 177 178

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Vgl. Beckermann 1977 Vgl. Bogdan 1986 Ein Grund G kann als Produkt aus einer Überzeugung, daß p und einer Präferenz, daß q (einem bestimmten Wollen bzw. einem Wunsch) angesehen werden. Strawson 1994 S. 108 f äußert sich in diesem Sinn, wenn er schreibt: „Handlung entsteht... aus der Verbindung von Überzeugung und Wunsch; sie kann, wird und soll durch solche Verbindungen ausgelöst werden.“ Und das trifft nach meiner Ansicht ganz klar auf das gesamte SprachHandeln zu. Vgl. Scholz 22001 Vgl. z. B. Künne

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nen mag es wegen der Selbstidentifikation und Selbstbezüglichkeit181 der Sprechakte einfacher sein, Sprechakte zu verstehen (und dadurch die Intention des Sprechers zu erkennen) als nichtsprachliche Handlungen, deren motivationalen bzw. intentionalen Hintergrund man erst erschließen muß. Im Unterschied zum Personenverstehen muß man beim Verstehen des SprachHandelns, also bei der Beantwortung von Fragen der Form „Was sagt bzw. tut X?“, noch nicht einmal hinter die Handlungsebene zurückgehen: man versteht die SprachHandlungen, wenn man sie korrekt beschreiben kann, wie z.B: „X hat gefragt, ob p“. Doch mit einer derartigen Auskunft muß es nicht sein Bewenden haben. Es kommt häufig vor, daß man jedes Wort oder jeden Satz versteht und trotzdem nicht versteht, warum die Person gerade diese Wörter oder jene Sätze äußert. Beim Erklären des SprachHandelns, also bei der Beantwortung von Fragen der Form „Warum sagt bzw. tut X h?“, muß mindestens ein Stück weit hinter die Handlungsebene zurückgegangen werden, nämlich hin zu den intentionalen Zuständen des Handelnden, also zu seinen Überzeugungen, Wünschen, Ängsten, Erwartungen, Absichten usw. wie z. B. in der Auskunft: „X hat gefragt, ob p, weil X wissen will, ob p und nicht will, daß p“. Wenn man nun weitere Warum-Fragen der Form stellte: „Warum will X, daß p?“, „Warum glaubt X, daß q?“ usw., dann müßte man zur Beantwortung solcher Fragen zunächst andere und schließlich grundlegendere Überzeugungen, Wünsche, Absichten usw. von X anführen, bis man endlich keinen weiteren Schritt in der Erklärung machen könnte, außer dem, gleichsam auf die so-und-so-seiende Person selber182 zu verweisen, d. h. eine Person als ein personales Individuum zu verstehen.

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Damit ist gemeint, daß sprachliche Handlungen in der Hinsicht ihre Deutung mitliefern, wenn sie im Modus der Behauptung, der Frage oder des Befehls präsentiert werden. Erst recht gilt das für explizit performative Sprechakte. Gedanken der Art, gleichsam „die Person selbst“ ins Spiel zu bringen, hatte, auf anderem Gebiet, auch Chisholm, nämlich auf dem der Willensfreiheit - Vgl. Chisholm 1978 S. 71 ff. Kritisch zu diesem kantianisch gedachten Selbst Chisholms äußert sich Tugendhat 1992 S. 342.

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Die Nichtidentität des Personenverstehens mit dem Verstehen des SprachHandelns zeigt sich auch an der prinzipiellen Möglichkeit, daß man das Verstehen des Redens und Handelns einer Person immer weiter in Richtung auf die Person hin treiben kann, auf den „Lebenszusammenhang“, wie Dilthey sagt.183 Gemäß dem „höheren Verstehen“ (Dilthey) versteht man Personen, indem man soweit wie möglich hinter ihr SprachHandeln zurückgeht - dorthin, wo gleichsam der Urheber oder der Träger dieses SprachHandelns sich befindet. Es muß dabei übrigens nicht vorausgesetzt werden, daß Personen ihr Handeln in dem Sinne steuern, daß sie es immer völlig unter Kontrolle haben, daß (um mit Freud zu reden184) ihr Ich immer Herr im eigenen Hause ist (was es ja nach Freud nicht ist), sondern zunächst nur, daß man zwischen dem Verstehen einer Person und dem Verstehen ihres SprachHandelns auf eine hermeneutisch relevante Weise unterscheiden kann.185 Kein Modell des Personenverstehens kann die semantizistische Ansicht teilen, man könne nur Sätze oder Sprechakte verstehen, selbst wenn man eine These wie die von Frank (1991 S. 186) unterschriebe: „Sätze sind die primären Bedeutungseinheiten alles Verstehens.“ In welche verstehenstheoretische Gefahr man sich mit solchen semantischen Vorurteilen begibt, erkennt man an der folgenden, offensichtlich unwahren These Franks: „Nur durch sie kann man jemandem etwas zu verstehen geben“. Von größter Wichtigkeit ist nun, daß es sowohl bei dem Verstehen des sprachlichen Handelns als auch bei dem Verstehen des nichtsprachlichen Handelns kein Punkt-für-Punkt-Verstehen gibt. Das soll heißen: es wird nicht jeweils eine einzelne SprachHandlung Punkt für Punkt oder der Reihe nach oder unabhängig voneinander verstanden. Sondern es wird eine

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184 185

Dilthey, a.a.O. VII. Bd. S. 208. Er unterscheidet dort zwischen „elementaren“ und „höheren Formen des Verstehens“. Das elementare Verstehen bezieht sich auf die „Deutung einer einzelnen Lebensäußerung“, die „in der Sinnenwelt auftretend, der Ausdruck eines Geistigen „. Dem „höheren Verstehen“ ist gemeinsam, daß es „aus gegebenen Äußerungen in einem Schluß der Induktion den Zusammenhang eines Ganzen zum Verständnis bringen.“ „Das Verfahren beruht auf dem elementaren Verstehen ...“. Vgl. Freud 1917, S. 11 sowie die Vorlesungen in: Ges. Werke Bd. XI, S. 295 Vgl. Stephan 1992

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einzelne SprachHandlung in bezug auf einen vorgegebenen Sinn- bzw. Bedeutungshorizont verstanden. Das Verstehen wird daher durch eine holistische Sinn- bzw. Bedeutungsstruktur überhaupt erst möglich. Das gilt selbst dann, wenn ich eine mir unbekannte Person ein einziges Mal in meinem Leben etwas sagen höre oder tun sehe und ich das verstehe. Ich setze an dieser Stelle einmal voraus, daß das Verstehen des sprachlichen Handelns ein Stück weit funktioniert. Es wird aber in Kapitel 5.1.3 zu klären sein, inwieweit diese Voraussetzung stimmt. An dieser Stelle möchte ich zusammenfassen, indem ich folgende, keineswegs originelle oder unkontroverse oder trennscharfe oder vollständige Bedingungsverhältnisse vorschlage, wobei das Zeichen „„für „dann und nur dann, wenn“ stehen soll: Man versteht eine(n) Aussagesatz p man p's Wahrheitsbedingungen kennt, Befehlsatz p! man p's! Erfüllungsbedingungen kennt, Handlung H man H's Gründe oder Ziele kennt, Sprechakt S man S's Akzeptabilitätsbedingungen kennt, Text T man T's Sätze versteht (die meisten jedenfalls) und deren Sinnzusammenhang. Das Mißverstehen ist komplex, aber es könnte anhand des Mißverstehens z. B. eines geäußerten Satzes p so erläutert werden: Man mißversteht einen Satz p man (a) die propositionale Struktur von p nicht versteht oder (b) die illokutinäre Rolle der Äußerung von p nicht versteht oder (c) den pragmatisch implizierten Sinn der Äußerung von p nicht versteht.

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5.

Der Begriff des Personenverstehens

Wenn der Verstehensbegriff auf Personen angewandt wird, kann das vieles bedeuten. Oft werden damit Ansprüche auf ein bestimmtes Wissen über eine Person erhoben, die sich in einer Fülle von Redeweisen offenbaren. Zum Beispiel sagen wir: „Heute verstehe ich Petra besser als früher“, „Kaum einer versteht Hans“, „Er ist mir ganz unverständlich“ usw. Dabei muß nicht notwendigerweise das Lexem „verstehen“ verwendet werden; auch andere sprachliche Ausdrücke, wie etwa metaphorische, werden häufig benutzt, z. B. „Karl ist ein undurchsichtiger Typ“, „Zwischen ihnen stimmt die Chemie“, „Sie sind nicht auf derselben Wellenlänge“ usw. Und statt „verstehen“ könnten genausogut „begreifen“, „sich ein Bild machen“, „durchschauen“ und ähnliche Ausdrücke gebraucht werden. Im übrigen sind analoge Redeweisen auch in anderen Sprachen als dem Deutschen geläufig. Kann nun aus solchen sprachlichen Phänomenen auf die prinzipielle Verstehbarkeit von Personen geschlossen werden - oder doch nur auf den generellen Glauben an diese Verstehbarkeit? Es scheint apriori weder explizite Verneinungen noch explizite Bejahungen dieser Frage zu geben. Aber jemand könnte zu bedenken geben, daß man die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit des Personenverstehens nicht durch Rückgriff auf einen Sprachgebrauch beantworten sollte, da man sich damit immer auf die Beschränktheit und Kontingenz einer sogenannten natürlichen Sprache einlasse. Dieses Bedenken scheint mir aber hinfällig, weil es gar keine Alternative zum Rückgriff auf den Sprachgebrauch gibt. Schon J.L. Austin, der zwar für eine linguistische Phänomenologie eintrat, warnte davor, die Umgangsprache(n) zum „letzten Wort“ zu erheben; aber er machte gleichzeitig darauf aufmerksam, daß sie immer das „erste Wort“ sei. Austin meinte wohl, daß die in den Umgangssprache(n) vorhandenen Unterscheidungen Unterschiede in den Sachen reflektieren. Diese Meinung trifft in Sachen Personenverstehen ziemlich sicher die Wahrheit. Denn nirgends sonst ist die seit von Humboldt bekannte Verschränkung von Sprache und Weltsicht (um mit Quine zu reden: die Theoriebeladenheit der Sprache(n)) greifbarer als hier, wo es um uns selber und nur um uns geht. So könnte man mit Wittgenstein sagen, daß der Grund dafür, daß dieser Anspruch über das Erkennen einzelner Attribute hinausgehen kann, ein „grammatischer“ ist. Ein Ausdruck der Form (PV) „P1 versteht P2“ wird in

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unserem Sprachspiel (bzw. in unserer individualistischen Lebensform, die diese Wissensart des Personenverstehens erzeugt hat und zu haben beansprucht) in der Regel nicht schon dann verwendet, wenn statt dessen auch die Satzformen „P1 versteht das, was P2 im einzelnen sagt“, „P1 versteht das, was P2 im einzelnen tut“ verwendet werden könnten. Es ist ein Zug in unserem Sprachspiel, daß eine Person P1 in der Regel erst dann den Erkenntnisanspruch erhebt, eine Person P2 zu verstehen, wenn sie mehr und anderes versteht als das, was P2 im einzelnen sagt oder tut. Und darüber hinaus wird ihr auch erst dann die Gültigkeit ihres Anspruchs zugestanden. Bei dem kognitiven Personenverstehen spielt ein semantischer Holismus die hermeneutische Grundprämisse. Es ist daher anzunehmen, daß die in der Aussageform (PV) ausgedrückte Verstehensrelation oft die Totalität eines Wissenszusammenhangs bezeichnen soll.186 Es kann jedoch auch die Totalität eines emotionalen Verbundenseins gemeint sein oder die Totalität eines Mit-einander-umgehen-Könnens. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß selbst dann, wenn (PV) in Fällen wie „P1 versteht alles, was P2 sagt und tut“ verwendet würde bzw. berechtigterweise verwendet werden könnte, man trotzdem einwenden müßte: es kann für das kognitive Personenverstehen nicht ausreichen, alle Äußerungen und Handlungen einer Person zu verstehen. Die Gründe für dieses Defizit können vielfältig sein: sie können in der Trivialität oder Banalität der Äußerungen und Handlungen der zu verstehenden Person liegen, aber auch in der Unfähigkeit der verstehenwollenden Person, eine korrekte Gesamtinterpretation einer großen Menge 186

Bei Droysen a.a.O. S. 423 heißt es schon: „Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen, und das Ganze aus dem Einzelnen. Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist wie der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der einzelnen Äußerung und die einzelne Äußerung aus dessen Totalität.“

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von Äußerungen und Handlungen zu liefern. Es gibt Personen (und es lassen sich leicht welche ausdenken), deren SprachHandeln nicht die geringsten Verstehensprobleme für andere Personen bieten, die aber trotzdem als Personen kognitiv unverstehbar bleiben. Beispiele hierfür sind Mitspieler im Sport, Gegner in der Politik, Partner in der Ehe usw. Es wäre daher nicht phänomengerecht zu sagen: „P1 versteht P2 genau dann, wenn P1 das gesamte SprachHandeln von P2 versteht“. Personenverstehen stellt kein summatives Verstehen des SprachHandelns einer Person dar.187 Es wäre darüber hinaus kontraintuitiv zu behaupten, daß „P1 versteht P2“ wahr sein könnte, daß aber dennoch P1 keine einzige Äußerung oder Handlung von P2 versteht. Eine solche Behauptung liefe auf ein nichtdiskursives, intuitives Verstehen von Personen hinaus, das aus vielerlei Gründen abgelehnt werden muß. Die Ablehnung dieser Behauptung und die Behauptung des Gegenteils, daß nämlich ein Personenverstehen nur auf indirekte, vermittelte Weise erfolgen kann, motivierte wohl auch Essler: „Das Verstehen einer Person...kann als das Verstehen von Ereignissen gedeutet werden: man versteht (bzw. mißversteht) stets den Menschen x mit seinen Einstellungen und mit seinen Handlungen und nie den Menschen x schlechthin, man versteht (oder mißversteht) also die Einstellungen oder die Handlungen von x und nicht x ohne diese Attribute.“188

Das soll offensichtlich bedeuten, daß zwar ein Personenverstehen möglich ist, aber man Personen nicht unmittelbar („schlechthin“) verstehen kann. Dazu ist zu sagen: zwar sind Personen einander (und teilweise sogar sich selbst) nur durch ihr sprachliches und nichtsprachliches Handeln und Verhalten gegeben, und daher muß das Personenverstehen auf irgendeine Weise vom Verstehen des SprachHandelns ausgehen. Die Frage ist nur, ob aus Esslers These folgt, daß das Personenverstehen auf ein Einstellungsverstehen oder Handlungsverstehen reduziert bleiben muß oder ob es ein über das Einstellungsverstehen und Handlungsverstehen hinausgehendes

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Der hier relevante Gegensatz zur Summe (pantes) als einem Quantitativen ist der des Ganzen (holon) als einem Qualitativen. Essler 1971 S. 50, (Herv. von W.K.E.). Die Begriffsumfänge (Extensionen) von „Mensch“ und „Person“ sind nicht identisch. Vgl. dazu Kap. 2.

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Personenverstehen gibt. Kommt es, anders gefragt, bei Essler überhaupt zum Personenverstehen, zumal ja nicht nur Einstellungen und Handlungen wichtige Arten personaler Attribute sind? Doch ist hier nicht der Einwand möglich, das sei eine partikularistische Konzeption? Denn könnte man nicht das auf das Verstehen der einzelnen Einstellungen einer Person bezogene Personenverstehen einem Verstehen gegenüberstellen, in dem es um die Person als ganze Person geht?189 Läßt sich dementsprechend nicht ein Personenverstehen der Form denken: „x versteht y, wenn und nur wenn x y als Individuum versteht“? In diese personalistisch-hermeneutische Richtung, statt in eine partikularistisch-empiristische, weist Charles Taylor mit seinem Modell des Personenverstehens. Taylor behauptet: which we invoke when we say things like: `I find him incomprehensible´; `At last I understand what makes him tick´; `Now we understand each other´. This is the kind of understanding which we have, or think we have, when we believe we understand someone as a human being. There is a kind of understanding which we could call `human understanding´.“190

Diese individual-hermeneutische Verstehensmöglichkeit gründet für Taylor in dem personal-hermeneutischen Sachverhalt, daß Menschen, wie schon gesagt, sich selbst deutende bzw. verstehende Tiere sind: „...human beings are self-interpreting animals. This means among other things that there is no adequate description of how it is with a human being in respect of his/her existence as a person which does not incorporate his/her self-understanding, i.e., the descriptions which he or she is inclined to give of his/her emotions, aspirations, desires, aversions, admirations etc.“191

Wenn Menschen sich selbst verstehende Tiere sind, muß das nicht nur nach Taylor im übrigen eine Konsequenz für die Psychologie der Person haben, nämlich daß sie hermeneutisch vorgehen muß: 189 190 191

Nach Kants „Kritik der Urteilskraft“ sind alle Organismen Ganzheiten. Personen lassen sich ohne Mühe als semantisch-hermeneutische Ganzheiten betrachten. Taylor 1981 S. 192. Taylor 1983 S. 144, Vgl. auch ders. 1985 S. 45.

75 „For if we take the view that man is a self-interpreting animal, then we will accept that a study of personality which tries to proceed in terms of general traits alone can have only limited value. For in many cases we can only give their proper significance to the subject's articulations by means of `idiographic´ studies, which can explore the particular terms of an individual's self-interpretations.“192

Wenn man von der nihilistischen Antwort absieht, wonach es kein Personenverstehen gibt, sind mindestens zwei verschiedene Antworten auf die Frage möglich, ob Personen legitimerweise ein Gegenstand des Verstehens sind, nämlich eine partikularistische und eine individual-hermeneutische bzw. „idiographische“ (Taylor). Auch Taylor nimmt kein unvermitteltes Personenverstehen an. Vor allem unterscheidet ihn auch von Essler, daß er den zentralen Begriff des Selbstverstehens benutzt, obwohl dieser sehr explikationsbedürftig ist (Vgl. Kap. 5.2 und 7.3). Die für die Möglichkeit des Personenverstehens wichtige Frage ist klarerweise die, ob mehr als ein partikularistisches Verstehen möglich ist oder ob das Personenverstehen auf ein Erkennen einzelner Attribute beschränkt bleiben muß und sich bestenfalls eines irgendwie geordneten Zusammenhangs solcher personalen Attribute vergewissern kann. Die Vermutung liegt nahe, daß der auf Personen angewendete Verstehensbegriff auf die Person als ganze Person (bzw. als Individuum) bezogen sein kann und nicht bloß auf ihre einzelnen Attribute. Es kann im übrigen keine Rede davon sein, daß immer dann, wenn eine der oben genannten Redeweisen gebraucht wird, ein auf die ganze Person bezogener Wissensanspruch gemeint ist. Oft wird man sich tatsächlich nur auf einzelne Handlungen usw. beziehen.

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a.a.O. S. 43. - Daher hätte Taylor einem Nachruf zum Tod von Ulrich Sonnemann (Frankfurter Rundschau vom 31.3.1993) wahrscheinlich zugestimmt: „In dem Maß, wie sie“ (nämlich die Testpsychologie - WRK) „die Seelen vermißt, ist sie selbst vermessen; in der Vermessung der menschlichen Intelligenz, Gefühle...steckt die Vermessenheit, durch ein derartiges Verfahren die Wahrheit über das menschliche Seelenleben ausmachen zu wollen. Das Gegenteil geschieht. Die Feststellungen der Testpsychologie bedeuten die Entstellung der Psyche, und indem Tester und Getestete sie mit der Wahrheit verwechseln, sich in ihren Kategorien verständigen und selbst verstehen, machen sie sich zu Opfern eigener Vermessenheit.“

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Wichtig ist nun, daß eine hermeneutische Analogie zwischen einer Person und einem Text besteht, obwohl Personen ontologisch selbstverständlich nicht mit Texten identisch sind. So wie ein Text verschieden ist von den Sätzen, aus denen er besteht, so ist natürlich auch eine Person verschieden von ihren Handlungen, ganz gleich, wie diese Unterschiede ontologisch gedeutet werden. Humboldt drückt diesen Gedanken so aus: „Der Mensch ist mehr und noch etwas anderes, als alle seine Reden und Handlungen, und selbst als alle seine Empfindungen und Gedanken“, setzt aber überraschenderweise und meines Erachtens fälschlicherweise so fort: „und wie genau man auch ein Individuum kennen mag, so versteht man immer nur einzelne seiner Äußerungen...“193

So wie es eine Sache ist, einzelne Sätze eines Textes oder einzelne Handlungen (oder Einstellungen usw.) einer Person zu verstehen, so ist es eine andere Sache, einen Text oder eine Person als Ganzes, als Totalität, zu verstehen.194 Hegel erläutert das Problem anhand der Philosophie so (und meines Erachtens richtig): „... bei Gedanken, besonders bei spekulativen, heißt Verstehen ganz etwas anderes als nur den grammtischen Sinn der Worte fassen ... Man kann daher eine Kenntnis von den Behauptungen, Sätzen oder, wenn man will, von den Meinungen der Philosophen besitzen, sich mit den Gründen und Ausführungen solcher Meinungen viel zu tun gemacht haben, und die Hauptsache kann bei allen diesen Bemühungen gefehlt haben, nämlich das Verstehen der Sätze. Es fehlt daher nicht an bändereichen ... Geschichten der Philosophie, welchen die Erkenntnis des Stoffes selbst ... abgeht. Die Verfasser solcher Geschichten lassen sich mit Tieren vergleichen, welche alle Töne einer Musik mit durchgehört haben, an deren Sinn aber das Eine, die Harmonie dieser Töne, nicht gekommen ist.“ (kursiv von Hegel, Werke, Bd. 18, S. 17)

Die personale Einheit oder Totalität wird klassischerweise auch „Individualität“ genannt, auch wenn sie nicht harmonisch ist. Und sie gilt es zu verstehen.

193 194

Vgl. von Humboldt 1980, Werke Bd. I, S. 475 f Vgl. den Artikel „Ganzes/Teil“ in „Historisches Wörterbuch der Philosophie“ Basel / Stuttgart 1976, S. 3-20. Auch bei Günther a.a.O. S. 77 heißt es: „Das persönliche Verstehen ist nicht auf einzelne Teile oder Stücke des fremden Ich, sondern auf die konkrete Individualität gerichtet, und zwar in ihrer ganzen Komplexheit.“

77

Im Unterschied zu Humboldt hatte schon Dilthey (a.a.O. V. Bd. S. 172) auf die holistische „Natur des Verstehens unserer selbst und anderer“ hingewiesen: „... wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne uns faßbar zu machen. Eben daß wir im Bewußtsein von dem Zusammenhang des Ganzen leben, macht uns möglich, einen einzelnen Satz, eine einzelne Gebärde oder eine einzelne Handlung zu verstehen. Alles psychologische Denken behält diesen Grundzug, daß das Auffassen des Ganzen die Interpretation des einzelnen ermöglicht und bestimmt.“ Das kommt nicht zuletzt dadurch zustande, daß sich in der „inneren Auffassung selber das Wesentliche vom Unwesentlichen „, so daß „wie von selber das psychologische Denken in die psychologische Forschung .“ (a.a.O. S. 173)

Bei Gadamer z. B. wird dieses hermeneutische Problem auch expliziert, allerdings ohne Bezug auf den Personenbegriff: „Wie der Zusammenhang eines Textes ist der Strukturzusammenhang des Lebens durch ein Verhältnis von Ganzem und Teilen bestimmt. Jeder Teil drückt etwas vom Ganzen des Lebens aus, hat also eine Bedeutung für das Ganze, wie seine eigene Bedeutung von diesem Ganzen her bestimmt ist. Es ist das alte hermeneutische Prinzip der Textinterpretation, das deshalb auch für den Lebenszusammenhang gilt, weil in ihm in gleicher Weise die Einheit einer Bedeutung vorausgesetzt wird, die in allen seinen Teilen zum Ausdruck kommt“195

Es ist nicht zu bestreiten, daß die bekannte hermeneutische Regel, wonach man „das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse“196, Plausibilität hat, insofern die „Bewegung des Verstehens stets vom Ganzen zum Teil und zurück zum Ganzen (läuft)“197, aber daß diese Bewegung einen Zirkel darstellt, scheint mir eine falsche Metapher zu sein, weil diese Bewegung eher im Sinne einer nach oben oder unten offenen Spirale verläuft, deren Verlauf weiter gedacht werden

195 196

197

Gadamer 21965, S. 210 So Gadamer a.a.O. S. 275. Auf dieser Seite bezeichnet er diese Regel auch als Zirkel. Auf S. 164 sagt er, daß „schon die antike Rhetorik“ von dem „zirkelhaften Verhältnis von Ganzem und Teilen (wußte)“ und S. 166, daß „der weltgeschichtliche Zusammenhang...selbst ein Ganzes (ist)...“ Gadamer a.a.O.

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kann.198 Gadamer hat unter Bezug auf Heidegger betont, daß der Zirkel „nicht formaler Natur“ sei und also „nicht ein `methodischer´ Zirkel“, sondern er: „beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens. Der Sinn dieses Zirkels, der allem Verstehen zugrundeliegt“ habe „eine weitere hermeneutische Konsequenz“ die Gadamer den „Vorgriff auf Vollkommenheit“ nennt.199 Gadamer zufolge hat schon Schleiermacher das hermeneutische Verhältnis von sinnhaftem Teil und sinnhaftem Ganzen nach einer objektiven und einer subjektiven Seite hin differenziert. Das Wort erhält seinen bestimmten Sinn aus dem Zusammenhang des Satzes, dieser aus dem des Textes, dieser aus dem des Werks des Autors und dieses aus der Zugehörigkeit zu einer literarischen Gattung oder einer wissenschaftlichen Disziplin. Andererseits gehört die Schrift bzw. der Text „als Manifestation eines schöpferischen Augenblicks in das Ganze des Seelenlebens eines Autors.“200 Gadamer möchte aber diese subjektive Seite des Verstehens übergehen, da man sich bei Verstehensversuchen von Texten „nicht in die seelische Verfassung des Autors (versetzt), sondern...in die Perspektive, unter der der andere seine Meinung gewonnen hat.“201 Überhaupt bestünde das „Wunder des Verstehens“, das aufzuklären Aufgabe der Hermeneutik sei, nicht in einer „geheimnisvollen Kommunion der Seelen, sondern (in) einer Teilhabe am gemeinsamen Sinn.“202 Damit kritisiert Gadamer Schleiermachers Lehre von der Divinatio, durch die sich der Interpret in den Autor hineinversetzten soll. Gadamer kritisiert auch die objektive Seite von Schleiermachers Verstehensbegriff, indem er betont, daß das primäre Ziel des Verstehens das „Einverständnis in der Sache“ sei und erst sekundär sei es, „die Meinung des andern als solche abheben und verstehen.“203

198

199 200 201 202 203

Vgl. Stegmüller 1986, S. 27-86: „Die Theorie des hermeneutischen Zirkels hat die Anziehungskraft einer Mythologie. Ihr Reiz besteht darin, daß sie der wissenschaftlichen Tätigkeit des darüber reflektierenden Philosophen und Historikers eine Art von tragischem Muster gibt.“ (dort S. 62) a.a.O. S. 277 f a.a.O. S. 275 a.a.O. S. 276 a.a.O. S. 276 So a.a.O. S. 276, 278

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Wenn man nun die hermeneutische Analogie zwischen einer Person und einem Text (trotz ihres ontologischen Unterschieds) zusammen mit der hermeneutischen Regel des holistischen Verstehens auf das Personenverstehen anwendet, läßt sich erkennen, daß mit den oben angeführten Redeweisen ein Anspruch geäußert werden kann, die Ganzheit von Personen zu erkennen - ebenso wie man einen Text als ganzen Text aus seinen einzelnen Sätzen und diese aus der Ganzheit des Textes (und anderen Texten) verstehen (wollen) muß. Diese Ganzheit wurde oft auch als Totalität (von Text oder Person) bezeichnet. Der durch die Relation „P1 versteht P2“ im Hinblick auf Personen erhobene Erkenntnisanspruch geht häufig, wie schon gesagt, über den Anspruch hinaus, der mit einem Verstehen einzelner Handlungen oder einem Erkennen einzelner geistiger oder seelischer Zustände verbunden ist. So gesehen läßt sich sagen, daß sich die hermeneutische Analogie auf Textualität und Personalität bezieht, während die hermeneutische Regel auf die holistische Erkenntnis der Totalität von Texten und Personen ausgerichtet ist. Man könnte überspitzt sagen: Personen ähneln Romanen. Im kognitiven Personenverstehen soll nun beides so vereinigt werden, daß es zu einer Erkenntnis der individuellen Totalität bzw. der personalen Individualität kommt.204 Zum Schluß dieses Kapitels stellt sich die Frage, ob es die drei speziellen hermeneutischen Probleme des Verstehens analog auch bei dem Personenverstehen gibt. 1. Wenn das Personenverstehen kognitiv, also als ein Wissen gedeutet wird, was wird dann gewußt? 2. Ist das Personenverstehen nur klassifikatorisch oder komparativ oder gibt es Grade des Personenverstehens, also ein Mehr-oder-wenigerVerstehen?

204

Dilthey, a.a.O. VII. Bd. S. 212, sprach von einem „individuellen Ganzen“.

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3. Wie sieht die Negation des Personenverstehens aus, wie sind also für den Fall, daß Personenverstehen kognitiv zu deuten ist, die Analoga zu Nichtwissen und Irrtum zu betrachten?205 Zu 1. In dem kognitiven Personenverstehensmodell wird angenommen, daß das Personenverstehen in einem Wissen (bzw. in einer Erkenntnis) besteht. Was wird hier gewußt? Wenn man Diltheys semantisch-pragmatischen Vorschlag aufgreift „Wie Worte eine Bedeutung haben, durch die sie etwas bezeichnen, oder Sätze einen Sinn, den wir konstruieren, so kann aus der bestimmt-unbestimmten Bedeutung der Teile des Lebens dessen Zusammenhang konstruiert werden“206,

liegt es nahe, für das Personenverstehen so etwas wie den Lebenszusammenhang als Äquivalent zu Sinn bzw. Bedeutung im nicht-personalen Verstehen zu sehen, also das, was die individuelle Totalität ausmacht. Das wäre dann der Gegenstand des Wissens.207 Der mit diesem Wissen intendierte Anspruch läuft, wie berechtigt auch immer, darauf hinaus, jemanden zu verstehen und nicht darauf, sich (nur) mit jemandem (gut) zu verstehen. (Das wird im Detail in Kap. 5.1.1erläutert.)208

205

206

207 208

Schon Schleiermacher kannte das Problem, die Begriffe des Nichtverstehens und des Mißverstehens angemessen für das Personenverstehen charakterisieren zu müssen. Gadamer 21965 behauptet S. 167, daß Schleiermachers Hermeneutik aus der Vorstellung entstand, „daß die Erfahrung der Fremdheit und die Möglichkeit des Mißverständnisses eine universelle ist.“ Und er legt auf S. 168 nahe, daß für Schleiermacher diese Fremdheit „mit der Individualität des Du unauflöslich gegeben“ ist. Vgl. a.a.O. VII. Bd. S. 233 f: „Die Bedeutung erkennen wir, wie die von Worten in einem Satz, durch Erinnerungen und Möglichkeiten der Zukunft.“ „die Kategorie der Bedeutung hat offenbar einen besonders nahen Zusammenhang zum Verstehen.“ Taylor 1985 a S. 104 redet von Personen als „subjects of significance“, die einen „sense of self“ haben und zielte damit auf ihre „Lebensbedeutsamkeit“. Eine allgemeine Verschränkung von Verstehen und Wissen betont auch Berenson. Das Verstehen sei propositional, und dies ergebe sich aus dem Faktum, daß das, was verstanden werden kann, im Regelfall durch Worte ausgedrückt werden kann. Das gelte aber nicht uneingeschränkt für das Personenverstehen, Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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In einem nichtkognitiven Personenverstehensmodell müßte hingegen unterstellt werden, daß P1 gegenüber dieser individuellen Totalität von P2 irgendwie geneigt ist oder irgendwie damit umgehen kann. Inwieweit diese Annahme verstehenstheoretisch gerechtfertigt ist, muß an dieser Stelle offen bleiben, obwohl es, jedenfalls in der alltäglichen Lebenswelt, im Hinblick auf das Personenverstehen nicht wenige Befürworter dieser Annahme gibt. Diese Annahme wird in Kapitel 7 erörtert. Zu 2. Verstehen gilt im allgemeinen als eine Sache des Mehr-oder-Weniger und nicht des Entweder-Oder, von Ausnahmen abgesehen. Insbesondere scheint es für das Personenverstehen notwendig zu sein, Grade anzunehmen. Die Grade des Verstehens können selbstverständlich nie in eine lineare Ordnung gebracht werden, wie Popper hervorhob209, weil sich sehr oft neue Verstehensmöglichkeiten ergeben. Wenn das Personenverstehen kognitiv gedeutet wird, scheinen sich dieselben Probleme mit der Zweiwertigkeit wie beim normalen Verstehen zu ergeben, so daß stets gesagt werden müßte: „Entweder versteht P1 P2 oder P1 versteht P2 nicht“. Das ist jedoch kontraintuitiv. Denn gradualisierte Aussagen wie: „Entweder versteht P1 P2 heute besser oder P1 versteht P2 heute nicht besser - etwas Drittes gibt es nicht“210 möchte man nicht gelten lassen. Wir werden in Kap. 5.1.2 sehen, welchen Sinn man im kognitiven Fremdverstehen den gradualisierten Aussagen abgewinnen kann. Im übrigen entstehen auch in den nichtkognitiven Personenverstehensmodellen keine Probleme für Ansprüche des Besserverstehens. Zu 3. Wenn man das Personenverstehen kognitiv deutet, verhält es sich nicht anders mit der Negation als bei dem Verstehen des SprachHandelns. Denn die Unterscheidung zwischen Wissen und Irrtum kann, ja muß dann auf die Differenz zwischen Verstehen und Mißverstehen abgebildet werden. Zwar werden auch beim nichtkognitiven Personenverstehen

209 210

weil dort der Transfer des Wissens zwischen Personen über Personen nicht genauso verlaufen könne wie bei einem Wissenstransfer empirischer Daten. Bei dem Personenverstehen spielten eben auch emotionale Faktoren eine Rolle. Vgl. 1981, S. 35. Popper 1972 S. 169 f Vgl. zur Zweiwertigkeit Wieland 1982 S. 287 sowie Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.) 1992 a

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Geltungsansprüche erhoben, so daß es eine Geltungsdifferenz zwischen einem gelingenden und mißlingenden Verstehen geben können muß. Aber von einem Mißverstehen reden wir normalerweise nur dann, wenn es allgemein akzeptierte Kriterien dafür gibt, wann ein Mißverständnis vorliegt. Darauf komme ich in Kapitel 5.1.2 zurück. 5.1 Kognitives Fremdverstehen In dem kognitiv gedeuteten Modell des Fremdverstehens geht es darum, jemand anderen zu verstehen - und nicht darum, z. B. sich mit jemandem zu verstehen211 und dabei vielleicht gar nichts Wichtiges über diese Person als Individuum zu wissen. Zum Beispiel kann man sich leicht zwei Personen vorstellen, die jahrelang miteinander Schach spielen und dabei in der für dieses Spiel üblichen Weise kommunizieren, aber sonst nichts für sie als Individuen Wesentliches voneinander wissen. Oder, um ein weniger ausgefallenes Beispiel zu geben, man kann auch an ein (Ehe)Paar denken. Dagegen ist nichtkognitives Fremdverstehen keine Seltenheit (vgl. Kapitel 7.1 und 7.2). Historisch und alltagspsychologisch kursieren zahlreiche Auffassungen darüber, wie ein Fremdverstehen abläuft. Diese Auffassungen trennen nicht klar das kognitive von dem nichtkognitiven Modell des Fremdverstehens. Da ist vom Nachvollziehen212, Nachempfinden, Nacherleben213, Einfühlen, (Sich-) Hineinversetzen214, ja sogar vom Eindenken und Einwollen215 die Rede. Die Diskussionslage bezüglich dieser Ausdrücke ist heillos verworren, weil sie von Privatbedeutungen dieser Ausdrücke nur so 211 212

213 214

215

Oft sagt man statt dessen auch in nicht korrektem Deutsch: „sich (gut) verstehen“. Vgl. Rehbein 1997 S. 162: „Man kann einen anderen Menschen nur verstehen, wenn man sein Dasein nachvollziehen kann.“ S. 169: „Der Verstehende vollzieht nicht das Dasein des Verstandenen, sondern vollzieht es eben nach.“ Und auf S. 202 heißt es: „Der Andere ist am besten zu verstehen, wenn er `er selbst´ ist.“ Vgl. Dilthey a.a.O. S. 213 ff über „Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben“ Bei Günther a.a.O. S. 94 beruht das Fremdverstehen zwar nicht auf einem Nacherleben, aber auf einem „Sichhineinversetzen in die geistige Akt- und Erlebnisstruktur der fremden Individualität.“ Günther spricht vom „Hineinleben“: „Er muß die geistigen Akte mit- oder nachvollziehen, die dem Aktvollzug des Verstehensobjektes entsprechen.“ Vgl. Kehrer 1951

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wimmelt. Aus verstehenstheoretischer Sicht scheint es zunächst völlig unklar, ob man das Nachvollziehen bzw. das Sich-Hineinversetzen zu dem nichtkognitiven Personenverstehensmodell rechnen soll oder nicht. Wird dabei etwas gewußt, oder bloß gekonnt oder gefühlt? (Sich-)hineinversetzen und Nachvollziehen sind spätestens seit Dilthey die Zauberwörter jeder Verstehenstheorie. Die Verwendung beider Begriffe für die Explikation des Begriffs des Fremdverstehens ist mindestens mit drei Problemen konfrontiert: 1) es ist nicht klar, ob sie notwendige und auch hinreichende Bedingungen sind; 2) sie trennen begrifflich das Fremdverstehen vom Selbstverstehen ab und 3) gibt es keine Kriterien für ihre richtige Verwendung. Dilthey sprach davon, daß man sich „in einen Menschen oder ein Werk“ hineinversetzen kann (A.a.O. , VII Bd. S. 214), so daß demzufolge zu gelten scheint P1 versteht P2 dann (und nur dann?), wenn P1 sich in P2 hineinversetzen kann. Er spricht an dieser Stelle vom „ eines Lebenszusammenhangs im Gegebenen“ und von einem „Zusammenhang, der im eigenen Erleben besteht und in unzähligen Fällen erfahren ist“. Durch eine Art Vergleich kann es zu einer „Übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen“ kommen, so daß „auf der Grundlage dieses Hineinversetzens ... die höchste Art , in welcher die Totalität im Seelenleben wirksam ist - das Nachbilden oder Nacherleben. Das Verstehen ist an sich eine dem Wirkungsverlauf inverse Operation.“ Dilthey unterscheidet an dieser Stelle nicht klar zwischen Person und Werk. Er spricht hauptsächlich vom Verstehen eines Gedichts. Für diese Art des Verstehens mögen seine Bemerkungen einigermaßen plausibel sein. Aber wie könnten sie das für ein kognitives Verstehen einer anderen Person sein, wenn ein Nacherleben unmöglich ist, weil dem kein entsprechendes Erleben bei der Person vorherging, die zu verstehen versucht? Was sollte ein Historiker oder der Psychiater eines Lustmörders nacherleben können? Meines Erachtens bleibt das Fremdverstehen gänzlich unklar, wenn man es als (Sich-)Hineinversetzen interpretiert, weil das eine Metapher bleibt, die

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sinnvollerweise nur durch den Verstehensbegriff expliziert werden kann, wobei es dann immer noch eine offene Frage wäre, ob dieses Verstehen kognitiv oder nichtkognitiv wäre. Überdies würde durch eine solche „inverse Operation“ der Zusammenhang des Selbstverstehen mit dem Fremdverstehen zerrissen, da man schlecht davon sprechen kann, daß man sich in sich hineinversetzt habe, um sich selbst zu verstehen. Außerdem ist der Anspruch, sich in jemand anderen hineinversetzt zu haben, derart kriterienlos, daß er gar nicht mit Gründen zurückgewiesen werden kann. Es kostet sozusagen nichts, ihn zu erheben. Man legt sich mit dieser Metapher auf nichts fest. (Der wichtige Zusammenhang zwischen Fremdverstehen und Selbstverstehen wird in Kap. 5.3 erläutert.) Ist es um die Metaphorik des Nachvollziehens besser bestellt? Besteht hier nicht dasselbe Problem des mit dem Selbstverstehen zerrissenen Zusammenhangs; denn wie soll ich etwas von mir oder wie soll ich mein Leben nachvollziehen? Die Metapher des Nachvollziehens scheint also ebenso wie die des Hineinversetzens nur für das Fremdverstehen anwendbar zu sein. Angenommen, es wäre so, dann stellt sich vielleicht als wichtigste Frage die nach dem Gegenstand des Nachvollziehens: P1 versteht P2 dann (und nur dann?), wenn P1 etwas, was P2 gesagt oder getan hat, nachvollziehen kann - oder das Leben von P2. In einem ganz trivialen Sinn kann zwar gesagt werden, daß jede Person ihr eigenes Leben vollzieht. Aber kann in einem verstehbaren Sinn gesagt werden, daß das kognitive Fremdverstehen in einem Nachvollzug eines fremden Lebens oder von dessen Teilen besteht? Selbst wenn ein Leben oder eine Lebensweise mir nicht gänzlich fremd ist, so bleiben dieselben schon erwähnten Schwierigkeiten bei der Explikation dieses Begriffs des Nachvollziehens. Wie könnte ich das Leben eines Grubenarbeiters oder eines Profiboxers nachvollziehen? Und auch hier gibt es kein Kriterium für ein Nicht-Nachvollziehen-können. Niemand, der behauptet, etwas (nicht) nachvollziehen zu können, kann von irgendjemandem widerlegt werden. Und unklar bliebe darüber hinaus auch, ob ein solches NachvollziehenKönnen hinreichend für ein kognitives Fremdverstehen wäre. Eine anscheinend vernünftige, aber dennoch zweideutige, Explikation besteht darin zu sagen, daß das Nachvollziehen in einer kognitiven Simulation besteht, wie z. B. in einer kognitiven Simulation des Vollzugs eines

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Lebens(-abschnitts) einer anderen Person. Nun ist eine solche kognitive Simulation mindestens zweideutig, weil in dieser Vorstellung das andere Leben oder das eigene Leben zum Modell eines vergleichenden Verstehens genommen werden kann. Das wird oft nicht auseinander gehalten216 und es ist auch nicht klar, was genau ich kognitiv simulieren muß. Nur das Denken oder auch das Fühlen oder Wollen der anderen Person? Angenommen, es würde folgendes formuliert: (I) Um P2 zu verstehen, muß ich, P1, mir vorstellen, wie ich in P2's Lage gedacht und gefühlt hätte, (II) Um P2 zu verstehen, muß ich, P1, mir vorstellen, wie P2 in P2's Lage gedacht und gefühlt hat. In (I) muß ich mir eine kontrafaktische Situation vorstellen, da ich ja nicht in der Situation war; während ich in (II) mir die faktische Situation vorstellen muß, in der P2 war. Möglicherweise kann ich mir aber (I) nicht vorstellen, da ich noch nie in einer solchen Lage war wie P2. Denn wenn P2 und ich nicht nur numerisch zwei Personen sind, sondern auch aufgrund ihrer Lebenserfahrung oder Lebensweise qualitativ verschiedene Personen sind, dann könnte es mir unmöglich sein, mir vorzustellen, wie meine Gedanken und Emotionen in dieser Art Situation wären, in der P2 sich befand.

216

Vgl. dazu Moran 1994 S. 162 ff der dieses Nachvollziehen „cognitive simulation“ nennt und beschreibt als „model for how psychological ascriptions are actually made: what we do is simulate what we take to be the other person's state of mind...“. Aber nach Morans Ansicht kann das Nachvollziehen nicht, wie in den USA einige Philosoph(inn)en das getan haben, als eine eigenständige theoretische Alternative zu der von Davidson und Dennett geprägten und von Moran „Interpretation Theory“ genannten Verstehenstheorie begriffen werden. Dabei glaubt Moran, daß ein solcher Versuch auf einem Mißverständnis der Rolle der ersten Person in diesem Simulationsprozeß besteht. Nach Moran a.a.O. S. 165 ist das Nachvollziehen keine Alternative, sondern nur eine Version der grundlegenden „Interpretation Theory“, da sie normalerweise zu denselben Ergebnissen komme. Die Verstehenstheorie gilt dabei nicht nur für die dritte, sondern auch für die erste Person.

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Erfordert (I) schon eine erhebliche Anstrengung für die Vorstellungskraft der verstehen wollenden Person, so wird im Fall von (II) einfach zuviel gefordert. Im Extrem müßte ich mir in diesem Fall vorstellen, wie es wäre, P2 zu sein, wie z. B. eine Frau zu sein. Ich nehme an, daß solche Vorstellungen, wie es wäre, von einem anderen Geschlecht zu sein, unter fast keinen Umständen möglich sind. Das wird auch der Sinn der sattsam bekannten geschlechtsbezogenen Antwort sein: „Das verstehst Du als Frau/Mann nicht.“ Und diese Antworten sind wahrscheinlich manchmal wirklich berechtigt. Nur bei erwartbaren Reaktionen, wie z. B. ein bestimmtes Gericht den Gästen schmecken wird, kann ich mir vorstellen, wie andere Personen fühlen oder denken. Begründete Erwartungen gibt es aber anscheinend nur in trivialen Fällen. Somit könnte es sein, daß (I) keine angemessene Explikation des Nachvollzugs und somit auch keine für Fremdverstehen ist. Aber auch wenn mir (II) möglich wäre, würde das nicht per se für ein Personenverstehen hinreichend sein, weil ich mir darüber hinaus noch vorstellen können müßte, wie ich in anderen, ja vielen anderen Lagen, in denen sich P2 befand oder befinden wird, denken und fühlen würde und auch, falls sich um eine tote Person handelte, wie ich in ihrer Lage gehandelt hätte. Im übrigen kommt es auf die Gewichtigkeit der Lagen an, also auf die Lebensbedeutsamkeit, die sie für P2 hatten. Popper diskutiert das Problem des Nachvollziehens anhand der Thesen von Collingwood, der über die Perspektive des Historikers reflektierte. Collingwood hatte behauptet217, daß der Historiker sich vorstellen muß, wie ein Herrscher sich seine Lage vorstellt, die verschiedenen Alternativen in ihr sieht und bewertet: „and thus he must go through the process which the emperor went through in deciding on this particular course. Thus he is re-enacting in his own mind the experience of the emperor; and only in so far as he does this has he any historical knowledge...“ Kann ein Historiker sich vorstellen, wie ein Herrscher seine Lage sieht (Fall II)? Daß er das kann oder können sollte, ist die Lösung Collingwoods, derzufolge der Historiker den Entscheidungsprozeß des Herrschers nachvollzieht bzw. versucht nachzuvollziehen. Oder kann ein Historiker sich nur vorstellen,

217

Collingwood 1946 S. 283

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wie er, der Historiker, in einer Lage von derselben Art, diese Lage sähe (Fall I)? Popper scheint eine Lösung wie in (Fall II) zu bevorzugen. Er nennt Collingwoods Lösung die „Methode des subjektiven Nachvollziehens“ des Entscheidungsprozesses und unterscheidet sie von seiner Lösung, die er die „Situations-Analyse“ nennt.218 Damit will er nicht völlig ausschließen, daß die Methode des Nachvollziehens ein Hilfsmittel für den Historiker sein kann. Doch er will deutlich machen, daß seine Methode der „Situationsanalyse“ die objektive(re) ist. Nach Poppers Ansicht ist der Historiker wie jeder Verstehende ein Problemlöser, der mit Vermutungen und Widerlegungen arbeitet. Der Historiker operiert auf einer Metastufe, gemessen an der Reflexionsstufe des Herrschers. Der Historiker entwirft nach Popper eine idealisiserte oder rationale Rekonstruktion der Reflexionen des Herrschers, indem er Unwichtiges ausläßt und eventuell einiges hinzufügt. Sein Metaproblem sei die Frage, was die entscheidenden Faktoren in der Pro- blemsituation des Herrschers gewesen seien. Der Historiker stelle eine Metatheorie über das Denken des Herrschers auf, er vollziehe es nicht nach. Insofern kann Popper sagen, daß der Historiker eine „historische Situation“ zu verstehen versucht, indem er sie mit objektiven Pro- und Contra-Argumenten analysiert.219 Doch es dürfte offenkundig sein, daß eine historische Situation keine Person ist und daß demzufolge hier zwei verschiedene Dinge verstanden werden müssen. Nach Poppers Ansicht ist seine Methode der Situations-Analyse unter Umständen auch dann noch erfolgreich, wenn das Nachvollziehen versagt, wie z. B. in Fällen von großer Grausamkeit oder großem Edelmut. Das Nachvollziehen seelischer Prozesse bleibt aus den genannten Gründen nicht nur ein mysteriöser Vorgang, sondern auch ein ungeeignetes Explikationsmodell für das Fremdverstehen und insbesondere für das kognitive Fremdverstehen. Denn erstens ist das Nachvollziehen immer auf Vergangenes, schon Geschehenes, bezogen. Das Fremdverstehen muß aber auch auf Gegenwärtiges anwendbar sein können. Und dazu ist ein Vorwegnehmen bzw. Vorhersagen seelischer Zustände als ein konstitutives Element nötig, denn Gegenwärtiges wird immer auch im Lichte zukünfti218 219

Popper 1972 S. 188 a.a.O. S. 188. Berenson 1981 S. 111 kritisiert Popper.

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ger Zustände verstanden, wobei ein zukünftiger Zustand bloß in einer sofortigen Antwort auf eine Frage bestehen kann; also kann Fremdverstehen nicht im Nachvollziehen aufgehen.220. Zum zweiten geht es in konstitutiver Weise bei dem Fremdverstehen auch um ein Verstehen seiner selbst, und das kann in keinem Sinn ein Nachvollziehen sein. Dieses wird dem reflexiven bzw. perspektivischen Verhältnis zwischen Fremdverstehen und Selbstverstehen nicht gerecht. Und drittens können intentionale, also auf Sachverhalte bezogene Zustände (wie z. B. zu glauben, daß p und zu wollen, daß nicht-p) nicht nachvollzogen, sondern nur verstanden werden, da man es hier mit sprachlichen Bedeutungen zu tun hat. Und fremde phänomenale Zustände (wie es ist, soundso zu sein, wie es sich z. B. anfühlt, in diesem und jenem Zustand zu sein) können nur in dem Sinne nachvollzogen werden, daß und wenn man weiß, wie es ist, selber in ihnen gewesen zu sein oder sie selber gehabt zu haben. Aber wenn man das weiß, erlebt man weder die eigenen Zustände noch hat man die der anderen Personen. Kann jemand glaubhaft behaupten, z. B. die Todesangst der entführten Flugzeugpassagiere des 11. September 2001 nachvollziehen oder sich in diese Menschen hineinversetzen zu können? Man wüßte gar nicht, was eine solche Behauptung bedeutete. Man verstünde sie gar nicht. Das sogenannte Nachvollziehen und das sogenannte Sichhineinversetzen sind und bleiben hermeneutische Schimären. Den einzigen Sinn, den man ihnen abgewinnen könnte, bestünde darin, sie als hilflose Platzhalter für den Begriff des Verstehens zu deuten, womit sie sich in Luft aufgelöst hätten.221 Sie sind im Wittgensteinschen Sinne Bilder, die uns gefangen halten. An ihnen offenbart sich auch eine falsche Alltagspsychologie des Seelischen, die auf dem von Wittgenstein zu Recht kritisierten Gegensatz zwischen Innen und Außen beruht, wonach das Seelische innen (im Körper) ist. Die Metaphern des Sichhineinversetzens sowie des Insichgehens werden vermutlich auf diesen unheilvollen Gegensatz zurückzuführen sein. Beide suggerieren für das Fremdverstehen und das Selbstverstehen 220 221

Schopenhauer, Parerga II, 1, 252 gibt die Bedingungen für Vorhersagen an. Die Unterscheidung Patzigs 1980 S. 58 zwischen „einfühlendes Verstehen“, „Zusammenhangverstehen“ und „Ausdrucksverstehen“, wonach das erste ein Nachvollzug seelischer Vorgänge, das zweite ein Verstehen etwa eines mathematischen Beweises und das dritte ein Verstehen sprachlicher Ausdrücke sein soll, ist willkürlich.

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die Möglichkeit eines nicht-diskursiven Verhältnisses, einer vorsprachlichen Unmittelbarkeit zu anderen Personen und zu sich selbst. Aber der „Weg nach Innen“ (Hermann Hesse) stand nie und steht auch heute nicht offen. Falls Personen ein prädiskursives, vorpropositionales „Selbstgefühl“ haben (wie Manfred Frank sagt222), dann steht das auf einem anderen Blatt, auf dem es nicht um Personenverstehen geht. Ist es für das kognitive Fremdverstehen Voraussetzung, die zu verstehende Person erlebt zu haben oder zu erleben? Meines Erachtens ist sie weder notwendig noch hinreichend. Notwendig nicht, weil sonst z. B. der Historiker seine Arbeit nur eingeschränkt verrichten könnte - es sei denn, man zählt das Betrachten von Filmdokumenten oder von Fernsehaufnahmen zum Erleben hinzu. Hinreichend ist sie nicht, weil eine Kenntnis einer Person noch keine Erkenntnis, d. h. hier noch kein kognitives Fremdverstehen darstellt. Das Erleben einer Person stellt bestenfalls eine günstige Startbedingung dar, ist aber keine erkenntnistheoretische Voraussetzung des kognitiven Fremdverstehens. Für das praktische und für das emotionale Fremdverstehen ist das Erleben selbstverständlich notwendig und vermutlich auch immer hinreichend. Vorwegnehmend sei gesagt: Da man sich auch selbst erleben kann (insbesondere in der Weise „so hab ich mich noch nie erlebt“), kann dieses Erleben auch für das kognitive Selbstverstehen wichtig sein.223 Im Erleben von fremden Personen ist sprachliche Kommunikation im Prinzip nicht isoliert vorhanden, denn es kommen noch außersprachliche Sinnelemente hinzu. In beiden Hinsichten jedoch wirken neben dem Verstand auch Emotionen mit und Intuitionen. Welche falschen Annahmen über das Verhältnis zwischen diesen drei Vermögen im Umlauf sind, braucht hier nicht erwähnt zu werden - mit der Ausnahme des Mißverständnisses, Emotionen seien an sich kognitionslos.224 Gefühle sind das, Emotionen 222 223

224

Vgl. Frank 2002 von Kutschera schreibt am a.a.O. S. 140: „Zweifellos gibt es Erkenntnis aufgrund von Erleben, durch (äußere) Wahrnehmung.“ Und: „Erleben...liefert uns nicht nur eine Erkenntnis über eine Sache (cognitio circa rem), sondern Erkenntnis der Sache selbst (cognitio rei).“ Für das Erleben von Städten wie z. B. Venedig oder Paris gilt das sicher. von Kutschera 1991 S. 96: „Im Erleben spielen Intuition und Gefühl eine entscheidende Rolle, kognitiv ist es aber deswegen keineswegs ohne Relevanz. Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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aber nicht. Es wird immer wieder betont, daß wir uns bei dem Fremdverstehen von der Alltagspsychologie225 leiten lassen, da deren Hauptelemente Emotionen und Intuitionen sind: „Gerade für unsere Urteile über andere Personen, ihre Einstellungen, Absichten und Emotionen verlassen wir uns sehr stark auf unsere intuitive Menschenkenntnis, auf unser Gespür für den Ton, in dem etwas gesagt wird, oder für das, was sich in Mienen, Gesten, Haltungen ausdrückt. (...) Solche Intuitionen und gefühlsmäßige Reaktionen bestimmen unser Handeln insgesamt weit stärker als Überlegungen nach dem Muster der Entscheidungstheorie. Wir beurteilen zudem nicht nur Personen und Vorgänge intuitiv, sondern auch Wahrscheinlichkeiten. Intuition leitet uns auch in den Wissenschaften. Mathematische Intuition enthält zwar keine emotionalen Elemente, aber die Intuition des Geschichtsschreibers für Charaktere und ihre Motive. Intuition ist sicher kein Ersatz für Begründungen, aber zumindest eine wichtige heuristische Hilfe. In der Psychologie und Geschichtsschreibung sind Begründungen wegen des Fehlens präziser und allgemeiner Verhaltenskriterien für innere Einstellungen oft nicht möglich, so daß man diese nur intuitiv beurteilen kann. Gefühlsmäßige Intuitionen sind ferner entscheidend für ästhetische Urteile und das Verstehen von Kunstwerken, deren Gehalt in dem erlebnismäßigen Aspekt besteht, unter dem sie uns ihren Gegenstand präsentieren.“226

Oft ist von Emotionen und Intuitionen die Rede, wenn genauer gesagt werden könnte, wie sich bestimmte Erkenntnisse über fremde Personen zusammensetzen. Wie intuitiv die „Menschenkenntnis“ wirklich ist, ist zwar schwer zu sagen, aber vermutlich ist sie weniger intuitiv als angegeben, es sei denn, man verwendet den Begriff des Intuitiven nur als Synonym für Unbewußtes und nicht als Gegensatz zum Diskursiven. Obwohl es in der Alltagspsychologie keine deterministischen Gesetze gibt, gibt es doch gesetzesartige Regularitäten, nach denen geurteilt (und auch gehandelt) wird.227 Denn selbst mit Ausnahmen von Regeln kann man sozusagen rechnen. Ich denke hier an den Unterschied zwischen (nichtrationalen) Hoffnungen und (rationalen) Erwartungen.228 Die rationale

225 226 227 228

Wir wollen solche Erfahrungen als personelle Erfahrungen bezeichnen.“ (Kursiv von Kutschera). Vgl. auch de Sousa 1997 Vgl. zu diesem Begriff das Buch von Tetens 1994 von Kutschera 1991 S. 132 f Vgl. Köhler 2003 Diesen Unterschied kann man sich leicht anhand der Wettbereitschaft klar machen, die eine Person bezüglich des Torverhältnisses bei Ballspielen hat.

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Basis der Alltagspsychologie besteht neben den deduktiven aus induktiven Schlüssen über Wahrscheinlichkeiten. Wittgenstein meinte dazu, daß das Erlernen der, wie er sagt, „Menschenkenntnis“ eine Sache der „Erfahrung“ sei, wobei ein „Lehrer“ derselben dem Lernenden „von Zeit zu Zeit den richtigen Wink (gibt)“. Dennoch scheint es für Wittgenstein zumindest bei dem Fremdverstehen eine „`unwägbare´ Evidenz“ zu geben.229 Erlebnis bzw. Erleben und Verstehen waren schon bei Dilthey ein Paar, die bei ihm allerdings ein unklares Verhältnis miteinander haben. Einerseits heißt es, daß „das Erleben unergründlich und kein Denken hinter dasselbe kommen kann“; andererseits heißt es: „Das diskursive Denken repräsentiert das im Erleben Enthaltene.“ (a.a.O. VII. Bd. S.224 bzw. S. 218). Das sieht wie ein glatter Widerspruch aus. Darüber hinaus soll das Verstehen auf der in „jedem Erlebnis, das als Verstehen charakterisiert ist, enthaltenen Beziehung des Ausdrucks zu dem, was in ihm ausgedrückt ist, .“ (a.a.O. S. 218). Und selbst diese Beziehung soll erlebbar sein. Da ist es kein Wunder, daß „in allem Verstehen ein Irrationales , wie das Leben selber ein solches ist; es kann durch keine Formeln logischer Leistungen repräsentiert werden.“ (a.a.O.). Letzteres sicher nicht. Aber man sollte doch meinen, daß das Verstehen nicht irrational ist, selbst wenn es, wie Dilthey an derselben Stelle sagt: „nicht einfach als Denklei-stung aufzufassen ist“, sondern als „Transposition, Nachbilden, Nacherleben.“ Welche Rolle könnte ein Nacherleben - um dieses Thema noch mal aufzugreifen - für das Fremdverstehen spielen? Es scheint für das emotionale Fremdverstehen eine Rolle zu spielen - aber für das kognitive nicht. (Ob das Nacherleben für das Selbstverstehen eine Rolle spielt, lasse ich hier offen.) Doch die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da uns hier die Begrifflichkeit ein wenig im Stich läßt. Es scheint, als gäbe es hier zwei kon- träre Auffassungen. Dilthey meinte (a.a.O. VII. Bd. S. 215), daß durch das Nacherleben die „geistige Welt „werde, wenn wir z. B. ein Theaterstück Shakespeares sähen oder Luthers Briefe und Schriften läsen. Allerdings sei eine „lebhafte Vergegenwärtigung“ und „Phantasie“ (so Dilthey a.a.O.) nötig. Bei Dilthey erleben wir Sinn nach. Dieses Nacherleben muß aber meines Erachtens auf einem Verstehen und nicht 229

1984, Bd. 1, S. 575

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auf einem Erleben von Sinn basieren. Ein solches Erleben von Sinn mag bei dem Anschauen von Theaterstücken vorkommen, aber nicht bei der Lektüre von Luthers Briefen. Günther (a.a.O. S. 38) sagt hingegen, daß Erleben und Verstehen „total verschieden“ sind, weil Erleben in der „Wirklichkeitsschicht“ stattfindet, „Verstehen dagegen in der Sphäre des Erkennens“, so daß weder das Selbstverstehen noch das Fremdverstehen in einem „psychologischen Nacherleben“ bestehen, sondern beide angeblich auf einem „Sichhineinversetzen“ „beruhen“: „Das Verstehen hat es vielmehr stets mit einem Auffassen des schon vorher Erlebten zu tun...Verstehen ist ein über die gegebene Erlebniswirklichkeit Hinausgehen, ein Hinausgelangen über die enge Pespektivik des Standorts des Erlebnisobjekts. Das Ziel des Verstehens besteht darin, von einem höheren, überlegenen Standort aus das Verstehensobjekt besser und tiefer zu durchdringen, als es sich selber erlebt und verstanden hat.“230

Günther meint (a.a.O. S. 88), daß nur erlebter und mitteilbarer „Sinn“ zugänglich sei, nicht die „Ich-Zustände“. Außerdem könne nur Bewußtes nacherlebt werden, weil nur es erlebt werden konnte. Für das Unbewußte gäbe es dann keine Verstehbarkeit, wenn Günther recht hätte. Günther kritisiert auf S. 91: „diese sogenannte Interpretation des fremden Seelenlebens aus dem eigenen subjektiven Erleben heraus bedeute in praxi ein einfaches Unterschieben des eigenen konkreten Seelengehaltes unter die fremden Bewußtseinsvorgänge.“

Die Nacherlebenstheorie scheitere erst recht bei „strukturell völlig anders organisierten“ Menschen. Aber selbst wenn ein Nacherleben möglich wäre, wäre es kein Verstehen, sondern nur ein Wiederholen. Es scheint daher, als sei für Günther das Nacherleben an das Nachvollziehen des fremden Erlebens gebunden und daher kein Verstehen. Der erkenntnistheoretische Vorteil des kognitiven Fremdverstehensmodells besteht darin, daß durch dieses Modell die Tätigkeit des Historikers und des Pschyologen mitumfaßt und erklärt werden kann - und zwar auch dann, 230

Günther a.a.O. S. 92

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wenn sie sich mit Personen beschäftigen müssen, mit denen sie nicht persönlich bekannt waren bzw. die sie nicht erlebt haben oder denen gegenüber sie ambivalente Emotionen hegen. 5.1.1

Wissensbedingungen

Betrachten wir nun - im Unterschied zu der vorangegangenen altbekannten, aber undurchschauten Metaphorik - das kognitive Fremdverstehen im Detail. Meine Idee dabei ist, die Frage zu beantworten: unter welchen Bedingungen versteht eine Person eine (andere) Person? Die Antworten sind als Wissensbedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit der Verstehensanspruch gerechtfertigt ist. Es kommen mindestens folgende Antworten in Betracht: eine andere Person (ein Individuum) versteht man nur dann, wenn man weiß: a) warum sie die Gründe hat, die sie hat, b) was für eine Art Mensch sie ist, c) welche Lebensgeschichte sie hat, d) wie sie sich selbst versteht, e) wie sie sich fühlt.231 Dazu zwei Vorbemerkungen. Erstens: wenn in (a) bis (e) kein einziges Mal von einem „Wissen-daß“ gesprochen wird, so hat das nur stilistische Gründe. So muß z. B. (a) so verstanden werden: „wissen, daß sie die und die Gründe für ihre Gründe hat“ und bis (e) immer ein Wissen-daß hinzugedacht werden. Zweitens: das komplexe Geflecht dieser Bedingungen wird in Kap. 5.1.2 erörtert. Ob diese fünf notwendigen Bedingungen auch zusammen hinreichend für ein kognitives Fremdverstehen sind, bleibt also an dieser Stelle offen. Ebenso, ob nicht der alternative Begriff des Besserverstehens geeigneter wäre. Zunächst wird daher nur der Sinn dieser Wissensbedingungen dargestellt . ad a) „Eine Person versteht man, wenn man weiß, warum sie die Gründe hat, die sie hat“.

231

Diese Wissensbedingung hat mir Barbara Merker als Möglichkeit zur Erwägung vorgeschlagen.

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Ein Grund (ratio, reason, raison, ragione) ist ein Produkt oder eine Kombination aus einem Glauben, daß etwas der Fall ist und einem Wollen, daß etwas der Fall ist. Man sagt, eine Person handele subjektiv rational, wenn sie aus einem, nämlich ihrem, Grund handelt. Wenn Handlungstheoretiker sagen, eine Handlung verstehen heißt den Grund oder die Bestimmungsgründe (Motive) der Handlung kennen, dann könnte man ganz analog sagen, eine Person verstehen heißt wissen, warum sie diese Gründe hat. Das ist intuitiv auch ganz plausibel, denn wenn man die Gründe, um nicht zu sagen: „die Ursachen“, für die Gründe von Handlungen kennt, weiß man sicher mehr über die Person, als wenn man nur die Gründe ihrer Handlungen kennt. (Mit dem Terminus „Ursachen für Handlungsgründe“ soll auf die Dimension von Zwangshandlungen und ähnlichem neurotischen Verhalten hingewiesen werden, für die es unklar ist, inwiefern Gründe oder Ursachen eine Rolle spielen.232 Das dahinter stehende Problem betrifft die Frage nach der kausalen Determiniertheit des Verhaltens bzw. der Willensfreiheit.) Wenn man die Gründe der ersten Stufe, also die Handlungsgründe, als einfache intentionale Zustände wie Überzeugungen und Präferenzen definiert, so ist man dann, wenn man weiß, warum die Person diese Überzeugungen und jene Präferenzen hat, eine Stufe tiefer in ihr „intentionales System“ eingedrungen, um Daniel Dennetts Ausdruck233 zu gebrauchen. Wenn eine Person eine Menge von intentionalen und nicht-intentionalen Zuständen hat, dann scheint es für das Fremdverstehen notwendig, das Folgende zu wissen: 1) was P zu einem Zeitpunkt oder in einem Zeitraum glaubt und will, 2) warum P das glaubt und will, was P glaubt und will. Optimal wäre es für das kognitive Fremdverstehen, wenn man auch noch die vergangenen Zustände kennte und die zukünftigen erkennen könnte oder wüßte, also P´s Wahrscheinlichkeiten und P's Präferenzordnung kennte. Die Maximierung dieses Wissens wäre auch seine Optimierung. Doch es stellt sich die Frage, ob man schon dann von einem Fremdverstehen reden sollte, wenn man die Handlungsgründe einer Person auf etwas zurückführen kann, was diese Handlungsgründe bewirkt, also weiß, warum 232 233

Für Davidson z. B. sind die Gründe Ursachen, während z. B. für Habermas oder Apel Gründe und Ursachen ontologisch völlig verschieden sind. Vgl. Dennett 1978

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eine Person diesen oder jenen Grund für ihre Handlungen hat. Die Frage kann nur ziemlich abstrakt beantwortet werden, indem gesagt wird, daß es darauf ankommt, wie bedeutsam die Handlungen für die handelnde Person sind. Viele Gründe der zweiten Stufe scheinen ebenso unwichtig für das Verstehen einer Person als eines Individuums wie die der ersten Stufe.234 Jemand geht ins Krankenhaus, weil er glaubt, daß man ihm dort helfen kann und er will, daß man ihm dort hilft. Das ist, handlungstheoretisch gesehen, sein Grund dafür, ins Krankenhaus zu gehen, und man versteht seine Handlung, wenn man diesen Grund kennt. Nun könnte man darüber hinaus fragen, warum er diesen Grund hat bzw. was der Grund seines Handlungsgrunds ist, obwohl dieser offensichtlich ist: die Person will wieder gesund werden. Selbstverständlich gibt es schwieriger zu verstehende Handlungen, und natürlich kann es oft schwieriger sein, herauszufinden, warum jemand die und die Gründe und keine anderen hat, als es in diesem Beispiel der Fall ist. Zwar gibt das Kennen der Gründe für Handlungsgründe etwas her, aber es ist noch zu wenig, um alleine als kognitives Fremdverstehen gelten zu können. Dazu, so scheint es, müßte man die gleichsam letzten oder wichtigsten Gründe einer Person kennen, also etwas, was mit dem SprachHandeln der Person nicht in einem so direkten Kontakt steht wie die Gründe der ersten oder der zweiten Stufe in dem Beispiel. Zu diesen von einzelnen Handlungen relativ weit entfernten, gleichsam höherstufigen Gründen zählen auch bestimmte nicht-intentionale, d. h. nicht-propositional strukturierte Zustände oder, wenn man so will, Dispositionen wie eine unbestimmte Angst, eine unbewußte Antipathie usw., die, weil sie stellvertretend für Handlungsgründe fungieren können, beim Personenverstehen nicht unterschlagen werden dürfen. Der phänomenale Teil des mentalen Systems (d. h. wie jemand sich fühlt, in welcher Stimmung sich eine

234

Daß die Sache mit den Gründen nicht ganz so trivial ist, wie es scheint, offenbart ein Aufsatz von Shoemaker 1991 insbesondere S. 43 ff. Dort wird außerdem die Thematik der Überzeugungen 2. Stufe behandelt, die aus Überzeugungen 1. Stufe plus Rationalität entstehen sollen.

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Person befindet, wie er sein Leben als ganzes empfindet usw.) ist für das Fremdverstehen äußerst relevant.235 Damit die Gründe von Handlungsgründen für das Fremdverstehen überhaupt einen Erkenntnisfaktor darstellen könnten, müßten, wie gesagt, diese Gründe nicht nur sehr fundamental sein, sondern auch in dem für die Person relevanten Zusammenhang gekannt werden. D.h. das Verstehen wäre besser oder größer, wenn man nicht nur die Gründe für die Gründe der Handlungen kennte, sondern auch wüßte, wie diese Gründe der zweiten Stufe aus der Sicht der verstehenden Person zusammenhängen.236 Eine Person kann z. B. subjektiv rational sein, aber nicht intersubjektiv rational, ohne es zu bemerken - und wenn ich weiß, daß ihre Gründe irrational sind, verstehe ich sie besser. Die Gründe der Person hängen nicht zusammen, sind unstimmig. Die Eigenschaft der Kohärenz stellt zwar keine notwendige Voraussetzung für das Personsein dar. Keine Person dürfte in ihrem SprachHandeln völlig kohärent sein. Doch Personen, deren SprachHandeln völlig inkohärent ist, verlieren tendentiell an Personsein. Es handelt sich bei dieser Eigenschaft um so etwas wie Übereinstimmung-mit-sich-selbst. Insofern kann Kohärenz für eine Person selbst ein Ideal bzw. einen Idealzustand darstellen. Aber wenn es dagegen nicht um das Personsein, sondern um das Personenverstehen geht, nimmt diese Voraussetzung die Form eines Postulats an, d. h. die verstehende Person verhält sich so, als ob die zu verstehende Person zusammenstimmende, also zusammen stimmige, mentale Zustände hat. Dieses Postulat ist natürlich ein Bestandteil jeder wohlwollenden Interpretation („principle of charity“). Es ist kein Grund ersichtlich, warum auf dieses Postulat bei dem Personenverstehen verzichtet werden darf. Resümierend kann man sagen, daß P1 überhaupt erst dann eine andere Person P2 zu verstehen beanspruchen darf, wenn P1 nicht nur versteht, was 235

236

Der Begriff der Relevanz ist ebenso normal wie der Begriff des Normalen relevant ist. Beide Begriffe sind zwar vage, aber deswegen weder unnormal noch irrelevant. Es ist evident, daß diese Stufigkeit eine zentrale Rolle bei der Bestimmung der Rationalität und Irrationalität von Personen spielt - Vgl. Kap. 5.2.2. und 5.2.3.

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P2 sagt oder tut und weiß, warum P2 dieses und jenes sagt oder tut, sondern auch den Zusammenhang zwischen P2's Gründen höherstufiger Art, also den ganzen Intentionalitätsraum von P2, kennt. ad b) Die zweite Bedingung lautet: „Eine Person versteht man, wenn man weiß, was für eine Art Person sie ist.“237 Der Anspruch, eine Person zu verstehen, wird häufig noch auf eine andere Weise zum Ausdruck gebracht. Sie besteht darin, eine Prädikation der Art vorzunehmen wie z. B. „X ist ein P“. Dabei wird die Variable „P“ durch ein Prädikat ersetzt, das sich (meistens) auf eine (ganz) besondere Eigenschaft von Personen bezieht. Solche Ausdrücke kann man Personenprädikate nennen238. Die Zuschreibung eines Personenprädikats (bzw. eines Charakterbegriffs239) gibt prima facie eine Antwort auf die Frage, was für 237

238

239

Für von Humboldt (Werke Bd. 1, S. 453) lassen sich die Bedingungen (a) und (b) anscheinend nicht trennen: „Was sich in der Seele des Menschen bewegt, seine Gedanken, Empfindungen, Neigungen und Entschlüsse, und wie, in welcher Folge und Verknüpfung sie wirken, sind also die Punkte, worin sein Charakter besteht - das Verhältnis und die Bewegung seiner Kräfte, zugleich und als Eins gedacht.“ Wie z. B.: „Heiliger“, „Feigling“, „Optimist“, „Heuchler“, „Karrierist“, „Duckmäuser“, „Charmeur“, „Schöngeist“, „Opportunist“, „Draufgänger“, „Geizkragen“, „Angsthase“, „Kriecher“, „Scharlatan“, „Don Juan“, „Wendehals“ usw. Nach von Humboldt (Werke Bd. 1, S. 436) ist dieser Begriff mehrdeutig. Erstens werde er im „gewöhnlichen Sprachgebrauch fast ausschliessend nur auf die Sitten und die Gesinnungen eines Menschen bezogen, und als ein Massstab zur Beurteilung seiner Moralität angesehen“ und zwar sowohl „intellectuell“ als auch „ästhetisch“. Zweitens werde er in der Redeweise „Charakter haben“ verwendet, was soviel heiße wie „Beharrlichkeit in der einmal angenommenen Denkungsund Handlungsweise“, so daß man in diesem Sinne „sehr vielen Menschen allen Charakter ganz und gar “. Drittens gelte jedoch, daß „keiner dieser beiden Bedeutungen einer philosophischen Theorie der Menschenkenntnis angemessen“ sei, denn „diese begreift unter dem Charakter alle diejenigen Eigentümlichkeiten zusammen, welche den Menschen als ein physisches, intellectuelles und moralisches Wesen betrachtet, sowohl überhaupt, als auch einen vor dem anderen auszeichnen; und da nun kein Mensch ohne alle, ihm ausschliessend angehörende Züge selbst nur gedacht werden kann, diese aber in der ganzen Natur des Individuums zerstreut liegen, so kann sie weder ein Subject völlig charakterlos erklären, noch auch sich auf irgend einen einzelnen Theil der Beschaffenheit derselben beschränken.“

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eine Art Mensch oder Person jemand ist, so daß man sagen könnte, eine Person verstehen heißt, ihr ein auf sie zutreffendes Personenprädikat zuzuschreiben. Die Personenprädikate können positiv wie negativ und unterschiedlich allgemein sein. Darüber hinaus ist zu beachten, daß die Personenprädikate sehr oft aus Metaphern bestehen. Dabei haben die metaphorischen Ausdrücke entweder eine standardisierte Bedeutung wie z. B. „Sie ist ein Blaustrumpf“, „Er ist ein Holzkopf“ oder sie sind nur aufgrund ihrer situationsabhängigen Bedeutung zu verstehen. Bekanntlich sind Tiervergleiche sehr häufig. Schon in der griechischen Mythologie entstanden Personenprädikate von einer ziemlich abstrakten Art. Es wurden archetypische Personen konstruiert.240 Dagegen sind die Personenprädikate Theophrasts von weit geringerer Allgemeinheit.241 Durch sie hat Theophrast ausschließlich negative menschliche Züge typisiert. Sie mögen kulturrelativ und historisch variabel sein. Aber ihre Funktion besteht darin, relativ konstante personale Eigenschaften bzw. Dispositionen zu kennzeichnen. Die archetypischen Personen wurden im Lauf der Zeiten durch die Dichtung immer weiter psychologisch verfeinert: Odysseus, Don Quixote, Don Juan, Hamlet, Faust, Casanova, obwohl dieser keine literarische Figur ist. Die literarischen Personen bzw. Charaktere erlangten eine weltweite Bedeutung. Durch die Zuschreibung von solchen Personenprädikaten werden charakteristische intentionale und mentale Zustände sowie Verhaltensweisen von Personen gebündelt: eine Person soll dadurch in ihrer charakteristischen Disposition gleichsam fokussiert werden. Diese Fokussierung wäre ohne Verwendung solcher Personenprädikate nicht oder nur mit sprachlichem Umstand möglich.242 Die Zuschreibung eines Personenprädikats unterscheidet sich von der Zuschreibung eines intentionalen oder mentalen Zustands, obwohl die erste 240

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Dementsprechend gab es als reine Charaktere (1) Ares (Krieger), Hermes (Kaufmann), Zeus (Weiser) und Hephaistos (Macher), (2) Aphrodite (Liebende), Demeter (Fürsorgliche), Hera (Freundin) und Hestia (Priesterin). Vermischte Charaktere waren Heiler(in), Lehrer(in), Ratgeber(in), Richter(in). Vgl. die aus dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammende Sammlung Theophrasts, „Charaktere“, in der dreißig Typen vorgestellt und beschrieben werden (Stuttgart 21981). Vgl. Lenk 1993 S. 192 ff: „Zur Psychologie der persönlichen Konstrukte“

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Zuschreibungsart von der zweiten Zuschreibungsart abhängig ist, d. h. nicht ohne sie auskommen kann. Trotzdem sind die Bedeutungen von Personenprädikaten nicht auf mentale oder intentionale Begriffe und schon gar nicht auf Beobachtungsbegriffe definitorisch reduzierbar. Sie fungieren im Sprachspiel Personenverstehen wie unreduzierbare theoretische Begriffe.243 Personenprädikate haben zweifellos eine große Ähnlichkeit mit Dispositionsprädikaten, so daß ihre Verwendung ebenso wie diese semantisch auf kontrafaktische Konditionalsätze bezogen bleibt. Ein Angsthase z. B. würde so und so reden und handeln, wenn diese und jene Situation einträte. Eine Person verstehen heißt also durchaus auch, ihr vermittels eines Personenprädikats mögliche sprachliche und nichtsprachliche Handlungen zuzuschreiben. Wenn man so will: das Individuum wird durch Personenprädikate kontrafaktisch fokussiert. So gesehen hängen die beiden Zuschreibungsarten in gewisser Weise voneinander ab, denn sie verwenden dieselben Kriterien.244 Es scheint allerdings, daß Zuschreibungen intentionaler und mentaler Zustände die genaueren oder detaillierteren sind, weil sie Überzeugungen und Präferenzen individuieren - aber sind sie für das Personenverstehen auch die informativeren? Sie sind jedenfalls umständlicher zu handhaben als die Zuschreibungen von Personenprädikaten. Es ist einfacher zu sagen „Hans ist ein Angsthase“ als zu sagen „Hans glaubt, daß p, q, r...und will nicht, daß p, q, r...“. Darüber hinaus mag es nur leichter scheinen, zu verifizieren, ob Hans alle diese Dinge glaubt, als zu verifizieren, ob er ein Angsthase ist.245 Zwei Dinge sind bei der Zuschreibung von Personenprädikaten mehr oder weniger unstrittig: erstens stellen diese Zuschreibungen in der Regel eine Bewertung der Person dar, weswegen diese Zuschreibungen auch beson-

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244 245

Man kann hier an die Reduzierbarkeitsproblematik der theoretischen Begriffe durch Beobachtungsbegriffe denken, die hauptsächlich mit Carnaps Namen verbunden ist. Vgl. zu dieser Problematik von Wright 1994 S. 141-165, dort besonders S. 157. Die Frage, ob metaphorische Aussagen überhaupt wahr bw. falsch sein können, kann ich hier nicht diskutieren - Vgl. Searle, dt. 1982 und Seel 1990

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ders kontrovers und umstritten sind246; zweitens individuieren sie die Person nur in einer Hinsicht, denn es wird mit einer solchen Zuschreibung zunächst nur eine Eigenschaft bzw. Disposition zugeschrieben, wodurch logisch nicht ausgeschlossen ist, daß die Person noch andere, für sie als Individuum wesentliche Eigenschaften hat. Auf beide Problem hatte, wie gesagt, schon Wilhelm von Humboldt hingewiesen. Zum ersten Punkt: Es entsteht das Problem, ob die durch die Zuschreibung eines Personenprädikats vorgenommene Bewertung eine Eigenschaft oder Disposition der Person zum Ausdruck bringt, die die Person nur für den hat, der sie so bewertet. Es mag sein, daß eine andere Person eine andere Bewertung vorzöge - eine, die nicht einmal diametral entgegengesetzt ist. Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist der, daß es bekanntlich häufig vorkommt, daß die so bewertete Person sich gegen die Bewertung wehrt, weil sie sich selbst anders „sieht“, d. h. bewertet. Darüber hinaus macht es auch Sinn zu sagen, daß manchmal gerade der Verzicht auf eine Zuschreibung eines Personenprädikats auch eine Bewertung darstellen und somit ein Personenverstehen manifestieren kann. Eine besondere Rolle spielt das Bewerten bei dem Selbstverstehen, da es darin oft auf ein Sichselbstbewerten ankommt. Zum zweiten Punkt: Wenn man sagte, das Personenverstehen bestünde darin, eine einzelne Person qualitativ so zu identifizieren, daß sie in dieser qualitativen Identifikation uns als das unverwechselbare Individuum erscheint, das sie ist, dann entsteht das Problem, ob die Zuschreibung von Personenprädikaten für diese Aufgabe ausreicht.247 Denn es scheint, als sei die Angabe dessen, „was für ein Individuum“ jemand ist (um mit Kant, Fichte, Schelling, Hegel zu reden), nur durch Zuschreibungen ganz anderer

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So auch schon Günther a.a.O. S. 172. Für ihn stellt darüber hinaus auch das Selbstverstehen ein Sichselbstbewerten dar. von Humboldt (a.a.O. Bd. 1, S. 437) meinte: „Das Schlimme in der Menschenkenntis ist gerade das, dass jede Lücke zugleich eine Unrichtigkeit ist, und dass man einen Charakter nie von einer einzigen Seite vollkommen richtig kennt, solange man ihn nicht zugleich von allen andern durchschaut.“ Es muß allerdings bezweifelt werden, ob Humboldts Lösung oder Antwort richtig ist, daß „das Eigenthümliche“ den Charakter jedes Individuums ausmache und daß das Eigenthümliche in dem „Grad der innern Kraft“ bestehe.

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Art zu leisten ist als durch die Zuschreibung von Personenprädikaten oder von intentionalen Zuständen selbst höherstufiger Art. Hier ist ein gewisses Problem zu berücksichtigen, das sich aus der Ambivalenz eines Personenprädikats bzw. eines Charakterbegriffs ergibt. Denn ein solcher Begriff wird häufig gerade in der Absicht verwendet, eben die unverwechselbare, einmalige, individuelle Person zu bezeichnen, und daher könnte er wie ein leibnizianischer Individualbegriff erscheinen; andererseits aber ist es offensichtlich, daß ein Prädikat bzw. Begriff etwas Allgemeines ist und auf vieles Einzelne zutreffen können muß. Die Ambivalenz ist aber ein Schein, denn sie ergibt sich nur aus der Verwechslung eines Personenprädikats mit einem Individuennamen (singulärer Terminus) bzw. Eigennamen. Personenprädikate sind aber keine Namen, sondern Begriffe, die von Vielem ausgesagt werden können.248 Individuum und Begriff, also auch ein Personenprädikat, gelten in der modernen (extensionalen) Logik als inkommensurabel - obwohl mit dem Gebrauch von Personenprädikaten ein verführerischer Glaube einhergehen mag, ein Individuum im Sinne einer leibnizschen „species infima“ zu beschreiben.249 Wenn ein Personenprädikat zur vollständigen Charakterisierung eines Individuums nicht ausreichen sollte, dann muß man zu zusätzlichen Beschreibungen greifen.250 Da es für individuelle Personen aber keine Individualbegriffe (bzw. intrinsische oder

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Auch von Humboldt (a.a.O. S. 440) warnte vor dem „Fehler“, „jedes einzelne Individuum zu einer besonderen Klasse zu erheben...“ Frank 1986 S.111 meint, daß: „von einem Individualismus ... bei Leibniz im Grunde keine Rede sein kann. Seine Leistung besteht eher darin, die Kommensurabilität von Begriff und Individuum gezeigt zu haben.“ Eine Sprache darf, um verstehbar zu sein, nur bis zu einem gewissen Grad individualisieren, d. h. sie muß immer „überindividuell genug sein, um verstanden werden zu können.“ (Vgl. Günther a.a.O. S. 194). Die weitergehende Frage, ob das sprachlich Unfaßbare das „eigentlich Wesentliche ist oder ob nicht vielmehr das eigentlich Wesentliche auch zu sprachlichem Ausdruck gebracht werden kann“, läßt Günther offen, obwohl er meint, daß der Mensch immer mehr erlebt, als er von seinem Erleben sagen kann, was das Selbstverstehen gegenüber dem Fremdverstehen begünstige.

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vollständige Begriffe) gibt, sind Personen auch keine individuellen Substanzen bzw. Monaden im leibnizschen Sinne.251 Strawson252 wandte gegen eine leibnizsche Position ein, daß kein (menschliches oder nichtmenschliches) Individuum durch ausschließlich allgemeine Begriffe so identifiziert bzw. individualisiert werden könnte, daß es allein dieser Beschreibung entspricht, wenn man keine deiktischen bzw. hinweisenden Ausdrücke bei der Beschreibung verwendet. Identifikation gelinge nur in einem Raum-Zeit-Kontinuum, das als Basis der Individuierung der Monaden ausgeschlossen wurde. Nach dem hier verwandten Personenbegriff, wonach das Personsein einen sterblichen Körper zu haben einschließt, ist ein leibnizsches Modell nicht brauchbar. Doch vermutlich ist dieses Problem der Identifikation durch möglichst vollständige Beschreibung nur für das Fremdverstehen relevant. Denn es scheint, als brauche ein Individuum sich für das Selbstverstehen nicht im Raum-ZeitKontinuum zu identifizieren. Wäre es möglich, eine Analogie zwischen dem leibnizschen Perspektivismus der Monaden und dem Personenverstehen herzustellen? Wenn man eine vollständige Beschreibung eines Individuums geben könnte, so daß dessen Sicht des Universums mitgeliefert würde, dann könnte man sagen, daß ein Fremdverstehen dadurch erheblich verbessert würde, wenn im Fremdverstehen das gesamte Selbstverstehen der zu verstehenden Person mitgeliefert würde - falls dieses Selbstverstehen analog zu einer Gesamtsicht des Universums wäre (die Perspektivität der Monaden), zumal es ja den einzigartigen Gesichtspunkt bzw. die kognitive Stellung des Selbst in diesem Universum (idealiter) enthielte. Ein sehr bedenkenswerter Vorschlag zur Problematik der qualitativen Identifikation stammt von Dilthey (a.a.O. V. Bd. S. 229 ff). Dilthey schreibt dort: „Individualitäten unterscheiden sich nicht voneinander durch das Vorhandensein von qualitativen Bestimmungen oder Verbindungsweisen in der einen, welche in der ande251

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Vgl. Dilthey a.a.O. VII. Bd. S. 199: „Dieser Sinn des individuellen Lebens ist ganz singular, dem Erkennen unauflösbar, und er repräsentiert doch in seiner Art, wie eine Monade von Leibniz, das geschichtliche Universum.“ Strawson 1972, Kap. 4

103 ren nicht wären. ... Die Gleichförmigkeit der menschlichen Natur äußert sich darin, daß in allen Menschen (wo nicht anomale Defekte bestehen) dieselben qualitativen Bestimmungen und Verbindungsformen auftreten. Aber die quantitativen Verhältnisse, in denen sie sich darstellen, sind sehr verschieden voneinander; diese Unterschiede verbinden sich in immer neuen Kombinationen, und hierauf beruhen dann die Unterschiede der Individualitäten. Aus diesen Verschiedenheiten im Quantitativen und seinen Verhältnissen entstehen solche, die als qualitative Züge auftreten.“

Dilthey erläutert das, was er meint, an einem Beispiel, womit er zeigen will, daß jeder von uns ein Träumer, ein Windhund, ein Eigenbrötler usw. ist und daß diese Qualitäten bei dem einen mehr oder weniger stark vorhanden sind oder schneller wechseln, so daß „in der Menschenbeobachtung und ihrer Sprache“ die in ihrer „wahren Natur“ quantitativen Bestimmungen „den Charakter des Qualitativen .“ Zu recht, wie mir scheint, schreibt Dilthey: „Die Typen des Ehrgeizigen, des Eitlen, des Wollüstlings, des Gewalttätigen, des Feigen sind doch alle nur der Ausdruck quantitativer Verhältnisse, da das System der Triebe in allen dasselbe ist und nur aus den Maßverhältnissen [sowie der Art, wie die Struktur nun von da aus weitere Beziehungen erwirkt] diese charakteristischen Typen herfließen.“ (a.a.O. S. 234). Dilthey zufolge beruht nun die „Menschenkenntnis im tiefsten darin, daß man richtig beurteilt, welche Eigenschaften mit gewissen anderen verbunden sein können oder müssen und welche einander ausschließen.“

ad c) Die dritte Bedingung lautet: „Eine Person versteht man, wenn man weiß, welche Lebensgeschichte sie hat.“ Wenn man die hermeneutische Maxime „Etwas verstehen heißt verstehen, wie etwas geworden ist“253, plausiblerweise auch auf Personen wegen ihrer Geschichtlichkeit anwendet, dann folgt daraus, daß man wissen muß, wie sie zu der Person geworden ist, die sie zum Zeitpunkt des Verstehensversuchs ist oder die sie am Ende ihres Lebens geworden ist. Man muß also ihre noch andauernde oder schon beendete Lebensgeschichte kennen. Dilthey meinte: „So können wir ja auch ein Individuum, so nahe es uns stehen mag, doch erst ganz verstehen, wenn wir erfahren, wie es geworden

253

Vgl. Droysen 1977 S. 162 sowie Schnädelbach 1987 S. 125-151.

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ist.“254 Doch mit dieser Behauptung scheint Dilthey sagen zu wollen, daß die Kenntnis der Lebensgeschichte nicht nur eine notwendige, sondern sogar eine hinreichende Bedingung für das Fremdverstehen ist. Das dürfte eine zu starke Annahme darzustellen. Zwar ist die Kenntnis der Lebensgeschichte für das Fremdverstehen unerläßlich, aber nicht allein ausreichend. Man kann die Lebensgeschichte geradezu als das „Prinzip der Individuierung“255 betrachten. Und deshalb kann einerseits ontologisch, andererseits hermeneutisch gesagt werden: „Durch ihre Geschichten werden Individuen unter ihresgleichen unverwechselbar. Über ihre Geschichten werden Individuen in dieser ihrer Einzigartigkeit identifizierbar, und im Erzählen dieser Geschichten erklären wir diese Einzigartigkeit.“256 Bei dem Fremdverstehen gelangt man zur Kennntis der Lebensgeschichte dadurch, daß man sich das Leben der anderen Person erzählen läßt oder, wenn das unmöglich ist, ihr Leben anhand ihrer Lebensäußerungen in Form einer Quasi-Biographie verstehend rekonstruiert. Falls eine Autobiographie vorliegt, wird das Fremdverstehen selbstverständlich dadurch erleichtert. Eine Interpretation der eigenen Lebensgeschichte kann auch für das Selbstverstehen eine wichtige Funktion einnehmen. Für Dilthey (a.a.O. VII. Bd. S. 199) galt sogar: „Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.“ Aber Dilthey belehrt uns nicht, für was eine Autobiographie so instruktiv ist: ob für das Fremdverstehen oder das Selbstverstehen. Jedenfalls gibt es auch die radikal-poetische Ansicht von Simone de Beauvoir, derzufolge man sich selbst nicht erkennen, sondern sich nur erzählen könne. Diese These 254

255

256

Dilthey a.a.O. V. Bd. S. 213. Für Schnädelbach 1987 S. 137 ergibt sich aus dem Diltheyschen Narrativismus: „Was wir verstehen können, hat nicht nur eine Geschichte, sondern ist seine Geschichte.“ (Hervorhebung v. H.S.). So z. B. Habermas 1988 S. 203. Es sind auch alternative Kriterien der Identität verschiedener Dinge (Körper, Lebewesen, Personen) angeboten worden: „Für Körper ist es...dieselbe Weltlinie, für Lebewesen ist es die Kontinuität eines einzigen Lebens, für Personen ist es die Einheit eines Bewußtseins.“ So von Kutschera 1993 S. 226 (meine Hervorhebungen.) Vgl. Hüllen 1976, S. 295-299. Lübbe 1977 S. 145. Auch MacIntyre hat sich 1981 auf die narrative Einheit von Personen bezogen und dabei diesen Begriff des Narrativen als Oberbegriff für den Zusammenhang zwischen den subjektiven, sozialen und historischen Elementen im Leben einer Person benutzt. Das SprachHandeln kann durch Erzählbarkeit und Verstehbarkeit charakterisiert werden.

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kann man so interpretieren, daß man bei dem Versuch des Selbstverstehens sich nur seiner eigenen Lebensgeschichte vergewissern kann. (Vgl. Kapitel 5.2) Freilich muß eine Lebensgeschichte (im großen und ganzen) für das Selbstverstehen eine selbsttäuschungsfreie und für das Fremdverstehen eine täuschungsfreie Erzählung sein, wenn sie eine Datenbasis für Verstehensversuche abgeben soll. Denn wenn es so wäre, wie Max Frisch lapidar schrieb: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält“, dann wäre das Personenverstehen eine Schimäre. Zwar sind Personen vermutlich nur selten korrekte Interpreten ihrer Lebensgeschichte, obwohl manche Personen so gute Erzähler derselben sind, daß man sie kaum von einem Erfinder ihrer (angeblichen) Lebensgeschichte unterscheiden kann. Dennoch darf die Unterscheidung zwischen erfundener und wirklicher Lebensgeschichte nicht verwischt werden, auch wenn sich die Erzählung einer Lebensgeschichte nicht so denken läßt, daß sie nur entweder richtig oder falsch sein kann. Die Erzählung kann ihre individuiierende Rolle zumindest vorübergehend verlieren, wenn sich jemand eine andere Vergangenheit andichtet und sich in diesem Sinn eine neue Identität erfindet. Solche Fälle von Erfindungsreichtum hat es nach dem Dritten Reich auch wirklich gegeben257 Bei dem Fremdverstehen muß der Verstehende in punkto Lebensgeschichte also hermeneutisch auf der Hut sein. Das kann man auch an den etwas mißverständlich genannten vier „Ontologien des Selbst“ sehen, anhand deren Personen ihr Leben erzählen können: (1) eine gute Kindheit ging der guten Gegenwart voraus - Modell „Glückspilz“, (2) eine schlechte Kindheit ging der guten Gegenwart voraus Modell „Erfolg“, (3) eine gute Kindheit mündete in eine schlechte Gegenwart - Modell „schiefe Bahn“, (4) aus einer schlechten Kindheit konnte nichts Gutes entstehen - Modell „mehr war nicht drin“. Auch wenn der verstehenstheoretische Gewinn dieser „Ontologie des Selbst“ nicht allzu

257

Zynisch betrachtet könnte man solche Erzählungen auch als Selbsttherapien auffassen. Der eine Fall war der von Hans Ernst Schneider (Vgl. DIE ZEIT Nr. 20 vom 12.5.1995, S. 41) und der andere der von Klaus Volkmann (Vgl. DIE ZEIT Nr. 42 vom 13.10.1995, S. 2).

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hoch veranschlagt werden darf, so ist ihr heuristischer Wert aber auch nicht zu unterschätzen. ad d) Die vierte Bedingung ist: „Eine Person versteht man, wenn man weiß, wie sie sich selbst versteht.“ Der Zweifel, ob man eine Person versteht, wenn man ihr nur aus der Perspektive der dritten Person, im weitesten Sinne aus der Beobachterperspektive, gegenübertritt, entsteht nicht nur dadurch, daß bei dem Fremdverstehen Bewertungen ins Spiel kommen oder dadurch, daß die Person durch ein ihr zugeschriebenes Prädikat nur in einer Hinsicht betrachtet wird, sondern auch und vielleicht sogar hauptsächlich dadurch, daß damit die Perspektive der ersten Person vernachlässigt wird. (Alle Handlungstheorien und alle erfahrungswissenschaftlichen Theorien des methodisch kontrollierten Fremdverstehens sind immer nur für die Beobachter- bzw. die Dritte-Person-Perspektive formuliert, auch wenn es darum geht, den subjektiven Sinn zu kennen, den die handelnde Person mit ihrer Handlung verbindet.258) Um die optische Metaphorik zu vermeiden, wäre es richtiger, mindestens aber angemessener, statt von einer Erste-Person-Perspektive einfach vom Selbstverstehen oder auch vom Selbstverständnis zu sprechen. An dieser Stelle möchte ich - Thesen aus dem Kapitel 5.3. vorwegnehmend - darauf hinweisen, daß das Personenverstehen immer aus einer Verschränkung von Selbstverstehen und Fremdverstehen besteht. Denn ich verstehe mich selbst, ja ich verstehe mich selbst besser, wenn ich die Art und Weise, wie andere mich verstehen, registriere und aufnehme, also verstehe. Daß Personen sich auch selbst deuten, d. h. sich selbst zu verstehen versuchen, ist ebenso evident wie daß die Versuche scheitern können. Ist das Scheitern total, spricht man oft von Selbsttäuschung oder Selbstmißverständnis. Weniger evident ist, welche Rolle das Selbstverstehen für das Fremdverstehen spielt. Klarerweise unsinnig wäre die Behauptung, eine andere Person zu verstehen, schließe nie ein, das Selbstverstehen der 258

Searle 1987 S.126: „In all discussions in the philosophy of language and in the philosophy of mind, it is absolutely essential at some point to remind oneself of the first-person-case.“

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Person zu berücksichtigen und in das eigene Fremdverstehen zu integrieren. Im Gegenteil: das Fremdverstehen erscheint als unvollständig, wenn es das Selbstverständnis der anderen Person unbeachtet läßt.259 Wie man das Selbstverstehen einer Person erkennen kann, bleibt dann noch eine weitere Frage; doch scheint es evident zu sein, daß es aus ihrem SprachHandeln hermeneutisch erschlossen werden muß - und in dieser Hinsicht der Erkenntnis einer Lebensgeschichte ähnlich ist. Es handelt sich bei diesem Selbstverstehen in gewisser Weise um eine Art Entwurf260, den die sich selbst verstehende Person von sich macht. Die Kategorie des Entwurfs enthält kognitive und voluntative Elemente. Philosophiegeschichtlich betrachtet war Kierkegaard vermutlich der erste Denker, der in Reaktion auf den von ihm so genannten Sokratismus und kontra Hegel eine voluntaristisch-dezisionistische Kehrtwendung vollzog, die wir heute als den Beginn existenzialistischen Denkens zu betrachten geneigt sind, als er schrieb: „...deshalb habe ich statt `sich selbst erkennen´ mit Fleiß den Ausdruck `sich selbst wählen´ gebraucht. Indem also das Individuum sich selbst erkennt, ist es nicht fertig, vielmehr ist diese Erkenntnis in hohem Maße fruchtbar, und aus dieser Erkenntnis geht das wahre Individuum hervor.“261 Bekanntlich ist Sartres existenzialistische Zuspitzung, wonach die Existenz der Essenz vorhergeht und der Mensch zur Freiheit der Selbstwahl verurteilt ist, eine Konsequenz des Kierkegaardschen Voluntarismus. Denn wo kein Wesen ist und also auch nichts Wesentliches zu erkennen ist, muß entworfen werden, damit es wenigstens den Schein eines Selbst gibt. Der Entwurf, den eine Person von sich selbst macht, stellt etwas für die Individualität der Person Konstitutives dar. Ein Entwurf enthält beliebige, wichtige und unwichtige Überzeugungen und Wünsche, aber er ist nicht auf eine Konjunktion derselben reduzierbar, weil er auf einer individuellen 259

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Dieser Ansicht war offenbar auch Hamann, der am Ende eines langen Briefs an Kant (vom Dez. 1759) schrieb: „Sie müssen mich fragen und nicht sich, wenn Sie mich verstehen wollen.“ Vgl. die „individuelle Totalität„ (Hegel), „das Ganze des Lebenszusammenhangs“ (Dilthey), Heideggers existenzialen Begriff oder den „plan of life“ (Rawls). Kierkegaard 1975, Bd. II, S. 825

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Strukturierung und Vernetzung dieser intentionalen Zustände und anderer mentaler Zustände beruht. (Z.B.: meine Überzeugung, daß p kann dieselbe sein wie Ihre, aber meine Überzeugung, daß p ist bei mir mit dem Wunsch, daß q verknüpft und bei Ihnen vielleicht mit dem Wunsch, daß nicht q.) Man könnte statt des Entwurfs auch von einer Ich-Perspektive auf das eigene Leben sprechen, wenn diese optische Metapher nicht zu sehr an ein geistiges Auge denken ließe, das ein Inneres anschauen können soll. Wenn nun dieser Entwurf nicht bloßer Entwurf bleibt, sondern durch diese Person in ihrer Lebensgeschichte verwirklicht wird, dann kann diese Verwirklichung für den Fall Respekt abnötigen, daß das so verwirklichte Leben zumindest aus der Perspektive einer zweiten Person lohnenswert war. Wenn jedoch diese Kategorie des Entwurfs als (um mit Heidegger zu reden262) existenzial-ontologische bzw. existenzial-hermeneutische Kategorie gebraucht wird, muß damit angenommen werden, daß alle Personen einen Entwurf von sich machen. Dann kann die Kategorie in einer universal-praktischen Bedeutung verwendet werden, so daß jeder, der irgendetwas versteht, „sich versteht, sich auf die Möglichkeiten seiner selbst hin entwirft.“263 Verstehen als Seinsweise des Menschen. Man könnte auch sagen: das Leben wird verstanden. Das darf jedoch nicht heroisch interpretiert und damit mißverstanden werden. Die Notwendigkeit, das sich im Entwurf manifestierende Selbstverständnis in das Fremdverstehen zu integrieren, könnte man vielleicht mit einer Wendung Kants so ausdrücken: P1 müßte wissen, was P2 „aus sich selbst zu machen bereit ist“264, um P2 zu verstehen. Das hieß für Kant, dann auch für Fichte und Hegel: nach welchen Grundsätzen jemand handeln will, von welcher „Denkungsart“ jemand sein will oder wozu man sich mit Freiheit

262

263 264

Inwiefern Heidegger die Kategorie des Entwurfs mit Recht verwenden kann, hängt davon ab, wie gnostisch sein Denken ist (vgl. dazu Merker 1988). Jedenfalls hat Bultmann (1992, 208) in seiner Gnosis-Darstellung gezeigt, daß „der Gedanke einer Bildung nach dem Ideal der Persönlichkeit hier ganz fern (liegt)“, denn das „eigene Innere“ gilt der Gnosis „als der eigenen Macht entzogen.“ Gadamer 21965 S. 246. Kant 1798, 2. Teil, A.

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macht.265 Danach bedeutete es, eine Person zu verstehen also: zu wissen, was diese Person aus sich zu machen bereit ist. Die Voraussetzung hinter solchen Selbstverhältnissen ist die Möglichkeit einer gelingenden oder auch mißlingenden Lebensführung, die schon bei Platon an der Orientierung an geistigen oder an sinnlichen Werten gemessen bzw. bewertet wurde.266 ad (e): Die fünfte Bedingung ist: „Eine Person versteht man, wenn man weiß, wie sie sich fühlt.“ Diese Bedingung kann mindestens auf zweierlei Weise gedeutet werden, nämlich als Selbstgefühl und als Lebensgefühl. Vor einem Mißverständnis sei gewarnt: es wird weder ein Selbst noch das Leben gefühlt.267 Und mit beiden Ausdrücken soll auch nicht ein kurzer Zeitraum des Fühlens gemeint sein, den man mit „Wie-geht´s?“-Fragen abfragt. Bei beiden Begriffen muß der Unterschied zwischen einem Gefühl und einer Emotion beachtet werden (siehe oben Kap. 2.1). Das Selbstgefühl ist ein vorpropositionales und prädiskursives Gefühl, das auf der Skala zwischen Angenehmsein und Unangenehmsein variiert. Hingegen stellt das Lebensgefühl eine Emotion dar und ist damit wesentlich propositional und diskursiv strukturiert, obwohl es gefühlsmäßige Elemente enthält. Als Selbstgefühl kann hauptsächlich das mit dem jeweiligen Geschlecht verbundene Gefühl gemeint sein, also das, was mit Sätzen wie „sich in seiner Haut wohl fühlen“ ausgedrückt wird. Ebenso aber die Abweichun265

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Schon Aristoteles sagte ganz ähnlich: zu welchen moralischen im Unterschied zu intellektuellen Tugenden jemand sich entscheiden will (Nikomachische Ethik, 1106 b 36) Bultmann 1992 S. 52 schreibt: „Zwischen einem natürlichen und einem geistigen Leben unterscheidet der israelitische Fromme nicht, und er kennt nicht die griechische Frage nach der Eigentlichkeit des Lebens. Das Leben wird daher auch nicht durch ein Wie der Lebensführung - als gut oder als schlecht - charakterisiert, weil `leben´ nicht auch bedeutet `ein Leben führen´; das Alte Testament kennt das `Leben´ nur als zoe und nicht als bios, nur als vitales, nicht als geistiges Phänomen.“ Frank 2002, S. 77 nennt dieses Selbstgefühl das „Bewußtsein der Wirklichkeit des Selbst“. In ihm „waltet ein präkognitiver Seinsbezug“ (81). Und er zitiert Herder: „Ich fühle mich! Ich bin.“ (85).

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gen davon, die z. B. mit Sätzen wie „das Gefühl zu haben, in dem falschen Körper geboren zu sein“ (Transsexualität) ausgedrückt werden könnte. Weiter kann das eng mit dem körperlichen Befinden verbundene Gefühl gemeint sein - von der Fitness bis zu einer chronischen Krankheit. Auch ein körperliches Gebrechen wie z. B. Blindheit kann das Selbstgefühl beeinträchtigen, und daher wird es für einen Sehenden wohl schwierig sein, einen Blinden zu verstehen. Das Selbstgefühl wird sicher auch von der eigenen körperlichen Größe bestimmt. Zum Selbstgefühl sollte man wahrscheinlich auch das Fühlen umweltbedingter Einflüsse rechnen (Bsp.: „Frierkatze“). Als Lebensgefühl wird man sinnvollerweise das bezeichnen, was sich in einer emotionalen Einstellung zum eigenen Leben, insgesamt gesehen, ausdrückt, zeigt oder offenbart: in einer grundsätzlichen Zustimmung oder Ablehnung desselben. Hier ist wieder an den gewaltigen Spruch des Silen zu erinnern: „Das größte Unglück des Menschen besteht darin, geboren zu werden. Und das zweitgrößte darin, nicht gleich wieder zu sterben.“ Wer sich diesen Spruch aneignet, besitzt ein anderes Lebensgefühl als derjenige, der ihn brüsk zurückweist. Schopenhauer, der diesem Spruch zustimmte, meinte lapidar ökonomisch, das Leben sei ein Geschäft, das seine Kosten nicht deckt. Als nächstes und weitaus weniger provokatives Moment wären Optimismus und Pessimismus zu nennen, aber auch Melancholie und Depression. Durch sie wird das „Geschäft“ Leben nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern nur verschieden abgewickelt. Das Lebensgefühl bezieht sich aber noch auf andere Elemente: auf das eigene Lebensalter, auf die eigene gesellschaftliche Stellung, auf die Zukunftsperspektiven, auf die erworbenen Verdienste usw. Jedes dieser Elemente ist propositional strukturiert und kann deshalb sprachlich ausgedrückt werden. Schließlich sind noch Selbsthaß und Selbstliebe zu erwähnen. Es ist meines Erachtens nicht eindeutig, ob sie eher als Gefühle denn als Emotionen zu betrachten sind. Es ist evident, daß die Kenntnis des Selbstgefühls und des Lebensgefühls vom kognitiven Fremdverstehen nicht einfach ausgeschlossen werden kann. Ob sie dieses auch erleichtert oder gar behindert, ist schwer zu sagen. Aber es wäre unangebracht, wollte man verneinen, daß man eine andere Person auch dann versteht, wenn man weiß, was sie für ein Selbstgefühl und Lebensgefühl hat. Beide „Gefühle“ sind vermutlich nicht not-

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wendig miteinander verbunden, obwohl sie vermutlich immer zusammen einhergehen dürften. 5.1.2

Probleme mit den Wissensbedingungen

Wenn man sich nun die fünf Bedingungen ansieht, so stellt sich als erstes die Frage, ob sie zusammen erfüllt sein müssen oder ob sie auch einzeln erfüllt sein dürfen. Daher scheinen zwei Interpretationen des Modells des kognitiven Fremdverstehens möglich zu sein: Konjunktive bzw. starke Interpretation: P1 versteht P2 genau dann, wenn P1 weiß, (a) (b) (c) (d) (e)

warum P2 die Handlungsgründe hat, die P2 hat und weiß, was für eine Art Mensch P2 ist und weiß, welche Lebensgeschichte P2 hat und weiß, wie P2 sich selbst versteht und weiß, wie P2 sich fühlt.

Nach der konjunktiven Interpretation des kognitiven Modells impliziert also eine andere Person zu verstehen all das zu wissen, was in (a) bis (e) angegeben ist. In (a) bis (e) werden also die für diese Interpretation zusammen notwendigen und hinreichenden Bedingungen für den Wissensanspruch expliziert, der mit Aussagen der Form „P1 versteht P2“ erhoben wird. Disjunktive bzw. schwache Interpretation: P1 versteht P2, wenn P1 weiß, (a) (b) (c)

warum P2 die Handlungsgründe hat, die P2 hat oder weiß, was für eine Art Mensch P2 ist oder weiß, welche Lebensgeschichte P2 hat oder weiß,

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(d) (e)

wie P2 sich selbst versteht oder weiß, wie P2 sich fühlt.

Gemäß dieser disjunktiven Interpretation des kognitiven Modells könnte man schon dann sagen, daß P1 P2 versteht, wenn nur eine der fünf Bedingungen (a) bis (e) erfüllt ist, so daß es also für die Wahrheit von „P1 versteht P2“ ausreichen würde, daß P1 zum Beispiel nur das in (a) geforderte Wissen hat. Das sind zwei Interpretationen des Modells des kognitiven Fremdverstehens, die möglich sind. Dabei scheint mir jedoch die konjunktive Interpretation adäquater bzw. vernünftiger zu sein, gerade weil durch sie mehr erfordert wird als durch die disjunktive Interpretation. Durch diese wird dem Fremdverstehen die Erfüllung einfach zu weniger Wissensbedingungen abverlangt. Darüber hinaus stellt sich für beide Interpretationen das Problem, wodurch man zu dem geforderten Wissen gelangt. Dieses erkenntnistheoretische Problem wird in Kap. 5.1.3 erörtert. Bisher ging es ja nur um eine sinnkritische Explikation des Begriffs des kognitiven Fremdverstehens, der durch die Angabe von vernünftigen und daher auch normativen Wissensbedingungen expliziert wurde. So sollte demgemäß das kognitive Fremdverstehen gedeutet werden. Eine ganz andere Frage ist die, wie adäquat ein kognitives Modell für das Fremdverstehen überhaupt ist. (Eine Antwort auf diese Frage, die zugleich eine radikale Alternative bietet, wird in Kapitel 7 „Nichtkognitives Personenverstehen“ erörtert.) Alternativ zu diesen beiden Interpretationen der Wissensbedingungen mit ihren klassifikatorischen Verwendungen des Verstehensbegriffs wäre die Interpretation, die einen komparativen Verstehensbegriff verwendet wie z. B. den des Besserverstehens268.

268

Für von Wright 1989 S. 28 gibt es das Besserverstehen sogar schon für das Handlungsverstehen. Interessant ist derselbe Kontext: „Man versteht ihn als handelnden Menschen besser, wenn man die von ihm selbst angegebenen Gründe seiner Handlung nur als Vorwand betrachtet, und die Handlung in einer (weiteren) Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Komparative bzw. abgeschwächte Interpretation: „P1 versteht P2 zu t1 besser als zu t0, wenn P1 zu t1 alle Wissensbedingungen (a) bis (e) erfüllen kann, die P1 zu t0 noch nicht erfüllen konnte.“ Oder man könnte vorschlagen, daß statt „alle“ für ein Besserverstehen nur „mehr als zwei“ Wissensbedingungen erfüllt sein müßten. Oder man könnte für das Besserverstehen eine Gewichtung der Wissensbedingungen vorschlagen, so daß man etwa sagen könnte, daß P1 P2 besser versteht, wenn P1 die Lebensgeschichte von P2 kennt, als wenn P1 sie nicht kennt. Im Prinzip liefe es auf dasselbe hinaus, wenn man sagte, daß eine Person eine andere Person besser versteht als eine dritte. Mit einer solchen komparativen Interpretation hätte man einen kognitiven Verstehensbegriff wie z. B. den des Besserverstehens auf elegante Weise an die Erfüllung von Wissensbedingungen geknüpft. Zu beachten ist freilich, daß durch diese Interpretation das Fremdverstehen als Prozeß gekennzeichnet wird und nicht als Resultat. Die Zweiwertigkeit hätte zwar ihren Schrecken verloren, aber um den Preis, daß das endgültige Resultat des Verstehensprozesses noch nicht feststeht. (Zu dem Problem dieser Abschwächung, d. h. zu der Verwendung eines komparativen Verstehensbegriffs vgl. Kapitel 9). Mit dem kognitiven Modell des Fremdverstehens ist die Idee verbunden, daß man, um eine andere Person zu verstehen, etwas über diese bzw. von dieser Person wissen muß. Das, was man wissen muß, ist im Prinzip in den Bedingungen (a) bis (e) angegeben. Im Hinblick auf diese Bedingungen ergeben sich jedoch weitere Probleme und zwar sowohl bei der konjunktiven als auch bei der disjunktiven Interpretation. Es ist nämlich zu vermuten, daß (a) bis (e) nicht trennscharf sind. Die Wissensbedingungen (a) bis (e) scheinen nämlich nicht nur nicht voneinander logisch unabhängig zu sein, sondern im Gegenteil so etwas wie eine Rangordnung zu bilden oder jedenfalls nicht gleichwertig zu sein. Es sieht nämlich so aus, daß ein Wissen aus (a) bis (e) durch ein anderes Wissen aufgrund seines Rangs bestätigt oder ergänzt werden kann - was allerdings nur bei der konjunkPerspektive seiner Lebensgeschichte sieht.“ Mit dem Wort „Vorwand“ meint v.Wright nach Georg Meggle soviel wie „Entwurf“.

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tiven Interpretation ins Gewicht fiele. Und es stellt sich außerdem die Frage, ob die Wissensbedingungen (a) bis (e) vollständig sind. Zu prüfen ist also, ob diese fünf Bedingungen 1) trennscharf, 2) gleichwertig, 3) vollständig sind. Zu 1) Daß die fünf Bedingungen anscheinend nicht trennscharf sind bzw. sich überschneiden können, sieht man zumindest an der geringen Differenz zwischen der ersten und der zweiten Wissensbedingung. Denn wenn man z. B. weiß, daß P bei Entscheidungen unter Unsicherheit immer aus Risikoscheu handelt, dann weiß man auch etwas darüber, was für eine Art Mensch P ist. Auch die zweite und die vierte sind nicht ganz trennscharf. Denn wenn man das Selbstverständnis kennt, weiß man auch ungefähr, was für eine Art Mensch der andere ist. Zu 2) Es scheint so zu sein, daß die Wissensbedingungen (a)-(e) eine Rangordnung bilden, weil sie nicht gleichwertig sind. Das kann zum einen heißen, daß ein Wissen durch ein anderes Wissen aus diesem Bereich aufgrund seines Rangs bestätigt oder widerlegt werden kann. So hat z. B. die Kenntnis der Lebensgeschichte vom Rang her eher eine Bestätigungs- bzw. Widerlegungsfunktion gegenüber dem Wissen, was für ein Personenprädikat zutrifft und dieses wiederum gegenüber dem Wissen, warum die Person die und die Handlungsgründe hat. Es kann aber auch zum anderen heißen, daß eine der fünf Wissensbedingungen eine andere ergänzt oder voraussetzt. Es setzt z. B. das Wissen, wie eine Person sich selbst versteht, mehr oder weniger das Wissen der bewirkten Handlungsgründe und der auf die Person zutreffenden Personenprädikate (bzw. Charaktermerkmale) voraus und impliziert zur Beurteilung der Richtigkeit des Selbstverstehens auch eine Kenntnis der Lebensgeschichte. Aus dem Wissen allein, wie jemand sich selbst versteht, kann aber nicht gefolgert werden, ob dieses Selbstverstehen angemessen ist oder ob Selbsttäuschung vorliegt. Zu diesem Urteil bedarf es eben unter anderem der Kenntnis der Lebensgeschichte. Trotz der potentiellen Korrekturfunktion der Lebensgeschichte für die Beurteilung des Selbstverständnisses scheint aber diesem in vielen Fällen der höhere Rang zuzukommen. Wie schwankend hier der Boden ist,

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sieht man, wenn Habermas einmal269 die Lebensgeschichte als das „Prinzip der Individuierung“ bezeichnet, ein ander Mal270 aber sagt, daß das „Selbstverständnis die Identität des Ich“ begründet. In manchen Fällen jedoch wird man der Kenntnis der Lebensgeschichte den höchsten Rang einräumen, wie z. B. in der objektivierenden Einstellung des Historikers. Ob die Kenntnis der Selbst- und Lebensgefühle den höchsten Rang einnehmen, hängt vermutlich auch von der Situation der verstehenden Person ab und auch von der Tatsache, ob die zu verstehende Person noch lebt und auch, ob man sie erlebt. Für einen Psychotherapeuten kommt diesem Wissen wahrscheinlich der höchste Rang zu. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Wenn (a) bis (e) nicht gleichwertig sind, dann wird die disjunktive Interpretation des kognitiven Modells des Personenverstehens unakzeptabel. Das kognitive Modell des Personenverstehens muß also konjunktiv interpretiert werden, damit es akzeptabel wird. Damit werden jedoch hohe Hürden für ein kognitives Fremdverstehen aufgebaut.271 Zu 3) Es ist die Frage, ob die fünf Bedingungen vollständig sind. Jemand könnte zum Beispiel verlangen, daß auch noch gewußt werden müßte, wie man mit der zu verstehenden Person P umzugehen hat. Aber mit dieser Forderung hätte man das rein kognitive Modell verlassen. Es wäre dann kein zusätzliches Wissen-daß erforderlich, sondern ein Wissen-wie, ein Können, ein Sich-mit-jemandem-verstehen-Können. Doch eine solche Forderung ist z. B. für die Verstehensleistung des Historikers ganz unerheblich. Es wäre dann die Möglichkeit des Verstehens toter Personen verbaut.

269 270 271

Vgl. 1988, S. 203 Vgl. 1988, S. 207 Für Dilthey a.a.O. V. Bd. hatte das Fremdverstehen, in dem durch Analogieschlüsse unser eigenes Seelenleben in das fremde übertragen (S. 198) wird, nicht nur „Mängel“, sondern er sah sich auch der Schwierigkeit gegenüber, daß der „seelische Strukturzusammenhang“ auch ein „Zweckzusammenhang“ ist, der „Lebensfülle, Triebbefriedigung und Glück zu erwirken die Tendenz hat.“ (a.a.O. S 207). Im Fremdverstehen müssen also die Präferenzen innerhalb dieses Zweckzusammenhangs erkannt werden.

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Nach diesen Erläuterungen zu der Verwobenheit bzw. Kontextualität des Wissens von Gründen von Handlungsgründen, Lebensgeschichten, Personenprädikaten, Selbstverstehen und Selbst- und Lebensgefühlen möchte ich die Frage, was „P1 versteht P2“ heißt, zusätztlich ex negativo erörtern. Es könnte ja sein, daß die Frage dadurch beantwortet werden kann, daß man sich Gedanken darüber macht, unter welchen Bedingungen eine Person P1 eine Person P2 nicht versteht und unter welchen Bedingungen P1 P2 mißversteht. Wenn z. B. keine der Bedingungen (a) bis (e) erfüllt wäre, könnte jedenfalls gemäß der disjunktiven bzw. schwachen Interpretation aus dem vorigen Kapitel eine Aussage der Form „P1 versteht P2“ nicht wahr sein, und gemäß der konjunktiven bzw. starken Interpretation wäre eine Aussage dieser Form falsch, wenn nicht alle Bedingungen erfüllt wären. Aber wann würde man sagen: „P1 versteht P2 nicht“ und wann: „P1 mißversteht P2“? Nun wurde schon in Kapitel 4. über den grundlegenden Unterschied zwischen Nichtverstehen und Mißverstehen gesprochen. Dieser Unterschied kommt hier (bei der Diskussion des kognitiven Modells) wieder zum Tragen bzw. er läßt sich abbilden auf mehrere hier mögliche Situationen, nämlich auf Situation S1: Mißverstehen: Angenommen, P1 glaubt oder behauptet all das zu wissen, was gemäß (a) bis (e) von P1 an Wissen über P2 gefordert wird, aber weiß es nicht. Kommentar zur Situation S1: Wenn von P1 keine der fünf Wissensbedingungen erfüllt werden, dann könnte man von einem Mißverstehen sprechen, wenn man die konjunktive Interpretation zugrunde legt. Sicher würde P1 nicht der Titel zuerkannt werden können, daß P1 P2 versteht, wenn P1 sich von (a) bis (e) irrt. Aber selbst bei der Aberkennung des Titels käme es noch auf das Maß oder die Stärke des Irrtums an: also z. B. darauf, ob P1 „voll daneben liegt“ oder nicht, wobei vorausgesetzt wäre, daß P1 sich angestrengt hat, P2 zu verstehen und dabei auch die Rangordnung beachtet hat. Dennoch gilt gegen eine solche Redeweise vom Mißverstehen das generelle Bedenken, daß es keine unumstrittenen Kriterien des Gelingens und des Mißlingens für das Fremdverstehen gibt, mag die konjunktive Interpretation des kognitiven Modells auch noch so akzeptabel sein.

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Situation S2: Nichtverstehen: Angenommen, P1 glaubt oder behauptet von keiner dieser Bedingungen, sie im Hinblick auf P2 erfüllen zu können. Kommentar zur Situation S2: Wenn P1 einfach nichts über P2 zu wissen beansprucht, was in (a) bis (e) angegeben ist, dürfte man höchstens von einem Nichtverstehen sprechen - in Analogie zu einem Nichtwissen oder zur Unwissenheit in bezug auf bestimmte Sachverhalte. Angemessener schiene es jedoch, in solchen Situationen den Begriff des Verstehens gar nicht erst ins Spiel zu bringen, besonders dann nicht, wenn P1 gar nicht daran interessiert war, P2 zu verstehen. Situation S3: teilweises Verstehen: Angenommen, P1 erfüllt nur zwei Wissensbedingungen und hat drei andere außer acht gelassen. Kommentar zur Situation S3: Wenn nicht alle Wissensbedingungen, sondern nur zwei wie z. B. (b) und (c) erfüllt wären, könnte man plausiblerweise weder von einem „Mißverstehen“ noch von einem „Nichtverstehen“ sprechen, allenfalls von einem „teilweisen Verstehen“. Denn wenn man jemandem korrekt ein Personenprädikat und das Haben einer bestimmten Lebensgeschichte zuschreibt, dann könnte von einem teilweisen Verständnis gesprochen werden. Wie berechtigt eine solche Redeweise wäre, hinge aber auch wieder davon ab, ob man z. B. über das Selbstverstehen von P2 etwas weiß oder nur etwas zu wissen glaubt, aber sich dabei irrt. Bei der gerechtfertigten Verwendung dieses Begriffs des teilweisen Verstehens käme es also wesentlich darauf an, welche wissenswerten Bereiche gewußt würden, das heißt ob die Rangordnung von (a)-(e) beachtet würde. Situation S4: teilweises Mißverstehen: Angenommen, P1 glaubt (a) und (b) zu erfüllen, irrt sich aber. Kommentar zur Situation S4: Käme es bei einem Irrtum über die Gründe der Handlungsgründe nicht auch darauf an, wie lebensbedeutsam die Handlungen sind und bei einem Irrtum über ein Personenprädikat nicht

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auch darauf, um was für ein Personenprädikat es sich handelte? Und könnte nicht ein zeitweiliger Irrtum darüber, warum die Person die und die Handlungsgründe hat, sowie darüber, welches Personenprädikat auf sie zutrifft, mit dem Anspruch verträglich sein, die Person doch zu verstehen, falls man ihre Lebensgeschichte und ihr Selbstverständnis kennt? Oder angenommen, P1 wüßte im Hinblick auf P2 das, was in (c), (d) und (e) gefordert wird. P1 kennte also die Lebensgeschichte, das Selbstverstehen und die Gefühlslagen von P2. Und dieses Wissen stünde nun auf irgendeine Weise im Widerspruch zu (a) und (b), worüber sich P1 irrt. In diesem Fall würde man umgangssprachlich vielleicht sagen, daß P1 „irgendwie schief liegt“ und damit meinen, daß hier ein teilweises Mißverstehen vorliegt. Situation S5: relative Unverständlichkeit Angenommen, es wäre unmöglich, daß P1 weiß, wie P2 sich selbst versteht; aber P1 verfügt über das Wissen (a), (b), (c) und (e). Kommentar zur Situation S5: In diesem Fall würde man weder sagen wollen „P1 versteht P2 nicht“ noch „P1 mißversteht P2“, sondern eher so etwas wie „P1 versteht P2 nicht ganz“. Es könnte ja der Fall sein, daß die Verstehensversuche noch nicht abgeschlossen sind oder daß P2 sich beharrlich weigert oder daß es logisch unmöglich ist, sein/ihr Selbstverstehen preiszugeben. Situation S6: absolute Unverständlichkeit Angenommen P1 hat das Wissen von (a) bis (e), aber P2's Selbstverstehen beruht auf einer Selbsttäuschung oder einer Lebenslüge, und P1 weiß das nicht. Kommentar zur Situation S6: Auch dann würde man vielleicht weder sagen wollen „P1 versteht P2“noch „P1 mißversteht P2“, weil das hier keine vollständige Alternative bildete. Genauso berechtigt könnte in diesem Fall dem Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch zum Trotz gesagt werden: „P1 versteht und mißversteht P2“. Oder aber vielleicht auch: „P2 ist P1 unverständlich“. Die beiden letzten Situationen sind zwar verschieden, aber im Hinblick auf das Mißlingen des Verstehens nicht leicht auseinanderzuhalten. Bei dem

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Personenverstehen droht immer die Gefahr, daß der Unterschied zwischen Nichtverstehen und Mißverstehen verschwimmt. Denn wir reden von einem Mißverstehen im allgemeinen nur dann, wenn wir Kriterien für die Erkenntnis haben, ob ein Mißverstehen vorliegt oder nicht. Solche Kriterien haben wir im großen und ganzen bei dem Sprachverstehen, weil wir es dort mit lehr- und lernbaren Konventionen zu tun haben, die uns in gewissem Grad ein Richtigverstehen von einem Mißverstehen unterscheiden helfen. Aber für die in den Situationen S5 und S6 geschilderten und mißlingenden Verstehensversuche haben wir aufgrund mangelnder Konventionen keine Kriterien, um nun genau zu unterscheiden, ob es sich um ein Nichtverstehen, ein Mißverstehen, ganz oder teilweise, oder um relative oder absolute Unverständlichkeiten handelt. Man könnte auch sagen: die Sprache läßt uns hier im Stich. Solche verschiedenen möglichen Situationen induzieren offenkundig Vagheiten in der Verwendung des Verstehensbegriffs. Aber sie zeigen auch ein Sträuben an, die disjunktive Interpretation des kognitiven Modells des Personenverstehens völlig zu verwerfen, auch wenn einige Situationen derartig gelagert sein mögen, daß man nicht um jeden Preis an der konjunktiven Interpretation des kognitiven Personenverstehensmodells festhalten will. Doch es spricht viel für einen starken, inhaltsreichen Verstehensbegriff, durch den ausgeschlossen werden kann, daß manche Personen leichtfertig behaupten können, sie hätten eine Person vestanden. Außerdem ist es auch wichtig, daß es sich bei dem kognitiven Verstehensbegriff um ein Wissen-daß handelt und nicht nur um einen Glauben, der kein Wissen ist. Und so ist ein Glauben, zu verstehen, nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für Verstehen. 5.1.3

Beobachtung, Deutung, Voraussage

Wie kommt nun eine verstehen wollende Person zu dem Wissen, das in den Bedingungen (a) bis (e) angegeben worden ist? Es geht hier also darum, wie man diese Wissensbedingungen erfüllen kann. Auf welche Weise, d. h. mit welchen Verfahren oder Schritten gelangt man dazu, das fremde und das eigene mentale System (Bewußtsein, Denken usw.) zu erkennen? Bei diesen Verfahrensschritten muß es sich nicht im engeren

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Sinne um wissenschaftliche Methoden handeln wie z. B. die Methoden der empirischen Sozialforschung oder der Psychoanalyse.272 Die bei dem Fremdverstehen anzuwendenden Verfahren müssen natürlich von den Verfahren des Selbstverstehens unterschieden werden. Bei dem Fremdverstehen sind im Prinzip drei Verfahren zu vollziehen. Die folgenden drei Punkte (1)-(3) bezeichnen diese Verfahren. Es handelt sich (1) um die Deutung des beobachteten SprachHandelns, (2) um das deutende Beobachten von Mimik und Gestik und (3) um Prognosen aus diesem Beobachten und Deuten. Die Verfahren (1) und (2) sind dabei vertauschbar, obwohl sie oft notwendigerweise simultan vollzogen werden. Ein Fremdverstehen kann mit Verfahren (1) beginnen, ebenso gut aber mit (2). (3) stellt in dem Sinne kein eigenständiges Verfahren dar, da es nicht ohne (1) oder (2) vollzogen werden kann. Wenn es sich bei der zu verstehenden Person um eine lebende handelt, wäre Verfahren (3) zur Optimierung des Verstehens aus evidenten Gründen unverzichtbar. Handelte es sich dagegen um eine tote Person, so wäre es überflüssig. Wenn diese Person jedoch schriftliche Zeugnisse hinterlassen hätte, so wäre Verfahren (1) dann nicht überflüssig, wenn diese Zeugnisse noch auszuwerten wären. In diesem Sinne hängt das Personenverstehen, jedenfalls als Fremdverstehen, von einer gleichsam empirischen Datenbasis ab. Es handelt sich jedoch eher um eine semantisch-hermeneutische Datenbasis. Und die Abhängigkeitsrelation sollte nicht als einseitig, sondern als wechselseitig aufgefaßt werden, wie in Kapitel 8 dargetan wird. Mißverständlich oder verkehrt wäre die Auffassung, das Fremdverstehen in Analogie zu Theoriebildung auf empirischer Basis zu sehen, so daß die zu verstehende

272

Die Verwendung wissenschaftlicher Methoden soll aber für das Personenverstehen auch nicht ausgeschlossen werden. Die Assoziation von Objektivität und Wahrheit von Ergebnissen, die mithilfe von wissenschaftlichen Methoden auf allen Gebieten erzielt werden können, ist trügerisch.

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Person quasi die Theorie darstellt, die auf der Basis ihrer Äußerungen und Handlungen errichtet wird.273 Zu (1): Das Deuten von P2's SprachHandeln durch P1 ist (nach dem kognitiven Modell) für das Fremdverstehen primär gegenüber dem in (2) Folgenden. Dieses Verfahren schließt viele Regeln ein: P1 muß z. B. die Sprechakte von P2 interpretieren. Dabei muß P1 P2 faktische wie kontrafaktische, mentale und intentionale Zustände bzw. propositionale Einstellungen zuschreiben - und zwar die für P2 relevanten auf richtige Weise.274 Um z. B. zu wissen, welche Überzeugungen jemand hat, muß man wissen, welche Sätze er für wahr hält.275 Es bedarf keiner Begründung 273

274

275

Vgl. Schopenhauer, Parerga II, 1, 251f, der das umgekehrte Verfahren für möglich hielt: „Zu bewundern ist es, wie die Individualität jedes Menschen (d. h. dieser bestimmte Charakter mit diesem bestimmten Intellekt)...alle Handlungen und Gedanken desselben, bis auf die unbedeutendeste herab, genau bestimmt...wie Cuvier aus Einem Knochen das ganze Tier konstruierte, so kann man aus Einer charakteristischen Handlung eines Menschen eine richtige Kenntniß seines Charakters erlangen, also ihn gewissermaaßen daraus konstruieren; sogar wenn diese Handlung eine Kleinigkeit betrifft; ja, dann oft am besten; denn bei wichtigern Dingen nehmen die Leute sich in Acht; bei Kleinigkeiten folgen sie, ohne vieles Bedenken, ihrer Natur.“ „Wirklich ist die Grundlage und Propädeutik zu aller Menschenkenntniß die Überzeugung, daß das Handeln des Menschen, im Ganzen und Wesentlichen, nicht von seiner Vernunft und deren Vorsätzen geleitet wird, sondern aus seinem angeborenen und unveränderlichen Charakter geht sein Thun hervor, wird näher und im Besonderen bestimmt durch die Motive, ist folglich das nothwendige Produkt dieser beiden Faktoren.“ Es muß auch der eher seltene Fall berücksichtigt werden, daß eine Person etwas sagt und das, was sie sagt, kaum falsch ist. Aber die Art und Weise, wie sie es sagt, kann falsch sein. Das heißt: ihre Rede kann z. B. einen totalen Affront darstellen. So erging es einst dem früheren Bundestagspräsidenten Jenninger. In so einem Fall muß also das Verstehen weit über das wörtliche Verstehen hinausgehen und den ganzen Kontext der Rede, also auch alle perlokutionären Effekte, berücksichtigen. Davidson 1986a S. 334 beschreibt die Interdependenz zwischen Bedeutungsverstehen und Überzeugungserkenntnis: „Überzeugungen lassen sich im allgemeinen nicht feststellen, ohne daß man die Sprache des Betreffenden beherrscht; und die Sprache eines Menschen können wir nicht beherrschen lernen, ohne eine Vielzahl seiner Überzeugungen zu kennen.“ „Um sprachliches Verhalten zu interpretieren, müssen wir imstande sein anzugeben, wann ein Sprecher einen von ihm geäußerten Satz für wahr hält. Doch Sätze werden zum Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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dafür, daß bei dem Verstehen von Sprechakten jede Menge Voraussetzungen und Implikationen eine Rolle spielen, die hier nicht einmal angedeutet werden können, sondern auf die nur per Fußnote verwiesen wird.276 Beim SprachHandeln ist derjenige Bereich Gegenstand des Verstehens, der die Intentionalität der zu verstehenden Person ausmacht, so wie sie besonders in ihren propositionalen Einstellungen sprachlich zum Ausdruck kommt.277 Das kognitive Modell des Personenverstehens (sowohl des Fremdverstehens als auch des Selbstverstehens) beruht auf der Vorausetzung, daß sich Intentionalität wesentlich, aber nicht ausschließlich, als Propositionalität278 äußert bzw. sich durch die Verwendung sprachlicher Ausdrücke offenbart. Frank greift diesen Punkt unter Verweis auf Tugendhat auf: „Die von der sprachanalytischen Philosophie so genannte propositional attitude ist die Grundform alles intentionalen Bewußtseins, auch des Selbstbewußtseins. Auch von mir selbst gilt, daß, wenn ich auf meine inneren Zustände reflektiere, ich es tue in der Weise: `Ich weiß (oder fühle oder ahne oder verstehe usw.), daß ich p´.“279 Aber weder hat Bewußtsein immer, wie Tugendhat (in „Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung“, S. 21) behauptet, die Struktur „Bewußtsein, daß p“ noch ist diese Struktur immer impliziert. Nicht jedes intentionale

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Teil aufgrund von Überzeugungen und zum Teil aufgrund dessen, was der Sprecher mit seinen Worten meint, für wahr gehalten. Das Problem der Interpretation besteht also darin, aus dem Muster der Sätze, denen der Sprecher auf die Dauer zustimmt, gleichzeitig die Rollen der Überzeugung und die der Bedeutung zu abstrahieren.“ Vgl. dazu nur etwa Meggles Reader über „Handlung, Kommunikation, Bedeutung“ von 1994 Vgl. Scholz 22001 Vgl. dazu Schnädelbach 2004 Frank 1986 S. 73. Tugendhat schrieb 1976 S. 103: „Der Nachweis, daß alles intentionale Bewußtsein propositional ist, gibt dem sprachanalytischen Programm einer Satztheorie einen zusätzlichen historischen Stellenwert: wie die Frage der Ontologie nach dem Seienden als Seienden aufgeht in der Frage nach dem Verstehen des Satzes, so geht auch die Frage nach dem Bewußtsein auf in die Frage nach dem Satzverstehen. Freilich gilt das nur für das Bewußtsein im Sinne der Intentionalität, nicht für die nichtgegenständlichen Bewußtseinsweisen.“

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Bewußtsein ist propositional280: man kann nicht nur Sachverhalte fürchten (wie z. B. den, daß man nicht mehr geliebt wird), sondern auch Personen.281 Zu (2): Es dürfte sich von selbst verstehen, daß die nicht-propositionale Intentionalität bzw. Phänomenalität (z. B. der Erlebnisse), aber auch die gegenständlichen Bewußtseinsweisen (z. B. das Jemanden-Bemitleiden), für das Fremdverstehen nicht unberücksichtigt gelassen werden dürfen, soweit sie beobachtbar sind. Das Beobachten von P2's Mimik und Gestik durch P1 kommt natürlich in der Kommunikation mit lebenden Personen besonders zum Tragen. Sofern es sich um das Verstehen nicht mehr lebender Personen handelt, könnte die Betrachtung von Abbildungen dieser Personen relevant sein.282 Dieses Beobachten ist jedoch zugleich bekanntermaßen ein Deuten, was in der Alltagskommunikation auch nicht unterschätzt wird.283 Selbstverständlich folgt aus der Wichtigkeit des Interpretierens von Mimik und Gestik nicht, daß diese Interpretationen umstandslos mit den propositionalen Gehalten vereinbart werden können, die von einer Person in Sätzen geäußert werden. Außerdem kann diese Art der Intentionalität aus Mimik und Gestik kaum abgelesen werden284, denn: „There's no art to find the mind's construction in the face.“ (Shakespeare, Macbeth, Akt I, Szene IV)285. (In Ausnahmefällen kann das Verstehen von Mimik und Gestik sogar für das Selbstverstehen eine Rolle spielen - etwa bei Ballettänzern, die sich beim Üben im Spiegel beobachten). In Gestik und Mimik äußert bzw. entäußert sich auch Mentales wie Stimmungen,

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Vgl. Schildknecht 2001, die meint, daß das Propositionale generell auf dem Nichtpropositionalen basiere. Vgl. Searle 1983 Vgl. Genazino (1993) über eine Fotografie von Kafkas Gesicht. Vgl. Kundera 1992 S. 14: „die Geste ist individueller als ein Individuum...Eine Geste läßt sich weder als Ausdruck des Individuums noch als dessen Schöpfung betrachten...“ Wittgenstein 1984, Bd. 8, § 227: „Es ist sonderbar: Unser Verstehen einer Geste möchten wir durch ihre Übersetzung in Worte erklären, und das Verstehen von Worten durch Übersetzung in eine Geste. (So werden wir hin und her geworfen, wenn wir suchen wollen, wo das Verstehen eigentlich liegt).“ Vgl. Kundera 1992, S. 21, der den „Glauben, daß unser Gesicht unser Ich ausdrückt“, eine „Urillusion“ nennt.

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Emotionen usw.286, und so spielen diese leibgebundenen Expressionen eine zusätzliche Rolle für das Verstehen von P2 durch P1287, wenn etwa die Mimik der geäußerten Intentionalität widerspricht oder diese verstärkt. Gewiß hat man sich schon vor und nach Shakespeare ähnlich skeptisch zu der Deutbarkeit der Mimik geäußert. Physiognomie ist nicht theoriefähig, wie das auch Lichtenberg288 prosaisch verkündete: „Wir urtheilen stündlich aus dem Gesicht, und irren stündlich.“ In dem Sokrates-Buch von Ekkehart Martens beschäftigt dieser sich mit dem „Bild des weisen Silen“ anhand von Abbildungen bekannter Sokrates-Büsten und -Statuen, um sich eine Vorstellung von Sokrates' Aussehen zu machen, doch: „... das Gesicht und die Gestalt des Sokrates sprechen nicht für sich; aus ihnen läßt sich nicht unmittelbar ablesen, wie er gelebt und was er gedacht hat.“ „Die Bilder des Sokrates ermöglichen uns also nur in einer mehrfachen Brechung einen ersten Eindruck in seine Sache. Auch das Verstehen der Bilder des Sokrates bewegt sich nicht anders als das Verstehen von Textaussagen im hermeneutischen Zirkel von Verständnis und Vorverständnis.“289 Zu (3): Es dürfte auch eine hermeneutische Selbstverständlichkeit sein, daß die Richtigkeit der Verstehensversuche anhand ihrer prognostizierten Konsequenzen überprüft werden muß. Wenn P1 P2's SprachHandeln verstehen will, muß P1 P2 auch zukünftige mental-intentionale Zustände zuschreiben. Um ein vielleicht triviales Beispiel zu geben: P1 muß bei einem Verhör prognostizieren, welche Fragen von P2 wohl bejaht und welche verneint werden. Aber trivialerweise gilt dasselbe für jede sprachli-

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Wittgenstein 1984 Bd. 8, § 320: „Das Bewußtsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern, und sieh das Bewußtsein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinston.“ (kursiv von L.W.). Wittgenstein 1984 Bd. 8, § 225: „`Man sieht Gemütsbewegung.´- Im Gegensatz wozu? - Man sieht nicht die Gesichtsverziehungen und schließt nun (wie der Arzt, der eine Diagnose stellt) auf Freude, Trauer, Langeweile. Man beschreibt sein Gesicht unmittelbar als traurig, glückstrahlend, gelangweilt, auch wenn man nicht im Stande ist, eine andere Beschreibung der Gesichtszüge zu geben. - Die Trauer ist im Gesicht personifiziert, möchte man sagen. Dies gehört zum Begriff der Gemütsbewegung.“ Lichtenberg 1778, S. 283 Martens 1986, S. 24

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che Kommunikation, also für jede sich im Dialog fortsetzende Intentionalität. Das Befragen setzt evidentermaßen voraus, daß das, was eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt glaubt, von ihr zu eben demselben Zeitpunkt gewußt werden können muß oder daß sie sich das bewußt machen und äußern kann, was sie glaubt, auch wenn das Geglaubte, d. h. der von ihr geglaubte Sachverhalt p ihr vor der Befragung nicht bewußt war. Vielleicht meint von Kutschera das, wenn er sagt: „Gegenwärtige Sachverhalte eigenen Glaubens sind für mich unproblematisch; sie bestehen genau dann, wenn ich glaube, daß sie bestehen.“290 Daß dieses Unproblematischsein nicht für alle mentalen Sachverhalte gelten kann, ist offensichtlich. Für vergangene oder zukünftige mentale Sachverhalte kann kein Sprecher/Denker Unfehlbarkeit reklamieren: das Gedächtnis ist nicht irrtumsfrei, und niemand kann die nichttriviale Zukunft vorhersehen. Doch der wirklich springende Punkt ist, daß das Unproblematischsein sich nur auf den Zeitpunkt des Glaubens bezieht, jedoch nicht auf den Inhalt des Glaubens. Angenommen, ich glaube, x sei doof, und ich sage, wenn ich gefragt werde, was ich von x glaube: „x ist blöd“. Habe ich damit genau das geäußert, was ich geglaubt habe oder etwas Verschiedenes? Die Antwort ist kompliziert und hängt unter anderem davon ab, welche Kriterien für die Selbigkeit bzw. Identität von Glaubensinhalten angenommen werden, oder um es weniger mißverständlich zu sagen, von Meinungen oder Überzeugungen. Wann sind zwei Meinungen oder Überzeugungen dieselben?291 Dafür gibt es in den normalen, sogenannten natürlichen, Sprachen und in der mit ihnen verwobenen Alltagspsychologie keine Kriterien, jedenfalls keine eindeutigen. Erschwerend kommt hinzu, daß eine Person während der Befragung, obwohl sie nicht lügen will, etwas sagt, was sie so, wie sie es gesagt hat, dann doch nicht (mehr) glaubt oder zu glauben vorgibt, etwa weil ihr die Worte irgendwie unpassend zu ihrer Meinung oder Überzeugung vorkommen. Und unpassend müssen sie ihr nicht deswegen vorkommen, weil diese Person von der waghalsigen Theorie überzeugt ist, Geglaubtes, Meinungen und Überzeugungen existierten sprachfrei in ihrem (und anderer Leute) Kopf, sondern weil sie 290 291

von Kutschera 1993, S. 211 Vgl. dazu Kemmerling 1990

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bemerkt, daß die gerade geäußerten Wörter doch nicht die waren, die sie äußern wollte, weil sie in Gedanken an die Verwendung anderer Wörter zur Beschreibung von x gedacht hatte. Es könnte z. B. sein, daß diese Person Blödheit für eine noch negativere Eigenschaft als Doofheit hält und erschrickt, als sie hört, was sie über x sagt. Daher kann nur der Zeitpunkt des Glaubens, daß etwas der Fall ist, sowie das Abfragen des Geglaubten unproblematisch sein, aber nicht das Geglaubte bzw. der Inhalt des Glaubens, der Meinung oder der Überzeugung. Eine Interpretation sprachlichen, aber auch nicht-sprachlichen Handelns erfordert Prognosen über zukünftiges SprachHandeln. Die vielgescholtene Berechenbarkeit292 von Personen293, die einen unerläßlichen Parameter für das Fremdverstehen darstellt, erweist sich immer nur in der Zukunft als richtig oder nicht richtig. Die Berechenbarkeit bemißt sich an den prognostizierten Varianzen und Invarianzen der Intentionalität bzw. Mentalität (wie Emotionen, Stimmungen etc.) und wird an dem prognostizierten SprachHandeln oder dem einfachen leiblichen Verhalten überprüft. Wie 292

293

Vgl. zu der „langen Geschichte“ von der Art, „ein Tier heranzuzüchten“...und es „berechenbar zu machen“ Nietzsche, 1887, „Zur Genealogie der Moral“, Zweite Abhandlung, 2. Dieses Thema greift Heidegger in seiner 1939 gehaltenen Nietzsche-Vorlesung auf. In deren veröffentlichter Version (Pfullingen 1961) kritisiert Heidegger in dem Kapitel „Verständigung und Berechnung“ das Modell intersubjektiver Verständigung, das als „Rechnenkönnen auf den (anderen) Menschen“ (Bd. 1, 580) erscheint, als falsch oder zumindest defizitär. Doch hier hat Heidegger vermutlich die metaphorische Redeweise von „Berechnung“ bzw. „berechenbar“ im Kontext des Personenverstehens außer acht gelassen. Was bei Nietzsche vermutlich gemeint ist, ist soviel wie „(rationale) Erwartung“ bzw. „(rational) erwartbar“. Eine Erwartung ist im Prinzip diskursiv (begrifflich darstellbar) und nicht etwa intuitiv (und begrifflich nicht darstellbar). Aber schon Dilthey sagte in a.a.O. VII. Bd. S. 210 f zu recht: „Aus dem Verkehr des praktischen Lebens entstehen aber auch selbständige Anforderungen zu Urteilen über Charakter und Fähigkeiten des einzelnen Menschen. Wir rechnen beständig mit Deutungen von einzelnen Gebärden, Mienen, Zweckhandlungen oder zusammengehörenden Gruppen von solchen; sie vollziehen sich in Schlüssen der Analogie; aber unser Verständnis führt weiter; Handel und Verkehr, gesellschaftliches Leben, Beruf und Familie weisen uns darauf hin, in das Innere der uns umgebenden Menschen Einblick zu gewinnen, um festzustellen, wie weit wir auf sie rechnen können.“ Vgl. Köhler/ Mutschler 2003

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prekär die Berechenbarkeit oder Voraussagbarkeit ist, zeigt uns Wittgenstein: „Gibt es über die Echtheit des Gefühlsausdrucks ein `fachmännisches´ Urteil? - Es gibt auch da Menschen mit `besserem´ und Menschen mit `schlechterem´ Urteil. Aus dem Urteil des besseren Menschenkenners werden, im allgemeinen, richtigere Prognosen hervorgehen. Kann man Menschenkenntnis lernen? Ja; Mancher kann sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch Erfahrung. ... Was man lernt, ist keine Technik; man lernt richtige Urteile. Es gibt auch Regeln, aber sie bilden kein System, und nur der Erfahrene kann sie richtig anwenden. Unähnlich den Rechenregeln. ... Das Schwierige ist hier, die Unbestimmtheit richtig und unverfälscht zum Ausdruck zu bringen. ... Man kann wohl durch die Evidenz davon überzeugt werden, daß Einer sich in dem und dem Seelenzustand befinde, daß er sich z. B. nicht verstellt. Aber es gibt hier auch `unwägbare´ Evidenz. ... Zur unwägbaren Evidenz gehören die Feinheiten des Blicks, der Gebärde, des Tons.“294

Es wurde im übrigen behauptet, daß beim Fremdverstehen die notwendige Bezugnahme auf Zukünftiges immer den epistemischen Sinn einer Vermutung bzw. einer Hypothese habe, während sie beim Selbstverstehen in der Regel den moralisch-praktischen Sinn einer Bürgschaft gegenüber Dritten habe295. Dieser Unterschied kann jedoch angezweifelt werden. Denn es läßt sich eine Situation denken, in der jemand vor einer existentiellen Entscheidung, die er auf sich zukommen sieht, zu sich selbst sagt: „Ich vermute, ich werde mich dann für x entscheiden.“ Diese Person verhielte sich damit so, als betrachtete sie sich selber hypothetisch. Es muß nun die Problematik des am meisten ins Auge fallenden Verfahrensschritts nochmals aufgegriffen und vertieft werden, nämlich die Problematik des Verstehens des SprachHandelns. Dabei soll die Wissensbedingung (c) in den Vordergrund gestellt werden. Die Nützlichkeit der Kenntnis der Lebensgeschichte kann für das Fremdverstehen nicht bezweifelt werden, aber doch die Annahme, ihre Vermittlung sei unproblematisch. Denn die Verstehbarkeit einer erzählten Lebensgeschichte kann trotz lexikalischen Verstehens der Wörter durch ein semantisch-pragmatisches Unverständnis eingeschränkt oder verhindert werden, was Kundera, wie schon zitiert, plastisch so schildert: 294 295

Wittgenstein 1984, Bd. 1 (PU), S. 574 ff. Vgl. Bd. 7, S. 323, Nr. 607 Pettit 1978 S. 55. Vgl. auch Habermas a.a.O. 207 ff.

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„Er hörte sich ihre Lebensgeschichte begierig an, und sie hörte ihm genauso begierig zu. Sie verstanden zwar die Bedeutung der Wörter, die sie einander sagten, doch das Rauschen des semantischen Flusses, der diese Wörter durchströmte, konnten sie nicht hören.“296

Der Grund besteht nach Kundera darin, daß durch jede Lebensgeschichte so etwas wie ein Idiolekt erzeugt wird, der Mißverständnisse beim Verstehen der jeweils anderen Person zulassen oder solche gar erzeugen kann. Kundera suggeriert, daß Mißverständnisse nur dann vermieden werden können, wenn zwei Personen ihren Idiolekt in einer gemeinsamen Jugend erworben und so eigentlich nur einen haben: „Solange die Menschen noch jung sind und die Partitur ihres Lebens erst bei den ersten Takten angelangt ist, können sie gemeinsam komponieren und Motive austauschen ... Begegnen sie sich aber, wenn sie schon älter sind, ist die Komposition mehr oder weniger vollendet, und jedes Wort, jeder Gegenstand bedeuten in der Komposition des einzelnen etwas anderes.“297

So gesehen würde das an das Verstehen der erzählten Lebensgeschichte geknüpfte Fremdverstehen wahrscheinlich nur selten vorkommen oder unmöglich sein, wenn die beteiligten Personen „schon älter sind“ oder verschieden alt sind. Diese Schwierigkeit ist vielleicht dann am deutlichsten zu erkennen, wenn die Erzählung der Lebensgeschichte in der Form einer Autobiographie so lange zurückliegt, daß die beteiligten Personen durch Generationen getrennt sind (Vgl. Kapitel 6).

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1987 S. 86 - kursiv von WRK. Auch bei Frank 1986 S. 100 kommt das Bild des semantischen Flusses vor; es wird aber zur Interpretation der Semantik abgelehnt, denn: „Die Semantik ist von der Zeitstruktur der Person nicht betroffen“, obwohl es ein paar Sätze weiter heißt: „daß die Semantik von Ausdrücken selbst eine Funktion des Weltentwurfs einer Person ist.“ (a.a.O. S. 101). a.a.O. S. 86. Die musikalische Metaphorik findet sich schon bei Wilhelm von Humboldt: „Die Menschen verstehen einander...dadurch, daß...sie die dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen...“ (zit. Nach Apel 1955 S. 169 f), ebenfalls auch bei Dilthey a.a.O., VII.Bd., S. 272 ff. Und Wittgenstein 1984, Bd. 7, I 1078 analogisiert einerseits: „Verstehen eines Musikstücks - Verstehen eines Satzes“; andererseits (a.a.O. II, 568) reflektiert er wie Kundera: „Wenn das einzige Mittel, den Andern zu verstehen, wäre, die gleiche Erziehung wie er durchzumachen, - was unmöglich ist.“

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Wenn eine Person P2 einer Person P1 ihre Lebensgeschichte selber erzählt, dann könnte P1 unter Umständen aus einem Vergleich mit P2's Selbstverständnis folgern, ob dieses Selbstverstehen angemessen ist oder ob Selbsttäuschung298 vorliegt. Für diesen Vergleich muß P1 annehmen, daß die Erzählung der Lebensgeschichte stimmt. Und wenn P2's Selbstverstehen stimmt, wird P2 in der Regel auch eine wahre Lebensgeschichte erzählen. Vom Rang her scheinen wahre Selbstzuschreibungen von Lebensgeschichten eine große Bedeutung zu haben. Denn mithilfe von solchen Geschichten erzählt eine Person nicht nur, daß sie sich so-und-so verhalten hat, sondern auch wie sie sich unter ähnlichen Umständen verhalten würde. Insofern haben Erzählungen von Lebensgeschichten einen Bezug zur Zukunft. Sie enthalten implizit kontrafaktische Elemente. Wenn hingegen nicht P2 selber299, sondern P1 die Lebensgeschichte von P2 rekonstruiert oder in einer Biographie fixiert, müssen evidentermaßen auch verifikationistische Anforderungen erfüllt werden, obwohl diese nicht ausreichen. Denn es würde für P1's Fremdverstehen nicht genügen, nur P2's empirisch erfaßbare Daten (wie z. B. P2's raum-zeitliche Weltlinie) zu kennen, wodurch P2 ja nur numerisch, aber nicht qualitativ identifiziert würde. Daher ist Henrich recht zu geben, wenn er schreibt, „daß das Einzelding, das `ich´ bin und das Person ist, nicht durch seine Raum/ZeitKoordinaten allein als individuiert zu denken ist. Es ist Subjekt von Meinungen und Identitätslinie über eine Meinungsgeschichte. Über diese Eigenschaften muß eine Person auch aus einer Außenperspektive charakterisiert werden, wenn sie als solche identifiziert werden soll.“300 Erschwerend für jedes Fremdverstehen war das „Rauschen des semantischen Flusses“, das von Kundera mit den verschiedenen Lebensaltern in Verbindung gebracht wurde. Wenn man hingegen prinzipiell (wie das z. B. Davidson heute zu tun scheint) eine Idiolekt-Theorie der Sprache für richtig hält, kompliziert sich das Fremdverstehen beträchtlich. Wenn P1 versucht, auch ohne P2's Erzählung ihrer/seiner Lebensgeschichte P2 zu verstehen, muß P1 letztlich irgendein SprachHandeln von P2 in P1's 298 299

300

Vgl. Löw-Beer 1990 - Vgl. Kap. 5.2.2. sowie Lazar 1988 Laut Kundera 1992 S. 81 ist es „jedem Menschen, nicht nur Goethe zuwider, wenn er hört, wie sein Leben in einer anderen Interpretation als der eigenen erzählt wird.“ Henrich 1989 S. 121

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Idiolekt übersetzen. Davidsons „Eine hübsche Unordnung von Epitaphen“301 beschreibt die Problematik des „Sprechens einer gemeinsamen Sprache“, also das Sprechen und Verstehen desselben Idiolekts. Für Davidson benötigt man zum aktuellen Verstehen und Verstandenwerden in einer konkreten Situation gegenüber einem anderen, relativ fremden Sprecher (d.i. eine Person, mit der man nicht durch eine gemeinsame Lebensgeschichte verbunden ist), so etwas wie eine „Übergangstheorie“, also eine Art Theorie vorübergehenden Verstehens: „...die Fähigkeit, eine andere Person zu interpretieren oder mit ihr zu reden...ist die Fähigkeit, die es erlaubt, eine richtige, d. h. zur Übereinstimmung tendierende Übergangstheorie für den sprachlichen Austausch mit der betreffenden Person aufzustellen.“ „Eine Übergangstheorie“ (leitet man) „durch Verstand, Glück und Klugheit aus einem privaten Wortschatz und einer privaten Grammatik“ (ab), „durch Kenntnis der Verfahren, mit denen die Menschen den Witz des Gesagten zu verstehen geben, und durch Faustregeln, mit deren Hilfe man herausbekommen kann, welche Abweichungen vom Wörterbuch besonders wahrscheinlich sind.“ „Was zwei Personen benötigen, um sich durch sprachliche Äußerungen zu verständigen, ist die Fähigkeit, von einer Äußerung zur nächsten immer weiter konvergierende Übereinstimmung hinsichtlich der Übergangstheorien zu erzielen. Ihre Ausgangspunkte werden gewöhnlich überaus verschieden sein, gleichgültig, wie weit wir bei der Suche nach diesen Ausgangspunkten zurückgehen wollen; sie werden so verschieden sein wie die jeweilige Art und Weise, in der sie ihr sprachliches Können erworben haben. Dementsprechend werden sich dann auch die Strategien und Finessen, die die Konvergenz zeitigen, voneinander unterscheiden.“ „...die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation (besteht) in der Fähigkeit, sich verständlich zu machen und zu verstehen.“302

Ganz anders sah Gadamer303 die verstehenstheoretische Grundsituation, in der nach seiner Meinung Verstehen und Übersetzen getrennte Vorgänge sind, also keinesfalls jedes sprachliche Verstehen ein Übersetzen ist wie bei Quine und Davidson. Beim Übersetzen, so Gadamer, werde bewußt, daß Verständigung „kunstvoll erzeugt werden muß“. Und das sei „gewiß nicht der Normalfall für ein Gespräch.“ Wenn man auf eine Übersetzung angewiesen sei, sei das eher wie eine Selbstentmündigung. Beim Übersetzen müsse immer ein „Abstand“ zwischen dem Gesagten und der Wieder301 302 303

Davidson 1990 S. 203-227 Alle Zitate aus Davidson in: Picardi/Schulte 1990, S. 224 ff. Vgl. darin auch die Kommentare von Hacking und Dummett zu Davidsons Aufsatz. 2 1965 S. 362

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gabe in Kauf genommen werden. „Wo Verständigung ist, da wird nicht übersetzt, sondern gesprochen. Eine fremde Sprache verstehen bedeutet ja, sie nicht in die eigene Sprache übersetzen zu müssen.“ Denn „eine Sprache versteht man, indem man in ihr lebt.“ Nach meinem Verständnis der Davidson-Textstellen stellt das Fremdverstehen keine geringe Anstrengung dar, auch wenn es nur darin bestehen sollte, erst einmal das SprachHandeln der anderen Person zu verstehen. Wahrscheinlich sollen Davidsons Thesen nur auf das Verstehen des sprachlichen Handelns bezogen bleiben; mir jedoch scheinen sie für den „höheren Zweck“ geeignet, die Schwierigkeiten des Fremdverstehens zu erhellen. Frank verfolgt anscheinend einen ähnlichen Gedanken wie Davidson, wobei Frank sich hauptsächlich an Schleiermachers Begriff von Individualität orientiert und sich, wie implizit Kundera, gegen das „Postulat der semantischen Identität von Prädikaten“ von Strawson und Tugendhat wendet.304 Frank schreibt: „Die Zeitlichkeit der Entwurfstruktur des Individuums geht aber auch in die Semantik der Prädikate ein, durch die sich dasselbe qualifiziert. Bedeutungen sind nicht einfach durch einen semantischen Code fixiert; sie beruhen auf individuellen Interpretationen. Eine Person, die ihren Sinn spontan entwirft, kann die Bedeutungen der Prädikate, in deren Licht sie sich selbst und andere erschließt, verschieben, neu festsetzen, von einem Gebrauch auf den anderen unkontrollierbar modifizieren. Damit ist Intersubjektivität keineswegs ausgeschlossen: sie verlangt lediglich eine schritthaltende Spontaneität des Verstehens auf Seiten des Gesprächspartners.“305

Franks (neue?) hermeneutische „schritthaltende Verstehenstheorie“ unterscheidet sich von Davidsons „Übergangstheorie“ des Verstehens lediglich durch die Akzentuierung: Frank hebt die konstitutive Leistung von Deutungen (des Individuums) für Bedeutungen (sprachlicher Ausdrücke) hervor, während Davidson eher die konstitutive Leistung einer atheoretischen Strategie für Verstehen und Verstandenwerden betont.

304 305

Vgl. Frank 1986 S. 100 ff. Frank 1988 S. 22 - (Herv. WRK). 1986 S. 101 hatte er noch geschrieben: „Die Semantik ist von der Zeitstruktur der Person nicht betroffen.“

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Wenn aber jedes Individuum ausschließlich seinen Idiolekt spräche, wenn es also nur Privatbedeutungen von Prädikaten gäbe und diese vielleicht noch über große Zeitabstände variierten, könnten dann Personen überhaupt ihr eigenes SprachHandeln verstehen? Aber für die Annahme relativ intersubjektiver Bedeutungen gibt es gute Gründe und damit auch für das SprachHandlungsverstehen. Trotzdem ist Personenverstehen jedoch damit nicht identisch. Wenn daher das Verstehen einer Person durch eine andere Person von der Kenntnis der Lebensgeschichte abhängt, diese Kenntnis jedoch wieder davon, daß die zu verstehen versuchende Person den Idiolekt der erzählten Lebensgeschichte in ihren eigenen übersetzen muß, diese Übersetzung aber mißlingen kann - dann ist mindestens das Fremdverstehen und vielleicht sogar das Selbstverstehen eine prekäre Angelegenheit.306 Darüber hinaus ist die Dimension des pragmatischen Verstehens im Unterschied zum semantischen Verstehen zu beachten. Es ist z. B. der Fall denkbar, daß P1 alle Sätze von P2 semantisch, aber nicht alle pragmatisch versteht, wenn er/sie z. B. die Ironie nicht versteht. Es ist auch möglich, daß P1 viele Sätze von P2 versteht, aber nicht alle Sprechakte P2's. Anders gesagt: P1 versteht die Satzbedeutungen, aber nicht die Äußerungsbedeutungen im Sinne des von P2 mit ihren/seinen Äußerungen Gemeinten. Um ein Beispiel zu geben: P2 wiederholt in einer Unterhaltung mit P1 alle fünf Minuten einen bestimmten Satz, der beim besten Willen (von P1 natürlich) und unter Berücksichtigung aller einschlägigen Umstände überhaupt nicht in den Gesamtzusammenhang des Gesprächs paßt und auch nicht als Aufforderung verstanden werden kann, das Thema zu wechseln usw. Oder: Jedesmal, wenn P2 P1 trifft, sagt P2: „Zwei und drei ist fünf.“ Auf dieser Ebene pragmatischen (Miß-)Verstehens spielte sich vielleicht das ab, was bei den Verstehensversuchen z. B. der späten Äußerungen Hölderlins im Tübinger Turm erforderlich war, aber mißlang.

306

Auf seine Weise hatte schon Kant in seiner „Anthropologie“, Bd. XII, S. 500 das Problem formuliert: „Aber auch die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst und andere, und an dem Mangel des Bezeichnungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben...liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird.“

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Zusammenfassend möchte ich sagen: Damit P1 P2 verstehen kann, muß P1 P2's SprachHandeln (und eventuell auch P2's mimisches und gestisches Verhalten) beobachten, deuten und daraus prognostische Schlüsse ziehen. Diese Forderung unterliegt selbstverständlich bestimmten Einschränkungen, wie z. B. daß es sich nicht um das gesamte, lebenslange SprachHandeln von P2 handeln kann, das P1 per impossibile hätte beobachten und deuten können müssen. Es kommt im Normalfall ganz wesentlich darauf an, daß der Interpret P1 auch die mit P2 im Augenblick oder Zeitraum der Interpretation geteilte Welt beobachtet, um sein Verstehen optimieren und maximieren zu können. Diese Situation entspricht etwa der Triangulation von Davidson und ist prägnant von Castaneda formuliert worden: „Um sich die Gedankeninhalte einer anderen Person zugänglich zu machen, muß man diese in einen Zusammenhang mit der gemeinsamen Welt bringen. Dazu müssen wir selbst diese Inhalte denken.“307 Bei Davidson ist es so, daß man anders als durch die Triangulation gar nicht an die Inhalte der Gedanken herankommt. Das Fremdverstehen ist im wesentlichen interpretatorisch,308 induktiv309 und prognostisch.310 Beobachtung, Verallgemeinerung, Voraussagung und Deutung sind die wesentlichen Verfahren des Fremdverstehens, nicht Deduktion oder Intuition. Da evidentermaßen Lebenserfahrung nötig ist, um das Fremdverstehen zu praktizieren, kann es scheinen, daß man intuitiv die andere Person versteht statt einfach nur schnell beobachtet und sofort auf der verallgemeinerten Datenbasis über eine richtige Deutung derselben eine Voraussage z. B. des SprachHandelns macht. Darüber hinaus sollte es klar sein, daß es für die Integration all dieser Wissensleistungen keinen 307 308

309

310

Castaneda 1991 S. 99 von Humboldt schrieb a.a.O. S. 461, es sei wichtig, „daß man bei jeder Charakterschilderung immer dasjenige, was unmittelbar in die Sinne fällt, die Handlungen und Äußerungen überhaupt, vorausschicke, und von da nach und nach zu demjenigen, was weniger deutlich sichtbar ist, bis zu der innern Beschaffenheit des Charakters übergehe, die gar nicht mehr wahrgenommen, sondern allein geschlossen werden kann.“ (kursiv - WRK). Das betonte auch Dilthey 1979, VII. Bd. S. 212: „Fassen wir die angegebenen Formen des höheren Verstehens zusammen, so ist ihr gemeinsamer Charakter, daß sie aus gegebenen Äußerungen in einem Schluß der Induktion den Zusammenhang eines Ganzen zum Verständnis bringen.“ Vgl. Wittgenstein 1984 Bd. 1, S. 574

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Algoritmus geben kann. Und ebenfalls sollte klar sein, daß solche Voraussagen auf keinen gesetzesartigen Zusammenhängen wie Naturgesetzen beruhen (können). Wilhelm von Humboldt faßte das Fremdverstehen so zusammen: „Wahre Menschenkenntnis beruht auf Erfahrung. Die Erfahrung aber setzt eine zweifache Tätigkeit der Seele voraus, die Beobachtung des Vorhandenen oder Geschehenen, und die Bearbeitung dieses Stoffes zu einem Resultat des Verstandes.“311

5.2 Kognitives Selbstverstehen Durch die Wissensbedingung (d) wurde angenommen, daß Selbstverstehen möglich ist. Diese Möglichkeit scheint aber Nietzsche mit seiner berühmten These: „Jeder ist sich selbst der Fernste“ bestritten zu haben: „Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heißt der Satz in alle Ewigkeit `Jeder ist sich selbst der Fernste´, für uns sind wir keine `Erkennenden´...“ Und in der „Fröhlichen Wissenschaft“ im Kontext „Vom Genius der Gattung“ § 354 verkündete er: „...daß folglich jeder von uns beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, `sich selbst zu kennen´, doch immer nur gerade das Nichtindividuelle an sich zum Bewußtsein bringen wird, sein `Durchschnittliches´...“ und im selben Buch: „Wie viel Menschen verstehen denn zu beobachten! Und unter den Wenigen, die es verstehen, wieviel beobachten sich selber! `Jeder ist sich selber der Fernste´- das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen; und der Spruch `Erkenne dich selbst´ ist, im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit.“ („Fröhliche Wissenschaft“, 4. Buch, Nr. 335 und in der „Genealogie der Moral“, Vorrede Nr.1)

Man könnte daher seine Ansicht das skeptische Selbstverstehensmodell nennen, wenn es ihm denn um das kognitive Selbstverstehen gegangen wäre. Ganz explizit verneinte Dilthey (a.a.O. VII. Bd. S. 225) das Selbstverstehen und zwar vermutlich das kognitive, denn er schrieb: „wir verstehen uns selbst nicht. An uns selbst ist ja alles selbstverständlich, andererseits haben wir für uns keinen Maßstab. Nur was wir am Maßstab unserer selbst messen, erhält bestimmte Dimensionen und Abgrenzungen. Kann das Selbst sich an anderen messen? Wie verstehen wir nun das Fremde?“

311

von Humboldt a.a.O. Bd. 1, S. 427

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Ein nichtkognitives Selbstverstehen hielte er wohl für möglich, worauf das „an uns selbstverständlich“ hindeuten könnte - aber hätte er es auch für ein Verstehen gehalten? Doch Dilthey schrieb auch (a.a.O. VII. Bd., S. 248): „Die Selbstbiographie ist ein Verstehen seiner selbst.“ Inwiefern nun Nietzsche von Kants Skeptizismus hinsichtlich einer Erkenntnis des eigenen Ich beeinflußt war, muß hier nicht entschieden werden. Doch mir scheint, daß Nietzsche Kants These einer Unmöglichkeit der Selbst(er)kenntnis des Individuums noch dadurch überbieten wollte, daß er sogar das Personsein selber für unerkennbar behauptete, indem er den Menschen als das „nicht festgestellte Tier“ bezeichnete. Wie auch immer es mit diesem Überbieten steht - Max Scheler hat Nietzsches Diktum weiter interpretiert, indem er ergänzte, der Mensch sei sich kognitiv der Fernste, „weil er sich praktisch selbst der Nächste ist“312 Ob mit dieser Schelerschen Ergänzung die Skepsis hinsichtlich eines kognitiven Selbstverstehens durch ein nichtkognitives, praktisches Selbstverstehen verschwindet, ist fraglich. Demgegenüber hat Heidegger gegen Descartes These, wonach der Geist besser mit sich bekannt sei als der Körper bzw. das Subjekt sich durchsichtig sei, subjektivitätstheoretisch Skepsis geäußert: „Das Dasein ist zwar ontisch nicht nur nahe oder gar das Nächste - wir sind es sogar je selbst. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ontologisch das Fernste.“313 Da für Heidegger nach Descartes die „Seinsart verkannt und übersprungen“ wurde, fragt es sich, ob diese Kritik auch auf Nietzsches individualitätstheoretische und personalitätstheoretische Skepsis bezogen werden darf. Leicht paradoxal formuliert lautet die Skepsis etwa so: „Ich weiß nicht, was und wer ich bin.“ Es fiele schwer, dieser Behauptung einen präzisen Sinn abzugewinnen. Aber stünde es mit Heideggers Behauptung: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“314 besser? Wird damit nicht dem Selbstverstehen die Voraussetzung abgesprochen? Außerdem gibt es die sozusagen alltagstheoretische Auffassung, die von der Identität von verstehender und zu verstehender Person ausgeht sowie davon, daß allein aufgrund dieses Faktums auch eine evidentielle Erkenntnis möglich ist. Diese Auffassung kann ihren Ursprung in Descartes' These nicht verleugnen. Salopp formuliert lautet dieses Modell so: „Jeder kennt sich selber am 312 313 314

Scheler 1913, S. 290 Heidegger 1963, S. 15 Heidegger a.a.O. , S. 128

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besten.“ Philosophisch wurde diese angebliche Selbstkenntnis oft mit dem Begriff der Introspektion erklärt, der aber seit Wittgenstein zu Recht desavouiert ist. Schließlich läßt sich auch eine vermittelnde Auffassung denken, die das Selbstverstehen in Art und Grad des Wißbaren begrenzt. Dieses personalitätstheoretische Modell des Selbstverstehens, wie ich es mangels eines besseren Ausdrucks nennen will, soll hier vertreten werden. Salopp formuliert lautet es so: „Jeder weiß einiges von sich, das andere Personen nicht wissen und wonach sie erst fragen müssen. Und einiges kann er sich nicht einmal selbst fragen, sondern muß sich beobachten und erfahren“. Günther unterscheidet (a.a.O., S. 17 ff) „drei typische Grundeinstellungen zur Problematik des Sichselbstverstehens, die des Dogmatikers“ (Augustinus, Descartes, Locke, Dilthey), „des Skeptikers, des Kritizisten“. Zu den beiden letzteren zählt er Montaigne und Goethe. Dieser sagte: „Man hat zu allen Zeiten gesagt, man solle trachten sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand genügt hat...Von sich selber weiß er bloß, wenn er genießt oder leidet...Übrigens ist der Mensch ein dunkles Wesen, ...er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten.“315 Und: „Ich behaupte, der Mensch kann sich nie selbst kennen lernen, sich nie rein als Objekt betrachten. Andere kennen mich besser als ich mich selbst.“316

Wie könnte nun sinnvollerweise der Begriff des Selbstverstehens expliziert werden? Die Frage ist, ob solche philosophisch gewaltigen Kandidaten in Frage kommen wie Selbstbewußtsein oder Selbsterkenntnis.317 Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis lassen sich begrifflich auseinanderhalten. Nach meiner Einschätzung könnte Selbsterkenntnis aus dem historischen Grund des delphischen Orakels als dem Sinne nach verwandt mit Selbstverstehen begriffen werden.318 Heute gelten Selbstbewußtsein

315 316 317 318

Gespräche mit Eckermann, 10. April 1829 Goethe zum Kanzler Müller 1824 Vgl. Tugendhat 1979, Frank 1991 Tugendhat a.a.O. S. 28 unterscheidet die Selbsterkenntnis von einem „unmittelbaren epistemischen Selbstbewußtsein“ und meint, daß das gnothi seauton des delphischen Orakels nur das erste fordere, nicht das zweite, denn es gehe nur um Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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und Selbsterkenntnis auf dem Markt der öffentlichen Bedeutsamkeiten gleichsam als Supergüter. Vermutlich werden daher die beiden Begriffe oft zu therapeutischen Zwecken ge- und mißbraucht.319 Hingegen galt in der Philosophie von Descartes, Kant, Fichte, Hegel bis zu Husserl und Sartre der Begriff des Selbstbewußtseins im Sinne entweder eines Bewußtseins seiner selbst bzw. seines Ichs oder als Bewußtsein des Bewußtseins als gleichsam tief- ster Grund, als unbezweifelbare Grundlage allen Wissens. Kant und Fichte beziehen sich mit diesem Begriff eher auf ein Ichbewußtsein (weshalb man heute in Bezug auf dieses Phänomen von einer „egologischen“ Theorie des Selbstbewußtseins spricht), während andere wie z. B. Husserl oder Tugendhat sich eher auf das Bewußtsein des Bewußtseins beziehen (so daß man diese Position eine „nicht-egologische“ Theorie des Selbstbewußtseins nennt.)320 Auch wenn wir nach Kant keine Erkenntnis von uns haben können, wie wir an sich sind, sondern nur wie wir uns erscheinen, so wissen wir doch, daß wir uns unserer selbst bewußt sind: ein zwar unerklärliches, aber „unbezweifelbares Faktum“: „Ich bin mir meiner selbst bewußt, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält, das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt. Wie es möglich ist, daß ich, der ich denke, mir selbst ein Gegenstand (der Anschauung) sein, und so mich von mir selbst unterscheiden könne, ist schlechterdings unmöglich zu erklären, obwohl es ein unbezweifelbares Faktum ist ... Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persönlichkeit gemeint, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person, das Ich aber des

319

320

meine „Handlungs- und Willensdispositionen“, also darum, was für ein Mensch man ist und sein will - Vgl. aa0 S. 144 Die Bezugnahme auf eine einzelne, gegenwärtige Sprache hat zwar keine zwingende Beweiskraft für ein philosophisches Argument, aber sie kann doch etwas von dem Weltbild ihrer Sprecher zu Tage fördern. Nach meiner Beobachtung werden heute im Deutschen die beiden Begriffe kaum in der Verbform von Personen auf sie selbst angewandt und der positive Indikativ „Ich erkenne mich“ so gut wie nie in der umfassend gemeinten Funktion von Selbstverstehen gebraucht, sondern nur in speziellen Fällen wie z. B. bei einer Selbstidentifikation auf einer Fotografie. Vgl. Frank 1986 S. 36 ff. Auf S. 55 erklärt er, daß: „die nicht-egologische und präreflexiv konzipierte Theorie des Subjekts für gescheitert gelten“ muß, weil sie die „synthetische Verfaßtheit der Person und des Bewußtseinsfeldes verständlich machen“ kann.

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Objektes, was von mir angeschaut wird, ist gleich anderen Gegenständen außer mir, die Sache.“ (Werke Bd. VI, S. 601)

Kant legte uns nahe, unter dem Selbstbewußtsein weder das Bewußtsein eines gleichsam substanzhaften Selbst (Descartes) noch nur das Bewußtsein von Bewußtseinszuständen (Hume) anzunehmen, sondern ein IchBewußtsein, also so etwas wie ein Bewußtsein einer individuellen Person als ihrer selbst.321 Ein Selbstverstehen kann jedoch nicht so aufgefaßt werden, als wäre es diesem Verhältnis analog: als ein Verstehen eines Selbst durch ein Selbst oder ein Ich.322 Mit dem Begriff des Selbstbewußtseins wird, jedenfalls in philosophischen Kontexten, nicht auf dasselbe Phänomen Bezug genommen wie mit dem Begriff der Selbsterkenntnis. Selbstbewußtsein setzt schon terminologisch keine Selbsterkenntnis voraus und erfordert auch keine Selbstidentifikation. Selbstbewußtsein kann schon dann als ein anderes Phänomen als Selbsterkenntnis gelten, wenn Selbstbewußtsein auf einem prärationalen oder vorprädikativen Mit-sich-selbst-vertrautsein323 beruht, Selbsterkenntnis aber Rationalität und Propositionalität, also Prädikativität, erfordert. Einige Philosophen würden vielleicht das Selbstbewußtsein so darstellen: entweder ist das Selbstbewußtsein phänomenal oder propositional, wobei unterstellt wird, daß sich das logisch ausschließt. Diese Alternative könnte dann auch so formuliert werden: Ist mein Bewußtsein meiner selbst etwas Erlebtes oder etwas Gewußtes? Erlebe ich mein Bewußtsein von mir oder weiß ich, daß ich mir meiner bewußt bin? Da Selbsterkenntnis evidentermaßen niemals phänomenal sein kann, käme für ein kognitives Selbstverstehen am ehesten ein zweifelsfrei propositionales Korrelat in Frage, also Selbsterkenntnis.

321 322 323

Vgl. Sturma 1985 Vgl. dazu Davidson 2004, S. 220-241 über die „Irreduzibilität des Begriffs `Selbst´“ so sagt Frank 1986, S. 34 in Abgrenzung „gegenüber der hilflosen Orientierung an der optischen Metapher der Introspektion und der Selbstwahrnehmung“ und auch gegenüber der Ansicht, Selbstbewußtsein sei „das Werk der Reflexion“: „Subjektivität ist vielmehr unmittelbar mit sich bekannt - und die Reflexivpronomina, die sich in diese Formulierung schleichen, müssen als Fallen betrachtet werden, die uns die Sprache stellt.“ (Kursiv von M.F.)

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In der jüngsten angelsächsischen, vorwiegend US-amerikanischen Philosophie wird Selbstbewußtsein als etwas naturwissenschaftlich Uneinholbares und nach wie vor Rätselhaftes324 angesehen, obwohl es zahlreiche Versuche gibt, Bewußtsein naturalistisch oder physikalistisch zu deuten.325 Das Rätsel beginnt schon mit der Frage, ob Selbstbewußtsein eine Relation ist. Angeblich gingen alle traditionellen Selbstbewußtseinstheorien von der Subjekt-Objekt-Beziehung aus.326 Für einige Philosophen (wie z. B. Henrich, Frank) ist es keine Relation, für andere (Kant, Tugendhat) schon; für einige (Tugendhat) ist es ein propositionales Wissen, für andere nicht (Castaneda, Frank); für einige ist es intersubjektiv zu deuten (Hegel, Mead, Habermas), für andere (Kant, Fichte) nicht. Und wenn es denn eine Relation ist, was für eine ist es dann? Ist Selbstbewußtsein so etwas wie die „geistige Selbstbeziehung aus der Perspektive der ersten Person“?327 Und wenn ja, könnte es sich dann so verhalten wie es durch den sonderbaren Satz „Ich beziehe mich auf mich selbst“ ausgesagt würde? Es spricht einiges für die nicht-egologischen Selbstbewußtseinstheorien. Und es scheint klar, daß eine derartige Theorie für das Selbstverstehen benötigt wird, da eine Person sich ihrer intentionalen und mentalen Zustände bewußt sein können muß. Sie muß sie sich selbst zu- und absprechen können - ohne sich ein Ich (großgeschrieben) zusprechen zu müssen. Weil es beim Selbstverstehen nicht um eine Explikation eines Ich-Bewußtseins gehen muß - ein solches wird vielmehr vorausgesetzt, aber nicht ein Ich - sind ontologische bzw. essentialistische Gedanken über das Wesen des Ichs verzichtbar.328 Thematisch ist auch nicht die Problematik der 324

325 326 327 328

Vgl. Castaneda 1991 S. 113 sagt: „Der interne Charakter dessen, was wir denken und worauf wir uns in Akten indexikalischer Bezugnahme in der ersten Person Singular beziehen, ist fundamental und absolut, überwältigend, rätselhaft.“ Sowie Frank 1994, S. 7 ff so z. B. Patricia Churchland - Vgl. dazu den Sammelband von Metzinger (Hg.) 1995, 31996. Das behauptet Tugendhat 1979, S. 51 wie es bei Fricke 1991 S. 139 heißt Vgl. Castaneda 1991 S. 114, der von sich sagt, seine Auffassung folge zwar Descartes, nämlich „das Wesen eines Ich im Denken (cogitare) zu sehen, aber sie weicht von Descartes ab, insofern sie das Ich nicht als res cogitans versteht.“ Seiner These a.a.O. S. 109: „Jeder denkt an sich selbst als ein Ich.“ (Kursiv von Ca- staneda) kann ich keinen Sinn abgewinnen. Castaneda behauptet auch a.a.O. Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Referenz des Personalpronomens „ich“, d. h. seine fantastische Unmöglichkeit, jemand anderen als seinen Verwender zu bezeichnen.329 Dennoch seien einige theoriestrategische Bemerkungen erlaubt. Tugendhat empfahl nach meiner Ansicht sehr plausibel den „Abstieg vom Ich zum `ich´“, während hingegen Kant nach Konrad Cramers Meinung von der Notwendigkeit des Aufstiegs von `ich´ zum Ich überzeugt gewesen sei.330 Für das Problem des Selbstverstehens kann man sich nach meiner Ansicht mit einer bestimmten Definition Castanedas (1991, S. 118) zufrieden geben: „Ein Ich ist... dasjenige Individuum, an das man denkt, wenn man das Pronomen der ersten Person Singular indexikalisch verwendet.“ Lieber jedoch halte ich es mit einer Definition Tugendhats, die auch im Geiste Castanedas sein dürfte: „Das Wort `ich´ bezeichnet den letzten Bezugspunkt aller Identifizierung, gleichwohl wird mit ihm die gemeinte Person der Sprecher - nicht identifiziert, aber doch als aus der `er´-Perspektive identifizierbare gemeint.“331 Daher kritisiert Frank zu recht die fundamentalontologische Aufladung des Personalpronomens „ich“ durch Heidegger, demzufolge sich im Gebrauch von „ich bin“ sich die „Jemeinigkeit dieses Seienden“ sc. des einzelnen Menschen ausspreche, als unplausibel, denn: „Mit `ich´ verweist ein jeder auf sich selbst als auf ein subjektiv Seiendes (im Unterschied zu einem Vorhandenen), nicht aber notwendig auf sich als ein einzigartiges Subjekt.“332 Durch den Gebrauch von „ich“ identifziere ich mich nicht als das Individuum WRK, beziehe mich nicht auf meine (Ich-)Identität, ich beschreibe mich auch nicht irgendwie, ich kennzeichne mich nicht. Für das Problem des Selbstverstehens ist auch nicht die spezielle Gewißheit von Ich-denke-daß-ich-

329 330 331 332

S. 110, daß man sich als Ich nicht als Selbst oder als Person, auch nicht als denkende Person oder gar als menschliches Wesen klassifiziert. Das liegt seiner Meinung nach daran, daß es „kein Kriterium“ gibt, „mittels dessen man bestimmen könnte, ob man ein Ich ist oder nicht.“ (a.a.O. S. 110) Wie verwirrend so ein Personalpronomen wirken kann, zeigt sich z. B. bei Kundera (1992), S. 161 ff: „Unser Ich ist bloßer Schein, unfaßbar, unbeschreibbar, verschwommen, unser Bild in den Augen anderer hingegen die einzige, fast zu leicht zu fassende und zu beschreibende Wirklichkeit. Und das Schlimmste daran ist, daß man nicht Herr über dieses Bild ist.“ Vgl. Rutte 1989, S. 322-341 und Spitzley 2000 Tugendhat 1979, 4. Vorlesung und Cramer 1987, S. 201 Tugendhat 1979, S. 87 Frank 1986 S. 23, Vgl. Heidegger a.a.O., § 9;

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Gedanken einschlägig oder das Problem, wieviele Arten Reflexivität es bei dem Selbstbewußtsein gibt.333 Demgegenüber geht es bei der Problematik des Selbstverstehens schon allein deswegen um etwas anderes als Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, weil Selbstverstehen, zumindest das kognitive, darin besteht, daß eine individuelle Person bzw. ein personales Individuum etwas über ihre/seine eigene Intentionalität und Mentalität weiß oder wissen muß oder zu sich zumindest ein existentielles Verhältnis und vielleicht auch ein emotional-praktisches Verhältnis haben kann - was in einem nichtkognitiven Modell des Selbstverstehens zum Ausdruck kommt (Vgl. Kapitel 7.3). Bei dem Selbstverstehen handelt es sich anscheinend um eine Relation. Aber wie sieht diese Relation aus? Hat sie die Form „WRK versteht sich selbst“ oder die Form „WRK versteht WRK“? Oder die Form „Ich verstehe mich selbst“? Diese Aussagen sind offensichtlich nicht bedeutungsidentisch. Doch wenn ich WRK bin und auch weiß, daß ich WRK bin, dann beziehen sich die drei Satzformen auf denselben Sachverhalt, den ein P1, also aus der Dritte-Person-Perspektive, durch „WRK versteht sich selbst“ oder durch „WRK versteht WRK“ ausdrücken könnte. Es könnte aber der Fall sein, daß WRK nicht weiß, daß er WRK ist. Wenn er dann trotzdem sich selbst versteht, dann versteht er zwar WRK, aber er weiß nicht, daß er WRK versteht. Es lassen sich mindestens zwei Varianten des kognitiven Modells des Selbstverstehens unterscheiden. Die eine, hier vertretene, Variante beruht auf dem Unterschied zwischen einem Verstehen und Verstehensversuchen, die unter Umständen nicht zu einem Verstehen führen. Die andere Variante des Selbstverstehens (etwa von Günther) setzt diesen Unterschied nicht voraus, wie sich aus dem folgenden Zitat aus Günthers Buch (S. 63) ergibt:

333

So heißt es bei Fricke 1991, S. 142: „Selbstbewußtsein ist sowohl hinsichtlich der Identität des Gegenstandes der geistigen Bezugnahme als auch hinsichtlich der Existenz dieses Gegenstandes gegen jeden Irrtum gefeit. Wer sich als Ich denkt, kann sicher sein, sich mit diesem Gedanken auf niemand anderen als sich selbst zu beziehen, und ebenso sicher kann er sein, daß der Gegenstand seiner Bezugnahme, er selbst, existiert.“

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„Das Problem“ (des `Sichselbstverstehens´ „liegt in der Kluft, die zwischen dem besteht, wie der sichselbstverstehende Mensch sich tatsächlich versteht und dem, wie er sich - vom reinen, objektiven Erkenntnis- oder Verstehensideal aus - verstehen sollte, oder, wie er sich verstehen müßte, wenn er sich selber seinem eigentlichen wahren Sein adäquat verstünde.“ (kursiv von Günther)

Das „tatsächliche Verstehen“ Günthers entspricht einem Verstehensversuch und das „gesollte Verstehen“ entspricht einem Verstehen in meiner Begrifflichkeit. (Das liegt daran, daß Günther das Verstehen als einen „Akt“ betrachtet.) Günther sagt anschließend selbst, worum es ihm geht: „Es ist also mit anderen Worten die erkenntnistheoretische Frage nach der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen dem realen Sein und dem idealen Verständnis des Seins des eigenen Selbst.“ (Kursiv von Günther) Doch diese Strategie der Argumentation ist problematisch. Denn es ist zwar korrekt, die Objektivität bzw. Wahrheit des Selbstverstehens nicht aus den Augen zu verlieren, d. h. sie als Möglichkeit zu unterstellen - im Unterschied zu fehlgeschlagenen Versuchen des Selbstverstehens -, aber diese Objektivität besteht nicht in einer Übereinstimmung zwischen dem „realen Sein“ und einem „wahren Sein“ oder gar einem „idealen Verständnis des Seins des eigenen Selbst“. Sondern darin, daß wahre Beschreibungen der eigenen relevanten intentional-mentalen Zustände geliefert werden. Klar muß gefragt werden, was es heißt, sich selbst zu verstehen bzw. unter welchen Bedingungen jemand sich selbst versteht. Denn es sind Selbsttäuschungen möglich. Aber man sollte nicht sagen, das Selbstverstehen bestünde in einer Übereinstimmung zwischen dem „realen Sein“ der eigenen Person und dem „idealen Verständnis“ dieser Person. Denn eine solche Übereinstimmung ist, wie jede Übereinstimmungstheorie der Wahrheit unfreiwillig zeigt, überhaupt nicht feststellbar und hier weder von der eigenen Person noch von anderen Personen, da die übereinstimmenden Elemente oder Teile unabhängig von der Frage, ob sie übereinstimmen oder nicht, identifizierbar sein müßten. Das aber ist weder im Fremdverstehen noch beim Selbstverstehen möglich.

5.2.1

Wissensbereiche und Wissensarten

Im kognitiven Selbstverstehen geht es um die Fragen, (1) was ich von mir selbst, d. h. über mich selbst als ich selbst wissen kann und (2) wie ich zu

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diesem Wissen gelangen kann. Scheinbar ist bei dem Selbstverstehen die Erkenntnis aller eigenen mentalen Zustände unmittelbar und nie durch ein Verstehen des eigenen SprachHandelns vermittelt.334 Jede Person, so ist oft gesagt worden, kennt sich unmittelbar selbst. Die These der unmittelbaren Selbst(er)kenntnis soll bedeuten, daß P1 nicht P1 beobachten und aus diesen Beobachtungen Schlüsse ziehen muß, um sich selbst zu verstehen.335 Entsprechend heißt es bei Tugendhat: „Das unmittelbare Wissen des epistemischen Selbstbewußtseins beruht also nicht nur nicht auf einer äußeren Beobachtung, sondern überhaupt nicht auf einer Beobachtung.“336 Womit gemeint ist: auch nicht auf einer inneren Beobachtung oder der Beobachtung eines Inneren. (Im Unterschied zu diesem unmittelbaren Selbstbewußtsein definiert Tugendhat einen Begriff von mittelbarem epistemischen Selbstbewußtsein, das durch die Satzform „ich weiß, daß ich...“ ausgedrückt wird.) Gemäß dieser Unmittelbarkeitsthese weiß jede Person weder durch Induktion noch durch Deduktion, ob sie z. B. glaubt oder nicht glaubt, daß p der Fall sei. D.h. jede Person kennt unmittelbar alle ihre mentalen bzw. intentionalen Zustände. Das impliziert insbesondere, daß sie sich hinsichtlich ihrer mentalen Zustände nicht irren kann.337 Ich weiß also, ob ich glaube, daß p oder ob ich will, daß q oder ob ich nicht will, daß nicht-q, wenn r usw.. Für die Richtigkeit dieser These wird eine ganz bestimmte regulative Idee Humes vorausgesetzt: „Alle Vorgänge im Geiste und alle sinnlichen Wahrnehmungen (`actions and sensations of the mind´) sind uns doch eben nur durch das Bewußtsein bekannt, sie müssen darum notwendigerweise in jeder Hinsicht als das erscheinen, was sie sind, und das sein, als was sie erscheinen.“338 Es ist wichtig, daß hier eine Allquantifikation behauptet wird, d. h. daß diese These sich auf alle mentalen (inklusive der 334 335

336 337 338

Vgl. Searle 1987 Die Unmittelbarkeitsthese muß von der alltagstheoretischen These, wonach jeder sich selbst am besten kennt, unterschieden werden. In jener wird auf eine besondere epistemische Form, in dieser wird auf ein Erkenntnis-Optimum Bezug genommen. Tugendhat 1979 S. 87 So z. B. Meggle 1991 S. 395 Hume 1739 „Treatise“, 1. Buch., IV. Teil, 2. Abschnitt, dt. 1978, S. 189 f - Herv. v. Hume.

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intentionalen) Zustände der Person bezieht. Jede Person kennt also alle ihre propositionalen Einstellungen, um einen Begriff aus Kapitel 5.1.3 zu gebrauchen, die sie hat. Mit anderen Worten: jede Person hat nach dieser Ansicht einen privilegierten Zugang zu sich selbst339, d. h. sie hat eine epistemische Autorität hinsichtlich aller ihrer mentalen Zustände, die die jeweils andere Person nicht hat.340 Man spricht im Englischen deswegen auch von „First Person Authority“ (Davidson) oder von „First-person access“ (Shoemaker).341 Im Deutschen hat sich der Ausdruck Erste-Person-Autorität eingebürgert. Zugrunde liegt, historisch gesehen, einerseits die cartesianische Selbstgewißheit eines Bewußtseins und andererseits die schon gerade erwähnte Hume'sche Voraussetzung, wonach jede Person sich selbst vollständig durchsichtig sei, weil ihr Bewußtsein genau so ist, wie es zu sein scheint.342 Diese Voraussetzung könnte man auch die Transparenz-These nennen.343 Das unmittelbare Wissen einer Person von sich selbst wurde oft als ein Wissen bezeichnet, das weder erschlossen ist noch irrtumsfähig.

339 340

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342 343

Vgl. zu dem Problem des „privileged access“ Ryle 1949 Kap.6 Erst jüngst wurde dieser „Mythos von der höchsten Autorität des Subjekts“ kritisiert, so z. B. von v.Wright 1994 S. 18. Ebenso auch von Davidson 1993. Vgl. dazu Köhler (Hg.), 1997 Vgl. Davidson 1984 und Shoemaker dt. 1991. In diesem Aufsatz vertritt Shoemaker die These, daß „Rationalität diese erstpersönliche Zugänglichkeit erfordert“. Das kommt mir wie eine Umdrehung der Ansicht von Davidson vor, wonach eine Erste-Person-Autorität Rationalität erfordert. Shoemaker zitiert zustimmend (a.a.O. S. 25) Colin McGinn: „Wenn sich jemand nicht seiner Überzeugungen bewußt wäre, so könnte er sich auch nicht ihrer Inkonsistenz bewußt sein“ und interpretiert das so: „McGinn konzentriert sich darauf, daß man sich dessen, was man glaubt, bewußt sein muß, um sich etwaiger Widersprüche in seinen Überzeugungen bewußt zu sein, welches Bewußtsein man wiederum haben muß, um Maßnahmen zu ihrer Beseitigung zu ergreifen.“ So gesehen kann man Shoemaker zustimmen und so hat man auch nicht den Eindruck, daß er den Wagen vor das Pferd gespannt hat. Löw-Beer (1990), S. 15 bemerkt, daß Selbsttäuschung durch Nichtbeachtung von Rationalitätsmaximen zustandekommt. Hume sagt a.a.O. außerdem, daß bei dieser Durchsicht kein Selbst oder Ich anzutreffen sei. Dieses Modell ist von Ryle 1949 als „paraoptisch“ kritisiert worden, weil es die Möglichkeit eines geistigen Auges bzw. einer Introspektion unterstellt. PromiFortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Seit Wittgenstein hat die Kritik an den genannten Wissensbereichen und Wissensarten Konjunktur. Nicht zu allen Zuständen, die als mental oder intentional bezeichnet werden können, hat eine Person einen privilegierten Zugang bzw. besitzt sie allein die epistemische Autorität. Oft muß bei den sogenannten dispositionalen Zuständen die epistemische Autorität mit anderen Personen geteilt oder ihnen sogar überlassen werden. Bei Dispositionen liegt der Fall ziemlich klar, da Dispositionen an Verhalten gebunden sind.344 Der klarste Fall ist bekanntlich die Eifersucht. Sofern Emotionen aufgrund ihrer Leibgebundenheit Dispositionen ähneln, gilt dasselbe für sie. Wenn ich mir solche Zustände wie Verliebtheit, Haß, Trauer, Scham, Zorn usw. zu- oder absprechen will, kann ich das nicht, wittgensteinianisch gesprochen, kriterienlos tun, sondern nur kriteriengebunden, wobei das Kriterium mein Verhalten ist, und dieses kann von anderen Personen oft viel schneller, besser und genauer beobachtet werden als von mir selbst. Im Sinne seiner Unterscheidung zwischen einem mittelbaren und einem unmittelbaren epistemischen Selbstbewußtsein gibt Tugendhat das Beispiel: „Ob ich in jemanden verliebt bin, weiß ich unmittelbar, aber ob ich jemanden liebe, kann ein anderer ebensogut oder sogar leichter wissen als ich selbst, weil es sich...nur in meinem Verhalten erweisen kann.“345

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345

nenteste Kritiker des Modells: Wittgenstein 1953, Rorty 1980. Frank 1991 S. 245 verteidigt diese „Selbstdurchsichtigkeit des Selbstbewußtseins“:..“mein Selbstbewußtsein...ist mir in allen seinen Aspekten auf eine präkognitive Weise erschlossen ...“. Bei Kant KdrV, A 107 gab es zwar auch eine Art Transparenz, nämlich des „Bewußtseins seiner selbst“, das durch den „inneren Sinn“ „oder die empirische Apperzeption“ wahrgenommen wird und „kein stehendes und bleibendes Selbst“ ist, aber bekanntlich wird sie sehr penibel von der „transzendentalen Apperzeption“ unterschieden, die auf ein „stehendes und bleibendes Selbst“ bezogen ist. Dieses ist nichts als die „transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins“, nämlich „das `ich denke´ muß alle meine Vorstellungen begleiten können“. Diese Kantische Unterscheidung kann nicht ganz problemlos für das Personenverstehen übernommen werden. Es läßt sich aber sagen: beim Personenverstehen ist es das gehende und nicht-bleibende Selbst, das zu verstehen ist, eben eine individuelle Person. Vgl. Searle dagegen 1987 S. 136: „We know from our own case, from the firstperson case, that behaviorism is wrong because we know that our own mental phenomena are not equivalent to dispositions of behavior.“ Tugendhat 1979 S. 27. Dem liegt bei Tugendhat der Unterschied zwischen einer „epistemischen Asymmetrie“ und einer „veritativen Symmetrie“ zugrunde, zwischen den Aussagenformen „ich phi“ und „er phi“, denn nur die vom Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Die Erste-Person-Autorität hat danach also ihre Grenzen. Allerdings glaube ich, daß es sich mit dem Unterschied zwischen Liebe und Verliebtsein genau anders herum verhält als Tugendhat denkt. Abgesehen von der richtigen Verwendung der Begriffe in dem Beispiel muß unterschieden werden zwischen den mentalen Zuständen einer Person, die sich auch im Verhalten zeigen und deswegen beobachtbar sind (wie es z. B. für die genannten Emotionen typisch ist) und intentionalen Zuständen einer Person, bei denen das nicht der Fall ist und die nur durch Befragen der Person und eine Interpretation ihrer sprachlichen Äußerungen gewußt werden können (wie es für die meisten Gedanken bzw. Meinungen typisch ist). Zu beachten ist nun aber, daß eine Person sich auch selbst fragen kann und oft sich auch fragen muß, was sie glaubt, will usw. - und daß sie sich (in Gedanken, wie man sagt,) etwas zur Antwort geben kann. Selbstverstehen beruht daher zum Teil auf Selbstbefragung. Aber das ist keine „Selbstbegaffung“, wie Heidegger die Introspektionisten mit einem gewissen Recht schmäht. Doch ist es auch keine „Selbsterfassung“, wie er sich selbst und die Reflexionstheoretiker rühmt. Denn es ist kein Selbst, das fragt und antwortet, auch kein Dasein, sondern eine individuelle Person. Da nun aber trotz Frege die Gedanken nicht sprachfrei gegeben sind, müssen die sie ausdrückenden Sätze im Prinzip interpretiert werden (können). Die Frage ist also, in welchen Hinsichten das Selbstverstehen auf einer Selbstbefragung und einer Interpretation der eigenen Äußerungen beruht und in welchen nicht. Wenn Wittgenstein sagt: „Wahr ist: Man schließt nicht aus den eigenen Worten auf die eigene Überzeugung; oder auf die Handlungen, die dieser entspringen“, denn: „Ich verhalte mich zu meinen Handlungen nicht beobachtend“346, so kann man ihm nicht völlig zustimmen, weil die Extension des Begriffs der Handlung nicht angegeben ist. Wenn nur das nichtsprachliche Handeln gemeint ist, dann kann man

346

Verhalten entkoppelten und gleichsam geheimen ich-phi-Zustände werden von dem Sprecher unmittelbar gewußt, während die anderen nur mittelbar durch Beobachtung oder Interpretation, gleichsam aus der eigenen oder der fremden `er´-Perspektive gewußt werden. Dabei muß eine Konstanz sprachlicher Bedeutung vorausgesetzt werden. Vgl. aa0 S. 89 Wittgenstein 1984 Bd. 7, §§ 710, 712 - kursiv von L.W.

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Wittgenstein zustimmen, wenn aber auch oder nur das sprachliche Handeln gemeint ist, nicht. Zwar kann zugegeben werden, daß man eine ErstePerson-Autorität z. B. bezüglich seiner Sprechakte hat (man weiß immer, so scheint es wenigstens, ob man z. B. etwas behaupten oder nur fragen wollte), aber die lokutionäre Bedeutung, vom perlokutionären Effekt abgesehen, kann für eine Person selbst interpretationsbedürftig werden. Selbstverstehen beruht daher in mancher Hinsicht auf der Interpretation des eigenen SprachHandelns sowie dem Ziehen von Schlüssen aus diesen Interpretationen, was sich schon dann zeigt, wenn man jemandem erklären muß, was man eigentlich sagen wollte oder wenn man etwas vor Jahren Selbstgeschriebenes wiederliest und sich fragen muß, wie man das damals gemeint hat. Es müssen freilich noch andere Ausnahmen beachtet werden: wenn ich mir z. B. einen Freudschen Versprecher leiste oder wenn ich etwas tue, womit ich nie gerechnet hätte, dann können diese Beobachtungen meiner selbst (mein Erschrecken oder meine Verwunderung, die mir auffallen) mein Selbstverstehen verändern. Freudsche Fehlhandlungen sind nicht zu vernachlässigende Kriterien für das Selbstverstehen. Es spricht also einiges für die Annahme, daß man beim Selbstverstehen nur zum Teil auf die Beobachtung des eigenen SprachHandelns verzichten kann. Es dürfte klar sein, daß solche „Beobachtungen“ immer Interpretationen implizieren (müssen). Es gibt aber noch eine andere Art von Ausnahme. Dabei geht es um so etwas ähnliches wie Beobachtung, nämlich um ein Spüren347, d. h. um das Feststellen (m)einer Regung oder Rührung durch das Erkennen eines körperlichen Symptoms bzw. Zustands wie z. B. einer Träne.348 347 348

Vgl. zu diesem Begriff Pothast 1987 und Gendlin 1993 Auf diese Form des Selbstverstehens weist Kundera hin, wenn er schreibt: „Als Goethe von Bettina“ (Bettina von Arnim - WRK) „den Entwurf seines Denkmals bekam, spürte er...in seinem Auge eine Träne und war sich sicher, daß sein tiefstes Inneres ihm auf diese Weise eine Wahrheit offenbarte: Bettina liebte ihn wirklich, und er hatte ihr Unrecht getan. Erst später wurde ihm bewußt, daß die Träne ihm nicht etwa eine bewerkenswerte Wahrheit über Bettinas Ergebenheit verraten hatte, sondern nur eine banale Wahrheit über seine eigene Eitelkeit. Er schämte sich dafür, daß er wieder einmal der Demagogie seiner Tränen erlegen war.“ Es ist im übrigen nicht wichtig, ob man zuerst gerührt ist und dann die Träne kommt oder beides zeitgleich verläuft. Wichtig ist nur, daß man erst durch das Spüren der Träne einen eigenen seelischen Zustand feststellt. Um welchen Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

148

Pothast vermutet, daß eine „lebende Person nicht ausschließlich...von dem her lebt, was sie mit anderen bespricht oder...tut, sondern in... erheblichem Ausmaß auch von dem her, was sie einfach spürend ist.“349 Die Kategorie des Spürens stellt möglicherweise das leibliche Urphänomen dar und zwar in dem Sinne, daß nur ein solcher Körper ein Leib ist, durch den etwas gespürt werden kann. So verstehe ich die These von Schmitz: „Leiblich sein heißt erschrecken können.“350 Ebenso die These Pothasts: „Menschliche Personen sind Wesen, die mehr oder weniger deutlich spüren können, wie sie sich befinden...“351 Das Spüren stellt ein nicht zu unterschätzendes Erkenntisinstrument für das kognitive Selbstverstehen dar, weil man durch es nicht nur einzelne existentielle Emotionen oder Stimmungen bei sich feststellen kann, sondern auch emotionale Dispositionen wie z. B. Sentimentalität. An dieser Stelle berührt sich das kognitive mit dem emotionalen Selbstverstehen so sehr, daß nur eine sehr verzwickte Darstellung ihres Zusammenhangs gegeben werden könnte. Im allgemeinen muß nicht angenommen werden, daß das Selbstverstehen auf ein Interpretieren des eigenen SprachHandelns angewiesen ist. Normalerweise muß ein Sprecher sein sprachliches Handeln weder deuten, um zu wissen, was er gesagt hat noch daraus interpretatorische Schlüsse ziehen, was er sagen wollte.352 Ein Nichtangewiesensein auf die Deutung des eigenen SprachHandelns scheint jedoch nur für einen (Typ von) mentalen Zustand zuzutreffen, nämlich für den intentionalen Zustand des Glaubens bzw. der Meinung oder der Überzeugung, daß etwas der Fall ist wobei unter einer Überzeugung der stärkste Grad des Glaubens verstanden werden soll. Doch hat man wirklich von allen seinen Meinungen oder Überzeugungen ohne Beobachtung und Interpretation seines SprachHandelns Kenntnis? Oder weiß man manchmal erst dann, was man denkt, wenn man hört, was man sagt, auch wenn dieser Fall selten vorkommen

349 350 351 352

seelischen Zustand es sich dabei handelt, darüber muß man manchmal erst noch reflektieren. Pothast 1992 S. 173 Schmitz 1992 S. 231 Pothast 1992 S. 177 - kursiv v. Pothast Vgl. Köhler 1997

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mag - obwohl er bei Philosophen häufig vorzukommen scheint?353 In der Regel genügt es anscheinend, sich selbst zu fragen, wenn man wissen will, was man z. B. glaubt, obwohl man sich nicht immer eine eindeutige Antwort geben kann. Z.B. weiß man manchmal selber nicht, ob man etwas nur glaubt oder davon überzeugt ist. Die Erste-Person-Autorität bei dem eigenen SprachHandeln ist die Regel, nicht die Ausnahme, wenn man ihren Bereich richtig versteht und sie auf das Haben von Meinungen und Überzeugungen einschränkt. Aber selbst dann wird man sich vermutlich meistens mit trivialen Meinungen und Überzeugungen abgeben müssen. Die Annahme, daß viele Menschen gerade über die ihnen nahestehenden Personen keine bestimmten Meinungen, geschweige denn Überzeugungen, haben und sich auch nach intensiver Selbstbefragung keine Meinung darüber bilden können, scheint nicht verkehrt zu sein, so daß das Selbstverstehen in wesentlicher Hinsicht als eingeschränkt zu betrachten ist. Im Unterschied zu meinen Meinungen und Überzeugungen werden mir viele der eigenen Wünsche bzw. Präferenzen eher durch Selbsterfahrung bekannt als durch Selbstbefragung. Natürlich muß man sich nicht immer selbst beobachten, um herauszufinden, was man will, hofft, ersehnt, fürchtet usw. Wie sehr man von der Beobachtung und Interpretation eigenen SprachHandelns zur Erkenntnis seiner Wunsch-Zustände oder Präferenzen abhängig ist, läßt sich nicht generell angeben. Ob ich z. B. glaube, daß Kirschen besser schmecken als Bananen, finde ich durch Selbsterfahrung besser heraus als durch Selbstbefragung. Ich merke und weiß, daß, wenn die Alternative da ist, ich immer Kirschen statt Bananen kaufe. Aber ob ich z. B. glaube, daß der übernächste Schachweltmeister ein Mann, eine Frau oder ein Computer sein wird, finde ich weder durch Selbsterfahrung noch durch Selbstbeobachtung heraus. Es scheint also nur für wenige intentionale (und keinesfalls für alle mentalen) Zustände zuzutreffen, daß man bei der Selbstzuschreibung von mentalen Zuständen auf Beobachtung, Erfahrung und Schlußfolgern ganz verzichten kann.354

353

354

Dieser Gedanke („Wie kann ich wissen, was ich denke, bevor ich wahrnehme, was ich sage?“ - „How can I know what I think till I see what I say?“) wird Graham Wallace, „The Art of Thought“ zugeschrieben - und zwar von Davidson 1994 b S. 650. Aber Davidson hält ihn ebenso nur in Ausnahmefällen für wahr. Insofern widerspreche ich Strawson, dt. 1972 S. 128

150

Es ist keine Frage, daß die Kenntnis bestimmter nicht-intentionaler, aber mentaler, insbesondere emotionaler Zustände, wie z. B. eine bestimmte Sehnsucht, zum Selbstverstehen gerechnet werden müssen. Ebenso auch das Selbst- und Lebensgefühl, falls es gekannt und nicht bloß gespürt wird. Dagegen würde die Kenntnis rein phänomenaler Zustände wie Schmerzen das Selbstverstehen wohl nicht vergrößern. Jedenfalls scheint es keinen Sinn zu machen, wenn P1 sagte: „Seitdem ich meine Schmerzen kenne, verstehe ich mich oder verstehe ich mich gut/besser/schlecht usw.“ Allerdings gibt es, so Günther, eine „subjektive Erlebniswirklichkeit, die nicht kategorial bestimmbar ist: das noch nicht sinnhaft Gestaltete, ..., die subjektive Irrationalität der eigenen Erlebniswelt, dumpfe triebhafte Tendenzen, fluktuierende Gefühle...“. Mit gewissem Recht sagt er aber doch (a.a.O. S. 149 f): „Das kategoriale Bestimmen der eigenen Erlebniswelt das Gerüst des Sichselbstverstehens“ und die „anschauliche Illustration nur der Begleitfaktor“. Daher kann nach seiner Meinung vieles Subjektive nur „irgendwie bildhaft festgehalten“ werden. Das geschehe aber nicht durch „Abbilden oder Photographieren seelischer Zustände, sondern durch deren Beschreibung.“ Günther (S. 130 f) bestreitet, daß das Selbstverstehen irgendetwas mit Selbstbeobachtung oder Selbstwahrnehmung zu tun hat. Er bestreitet das, weil er sich bei dem Selbstverstehen wie auch bei dem Fremdverstehen auf das Verstehen von Erlebnissen kapriziert. Für diesen Typ von Verstehensgegenstand mag das auch zutreffen, aber nicht so ohne weiteres für alle mentalen Zustände. Man kann sich nämlich beim Erleben selbst beobachten. Man kann sogar wissen, daß man etwas erlebt (es muß nicht einmal etwas Einmaliges sein) und kann dabei feststellen, wie gerührt man ist und manche Erlebnistypen (nicht jedoch die kontingenten Erlebnisvorkommnisse) sind sogar wiederholbar und damit „kategorial bestimmbar“, also, wenn auch mangelhaft, beschreibbar. Und ich kann mich in einem Erlebnisvorkommnis (nehmen wir an, daß es der Erlebnistyp „In-Venedigsein“ ist) selbst so empfinden (und erst recht beschreiben), daß ich mich und mein Erlebnis in einen größeren Kontext stelle. Beim Selbstverstehen gehe es um „ein Erfassen des erlebten und gestalteten Sinnes“ und somit um so etwas wie ein „geschichtliches Gedächtnis“: „Das Sichselbstverstehen ist nicht minder als das Fremdverstehen seinem Wesen nach ein ausgesprochen historisches Verhalten.“ (a.a.O. S. 144 - kursiv von G.). Eben weil wir nach seiner Ansicht uns selber nur über ein „Objektives, den geistigen Sinn“ (S. 145) verstehen. Günther führt (S. 151) „geistige Objek-

151

tivitäten oder Sinnträger wie z. B. Schrift- und Sprachdokumente usw.“ ein, die für das Fremdverstehen unabdingbar sind, seien es die von lebenden oder von toten Personen. Bei erlebten Personen kommen noch Mienen usw. als Verstehensquelle hinzu. Im Gegensatz dazu bedarf es beim Selbstverstehen keiner derartiger geistiger Objektivitäten, denn: „Die eigenen Erlebnisse, die den Gegenstand des Sichselbstverstehens bilden, werden in der Erinnerung des Selbstbetrachters, in seinem geschichtlichen Gedächtnis aufbewahrt.“ (kursiv von G.). Günther behauptet mit gewissem Recht (S. 17): „Das Verstehen der eigenen Person wäre überhaupt kein echtes Problem, wenn der Mensch sich selbst nicht auch mißverstehen könnte. Das eigentliche Problem des Sichselbstverstehens liegt in der...Kluft, die zwischen dem besteht, wie der sichselbstbetrachtende Mensch sich tatsächlich versteht, und dem, wie er sich...verstehen sollte, oder: wie er sich verstehen müßte, wenn er sich selber seinem eigentlichen wahren Sein adäquat verstünde.“

Eine solche These kann sich vielleicht auf die Annahme stützen, daß jede Person drei Charaktere hat: erstens den, den sie zu haben glaubt (Selbstbild), zweitens den, den sie zu haben wünscht (Wunschbild) und drittens den, den sie nicht kennt (Wesensbild). Günther meint denn auch (S. 23), daß das Selbstverstehen viel schwieriger sei als das Fremdverstehen. Aber das eigentliche Problem des Selbstverstehen sei: „Man darf ebensowenig von einem völlig adäquaten Verstehen wie von einem radikalen Nicht-Verstehen des eigenen Selbst reden. Die Wahrheit liegt zwischen den beiden äußersten Polen. Der delphische Orakelspruch `Erkenne dich selbst!´ wäre von vornherein nicht nur eine Bosheit und Ironie, sondern auch eine Sinnlosigkeit, wenn sich der Mensch nicht bis zu einem Grade verstehen könnte.“ „Auf der anderen Seite würde man nicht von Selbsttäuschungen und Selbstmißverständnissen reden, wenn es nicht möglich wäre, seine eigenen Erlebnisse und Motive falsch zu deuten.“

Auch Tugendhat spricht davon, daß das unmittelbare epistemische Selbstbewußtsein, im Unterschied zum mittelbaren, aufgrund der unbewußten Aspekte der eigenen mentalen Zustände zwischen Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung steht.

152

5.2.2

Selbsttäuschung

Selbsttäuschungen stellen ein kniffliges Problem dar. Es wurde nicht nur behauptet, daß Selbsttäuschungen paradox355 und daß sie unter Umständen vernünftig356 sind, sondern auch, daß es sie gar nicht geben könne.357 Unter denjenigen, die ihre Existenz nicht bestreiten, herrscht keine Einigkeit darüber, worin eine Selbsttäuschung besteht: manche sagen, die Täuschung finde innerhalb des mentalen Systems einer Person statt, während für andere sie zwischen diesem System und der Handlungsweise der Person liegt. Letzteres ist auch in Shoemakers Beispiel der Fall, und es leuchtet auch ein, daß es leichter ist, sich dadurch zu täuschen, daß man gegen seine Einsicht handelt (was ja in gewisser Weise eine Form der Willensschwäche ist) als z. B. widersprüchliche Überzeugungen zu haben. In undramatisch-analytischer Manier erörtert Shoemaker das Problem der Selbsttäuschung.358 Er sagt: „Oft wird angenommen, daß Selbsttäuschung bisweilen zu falschen positiven Überzeugungen der 2. Stufe führt. Nun resultieren zwar positive Überzeugungen der 2. Stufe manchmal aus einem Wunschdenken. Aber damit verträglich und meines Erachtens auch sehr plausibel ist es, daß das Wunschdenken in solchen Fällen auch die entsprechende Überzeugung 1. Stufe hervorbringt und daß folglich die positive Überzeugung 2. Stufe immer wahr ist. Wenn p der Inhalt der Überzeugung 1. Stufe ist, dann ruft das Wunschdenken, das die Überzeugung 2. Stufe, daß man glaubt, daß p und mit ihr die Überzeugung, daß p, hervorgerufen hat, wahrscheinlich auch die negative Überzeugung 2. Stufe hervor, daß man nichts glaubt, was mit p unverträglich ist. Und das macht genau eine Selbsttäuschung aus.“359

Shoemaker erläutert das an einem Beispiel, demzufolge eine Person P1 zu glauben vorgibt, gegenüber einem Kollektiv K keine Vorbehalte zu haben, sie aber dennoch hat. Denn aus ihrem Handeln ergibt sich, daß sie Vorbehalte hat. Das heißt, sie handelt entgegen ihrer geäußerten Meinung p („p“ stehe z. B. für „die K's sind o.k.“). P1 handelt also sozusagen im Sinne von nicht-p. Man nehme an: 355 356 357 358 359

Vgl. Davidson 1982, Pears 1984 so Davidson 1994 b Vgl. Lazar 1997 Shoemaker 1991 - Vgl. Löw-Beer 1990 Shoemaker 1991 S. 36 f

153

(1) P1 glaubt, daß p. (2) P1 handelt so als ob P1 nicht glaubt, daß p. (3) P1 glaubt nicht, daß p. P1's Handlungsweise, so würde man nach Shoemaker sagen, zeige, daß P1 gerade die Überzeugung hat (nämlich „die K's sind nicht o.k.“), die er nicht zu haben glaubt (nämlich „die K's sind o.k.“). Shoemaker resümiert: „Sein Verhalten könnte einem das Gefühl vermitteln, daß die Überzeugung, die er abstreitet, tiefer in ihm verwurzelt ist als die Überzeugung, die er zugibt; ich sehe jedoch keinen Grund, zu bestreiten, daß er beide Überzeugungen hat.“360 Man mag Shoemakers Darstellung der Wirkungsweise der Selbsttäuschung überzeugend finden oder nicht, sie offenbart jedenfalls, daß Rationalität zumindest für die Beseitigung von Selbsttäuschungen erforderlich ist. Das ist eigentlich nicht überraschend, da Selbsttäuschungen in einer Verletzung von Rationalität bestehen (müssen), wie Davidson klar gemacht hat. LöwBeer hat diesen Gedanken aufgegriffen: „Selbsttäuschung als Täuschung des rationalen Selbst“. Wenn man einmal die problematische Substantivierung „das Selbst“ zuläßt, so kann mit Löw-Beer gefragt werden: „Wer täuscht das Selbst? Um dies zu beantworten, muß man die Person in zwei `Selbste´ spalten, eines das überlegt und sich an Rationalitätsstandards hält, und ein anderes, das versucht, Überlegungen zu unterbinden und Rationalitätsstandards zu verletzen. Man könnte letzteres das irrationale und ersteres das rationale Selbst nennen. Danach wird das rationale Selbst durch das irrationale Selbst getäuscht.“361 Aber es stellt, abgesehen von der Spaltung einer Person in zwei „Selbste“, ein Problem dar, das Phänomen der Selbsttäuschung so zu beschreiben, daß ein rationaler Teil gegen einen irrationalen Teil gerichtet ist oder kämpft. Angemessener scheint es zu sein, eine Selbsttäuschung als eine irgendwie geartete Verletzung von

360 361

a.a.O. S. 37 - Shoemaker erörtert dort einen noch komplizierteren Fall. Löw-Beer a.a.O. S. 241

154

Rationalität zu begreifen, die innerhalb einer Person, oder wenn man so will: innerhalb eines Selbst, stattfindet.362 5.2.3

Selbstmißverstehen, Selbstverlust

Nicht nur durch die Phänomene der Selbsttäuschung und des Selbstmißverstehens, denen Nietzsche als indirekte Alternative sein Sich-selbstWollen entgegensetzte, wurde das Selbstverstehen zu einem illusionären Erkenntnisziel, sondern noch durch ganz andere, nämlich geradezu existentiell gewordene Selbstverhältnisse. Nach Holzhey-Kunz363 beantworten Freud und Heidegger übereinstimmend die Frage nach dem menschlichen Selbstverhältnis hinsichtlich der Selbsterkenntnis so (S. 359): „Der Mensch ist sich selbst im wesentlichen entfremdet

Selbstentfremdung

Er ist seiner selbst nicht mächtig

Selbstentmächtigung

Er täuscht sich über sich selbst

Selbsttäuschung

Er flieht vor sich selbst

Flucht vor sich selbst“

Bezeichnend für beide Denker ist die einheitliche Metaphorik des Hauses, so daß also das „Nicht-Herr-im-eigenen-Hause-sein“ bzw. das Unzuhausesein“ bzw. das „Unbehaustsein“ als Flucht vor diesen Zuständen erscheinen. Dazu schreibt Holzhey-Kunz in bester Therapeutenmanier (S. 376): „Die Weisheit des gesunden Menschenverstandes liegt eben darin, das Unzuhause-sein weder zu verleugnen noch unverhüllt auszusprechen, sondern es in der Form mehr oder weniger beruhigender Sinndeutungen

362

363

Selbsttäuschung darf nicht so beschrieben werden: „P1 kann P1's SprachHandlungen nicht erklären/verstehen“, sondern eher in folgender Weise: „P1 glaubt, daß P1 bestimmte mentale Eigenschaften hat, aber andere P's glauben das nicht oder glauben das Gegenteil davon“ oder gar, wie vielleicht in Fällen von Schizophrenie, so: „P1 glaubt von P1, nicht P1 zu sein“ oder „P1 will nicht P1 sein“. Vgl. dazu R. Wollheim/J. Hopkins 1982. Vgl. auch die Deutung des in diesem Band enthaltenen Davidson-Aufsatzes von Rorty. Vgl. Holzhey-Kunz 1989 S. 356-382

155

aufzuheben.“ Und das, obwohl Holzhey-Kunz gnadenlos schon auf S. 366 uns den anthropologischen Abgrund gezeigt hat: „die Seinslast, welche nach Heidegger der Mensch als weltoffenes Wesen zu tragen hat, kommt auch bei Freud zur Sprache, allerdings spezifiziert als `das auf uns allen lastende Problem der Sexualität´.“ Kann unter solchen Bedingungen ein autonmomes Selbstverstehen möglich sein, wenn auf therapeutische Hilfe verzichtet wird? Grondin schreibt (1994 S. 76): „Heidegger geht davon aus, daß der Mensch sich chronisch mißversteht und verfehlt - ein Umstand, der in den frühen Vorlesungen Ruinanz genannt und in `Sein und Zeit´ als Verfallen existenzial verankert wird. Die Ursprünge dieser nahezu freudianischen Einsicht sind wohl theologischer Natur...“. Barbara Merker364 hat auf den gnostischen Ursprung von Heideggers Denken hingewiesen, der in diesem Zusammenhang von „Selbstentfremdung“ sprach. Es besteht nun aber in außergnostischen Kreisen ein erheblicher Unterschied zwischen einem Selbstmißverständnis und einer Selbstentfremdung. Denn es ist normalerweise richtig, ein moralisches Verfallensein von einem epistemischen Selbstmißverständnis zu unterscheiden. Es kann auch nicht als ausgemacht gelten, daß eine Selbsttäuschung immer etwas Schlechtes ist. Davidson meint, daß eine sich selbst täuschende Person normalerweise ihre Selbsttäuschung nicht bemerkt, so daß sie damit keine Probleme hat, ja eher sogar Vorteile, weil dadurch Unangenehmes verdrängt werde.365 Wenn Grondin, Heidegger deutend, sagt, daß „der Mensch sich chronisch mißversteht“, dann wird das Selbstmißverstehen als anthropologische Dauerkrankheit diagnostiziert. Vorausgesetzt, das wäre eine diagnostizierbare Krankheit, so bestehen doch starke Zweifel an ihrer Existenz, insbesondere daran, daß alle Menschen sie haben oder daß alle sie bekommen könnten. Und falls es möglich wäre, daß alle oder die meisten sich in diesem Krankheitszustand befinden könnten, könnten sie nicht erkennen, daß sie sich in diesem Zustand befänden. Darüber hinaus glaube ich nicht, daß dieser im Einzelfall zweifellos vorhandene Zustand ein 364 365

Vgl. Merker 1988 sowie Brumlik 1992 Davidson 1994 b

156

universaler Dauerzustand sein könnte, weil sonst das bisherige Überleben der Menschheit unerklärlich wäre. Es kann sich daher nur um einen partikularen und temporären Zustand handeln. Ohne Zweifel gibt es pathologische Selbstverhältnisse wie z. B. Selbstverachtung, Selbstverneinung, Selbsthaß366, Selbstüberschätzung, Selbstvergottung, Selbstverwerfung, Selbstbetrug. Man kann sich selbst gegenüber negativ gesonnen sein. Günther faßt alle derartigen Phänomene unter dem Begriff des Selbstwertgefühls zusammen. Die Frage, die sich dabei stellt: Sind diese Phänomene Fälle von, obzwar verzerrtem, kognitivem Selbstverstehen oder verweisen sie auf ein nichtkognitives Selbstverstehen oder findet in ihnen gar kein Selbstverstehen statt? Dieselbe Frage stellt sich für solche Phänomene wie Selbstbejahung oder Selbstliebe. Eine Antwort darauf wird in Kapitel 7 gegeben. In all den genannten falschen Selbstverstehensfällen kann sinnvollerweise unterschieden werden, wie Günther das tut (S. 208), zwischen der Weise wie jemand sich tatsächlich versteht (bzw. wie jemand sich zu verstehen versucht) und der Weise, wie er sich verstehen sollte, aber nicht versteht. Wegen dieses normativen Elements, d. h. wegen der Möglichkeit der Selbsttäuschung, muß diese Differenz zugelassen werden. Weil das Selbstverstehen nach Günther immer ein Selbstbewerten ist, ist es für eine zweite Person notwendig, für die Beurteilung des Selbstverstehens zwischen dem tatsächlichen Selbstverstehen und dem Selbstverstehen, das das angemessene wäre, zu unterscheiden. Es ist auch ganz üblich zu sagen, daß man jemanden bzw. etwas soundso verstehen sollte. In bestimmten Kontexten oder aufgrund bestimmter sozialer Rollen kann das Personenverstehen sogar gefordert werden: zum Beispiel von Eltern.

366

Vgl. Nietzsche „Genealogie der Moral“: „Möchte ich irgendjemand Anderes sein? so seufzt dieser Blick. Aber da ist keine Hoffung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch - habe ich mich satt!“ Und in seiner „Morgenröthe“ wird die Konsequenz aus diesem Gedanken gezogen: „Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verführen.“

157

Zusammengefaßt und zugespitzt sei über das kognitive Selbstverstehen gesagt: das (gelungene) Selbstverstehen besteht nicht in einer inneren, vorsprachlichen, intuitiven Erfahrung oder Erkenntnis eigener Vorstellungen, Gedanken usw., sondern in einer äußeren, im Prinzip kommunikativ vermittelten, semantisch-pragmatischen Interpretation eigenen SprachHandelns: also nicht Introspektion, sondern Interpretation.367 P1's Selbstverstehen kann dadurch verbessert, und manchmal überhaupt erst erzeugt (!) werden, daß P1 das SprachHandeln der mit P1 kommunizierenden Personen und das in dieser Kommunikation zum Ausdruck kommende Fremdverstehen seiner Person versteht. Wenn ich mich selbst verstehen will oder wissen will, was für ein Individuum ich bin, muß ich mich verkürzt gesagt - an die anderen Personen halten, indem ich versuche, deren Verstehen meiner Person zu verstehen, also ihr auf mich bezogenes Fremdverstehen.368 Die „Methode“ des kognitiven Selbstverstehens gründet deshalb im Verstehen des Verständnisses, das andere Personen von mir haben. 5.3 Zusammenhänge zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen „Um jemand zu verstehen, der sich selbst nur halb versteht, muß man ihn erst ganz und besser als er selbst, dann aber nur halb und gerade so gut wie er selbst verstehen.“ (Friedrich Schlegel: Athenäumsfragmente in: Athenäum 1. Bd, 2. Stück, Nr. 401) Wie sind Selbstverstehen (SV) und Fremdverstehen (FV) verbunden?369 Man könnte sagen, daß es für Kant ein subjektivitätstheoretisches Gebot war, beides als verbunden zu denken, während es für Hegel eine sozusagen 367

368

369

Vgl. Dilthey a.a.O. VII. Bd. S. 87, wo er von den „engen Grenzen einer introspektiven Methode der Selbsterkenntis“ sagt: „nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sich selbst; so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehens selber kennen.“ Dilthey schrieb am a.a.O. V. Bd. S. 318: „Ferner kann die innere Erfahrung, in welcher ich meiner eigenen Zustände inne werde, mir doch für sich nie meine eigne Individualität zum Bewußtsein bringen. Erst in der Vergleichung meiner selbst mit anderen mache ich die Erfahrung des Individuellen.“ Für Günther a.a.O. S. 104 „steht fest, daß das Sichselbstverstehen in wesentlichen Punkten mit dem Fremdverstehen übereinstimmt.“

158

personalitätstheoretische Tatsache war.370 Beiden ging es jedoch nicht um ein Personenverstehen im Sinne einer Hermeneutik der Individualität. Sie waren mit ihren Thesen aber Wegbereiter eben dieser Hermeneutik. Es sieht so aus, als ob es eine ontogenetische Priorität des Fremdverstehens gibt, da Selbstverstehen mindestens an semantisches Wissen, unter anderem an die Fähigkeit zur Verwendung von Personalpronomina, aber auch an „Weltwissen“, gebunden ist. Das „ich“-sagen-Können wird erst nach ungefähr drei Jahren gelernt. In der „erwachsenen“ Kommunikation sind Selbstverstehen und Fremdverstehen aufeinander angewiesen und auf vielfältige Weise verschränkt. Wenn das Selbstverstehen versagt, dann versagt auch das Fremdverstehen (Kants: „logischer Eigensinn“); und wenn das Fremdverstehen versagt, versagt auch das Selbstverstehen (Schizophrenie)371. Es spricht nun vieles dafür, daß Kommunikation und Interaktion unter dem Aspekt der Verschränkung von Selbstverstehen und Fremdverstehen rekonstruiert werden können.372 Jedenfalls ist die alltägliche Bezugnahme auf subjektiven Sinn zum Zweck der Verständigung nur möglich, wenn die meisten Handelnden Selbstverstehen und Fremdver-

370

371 372

In § 40 der „Kritik der Urteilskraft“ behauptet Kant, die „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ seien: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart...Man kann sagen: die erste dieser Maximen ist die Maxime des Verstandes, die zweite der Urteilskraft, die dritte der Vernunft.“ Und Hegel schreibt in der „Phänomenologie des Geistes“ (Kap. über „Selbstbewußtsein“, Teil A: „Herrschaft und Knechtschaft“): „Diese Bewegung des Selbstbewußtseins in der Beziehung auf ein anderes Selbstbewußtsein ist aber auf diese Weise vorgestellt worden als das Tun des Einen; aber dieses Tun des Einen hat selbst die gedoppelte Bedeutung, ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein...“ Berühmt ist auch Hegels Schlagwortsatz aus dem einleitenden Kapitel über „Selbstbewußtsein“: „Ich, das Wir ist, und Wir, das Ich ist.“ (kursiv von Hegel). Vgl. Stierlin 1971 Vgl. Williams 1978 S. 30-36 Vgl. Schütz 1974, Habermas 1981 sowie Meggle 1994 und die dort erwähnte Literatur

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stehen im Prinzip auseinanderhalten können, auch wenn deren Verschränkung von ihnen nie reflektiert werden sollte.373 Wie oder wodurch Kommunikation anfängt und aufhört, läßt sich nicht generell angeben, auch wenn sich „Grundbegriffe der Kommunikation“ (Meggle) angeben lassen. Ob man sagen kann, permanente Kommunikation (Ehe, Freundschaft usw.) erleichtere oder erschwere das Fremdverstehen, scheint mir ganz offen zu sein. Für A. Schütz beginnt, anders als hier dargelegt, das Verstehen mit dem Selbstverstehen und geht dann zum Fremdverstehen über. Die Erklärung zielt darauf ab, „das Verstehen der eigenen Erlebnisse vom Du von jenen Verstehensakten abzusondern, welche die Erlebnisse des Du zum Gegenstand haben...“374 Schütz meint nun insbesondere, daß das Fremdverstehen durch eine kommunikative Nähe ein unmittelbares Verstehen ermöglicht, was bei relativ fremden Personen über sprachliche Kommunikation erfolgen muß: „Das Du in der Umwelt habe ich als ein Selbst erfahren und das in jener ursprünglichen Tiefenschicht der vorprädikativen Erfahrung. Das Du in der Mitwelt wird niemals als ein Selbst erfahren und niemals in vorprädikativer Erfahrung. Vielmehr ist alle Erfahrung von der Mitwelt eine prädikative, die sich urteilend in der Explikation meines Erfahrungsvorrates von der Sozialwelt überhaupt (wenn auch in ganz verschiedenen Klarheitsstufen und Vagheitsgraden) vollzieht.“375

Diese Unterscheidung in das Fremdverstehen einzuführen, scheint plausibel, ist aber deswegen problematisch, weil sie das Verstehen des Selbstverstehens (Wissensbedingung d) einfach als gegeben voraussetzt oder jedenfalls nicht thematisiert. Aber abgesehen davon ist die Rede von einem blanken „Selbst“, das vorprädikativ erfahren wird, problematisch. Sie führt mit dem vorher genannten Punkt zu der These, daß das Fremdverstehen teils kognitiv, teils nichtkognitiv ist. Und die Frage wäre dann die, was an 373

374 375

Stierlin 1971 S. 11: „Jede anhaltende menschliche Beziehung verlangt von uns zweierlei: wir müssen uns einmal dem Partner öffnen, uns auf ihn einstellen, seine Bedürfnisse befriedigen und seine Weltsicht anerkennen; zum anderen müssen wir unsere Autonomie und Individualität bewahren und ihm gegenüber unseren Standpunkt und unsere Bedürfnisse vertreten. Diese Beziehung verlangt...eine psychische Abgrenzungs- und Versöhnungsarbeit, die wiederum ein starkes Ich...voraussetzt.“ (kursiv von Stierlin) Schütz a.a.O. S. 22 a.a.O. S. 255

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einem nichtkognitiven Fremdverstehen noch ein Verstehen wäre. Wenn Schütz a.a.O. S. 312 schreibt: „Je anonymer der Partner ist, umso weniger kann er erlebt und umso mehr muß er gedacht werden“, dann kann das wie eine stipulative Definition des Begriffs der Anonymität gelesen werden, andererseits aber auch als die Ansicht, wonach für ein Fremdverstehen erforderlich ist, daß man die zu verstehende Person erlebt. (Vgl. Kapitel 7.1 und 7.2) Die Zusammenhänge zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen sind, wenn man nur den Begriff des Verstehens so weit faßt, daß er den Erklärungsbegriff mit einschließt, Gegenstand sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Im engeren Sinn, nämlich dem Begriff des Personenverstehens, geht es um die Frage, ob man die Beziehungen (es sind nämlich mehrere) zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen als Bedingungsverhältnisse rekonstruieren kann. Es geht zunächst um die Frage, ob die Wissensbedingung (d) aus Kapitel 5.1.1, nämlich: (d) „Eine Person verstehen heißt wissen, wie sie sich selbst versteht“ so erweitert oder ergänzt werden muß, wie es der Schluß des vorigen Kapitels ja nahelegt: (d') „P1 versteht P2, wenn P1 P2's Selbstverstehen kennt und wenn demzufolge P1 P2's Interpretation des Fremdverstehens seiner eigenen Person P2 kennt.“ Denn das Selbstverstehen soll ja im Verstehen des Fremdverstehens bestehen. Also muß P1 auch das zu P2's Selbstverstehen gehörende Fremdverstehen seiner eigenen Person kennen, denn P2's Selbstverstehen wird erst dadurch ermöglicht. Man kann diesen Fall häufig erleben: Hans versucht Peter zu verstehen, indem er versucht, herauszufinden, wie Peter sich selbst versteht, bemerkt aber, daß Peter nicht kapiert, wie seine anderen Freunde ihn verstehen und daß es deswegen mit Peters Selbstverstehen hapert. Je nachdem wie der Fall liegt, also wie stark Peters Selbstverstehen mißlingt, kann gesagt werden, daß Hans Peter nicht verstehen konnte oder daß Hans Peters Selbstmißverstehen erkannt hat.

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Nun kann es auch der Fall sein, daß nur Peters Interpretationen des Fremdverstehens seiner selbst schief liegen (schließlich geht es um ihn selbst), daß jedoch sein eigenes Fremdverstehen anderer Personen, die mit ihm nicht befreundet sind, gut funktioniert, so daß (d') ersetzt werden müßte: (d'') „P1 versteht P2, wenn P1 P2's Selbstverstehen kennt und wenn darüber hinaus P1 P2's Fremdverstehen der Personen P3 ... Pn kennt.“ Es ist intuitiv klar, daß P1 größere Chancen hat, eine Person P2 zu verstehen, wenn P1 weiß, wie P2 andere Personen als sich selbst versteht. Im übrigen stellen die Bedingungsverhältnisse (d') und (d'') nur Explikationen der Wissensbedingung (d) dar, womit zu (a) - (e) keine neue Wissensbedingung für das Fremdverstehen hinzugekommen ist. Soweit zu der Vernetzung des Fremdverstehens mit dem Selbstverstehen aus der Sicht des Fremdverstehens. Nun kann diese Vernetzung auch aus der Sicht des Selbstverstehens betrachtet werden. Es hatte sich aus der Diskussion von Kapitel 5.2.1 ergeben, daß ein Selbstverstehen nicht von einer Person allein, gleichsam in solipsistischer Reflexion, erzeugt wird, sondern in der das Fremdverstehen einschließenden und auf sie selbst bezogenen Kommunikation mit anderen Personen. Das Selbstverstehen ist kein Sich-in-sich-Hineinversetzen. Daher kann man sagen: (SV) „P1 versteht P1 nur dann, wenn P1 das auf P1 bezogene Fremdverstehen von P2...Pn versteht.“ Aber damit nicht genug. Plausibel ist auch noch die folgende Erweiterung, die an P1's Selbstverstehen eine Bedingung knüpft, derzufolge dieses verstehbar bzw. interpretierbar sein muß: (SV') „P1 versteht P1 nur dann, wenn P2...Pn P1's Selbstverstehen interpretieren können.“ Wegen dieser unterschiedlichen Bedingungsverhältnisse läßt sich sagen, Personenverstehen hat, sowohl als Fremdverstehen wie als Selbstverstehen, eine rückbezügliche bzw. reflexive Struktur: eine sich selbst und andere zu verstehen versuchende Person versucht, eine sich selbst und andere zu verstehen versuchende Person zu verstehen.

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Zu beachten ist: das Prozeßhafte von Verstehensversuchen verdeutlicht den Zusammnenhang von Selbst- und Fremdverstehen. Es kann z. B. vorkommen, daß während des Prozesses, in dem P1 P2 zu verstehen versucht, auch P2 P1 zu verstehen versucht. Dann muß P1 außer P2's Selbstverstehen noch das Fremdverstehen P2's, insbesondere das auf P1 gerichtete Fremdverstehen, interpretieren, um P2 zu verstehen. Von Reflexivität ist hier allerdings nicht in einem logischen Sinn die Rede, demzufolge eine Relation xRx genau dann reflexiv ist, wenn ihre Relata dieselben sind, denn ersichtlich ist das hier nicht der Fall, es sei denn man betrachtete nur das „P1 versteht P1“. Sondern die hier vorkommende Reflexivität ist eine Reflexion des Denkens, wie sie in einem Satz der Form „Ich denke, daß ich selbst das und das bzw. der und der bin“ zum Ausdruck kommt, aber nicht in einem logisch reflexiv gemeinten „Ich denke mich“ ausgedrückt werden könnte. Dieser Satz wäre auch semantisch unsinnig. Wenn es nun aber derart reflexiv bei dem kognitiven Personenverstehen und der für das Fremdverstehen zu erfüllenden Wissensbedingung (d) zugeht, dann liegt damit ein sehr starker bzw. anspruchsvoller Begriff des Personenverstehens vor - stark auch deswegen, weil ja noch die Wissensbedingungen (a), (b), (c) und (e) als notwendige Bedingungen hinzukommen. Wie stark dieser Begriff ist, sieht man vielleicht deutlicher, wenn man diesen Begriff in eine Verstehensregel faßt. Gemäß dem starken Begriff des Fremdverstehens könnte man als Regel des kognitiven Fremdverstehens (VR) formulieren: (VR) „Wenn du P2 verstehen willst, versuche P2's Selbstverstehen und Fremdverstehen zu verstehen.“ Nach meiner Einschätzung erkennt man an dieser Verstehensregel deutlich, wie anspruchsvoll das kognitive Fremdverstehen und Selbstverstehen ist. Oft jedenfalls scheint es so, als würde man dieses Ziel nicht erreichen können, weil es nur entweder Verstehen oder Mißverstehen gibt. Es stellt sich daher erneut die Frage, ob man nicht einen weniger anspruchsvollen Begriff des kognitiven Personenverstehens haben sollte, nämlich den schon in 5.1.2 erwähnten komparativen Verstehensbegriff. Zu bedenken ist jedoch folgendes: er entspricht zwar dem Sprachgebrauch, aber die Verwendung des Verstehensbegriffs ist sehr verschwommen. Denn bei der

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Verwendung dieses Begriffs wird nicht einmal klar zwischen dem Versuch, dem Prozeß und dem Resultat des Verstehens unterschieden. Durch die Verwendung eines komparativen Verstehensbegriffs werden keine Bedingungen angegeben, unter denen etwas oder jemand verstanden worden ist. Wenn man das im Auge behält, könnten die oben angeführten Bedingungsverhältnisse folgendermaßen modifiziert werden. Zunächst für Fremdverstehen: „P1 versteht P2 besser, wenn P1 P2's Selbstverstehen und Fremdverstehen versteht.“ Dann für das Selbstverstehen: „P1 versteht P1 besser, wenn P1 das auf P1 bezogene Fremdverstehen von P2...Pn versteht.“ Und: „P1 versteht P1 besser, wenn P2...Pn P1's Selbstverstehen verstehen können.“ Dieser komparative Begriff des Personenverstehens hat die Konsequenz, daß man statt zwischen Verstehen und Mißverstehen von Personen, zwischen einem Mehr-oder-weniger-Verstehen und einem Nichtverstehen unterscheiden muß. Ein Mißverstehen gibt es also nicht, wenn man von dem komparativen Verstehensbegriff ausgeht. Damit hätte man eine Unterscheidung für das Personenverstehen getroffen, die eine Asymmetrie zwischen einem positiven und einem negativen Verstehensversuch anzeigt.376

376

Beide Ergebnisse stehen nicht auf einer Stufe, und, wie der Auszug aus einem Brief von Georg Henrik von Wright (4.9.1989) andeutet, ist es nur dann angebracht, von einem Mißverstehen zu sprechen, wenn man Kriterien des (richtigen) Verstehens hat: „Wenn von Personen die Rede ist, besteht...eine Asymmetrie zwischen Verstehen und Mißverstehen. Eine Person mißverstehen heißt für Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

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Daher ist Schleiermachers These: „Das Nicht-Verstehen will sich niemals gänzlich auflösen“377 für eine Explikation des kognitiven Personenverstehens nicht brauchbar, was sie vielleicht auch nicht sein sollte, denn er sagte 1809/1810: „Die Hermeneutik beruht auf dem Faktum des Nichtverstehens der Rede.“378. Für sich genommen ist Schleiermachers These insofern unklar, als er es offenläßt, ob alle Verstehensversuche, also nicht nur die Versuche, Personen zu verstehen, immer nur in einem Mehr-oderweniger-Verstehen resultieren oder ob alle Verstehensversuche immer im Mißverstehen enden, es also überhaupt kein Verstehen gibt. Daß es selbst im Hinblick auf Personen immer nur Mißverstehen oder kein Verstehen im Sinne eines Besserverstehens geben können soll, erscheint nicht einleuchtend. Darüber hinaus kann weder das Nichtverstehen noch das Mißverstehen für das gesamte SprachHandeln als universales Faktum angesehen, geschweige denn gedacht werden.379 Irgendworan muß sich die Differenz zwischen dem Verstehen und seinem Gegenteil erkennen lassen. Und dort, wo es Konventionen gibt, gibt es auch Kriterien für das Verstehen. Die regulative oder transzendentale Differenz zwischen „wahr oder nicht wahr bzw. falsch“ muß auf ein kognitiv gedeutetes Personenverstehen angewandt werden. Auch wenn damit die Vorstellung verbunden werden muß, eine Person sei unabhängig von ihrem Verstandenwerden, so-und-so beschaffen und das Personenverstehen bestünde im Erkennen dieses objektiven Soseins. Doch schon in Bezug auf Handlungsverstehen hat von

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gewöhnlich, etwas was er sagt oder getan hat, nicht richtig verstanden zu haben. Hier ist also das (Miß)verstehen des anderen auf Sprach- und Handlungsverstehen zurückführbar. Die Person selbst kann man besser oder weniger gut verstehen, oder sie ist uns, wie wir sagen, `ganz unverständlich´. Aber ich kann sie eigentlich nicht mißverstehen.“ (kursiv von v.Wright) Schleiermacher 1977 S. 328. Virmond 1984 S. 1271 zitiert nach Berner 1992 Ähnlich problematisch ist Gadamers Behauptung, es gebe immer nur Andersverstehen und niemals Besserverstehen (21965 S. 280). Was soll das heißen? Wenn das jeweilige Andersverstehen niemals ein richtiges sein könnte, dann wäre kein Verstehensresultat mit einem anderen unverträglich, was kontraintuitiv ist. Gadamers Behauptung trifft nicht einmal für das Personenverstehen zu, vom Verstehen von Texten oder Handlungen ganz abgesehen.

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Wright seltsamerweise vor dieser objektivistischen Vorstellung gewarnt.380 Erst recht mußte er das auch bei dem Personenverstehen tun. 5.4 Verstehen von Kollektiven und kollektives Verstehen Bekanntlich lassen sich Personen zu verschiedenen Mengen zusammenfassen. Hier geht es nicht um willkürlich gebildete Mengen logischer Art, sondern um so etwas wie natürliche oder geschichtlich gewachsene Mengen von Personen, die eine gewisse Einheit bilden oder denen man eine Identität zuzuschreiben geneigt ist: wie z. B. Völkern oder Nationen. Es stellt also nicht jede beliebige Menge von Personen ein verstehbares Gebilde dar. Nennen wir ein verstehbares Gebilde ein „Kollektiv“ genau dann, wenn das Kollektiv analog zu einer einzelnen Person Überzeugungen und Präferenzen (auch höherstufige bzw. iterierte) hat und ihnen entsprechend zweckrational handelt.381 Zum Verstehen von Kollektiven gehört wesentlich das Verstehen der Zwecke, die das Kollektiv verfolgt, also die Weise, in der das Kollektiv handelt, wie z. B. Kriege zu führen. Zu dieser Problematik gibt es jede Menge soziologischer Theoriebildung, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Kollektive haben in der Regel ein Selbstverständnis, und es werden in der Regel ihnen von anderen Kollektiven Eigenschaften zugeschrieben. In der Regel werden diese Zuschreibungen ebensowenig deckungsgleich sein wie das Selbstverstehen und das Fremdverstehen einzelner Personen. Es ist also möglich, daß die begrifflich klassifizierten Kollektive (wie z. B. die Moslems, die Amerikaner, die Arbeiter, die Männer usw.) aus verschiedenen Interessen und Gründen sich selber soundso verstehen (wie z. B. als pazifistisch) und von anderen Kollektiven ganz anders (wie z. B. als kriegerisch) verstanden werden. Daß es so etwas wie ein Kollektivbewußt-

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Vgl. von Wright/Meggle 1989, S. 30: „Das richtige Verstehen heißt nicht Übereinstimmung mit einer `objektiven´, d. h. unabhängig von dem Verstehen bestehenden Wahrheit.“ (kursiv von v. Wright) Frank 1990 S. 272 sagt: „Kollektive bestehen aus selbstbewußten Subjekten, sind aber keine.“ (kursiv v. Frank)

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sein gibt, ist bestritten worden382 und daß es eine Kollektivseele gibt, ist zum Beispiel von C.G. Jung) behauptet worden. Es gibt aber seit Durkheim auch den weniger anspruchsvollen Begriff einer Kollektivvorstellung. Im übrigen macht Konersmann383 auf die historische Entwicklung aufmerksam, derzufolge die uns Heutigen geläufige Unterscheidung zwischen Person und Kollektiv keineswegs immer gegolten hat: „Im Mittelalter...ist der Einzelne nicht als solcher Person, er wird es erst im Rahmen seiner Zugehörigkeit zum Kollektiv (etwa der Gläubigen, der Aristokraten, des Klerus), `indem er eine Rolle übernimmt, die er nicht geschrieben hat´, und die er sich zu eigen macht.“

Auf dem Gebiet der Kollektive ist viel Raum für Mystik und Aberglaube, für Illusionen eines metaphysischen Realismus,384 also für Thesen über das, was an sich oder von Natur aus gegeben ist oder natürlicherweise vorliegt. Das scheinbar natürlichste Kollektiv (Platons „Symposion“ ist es zu verdanken, daß man diese Natürlichkeit bezweifeln kann) sind die Geschlechter der Menschen. In Bezug auf diese Kollektive wird heute des öfteren bestritten, daß hier irgendetwas von Natur aus gegeben ist. Es wird im Gegenteil behauptet, daß die Geschlechterdifferenz eine sozio-kulturelle Konstruktion ist - gemacht von der bzw. den gesellschaftlichen Kultur(en).385 Die Personalisierung von Kollektiven ist ein sozialpsychologischer Normalfall. Damit meine ich die Zuschreibung von Eigenschaften zu Kollektiven, die normalerweise nur Personen zugeschrieben werden, wie z. B. „die K's sind widerlich“. Es stellt für viele Menschen kein Problem dar, z. B. einen Nationalcharakter anzunehmen. Die Verwendung von Personenprädikaten für nationale Kollektive typisiert die als Elemente der bezeichneten Menge existierenden Personen, und insofern wirkt eine

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Vgl. den gleichnamigen Art. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, 1976: „Der Begriff `Kollektivbewußtsein.´ Ist seinem Wesen nach widersprüchlich und zweideutig...” Konersmann 1993 S. 215 – kursiv von Konersmann Vgl. dazu Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.) 1992 a Vgl. Simone de Beauvoirs Frage: „Gibt es überhaupt Frauen?“

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solche Verwendung entindividualisierend. Denn nicht die einzelne Person ist der Bezugsgegenstand der Prädikation, sondern eine abstrakte Person, eben der bzw. die als typisch angenommene Vertreter(in) des bezeichneten Kollektivs.386 Es bedarf hier keiner Ausführungen über die Gefahren solcher Prädikationen (die häufig nur Vorurteile darstellen) und auch keiner Hinweise über die einschlägigen soziologischen Theorien über diese Gefahren. Im Hinblick auf das Verstehen von Kollektiven sollte man selbstverständlich die Unterscheidung zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen auch anwenden. Zu beachten ist aber, daß man für das Verstehen von Kollektiven nicht die oben angegebenen Wissensbedingungen anwenden kann, sondern höchstens Analogien dazu. Außerdem sollte man zwischen dem Sachverhalt unterscheiden, daß eine Person eine andere als Mitglied eines Kollektivs verstehen will387 und dem Sachverhalt, daß eine Person ein Kollektiv verstehen will:388 (1) Eine Person P1 versteht P2 als Angehörige(n) des Kollektivs K (2) Eine Person P1 versteht ein Kollektiv K und die Angehörigen Px von K Es kann also für das Fremdverstehen sinnvoll sein, eine Person gerade als eine(n) Angehörige(n) von K verstehen zu wollen, und manchmal ist es auch ratsam oder auch legitim.389 Oft ist es scheinbar unausweichlich, und zwar dann, wenn das Problem entsteht, einen Angehörigen des anderen Geschlechts zu verstehen. Zu sagen: „Den Mann/die Frau verstehe ich (nicht)“ wäre ein Fall von (1). Ein Fall von (2) wäre: „Frauen/Männer kann 386

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So z. B. der Amerikaner Steven Ozment in: DIE ZEIT Nr. 31 vom 22.7. 2004: „Heute besteht der durchschnittliche Deutsche aus mindestens fünf Personen in einer einzigen: Er ist Dorfbewohner oder Städter; Bürger eines der 16 Bundesländer, Bürger der vereinigten deutschen Nation; EU-Bürger und schließlich ist er das, was die Deutschen gern `Weltbürger´ nennen.“ So schreibt Peter Schneider in der FR vom 6.2.1993: „...warum die Deutschen Ost und West sich nach 40 Jahren Teilung so wenig grün sind und sich so gründlich mißverstehen.“ So fragt sich in der FR vom 3.2.1993 Otto F. Best: „Sind wir `ein Volk ohne Witz´?“ Beispiele für das zu Verstehende, an die ich denke, sind bezüglich Punkt (1) der Arbeiter um 1930, und bezüglich Punkt (2) die Palästinenser um 1990.

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man (nicht) verstehen“. Ähnlich verzwickte Verstehensversuche ergeben sich häufig und auf vielerlei Weise mit fremden oder fremdartigen Nationen, Völkern, Gesellschaften, Kulturen, Religionen. Hierbei ist zu beachten, daß „fremdartig“ ein mindestens zweistelliger, komparativer und außerdem noch wertender Begriff ist. Nun muß sich der Sachverhalt (1) und der Sachverhalt (2) nicht immer klar auseinanderhalten lassen. Betrachten wir dazu Verstehensversuche bei dem Fremdverstehen. Es kann sein, daß P1 P2 gerade als Angehörige von K zu verstehen glaubt, aber das Kollektiv K nicht versteht und deshalb auch nicht deren Angehörige P2. Die folgende Bemerkung Wittgensteins weist auf eben diese Schwierigkeiten hin: „Wir sagen auch von einem Menschen, er sei uns durchsichtig. Aber es ist für diese Betrachtung wichtig, daß ein Mensch für einen andern ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man, wenn man in ein Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht. (Und nicht darum, weil man nicht weiß, was sie zu sich selber sprechen.) Wir können uns nicht in sie finden.“390

Was Wittgenstein hier vermutlich zum Ausdruck bringen wollte, wird heute häufig durch den Begriff der Mentalität bezeichnet, und meines Erachtens könnte man Wittgenstein durchaus so verstehen, als ob er zum Beispiel auf die englische Kultur des Gesprächs anspielen wollte, also auf Ironie, Sarkasmus, Humor usw. Man kann sehr wohl die Sprache eines Landes beherrschen, also die Sätze dieser Sprache verstehen. Aber wenn man das SprachHandeln nicht versteht, also z. B. die Sprechakte nicht richtig identifizieren und interpretieren kann, also z. B. nicht weiß, ob man (überhaupt) gelobt, warum man (gerade jetzt) gelobt und wofür (eigentlich) man gelobt wurde, versteht man auch die (anscheinend oder scheinbar lobenden) Menschen nicht.391 Doch weil Wittgensteins Verwendung des Verstehensbegriffs in diesem Zitat zwischen einer kognitiven und nichtkognitiven Bedeutung schillert, weiß man nicht genau, was er gemeint hat. Nun läßt sich auch der Fall denken, daß P1 K versteht, vielleicht weil P1 Angehöriger von K ist, aber P2 nicht versteht, obwohl P2 auch Angehöriger 390 391

1984 Bd. 1, S. 568 - kursiv von L.W. Das Loben wäre am ehesten als ein Fall eines expressiven illokutionären Aktes anzusehen - siehe Searle 1982, Kap. 1

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von K ist. In einem derartigen Fall läge nicht nur ein Versuch auf der Ebene des Fremdverstehens vor, sondern eben auch auf der Ebene des Selbstverstehens, da P1 Angehöriger von K ist. Es gibt in der Tat ein Selbstverständnis von Kollektiven, das nicht gleich der Summe der Selbstverständnisse der Angehörigen ist. Günther hat sogar von einer „KollektivIndividualität“ gesprochen, die vom „Verstehen der eigenen Zeit, der eigenen Geistes-oder Kulturepoche“ bis hin zu den allerkleinsten Kollektiven wie der eigenen Familie reicht.392 Daß es eine Rolle für das Personenverstehen spielt, in welchen sozialen Klassen P1 und P2 sich befinden, dürfte in manchen Gesellschaften offensichtlich sein. Aber welchen Unterschied es für das Personenverstehen ausmachen könnte, wenn der eine z.B Sklave und der andere sein Herr ist, scheint nicht ganz klar zu sein.393 Die sozialen Klassen erzeugen ein verschiedenes Klassen- und Zeitbewußtsein, so daß sich vermutlich ein Fabrikarbeiter am Anfang des 20. und am Ende des 20. Jahrhunderts auf höchst verschiedene Weise mit ihren Arbeitgebern verstehen. In der „Phänomenologie des Geistes“394 hieß es schon, daß die Person „das Anerkanntsein“395 ist. Seinem historischen Bewußtsein gemäß und mit der Beziehung zum Begriff des Eigentums, auf deren Relevanz übrigens schon John Locke aufmerksam gemacht hatte, verankert Hegel den Personbegriff in der bürgerlichen Gesellschaft: Personen haben „als Eigentümer füreinander Dasein“ (§ 40). „Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ (ebd. § 36) Auch Sartre hat (in seinem „Der Idiot der Familie“ I, 7) auf die Prägung des Menschen durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Epoche hingewiesen.396 In trivialer Weise stellt das Verstehen von Kollektiven, die nicht nur in der 392 393

394 395 396

Vgl. Günther a.a.O. S. 16 Für Wilhelm Reich war 1933 die „Abhängigkeit der Charakterbildung von der historisch-ökonomischen Situation, in der sie vor sich geht“ eine Tatsache. Zu denken ist hier auch an den Begriff des Sozialcharakters, wie er z. B. von Fromm 1955 entwickelt wurde. Vgl. Hegel, Werke, Band 3, S. 465 Vgl. Honneth 1994 Sartre 1971 („L'idiot“) nennt den Menschen „jamais un individu“, sondern ein „universel singulier“. Frank übersetzt: „ein einzelnes Allgemeines“. Vgl. Wiggins 1980 S. 167

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Gegenwart existieren, sondern schon lange in der Vergangenheit existierten, ein historisches Verstehen dar, was das Verstehen nach Dilthey sowieso immer ist: „Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion.“397. Nun kann sich Verstehen eines fremden Kollektivs über die Zeiten hinweg verändern. Das weltgeschichtlich berühmteste Kollektiv sind zweifellos die Juden. Und es ist allgemein bekannt, daß das auf die Juden bezogene Fremdverstehen sich mehr oder wenig dauernd ändert - selbstverständlich gemäß ihrem sich ändernden oder gleichbleibendem Selbstverständnis. Und falls es so etwas wie jüdischen Selbsthaß398 geben sollte, so wäre er bei Verstehensversuchen ebenso zu berücksichtigen wie der mögliche Selbsthaß anderer Kollektive. Aber auch hier sollte immer zwischen einem kognitiven und einem nichtkognitiven Verstehen unterschieden werden. Manchmal langt ja ein praktisches Fremdverstehen. Man nennt das dann „friedliche Koexistenz“.

397 398

Vgl. Dilthey a.a.O. VII. Bd. S.279. Vgl. den gleichnamigen Art. im: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9, 1995

6.

Zeit(en) des Personenverstehens

Schon im Kapitel 2. wurde erwähnt, daß Personen in einem besonderen Sinn zeitliche Wesen sind399 und im Kapitel 3., daß Verstehen als Vorgang bzw. Prozeß eine Dauer hat. Darüber hinaus (und daher?) stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Zeitlichkeit des Verstehens von Personen mit der Zeitlichkeit und dem Zeitbewußtsein von Personen steht. Die Frage stellt sich deswegen, weil nicht klar ist, wie das Verhältnis zwischen der personalen und der hermeneutischen Identität der zu verstehenden Person begriffen werden muß. Mit anderen Worten: als wie dauerhaft oder zeitlich konstant muß die zu verstehende Person bzw. müssen die ihr zukommenden mentalen und inten- tionalen Zustände usw. gedacht werden, damit die Person überhaupt ein Gegenstand des Verstehens sein kann? Würde nämlich behauptet, eine Person sei das Nichtidentische schlechthin400, dann wüßte man gar nicht, was von einer Person bzw. wie eine Person verstanden werden könnte. Ganz vereinfacht gesagt: wenn Personen ihre Überzeugungen und Präferenzen jede Sekunde änderten, gäbe es kein kognitives Personenverstehen und vermutlich auch kein nichtkognitives emotionales Personenverstehen. Ein gleichsam nichtidentischer Historiker könnte daher nicht als Historiker tätig sein, selbst wenn die Vergangenheit völlig abgeschlossen wäre. Oft tragen die Aussagen, mit denen Verstehensansprüche angemeldet oder abgeschmettert werden, explizit Zeitindizes wie z. B. in: „Heute verstehe ich sie besser als früher“. Derartige Aussagen sind mehrdeutig. Zum einen kann mit ihnen gesagt werden, daß die zu verstehende Person P2 sich verändert hat und deswegen besser verstehbar ist; zum andern kann mit 399

400

Vgl. Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.) 1992 b. Für Schütz a.a.O. S. 20 ist das Verstehen- und Sinnproblem generell ein „Zeitproblem“: „ein solches des `inneren Zeitbewußtseins´, des Bewußtseins der je eigenen Dauer, in dem sich für den Erlebenden der Sinn seiner Erlebnisse konstituiert.“ Getreu der These von Kunert: „Leben heißt, sich ohne Ende wandeln“. Wenn man jedoch wie Adorno (z. B. in der Einleitung zu seiner „Negativen Dialektik“) das Nichtidentische mit dem Unbegrifflichen gleichsetzt, weil „Denken identifizieren “, dann kann man das Personenverstehen als reine Erkenntnisutopie abtun, denn an Personen ist vieles unbegrifflich oder unbegreiflich.

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ihnen gesagt werden, daß das Verstehen der verstehenden Person P1 sich verbessert hat, weil sie sich verändert hat. Darüber hinaus ist klar, daß alle für das Personenverstehen relevanten Aussagen implizit einen Zeitindex enthalten, also die Form „...versteht zum Zeitpunkt t...“ oder zum Beispiel die Form „...verstand während des Zeitraums tx - ty...“ haben. Bedeutsam ist dieser Umstand bei der Zuschreibung von Personenprädikaten, weil derartige Zuschreibungen wie alle anderen auch zeitabhängig sind. Ein weiteres Problem der Zeitlichkeit des Verstehens und Personenverstehens besteht darin, ob es ein phasenweises Verstehen gibt und sogar in bestimmten Hinsichten vielleicht geben muß, wie wenn z. B. die verstehende Person in einem Aufsichts-, Erziehungs- oder Fürsorgeverhältnis zu der zu verstehenden Person steht und ihren Verstehensversuchen deswegen ein erhebliches Gewicht zukommt. Man könnte deswegen mit guten Gründen sagen, daß das Lebensalter einer zu verstehenden Person (wie etwa eines Kleinkinds oder eines Schülers) nicht nur eine Rolle für den Erfolg von Verstehensversuchen spielt, sondern auch für die Sorgfältigkeit des Verstehensversuchs spielen sollte.401 Außerdem ist in der Regel das Lebensalter der verstehenden Person von erheblicher Bedeutung für das Gelingen von Verstehensversuchen, wenn man einmal annimmt, das Lebensalter sei mit Lebenserfahrung kovariant.402 Dilthey spricht vom „Alles-Verstehen des Alters, Genie des Verstehens“403, wobei dieser Gebrauch des Verstehensbegriffs zwischen einem kognitiven und einem nichtkognitiven Modell schillert. Auch der in Kapitel 5.3 erwähnte Begriff des Entwurfs hat trivialerweise einen Zeitbezug, nämlich auf Zukünftiges. Dieser Begriff wird in Franks Individualitätstheorie folgendermaßen eingeführt: „Die Zeitlichkeit der Person besteht aber darin, sich von einem bestimmten Identitätspunkt...loszureißen und auf eine Zukunft hin zu entwerfen, in deren Licht jeder Jetzt-

401 402

403

Vgl. Günther a.a.O. S. 96. Auch Hans-Dieter Mutschler hat mich im Gespräch auf diesen Punkt aufmerksam gemacht. Der locus classicus ist Platons „Symposion“ 219 a: „Das Auge des Geistes fängt erst an scharf zu sehen, wenn das leibliche von seiner Schärfe schon verlieren will.“ (Übersetzung von Schleiermacher) a.a.O. VII. Band, S. 225

173 Zeitpunkt zuallererst die Bedeutung erwirbt, in der er sich hält. Die Zeit desintegriert und differenziert - gewiß im Rahmen einer lebensgeschichtlichen Kontinuität, in die ein Element von Identität eingeht...“ Trotzdem: „Es gibt keinen festen Kern, keine fixe Identität in einem Individuum.“ „...Personen (individuieren sich) im Zeitfluß und (setzen) ihre Identität permanent neu fest...“404

Ersichtlich kann das nur für lebende Personen gelten. Daraus kann man jedoch nicht schließen, daß jede tote Person eine „fixe Identität“ hätte, so daß es deswegen ein leichtes wäre, sie zu verstehen. Die besten Gegenbeispiele sind berühmte bzw. berüchtigte Philosophen, Schriftsteller und Politiker. Die Zeitlichkeit von Personen und des Personenverstehens hat auch in die andere Richtung eine Lebensbedeutsamkeit. Wie Pothast405 betont, gibt es für Personen Zeitbezüge zum Vergangenen, die sich charakteristisch von dem Entwerfen der Zukunft unterscheiden.406 Ein Zeitbezug handelt vom „Erfordernis und den Grenzen des Erfindens“ der eigenen Vergangenheit. Personen müssen bezüglich der eigenen Lebenszeit „Einheitsarbeit“ leisten: „Einheitsarbeit ist die Summe der Anstrengungen. die darauf gehen, unter den von der Person selbst gewählten Kriterien in der Zeit eine ganz bestimmte Person zu sein.“407 Ein zweiter Zeitbezug ist auf die Vergangenheit gerichtet, um die Zukunft zu bewältigen, denn „wir erfinden - in Grenzen - unsere Geschichte und sind darauf angewiesen, diese Erfindung zu machen und mit ihr zu leben.“408 Ein dritter, nicht unwesentlicher Zeitbezug kann darin bestehen, sich nach der eigenen Vergangenheit zurückzusehnen oder - anders gesagt - keine neuartigen Erlebnisse mehr haben zu wollen wie z. B. keine neuen sexuellen Beziehungen einzugehen.409 Zu erkennen, daß die eigene „Sehnsucht eine Kehrtwendung“ in Richtung Vergangenheit gemacht hat, kann das Selbstverstehen bereichern.

404 405 406 407 408 409

Frank 1986 S. 100 ff Vgl. Pothast 1992 S. 158 - 180 Schütz sprach von der Vorwelt und Nachwelt. Pothast a.a.O. S. 169 ders. a.a.O. S. 170 Bei Kundera 1992 S. 374 heißt es: „er würde sich nur noch nach den Frauen sehnen, die er schon gehabt hatte.“

174

Auch eine Rolle können die verschiedenen Zeitalter spielen, in der die verstehende und die zu verstehende Person leben bzw. gelebt haben410 Günther nennt das Personenverstehen ein „grundsätzlich historisches Sehen“ bzw. er betont besonders beim historischen Verstehen einen „Perspektivismus“. Mehr oder weniger hegelianisch schreibt er 1934 (a.a.O. S. 202): „Alles historische Verstehen ist stets abhängig von der jeweiligen besonderen Zeitkonstellation, aus der heraus es erwächst. Alles Erleben, Handeln, Gestalten und Verstehen eines Individuums steht unter dem bestimmenden Einfluß des Geistes seiner Zeit. Jeder Mensch ist ... in über-individuelle, historisch-gesellschaftliche Kulturzusammenhänge hineinverflochten. Das Verstehen eines Individuums wird also z. B. bedingt durch das jeweilige seelisch-geistige Bewußtsein seiner Nation, seines Volksstammes, seiner Rasse, seines Standes, seiner Klasse, seiner Gesellschaftsschicht, seiner Partei, seiner Familie, kurz durch das gesamte Milieu, in dem es lebt, atmet, fühlt und denkt.“ Daher gelte: „Jedes Zeitalter sieht aus einer eigenen Perspektive, aus der Perspektive `seines´ Gegenwartsbewußtseins.“

Jede verstehende Person entwickle sich mit dem „objektiv-historischen Geist“ und entwickle auch ihren „subjektiven Geist“, so daß es nach Günther (S. 203 f) einen doppelten Perspektivismus einander überkreuzender Perspektiven gibt: „Das bedeutet aber, daß die Zeitperspektive der Gegenwart durch die Sonderperspektive der Individualität des Verstehenden differenziert wird.“ Aber Günther bestreitet, daß durch diese Verschränktheit die relative Objektivität des Verstehensergebnisses in Frage gestellt wird. Das Gesagte gelte sowohl für das Fremdverstehen als auch für das Selbstverstehen. Mit dem Problem, wie es ist, ein personales Leben angesichts der verschiedenen Zeiten zu führen, die man hinter oder vor sich hat,411 beschäftigt sich aus psychoanalytisch orientierten Theoriemotiven

410 411

Vgl. Günther a.a.O. 97 f, S. 102 f: „Der Perspektivismus des persönlichen Verstehens“ Vgl. Dilthey a.a.O. VII. Bd. S. 232: „Aber im Leben allein umschließt die Gegenwart die Vorstellung von der Vergangenheit in der Erinnerung und die von der Zukunft in der Phantasie, die ihren Möglichkeiten nachgeht, und in der Aktivität, welche unter diesen Möglichkeiten sich Zwecke setzt. So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich.“

175

Wollheim in seinem Buch „The Thread of Life“ (1984). Es geht ihm darum, wie die gelebte (und vielleicht als Last empfundene) Vergangenheit und wie die erwartete Zukunft die Lebensführung bestimmen. Interessant ist, daß Wollheim den Umstand erörtert, daß eine Person ihr Leben so führen will, daß sie es bzw. sich selbst versteht. Bei diesem Selbstverstehen seien „self-examination“ und „self-concern“ wichtig. Denn diese können eine möglicherweise belastende Vergangenheit entlasten sowie eine ungewisse Zukunft bewältigen helfen. Dieses Selbstverstehen hält Wollheim für unverzichtbar für den Lebensprozeß, so daß dieser ohne einen darauf bezogenen Verstehensprozeß unmöglich scheint: „for a person not only is understanding the life he leads intrinsic to leading it, but for much of the time leading his life is, or is mostly, understanding it.“412 Das war auch schon bei Locke und Kierkegaard thematisch. Personen können ihr Leben nur rückblickend verstehen und müssen es vorausschauend führen, wie Kierkegaard 1843 in seinem Tagebuch schreibt.413 Auf seine Weise hat Nietzsche414 eine Beziehung zwischen seinem Selbstverstehen und der Zeitlichkeit des Verstehens seiner Bücher und seiner selbst hergestellt, als er schrieb: „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, einige werden posthum geboren.“ Der Kerngedanke ist der, daß es zumindest für Bücher, und insofern auch für ihre Urheber, so etwas wie eine richtige Zeit für das Verstehen gibt. Nietzsche spricht das auch aus, wenn er nach dem „Verstanden- oder Nichtverstandenwerden dieser Schriften“ fragt. Diese Frage sei „noch nicht an der Zeit“, eben weil er selber, wie gesagt, noch nicht an der Zeit sei. Bis zum Überdruß wurde gesagt Bücher hätten ihr Schicksal. Gibt es analog dazu auch einen

412 413

414

Wollheim 1984 S. 283 - kritisch äußert sich dazu Sturma 1990 S. 59. Vgl. Sturma 1992 S. 126 f sowie Sturma 1997. Avishai Margalit schreibt 1997: „Wer an der eigenen Identität der Persönlichkeit interessiert ist“ „hat auch ein Interesse daran, sich der eigenen Tradition zu erinnern. Die Erinnerung ist der Kitt der Identität.“ „Erinnerung ist wichtig für die Identität der Persönlichkeit, nicht für personale Identität.“ Wie es bei John Locke gedacht war. Margalit geht es insgesamt darum, daß man die Erinnerung an eine Tradition von ihrer Bewahrung unterscheiden muß - und daß dementsprechend „vergeben“ nicht „vergessen“ heißt. Vgl. Nietzsche, „Ecce Homo“, „Warum ich so gute Bücher schreibe“, Kap. 1

176

„Kairos“ des Verstehens von Personen, einen günstigen Zeitpunkt oder günstige Zeitumstände? Außerdem stellt sich generell für das Personenverstehen die Frage, welches Verhältnis zwischen der Lebenszeit und der physikalisch homogenen Weltzeit besteht, so wie diese seit der Neuzeit angesehen wird. Charles Taylor hat gemeint415, daß durch diese „Objektivierung der Zeit“ ein „neues Zeitgefühl“ entstanden sei, das „auch unseren Begriff des Subjekts veränderte. Es ist das desengagierte, besondere Selbst, dessen Identität sich durch die Erinnerung konstituiert. Wie jeder andere Mensch zu jeder beliebigen Zeit kann auch dieser seine Identität nur in der Selbst-Erzählung finden. Das Leben muß ... als Geschichte gelebt werden.“ Hier verschränken sich zwei Perspektiven auf schwer entwirrbare Weise: „Erstens ist das Leben als Kette von Geschehnissen in der Weltzeit zu jedem Zeitpunkt die kausale Konsequenz dessen, was sich vorher abgespielt hat. Aber zweitens wird der Sinn des Lebens, das ja, um gelebt zu werden, auch erzählt werden muß, als etwas angesehen, das sich durch die Ereignisse entfaltet.“

Wie kann jedoch die eigene erzählte und notwendigerweise zu erzählende Lebensgeschichte mit der „homogenen und leeren Zeit“ (Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“) als so verbunden gedacht werden, daß das Leben nicht sinnlos wird, sondern als eine sinnvolle Entfaltung von Möglichkeiten, als eine Entfaltung von Sinn erscheint? Taylor schreibt (a.a.O. S. 512): „Durch die Ereignisse werden wir zu dem gemacht, was wir sind; und als SelbstErzähler erfahren wir diese Ereignisse durch das Erleben eines Sinnes, den die Ereignisse erst allmählich an den Tag bringen oder veranschaulichen.“

Taylors Beispiel ist Napoleon. Für das Fremdverstehen (also z. B. für einen Historiker) stellt sich die Frage, ob Napoleon durch ein bestimmtes Ereignis zu Napoleon „gemacht“ wurde und (so würde ich anders als Taylor die Alternative sehen) für das Selbstverstehen, also für Napoleon, stellt sich die Frage anders, nämlich als erfahrungsvermitteltes „Erleben eines Sinnes“. Taylor meint, wie ich glaube zu recht, daß eine Art der „Lebensschilderung, bei der die Geschichte in diesem doppelten Sinne von den 415

Vgl. Taylor 1996 S. 511 f

177

Ereignissen hergenommen wird, ... typisch neuzeitlich und dem Erleben des desengagierten, partikularen Selbst .“ Diese Art der Lebensschilderung komme besonders in den Autobiographien Rousseaus und Goethes zum Ausdruck und präge sogar die Erzählform des modernen Romans. Das kognitive Personenverstehen erweist sich also in mehrfacher Hinsicht als ein geschichtliches Phänomen, denn nicht nur für das Fremdverstehen, sondern auch für das Selbstverstehen ist die Geschichtlichkeit konstitutiv. Innerhalb beider Verstehensweisen kann es günstige Gelegenheiten für das Verstehen geben, die kontingenterweise mit dem Lebensalter, mit den Zeitläufen, dem Zeitalter, der Vor-und Nachwelt (A. Schütz) sowohl der verstehenden als auch der zu verstehenden Person zusammenhängen. Ein gelungenes Beispiel für diese Zusammenhänge, will sagen: für ein kognitives Personenverstehen nach zwei Jahrhunderten, lieferte Burkhard Brunn416 mit seinem Artikel: „Casanova, von der Liebe abgesehen“. Brunn schreibt dort unter anderem: „Ich möchte Casanovas Aktualität zu begründen suchen, vorausblickend, denn als weltgewandter Abenteurer großen Stils nimmt Casanova gewisse Züge eines postindustriellen sozialen Typus vorweg, dem wir in naher Zukunft begegnen können, ein Typus, der ausdrücklich von dem des Liebhabers unabhängig ist. Kann man von diesem Aspekt überhaupt absehen? Ich denke ja, denn Casanova war kein vagabundierender Frauenverführer, sondern ein Abenteurer, der ohne Liebe nicht leben konnte.“ „Er war hedonistisch, mobil (ein erklärter Kosmopolit zur Zeit, als das Bürgertum den Nationalstaat ersehnte), urban, und er beherrschte“ (als Venezianer - WRK) „die Weltsprache, das Französische, in dem er seinen Esprit entfaltete, den schlagfertigen und brillianten Witz, welcher im Rokokko auch dem Parvenü den Zugang zu den oberen Kreisen eröffnete: vier allgemeine Merkmale, die auch den spätmodernen Typus kennzeichnen werden, der allerdings amerikanisch spricht.“ Und: „Casanova war ein entfaltetes Individuum, und das zu einer Zeit, als Individualität nur eine Idee war.“

Brunns ganzer Artikel, aus dem hier nur drei Sätze zitiert worden sind, offenbart, wie viele Beschreibungen einer Person nötig sind, will man sie in ihrer Individualität verstehen. Mit der Zuschreibung nur eines Personenprädikats z. B. ist es für das kognitive Personenverstehen selten bis nie getan. 416

Vgl. Frankfurter Rundschau, Pfingsten 1998, S. ZB 2

178

Gehlen schrieb 1957, daß eine „Wissenschaft des Individuellen ein Widerspruch in sich“ sei und daß zur „Darstellung des Individuellen in voller Einmaligkeit nur die Kunst imstande , sicher die Porträtkunst, wahrscheinlich auch die Dichtung und in Grenzen die historische Beschreibung, sofern sie von den Taten und Werken aus, die notwendig einmalig sind, das Eigenpersönliche des Täters erhellt.“417 Wie treffend Brunn den „Täter“ Casanova beschrieben hat, geht schon aus seinen drei Sätzen hervor. Nun wird im folgenden Kapitel 7 die Frage erörtert, ob das nichtkognitive Modell des Personenverstehens adäquat ist.

417

1957, S. 109

7.

Nichtkognitives Personenverstehen

In diesem Kapitel werden zunächst zwei Übergänge als möglich dargestellt und zwar einmal vom kognitiven zum nichtkognitiven Fremdverstehen und zweitens vom nichtkognitiven zum kognitiven Fremdverstehen. Anders gesagt: es geht erstens um den möglichen Übergang vom Wissen zum Können und Fühlen und zweitens um den möglichen Übergang vom Können und Fühlen zum Wissen. Danach wird das nichtkognitive Fremdverstehen für sich erörtert. Das kognitive Personenverstehen ist als normativ gedeutet worden. Das galt besonders für das Fremdverstehen. Es sollte sich an den Wissensbedingungen und an deren Erfüllung ausrichten. Mit diesem kognitiven Modell sollte also keine Beschreibung von Verstehensversuchen und –prozessen geliefert werden, obwohl es nicht ausgeschlossen ist, daß ein derart ausgerichtetes Verstehen vorkommt. Aufgrund der Bedingung (e) war schon ein inhaltlicher Bezug zum Nichtkognitiv-Emotionalen gegeben, aber formal war das Verstehen immer noch ein Wissen. Wenn man hingegen versucht, zu beschreiben, was zumindest mit den tatsächlichen Verstehensversuchen verbunden ist, wenn nicht sogar mit kognitivem Verstehen, dann muß man einen Übergang zum Nichtkognitiven vollziehen. Ein solcher Übergang ist rein logisch auf vielerlei Weise möglich, aber realiter bzw. phänomengerecht auf zwei prinzipielle Weisen beschreibbar: Übergang vom Kognitiven zum Nichtkognitiven (1) P1 erfüllt alle Wissensbedingungen (a)-(e) und kann sich deswegen mit P2 gut (schlecht) verstehen. (2) P1 erfüllt die Wissensbedingungen (a)-(d) und ist deswegen P2 zugeneigt (abgeneigt). In (1) hätte man eine Verbindung zwischen dem Verstehen als Wissen und einem Verstehen als Können und in (2) eine Verbindung zwischen dem Verstehen als Wissen und dem Verstehen als Fühlen, wobei Können und Fühlen - wie durch die Worte in der Klammer in (1) und (2) angedeutet auch negativ ausgeprägt sein können. Im Falle einer positiven Ausprägung wären diese beiden Möglichkeiten als die Höhepunkte des Fremdverstehens anzusehen. Die Intuition hinter der Kombination (1) besteht darin,

180

daß P1 genau so P2 versteht, wie er es sollte (nämlich durch P1´s Erfüllung der Wissensbedingungen) und daß sich P1 deswegen mit P2 gut (oder schlecht) versteht. Und zwar auch und gerade deswegen, weil P1 weiß, wie P2 sich fühlt. (Das „deswegen“ und das „weil“ suggerieren eine Kausalität, die aber nicht vorhanden sein muß. Es ist denkbar, daß das Können und Fühlen keine durch das Erfüllen der Wissensbedingungen bewirkten bzw. verursachten Sachverhalte sind, sondern einfach nur hinzukommende Sachverhalte.) Die Intuition hinter der Kombination (2) besteht darin, daß P1 zwar nicht alles weiß, was zum kognitiven Verstehen nötig wäre, da die Bedingung (e) nicht erfüllt ist, aber das muß P1 nicht daran hindern, P2 zugeneigt (abgeneigt) zu sein - und für den Fall des Zugeneigtseins z. B. ist P1 vielleicht nur deshalb zugeneigt, weil P1 nicht weiß, wie P2 sich fühlt. Kein Wissen trübte die Zuneigung, und im andern Fall verhinderte vielleicht kein Wissen die Abneigung. Selbstverständlich lassen sich noch andere Kombinationen des kognitiven mit dem nichtkognitiven Modell des Fremdverstehens denken. Insbesondere könnte man bei (1) und (2) Können und Fühlen vertauschen wollen. Denn man könnte sich Fälle vorstellen, in denen das (kognitive) Verstehen genauso ist, wie es sein soll, aber das damit verbundene nichtkognitive Verstehen anders ist, als man es aufgrund der jeweiligen Erfüllung der Wissensbedingungen (a)-(e) erwartet hatte. Übergang vom Nichtkognitiven zum Kognitiven Möglich ist aber auch ein Übergang in die andere Richtung.418 Nämlich vom Verstehen als Fühlen oder vom Verstehen als Können zum Verstehen als Wissen. Man kann annehmen, daß es eine emotionale oder eine praktische Voraussetzung des Fremdverstehens gibt, also so etwas wie eine kontingente Anfangs- oder Startbedingung. Es ist plausibel anzunehmen, daß manchmal Gefühle und Emotionen oder auch kommunikative Kompetenzen da sind, bevor ein kognitives Fremdverstehen einsetzt oder begonnen wird. Wenn von „Anfangs- oder Startbedingung“ die Rede ist, so sind keine notwendigen und begrifflichen Bedingungen gemeint, sondern zufällige, zeitliche Voraussetzungen emotionaler oder praktischer Art. Es

418

Vgl. die extensive Studie von de Sousa 1997

181

kann eine Sympathie419 als Startbedingung fungieren oder auch ein „Mitjemand-umgehen-Können. Im Unterschied zu den beiden Weisen des Übergangs oben wäre bei diesem Übergang das kognitive Fremdverstehen dann ein Resultat des Übergangs, während es im obigen Fall der Anfang oder Auslöser des Übergangs wäre. Emotionale Voraussetzungen ließen sich für die Tätigkeit eines Historikers, praktische für die Tätigkeit eines Therapeuten und emotionale wie praktische für die Tätigkeit des Schauspielens denken. Es ist zu beachten, daß nicht in allen Fällen dieses Übergangs ein Erleben oder ein Erlebenkönnen der Person vorausgesetzt werden muß.420 Denn warum sollten nicht auch tote Personen sympathisch sein? Auf die Weise der Fernstenliebe könnte z. B. Sokrates heute noch geliebt und verstanden werden.421 Man könnte insgesamt folgendes Voraussetzungsverhältnis für den Übergang vom nichtkognitiven zum kognitiven Fremdverstehen annehmen:

419

420

421

Schon Dilthey a.a.O. V. Bd S. 277 meinte, daß erst die Sympathie wirkliches Verstehen möglich mache. Aber es blieb offen, ob im Sinne einer Bedingung oder einer Voraussetzung. Kritisch äußert dazu Gadamer 1965, S. 219: „Man kann mit Droysen fragen, ob Sympathie (die ja eine Form der Liebe ist) nicht etwas ganz anderes darstellt als eine affektive Bedingung für Erkenntnis. Sie gehört doch zu den Beziehungsformen von Ich und Du.“ Vgl. Scheler 1913 und Berenson 1981. Wie undurchschaubar die Zusammenhänge zwischen Verstehen und Gefühlen auch sein sollen bzw. gemacht werden können, demonstriert Gadamer 1965 S. 179, wenn er in Bezug auf das „Geheimnis“ der Individualität sagt: „Die Schranke, die der Vernunft und dem Begreifen hier bleibt...soll durch das Gefühl, also ein unmittelbares sympathetisches und kongeniales Verstehen, überschritten werden: die Hermeneutik ist eben Kunst und nicht ein mechanisches Verfahren.“ Vgl. Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ Nr. 340: „Der sterbende Sokrates. - Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in allem, was er tat, sagte und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermütigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den des je gegeben hat: Er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblick des Lebens schweigsam gewesen vielleicht gehörte er dann in eine höhere Ordnung der Geister...das Leben ist eine Krankheit ... er war Pessimist ... hat am Leben gelitten...“

182

(3) Zuerst ist P2 P1 sympathisch und dann versteht P1 P2, erfüllt also die Wissensbedingungen (a) bis (e). Dieses Voraussetzungsverhältnis kommt wahrscheinlich häufig vor. Anders sieht es vermutlich aus, wenn statt der Sympathie Liebe die emotionale Voraussetzung ist. Wenn es sich gar um die berühmte Liebe auf den er-sten Blick handelt, garantiert nichts den Übergang zur Erfüllung der Wissensbedingungen. Obwohl es schwer ist, in allgemein-menschlichen Fragen ein sicheres Urteil zu haben, wenn man kein Psychologe vom Range Nietzsches ist, scheint doch bei näherer Betrachtung die personale Realität eines/r Liebenden zumindest zeitlich etwas zerrissener als in (3) durch das „dann“ suggeriert wird. Die Lebenserfahrung offenbart nämlich, daß das Lieben und das kognitive Fremdverstehen weder in einem zeitlichen noch in einem kausalen Zusammenhang stehen. Es darf nicht unerwähnt blieben, daß auch verwunderliche Voraussetzungsverhältnisse logisch möglich sind wie z. B.: (4) Zuerst ist P1 gegenüber P2 abgeneigt und dann versteht P1 P2, erfüllt also (a) bis (e). Es kann nicht begründet werden, daß keine negativen Emotionen vorhanden sein können oder dürfen, um eine Person zu verstehen, wie man im Fall von Jagos Haß auf Othello bei Shakespeare studieren kann. Es ist nicht auszuschließen, daß das Fremdverstehen unmöglich oder eingeschränkt wäre, wenn man ausschließlich positive Emotionen zur Voraussetzung des kognitiven Fremdverstehens machte. Aber wenn Antipathie oder Ablehnung usw. den Blick schärfen sollen, könnten dann nicht z. B. für Historiker Schwierigkeiten auftreten, die über Personen Biographien schreiben wollen, die sie aber nur bewundern? Auf einem anderen Blatt steht das Problem, daß für Psychiater ihre eventuell negativen Emotionen gegenüber ihren Patienten eine komplexe, aber vielleicht auch produktive, Rolle spielen (Übertragung und Gegenübertragung). Es scheint also sehr plausibel, emotionale und praktische Voraussetzungen des kognitiven Fremdverstehens als hilfreich anzunehmen; ob es sie aber als Voraussetzungen für das Fremdverstehen geben muß, läßt sich nicht zwingend zeigen.

183

Soviel zu den beiden Arten des Übergangs. Jetzt ist der Bereich des nichtkognitiven Verstehens für sich zu betrachten. Dieser Bereich ist der alltägliche, der tatsächlich erhobenen Verstehensansprüche. Deshalb wird jetzt nicht länger gesagt, wie Personenverstehen funktionieren sollte, sondern wie es funktioniert. Wenn im Folgenden das emotionale vor dem praktischen Verstehen dargestellt wird, so soll damit keine Rangordnung begründet werden. Es scheint unmöglich, zu begründen, warum das eine nichtkognitive Modell dem anderen vorgeordnet sein sollte. Im Alltag beanspruchen beide dieselbe Relevanz. Es lassen sich keine Gründe dafür angeben, warum das Personenverstehen mehr ein Können als ein Fühlen ist bzw. eher ein Sich-mit-jemandem-Verstehen als ein Geneigtsein - wenn es denn schon in keinem Wissen bestehen muß oder kein Wissen implizieren soll. 7.1 Emotionales Fremdverstehen422 In Michelangelo Antonionis Film „L'Eclisse“ (dt. „Liebe 62“) sagt Monica Vitti zu Alain Delon: „Solange wir uns geliebt haben, haben wir uns verstanden. Da ist ja auch nichts zu verstehen.“ In diesem Satz Vittis kommt das emotionale Fremdverstehen in reinster Form vor. So rein, daß es kaum glaubwürdig ist. Der Satz ist außerdem widersprüchlich, denn sie haben einander verstanden, obwohl es angeblich nichts zu verstehen gab. Doch ihr SprachHandeln werden sie wohl verstanden haben, falls sie gesprochen haben. Das Wissen der Wort-, Satz- und Äußerungsbedeutungen war vorhanden, aber es wurde kein Wissen im Sinne des kognitiven Fremdverstehens beansprucht. Ein Fühlen, eine Emotion, nämlich die Liebe423, reichte aus für ein Fremdverstehen.

422 423

Als Hintergrundidee könnte man die Behauptung ansehen: „amor magis cognitivus est quam cognitio.“ Das Wort „Liebe“ will ich mit Hegels Worten so verstehen: „Sein Selbst sein in einem Fremden“. Auch Goethes implizite Definition von „Liebe“ aus den „Maximen und Reflexionen“ Nr. 92 sei hier erwähnt: „Mit jemand leben und in jemand leben ist ein großer Unterschied. Es gibt Menschen, in denen man leben kann, ohne mit ihnen zu leben, und umgekehrt. Beides zu verbinden ist nur der reinsten Liebe und Freundschaft möglich.“ (kursiv von Goethe). Vgl. auch Nietzsches scharfsichtige Bemerkungen in der „Föhliche Wissenschaft“, Erstes Buch § 14, „Was Alles Liebe genannt wird“.

184

In eine ähnliche Richtung geht eine kontextlose Behauptung von Walter Benjamin: „Einen Menschen kennt einzig nur der, der ohne Hoffnung ihn liebt.“424 Diese Behauptung ist zweideutig: (a) „Man kennt einen Menschen nur dann auf eine einzigartige Weise, wenn man ihn liebt“ und (b) „Nur jemand, der einen Menschen ohne Hoffnung liebt, kennt ihn wirklich.“ Behauptungen dieser Art haben biblische Qualität.425 Man könnte daher bei den beiden Beispielen von einem extrem emotionalen Personenverstehen sprechen, wenn man sie folgendermaßen interpretierte: (1) P1 versteht P2 dann und nur dann, wenn P1 P2 liebt. Wie extrem eine solche Behauptung ist, sieht man an der logischen Äquivalenz von (1): (2) P1 liebt P2 dann und nur dann, wenn P1 P2 versteht. (2) stellt jedoch ein viel zu starkes Bedingungsverhältnis auf, als daß es phänomengerecht sein könnte. Aber auch wenn es abgeschwächt wird, sieht es nicht besser aus mit der Relation zwischen dem Verstehen und der Liebe. Denn angenommen, es gilt nur das demgegenüber schwächere emotionale Fremdverstehen: (3) P1 versteht P2 schon dann, wenn P1 P2 liebt. Interpretiert man (3) als gemeint im Sinne von (4) Wenn P1 P2 liebt, dann versteht P1 P2, 424 425

Benjamin 1965 S. 71. Im ersten Paulusbrief an die Korinther heißt es: „Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt.“

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und folgert aus (4) die Kontraposition: (5) Wenn P1 P2 nicht versteht, dann liebt P1 P2 nicht, dann ergibt (5) ein kontraintuitives Resultat.426 Daher kann selbst die schwächere Fassung des emotionalen Fremdverstehens nicht für richtig gehalten werden. In diesen Formen erscheint also das emotionale Modell des Fremdverstehens realitätsfern. Aber muß man denn eine Person lieben, um sie zu verstehen? Es könnte doch eine schwächere Emotion als Liebe wie z. B. die Zuneigung als Bedingung aufgestellt werden, so daß man ein Bedingungsverhältnis der folgenden Form hätte: (6) P1 versteht P2, wenn P1 P2 zugeneigt ist. Es scheint offensichtlich, daß dieses Bedingungsverhältnis im Unterschied zu (1) und (2) ziemlich anspruchslos ist, was aber nicht von Nachteil zu sein braucht. (Noch anspruchsloser wird es, wenn man hier nur vom Besserverstehen redet.) Aber welche Vorteile es hätte, die Zuneigung als Bedingung für ein Fremdverstehen aufzustellen, liegt auch nicht auf der Hand. Dasselbe würde für die Sympathie gelten. Etymologisch betrachtet ist sie ein Mitgefühl bzw. ein Mitleid. Man kann mit dem Leid anderer Personen, sei es nun ein miterlebtes oder nur ein berichtetes Leid, mitfühlen. Aber es ist alles andere als klar, daß es sich dabei um ein Fremdverstehen handelt oder daß es zu einem solchen hinführt. Außer der Sympathie als möglicher emotionaler Bedingung könnte man die Empathie, das Einfühlen nennen. Einige haben statt dessen mehr oder weniger plausibel von „Eindenken“ und „Einwollen“ gesprochen. Oft wird das Einfühlen so gedeutet und mit den bekannten Ausdrücken umschrieben, man müsse sich in jemandes Lage versetzen oder jemandes Emotionen, Gedanken usw. nachvollziehen.

426

Gibt es Gründe, die Aussage „Liebe macht blind“ für falsch zu halten? Kundera 1992 S. 168) meint: „Das Gefühl der Liebe beschenkt uns jedesmal mit der Illusion einer Erkenntnis.“

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Aber - ketzerisch gefragt - könnte nicht statt Liebe und Sympathie eine negative Emotion, die sozusagen den Blick schärft, als Bedingung aufgestellt werden, was dann so ausähe: (7) P1 versteht P2, wenn P1 P2 gegenüber negative Emotionen hegt. Dieses Bedingungsverhältnis mag zwar selten so vorkommen, doch es ist bekannt, daß eine Antipathie den Blick schärfen kann. Kontraintuitiv würde es jedoch, wenn man das Hassen als einzige Verstehensbedingung anführte, indem man folgendes Bedingungsverhältnis aufstellte: (8) P1 versteht P2 dann und nur dann, wenn P1 P2 haßt.427 Daß dann und nur dann verstanden wird, wenn gehaßt wird, scheint irgendwie absurd zu sein. Darüber hinaus gibt es bekanntlich noch andere Emotionen als die drei genannten; doch sie scheinen erst recht nicht die einschlägigen Bedingungen für ein emotionales Fremdverstehen abzugeben, wie z. B. die Gleichgültigkeit.428 Es spricht also alles dafür, das emotionale Modell als alleiniges Modell für das Fremdverstehen abzulehnen! 7.2 Praktisches Fremdverstehen Das nichtkognitive Modell des Fremdverstehens besteht einerseits in einem emotionalen Verstehen, andererseits in einem Wissen-wie-man-mitjemandem-umgeht oder in einem Sich-mit-jemandem-Verstehen. Es handelt sich im weitesten Sinn um ein Können. Alltagspsychologisch gesehen werden diese beiden Verstehensweisen als die normalen Kandidaten für das Fremdverstehen angesehen. Das Wissen-wie-man-mit-jemandem427

428

In Goethes „Wahlverwandschaften“, 1. Teil, 13. Kap. wird zu bedenken gegeben: „Der Haß ist parteiisch, aber die Liebe ist es noch mehr.“ In dasselbe Horn stößt der Shakespeare-Verehrer Goethe auch in seinen „Maximen und Reflexionen“ Nr. 93: „Man kennt nur diejenigen, von denen man leidet.“ Vgl. Nietzsche („Menschliches, Allzumenschliches I, 566“: „Liebe und Haß sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen.“ Vgl Geier 1997

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umgeht kann als ein praktisches Fremdverstehen bezeichnet werden.429 Beide Verstehensweisen schließen einander zwar nicht aus, aber in der Regel schließt das praktische Fremdverstehen das emotionale Fremdverstehen nicht ein. Idealtypisch gesprochen heißt das: Politik kann ohne Sympathie, Liebe, Haß und vielleicht sogar ohne Emotionen betrieben werden. Praktisches Verstehen kann im Deutschen recht gut durch den Ausdruck „sich auf etwas verstehen“ wiedergegeben werden.430 Bezogen auf ein Verstehen von Personen wird es noch heute gerne als ein „höheres“ oder „tieferes“ Verstehen genannt. Möglicherweise ist nur durch ein sprachliches Vorurteil gerade dieses Verstehen zur Basis von Heideggers Terminologie der Analytik des Daseins bzw. Hermeneutik der Faktizität geworden. Doch mit dieser Vermutung soll nicht der universalhermeneutische Sachverhalt der Notwendigkeit des Verstehens der Welt durch den Menschen bestritten werden. Es könnte eingewendet werden, daß dieses universalhermeneutische Sichauf-etwas-verstehen, sich gar nicht primär auf das Personenverstehen bezieht, sondern nur auf die Rahmenbedingungen, unter denen das Personenverstehen stattfindet. Der größte Rahmen wird „Politik“ genannt. In ihr geht es weder darum, jemanden zu verstehen, noch darum, sich mit

429

430

Schon Wilhelm von Humboldt wollte offensichtlich zwischen einem kognitiven und einem praktischen Fremdverstehen unterscheiden als er schrieb: „Was man daher im Leben gewöhnlich und nicht mit Unrecht eine kunstvolle Geschicklichkeit in der Behandlung der Menschen nennt, ist nicht immer ein Zeichen einer großen und ausgebreiteten Menschenkenntnis.“ Denn jene „Gattung der Menschenkenntnis zweckt dahin ab, den Menschen zu lenken; die andere ihr entgegengesetzte ist mehr bemüht, ihn zu beurteilen, und zu bilden.“ Darüber hinaus gelte, daß jene Menschenkenntnis, also das praktische Fremdverstehen, „leichter“ sei als das kognitive - s. Werke Bd. 1, S. 429. Von Humboldt unterscheidet a.a.O. S. 430 entsprechend auch zwischen „empirischer“ und „speculativer“ Menschenkenntis, die ungefähr der Unterscheidung zwischen nichtkognitivem und kognitivem Personenverstehen entspricht. Vgl. dazu das Sokrates-Buch von Martens 1992 S. 125. An dieser Stelle deutet Martens das Sich-auf-etwas-Verstehen sogar als die eigentliche „Sache“ der Philosophie.

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jemandem gut zu verstehen, sondern nur darum, zu wissen, wie man mit Personen umgeht. Es reicht wenn, wie man so sagt, die Chemie stimmt. Es ist nun die Frage, wie realitätsgerecht das Modell des praktischen Fremdverstehens ist. Nehmen wir den Fall, wo Personen einander erleben. Schließt dann das Fremdverstehen immer ein Sich-darauf-verstehen-Personen-zu-verstehen ein, also ein Wissen-wie-man-mit-jemandem-umgeht? Ich denke, man muß die Frage mit „ja“ beantworten. Bei dieser positiven Antwort muß man allerdings beachten, daß unter Umständen dieses Wissen-wie, also dieses Können, nicht erreicht werden kann und damit der Versuch des Fremdverstehens gescheitert ist. Weniger klar scheint mir die Antwort für den Fall zu sein, wo Personen einander nicht „persönlich“ kennen. sondern nur über ihre semantischen Produkte wie z. B. Briefe, auf die man wieder mit Briefen antwortet. Für das gegenseitige Kennen oder für eine symmetrische Kommunikation ist das praktische Fremdverstehen typisch. Wenn gesagt wird: „Ebenso (wie die Kenntnis eines Bildes - WRK) ersetzen auch noch so viele korrekte Informationen über einen Menschen nicht die persönliche Bekanntschaft mit ihm. Der konkrete Mensch und seine Individualität erschließen sich uns erst, wenn wir ihm begegnen“431, dann könnte man diese These einerseits so interpretieren, daß das Kennen(lernen) bzw. die Begegnung eine praktische Voraussetzung für ein kognitives Fremdverstehen sein muß, andererseits aber so, daß es überhaupt nur ein praktisches Fremdverstehen gibt, also ein Wissen-wie-manmit-jemandem-umgeht. Dazu ist zu sagen: Wenn die Individualität einer Person sich uns durch eine Begegnung „erschließen“ soll, dann wäre etwas über die Dauer und die Intensität und vielleicht auch über die Art von „Begegnungen“ zu sagen, in denen sich eine Person einer anderen „erschließen“ kann. Es gibt jedenfalls Begegnungen, die für zwei Personen ein Leben lang dauern, in denen „sich“ aber trotzdem keine von beiden Personen der anderen Person „erschlossen“ hat. Selbstverständlich ist es nicht so, daß ein Kennenlernen auch ein Wissen-wie-man-mit-jemandem-umgeht nach sich zieht bzw. bewirkt, von einem kognitiven Personenverstehen ganz zu schweigen. 431

von Kutschera 1981 S. 140 f

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Andererseits gilt offensichtlich auch, was von Kutschera selbst vorbringt: „Jemand, der einen Menschen nicht kennt, kann sehr viel mehr über ihn wissen als ein anderer, der ihn kennt.“ (a.a.O. S. 141). Doch dabei kommt es auf den Bereich des Wissens an. Ein Finanzbeamter kann mehr über Herrn X wissen als dessen Freund. Klar scheint darüber hinaus zu sein, daß das Wissen-wie-man-mit-jemandem-umgeht bzw. das Sich-verstehen-mit-jemandem auf der einen Seite und das Geneigtsein auf der anderen Seite oft einhergehen.432 Die Anlässe für ein Fremdverstehen sind vielfältig: ein Blick433, ein Händedruck, ein Blinzeln, ein Brief, ein Anruf, ein Bild, eine Erinnerung, ein Geruch, ein Kuß usw. Im Jahr 1908 beschrieb Simmel in seinem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“434 die soziologischen Funktionen von Auge, Gesicht und Ohr. Er schreibt auf S. 484: „der ganze Verkehr der Menschen, ihr Sichverstehn und Sichzurückweisen, ihre Intimität und Kühle, wäre in unausrechenbarer Weise geändert, wenn der Blick von Auge in Auge nicht bestünde...“. Besonders, weil „der auf den anderen gerichtete Blick selbst ausdrucksvoll ist, und zwar gerade „durch die Art, wie man den anderen ansieht. In dem Blick, der den anderen in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst...“ Auf S. 485 heißt es: „Das Auge entschleiert dem Anderen die Seele, die ihn zu entschleiern sucht.“ „Das Gesicht aber ist der geometrische Ort aller dieser Erkenntnisse, es ist das Symbol all dessen, was das Individuum als die Voraussetzung seines Lebens mitgebracht hat, in ihm ist abgelagert, was von seiner Vergangenheit in den Grund seines Lebens hinabgestiegen und zu beharrenden Zügen in ihm geworden ist.“ „Das Gesicht bewirkt, daß der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird. Das Gesicht ... handelt nicht ..., es erzählt nur...“ „ erstaunlich, wieviel wir von einem Menschen bei dem ersten Blick auf ihn wissen. Nichts mit Begriffen Ausdrückbares, in einzelne Beschaffenheiten Zerlegbares“, „obgleich es immer die Tonart aller späteren Erkenntnisse seiner bleibt“ „es ist das unmittelbare Ergreifen seiner Individualität...“ S. 486: „Es ist der äußerste soziolo-

432 433

434

Es heißt z. B.: „Mit Lachen fängt die Liebe an, mit Reden endet sie.“ Das menschliche Auge ist im Unterschied zu den anderen Sinnesorganen des Menschen und, wie es scheint, auch im Unterschied zu den Augen von Tieren ein aktives Organ und nicht nur ein passives. Der Mensch kann nämlich mit seinem Auge blicken - und nicht nur sehen. Redewendungen wie „böser Blick“ oder „wenn Blicke töten könnten“ sollen zeigen, daß im menschlichen Auge sich das Seelische ausdrückt. in: „Soziologie“ 1908, 51968

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gische Gegensatz zwischen Auge und Ohr, daß dieses uns nur die in die Zeitform gebannte Offenbarung des Menschen bietet, jenes aber auch das Dauernde seines Wesens, den Niederschlag seiner Vergangenheit in der substanziellen Form seiner Züge, so daß wir sozusagen das Nacheinander seines Lebens in einem Zugleich vor uns sehn.“ „Im allgemeinen wird das, was wir von einem Menschen sehen, durch das interpretiert, was wir von ihm hören, während das Umgekehrte viel seltener ist.“ Dazu paßt eine These auf S. 488: „Aus Menschen, die wir nur sehen, bilden wir unendlich viel leichter einen Allgemeinbegriff, als wenn wir mit jedem sprechen können.“ „Man sieht offenbar an einem Menschen in viel höherem Maße das, was ihm mit anderen gemein ist, als man dies Allgemeine hört.“ S. 487: „Was wir hören, ist sein Momentanes, ist der Fluß seines Wesens“. Durch das Auge wird das „bleibend-plastische Wesen des Menschen“ festgestellt und durch das Ohr die „auftauchenden und versinkenden Äußerungen“. „Denn Ohren sind nicht wie Augen reziprok, Ohren sind ein „egoistisches Organ“.

Offensichtlich gehen Simmels Überlegungen von dem alltäglichen Umgang aus, den Personen miteinander haben, wobei in den zitierten Passagen nicht wie bei Schütz zwischen der anonymen Mitwelt und der vertrauten Umwelt (der Freunde, des Partners usw.) unterschieden wird. Angesichts dieser Überlegungen kann einerseits gesagt werden, daß der Wert des Kennens bzw. des Erlebens (z. B. des Riechens435) für das nichtkognitiv gedeutete Fremdverstehen nicht zu unterschätzen ist; andererseits kann aber auch die skeptische These vertreten werden, daß man nie über ein praktisches Fremdverstehen hinauskommen und zu einem kognitiven Fremdverstehen gelangen kann. Wenn man den kognitiven Wert des Erlebens betont, müßte man auch sagen, wo die Grenze des Erlebens ist bzw. was Erleben alles einschließt.436 Schließt es Sinneswahrnehmungen ein (welche? Gerüche? Augenkontakte? Berührungen? Wie nah z. B. muß ich an einer Person dran sein? Wie muß ich sie spüren? Müssen sexuelle 435 436

Simmel sagt bemerkenswerterweise a.a.O. S. 489: „Die soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage.“ von Kutschera: „Man kann vielmehr sagen, daß der Inhalt des Erlebens über den Inhalt der begrifflichen Bestimmungen hinausgeht, die sich damit verbinden. Im Erleben ist vieles mehr oder minder deutlich mitgegeben, was wir nicht in Form gedanklicher oder sprachlicher Urteile explizit auffassen...Jede begriffliche Charakterisierung eines Gegenstandes trifft auf viele Gegenstände zu, erfaßt ihn also nicht in seiner Individualität, in der wir ihn erleben...Beschreibungen können den Gehalt von Wahrnehmungen nicht ausschöpfen. Erst im Erleben einer Sache - eines Gegenstands oder Vorgangs - verbinden sich unsere Informationen über sie zu einem Bild der Sache selbst...“ (a.a.O. S. 141f)

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Kontakte dasein?). Und schließt es ein Wahrnehmen von Sprachdefekten ein wie z. B. ein Nuscheln? So gesehen gibt es zahlreiche Mischungen zwischen dem emotionalen und dem praktischen Fremdverstehen. 7.3 Selbstverstehen: emotional, praktisch Es ist nun die Frage, ob es Sinn macht, zu sagen es gebe auch ein emotionales und praktisches Selbstverstehen. Primär für das erstere ist, wie ich selbst mich fühle. Wenn die Aussage von Herder : „Ich fühle mich! Ich bin.“ wahr sein könnte, wäre das Ausdruck eines rein emotionalen Selbstverstehens. Ob jede Person immer oder nur manchmal dieses Selbstgefühl hat, ist wohl schwer zu entscheiden. Thomä z.B. unterscheidet vier Modelle eines emotional-praktischen Selbstverhältnisses: die Selbstbestimmung (oder Autonomie), die Selbstfindung (oder Authentizität), die Selbsterfindung (oder Konstruktion des Selbst) und die Selbstliebe.437 Diese vier Modelle mögen teilweise zwischen einem emotionalen und praktischen Selbstverstehen changieren. Sie können aber nicht alle nichtkognitiv sein. Und es ist auch nicht auf Anhieb zu erkennen, inwiefern sie zum Titel des Buchs: „Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem“ passen. In Wirklichkeit scheint es ihm nur auf die Selbstliebe anzukommen. Sie ist nun zwar das Paradebeispiel für ein emotionales Selbstverstehen, aber man kann sich selbst lieben, ohne „sich selbst zu erzählen“ - vorausgesetzt, das geht überhaupt. Was geht ist „Leben, um davon zu erzählen“, wie der Roman von Gabriel Garcia Marquez heißt. In einem gewissen, nicht nur aus der Psychoanalyse bekannten Sinn, kann eine Person ganz sicher emotionale Beziehungen zu sich selbst haben. Sie kann z. B. sich selbst oder ihr Leben ablehnen und Selbstmord begehen. Das emotionale Selbstverstehen basiert letztlich, so könnte man sagen, auf der Hamlet-Alternative. In diesem Fall wäre das emotionale Selbstverstehen durch ein Wissen, daß man selbst nicht mehr sein bzw. leben möchte, gestützt. Es gibt auch partikulare affektive Beziehungen, die eine Person zu sich selbst haben kann. Falls diese der Person unbewußt bleiben, sollte man vielleicht nicht von einem emotionalen Selbstverstehen sprechen, geschweige denn von einem kognitiven Selbstverstehen. 437

Vgl. Thomä 1998

192

Es ist nun auch die Frage, wie sich ein praktisches Selbstverstehen denken läßt. Wenn man das Wissen-wie-man-mit-jemandem-umgeht so weit auffaßt, daß dazu auch z. B. die Äußerungen einer sich selbst verstehen wollenden Person gehören, dann scheint es so zu sein, daß eine Person auch mit ihren eigenen Äußerungen (ihren Emotionen usw.) umgehen kann - denn sie kann sie z. B. bewerten und ablehnen. Man kann demzufolge auch sagen und fragen, wie eine Person mit ihren Stimmungen bzw. Gestimmtheiten (wie z. B. melancholisch, depressiv sein) umgeht. Stimmungen sind keine Handlungen, obwohl sie solche auslösen können, und sie sind nicht propositional strukturiert, obwohl sie propositionale Einstellungen erzeugen können wie z. B. den Wunsch, nicht länger depressiv zu sein mitsamt dem entsprechenden Handeln. Stimmungen sind propositional ungerichtet, während Emotionen propositional gerichtet sind. Stimmungen müssen sowohl für Selbstverstehen wie für Fremdverstehen berücksichtigt werden, ebenso wie Emotionen. Darüber hinaus kann man auch ein praktisches Verhältnis zu sich haben, ein Selbstwertgefühl, eine Lebensstimmung wie Optimismus oder Pessimismus.438 Von einem praktischen Selbstverstehen würde man wohl dann sprechen, wenn eine Person rational mit ihren Emotionen und Lebensstimmungen umgeht. Nietzsche hat ein extrem praktisches Selbstverstehen propagiert. Er hat aus der schon bei Goethe artikulierten Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit des Selbstverstehens439 und der Wirklichkeit des Selbstmißverstehens die radikalsten Konsequenzen gezogen, indem er statt des Selbstverstehens und der Selbsterkenntnis so etwas wie ein Sich-selbst-Wollen oder ein Sich-selbst-Erschaffen propagierte: „`Wolle ein Selbst.´- Die thätigen erfolgreichen Naturen handeln nicht nach dem Spruche `kenne dich selbst´,

438 439

Vgl. Dilthey: „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen“ Goethe meinte in „Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort“: „Hiebei bekenne ich, daß mir von jeher die große und bedeutend klingende Aufgabe: Erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.“

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sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte: wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst.“440 Ich deute Nietzsches Forderung des „Ein-Selbst-wollen“ so, daß nicht paradoxerweise irgendein beliebiges Selbst gewollt werden kann oder soll, sondern nur das eigene Selbst. Deshalb habe ich vom Sich-selbst-Wollen gesprochen. Fraglich bleibt, inwieweit bei dieser Operation der Bereich des Kognitiven verlassen werden kann. Es scheint, daß eine Person wollen muß, daß etwas der Fall ist, daß sie also einen Sachverhalt herstellen muß, in dem sie wesentlich vorkommt. Und vermutlich muß sie auch wissen, wie man diesen Sachverhalt herstellt. Doch muß sie nicht zumindest auch ein Wissen-daß haben, weil sie doch zumindest wissen muß, daß der zu verwirklichende Sachverhalt nicht besteht? In gewisser Weise scheint für dieses Sich-selbst-Wollen noch anderes Sachverhaltswissen nötig. Es ist aber nicht evident, ob man bei diesem Sich-selbst-Wollen vor Selbsttäuschung und Selbstmißverstehen gefeit ist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob man dieses Sich-selbst-Wollen auch im Sinne eines, wie ich oben schon einmal sagte, Sich-selbst-Erschaffens deuten könnte. Vor Nietzsche hatte sich schon Kierkegaard (in seiner „Krankheit zum Tode“) mit dem sozusagen konträren Problem befaßt, verzweifelt man selbst und verzweifelt man nicht selbst sein zu wollen.441 Kierkegaard allerdings war, soviel läßt sich vielleicht sagen, mit seiner Kritik am idealistischen Erkenntnisideal des Selbstverstehens (trotz der zitierten Ablehnungen dieses Projekts durch Hegel und Goethe) historisch weniger wirksam als Nietzsche, weil er auf dem Boden eines verzweifelnden Christentums argumentierte. Nietzsche hatte sich dagegen auf dem Boden seiner atheistischen Religiosität, auch „Nihilismus“ genannt, einen argumentativen Vorschuß erarbeitet, der es ihm gestattete, das hinter dem Ideal des Selbstverstehens stehende Pathos anzugreifen, das mit den Begriffen der Erkenntnis, des Wissens und der Wahrheit sowie denen des Lichts und der Erleuchtung seit der platonischen Antike und spätestens seit dem welthistorischen Siegeszug des Christentums einherging, das zu zerstören er sich erfolgreich vorgenommen hatte. Nietzsche war der Erfolgreichere, weil er nicht so protestantisch-larmoyant war wie Kierkegaard. 440 441

„Menschliches, Allzumenschliches“ II, 1. Abtlg. Nr. 366 – kursiv von Nietzsche Vgl. dazu Theunissen 1991

194

8.

Interdependenz von Sprach-, Handlungs- und Personenverstehen

Für viele Philosophen scheint es eine ausgemachte Sache zu sein, daß sprachliche Äußerungen und nichtsprachliche Handlungen (beide fasse ich, wie gesagt, unter dem Begriff der SprachHandlungen oder des SprachHandelns zusammen) im Prinzip verstanden bzw. erklärt werden können. Als Grundlage dieser Verstehbarkeit wird die Sinnhaftigkeit oder die Bedeutsamkeit der SprachHandlungen angegeben. Damit scheint oft die Annahme einherzugehen, daß die meisten oder sogar alle SprachHandlungen auch ohne ein Personenverstehen verstanden werden können (und es geht im folgenden, wenn nicht ausdrücklich vermerkt, nur um ein kognitives Personenverstehen). Ich nenne diese Annahme die Unabhängigkeitsthese des SprachHandlungsverstehens. Vielleicht glauben einige Philosophen darüber hinaus, daß man Personen nicht verstehen kann, weil ausschließlich SprachHandlungen verstehbar sind. Diese radikale Ansicht könnte man die Unmöglichkeitsthese des Personenverstehens nennen. Mit ihr brauche ich mich nach allem vorher Gesagten hier nicht mehr zu befassen. Es verwundert sicher nicht, daß ich die letzte These für äußerst problematisch halte. Aber verwundern mag es den Leser schon, wenn ich sage, daß ich auch die Unabhängigkeitsthese des SprachHandlungsverstehens in dieser Allgemeinheit für falsch halte. Ich glaube, daß das SprachHandlungsverstehen von einem Personenverstehen abhängig ist. Selbstverständlich würde niemand, der ein Personenverstehen für möglich hält, bestreiten, daß dieses von einem SprachHandlungsverstehen abhängt. Wie ist die Interdependenz von Personenverstehen und SprachHandlungsverstehen zu verstehen?442 Zur Beantwortung dieser Frage sollte man zwei Modelle für das Verhältnis zwischen SprachHandlungsverstehen und Personenverstehen betrachten. Das eine Verhältnis könnte man das Pyramiden-Modell nennen. Nach diesem Modell „fußt“ (von Wright443) das Personenverstehen auf einem Verstehen des SprachHandelns. Das SprachHandeln bildet sozusagen das Datenmaterial bzw. die empirische Basis, von der gleichsam aufgestiegen wird zum theoretischen Teil, dem Personenverstehen. So ähnlich haben 442 443

Zur Interdependenz als philosophischer Methode Vgl. Strawson 1993. Strawson verwendet den Namen „Konnektionismus“. Äußerung in einem Brief v. Wrights an den Autor.

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sich auch schon von Humboldt und Dilthey über dieses Verhältnis geäußert. Die Annahme, daß das Personenverstehen auf dem Verstehen des SprachHandelns „fußt“, ist nicht unplausibel oder kontraintuitiv. Nach dem Pyramiden-Modell ist das SprachHandlungsverstehen insofern unabhängig von einem Personenverstehen, als es auf diesem „fußt“. Dieses Modell beruht auf Voraussetzungen erkenntnistheoretischer, methodologischer und sprachphilosophischer Art, die hier nicht thematisiert werden können. Nur soviel sei gesagt: wenn man plausiblerweise nicht annimmt, Personen könnten unmittelbar und sozusagen unabhängig von ihrem SprachHandeln gleichsam intuitiv verstanden werden, dann wird das Pyramiden-Modell von der sprachphilosophischen Voraussetzung unterstützt, daß ein Spracherwerb ohne prinzipielles Personenverstehen möglich ist - und das soll heißen: ohne das Verstehen irgendeiner Person als Individuum. Denn lernen Kinder nicht ihre Erstsprache, ohne daß sie diejenigen Personen als Individuen verstehen, die ihnen ihre Erstsprache beibringen? Sie müssen, so scheint es, doch gar nicht diese Personen (in der Regel ihre Eltern) verstehen, sondern nur die Bedeutung(en) der Wörter, die diese Personen sie lehren. Sie müssen anscheinend das „Rauschen des semantischen Flusses“ noch gar nicht hören, sondern die Phoneme und Morpheme kennenlernen, syntaktische Strukturen richtig bilden lernen, die Angemessenheit von sprachlichen Äußerungen einzuschätzen usw. Und ist es nicht auch so, daß man erst eine Sprache beherrschen muß, bevor man anfangen kann, Personen (als Individuen) zu verstehen? Dennoch scheint mir das folgende Modell alles in allem realitätsgerechter zu sein. Das Netz-Modell besagt, daß beide Verstehensarten vernetzt sind, d. h. daß es ein SprachHandlungsverstehen nur gibt, wenn es ein Personenverstehen gibt und ein Personenverstehen nur, wenn es ein SprachHandlungsverstehen gibt. Dieses Modell bezieht sich in gewisser Weise auch auf den Erwerb einer Erstsprache. Das Netz-Modell geht davon aus, daß es keine scharfe Trennung zwischen einer Theorie sprachlicher Bedeutung und einer Theorie der Dinge/Welt geben kann, wie Quine es uns eingeschärft hat. Es geht daher davon aus, daß man nur sprachliche Bedeutung(en) verstehen kann, wenn man ein Wissen von der Welt bzw. den Dingen hat und daß man nur ein solches Wissen haben kann, wenn man die Sprache(n) versteht, mit denen über diese Dinge bzw. die Welt gesprochen wird. Daher kann gesagt werden, daß die Unabhängigkeitsthese des SprachHandlungsverstehens nicht richtig ist, weil ein SprachHandlungs-

197

verstehen ein Personenverstehen impliziert, wenn auch nicht von bestimmten individuellen Personen, aber doch von einem Begriff der Person mit allen dazugehörigen Voraussetzungen und Implikationen. Das soll heißen: um das SprachHandeln zu verstehen, muß eine verstehen wollende Person nicht nur über das volle mentalistische Vokabular verfügen, sondern auch dessen verschiedene historische Ausprägungen kennen, also ein reichhaltiges Weltwissen besitzen, wozu selbstverständlich auch ein Wissen darüber gehört, was Personen sind und was sie alles tun und lassen können. SprachHandlungsverstehen ist nur insoweit vom Personenverstehen unabhängig, als das SprachHandlungsverstehen vom Verstehen individueller Personen entkoppelt ist. In gewisser Weise ähnelt dieses Modell demjenigen, das Davidson sich von den drei seiner Meinung nach nötigen, aber unreduzierbaren Arten des Wissens macht: dem Wissen über die objektive Welt, dem Wissen über die Psyche anderer Personen und dem Wissen über den Inhalt des eigenen Geistes.444 In der Einleitung des in der letzten Fußnote erwähnten Buchs schreibt er (auf S. 12): „Im 8. Aufsatz (`Die zweite Person´) beschäftige ich mich mit dem Gedanken, die Sprache sei etwas notwendig Soziales. Dabei wird geltend gemacht, daß es, um Gedanken zu haben und daher im Reden etwas zu meinen, notwendig ist, eine zweite Person zu verstehen und von einer solchen Person verstanden zu werden.“

Wenn ich Davidson recht verstehe, dann ist es ziemlich genau das, was ich hier auch sagen will. Am Schluß dieses Aufsatzes heißt es (auf S. 210): „Die hier dargelegten Überlegungen gelten nicht nur für die Sprache, sondern genauso auch für das Denken im allgemeinen. Glauben, Beabsichtigen und die übrigen propositionalen Einstellungen sind allesamt etwas Soziales, denn sie sind Zustände, in denen sich ein Lebewesen nicht befinden kann, ohne über den Begriff der objektiven Wahrheit zu verfügen; und dies ist ein Begriff, den man nicht haben kann, ohne daß man an derselben Welt und an derselben Denkweise über die Welt teilhat wie jemand anderes und überdies weiß, daß man daran teilhat.“

Mit meinen Worten heißt das: Das für das Personenverstehen benötigte psychologische und hermeneutische Vokabular kann als die Schnittstelle zwischen dem SprachHandlungsverstehen und dem Personenverstehen begriffen werden. Die Bedeutungen von Wörtern wie „absichtlich“, „frei444

Vgl. Davidson 2004

198

willig“, „hinterlistig“, „unbewußt“, „eifersüchtig“, „sehnsüchtig“ usw. könnten nicht gelernt werden, wenn man nicht neben diesem Bedeutungswissen auch ein Weltwissen, in diesem Fall von bestimmten personalen Dispositionen, erwürbe, also von dem, was auf Personen und nur auf sie alles zutreffen kann. Es muß jedoch noch einmal betont werden, daß es bei der Interdependenz nur um das Personenverstehen und nicht um das Verstehen von individuellen Personen geht. Aber es kommt noch mehr hinzu. Denn viele metaphysische Grundbegriffe wie Freiheit, Selbstbewußtsein, Bewußtsein, Vernunft, Wille, Materie usw. und viele metaphysische Grundunterscheidungen wie die zwischen Tier und Mensch, tot und lebendig usw. und viele sozialphilosophische Grundbegriffe wie Gesetz, Geld, Familie, Staat usw. könnten gar nicht gelernt und verstanden werden ohne den Begriff der Person zur Verfügung zu haben. Wenn der Begriff der Subjektivität das abstrakt-allgemeine vernünftige Wesen bezeichnet, während der Begriff der Personalität das besondere und der Begriff der Individualität das einzelne vernünftige Wesen bezeichnet, wird die Interdependenz noch deutlicher. Auch das Prinzip der wohlwollenden Interpretation beruht auf der Interdependenz von SprachHandlungsverstehen und Personenverstehen. So kommt das von Schleiermacher inaugurierte und von Davidson auf der Ebene des SprachHandlungsverstehens angesiedelte Netz-Modell einer Interdependenz von Personenverstehen und SprachHandlungsverstehen entgegen.445 Die für das Pyramiden-Modell typische Trennung von SprachHandlungsverstehen und Personenverstehen läßt sich vielleicht nur dadurch plausibel machen, daß man auf die Konventionalität des SprachHandelns verweist, insbesondere der konventionellen sprachlichen Bedeutung(en), und dann darauf, daß diese unabhängig vom Verstehen einzelner Personen erlernbar und deswegen unabhängig von anderen Verstehensformen verfügbar sind. Aber diese Unabhängigkeit täuscht. Daß das SprachHandlungsverstehen und das Personenverstehen voneinander abhängig sind, kann sowohl auf dem Feld der Politik als auch im Bereich des Alltags beobachtet werden. 445

So schreibt z. B. Thouard 1993, S. 280: „Nach Dilthey scheint es, als wäre die Individualität Schleiermachers so prägnant, daß das Verständnis seines Werkes notwendig nur durch eine Biographie zu erhalten ist (im Unterschied zu Kant z. B.): `...Schleiermachers Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke bedürfen zu ihrem Verständnis biographischer Darstellung.'“

199

Wäre es wirklich anders, wie könnte es dann so viele Mißverständnisse geben? Es kommt vor, daß der Sinn oder Zweck einer Rede446 unverständlich bleibt oder mißverstanden wird, obwohl alle einzelnen Sätze der Rede verstehbar gewesen sind, weil der Redner als individuelle Person nicht verstanden wurde.447 Es kann sein, daß man jeden Satz verstanden hat, aber nachher nicht weiß, was der Redner eigentlich sagen wollte, und das, was er sagen wollte, kann noch unklarer werden, wenn er im nachhinein seine Rede selbst interpretiert. Es kann vorkommen, und ist auch vorgekommen, daß der semantische oder pragmatische Fluß nur so rauscht.448 Und wenn gar der Redner es als sein Ziel erklärt, „daß die Zuhörer, wenn ich den letzten Satz gesagt habe, weniger von mir wissen als beim ersten Satz“449, dann wird aufgrund dieser Selbstbezüglichkeit der Rede offenbar, wie abhängig voneinander das SprachHandlungsverstehen und das Personenverstehen sind. Im Bereich des Alltags läßt sich die Interdependenz auch beobachten, obwohl sie hier um die nichtkognitive Komponente des Verstehens angereichert ist. Es ist bekannt, daß alltägliche Kommunikation zu einem großen Teil aus dem Erzählen von mehr oder weniger trivialen Geschichten besteht. Dieses Erzählen ist sozialer Kitt. Hier verschwindet der Unterschied zwischen dem SprachHandlungsverstehen und dem kognitiven Personenverstehen, weil diese Geschichten nur Personen erzählt werden und nur von Personen verstanden werden, die einander auch emotional und praktisch verstehen. Dieses emotionale und praktische Personenverstehen scheint nichts anderes als das Kitten zu sein. Offenbar funktioniert das SprachHandlungsverstehen nur dort völlig losgelöst vom Personenver-

446 447

448

449

Man denke an die Paulskirchenrede Martin Walsers 1998. von Wright 1994 S. 197 hat zumindest in die Richtung dieser Abhängigkeit gedacht, als er schrieb: „Was würde hier den Außenstehenden zur Behauptung berechtigen, daß er die Motive des Agenten besser kennt als dieser selbst? Vielleicht beruft er sich auf seine auf Grund früherer Erfahrung erworbene Kenntnis vom Charakter des Handelnden.“(a.a.O. S. 157 - kursiv v. von Wright). Ich verwende hier den Terminus „pragmatisch“ zur Bezeichnung dessen, was der Sprecher mit seiner Rede zu verstehen geben wollte. Dabei nehme ich an, daß Kunderas Terminus „semantisch“ genau das meint, und nicht das Semantische im Sinne dessen, was Wörter bedeuten. so Martin Walser in dieser Rede.

200

stehen, wo es sich um völlig unpersönliche, quantitative Aussagen oder Angaben wie z. B. bei Inhalten von Gebrauchsanweisungen handelt. Obwohl es sich bei dieser Interdependenz wahrlich um ein sehr weites Feld handelt, sei dennoch als Fazit die These gewagt: sowohl die Unmöglichkeitsthese des Personenverstehens als auch die Unabhängigkeitsthese des SprachHandlungsverstehens sind in allgemeiner Form nicht haltbar.

9.

Hermeneutische Maximen und ein Verstehensprinzip

Für das Personenverstehen können einige nur auf Textverstehen bezogene hermeneutische Maximen in einem wörtlichen Sinne nicht gelten. Daher stelle ich sie dem auf Personenverstehen bezogenen Verstehensprinzip gegenüber. Die traditionellen hermeneutischen Maximen bezogen sich auf die Auslegung von heiligen, fremdsprachigen, sogenannten eminenten Texten wie z. B. die Bibel.450 Die Auslegung war kunstmäßig, weil sie nach eingeübten Regeln verfuhr. Dieses spezielle hermeneutische Verstehen, das zwar nicht mechanisierbar, aber doch methodisch kontrollierbar ist, ist trivialerweise nicht dasjenige, das stattfindet oder vollzogen wird, wenn Personen sich selbst oder einander verstehen. Heidegger hat bekanntlich den hermeneutischen Impetus so umgedeutet, daß das Verstehen ein „existenzial-hermeneutischer“ Prozeß wurde und das Verstehen für das Personsein grundlegend wurde. Er sagt über „das Verständnis Anderer“: „Dieses Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht.“451 Nach der hier verwendeten Terminologie plädiert Heidegger für ein nichtkognitives Fremdverstehen und wohl auch für ein solches Selbstverstehen. Jung nennt es „Heideggers ontologische Pragmatik des Verstehens“452 Dieses methodisch weder kontrollierte noch kontrollierbare Verstehen könnte, weniger hochtrabend, auch als alltägliches Verstehen bezeichnet werden. Damit wäre zwar, wie bei Heidegger, dem alltäglichen Verstehen (seiner „existenzialen Hermeneutik“) Priorität gegenüber jedem irgendwie ausgebildeten hermeneutischen Verstehen, wie z. B. einer juristischen oder philosophischen Hermeneutik, eingeräumt, aber es wäre dann kognitiv entleert. Diejenigen hermeneutischen Maximen, die nicht für das Personenverstehen gelten, sind meines Erachtens die folgenden (I)-(V):

450 451 452

Vgl. Jung 2001 Vgl. Heidegger, a.a.O., S. 123 a.a.O., S. 91 ff

202

(I) „Wir verstehen aber nichts recht als das, was wir zugleich machen können, wenn uns der Stoff dazu gegeben würde“ und „Nur das kann verstanden werden, was von Menschen gemacht ist“ (Kant, Reflexionen Nr. 395), (II) „Das kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen nennen wir Auslegung.“ (Dilthey453), (III) „Ich verstehe nichts, was ich nicht als notwendig einsehe und construieren kann“ (Schleiermacher454), (IV) „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er“ (Dilthey455). (V) „Das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist, den Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat.“ (Dilthey)456 So gibt es also eine hermeneutische Maxime, die äußerst wirkungsmächtig gewesen ist, nämlich die Maxime des, schon in Kap. 5. erörterten, Besserverstehens457: (VI) „Ich merke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte.“ (Kant, KdrV, B 370)458

453 454 455 456 457

458

a.a.O. VII. Band S. 217 Kimmerle 1974 S. 31 a.a.O. VII. Band S. 148 a.a.O. V. Bd., S. 331 Von F. Schlegel stammt die erstaunliche Ansicht, daß das Besserverstehen eine Art rudimentärer Form des Verstehens bzw. nur dessen erste Stufe sei; vgl. Regehly 1992 S. 228 f. Vgl. J. G. Fichte, Werke VI, S. 337: „Wir werden Rousseau besser verstehen als er selbst sich verstand, und wir werden ihn in vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst und mit uns antreffen.“ Diese Maxime des Besserverstehens war offenbar ein geläufiger Topos in der Literatur des 18. Jahrhunderts, die sich bei Goethe, Schiller, F. Schlegel, Schelling, Hegel und Heine findet, so daß Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

203

Es dürfte unstrittig sein, daß diese Maxime auch auf Personen angewandt werden kann, obwohl Personen im herkömmlichen Sinn nicht als „Verfasser“ oder „Autoren“ bezeichnet werden. Denn der Verfasser eines Textes ist, hermeneutisch gesehen, identisch mit einer Person, die sprachlich handelt. Dabei gilt eine analoge hermeneutische Identität für die Interpreten von Texten wie von Reden, denn das dabei zu Verstehende sind immer Sprechakte, sei es einer schreibenden, sei es einer redenden Person. Sprechakt und Verstehensakt sind komplementär, denn: „Jeder Akt des Verstehens ist die Umkehrung eines Redeaktes, richtet sich auf das in der Rede Gedachte“459. Es ist hier allerdings ein trivial scheinender, aber deswegen nicht unwesentlicher Unterschied zu beachten, auf den schon Platon460 bei seiner Schriftkritik aufmerksam gemacht hat: einen Text bzw. die einzelnen geschriebenen Sätze kann man nicht befragen, wie er bzw. sie zu verstehen seien, eine Person bzw. ein Autor dagegen können im Prinzip danach gefragt werden, wie ihre gesprochenen oder geschriebenen Sprechakte zu verstehen seien. Tote Personen können natürlich nicht mehr gefragt, aber auch dann noch verstanden werden, wenn sie ein verstehbares bzw. semantisches Produkt hinterlassen haben, d. h. ihre zu Lebzeiten vorhandene Intentionalität dokumentiert haben. Bei lebenden Personen besteht eine unfixierte Intentionalität, weil sie in einem gewissen Ausmaß immer revidieren können, was sie mit ihren Sprach/Handlungen gemeint haben wollen. Aus den genannten Gründen ist es evident, daß auch ein Besserverstehensprinzip für Personen vertreten werden kann: (VP) „Man kann eine Person besser verstehen, als diese sich selbst versteht“. Bei der Anwendung dieses Prinzips muß allerdings der Unterschied zwischen dem kognitiven und dem nichtkognitiven Fremdverstehen

459 460

Schleiermacher nicht der erste war, der ihn benutzte. Vgl. dazu auch die bei Regehly 1992 S. 227 erwähnte Literatur. Apel 1955 S. 168. Die gerade zitierte Kant-Stelle findet sich, vieleicht nicht ganz zufällig, in dem ersten Buch der transzendentalen Dialektik der KdrV, wo Kant Platons Begriff der Idee zu verstehen versucht.

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beachtet werden sowie die dazu nötigen Explikationen dieses Begriffs (in Kap. 5.1.2), um angeben zu können, worin denn das Besserverstehen überhaupt bestehen kann - und wie es sich von einem „richtigen“ Verstehen unterscheidet. Obwohl es aufgrund allgemeiner menschlicher Erfahrung naheliegend ist, daß es diese Möglichkeit gibt, ist das Besserverstehen z. B. von Schopenhauer implizit geleugnet worden, denn er schrieb: „Nur sich selbst nämlich versteht man ganz, Andere nur halb“.461 Und im 20. Jahrhundert vertrat Gadamer die kontraintuitive These, daß wir nicht besser, sondern immer nur anders verstehen: „Verstehen ist in Wahrheit kein Besserverstehen, weder im Sinne des sachlichen Besserwissens durch deutlichere Begriffe, noch im Sinne der grundsätzlichen Überlegenheit, die das Bewußte über das Unbewußte der Produktion besitzt. Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.“462 Kontraintuitiv erscheint diese These, weil sie zum einen fälschlicherweise von einer „konstitutiven Unterlegenheit“ (so Gadamer 1986, Bd. 2, S. 264) der verstehenden Person ausgeht, zum andern aber offenkundig vorkommende Verstehensfortschritte übersieht. Wenn man freilich wie Gadamer nur an sogenannte eminente Texte (Bibel463 usw.) denkt, ist die These vielleicht plausibel.

461

462

463

Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Bd.2, 1. Teilbd. Kap. 2, § 6. Interessanterweise macht Schopenhauer diese Bemerkung im Zusammenhang mit einer Reflexion über das Gespräch sowie den philosophischen Dialog, inklusive der platonischen. Daher gibt er als Begründung für seine „Nur-halb-verstehenThese“ an, daß man im Gespräch höchstens dieselben Begriffe benutzt, aber nicht zu der zugrundeliegenden „anschaulichen Auffassung“ gelangt. So 1965, S. 280 und 1986 Bd. I, S. 302 (Hervorhebung durch Gadamer). Dazu schreibt Grondin 1994, 45 f: „Gerade in diesem Andersverstehen tut sich der hermeneutische Wahrheitsbegriff kund. Was heißt denn eigentlich `Andersverstehen´? Das Andersverstehen ist offenkundig ein `neues' Verstehen, d. h. eine neue Hervorbringung von Sinn und Bedeutung kommt zustande.“ Vgl. auch Bollnow 1940 Daß die Texte, die die Christen die „biblischen“ nennen, gewisse Verständnisschwierigkeiten mit sich bringen, scheint den Verfassern dieser Texte schon bewußt gewesen zu sein. Z.B. wird in der Apostelgeschichte 8, 30 erzählt, daß Philippus einen seiner königlichen Kämmerer den Propheten Jesaja lesen hörte und ihn fragte: „Verstehst du auch, was du liesest?“ Darauf erhielt er die Antwort: „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?“.

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Doch erstens gibt es für diese Beschränkung gar keinen zwingenden Grund, und zweitens und noch viel wichtiger scheint mir zu sein, daß die These für das Personenverstehen zwar nicht kontraintuitiv, aber einfach nicht richtig ist, da man Personen zu Zeiten besser verstehen kann als zu anderen Zeiten.464 Im übrigen gilt schon seit Platons „Sophistes“ die universale Herrschaft der Idee der Andersheit, denn für jede Idee gilt, daß sie anders ist als jede andere. Und das gilt auch für jedes Ding.465 Das zu wissen, ist zwar nicht nichts - aber doch ebensoviel wie das Wissen, daß jedes Verstehen ein anderes ist als ein anderes. Erschwerend kommt hinzu: Gäbe es nur Andersverstehen, dann könnte es prinzipiell gar nicht so etwas wie ein Mißverstehen geben.466 Wenn man Verstehen aber kognitiv als ein Erkennen bzw. ein Wissen auffaßt, dann können die Ergebnisse der Verstehensversuche nur richtig oder falsch sein. Und so gesehen ist es völlig unklar, was es heißen könnte, daß man immer bloß anders versteht. Es ist aber bekanntlich so, daß es nicht nur bei den einfachsten Gebrauchstexten, sondern bei schwierigen Werken, wie z. B. bei philosophischen, eindeutige Fälle von Mißverstehen bzw. Fehlinterpretation (auch manchmal sogenannte Überinterpretationen) gibt, obwohl es auch gleichermaßen berechtigte Interpretationen geben kann - vom Personenverstehen ganz zu schweigen. Es kann also gute, schlechte und falsche Deutungen geben. Manche Texte sind sehr kompliziert, und so muß nicht jede Interpretation dieses Textes gut oder richtig sein.467 Eco schreibt:

464 465 466

467

Vgl. Regehly 1992 S. 232 Man darf offensichtlich niemals Bischof Butlers These vergessen, daß jedes Ding ist, was es ist und nicht ein anderes Ding. Regehly 1992 S. 233: „Von der Notwendigkeit eines Besser-Verstehens ist stets auszugehen, ohne daß damit über dessen Möglichkeit bereits etwas gesagt wäre.“ Aber wieso sollte das Besserverstehen immer möglich sein? Im Kontext seiner Derrida-Rezeption deutet Habermas 1988 S. 209 Derridas Husserl-Kritik und seinen Angriff auf den (auch bei Husserl anzutreffenden) Phono- und Logozentrismus folgendermaßen: „Der schriftliche Ausdruck erinnert nämlich mit großer Hartnäckigkeit daran, daß die Sprachzeichen `trotz der völligen Abwesenheit eines Subjekts und über seinen Tod hinaus´ die Entzifferbarkeit eines Textes ermöglichen und seine Verständlichkeit wenn nicht garantieren, so doch in Aussicht stellen. Die Schrift ist die testamentarische Verheißung des Verstehens.“ In dieser metaphorischen Rede (statt der wörtlichen wie z. B.: Fortsetzung der Fußnote: siehe nächste Seite

206

„Auch ein `offener´ Text ist doch immer ein Text, und ein Text kann zwar unendlich viele Interpretationen anregen, erlaubt aber nicht jede beliebige Interpretation.“468 Man muß also keinem Nihilismus oder Anarchismus des Interpretierens bzw. Verstehens das Wort reden, wenn man einen Pluralismus desselben, gepaart mit einem Schuß Skeptizismus, für angemessen hält. Einzelnes, das es zu verstehen gilt, kann nur in seiner Individualität erkannt werden, wenn es aus dem Ganzen, also aus einem Sinnzusammenhang, in dem es steht und in den es hineingehört, verstanden wird. Dieser Sinnzusammenhang kann derjenige der Rede, des Textes oder überhaupt der einer geistigen Tradition sein. Verstehen steht daher immer in überlieferten Sinnzusammenhängen, selbst wenn es nur der der eigenen Sprache ist. Von diesem Zusammenhang, von diesem Sinnganzen, wie z. B. dem Text, der aus einer Menge von Sätzen besteht, sowie der Tradition, zu der dieser Text gehört, muß derjenige, der die einzelnen Sätze wirklich verstehen will, ein Vorverständnis (als Voraussetzung des Verstehens) haben, damit sich ihm der Sinn des einzelnen Satzes erschließt. Das hat man den hermeneutischen Zirkel genannt, obwohl es besser wäre, die Metapher der Spirale zu verwenden, da es sich um keine Kreisbewegung handelt. Jedenfalls muß, wie schon viele Hermeneutiker immer wieder betonten, das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden. Anders gesagt: Über das Vorverständnis (eine Art Entwurf) des Ganzen wird ein Verständnis der einzelnen Teile gewonnen, das ein Verständnis des ganzen Textes eröffnet, was wiederum ein neues, besseres Verständnis zu erschließen hilft. Jedes Verstehen sprachlicher Äußerungen kann als Antwort auf eine vorgängige Frage aufgefaßt werden: „Was meint der Autor?“, „Was meint mein Gesprächspartner?“. Stimmt die Antwort nicht, ist der Verstehensversuch fehlgeschlagen - ein Nichtverstehen oder Mißverstehen ist die Konsequenz. Verstehen erzielt man durch das Stellen der einschlägigen bzw. der wichtigen Fragen und durch die passenden Antworten.

468

„etwas Geschriebenes ist im Prinzip verstehbar“) offenbart sich eine pointierte Kritik an Platons Schriftkritik. Eco 1992

10. Grenzen des Personenverstehens und des Verstehens überhaupt Es wird zwar nicht immer die Unmöglichkeitsthese des Personenverstehens vertreten, aber oft wird das Personenverstehen als unvollständig469, unabgeschlossen470 und fragmentarisch471 hingestellt. Und diese drei Merkmale sind von vielen Autoren in bezug auf das Wissen bzw. das Erkennen überhaupt472 hervorgehoben worden und von manchen ausschließlich auf das Verstehen. Von Gadamer wurde sogar die These vertreten: „Eine endgültige Interpretation scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Interpretation ist immer unterwegs.“473 Mit einer solchen These sollte aber nicht mehr gemeint sein als daß Verstehensversuche scheitern können. Nun ist im einzelnen zu fragen, ob erstens mit diesen drei Merkmalen derselbe Sachverhalt bezeichnet werden soll; ob zweitens diese drei Merkmale auch auf das Personenverstehen zutreffen, und wenn ja, ob sie auch für das Selbstverstehen gelten oder nur für das Fremdverstehen und drittens, ob diese drei Merkmale nur für die Prozesse bzw. Versuche, Personen zu verstehen, gelten sollen oder auch für deren Ergebnisse. Diese Fragen können hier nicht philologisch beantwortet werden. Daher wird zum Zweck der Argumentation angenommen, daß mit diesen drei Merkmalen mehr oder weniger derselbe Sachverhalt bezeichnet wurde; daß sie hauptsächlich auf das kognitive Fremdverstehen zutreffen und sowohl für die Prozesse als auch für die Resultate des Verstehens gelten sollten. Als ein Grund für die Unvollständigkeit wurde (und wird auch noch heute) häufig eine semantische Insuffizienz des Fremdverstehens angenommen. Fremdverstehen kann danach unvollständig bleiben, weil das präsentische sprachliche Handeln oder die erzählte Lebensgeschichte der zu verstehen469 470 471 472

473

Siehe Schleiermacher 1977 S. 172, wonach die Individualität sich in keinem Begriff zusammenfassen lasse; Vgl. dazu auch Frank 1986 S.115. Boeckh 1966 S. 126: „Der Mensch ist in keinem Moment derselbe.“ Vgl. Schlegel, F., Atheneumfragment Vgl. Kant, KdrV B 601: „Um ein Ding vollständig zu erkennen, muß man alles Mögliche erkennen, und es dadurch, es sei bejahend oder verneinend, bestimmen. Die durchgängige Bestimmung ist folglich ein Begriff, den wir niemals in concreto seiner Totalität nach darstellen können, und gründet sich also auf einer Idee, welche lediglich in der Vernunft ihren Sitz hat, die dem Verstande die Regel seines vollständigen Gebrauchs vorschreibt.“ 1972, S. 338

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den Person aufgrund idiolektischer Sprachverwendung bzw. idiosynkratischer Bedeutungen irgendwie unverständlich bleiben kann. Kognitives Fremdverstehen scheint also häufig an der Brüchigkeit der sprachlichen Kommunikation bzw. Intersubjektivität zu scheitern. Die Interpretation fremden SprachHandelns ist semantisch insuffizient.474 Die intersubjektive Bedeutung sprachlicher Zeichen wird häufig auch im Alltag mit Skepsis beäugt. Das Motto dieser Skepsis lautet: „Wir (sie) sprechen nicht dieselbe Sprache.“ Ein anderer Grund für die Unvollständigkeit des Fremdverstehens könnte sich daraus ergeben, daß die Erfüllbarkeit der Wissensbedingungen (aus Kapitel 5.1.1) eine viel zu optimistische Annahme darstellt. Wenn man das so sieht, dann ergibt sich zusätzlich eine kognitive Instabilität des Fremdverstehens. D.h. Fremdverstehen kann unvollständig bleiben, weil die zu verstehende Person aufgrund alternativer, ja konkurrierender Lebensentwürfe diffus bzw. aufgrund permanent wechselnder Selbstzuschreibungen von intentional-mentalen Prädikaten inkohärent sein kann oder gar weil sie sich nicht zu ihrer eigenen Lebensgeschichte bekennt. In diesem Fall scheiterte das kognitive Fremdverstehen an der Brüchigkeit ihrer lebensgeschichtlichen Identität, also an der für andere Personen unverständlichen Verständigung der Person mit sich selbst, inklusive Selbstmißverstehen bzw. Selbsttäuschung. Wenn das Fremdverstehen semantisch insuffizient oder kognitiv instabil ist, kann man das Personenverstehen als unvollständig ansehen. Spätestens an dieser Stelle ergibt sich eine Zwiespältigkeit, nämlich, ob man die Unwägbarkeiten des Fremdverstehens der zu verstehenden Person zuschlägt oder der verstehenden Person. In der Tradition der romantischen Hermeneutik scheint man eher angenommen zu haben, daß das Fremdverstehen kognitiv instabil sei, weil die zu verstehende Person einem permanenten Wechsel unterworfen ist - so z. B. bei A. Boeckh, bei Schleiermacher sowie bei F. Schlegel, wo es heißt: „Das Ich ist ein beständiges 474

Es gab einmal ein Experiment von Urs Widmer, der (s)einen Text (ZEITmagazin Nr. 13) vom Deutschen ins Spanische übersetzen ließ, von dort ins Chinesische, sodann ins Englische, von dort ins Russische, aus diesem ins Französische und zuguterletzt wieder ins Deutsche zurück. Es war zum Schluß ein anderer Text herausgekommen.

209

Werden“, es ist immer „unvollendet“ oder „Fragment“; „die Einheit des Fragments“ ist seine „Individualität“, „Der Mensch ist ein Mikrokosmos. Zur Charakteristik des Individuums gehört die Charakteristik des Universums.“ Es gibt von jedem Individuum „unendlich viele reale Definitionen“.475 Es ist verstehenstheoretisch unklar, ob man eine Unvollständigkeit beim kognitiven Personenverstehen annimmt, weil intentionale Zustände aufgrund der Unbestimmtheit der intentionalen Objekte476 oder aufgrund der Vagheit der Intentionalrelation477 unerkennbar sind - und deswegen sagen sollte, daß das kognitive Personenverstehen unbestimmt ist, weil es wesentlich im Verstehen von intentionalen Zuständen besteht. Ebenso unklar scheint es zu sein, wie zeitlich unbestimmt ein Verstehensversuch sein darf, d. h. ob es sinnvolle Bedingungen für Zeitgrenzen gibt oder nicht. Doch selbst wenn man nun annehmen müßte, daß auch das kognitive Selbstverstehen im Prinzip semantisch insuffizient oder deskriptiv instabil ist, so kann man dennoch nicht annehmen, daß eine Person überhaupt kein Wissen über ihre Überzeugungen, Präferenzen, Absichten usw. hat. Es ist kontraintuitiv, einer Person jegliches Wissen über ihre intentional-mentalen Zustände abzusprechen. Das Selbst kann zwar als fragmentarisch gedacht werden, aber das ruiniert noch nicht das Selbstverstehen. Trotzdem stellt sich die Frage, ob das kognitive Modell des Selbstverstehens angemessen ist. Diese Frage legt die Alternative nahe, das Selbstverstehen gerade nicht als ein Wissen-daß bzw. als Selbsterkenntnis, sondern als ethisches Selbstverständnis bzw. moralisches Selbstverhältnis zu begreifen, wie es Habermas vorschlägt:

475 476 477

F. Schlegel, Athenäumfragment Nr. 95, 148, 82 resp. wie z. B. „X will nicht, daß Y jemals glaubt, daß Z nicht will, daß nicht p“. wie z. B. „X geht davon aus, daß p“ oder „X glaubt irgendwie schon, daß p“.

210

„Dieses Selbstverständnis, wie diffus es immer bleiben mag, begründet die Identität des Ich. In ihm artikuliert sich Selbstbewußtsein nicht als die Selbstbeziehung eines erkennenden Subjekts, sondern als die ethische Selbstvergewisserung einer zurechnungsfähigen Person.“ „Denn das identitätsstiftende Selbstverständnis einer Person hat überhaupt keinen deskriptiven Sinn; es hat den Sinn einer Bürgschaft.“ „In einem intersubjektiv geteilten lebensweltlichen Horizont stehend, entwirft sich der Einzelne als jemand, der für die mehr oder weniger deutlich hergestellte Kontinuität einer mehr oder weniger bewußt angeeigneten Lebensgeschichte bürgt; im Lichte seiner erworbenen Individualität möchte er auch in Zukunft als der, zu dem er sich gemacht hat, identifiziert werden.“478

Habermas möchte die Individualität durch das „ethische Selbstverständnis einer ersten Person im Verhältnis zu einer zweiten Person“ erklären, kann aber dabei, wie er selbst nicht bemerkt, nicht auf die Verwendung eines Wissensbegriffs verzichten, denn eine individuelle Person muß „wissen, wer sie - vor sich und anderen - ist und sein möchte.“479 Dieses Wissen soll nun aber nicht kognitiv, d. h. in eine „endliche Anzahl von Propositionen (zerlegbar)“ sein, sondern nur performativ, d. h. „als ein Anerkennung heischender Anspruch in der Form von ad hoc erweiterbaren Bekenntnissen oder Selbstdarstellungen (illustrierbar)“ sein480. Dieses performative Wissen soll vermutlich kein Wissen-daß, kein propositionales Wissen sein, doch es muß ein solches enthalten, wenn „Bekenntnisse“ oder „Selbstdarstellungen“ möglich sein sollen. Dieses „performative Wissen“ kann ja nicht lediglich ein auf den Vollzug von SprachHandlungen bezogenes Wissen sein, also z. B. um ein Wissen-wie man eine Frage stellt. Denn beim Selbstverstehen geht es mindestens um ein partielles Wissen der eigenen Intentionalität-Mentalität, nämlich darum, zu wissen, was man aus sich zu machen bereit ist (Kant), wozu man sich mit Freiheit macht (Fichte) oder wer man vor sich und anderen ist und sein möchte (Habermas). Und dieses Wissen ist kein Wissen-wie man etwas (nämlich sich) aus sich macht, sondern ein Wissen-daß man der und der sein oder werden möchte, daß dieses und jenes bedeutsam für das eigene Leben ist usw. Daraus folgt meines Erachtens, daß die Unvollständigkeit des kognitiven Selbstverstehens nicht auf der deskriptiven Unmöglichkeit beruhen kann, 478 479 480

Habermas a.a.O. S. 207 f - kursiv von J.H. ders. a.a.O. S. 207 - leicht geändertes Zitat. Vgl. ders. a.a.O. S. 208

211

daß sich die sich selbst verstehende Person nicht vollständig beschreibt. Sondern darauf, daß sie sich nicht richtig beschreibt. Habermas jedoch wählt die nichtkognitive Alternative, indem er das Selbstverstehen sozusagen praktifiziert. Das Selbstverstehen soll in einer ethisch-praktischen Möglichkeit beruhen: „Der stets fragmentarisch bleibende Versuch, diesen in performativer Einstellung geltend gemachten Anspruch (`auf Anerkennung der unvertretbaren Identität eines in bewußter Lebensführung sich manifestierenden Ich') anhand eines totalisierenden Lebensentwurfs glaubhaft zu machen, darf nicht verwechselt werden mit dem undurchführbaren deskriptiven Vorhaben, ein Subjekt durch die Gesamtheit aller möglicherweise auf es zutreffenden Aussagen zu charakterisieren.“481

Aber auch wenn ein Individuum nicht durch eine endliche Konjunktion von Aussagen erkannt, beschrieben oder charakterisiert werden kann und zwar weder durch sich selbst noch durch andere, so folgt daraus nicht, daß das Selbstverständnis einer Person überhaupt keinen deskriptiv-kognitiven Sinn haben kann. Dem widerspricht auch nicht, daß das Selbstverständnis den Sinn eines Anspruchs und einer Bürgschaft hat, da selbst dann (mindestens für das Fremdverstehen) ein Wissen-daß impliziert ist. Denn: „...deren (sc. der Bürgschaft) Bedeutung hat der Adressat vollständig erfaßt, sobald er weiß, daß der Andere für sein Selbstseinkönnen einsteht“.482

Bei der Frage nach der Unvollständigkeit des Personenverstehens kommt es also auf die Perspektiven des Selbstverstehens und des Fremdverstehens an - und das auch nur in ihren kognitiven Varianten. Für die nichtkognitiven Varianten stellt sich die Frage gar nicht. Denn wo sollten beim Können oder Fühlen die Grenzen liegen? Man kann mit Schleiermacher, Nietzsche oder Adorno das Individuelle bzw. ein Individuum für das durch Begriffe Undarstellbare ansehen.483 Aber selbst wenn man sich mit dieser Unvollständigkeit abfände, so bliebe das bei dem kognitiven Personenverstehen diffizile und zeitintensive Problem der Erkennbarkeit des Nicht/Zutreffens auch nur eines einzigen Personenprädikats. Und um eine Person als Individuum verstehen zu 481 482 483

a.a.O. S. 206. a.a.O. S. 208 - zweite Kursivierung von WRK. Vgl. zu Nietzsche Zitko 1991

212

können, muß man nach der konjunktiven Interpretation des kognitiven Modells des Fremdverstehens mindestens die genannten fünf Wissensbedingungen erfüllen, also eine sehr umfangreiche Beschreibung liefern können. Aber die Unvollständigkeit resultiert für Selbstverstehen und Fremdverstehen nicht daraus, daß eine vollständige Beschreibung unmöglich ist, denn dieser Umstand trifft für alle anderen nichtpersonalen Individuen auch zu, sondern daraus, daß es für Personen keine interpretationsfreien, neutralen Beschreibungen geben kann, obwohl das auch auf vielen alltäglichen und wissenschaftlichen Gebieten der Fall ist, wo man es ausschließlich mit qualitativen Begriffen zu tun hat. Und diese Begriffe werden wie die Personenprädikate oft rein metaphorisch gebraucht. Wir haben es hier mit der grundsätzlichen Unbestimmtheit bzw. Vagheit qualitativer Begriffe zu tun, obwohl Metaphern manchmal eine Person anscheinend treffend charakterisieren können, auch wenn wir prinzipiell nur, um mit Nietzsche zu reden, „nichts als Metaphern der Dinge „ („Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne 1“ a.a.O. Bd. 1, S. 879). Daraus folgt nicht, daß auf dem Gebiet des Personenverstehens kein Wissen bzw. keine Erkenntnis nötig oder möglich sei - es sei denn, man identifizierte diese unzulässigerweise und unnötigerweise mit wissenschaftlichem Wissen bzw. Erkenntnis und lasse völlig außer Acht, daß wir mit unserer Rede über Personen Wahrheitsansprüche erheben. Es besteht also gar keine Notwendigkeit, den Kognitivismus im Personenverstehen zugunsten eines Praktizismus des Selbstseinkönnens abzuwehren oder abzuwerten. Denn beide schließen einander, richtig verstanden, nicht aus. Ähnliches trifft für Rortys ästhetische Alternative zur Selbsterkenntnis zu, nämlich die (durch Freud initiierte) Selbstbereicherung.484 Auch sie impliziert ein Wissen-daß, wenngleich kein vollständiges oder gar wissenschaftliches Wissen. Das von Habermas hauptsächlich nichtkognitiv gedeutete Selbstverstehen kommt nicht ohne kognitive Elemente aus, wenn er den Begriff des aneignenden Verstehens einführt: 484

Rorty 1988 S. 57: „Freud hat dazu beigetragen, daß wir uns bei der Wahl einer Selbstbeschreibung immer ironischer, spielerischer, freizügiger und erfinderischer verhalten.“

213 „Wie man sich selbst versteht, hängt nicht nur davon ab, wie man sich beschreibt, sondern auch von den Vorbildern, denen man nachstrebt. Die eigene Identität bestimmt sich zugleich danach, wie man sich sieht und sehen möchte...Dieses existentielle Selbstverständnis ist im Kern evaluativ und trägt ein Janusgesicht wie alle Wertungen. In ihm sind beide Komponenten verwoben: die deskriptive der lebensgeschichtlichen Genese des Ich und die normative des Ich-Ideals. Darum verlangt die Klärung des Selbstverständnisses...ein aneignendes Verstehen - die Aneignung der eigenen Lebensgeschichte wie auch der Traditionen und Lebenszusammenhänge, die den eigenen Bildungsprozeß bestimmt haben.“ Und: „Die existentialistische Denkfigur des `geworfenen Entwurfs´ beleuchtet den Januscharakter jener starken Wertungen, die auf dem Weg einer kritischen Aneignung der eigenen Lebensgeschichte begründet werden.“485

Angesichts der abgesteckten Grenzen des kognitiven Personenverstehens könnte man vermuten, daß es sich bei dem so gedeuteten Personenverstehen eher um einen schöpferischen als um einen entdeckend-erkennenden Prozeß handelt, also eher um Kunst als um Wissenschaft.486 Eine solche Vermutung steht aber mit der Erfahrung in Konflikt, wonach wir im Umgang mit Personen kognitive Prozesse vollziehen, um ihr SprachHandeln zu erklären, zu verstehen und sogar vorherzusagen, indem wir versuchen, die genannten Wissensbedingungen zu erfüllen. Und bei diesen Prozessen geht es wie bei vielen Erkenntnisprozessen um kognitive Objektivität. Aber es muß in beiden Fällen oft auch eine gleichsam ästhetische Kreativität an den Tag gelegt werden, um zum objektiven Ergebnis zu kommen. Der Weg zum Ergebnis mag kreativ gewesen sein, aber das Ergebnis muß, jedenfalls in Philosophie und Wissenschaft objektiv sein. Doch bei dem Personenverstehen sieht die Sache etwas anders aus. Denn selbst bei dem kognitiv gedeuteten Personenverstehen gibt es den Gegensatz zwischen Kreativität und Objektivität so nicht wie in den Wissenschaften. Daß das Personenverstehen insgesamt als Prozeß schöpferisch sein muß, ergibt sich allein schon daraus, daß die zu verstehende individuelle Person (jedenfalls als lebende) selber einen (im weitesten Sinne) schöpferischen Prozeß bildet. Aber selbst wenn man das Personenverstehen kognitiv deutete, so folgte daraus nicht, daß die Darstellung der 485 486

Habermas 1991 S. 104 und S. 112 Vgl. Pettit a.a.O. S. 60 ff: „application of rational man theory is not a science so much as an art.“ Kittsteiner 1993 S. 295: „Geschichtsschreibung steht der Kunst näher, als sie sich gemeinhin zugesteht.“

214

Ergebnisse nicht kreativ oder schöpferisch sein könnten - falls sie nur objektiv sind.487 In Kap. 6 wurde diese kreative Objektivität anhand von Brunns kognitivem Fremdverstehen der Person Casanovas demonstriert, und hier sollen noch zwei Beispiele angeführt werden. Das erste stammt aus einem Artikel von Wolfram Schütte zu Ernst Jüngers 100. Geburtstag (FR vom 29. März 1995). Schütte, der Jünger nie persönlich erlebt, sondern nur einige Bücher Jüngers gelesen hatte, schrieb unter anderem, daß Jünger seinen Charakter „als solitären Typus gesehen haben möchte, nämlich als von ihm selbst editorisch beschnittene, okulierte und zugerichtete Ansicht einer männlichen Existenz, deren Ästhetik die Disziplin von Haltung und Ausdruck ist. Ein Dandy im Waffenrock, militärische Zucht als geistige Gebärde, angestrengte Distanz als erhabene Betrachtung ... Penibel in die Registratur der (Selbst-)Beobachtung ordnet er sich ins Jahrhundert ein: wie einen der Käfer, deren gepanzerter Existenz sein lebenslanges Interesse galt Insekten, die nie das Bewußtsein eines kafkaschen Gregor Samsas besaßen.“

Das zweite Beispiel für ein kognitives Fremdverstehen besteht aus einem Nachruf zu Marlon Brandos Tod am 2. Juli 2004. Jens Jessen schrieb am 8. Juli 2004 (DIE ZEIT Nr. 29, S. 37) unter der Überschrift „Wie eine Kröte auf dem Weg in den Sumpf“ unter anderem: „Das Ölige war, mit einem antikischen Ausdruck, die Entelechie seiner Existenz, also die Bestimmung und Erfüllung dessen, was in seinem Leben nach Ausdruck drängte: das dunkel Glänzende, ungewiß Schillernde, Fließende und Entgleitende, Gefährliche und leicht Entzündliche.“ Und: „Man hat den Vergleich mit einem Vulkan oft angestellt, wegen der Ruckartigkeit seiner Gewaltausbrüche, aber das Unheimliche an ihnen waren nicht ... die herausgeschleuderten Felsstücke, sondern der Schwefelrauch, der mit ihnen aufzog.“ „So formt sich Marlon Brandos Physiognomie ... was aus dem weichen, dräuend verpuppten Jüngling geworden war: eine feiste, voll ausgewachsene Kröte, mit den schönen und traurigen Augen der Kröte, ihren öligen Warzen und ihren langsamen, lauernden Bewegungen, ein Meister des kunstvoll verzögerten Liebesspiels, ein Opfer der Leere, der Gier und der Obdachlosigkeit in den kalten Wintern der Zivilisation.“

487

Für Frank 1986 S. 125 gilt sogar: „Jede Artikulation (ist) ebenso wie jedes Verständnis nicht nur reproduktiv..., sondern auf systematisch unkontrollierbare Weise schöpferisch.“

215

Diese posthume Darstellung ist ebenso kreativ wie kognitiv, auch wenn Jessen Marlon Brando vermutlich persönlich nicht gekannt hat. Und ohne Zögern kann man sagen, daß sie auch objektiv ist. Mit dieser Darstellung sollte zwar nicht der Bürger Brando beschrieben, aber durch das Verstehen seiner Rollen die Person Brando verstanden werden. Die Darstellungen sind keine Beschreibungen in dem Sinne, wie etwas beschrieben werden kann, was einfach vorhanden ist und vor aller Augen steht. Die beiden Darstellungen sind mit Metaphern und Wertprädikaten vollkommen durchsetzt. Aber das schadet ihrer Objektivität nicht. Schon für Schleiermacher war die Hermeneutik bzw. das Verstehen selber eine Kunst, insofern das Verstehen nicht auf Regeln gebracht werden kann, sondern letztlich auf einem divinatorischen Akt beruht, wobei zwar das Herausfinden von Gemeinsamkeiten eine Rolle spielt, aber das Erraten (die Divination) unentbehrlich ist. Die Individualität eines Autors soll Schleiermacher zufolge dadurch zu verstehen versucht werden, daß man „sich selbst gleichsam in den andern verwandelt“, auch wenn die fremde Person keine ganz aufschließbare Individualität ist. Treffend meinte Gadamer zu dieser Enträtselung: „Schleiermachers Problem ist nicht das der dunklen Geschichte, sondern das des dunklen Du.“488 Doch haben nicht die drei zitierten Versteher in ihren poetischen Darstellungen das „dunkle Du“ von Casanova, Jünger und Brando ins Licht gerückt, ohne sich in sie auch nur „gleichsam zu verwandeln“? Der Ich-Erzähler Kundera sagt in seinem Roman „Die Unsterblichkeit“ über die Figur namens Professor Avenarius (1992, 401): „Ich habe ihm einmal erklärt, daß sich das Wesen eines Menschen nur durch eine Metapher ausdrücken läßt...einer Metapher, die auf ihn zutreffen und ihn mir verständlich machen würde.“ Einige Seiten später (415) nennt er ihm die „Metapher für Avenarius“: „Du spielst mit der Welt wie ein melancholisches Kind, das kein Brüderchen hat.“ Ersichtlich ist das keine Metapher, sondern eine metaphorische Beschreibung. Doch wichtiger ist der Umstand, daß eine solche metaphorische Darstellung viel informativer als es z. B. die Zuschreibung auch nur eines Personenprädikats sein kann. Daher ließe sich sagen, daß der Versuch, Personen zu verstehen so etwas

488

Gadamer 21965, S. 179

216

wie eine alltägliche Poesie darstellt489. Für Dilthey war im übrigen das Verstehen im allgemeinen ein „künstlerischer Prozeß“.490 Eine andere Person zu verstehen, bedeutet einen Menschen zu verdichten - damit er nicht, gleich Gas, wie Sartre sagt, entweicht, um ins Imaginäre hinauszustreben.491 So gesehen hat Gadamer nicht recht, wenn er fordert: „Die Ästhetik muß sich in Hermeneutik auflösen.“ Es muß zumindest für das kognitive Fremdverstehen genau umgekehrt sein. Daß dieses eine ästhetische Operation ist, steht außer Frage, wenn die zu verstehende Person gleichsam ein Kunstwerk ist. Vielleicht schrieb Hegel deswegen über Sokrates: „Er steht vor uns...als ein vollendetes klassisches Kunstwerk...492 Und: „Sie“ (gemeint sind außer Sokrates noch Perikles, Sophokles und Thukydides) „sind nicht gemacht, sondern zu dem, was sie waren, haben sie sich selbständig ausgebildet; sie sind das geworden, was sie haben sein wollen, und sind ihm getreu gewesen...Sie haben ihre Individualität herausgearbeitet zur Existenz,...die ein Charakter ist...“493 Doch selbst wenn eine Person ihre Individualität nicht auf so weltgeschichtlich bedeutsame Weise „herausgearbeitet“ hat wie Sokrates, sondern nur zur „Fabrikware der Natur“ (Schopenhauer494) zählt, muß ein kognitives Verstehen dieser Person kreativ bzw. poetisch sein. Die Indivi489

490 491 492 493

494

Vgl. die Festrede Thomas Manns zum 80. Geburtstag Freuds: „Freud und die Zukunft“ am 8. Mai 1936 in Wien. Ähnlich, bloß in einem noch weitergehenden Sinn, schreiben McDonald/Pettit 1981 S. 103: „Instead of imposing a parallel with the explanation of natural events, we prefer to see the social scientist's explanation of human behaviour on a more artistic model.“ - kursiv von WRK Vgl. a.a.O. V. Bd., S. 175 Sartre 1971, S. 25: „Der Mensch gleicht entweichendem Gas, er strebt hinaus ins Imaginäre.“ Hegel Werke, Bd. 18, S. 452. a.a.O., S. 452. Über ein halbes Jahrhundert später diagnostiziert Nietzsche in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ (Nr. 290): „Seinem Charakter `Stil geben´ eine große und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt.“ „Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikware der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt...“ in ders. 1977, 1. Bd., 1. Teildbd., S. 242

217

dualität einer Person ist kognitiv anders nicht zu fassen, praktisch oder emotional schon.

218

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12. Stichwortregister Alltagspsychologie 88, 90, 125 Autobiographie 17, 104, 128 Berechenbarkeit 126 Besserverstehen 62, 112, 113, 164, 185, 202, 204, 205 Besserverstehensprinzip für Personen 203 Biographie 104, 129, 198 Charakter 16, 25, 37, 97, 100, 103, 121, 126, 133, 139, 199, 214, 216 Emotionen 8, 19, 32, 85, 89, 90, 93, 110, 124, 126, 145, 146, 148, 180, 182, 185, 186, 187, 192 Entwurf 107, 108, 113, 147, 206 Erleben 35, 57, 83, 89, 91, 92, 101, 150, 174, 176, 181, 190 Erste-Person-Autorität 144, 146, 147, 149 Fremdverstehen 60, 82, 101, 115, 157, 187 Geschlecht 35, 86, 109 hermeneutische Regel 77, 79 Historiker 10, 83, 86, 87, 89, 171, 176, 182 holistisch 70, 77 Idiolekt 128, 129, 132 Intentionalität 24, 31, 32, 65, 66, 122, 123, 125, 126, 141, 203, 210, 229 Introspektion 136, 138, 144, 157, 170 kognitive Instabilität des Fremdverstehens 208 kognitives Fremdverstehen 82, 84, 89, 93, 95, 115, 180, 188, 214 Kognitives Fremdverstehen 208 Kommunikation 30, 89, 122, 123, 125, 130, 157, 158, 159, 161, 188, 199, 208 Konsequenz 12, 34, 35, 50, 74, 78, 107, 115, 156, 163, 176, 192, 206 Kriterien 56, 82, 83, 99, 104, 116, 119, 125, 147, 163, 164, 173

Kriterienlosigkeit 56 Liebe 19, 32, 146, 156, 177, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 189 Mentalität 126, 141, 168, 210 Mimik und Gestik 120, 123 Mißverstehen 12, 55, 62, 63, 70, 81, 116, 117, 118, 119, 162, 163, 164, 205, 206 Nacherleben 82, 83, 91, 92 nachvollziehen 82, 84, 88, 185 Nachvollziehen 10, 82, 83, 84, 85, 87, 88, 92 Netz-Modell 196, 198 Nichtverstehen 63, 116, 117, 119, 163, 164, 206 Personenprädikat 98, 101, 114, 117 phänomenal 138 Prinzip der wohlwollenden Interpretation 198 propositionale Einstellungen 121, 192 Propositionalität 122, 138 Psychoanalytiker 10 Pyramiden-Modell 195, 196, 198 Reflexion 18, 19, 22, 27, 138, 161, 162, 204, 228 reflexiv 162 Reflexivität 141, 162 Regel des kognitiven Fremdverstehens 162 Relation 54, 79, 139, 141, 162, 184 schöpferisch 213, 214 Selbstbefragung 146, 149 Selbsterkenntnis 13, 14, 15, 16, 17, 22, 25, 136, 138, 141, 151, 154, 192, 209, 212 semantische Insuffizienz des Fremdverstehens 207 Sexualität 155 Sich-Hineinversetzen 83 SprachHandeln 33, 35, 48, 67, 69, 73, 95, 96, 104, 107, 121, 124, 126, 129,

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131, 132, 133, 149, 157, 164, 168, 183, 195, 196, 197, 213 Spüren 147 Stimmung 56, 95 Sympathie 181, 182, 185, 186, 187 Theorie sprachlicher Bedeutung und einer Theorie der Dinge/Welt 196 Totalität 17, 72, 76, 79, 80, 81, 83, 107, 207 Übergangstheorie 130, 131

Unabhängigkeitsthese des SprachHandlungsverstehens 195, 196, 200 Unmöglichkeitsthese des Personenverstehens 195, 200, 207 Unverständlichkeit 118, 119 Verstehensversuche 12, 58, 63, 78, 105, 118, 119, 124, 132, 141, 162, 164, 168, 172, 179, 205, 207